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German Pages 844 Year 2020
Werner Bergmann Tumulte – Excesse – Pogrome
ST U DI EN Z U R E S SEN T I M EN TS IN GESCHICHTE UND GEGENWART
Herausgegeben vom Zentrum für Antisemitismusforschung Band 4
Werner Bergmann Tumulte – Excesse – Pogrome Kollektive Gewalt gegen Juden in Europa 1789!–!1900
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer (Basel), der Jehoshua und Hanna Bubis-Stiftung (Frankfurt am Main) und der Axel Springer Stiftung (Berlin)
In dankbarer Erinnerung an Herbert A. Strauss
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen
www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf © SG-Image unter Verwendung einer Zeichnung von Knud Gamborg, , gestochen von Hans Peter Hansen. Aus Jacob Davidson, Fra det gamle Kongens Kjobenhavn, Kopenhagen , S. - ISBN (Print) ---- ISBN (E-Book, pdf ) ----
Inhalt
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 . Antisemitismus und kollektive antijüdische Gewalt in der europäischen Geschichte seit der Französischen Revolution – Zum Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 . Antisemitismus: Zum Verhältnis von Ideologie und Gewalt . . . . . 29 . Zum geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand . . . . . . . . . 34
. Pogrome als Form kollektiver interethnischer Gewalt: Einige theoretische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . 43 . Kollektive interethnische Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 . Was ist ein Pogrom? – Definitionsprobleme . . . . . . . . . . . . . 46 . Bausteine zu einer Soziologie des Pogroms Entstehungsbedingungen von Pogromen . . . Die Pogromdynamik . . . . . . . . . . . . . Ziele, Wirkungen und Kosten der Gewalt . . . Modell kollektiver Gewalt . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . 51 . . . .
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57 78 92 98
. Antiemanzipatorische und revolutionäre Gewalt – - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 . Die Französische Revolution und antijüdische Gewalt im Elsass - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 . Ausschreitungen gegen Juden in Italien - . . . . . . . . . . . 113 . Abwehr der Konkurrenz: Antijüdische Ausschreitungen in Warschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
. Antijüdische Unruhen in den Schweizer Judendörfern Endingen und Lengnau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 . Die Hep-Hep-Krawalle von . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ausbruch der Unruhen in Würzburg . . . . . . . . . . . . . Die Ausbreitung der Gewaltwelle im Deutschen Bund . . . . . . . Das Übergreifen auf die Nachbarländer Frankreich und Dänemark . Die staatlichen Reaktionen auf die Gewaltwelle . . . . . . . . . .
. . . . 137 . . . .
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142 150 177 180
. Ausschreitungen im Gefolge der Juli-Revolution – - . . . . . 184 Gewalt gegen Juden im Kontext antirevolutionärer Unruhen im Elsass . . . 184 »Anmaaßung und Krämersinn«: antijüdische Ausschreitungen in Hamburg und . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Antijüdische Tumulte in Kopenhagen () und Stockholm () . . . . . 192 Sozialprotest und antijüdische Unruhen in Hessen, Baden und Bayern - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
204
. Ritualmordvorwurf und antijüdische Tumulte am Niederrhein
. Unruhen in Italien, Deutschland und Böhmen in den frühen er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Statuskonflikte – ein antijüdischer »Volksaufstand« in Mantua . . . . . 212 Religionstumulte in Ländern des Deutschen Bundes - . . . . . . . 222 Arbeitskämpfe und antijüdische Ausschreitungen in Breslau und Prag 226 . Antijüdische Ausschreitungen im Kontext der er Revolution (-) . . . . . . . . . . . . . . Antijüdische Übergriffe im Zuge der Agrarunruhen von / . Lokale Tumulte in Baden, Württemberg und Bayern . . . . »Lärmende Auftritte gegen die Juden« in Hessen . . . . . . Sozialprotest und antijüdische Unruhen im Elsass . . . . . . Antijüdische Ausschreitungen in Italien: Acqui und Rom . . . .
. . . . . 234 . . . . .
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242 247 264 272 282
Polen, Deutsche, Juden – ethnisch-nationale Konflikte im Großherzogtum Posen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Antijüdische Ausschreitungen im Habsburgerreich . . . . . . . . . . . . . 301
. Die Nachwehen der Revolutionsjahre - . . . . . . . . . . . . 321 . Resümee - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
. Nachhutgefechte gegen die Emanzipation und Nationalitätenkonflikte – antijüdische Ausschreitungen in den »ruhigen Jahren« - . . . . . . . . . . . . . . . . 331 . Nachhutgefechte um das Ortsbürgerecht für Juden - . . . . 332 Antijüdische Krawallnächte in Oberendingen im Kanton Aarau . . . . 332 Gewalttätige Konflikte um den Gemeindenutzen in Franken / . . . . 340 . Im »Kreuzfeuer des Nationalitätenkampfes« – Ausschreitungen gegen Juden in Böhmen und Mähren und . . . . . . . . . 346 Die Unruhen in Prag von . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Die Welle antijüdischer Ausschreitungen in böhmischen Städten im Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Die Ausläufer der böhmischen Unruhen in Mähren und Galizien . . . . . 378
. Eine Stadt der Pogrome: Odessa - . . . . . . . . . . . . . . . 380 . Antisemitische Massenkrawalle in Stuttgart . . . . . . . . . . . . 388 . Ausschreitungen gegen Juden im Zuge der Bildung neuer Nationalstaaten - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Antijüdische Politik und Gewalt gegen Juden in Rumänien - . . . 394 Bulgarien – Gewaltexzesse gegen Juden im Zuge des russisch-türkischen Krieges von / . . . . . . . . . . . . . . . . 406
. Resümee - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
. Antisemitismus als politisch-soziale Bewegung und Gesellschaftsstimmung – Wellen antijüdischer Gewalt - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 . Die große Pogromwelle im Zarenreich - . . . . . . . . Die russische Politik und die Lage der Juden . . . . . . . . . . . . . Strukturelle und politische Entstehungbedingungen der Pogrome . . Der Ausbruch der Pogromwelle in Elisavetgrad . . . . . . . . . . . Der Verlauf der Pogromwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wiederaufleben der Pogromwelle im Frühjahr . . . . . . . Pogrome in den späteren Jahren - . . . . . . . . . . . . . . Antijüdische Unruhen in Litauen im Jahre . . . . . . . . . . . Die Antwort der Politik auf die Pogrome . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 426
. . . . . . . . Politischer Druck der internationalen Gemeinschaft auf das Zarenreich .
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427 431 441 456 471 478 484 488 495
. Antijüdische Ausschreitungen in Mitteleuropa . . . . . . . . . . . . 500 Antisemitische Agitation und die Welle antijüdischen Ausschreitungen in Pommern und Westpreußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Krawalle in St. Gallen im Juni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Ausschreitungen im Kronland Kroatien-Slawonien . . . . . . . . . . 538
. Ritualmordbeschuldigungen und antijüdische Gewalt - . . . 544 Der »Ritualmordfall« von in Tiszaezlár und die Welle antijüdischer Ausschreitungen in Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . Ritualmordglaube und antijüdische Ausschreitungen in Bulgarien - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tod eines jüdischen Mädchens und ein Pogrom auf Korfu . . . Der »Fall Buschhoff« – Der Ritualmordvorwurf in Xanten (/) . . Sprachenstreit und Nationalismus: Antijüdische und antideutsche Ausschreitungen in Prag und Umgebung . . . . . . . Die antijüdische Gewaltwelle im Zuge der »Hilsner-/Polná-Affäre« Ritualmordgerüchte und die Welle antijüdischer Krawalle im westpreußischen Konitz und Umgebung im Jahre . . . . . . .
. . 546 . . 566 . . 581 . . 600 . . 607 . . 615 . . 632
. Gouvernementaler Antisemitismus und antisemitische Agitation – antijüdische Ausschreitungen in Rumänien - . . . . . . . . . 659 . »À bas les juifs!« – Die Dreyfus-Affäre und die »antisemitischen Manifestationen« in Frankreich und Algerien . . . . . . . . . . 675 Die Dreyfus-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 Der Verlauf der »manifestations antisémites« . . . . . . . . . . . . . . . . 685 Zum Charakter der Manifestationen: Dauer, Gewaltniveau, Teilnehmer und Ordnungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 Die Ausschreitungen in Algerien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 Der französische Antisemitismus nach dem Ende der Unruhen . . . . . . . 706
. Die antijüdischen Bauernunruhen in Galizien im Jahre . . Strukturelle Ursachen und situative Eskalationsbedingungen . . . . . Die antisemitische Wahlagitation der galizischen Bauernbewegung . . Der Verlauf der antijüdischen Ausschreitungen . . . . . . . . . . . . Die Tumultuanten und die Reaktion von Polizei und Justiz . . . . . Das Verhalten der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 709 . . . . .
. . . . . Öffentlicher Streit über die Ursachen der Unruhen in Presse und Politik . Ursachen und Folgen der Ausschreitungen . . . . . . . . . . . . . . . .
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709 711 718 732 735 736 740
. Resümee - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743
. Pogrome: Historische Kontexte, Entstehungsbedingungen, Verläufe, Akteure und staatliche Reaktionen – zusammenfassende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 745 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765 Übersicht: Tumulte – Excesse – Pogrome in Europa von - (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795 Zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . 795 Gedruckte Quellen und zeitgenössische Schriften . . . . . . . . . . . . . 796 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798
Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833
Einführung Antijüdische Pogrome waren in Europa keine seit Ende des . Jahrhunderts neu auftretende Erscheinung, entsprechend sahen viele Zeitgenossen in Gewaltwellen wie den Hep-Hep-Unruhen eine schwer zu begreifende Wiederkehr überwunden geglaubter mittelalterlicher Verhältnisse. Die Massaker an jüdischen Gemeinden zu Beginn des Ersten Kreuzzugs und vor allem die sog. Pestpogrome der Jahre / waren und sind bis heute zusammen mit vielen weiteren gewaltsamen Vertreibungen und Ausschreitungen im kollektiven Gedächtnis Europas in Spuren präsent. Dies hat die Juden zu paradigmatischen Gewaltopfern gemacht. Insofern ist nicht auszuschließen, dass auf beiden Seiten die historische Gewalterfahrung Erwartungen und Verhalten mitgeprägt hat, sei es in Form eines Konfliktvermeidungsverhaltens auf jüdischer Seite, sei es als begünstigender und legitimierender Faktor vor allem in lokalen Erinnerungen auf Seiten der christlichen Mehrheit.1 Die seit dem letzten Jahrzehnt des . Jahrhunderts wieder aufflammenden antijüdischen Ausschreitungen kamen jedoch insofern unerwartet, als gerade das . Jahrhundert in vielen europäischen Ländern kaum noch größere kollektive Übergriffe gegen Juden gekannt hatte, während im . Jahrhundert die wiederholt erlassenen Dekrete in vielen deutschen Staaten, die Beleidigungen und Gewaltakte gegen Juden unter Strafe stellten, für anhaltende antijüdische Alltagsgewalt sprechen.2 Die vorliegende Darstellung setzt aus zwei eng miteinander verbundenen Gründen erst um die Wende zum . Jahrhundert ein. In dieser Phase beginnen sich im Zuge des Naturrechts- und säkularisierten Staatsdenkens der Aufklärung sowie mit dem Übergang zu einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft das Verhältnis von Staat und Untertan/Staatsbürger sowie die Rechtsordnung und die Ausübung des Gewaltmonopols des Staates insgesamt zu verändern. Dies betraf die gesamte Bevölkerung, doch in besonderem Maße die Juden, deren Position in den europäischen Gesellschaften sich grundlegend zu verändern begann. Die rechtliche wie soziale Außenseiterposition der Juden, die bis dahin als Nicht-Christen eine Manche nehmen die Existenz langfristig wirksamer lokaler Traditionen an: Nico Voigtlaender/Hans-Joachim Voth, Persecution Perpetuated: The Medieval Origins of AntiSemitic Violence in Nazi Germany, in: Quarterly Journal of Economics /, , S. . Vgl. dazu Stefan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (-/), Frankfurt a. M., New York , S. f. hatte es noch einen Bauernaufstand gegen Juden in Bamberg gegeben: Rudolf Endres, Ein antijüdischer Bauernaufstand im Hochstift Bamberg im Jahre , in: Historischer Verein für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg , , S. -. Es kam aber im . Jahrhundert mancherorts durchaus hin und wieder zu »Judentumulten«, so etwa in Hamburg beim sog. »Geserother Henkelpöttchen« in der Hamburger Neustadt () und in Altona zu Plünderungen jüdischer Häuser und eingeworfenen Fenstern der Synagoge (). Stefan Rohrbacher, Ausschreitungen, jüdische in: http://www.das juedischehamburg.de/inhalt/ausschreitungen-antijüdische (eingesehen am ..).
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EINFÜHRUNG
rechtlich autonome Korporation und eine in Berufsstruktur, Sprache, Kleidung und religiösen Gebräuchen deutlich abgegrenzte Gruppe am Rande der Ständegesellschaft gebildet hatten, verlor ihre Legitimation, und es erhob sich in allen europäischen Staaten früher oder später die Forderung nach der Neubestimmung ihrer gesellschaftlichen Stellung.3 Mit der Abschaffung der feudalen Privilegien und der Öffnung des Wirtschaftssystems für freien Kapitalverkehr, Gewerbefreiheit und Freizügigkeit der Arbeitskräfte fielen sukzessive auch für Juden die Einschränkungen fort und sie wurden zu politischen und wirtschaftlichen Mitspielern in einer Gesellschaft, in der die soziale Position zunehmend nicht mehr ererbt, sondern über persönliche Verdienste definiert wurde. Diese neuen Freiheiten wurden in vielen europäischen Ländern gerade von der jüdischen Minderheit erfolgreich für den sozialen Aufstieg genutzt, während sie andererseits traditionell privilegierte Gruppen unter Konkurrenzdruck setzten und damit soziale Spannungen schufen, die Widerstand gegen die Modernisierung und damit auch gegen die Judenemanzipation hervorriefen, der sich nun vermehrt auch in der Form kollektiver Gewalt äußerte. David Engel hat kürzlich das Vorkommen der Gewaltform des »antijüdischen Pogroms« dahingehend historisiert, dass er diese als typisch für die Jahre von der Französischen Revolution bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ansieht, während zuvor und danach diese Form nur selten anzutreffen war und ist.4 Er sieht dies als eine Folge der veränderten staatlichen Rechtsauffassung, da die Staatsbürger nun einem systematisierten und universalen Prinzipen folgenden Recht unterworfen wurden, während zuvor die Gesetze nur zum Ausgleich widerstreitender Rechte und Vorrechte dienten. Eine gerechte Ordnung wurde primär als Folge der Einhaltung von Sitten und Traditionen verstanden, die in erster Linie nicht durch Befolgung abstrakter Regeln bzw. durch formale Organisationen wie Polizei oder Gerichte, sondern durch individuelles oder kollektives Handeln erzwungen wurde. Engel spricht von »extrajuducial and infrajudicial vehicles for resolving conflicts – vehicles recognized as entirely legitimate by the societies that employed them.«5 Er nennt als Bespiele eine ganze Reihe von Gewaltformen wie Fehde, Duelle, Lynchen usw. Mit der Durchsetzung des Gewaltmonopols des Rechtsstaates werden diese gewalttätigen Formen der Selbsthilfe illegitim. Der Staat muss allerdings sicherstellen, dass er Recht und Gerechtigkeit auch durchsetzt. Solange dies gelingt, werden sich die Bürger ruhig verhalten, scheint der Staat aber die geltende moralische Ordnung zu zerrütten, werden diese auf die Barrikaden gehen, um die gestörte Vgl. Rainer Erb/Werner Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland -, Berlin ; Jan Weyand, Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensform am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses, Göttingen . David Engel, What’s in a Pogrom? European Jews in the Age of Violence, in: Anti-Jewish Violence. Rethinking the Pogrom in East European History, hrsg. von Jonathan DekelChen/David Gaunt/Natan M. Meir/Israel Bartal, Bloomington, Indiana, , S. -, hier S. -. Ebd., S. .
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EINFÜHRUNG
Ordnung selbst wiederherzustellen. Da der Staat im . Jahrhundert noch kaum über ausreichende Ordnungskräfte verfügte und dieses Jahrhundert Phasen eines radikalen sozialen Wandels durchlebte, war es durch ein hohes Maß an kollektiver Gewalt gekennzeichnet. »In different parts of Europe, different parts of the eighteenth, nineteenth and even early twentieth centuries constituted what might well be called the heyday of the aggressive crowd«.6 Moderne Gesellschaften unterscheiden sich also in für das Gewaltgeschehen zentralen Punkten von ihren vormodernen Vorgängern: im Gewaltmonopol des Staates, womit sich auch die Grenzen zwischen der legitimen Selbsthilfe und dem Verbrechen verschieben, und in dem Gebot der Inklusion aller Einwohner als gleichberechtigte »Staatsbürger«, womit ständische und religiöse Sonderrechte zunehmend an Legitimation verlieren. Im Verlauf des Jahrhunderts treten als weiteres Element die Verfasstheit in Nationalstaaten bzw. nationale Einheits- oder Abspaltungsbestrebungen hinzu. Im Zuge der Nationalstaatsbildung kommt es zu einer Politisierung des Ethnischen, da nun die Frage auftaucht, wer zum Staatsvolk zählt, d. h., wessen Sprache gesprochen werden soll, wessen Religion dominieren soll, wer führende Stellungen einnahmen darf usw.7 Dabei nehme ich mit Rudolf Stichweh an, dass in Gesellschaften weniger eine kontinuierliche Neigung zu Konflikten mit ethnischen Minderheiten besteht als vielmehr eine Labilität der Beziehungen, die aufgrund geringfügiger Veränderungen aus der Balance geraten können.8 So entstehen ethnische Konflikte gehäuft in Staatenbildungs- oder krisenhaften Reorganisationsphasen, in denen ethnische Unterscheidungen so mit Bedeutung aufgeladen werden, dass ein Kampf darüber entbrennt, welcher Anteil am Staat und seinen Leistungen welcher Ethnie zukommt.9 Ebd., S. . David Mason, Nationalism and the Process of Group Formation: The Case of »Loyalism« in Northern Ireland Reconsidered, in: Ethnic and Racial Studies , , S. -, hier S. . Rudolf Stichweh, Der Fremde – Zur Evolution der Weltgesellschaft, in: Rechtshistorisches Journal , , S. -, hier S. . Andreas Wimmer, Interethnische Konflikte. Ein Beitrag zur Integration aktueller Forschungsansätze, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie , , S. -, S. . Jakob Rösel hebt ebenfalls die Bedeutung der »Politisierung ethnischer Antagonismen«, d. h. die Weiterführung und Steigerung ethnischer Konkurrenz in Wirtschaft und Gesellschaft mit politischen Mitteln für den Einsatz von Gewalt hervor (Vom ethnischen Antagonismus zum ethnischen Bürgerkrieg. Antagonismus, Erinnerung und Gewalt in ethnischen Konflikten, in: Trutz von Trotha (Hrsg.), Soziologie der Gewalt, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie , , S. -, hier S. ). David C. Rapoport betont, dass das »massive redrawing of political boundaries«, wie wir es nach dem Zerfall von Vielvölkerstaaten bzw. Kolonialreichen in zahlreiche Nachfolgestaaten bzw. in separatistische Bewegungen erleben, für »violent ethno-religious struggles« von großer Bedeutung ist (The Importance of Space in Violent Ethno-Religious Strife, in: Institute on Global Conflict and Cooperation (IGCC), Policy Paper , , S. -, hier S. ).
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EINFÜHRUNG
Dieser sozialhistorische Prozess, in dem Christen und Juden zu formal gleichberechtigten Staatsbürgern mit individuellen Freiheitsrechten wurden, ist nach Jan Weyand dafür verantwortlich, dass es zu einer grundlegenden Veränderung dessen kommt, was über Juden gesagt und gedacht wird – in ihrem negativen Aspekt also zu einer Veränderung des Charakters der Judenfeindschaft. Wenn Juden und Christen in einem Staat gleiche Rechte haben sollen, dann stellt sich die Frage nach der Zugehörigkeit der Juden zur Nation. Weyand sieht im ausgehenden . Jahrhundert eine dreifache Transformation des antisemitischen Wissens: Die Differenz von Christen und Juden wird in eine ethnische Differenz von Deutschen/Franzosen/Russen usw. und Juden transformiert, die eben durch Taufe nicht mehr aufzuheben ist. Es kommt damit zu einem Wandel der kollektiven Selbst- und Fremdbilder, d. h., religiöse Selbstbilder (Christenheit) werden von nationalen abgelöst. Zweitens muss damit die Frage der Zugehörigkeit bei prinzipieller Rechtsgleichheit neu gestellt werden: An die Stelle der Taufe tritt eine strikte Assimilationsforderung (Verschmelzung) an die Juden, die in allem vorbehaltlos Deutsche/Franzosen/Russen usw. werden sollen, da nun das »Volk« die neue Grundlage für die entstehenden Nationalstaaten bildet. Drittens muss den Juden ein neuer sozialer Ort zugewiesen werden, da sie nun nicht mehr neben, sondern »unter uns« leben. Durch diese Verortung wird die punktuelle Bedrohung der Christen, etwa im Bereich des Handels, durch die Juden nun zu einer permanenten Bedrohung der als Gemeinschaft vorgestellten Nation, nämlich deren Zersetzung oder Unterjochung durch diese Minderheit.10 Gegen diese neue Verortung der Juden, die man als »kulturelle Einwanderung« beschreiben kann, regte sich trotz der Rücksichtnahme des Staates auf die Interessen der christlichen Mehrheit Widerstand, der sich vom traditionellen Antijudaismus dadurch unterschied, dass er neben den weiterhin dominierenden religiösen und ökonomischen Vorbehalten bereits kulturelle, nationalistische und protorassistische Argumente benutzte. Er war also eine moderne Erscheinung, insofern er sich gegen die Modernisierung von Staat, Recht und Gesellschaft (freie Wirtschaft, Religionsfreiheit, Rechtsgleichheit) wandte. Diese antiemanzipatorische Judenfeindschaft bildete im Unterschied zum späteren Antisemitismus noch keine soziale und politische Bewegung und hatte noch nicht die Form einer geschlossenen Ideologie, welche die Modernisierung der Gesellschaft grundsätzlich als Resultat der »Judenherrschaft« ablehnte. Dennoch entwickelten Gegner der Judenemanzipation bereits im frühen . Jahrhundert in ihren Schriften Szenarien der Exklusion von Juden, die von der Forderung nach Beibehaltung rechtlicher Einschränkungen über mehr oder weniger detailliert ausgearbeitete Pläne zu ihrer Ansiedlung in Kolonien innerhalb und außerhalb des eigenen Landes bis hin zu Vertreibungs-, Gewaltund Vernichtungsphantasien reichten.11 Das Aufkommen des Antisemitismus als Weyand, Historische Wissenssoziologie, S. ff.; ähnlich dazu schon Erb/Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation, Kap. . Ebd., Kap. II-V.
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EINFÜHRUNG
politisch-soziale Bewegung in den letzten Jahrzehnten des . Jahrhunderts setzte Bemühungen, die Juden auszuschließen, fort und gab entsprechenden Forderungen und Anschuldigungen organisatorischen und politischen Rückhalt sowie eine weite massenmediale Verbreitung. Die im Laufe des . Jahrhunderts sich in vielen europäischen Ländern hin und wieder ereignenden Ausschreitungen gegen Juden können in vielen Fällen als ein Ausdruck des Bestreitens der tatsächlichen Zugehörigkeit der Juden zur Eigengruppe (sei es Ortsgemeinde, Nation oder Christenheit) gelesen werden, also als eine Form von »exclusionary violence«.12 In der vorliegenden Arbeit wird nun der Versuch unternommen, die in zahlreichen Fallstudien zu antijüdischen Ausschreitungen in den europäischen Ländern erarbeiteten Ergebnisse, die nur selten den regionalen oder nationalen Rahmen überschreiten, in einer Gesamtdarstellung zu bündeln, um so das Ausmaß, die geographische Verteilung sowie Wandlungsprozesse und typische Verlaufsformen dieser kollektiven Gewalt sichtbar zu machen. Die antijüdische Gewalt trat im Zeitraum der letzten zweihundert Jahre nicht gleichmäßig bzw. zufällig verteilt auf, sondern es lassen sich Phasen ihrer zeitlichen wie regionalen Häufung erkennen, denen jeweils auch spezifische Ursachenbündel zugrunde lagen.13 Dennoch konnte es auch in »ruhigen« Zeiten hin und wieder zu einzelnen Gewaltausbrüchen kommen, die dann zumeist auf bestimmte lokale Konstellationen oder Ereignisse zurückgingen und keine größere Gewaltwelle auslösten. Nimmt man ganz Europa in den Blick, dann ergibt sich natürlich das Problem, dass die europäischen Gesellschaften auf dem Weg in die Moderne ein unterschiedliches Entwicklungstempo aufwiesen, das auch Rückwirkungen auf das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zu den Juden im Lande hatte. So fand eine rechtliche Gleichstellung der Juden in einigen westeuropäischen Ländern, wie Frankreich und den Niederlanden, bereits im ausgehenden . Jahrhundert statt, während sie in den deutschen Staaten und im Habsburgerreich später einsetzte und erst endgültig abgeschlossen war. Im Zarenreich wurde die Gleichstellung sogar erst mit der Revolution von erreicht. Entsprechend finden wir zeitlich versetzt z. T. ähnliche Konstellationen, die judenfeindliche Gewalt begünstigten, wir finden ganz spezifische Entwicklungen in bestimmten Regionen Europas, etwa in der Phase der Gründung neuer Staaten in Ostmitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg, Vgl. den entsprechenden Buchtitel: Christhard Hoffmann/Werner Bergmann/Helmut W. Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History, Ann Arbor . Zu neueren Versuchen einer Periodisierung vgl. Helmut W. Smith, The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge , Kap : From Play to Act: Anti-Jewish Violence in German and European History during the Long Nineteenth Century; Werner Bergmann, Ethnic Riots in Situations of Loss of Control: Revolution, Civil War, and Regime Change as Opportunity Structures for Anti-Jewish Violence in Nineteenth and Twentieth Century Europe, in: Wilhelm Heitmeyer/Heinz-Gerhard Haupt/Stefan Malthaner/Andrea Kirschner (Hrsg.), Control of Violence. Historical and International Perspectives on Violence in Modern Societies, New York, Heidelberg , S. -.
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EINFÜHRUNG
andererseits aber auch parallele Entwicklungen in vielen europäischen Ländern, etwa das Entstehen antisemitischer und nationalistischer Bewegungen gegen Ende des . Jahrhunderts. Dies macht eine stringente Phaseneinteilung schwierig. Die folgende Darstellung geht im Kern chronologisch vor, wohl wissend, dass etwa die Pogromwelle der Jahre - im Zarenreich zwar parallel zu Ausschreitungen im Deutschen Reich und in einigen Gebieten des Habsburgerreiches verlief, dass aber die verursachenden Konstellationen verschieden waren, auch wenn es durchaus gegenseitige Beeinflussungen gab. Als Untersuchungszeitraum für die Analyse der kollektiven antijüdischen Gewalt wurde die Zeit von der Französischen Revolution bis zum Ende des . Jahrhunderts gewählt. Diese Zäsur am Ende des . Jahrhunderts zu setzen und nicht – wie sonst oft üblich – das »lange . Jahrhundert« als Einheit zu behandeln, geschieht nicht willkürlich, sondern ist darin begründet, dass mit dem Pogrom in Kishinev von , das bereits Todesopfer allein unter den Juden forderte, und insbesondere mit der Pogromwelle der Jahre - im Zarenreich die antijüdische Gewalt einen schon von den Zeitgenossen registrierten dramatischen Wandel erlebte.14 Folgten die Ausschreitungen bis Konitz im Jahre noch gewissen rituellen Begrenzungen und richteten sich primär gegen die Häuser und Läden der Juden, so stieg nun das Gewaltniveau stark an und die Ausschreitungen forderten zahlreiche Todesopfer sowohl unter den angegriffenen Juden wie auch unter den Pogromisten. Gewalt und Zerstörung nahmen seit der Pogromwelle von - im Zarenreich einen systematischen Charakter an und zeigten schließlich sogar Züge einer ethnischen Säuberung ganzer Gebiete.15 Die Ursache dürfte in der nun einsetzenden Politisierung der Gewalt gelegen haben, die auch zu einer Schwächung des staatlichen Schutzwillens führte.16 Für Jonathan Dekel-Chen et al. ist es entscheidend, dass Juden bis Ende des . Jahrhunderts auch in Krisenzeiten zwar als »Ausbeuter« und soziale Aufsteiger, aber niemals als Bedrohung des Staates angegriffen wurden. Dies änderte sich seit den opferreichen Pogromen der ersten russischen Revolution von /. Die Pogromwellen von - im Zuge des Bürgerkrieges zwischen Weißen und Roten Truppen nach der Oktoberrevolution und der Grenzkriege im Prozess der Nationalstaatsgründungen in den Jahren - sowie die blutigen Pogrome im Sommer , die in den beginnenden Krieg des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion eingebettet waren, zielten nun nicht mehr nur auf materielle Zerstörungen Ein jüdischer Korrespondent schrieb im Oktober angesichts der nun ausbrechenden Welle von Pogromen im Zarenreich mit ca. . getöteten und . verletzten Juden: »Let them plunder. We’re used to that. But why do they shot, why do the blow us apart« (Michael F. Hamm, Kiev. A Portrait, -, Princeton, NJ , S. ). Jonathan Dekel-Chen/David Gaunt/Natan M. Meir/Israel Bartal, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Anti-Jewish Violence. Rethinking the Pogrom in East European History, Bloomington, Indiana, , S. -, hier S. . Vgl. dazu Smith, The Continuities of German History, Kap. , S. ff.; Bergmann, Ethnic Riots.
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EINFÜHRUNG
und Erniedrigungen, sondern auf die Ermordung von Juden. »At these moments Jews were targeted as disloyal tools of foreign powers or as subversive revolutionaries plotting to topple the regime. By the time the pogroms had subsided in the s, Jews were perceived as a major threat to the state (whether ›Red‹ or ›White‹) and had become a vulnerable civilian population«.17 Diese Entwicklung schließt jedoch nicht aus, dass es auch kurz nach fallweise Ausschreitungen gab, die eher dem alten, rituell eingehegten Muster folgten und die in einigen Fällen in diese Darstellung aufgenommen wurden. Die folgende Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf die inzwischen in weit größerer Fülle als beim Beginn der Arbeit an diesem Buch vor über zehn Jahren vorliegenden Forschungsarbeiten zu antijüdischen Ausschreitungen in Europa. Der Forschungsstand für die einzelnen europäischen Länder, Regionen und Orte fällt recht unterschiedlich aus. So finden wir für einzelne Pogrome bzw. Pogromwellen eine Fülle von Untersuchungen, während sich für andere nur wenige oder gar nur eine einzelne Darstellungen finden ließen. Vermutlich sind einige Fälle antijüdischer Ausschreitungen noch gar nicht bekannt bzw. untersucht worden. In einigen Fälle gibt es widersprüchliche Angaben dazu, ob an einem Ort Unruhen stattgefunden haben oder nicht. Am häufigsten sind detaillierte Fallanalysen eines einzelnen Pogroms, wobei weitere Fälle, die sich häufig in der Umgegend ereigneten, nur summarisch einbezogen werden, wenn dieses Pogrom zum Auslöser einer regionalen oder landesweiten Pogromwelle wurde. Andere Arbeiten widmen sich einem Ort, wie z. B. Odessa oder Preßburg, und untersuchen die dort über einen längeren Zeitraum wiederholt vorgefallenen Ausschreitungen in diachroner Perspektive. Analysen antijüdischer Gewalt finden sich zudem eingestreut oder in einem Kapitel zusammengefasst in Arbeiten zur Geschichte des Antisemitismus oder der jüdischen Geschichte eines Landes oder einer Region. Nur selten gibt es bisher Arbeiten, die sich der detaillierten Untersuchung antisemitischer Unruhen in einem Land über einen längeren historischen Zeitraum widmen, international vergleichende Studien dieser Art fehlen bisher ganz. Es fehlen auch übergreifende Studien zu den materiellen Verlusten und emotionalen Folgen, die Juden als Pogromopfer erlitten haben. Sowohl was die untersuchten Fälle antijüdischer Ausschreitungen als auch die dazu publizierte Literatur angeht, habe ich mich bemüht, diese umfassend zu repräsentieren bzw. auszuwerten, was natürlich nicht vollständig gelingen konnte, da für mich nicht alle in den einzelnen »europäischen Dialekten« verfassten Publikationen erreichbar bzw. lesbar waren. So beschränkt sich die Literaturauswahl notgedrungen auf Arbeiten in deutscher, englischer, französischer, italienischer und dänischer Sprache. Daher ergibt sich eine gewisse, in der Darstellung sicherlich auch spürbare Asymmetrie zwischen den hier präsentierten Analysen der westeuropäischen und der ost- und südosteuropäischen Fälle, da ich im Fall der Letzteren weder die in der Landessprache publizierten noch die von der Forschern verwendeten Quellen Dekel-Chen/David Gaunt/Natan M. Meir/Israel Bartal, Introduction, S. .
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(etwa die Zeitungen) im Original lesen konnte. Die herangezogene Forschungsliteratur ist zudem von unterschiedlicher Qualität, die u. a. davon abhängt, wann sie publiziert wurde, welche Quellen verfügbar waren und welche Annahmen über den Charakter kollektiver Gewalt den Analysen jeweils zugrunde lagen. Zum Beispiel haben sich die Deutungen, aber auch die konkreten Beschreibungen des Pogromgeschehens der russischen Pogromwelle von - in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt. Vor allem die seit den er Jahren aufkommende Gewaltforschung hat hier erheblichen Einfluss auf die historischen Analysen ausgeübt. Entsprechend sind neben den Forschungen zu antijüdischer Gewalt eine Fülle von sozialwissenschaftlichen Arbeiten zu Formen kollektiver Gewalt und zu Ausschreitungen gegen andere ethnische Minderheiten einbezogen worden. Soweit vorhanden und zugänglich wurden auch publizierte archivalische Quellen ausgewertet sowie zeitgenössische Darstellungen einzelner Fälle in Büchern oder Broschüren herangezogen. Neben der Forschungsliteratur stützt sich die Darstellung, sofern verfügbar, ergänzend auf die Auswertung der zeitgenössischen Presse, die überwiegend aus dem deutschen Sprachraum stammt, aber zumeist über Ereignisse in allen europäischen Ländern berichtet hat. D. h., auch hier konnte die fremdsprachige Presse nur zum Teil berücksichtigt werden (französische, englischsprachige und Übersetzungen aus anderen Sprachen), was natürlich für die Analyse der ost- und südosteuropäischen Pogrome ein Manko darstellt. Es sind insbesondere jüdische Zeitungen, die dem Thema verständlicherweise größeren Raum gegeben haben und die häufig eine Tendenz zur Überzeichnung der Gewalttätigkeiten erkennen lassen. In nicht wenigen Fällen verfügen wir heute über keine anderen erhaltenen Quellen mehr als diese zeitgenössischen Zeitungsberichte. Diese bilden, wie die widersprüchlichen Schilderungen der Ausschreitungen zeigen, allerdings eine nur sehr bedingt verlässliche Quelle, zumal die Berichte je nach politischer (bisweilen auch ethnischer) Position der Zeitung das Geschehen ganz unterschiedlich darstellen. Man muss nicht so weit gehen wie Artur Markowski, der den Darstellungen in der jüdischen wie nichtjüdischen Presse nur insofern einen Wert zuschreibt, als sie zeigen, wie Legenden und Mythen geschaffen werden, eine Diagnose von Emotionen erlauben und eine Untersuchung darüber ermöglichen, wie Pogrome zu einem Element in der politischen Debatte werden, doch sind Presseberichte, was den Sachgehalt angeht, mit Vorsicht zu genießen. Dies gilt seiner Ansicht nach auch für Erlebnisberichte von Zeitzeugen: »Memoirs display emotion and subjective opinions contributing little to attempts to discover what happened. Often they are written years later and are based on secondary knowledge«.18 Die Problematik der Presseberichte gilt aber z. T. auch für die Berichte von Polizei, Gendarmerie und Administration insbesondere auf der lokalen Ebene (d. h.
Artur Markowski, Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, in: Polin , , S. -, hier S. f.
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damit letztlich auch für die wissenschaftlichen Analysen, die sich darauf stützen),19 da auch hier einerseits ein Interesse vorliegt, ein Pogrom in bestimmter Weise darzustellen, zum anderen bestehen generell besondere Schwierigkeiten, Phänomene wie kollektive Gewaltaktionen adäquat zu beschreiben, da deren oft zufällige Entstehungssituationen gewöhnlich nicht beobachtet worden sind, sie nur kurz andauern und auch vom weiteren Verlauf des Pogroms je nach Beobachterposition ganz Unterschiedliches nur ausschnitthaft wahrgenommen wird. Trotz deutlich besserer Dokumentationsmöglichkeiten gehen bis heute die Darstellungen und Deutungen von Demonstrationen und Unruhen, was deren Ursache, die Teilnehmerzahl, das Verhalten der beteiligten Gruppen usw. angeht, weit auseinander. Mark Harrison hat in seiner Untersuchung von Massenverhalten in englischen Städten um die Wende vom . zum . Jahrhundert auf die methodologischen Probleme der Definition und der Perzeption von Massen hingewiesen: »In practise it is the perceptions made by the crowds’ non-participants that survive. The anonymity of crowds is almost total. Documentary evidence regarding attitudes and beliefs of crowd participants is difficult to locate: crowd members rarely leave records.«20 Ohne die Berichte externer Beobachter, die allerdings das Verhalten der Menge nutzen, um ihre eigene Sichtweise darauf mitzuteilen, würden Pogrome als Ereignisse in historischer Sicht nicht existieren: »The historical event is effectively the creation of its chronicler«.21 D. h., der Beobachter, dies gilt auch für den Wissenschaftler, wird den Kontext des Ereignisses zur Interpretation heranziehen müssen, um ihm jeweils gewisse Bedeutungen zuzuschreiben, die, wie man sehen wird, durchaus differieren können, da sie die Überzeugungen des Beobachters reflektieren. Schriftliche Zeugnisse von Tumultuanten existieren zumeist nur in rückblickenden Aussagen, die verhaftete Täter vor Gericht zu Protokoll gegeben haben. Vielen, vor allem älteren Darstellungen von Pogromen mangelt es an einer klaren, soziologisch untermauerten Vorstellung vom Charakter kollektiven Handelns. Seit einiger Zeit ist hier infolge des Aufschwungs der Gewaltforschung ein Wandel hin zu einer stärkeren theoretischen Fundierung der Pogromhandelns zu konsta Markowki, ebd., S. , ist zuzustimmen, dass die besten Quellen die der mittleren Ebenen der Administration und der Polizei sind, da diese nicht direkt in die lokalen Angelegenheiten verwickelt waren, ein Interesse an der Aufklärung von Motiven und Ursachen haben und kein Motiv für Geheimhaltung oder Täuschung besitzen, auch wenn man den Einfluss antisemitischer Einstellungen bei ihnen nicht völlig ausschließen kann. Mark Harrison, Crowds and History. Mass Phenomena in English Towns, -, Cambridge, New York , Kap. , S. . Harrison definiert »crowd« als »a large group of people assembled outdoors in sufficient proximity to be able to influence each other’s behavior and to be identified as an assembly by contemporaries« (S. ). Diese Gruppe besitzt dann die Fähigkeit als kollektive Einheit zu handeln bzw. als solche behandelt zu werden (S. ). Ebd. »The newspaper report (often the only documentary source for a crowd occurrence) typifies this, for it provides both the supposed ›facts‹ relating to the crowd, and the opinion of the reporter« (S. ).
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tieren.22 Entsprechend wird in dieser Arbeit, gestützt auf langjährige eigene Vorarbeiten, ein soziologisch fundiertes Modell der Dynamik kollektiven Handeln in Pogromen entwickelt, indem ausgehend von einer soziologischen Präzisierung des Pogrombegriffs die Entstehungsbedingungen von Pogromen, die kommunikative Konstruktion einer Bedrohungssituation, die Bedeutung auslösender Ereignisse ebenso wie die Konfliktrelationen von Mehrheit, Minderheit und Staatsorganen und schließlich die Frage der Ziele, Auswirkungen und Kosten dieser Form kollektiven Handelns theoretisch gefasst werden. Die Entwicklung dieses »Modells« erfolgt auf der Basis der Forschungsliteratur zu kollektiver Gewalt und zu ethnischen Konflikten in Rückkoppelung mit der Kenntnis über den Verlauf historischer Fälle antijüdischer Gewalt und soll die folgenden historischen Darstellungen fundieren. Meine Beschäftigung mit Ausschreitungen gegen Juden geht auf die späten er Jahre zurück, als ich zusammen mit Christhard Hoffmann für die Festschrift von Herbert A. Strauss, dem damaligen Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, einen Beitrag zu den judenfeindlichen Ausschreitungen im antiken Alexandria geschrieben und einen Vortrag zu den »Sozialen und kulturellen Bedingungen kollektiver Gewalt in Pogromen« auf einem Lerntag des Zentrums für Antisemitismusforschung im Jahre zum . Jahrestag der »Novemberpogrome von « gehalten habe.23 Der Ansatz des letztgenannten Vortrags wurde dann für meinen an der Freien Universität Berlin gehaltenen Habilitationsvortrag zu einem umfassenderen Versuch ausgearbeitet, Pogrome als eine spezifische Form kollektiver Gewalt theoretisch näher zu bestimmen.24 Unter dem Titel »Exclusionary Violence«, eine Begriffsprägung, die andere Autoren inzwischen aufgegriffen haben, wurde dieser Ansatz in einem Sammelband zu antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland zwischen und weiterverfolgt und hat inzwischen auch enzyklopädischen Niederschlag gefunden.25 Vgl. etwa Engel, What’s in a Pogrom?; John D. Klier, Russians, Jews, and the Pogroms -, Cambridge, New York , Kap. : What was a pogrom? S. -; Stefan Wiese, Pogrome im Zarenreich. Dynamiken kollektiver Gewalt, Hamburg , Was ist ein Pogrom?, S. -. Werner Bergmann/Christhard Hoffmann, Kalkül oder »Massenwahn«? Eine soziologische Interpretation der antijüdischen Unruhen in Alexandria n. Chr., in: Rainer Erb/ Michael Schmidt (Hrsg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin , S. -; Werner Bergmann, Soziale und kulturelle Bedingungen kollektiver Gewalt in Pogromen, in: Gewalt gegen Juden. Die Novemberpogrome von in historischer Perspektive, Protokolle des VI. Lerntags des Zentrums für Antisemitismusforschung, hrsg. von Herbert A. Strauss/Werner Bergmann/Christhard Hoffmann, Berlin , S. -; diese Überlegungen flossen in die Darstellung der Hep-Hep-Unruhen von in dem von Rainer Erb und mir publizierten Buch Die Nachtseite der Judenemanzipation ein (Kap. VI). Siehe die ausgearbeitete Fassung dieses Vortrags: Werner Bergmann, Pogrome: Eine spezifische Form kollektiver Gewalt, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie /, , S. -. Hoffmann/Bergmann/Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence; vgl. auch Werner Bergmann, Pogrome, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der
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Bereits in den er Jahren hatte ich geplant, eine Gesamtdarstellung wie diese zu schreiben, die bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reichen sollte. Dies wäre damals einerseits sehr viel schneller und leichter zu realisieren gewesen, da zu dieser Zeit sehr viel weniger Forschungsarbeiten zu diesem Thema vorlagen, andererseits hätte die Darstellung doch erhebliche Lücken aufgewiesen, die heute durch die seit dem Boom der in den er Jahren einsetzenden Gewaltforschung immer weiter geschlossen worden sind. So war dieser Boom Segen und Fluch zugleich, da die Arbeit an diesem Buch zu einer mich nun über zwei Jahrzehnte lang beschäftigenden Aufgabe wurde und dessen Umfang immer weiter anschwellen ließ, obwohl es nur den ersten Teil einer Studie bildet, die diesen Gegenstand bis in die frühen Nachkriegsjahre des Zweiten Weltkriegs umfassen sollte. Ob die ursprünglich als zweiter Band geplante Fortsetzung bis in die späten er Jahre realisiert werden kann, muss derzeit offenbleiben, da hier der Umfang der Forschungen noch weit stärker angewachsen ist als für das . Jahrhundert und die Pogrome zudem eingebettet waren in die komplexen Vorgänge des Russischen Bürgerkrieges und des Zweiten Weltkriegs.
Gewaltforschung, Opladen , S. - (englische Ausgabe: Pogroms, in: The International Handbook of Violence Research, Dordrecht , S. -); Werner Bergmann, Hep-Hep-Krawalle, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. He-Lu, hrsg. von Dan Diner, Stuttgart, Weimar , S. -; Werner Bergmann, Rassismus/Antisemitismus, in: Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. von Christian Gudehus/Michaela Christ, Stuttgart, Weimar , S. -.
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. Antisemitismus und kollektive antijüdische Gewalt in der europäischen Geschichte seit der Französischen Revolution – Zum Stand der Forschung Gewalt gegen Juden ist in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit wie in den Wissenschaften heute unlösbar mit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden im deutschen Herrschaftsbereich in den Jahren bis verknüpft. Darin mitgedacht ist auch die sog. Reichskristallnacht von , die als »Katastrophe vor der Katastrophe«1 verstanden werden kann. Die Erinnerung an diese Gewalttaten wird durch Gedenktage am . Januar und am . November im kollektiven Gedächtnis präsent gehalten. Gegenüber diesen staatlichen Massenverbrechen verblassen historische Vorkommnisse, in denen Juden in vielen Ländern Europas zum Ziel kollektiver Angriffe wurden. Dennoch waren und sind einige der historischen antijüdischen Gewaltwellen im kollektiven Gedächtnis, insbesondere in der jüdischen Überlieferung, präsent: die Gewaltwellen des Mittelalters, vor allem die Kreuzzugsmassaker von und die sog. Pestpogrome von /,2 die »im Osten« lokalisierten Kosakenaufstände von (Chmielnicki-Aufstand)3 sowie die Pogromwellen im Zarenreich in den Jahren - und -. Diese Ereignisse hat man lange Zeit im »finsteren« Mittelalter bzw. im zivilisatorisch rückständigen Russland des . Jahrhunderts verortet, so dass die antijüdischen Ausschreitungen in den anderen Regionen Europas im . und frühen . Jahrhundert weitgehend aus dem Blick gerieten. Dies steht im Einklang mit dem zivilisatorischen Selbstbild, das die europäische Aufklärung durch eine doppelte Grenzziehung (zeitlich von der »Barbarei« Vgl. die jüngste zusammenfassende Darstellung von Raphael Gross, November . Die Katastrophe vor der Katastrophe, München . Siehe zu meiner Definition von »Pogrom« in Kap. , S. . Zur Frage, ob die »Reichskristallnacht« als Pogrom richtig bezeichnet ist, siehe Kap. , Fußnote . Vgl. die Schulbuchanalyse, wonach zwischen der Erwähnung der mittelalterlichen Pogrome und der NS-Zeit eine große Lücke bestand: Christel Hopf/Knut Nevermann/Ingrid Schmidt, Wie kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Eine empirische Analyse von Deutungen im Unterricht, Frankfurt a. M. . Trotz des seit langem geforderten Perspektivenwechsels wird nach den Befunden der neuesten Schulbuchstudie jüdische Geschichte weiterhin vorrangig als Verfolgungs- und Opfergeschichte dargestellt: Martin Liepach/ Dirk Sadowski (Hrsg.), Jüdische Geschichte im deutschen Schulbuch. Eine Bestandsaufnahme aktueller Lehrwerke, Göttingen , S. . Robert A. Friedl, Polen und sein Osten am Vorabend der Katastrophe. Der große Kosaken- und Bauernaufstand von , phil. Diss., Universität Düsseldorf (Onlinepublikation: http://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-/ DissFriedl_Polen-Ab.pdf ). Siehe auch Frank Golczewski, Chmielnicki-Pogrome, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. f.
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des Mittelalters, räumlich von der »Barbarei« des Ostens)4 von sich selbst entworfen hatte. Im Selbstverständnis der Moderne waren Religionsverfolgungen und Intoleranz, Judenhetzen und Scheiterhaufen Signaturen eines »vergangenen Zeitalters«, die sich in einem modernen, aufgeklärten Verfassungs- und Rechtsstaat mit durchgesetztem Gewaltmonopol nicht wiederholen konnten. Kam es dennoch zu gewaltsamen antijüdischen Ausschreitungen, wie z. B. den Hep-Hep-Unruhen des Jahres oder in Hinterpommern und Westpreußen im Jahre –, so wurden diese von den aufgeklärten Zeitgenossen als bloße »Reste« vergangener Intoleranz und Zeichen mangelnder Bildung und Aufklärung – also als etwas Altbekanntes – klassifiziert, nicht aber in ihren »modernen« Entstehungsbedingungen ernst genommen.5 So spottete eine liberale deutsche Zeitung angesichts der Ausschreitungen in Hinterpommern und Westpreußen in einem Gedicht: »Uns wird so mittelalterlich, So raubmordlustentfalterlich, So judenblutdursterlich, So ganz Henrici-Stoeckerlich, So Synagog’ ansteckerlich, So albern und so lächerlich«.6 Man kann Spuren dieses Deutungsmusters noch in jenen (allerdings eher marginalen) historischen Erklärungsversuchen ausmachen, die den Holocaust als »Wiederkehr eines mittelalterlichen Wahns«, als »Rückfall in die Barbarei« oder als »asiatische Tat« interpretieren, ihm damit einen fremden Ursprung zuschreiben und so die Tatsache verschleiern, dass es sich um ein genuin modernes Geschehen handelte.7 Der systematisch betriebene, millionenfache Judenmord im Holocaust Johannes Heil, »Boten der Vergangenheit«? Antiquierte Barbarei: Mittelalterliche Pogrome im neuzeitlichen Gedächtnis, in: Aschkenas. Zeitschrift für die Geschichte und Kultur der Juden , , S. -; Otto G. Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: Peter Segl (Hrsg.), Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongressakten des . Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth , Sigmaringen , hier S. ff.; Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization in the Mind of the Enlightenment, Stanford . Christhard Hoffmann, Geschichte und Ideologie: Der Berliner Antisemitismusstreit /, in: Wolfgang Benz/Werner Bergmann (Hrsg.), Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Bonn , S. -, hier S. . Die Reform Nr. , vom .., zit. nach Hoffmann, Geschichte und Ideologie, S. . Zum Begriff der »asiatischen Tat« für die Verbrechen des Nationalsozialismus vgl. Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, . Juni – diese Rede bildete den Anlass für den »Historikerstreit«; siehe Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Stuttgart ; Detlev Peukert, The Genesis of the ›Final Solution‹ from the Spirit of Science, in: David F. Crew (Hrsg.), Nazism and German Society, -, London, New York , S. -; Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg .
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ist eben nicht als Wiederaufleben »mittelalterlicher« Verfolgungswut zu verstehen. Sicherlich hat das liberale Selbstverständnis, Judenhass und moderne Zivilisation seien unvereinbar, entscheidend zur Delegitimierung und Überwindung der traditionellen religiös geprägten Judenfeindschaft und Anwendung offener Gewalt beigetragen. Der relative Erfolg dieses Wertungsmusters hat aber auch dazu geführt, dass die Formen antijüdischer Ausgrenzung und Gewalt ihrerseits transformiert und »modernisiert« wurden.8 Diese Konstellation, die Klassifikation von Pogromen als überlebte Form »mittelalterlichen« Religionsfanatismus und die Erkenntnis, dass der Holocaust im Wesentlichen auf anderen, modernen Voraussetzungen beruhte, hat vermutlich dazu beigetragen, dass das Phänomen der kollektiven Gewalt gegen Juden in der Periode zwischen der Französischen Revolution und dem Holocaust (ca. -) erst spät die wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden hat, die es verdient. Die Assoziation mit einer archaischen, unorganisierten und brutalen Gewalt gegen Juden wird auch durch das russische Wort »Pogrom« geweckt, das Zerstörung und Unwetter bedeutet. Moderne Historiker haben diesen Begriff primär für die Pogromwellen des Zarenreichs (- und -) verwendet, von denen insbesondere die zweite Welle sehr gewaltsam verlief. Von dort ist der Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Diese Fixierung auf die Ereignisse im Zarenreich hat lange Zeit den Blick darauf verstellt, dass es auch in anderen Regionen Europas im . Jahrhundert und frühen . Jahrhundert zu einzelnen Fällen oder gar zu größeren Wellen antijüdischer Ausschreitungen kam, auch wenn es dort zumeist weniger gewalttätig zuging.9 Die Fälle antijüdischer Gewalt, wie sie von der Zeit der Emanzipation bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Zuge politischer und ökonomischer Krisen und Konflikte in vielen europäischen Regionen auftraten,10 waren moderne Phänomene, die als Reaktionen auf die sich verändernden sozialen und politischen Beziehungen zwischen der christlichen Mehrheit und der jüdischen Minderheit zu verstehen sind. Zwar hat es seit den er Jahren keine antijüdischen Pogrome mehr gegeben, doch sind Pogrome keine historisch überholte Erscheinung, sondern treten im Kontext religiöser und ethnischer Gegensätze auch gegenwärtig noch auf, etwa in Fällen von religiöser Gewalt zwischen Muslimen und Christen in Nigeria, Zentralafrika und Indonesien, zwischen Sunniten und Schiiten im Irak oder zwischen Hindus und Muslimen in Indien,11 oder als ethnische Gewalt gegen Roma in Ost Hoffmann, Geschichte und Ideologie, S. ; Werner Bergmann, »Nicht aus den Niederungen des Hasses und des Aberglaubens«. Die Negation von Emotionen im Antisemitismus des deutschen Kaiserreichs, in: Geschichte und Gesellschaft /, , S. -. Eine Verbindung sieht hier auch David Vital: »In sum the pogroms in southern Russia in the early s were the Hep! Hep! riots of Germany in writ very large.« (A People Apart: The Jews of Europe, -, New York , S. ). Vgl. die Liste der Pogrome im Anhang. Eine weltweite Übersicht bietet Donald L. Horowitz, The Deadly Ethnic Riot, Oxford ; John T. Sidel, Riots, Pogroms, Jihad. Religious Violence in Indonesia, Ithaca .
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und Südosteuropa oder gegen Asylbewerber wie in Deutschland (RostockLichtenhagen).12 Die geringe wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Ausschreitungen gegen Juden mag erstaunen, waren doch Formen kollektiver Gewalt und populären Protests gerade in der sich in den er Jahren entwickelnden sozialhistorischen Protestforschung wichtige Forschungsthemen. Diese Forschung konzentrierte sich jedoch primär auf Fälle von gewaltsamem Sozialprotest wie Subsistenzunruhen, Maschinensturm, politische Proteste und Revolutionen,13 während die Dimension interethnischer Gewalt nur am Rande Berücksichtigung fand bzw. als eine Ausprägung von Sozialprotest behandelt wurde, was nur zum Teil zutraf; d. h., die genuin antijüdische Dimension wurde in diesen Formen antijüdischer Gewalt nicht gesehen.14 Die Soziologie kollektiven Handelns wiederum hat zwar in den er Jahren mit den US-Rassenunruhen interethnische Gewalt sehr genau untersucht, doch hat sie diese ebenfalls – in diesem Fall aber zu Recht – als eine Form von Sozialprotest behandelt.15 Diesem Paradigma folgte anschließend auch die Ana Roger Karapin, Antiminority Riots in Unified Germany. Cultural Conflicts and Mischanneled Political Participation, in: Comparative Politics, January , S. -. Charles Tilly/Louise Tilly/Richard Tilly, The Rebellious Century -, Cambridge, Mass. ; Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class, London ; George Rudé, The Crowd in History. A Study of Popular Disturbances in France and England -, New York ; John Stevenson, Social Control and the Prevention of Riots in England, -, in: A. P. Donaijgrodzki (Hrsg.), Social Control in Nineteenth Century Britain, London , S. -; John Bohstedt, Riots and Community Politics in England and Wales -, Cambridge, Mass. ; ders./Dale E. Williams, The Diffusion of Riots: The Pattern of , , and in Devonshire, in: Journal of Interdisciplinary History , , S. -. In Deutschland vor allem: Heinrich Volkmann/Jürgen Bergmann (Hrsg.), Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichsgründung, Opladen ; Manfred Gailus/Heinrich Volkmann (Hrsg.), Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest -, Opladen ; Helmut Berding (Hrsg.), Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution, Göttingen ; Arno Herzig, Unterschichtenprotest in Deutschland -, Göttingen ; Wolfgang J. Mommsen/Gerhard Hirschfeld (Hrsg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im . und . Jahrhundert, Stuttgart ; in der Rückschau: Manfred Gailus, Was macht eigentlich die historische Protestforschung? Rückblicke, Resümee, Perspektiven, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen , , S. -. So behandelt Rainer Wirtz auch Fälle antijüdischer Gewalt: »Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle, Tumulte und Skandale«. Soziale Bewegung und gewalthafter sozialer Protest in Baden -, Frankfurt a. M., Berlin, Wien . Auch Eleonore Sterling hat die Hep-Hep-Unruhen von als Ausdruck eines auf die Juden abgeleiteten Sozialprotests interpretiert: Anti-Jewish Riots in Germany : A Displacement of Social Protest, in: Historia Judaica , , S. -. Seymour Spilerman, The Causes of Racial Disturbances: A Comparison of Alternative Explanations, in: American Sociological Review , , S. -; Gregg Lee Carter, Black Attitudes and the s Black Riots: An Aggregate-Level Analysis of the Kerner Commission’s » Cities« Data, in: Sociological Quarterly , , S. -.
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lyse der »neuen sozialen Bewegungen« (Frauenbewegung, Bürgerrechtsbewegung), die ideologisch eng mit den Rassenunruhen zusammenhingen, wie etwa die Civil Rights-Bewegung und die Ghettoaufstände der mittsechziger Jahre in den USA.16 Eine Ursache für die bis in die er Jahre reichende Vernachlässigung interethnischer Gewalt ist in der modernisierungstheoretischen Annahme der Sozialwissenschaften zu suchen, dass askriptiv bedingte Differenzierungen, wie Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit, in modernen Gesellschaften an Bedeutung verlieren würden und Klassenkampf sowie ethnische Konflikte Resultate von schließbaren Modernisierungslücken seien. Mit dem Modernisierungsoptimismus war die Überschätzung der zivilisatorischen Befriedung moderner Gesellschaften verbunden, wie sie sich in den Theorien von Max Weber und Norbert Elias ausdrückt.17 Von den er bis in die er Jahre war also das Interesse der Geschichtswissenschaft wie der Soziologie mit ihrer modernisierungsoptimistischen Ausrichtung ganz auf die »fortschrittlichen« Protestbewegungen gerichtet, die sich für die Inklusion benachteiligter Schichten und Bevölkerungsgruppen einsetzten. Es wurde kaum gesehen, dass es auch Formen gewaltsamen Protests geben kann, die auf die Abwehr von Inklusion zielten.18 Die Soziologie kollektiver Gewalt hatte die instrumentelle und eher eingehegte Gewaltanwendung der von ihr analysierten jugendlichen oder linksgerichteten Protestbewegungen vor Augen, die sie mit einem gewissen Verständnis betrachtet hat, das sie für die rechtsextreme und genozidale Gewalt der er Jahre dann verständlicherweise nicht mehr aufbringen konnte. In der Tat hatte die Soziologie bis Ende der er Jahre – worauf in Deutschland Birgitta Nedelmann hingewiesen hat19 – analytische Probleme mit dem ambivalenten Dazu James A. Geschwender, Civil Rights Protest and Riots: A Disappearing Distinction, in: Social Science Quarterly , , S. -. Dabei sind nicht nur das . und ., sondern auch das . und . Jahrhundert »weltweit geradezu mit Gewalt durchsetzt und durchtränkt« (Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hrsg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. M. , S. ). Zur Kritik an dieser Sichtweise Peter Imbusch, Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das . Jahrhundert, Wiesbaden ; Christian Scheller, Die Gewaltproblematik als differenzierungstheoretischer Aspekt im Prozess der Zivilisation. Ursachenforschung nach möglichen Zusammenhängen zwischen Zivilisation und Gewalt am Beispiel der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen des . Jahrhunderts, e-book, ; vgl. Abram de Swaan, Zivilisierung, Massenvernichtung und der Staat, in: Leviathan /, , S. -, der auf die Gegenläufigkeiten im Prozess der Zivilisation hinweist, in dem Phasen von Zivilisierung durch solche der Dezivilisation oder des »Zusammenbruchs von Zivilisation« unterbrochen werden, was zumeist mit Begriffen wie »Regression in die Barbarei« oder »Verwundbarkeit der Zivilisation« ausgedrückt wird (S. f.). Wir haben deshalb zur Kennzeichnung der Ausrichtung dieser Gewaltform den Begriff »exclusionary violence« eingeführt: siehe Hoffmann/Bergmann/Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence. Birgitta Nedelmann, Schwierigkeiten soziologischer Gewaltanalyse, in: Mittelweg , , S. -; dies., Gewaltsoziologie am Scheideweg. Die Auseinandersetzungen in der gegenwärtigen und Wege der künftigen Gewaltforschung, in: Trutz von Trotha (Hrsg.),
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Phänomen von extremer Gewalt, wobei vor allem die gewaltsame Handlung selbst mit ihrer Faszination für Täter und Beobachter und ihrem Körperbezug ausgespart wurde. So hat die sozialwissenschaftliche Forschung zu politischer Gewalt erst in den späten er Jahren begonnen, sich systematisch mit kollektiver Gewalt gegen Leib, Leben und Eigentum ethnischer Gruppen zu befassen, wie umgekehrt die Forschung zu ethnischen Konflikten die Gewaltdynamik lange Zeit wenig berücksichtigt hat.20 Craig J. Jenkins und Kurt Schock beklagten noch , dass eine große empirische Lücke unser Verständnis für die ethnischen Antagonismen begrenze.21 Dass diese Differenz in der Zielrichtung wie in den Erscheinungsformen kollektiver Gewalt häufig übersehen wurde, mag auch der verwendeten Begrifflichkeit geschuldet sein. Im Deutschen wie im Englischen verdecken die Begriffe Unruhe, Protest, Tumult, Krawall, Exzess, Ausschreitung oder »riot« oder »unrest« die angesprochene Differenz. Race oder ethnic riots können demnach einmal für eine Form des Sozialprotests stehen, in der eine benachteiligte ethnische Gruppe um ihre Rechte und die Verbesserung ihrer sozialen Lage kämpft, im anderen Fall für Konflikte, in denen es um kollektive Konfrontationen zwischen ethnischen Gruppen geht22 (dazu mehr in Kap. ). Mit der letztgenannten Form kollektiver Gewalt gegen das Eigentum, manchmal auch gegen Leib und Leben ethnischer, religiöser oder kultureller Minderheiten hat sich die Soziologie bisher wenig befasst, und auch die Geschichtswissenschaft hat Pogrome bis vor einigen Jahren fast ausschließlich in Form von Fallanalysen im Kontext von Minderheiten- oder Nationalgeschichten behandelt, wobei Versuche einer komparativen und diachronen Betrachtung die Ausnahme blieben.23
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Soziologie der Gewalt, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. , , S. -. Die in Reaktion auf die drastische Schilderung der Judenmorde durch deutsche Einsatzgruppen und Polizeieinheiten in Daniel J. Goldhagens Buch, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin , geführte Diskussion, ob die übliche distanzierte Darstellung oder eine emotionalere Perspektive dem Geschehen angemessener sei, zeigt, dass dieses Problem auch in der Geschichtswissenschaft besteht. Rogers Brubaker/David D. Laitin, Ethnic and Nationalist Violence, in: Annual Review of Sociology , , S. -, hier S. . Craig J. Jenkins/Kurt Schock, Global Structures and Political Processes in the Study of Domestic Political Conflict, in: Annual Review of Sociology , , S. -, hier S. . Susan Olzak, The Political Context of Competition: Lynching and Urban Racial Violence, -, in: Social Forces , , S. -, hier S. . Ausnahmen: Otto H. Dahlke: Race and Minority Riots. A Study in the Typology of Violence, in: Social Forces, , /, S. -; Harvey E. Goldberg, Rites and Riots. The Tripolitanian Pogrom of , in: Plural Societies , , S. -.
. Antisemitismus: Zum Verhältnis von Ideologie und Gewalt Dass sich auch die Antisemitismusforschung nach mit den antijüdischen Ausschreitungen des . und frühen . Jahrhunderts lange Zeit kaum befasst hat, liegt in ihrer überwiegend ideologie- und politikgeschichtlichen Ausrichtung, in der die soziale Praxis der Judenfeindschaft wenig Beachtung fand. Ihr ging es um die Aufdeckung der ideologischen, politischen und ökonomischen Voraussetzungen des Antisemitismus und der Judenverfolgung im Nationalsozialismus,1 man suchte sozusagen nach den »Wurzeln des Bösen«2 und fragte nach den spezifisch modernen Voraussetzungen des Antisemitismus, etwa in der Dialektik der Aufklärung Max Horkheimers und Theodor W. Adornos.3 Auch die sich seit den er Jahren entwickelnde (sozial-)psychologische und soziologische Antisemitismusforschung konzentrierte sich auf die Genese persönlicher Charakter- und Einstellungsstrukturen, während die Handlungsdimension ausgeblendet blieb.4 In der Forschung kamen die Episoden kollektiver Gewalt gegen Juden im Europa des . und frühen . Jahrhunderts also selten in den Blick oder waren, wie zum Beispiel die Ausschreitungen in Frankreich während der Dreyfus-Affäre oder die Unruhen in Pommern und Westpreußen in den Jahren und , sogar fast völlig vergessen. Dabei zeigen Analysen der antisemitischen Semantik, dass die Erörterungen der »Judenfrage« bereits seit den Emanzipationsdebatten häufig auch gewaltsame Lösungen wie Vertreibung, Ghettoisierung und physische Gewalt in den Horizont möglicher, wenn auch zumeist verworfener »Lösungen« rückten.5 Dennoch war die tatsächliche »antisemitische Praxis« ein Stiefkind der Antisemitismusforschung. Dabei kommt diesen Ereignissen, die in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts vor allem in Mittel- und Osteuropa ein verbreitetes Phänomen gewesen sind, durchaus eine Bedeutung in der Entwicklung des Antisemitismus in Europa zu, da die Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Frankfurt a. M. (amerik. Ausgabe ); Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany ; Eva G. Reichmann, Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, Frankfurt a. M. (engl.: Hostages of Civilization, London ); Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus -, München . Massimo Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler, Frankfurt a. M. . Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam ; JeanPaul Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des Antisemitismus, Zürich ; eine Übersicht zur Geschichte der internationalen Forschung in: Werner Bergmann (Hrsg.), Error without Trial. Psychological Research on Antisemitism Current Research on Antisemitism, Vol. II, hrsg. von Herbert A. Strauss/Werner Bergmann, Berlin, New York ; und der deutschen Forschung in: Werner Bergmann/Mona Körte (Hrsg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin . Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswik/Daniel J. Levinson/Richard N. Sanford, The Authoritarian Personality, New York . Vgl. Erb/Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation; Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg .
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potentiell labilen Beziehungen in diesen Gewaltereignissen ihren direktesten Ausdruck fanden und jeweils für die Antisemiten einen Anlass für besonders intensive Agitation boten. Die Forschung hat zweierlei lange unterschätzt: die Bedeutung der antijüdischen Gewalt für den Aufstieg des modernen Antisemitismus wie auch den Platz, den diese Gewalt – im Unterschied zur antisemitischen Ideologie – in der Vorgeschichte, aber auch im Zuge des Holocaust einnimmt.6 Die Beziehungen von antisemitischer Ideologie und antijüdischer Gewaltpraxis sind jedoch keineswegs monokausal zu denken, in dem Sinne, dass ein virulenter Antisemitismus notwendig in Gewalt mündete oder dass er gar generell auf die Eliminierung der Juden abzielte und nur eine Gelegenheit zum Handeln suchte, wie Daniel Goldhagen es in seinem Buch Hitlers willige Vollstrecker mit dem Konzept des »eliminatorischen Antisemitismus« suggeriert hat. Nach Goldhagen existierte, zumindest in Deutschland, ein in allen Gesellschaftsschichten verbreitetes »kognitives Modell«, das die Eliminierung des jüdischen Einflusses oder gar die Eliminierung der Juden selbst forderte.7 Diese Vorstellung habe die Deutschen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus zu »willigen Vollstreckern« des Judenmordes gemacht. Die »antisemitische Weltanschauung« sei demnach eine Ideologie mit »tödlichen Konsequenzen.«8 In dieser Sichtweise würden in antijüdischen Ausschreitungen lediglich konstante, immer vorhandene antisemitische Überzeugungen manifest; d. h., sie unterstellt in jedem Fall antisemitische Motivationen der Akteure.9 Damit wird der Antisemitismus gleichsam systematisch zu einem historischen Subjekt essentialisiert, das unabhängig vom Denken, Sprechen und Handeln existiert und Einfluss nimmt, so dass die Akteure dabei als bloße Ausführende einer überzeitlichen Ideologie erscheinen. Die Ereignisse selbst und die Absichten der verantwortlichen Akteure müssen jedoch ernst genommen werden. Dann wird sichtbar, dass die Bedeutung antisemitischer Überzeugungen historisch und geographisch variiert und dass für den Ausbruch von Gewalt neben den ideologischen Überzeugungen der Handelnden auch die jeweiligen Handlungskontexte und -ziele eine zentrale Rolle spielen. So war die Phase am Vorabend der er Revolution keineswegs von einer virulenten judenfeindlichen Stimmung geprägt, dennoch kam es im Zuge der revolutionären Gewalt vielerorts auch zu Übergriffen gegen Juden, wie umgekehrt Ursachen für kollektive Gewalt wie Hunger- und Wirtschaftskrisen, Revolutionen, »Ritualmorde« oder Kriegsniederlagen in man Dazu Werner Bergmann/Christhard Hoffmann/Helmut W. Smith, Introduction, in: Hoffmann/Bergmann/Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence, S. ; es gibt aber auch Ausnahmen wie Erb/Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation; Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt: Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn . Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Kap. : Eine neue Sichtweise des Antisemitismus: Ein Rahmen für die Analyse; zum Begriff des Antisemitismus als »kognitives Modell« S. ; zum Begriff des »eliminatorischen Antisemitismus« Kap. (S. ff.). Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. . Siehe zur Kritik an diesem Konzept Bergmann/Hoffmann/Smith, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Exclusionary Violence, S. f. Zur Kritik an Goldhagens Konzept: Dieter Pohl, Die Holocaust-Forschung und Goldhagens Thesen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte /, , S. -.
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chen Fällen zu antijüdischer Gewalt führen, in anderen aber nicht. D. h., das analytische Problem besteht ja gerade darin, zu erklären, warum Teile der Gesellschaft auf die genannten Problemlagen, die oft gar nicht die Beziehungen zwischen Juden und Christen betrafen, mit Gewalt gegen Juden und nicht gegen die Herrschenden oder eine andere Gruppe reagierten. Der Rückgriff auf einen »ewigen Antisemitismus« kann dies nicht leisten.10 Auch David Nirenberg hat diesem Ansatz zu Recht vorgeworfen, dass der Bezug zu einer seit dem Mittelalter immer gleichen antisemitischen Ideologie Intoleranz und Gewalt als eine Frage der bloßen Umsetzung von Ideologien verstehe, ohne die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Kontexte zu beachten.11 Die Existenz eines antisemitischen Diskurses ist zwar eine wichtige Voraussetzung dafür, Juden und nicht eine andere ethnische oder soziale Gruppe als Ziel von Gewaltaktionen auszuwählen, doch führen antisemitische Überzeugungen nicht notwendig dorthin, denn Ausbrüche kollektiver Gewalt sind, wie John D. Klier für Osteuropa konstatiert hat, außergewöhnliche Ereignisse und keineswegs die Regel im Zusammenleben von Juden und Nichtjuden gewesen.12 Diese Diskurse bilden vielmehr eine Ressource, auf die Akteure zur Interpretation ihrer Beziehungen und Konflikte mit einer Outgroup zurückgreifen, wenn sie sie als sinnvoll und nützlich für die Begründung ihrer Aktionen ansehen, wobei zugleich die antijüdischen Vorstellungen durch die Konflikte und Handlungsziele modifiziert und intensiviert werden können. Die Gewalt gegen Juden enthält als eine Form der Kommunikation immer auch eine Botschaft an die Adresse der Opfer, aber auch an die des Staates. Je genauer die Besonderheiten der einzelnen Ausschreitungen untersucht werden, desto weniger genügen sie unseren Vorstellungen von Homogenität und Zielgerichtetheit und desto stärker treten ihre Kontingenz und Verschiedenheit hervor.13 Die Eigengesetzlichkeit kollektiver Gewalt darf also nicht aus dem Blick geraten. Gewalt ist auch in ihrer kollektiven Form eine »Möglichkeit des Ausdrucks […], der sich jedermann jederzeit bedienen kann« und nicht notwendig ein abweichendes Verhalten, d. h., Gewalttäter müssen nicht unbedingt aus ideologischen Überzeugungen oder fehlender Triebhemmung handeln.14 Dirk Baecker hat Gewalt als eine Form der Kommunikation beschrieben, mit der sich Handelnde Gehör verschaffen können. Wer etwa machtlos oder isoliert ist, macht mit der Gewalt ein »nicht negierbares Kommunikationsangebot«.15 Paul Duchoumel hat im Anschluss an die Theorie René Girards die kausale Wirksam Bergmann/Hoffmann/Smith, Introduction, S. . David Nirenberg, Communities of Violence: Persecution of Minorities in the Middle Ages, Princeton, , S. f. Nirenberg hat den Zusammenhang zwischen Ideologie und Handeln ganz knapp so bestimmt: »Briefly, discourse and agency gain meaning only in relation to each other« (S. ). Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . Nirenberg, Communities of Violence, S. . Jörg Baberowski, Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen /, , S. -, hier S. f. Dirk Baecker, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt a. M. , S. f.
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keit von Ideen auf Gewalt sogar gänzlich bestritten, denn diese Annahme würde voraussetzen, dass die Ideen/Überzeugungen der Gewalt äußerlich seien und ihr vorausgegangen sein müssen. Da Ideen aber nicht immer zu Gewalt führen, muss es zusätzliche Ursachen geben. Es scheint also vielmehr so zu sein, dass Ideen und Gewalt auf eine gemeinsame Ursache zurückgehen, nämlich auf konflikthafte Interaktionen, und sich im Verlaufe der Eskalation eines Konflikts beide steigern. Gewalt ist die Folge der (Intensivierung) der Rivalität als solcher.16 Dies gilt entsprechend auch für die Intensivierung negativer Überzeugungen über die rivalisierende Gruppe, in unserem Fall für die Ausprägung antisemitischer Überzeugungen. Im Anschluss an die neuere Nationalismus-Forschung17 und an Überlegungen Tim Buchens soll Antisemitismus hier als ein sozialer Prozess verstanden werden, »in dem Sprechen und Handeln aufeinander Bezug nehmen und die Ausgrenzung von Juden gerechtfertigt erscheint, weil das Zusammenleben von Nichtjuden und Juden als grundsätzlich konflikthaft und zum Nachteil der eigenen Gemeinschaft verläuft, der ein höheres Recht auf Wohlergehen zugesprochen wird«.18 D. h., das Reden über Antisemitismus ist in den regionalen oder lokalen Kontexten nicht als ein selbständiger, »abgehobener Diskurs« zu sehen, in dem antisemitische Akteure ihre Texte und Programme losgelöst von den existierenden Beziehungen von Juden und Nichtjuden entwerfen, sondern »erfolgt in ständiger Wechselwirkung mit der Deutung gesellschaftlicher Entwicklungen und Ereignisse«.19 In dieser Arbeit wird im Sinne dieses Verständnisses von Antisemitismus als einem sozialen Prozess, in dem natürlich auch antisemitische Einstellungen und Diskurse eine wesentliche Rolle spielen, in der historischen Analyse der antijüdischen Ausschreitungen des . Jahrhunderts eine handlungstheoretische Analyse auf der Mikroebene der Gewaltphänomene vorgenommen, die in ihren jeweiligen Begründungen und dynamischen Verläufen betrachtet werden. Im Zuge des cultural turn in der Sozialwissenschaften ist gerade das Moment der Bedeutung von Gewalthandeln in den Mittelpunkt gerückt worden, wobei dieser Handlungssinn als kulturell konstruiert, diskursiv vermittelt, symbolisch aufgeladen und rituell
Paul Duchoumel, Massengewalt und konstitutive Gewalt, in: Axel T. Paul/Benjamin Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen. Über die Selbstorganisation kollektiver Gewalt, Hamburg , S. -, hier S. . Die gemeinsame Ursache wird von Girard als »Mimesis« bezeichnet, die sich der Tatsache verdankt, dass wir uns aneinander orientieren, einander schätzen oder verachten (S. ). Vgl. dazu die klassische Studie von Muzafer Sherif/O. J. Harvey/B. Jack White/William R. Hood/Carolyn W. Sherif, Intergroup Conflict and Cooperation: The Robbers Cave Experiment, Norman (Oklahoma) . Dazu vor allem die Arbeiten von Rogers Brubaker: Rethinking Nationhood: Nation as an Institutionalized Form, Practical Category, Contingent Event, in: Contention /, , S. -; ders., Nationalism Refrained: Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge . Tim Buchen, Antisemitismus in Galizien. Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um , Berlin , S. . Ebd.
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reguliert angesehen wird.20 Damit erscheinen Pogrome nicht als wüste, regellose Ausbrüche sinnloser Zerstörungswut – wie sie zweifellos von den Betroffenen oft erlebt werden –, sondern werden in ihrer Eigendynamik und »Sinnhaftigkeit« für die Akteure im Kontext der sozialen Beziehungen zwischen den Konfliktparteien rekonstruiert, folgen also einer »sozialen Logik«.21 Mit dieser mikrohistorischen Betrachtungsweise unterläuft man die fruchtlose reduktionistische Alternative, entweder einen kontinuierlich und gleichbleibend bestehenden Antisemitismus ohne Bezug zu realen Konflikten als Ursache der Gewalt anzunehmen oder aber sich allein auf das Vorliegen sozialer Ursachen als Erklärung zu konzentrieren.22 Indem man von dem jeweiligen kollektiven Gewaltereignis ausgeht, erschließen sich sowohl die jeweiligen Bedeutungszuschreibungen von Seiten der beteiligten Akteure wie auch dessen Bedeutung für den größeren sozialen und historischen Kontext.23 Die folgende Analyse kollektiver Gewaltereignisse kombiniert eine ethnologisch angeleitete Mikrohistorie, in der es um die Aufdeckung des rituellen und symbolischen Gehalts der Gewaltaktionen und ihrer Handlungsdynamiken geht, mit der Soziologie kollektiver Gewalt, die sowohl die Frage der sozialen Ursachen wie die in den Aktionen selbst ablaufenden Kommunikationsprozesse zu beantworten sucht, und der Geschichtswissenschaft, die den historischen Kontext der Ereignisse analysiert und sie in ihrem Wandel periodisiert. Die vorliegende Arbeit verknüpft also die Perspektiven von Soziologie und Geschichtswissenschaft.
Vgl. Brubaker/Laitin, Ethnic and Nationalist Violence, S. . Edward P. Thompson hat dafür schon früh in die Sozialprotestforschung den Begriff der »sozialen Logik« eingeführt: Die ›sittliche Ökonomie‹ der englischen Unterschichten im . Jahrhundert, in: Detlev Puls (Hrsg.), Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im . und . Jahrhundert, Frankfurt a. M. , S. - (engl. ), hier S. ; siehe auch: Rolf Peter Sieferle/Helga Breuninger (Hrsg.), Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, Frankfurt a. M. . Jacques Revel, Microanalysis and the Construction of the Social, in: Jacques Revel/Lynn Hunt (Hrsg.), Histories: French Constructions of the Past, New York , S. -; vgl. auch Jörg Hüttemann, Review Essay: »Dichte Beschreibung« oder Ursachenforschung der Gewalt? Anmerkungen zu einer falschen Alternative im Lichte der Problematik funktionaler Erklärungen, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung , , S. -. Bergmann/Hoffmann/Smith, Introduction, S. ; vgl. auch Jörg Baberowski, Gewalt verstehen: »Erst wenn man die Situation beschrieben hat, versteht man überhaupt, was geschehen ist, denn das Verhältnis von Täter und Opfer […] kann aus gesellschaftlichen Ursachen heraus überhaupt nicht erklärt werden. […] Und man wird auch nicht ohne den Kontext auskommen können, in dem sich die Gewalt vollzieht, und der sie ermöglicht […]. Denn die dichte Beschreibung ist nur ein Verfahren, das in überschaubaren Kontexten Ereignisse analysiert und miteinander verknüpft. Sie ist eine Ursachenforschung, deren Tatsachen überprüfbar sind« (S. ).
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. Zum geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand In der Geschichtswissenschaft sind die spezifischen Formen antijüdischer Gewalt in der Moderne erst spät zu einem Forschungsthema geworden, das sich aber in den letzten zwanzig Jahren rasant entwickelt hat. Innerhalb der jüdischen Geschichtsschreibung konzentrierte sich die Beschäftigung lange Zeit auf die Dokumentation der zeitgenössischen russischen Pogrome. Erst mit der Etablierung einer zionistisch orientierten Geschichtsschreibung in Israel kam es Ende der er Jahre zu ersten Studien über die antisemitische Gewalt im Deutschland der Emanzipationszeit.1 Da diese Untersuchungen jedoch nur auf Hebräisch vorlagen, wurden sie außerhalb Israels lange Zeit kaum rezipiert.2 Während Jacob Toury und Jacob Katz die Ursachen der antijüdischen Gewalt in den Kämpfen um die jüdische Emanzipation verorteten, also als Konflikte zwischen Juden und Nichtjuden darstellten, sollte in der Folgezeit eine Interpretation an Einfluss gewinnen, die die antijüdischen Ausschreitungen in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts als »displacement of social protest« ansah. Dieser Erklärungsansatz, der bereits von Eleonore Sterling entwickelt wurde, versteht die Judenfeindschaft der Restaurationszeit und des Vormärz als ein Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Krise und nicht als ein eigenständiges Phänomen.3 In einer Zeit großer sozialer Spannungen wurden die Juden – so die These – zu Opfern einer »eigentlich« gegen die Herrschenden gerichteten Unzufriedenheit. Diese These ist in der seit den -er Jahren florierenden sozialen Protestforschung auf fruchtbaren Boden gefallen, die der für die Soziologie vorherrschenden Vorliebe für die Modernisierungstheorie folgend von der Annahme ausging, dass im . Jahrhundert Klassenkonflikte als primär, religiöse oder ethnische Konflikte hingegen als abgeleitet anzusehen seien.4 Erst in den er Jahren haben Studien die Bedeutung des Antisemitismus als eigenständigen Faktor – eventuell wiederum etwas zu einseitig – hervorgehoben,5 da antijüdische Jacob Toury, Turmoil and Confusion in the Revolution of . The Anti-Jewish Riots in the ›Year of Freedom‹ and their Influence on Modern Anti-Semitism (hebr.), in: Merchavia , S. ff.; ders., Self Defense in the Days of the ›Hep-Hep‹ Riots (hebr.), in: Yalkut Moreshet , , S. -; Jacob Katz, The Hep Hep Riots in Germany of . The Historical Background (hebr.), in: Zion , , S. -. Eine frühe Ausnahme bildete der zunächst unbeachtet gebliebene Aufsatz von Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany in ; ebenfalls schon früh Herbert A. Strauss, Die preußische Bürokratie und die antijüdischen Unruhen im Jahre , in: Gegenwart im Rückblick. Festgabe für die Jüdische Gemeinde zu Berlin Jahre nach dem Neubeginn, hrsg. von Herbert A. Strauss/Kurt R. Grossmann, Heidelberg, Berlin , S. -. Katz’ Studie erschien erst auf Deutsch: Jacob Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres , Berlin . Zur fehlenden Rezeption von Katz und Toury vgl. Rohrbacher, Nachwort, in: ebd., S. ff. Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany. Zum Beispiel Wirtz, »Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle«; Volkmann/Bergmann (Hrsg.), Sozialer Protest; Herzig, Unterschichtenprotest in Deutschland. Erb/Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation; Daniel Gerson, Die Ausschrei-
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Ausschreitungen häufig tatsächlich mit ökonomischen oder politischen Krisensituationen wie Bürgerkrieg oder Revolution einhergingen und von diesen auch beeinflusst wurden. Die seit Mitte der er Jahre und verstärkt dann seit den er Jahren in der Antisemitismusforschung einsetzende Beschäftigung mit antijüdischer Gewalt ist im Kontext der seit den er Jahren anwachsenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit kollektiver ethnischer Gewalt generell zu sehen, die durch eine Reihe aktueller Erscheinungen mit angestoßen worden ist. Dazu gehören die Gewalt gegen Flüchtlinge und Immigranten seit Anfang der er Jahre und die gewaltsamen Proteste von zugewanderten Minderheiten in Europa6 sowie die weltweit aufflammenden Konflikte etwa zwischen Hindus und Muslimen in Indien oder Muslimen und Christen in Nigeria bis hin zu den »ethnischen Säuberungen« in Jugoslawien und dem Völkermord in Ruanda.7 Das Interesse richtete sich nun sehr stark auf das Feld ethnischer Konflikte und die dabei ausgeübte Gewalt,8 dies reicht von den Formen lokaler kollektiver Gewalt wie Lynchjustiz, Ausschreitungen gegen Einwanderer,9 Pogrome10 bis hin zu den organisierten Formen des Terrorismus, der
tungen gegen die Juden im Elsaß , in: Bulletin des Leo Baeck Institute , , S. ; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Vgl. neuere Studien zu Riots gegen Asylbewerber im wiedervereinigten Deutschland: Karapin, Antiminority Riots in Unified Germany; Helmut Willems, Jugendunruhen und Protestbewegungen. Eine Studie zur Dynamik innergesellschaftlicher Konflikte in vier westeuropäischen Ländern, Opladen , S. ff. Solche Gewaltaktionen gegen Immigranten sind keine neue Erscheinung: Panikos Panayi, Middlesbrough : A British Race Riot of the s? in: Social History , , S. -; Panikos Panayi, Anti-Immigrant Riots in Nineteenth and Twentieth Century Britain, in: ders. (Hrsg.), Racial Violence in Britain -, Leicester , S. -. Zur Verschiebung der Forschungsschwerpunkte von der individuellen Gewalt zur »Makrogewalt« vgl. Peter Imbusch, Gewalt – Stochern in unübersichtlichem Gelände, in: Mittelweg /, , S. -, hier S. f. Wimmer, Interethnische Konflikte, S. -; für die deutsche Soziologie vgl. Trutz von Trotha (Hrsg.), Soziologie der Gewalt, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie , ; mit aktuellen Pogrom-Beispielen aus Südostasien Rösel, Vom ethnischen Antagonismus, S. -. In dieser Forschung ist die Frage nach den Ursachen kommunaler Gewalt ganz verschieden beantwortet worden: vgl. Walter Korpi, Conflict, Power and Relative Deprivation, in: American Political Science Review , , S. -; John Bohstedt, The Dynamics of Riots: Escalation and Diffusion/Contagion, in: The Dynamics of Aggression. Biological and Social Processes in Dyads and Groups, hrsg. von Michael Potegal/John F. Knutson, Hillsdale, N. J. , S. -; David T. Mason, Individual Participation in Collective Violent Action: A Rational Choice Synthesis, in: American Political Science Review , , S. -; Clark McPhail, The Myth of the Madding Crowd, New York ; ders./Ronald T. Wohlstein, Individual and Collective Behaviors within Gatherings, Demonstrations, and Riots, in: Annual Review of Sociology , , S. -. Paul R. Brass (Hrsg.), Riots and Pogroms, Hampshire ; Brubaker/Laitin, Ethnic and Nationalist Violence; Horowitz, Deadly Ethnic Riot.
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»ethnischen Säuberung«,11 des Massakers12 und letztlich des Völkermords.13 Zu allen diesen Erscheinungsformen von kollektiver Gewalt liegt inzwischen eine kaum noch überschaubare Fülle von Literatur vor. Man kann sagen, dass das Thema Gewalt seit Mitte der er Jahre geradezu ins Zentrum soziologischen, politikwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Interesses gerückt ist.14 Dieses hat sich inzwischen in einem ersten großen Handbuch der Gewaltforschung und weiteren Handbüchern sowie in der Gründung spezialisierter wissenschaftlicher Zeitschriften niedergeschlagen – was immer ein Zeichen für die Institutionalisierung eines Forschungsfeldes ist.15 Eine Fülle geschichtswissenschaftlicher Publikationen mit z. T. großem öffentlichem Widerhall hat sich der Gewaltgeschichte zugewandt. Allein / erschienen eine Beschreibung der Stalinschen Säuberungspolitik von Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt (),16 Timothy Snyders Bloodlands und Felix Schnells Räume des Schreckens: Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine -, die den osteuropäischen Raum in den Blick nehmen und schon im Titel dramatische Szenarien entwerfen. Ähnliches gilt auch in der Soziologie etwa für die Arbeiten von Wolfgang Sofsky, Zeiten des Schreckens, Norman Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im . Jahrhundert, München ; Mann, Die dunkle Seite der Demokratie; Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des . Jahrhunderts, hrsg. von Detlef Brandes/Holm Sundhaussen/Stefan Troebst, Wien ; Donald Bloxham/A. Dirk Moses, Genocide and Ethnic Cleansing, in: Donald Bloxham/Robert Gerwarth (Hrsg.), Political Violence in Twentieth-Century Europe, Cambridge , S. -; A. Bell-Fialkoff, Ethnic Cleansing, New York . Mark Levene/Penny Roberts (Hrsg.), The Massacre in History, Oxford, New York ; Eric Carlton, Massacres. Historical Perspectives, Aldershot . Seit entstand dazu eine Fülle neuer Fachzeitschriften: Holocaust and Genocide Studies, Journal of Genocide Research, Genocide, Zeitschrift für Genozidforschung, Comparative Genocide Studies u. a. Eine gute Übersicht zum Forschungsstand bieten Boris Barth, Genozid. Völkermord im . Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen, München ; Jacques Sémelin, Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde, Hamburg . Für die Soziologie vgl. das von v. Trotha herausgegebene Sonderheft: Soziologie der Gewalt; für die Geschichtswissenschaft: Dirk Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im . und . Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte , , S. -; eine gewisse Popularität erreichten die Arbeiten von Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a. M. ; ders., Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. ; Christian Gerlach, Extrem gewalttägige Gesellschaften. Massengewalt im . Jahrhundert, München . Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden ; vgl. auch Christian Gudehus/Michaela Christ (Hrsg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar ; entsprechende Zeitschriften sind: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, Journal of Interpersonal Violence, Contagion: Journal of Violence, Journal of Religion and Violence; sowie zahlreiche Zeitschriften zur Holocaust- und Genozidforschung. Vgl. auch Jörg Baberowski/Gabriele Metzler (Hrsg.), Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. .
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Amok, Terror, Krieg (), oder von Randall Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie (). Auch in der Holocaustforschung ist seit den er Jahren eine zunehmende Konzentration auf die kollektive Gewaltpraxis erkennbar, indem man im Anschluss an die Pionierarbeit Christopher Brownings die Pogrome, Massaker und Massenerschießungen in den Blick nimmt, während man zuvor fast ausschließlich die quasi industrielle Massentötung in den Vernichtungslagern im Blick gehabt hatte.17 Dieses neue Interesse an Gewalt hat auch in den Forschungen zum Antisemitismus die kollektive Gewalt gegen Juden vor dem Holocaust ins Blickfeld gerückt.18 In Arbeiten zur Geschichte der Juden und in der Antisemitismusforschung sind in den letzten drei Jahrzehnten zahlreiche Fallstudien über Vorkommnisse antijüdischer Gewalt erschienen, so dass man von einem regelrechten »Boom« sprechen kann. Dies gilt einmal für die neuerliche intensive Beschäftigung mit den Ereignissen des Ersten Kreuzzuges,19 mit den antijüdischen Armleder- und RintfleischVerfolgungen des . Jahrhunderts,20 mit den kommunalen Gewaltbeziehungen im Frankreich und Spanien des . Jahrhunderts21 sowie für die zahlreichen Studien zu den Pogromen im Mitteleuropa der Jahre -, die häufig als Pestpogrome Hier hat sich unter dem Begriff NS-Täterforschung ein eigenes Forschungsgebiet entwickelt. Wegweisend waren hier Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon und die »Endlösung« in Polen, Reinbek ; Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker; Peter Gleichmann/Thomas Kühne (Hrsg.), Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im . Jahrhundert, Essen . Till van Rahden, Ideologie und Gewalt. Neuerscheinungen über den Antisemitismus in der deutschen Geschichte des . und frühen . Jahrhunderts, in: Neue Politische Literatur , , S. -. Robert Chazan, European Jewry and the First Crusade, Berkeley ; ders., In the Year . The First Crusade and the Jews, Philadelphia ; Jeremy Cohen, Sanctifying the Name of God: Jewish Martyrs and Jewish Memories of the First Crusade, Philadelphia . Den neueren Forschungsstand fasst zusammen Hans-Jörg Gilomen, Die Judenverfolgungen von in der neueren Literatur, in: Judaica /, , S. -. Friedrich Lotter, Die Judenverfolgung des »König Rintfleisch« in Franken um , in: Zeitschrift für Historische Forschung, /, , S. -; ders., Hostienfrevelvorwurf und Blutwunderfälschung bei den Judenverfolgungen von (»Rintfleisch«) und (»Armleder«), in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongress der Monumenta Germaniae Historica, München , Teil V, Hannover , S. -; Miri Rubin, Gentile Tales: The Narrative Assault on Late Medieval Jews, Philadelphia ; Rainer Erb, Rintfleisch-Verfolgung, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. , München , Sp. ; Christoph Cluse, Blut ist im Schuh. Ein Exempel zur Judenverfolgung des »Rex Armleder«, in: Friedhelm Burgard u. a. (Hrsg.), Liber Amicorum necnon et amicarum für Alfred Haverkamp, Trier , S. -; Klaus Arnold, Armledererhebung, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. , München, Zürich , Sp. ; Georges Weill: Armleder, in: Encyclopaedia Judaica, . Auflage, Bd. , Detroit, New York u. a. , S. -, Jörg R. Müller, Eretz geserah – »Land der Verfolgung«: Judenpogrome im regnum Teutonicum in der Zeit von etwa -, in: Christoph Cluse (Hrsg.), Europas Juden im Mittelalter. Beiträge zu einem internationalen Symposium in Speyer vom . bis . Oktober , Trier , S. -. Nirenberg, Communities of Violence.
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bezeichnet werden.22 Auch die antijüdischen Pogrome des . und . Jahrhunderts sind nun verstärkt zum Gegenstand der Forschung geworden. Dies gilt zunächst einmal für die intensive Beschäftigung mit den antijüdischen Pogromwellen der Jahre / und / im Zarenreich, durch die der Begriff des Pogroms zur Bezeichnung kollektiver antijüdischer Gewalt international verbreitetet wurde.23 Auch die Massaker und Pogrome im Zuge des Bürgerkriegs nach der Russischen Revolution sind neuerdings (wieder) zum Gegenstand der Forschung geworden.24 In den letzten Jahren publizierte Fallstudien zu weiteren europäischen Ländern zeigen, dass in Zeiten politischer Konflikte und Krisen, wie im Frankreich zur Zeit der Revolution(en) sowie der Dreyfus-Affäre,25 in den italienischen Staaten im Zuge Frantisek Graus, Pest – Geissler – Judenmorde. Das . Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen ; Alfred Haverkamp, Die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte, in: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hrsg. von Alfred Haverkamp, Stuttgart , S. -; Franz-Josef Ziwes, Studien zur Geschichte der Juden im mittleren Rheingebiet während des hohen und späten Mittelalters, Hannover , Kap. D. John D. Klier, The Russian Press and the Anti-Jewish Pogroms of , in: CanadianAmerican Slavic Studies, , , S. -; I. Michael Aronson, Troubled Waters. The Origins of the Anti-Jewish Pogroms in Russia, Pittsburgh ; Charters Wynn, Workers, Strikes, and Pogroms. The Donbass-Dnepr Bend in Late Imperial Russia -, Princeton ; John D. Klier/Shlomo Lambroza (Hrsg.), Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge, New York ; Stephen M. Berk, Year of Crisis, Year of Hope. Russian Jewry and the Pogroms of -, Westport, London ; Judge, Edward H., Easter in Kishinev: Anatomy of a Pogrom, New York ; als neueste Übersicht: Iris Boysen, Die revisionistische Historiographie zu den russischen Judenpogromen von bis , in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung /, S. -; schon früh Heinz-Dietrich Löwe, Antisemitismus und reaktionäre Utopie. Russischer Konservatismus im Kampf gegen den Wandel und Staat und Gesellschaft, Hamburg , S. ff.; neuerdings: Klier, Russians, Jews, and the Pogroms; Stefan Wiese, Die Große Angst in Žitomir. Zur Geschichte eines Judenpogroms und einer Selbstwehrgruppe im Zarenreich, in: Transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien /, , S. -; ders., Pogrome im Zarenreich; Steven J. Zipperstein, Pogrom: Kishinev and the Tilt of History, New York . N. Gergel, The Pogroms in the Ukraine in -, in: YIVO Annual of Jewish Social Science, Vol. VI, hrsg. von Koppel S. Pinson, New York ; Elias Heifetz, The Slaughter of the Jews in the Ukraine in , New York ; Henry Abramson, A Prayer for the Government. Ukrainians and Jews in Revolutionary Times -, Cambridge, Mass. ; Matthias Vetter, Antisemiten und Bolschewiki. Zum Verhältnis von Sowjetsystem und Judenfeindschaft -, Berlin ; Oleg Budnitskii, Russian Jews between the Reds and the Whites, -, Philadelphia ; Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine -, Hamburg ; ders., Der Sinn der Gewalt. Der Ataman Volynec und der Dauerpogrom von Gajsin im Russischen Bürgerkrieg , in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, onlineAusgabe () Heft ; Christopher Gilley, The Ukrainian Anti-Bolshevik Risings of Spring and Summer : Intellectual History in a Space of Violence, in: Revolutionary Russia /, , S. -. Daniel Gerson, Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass bis , Essen ; Stephen Wilson, The Antisemitic Riots of in France, in:
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der Judenemanzipation und der er Revolution,26 in den deutschen Staaten und im Habsburgerreich des . Jahrhunderts, im Großbritannien des . Jahrhunderts27 und im Polen von der Zwischenkriegs- bis zur Nachkriegszeit (z. B. in Lemberg , Jedwabne und , in Kielce ), die jüdische Minderheit zum Ziel kollektiver Gewalt wurde.28 Während wir für die USA keinen Fall pogromistischer Gewalt gegen Juden kennen,29 wohl aber gegen andere Minderheiten,30 zeigen neuere Studien, dass kollektive antijüdische Gewalt nicht auf das christliche Europa beschränkt geblieben ist, sondern sich Pogrome während des . und . Jahrhunderts auch im muslimischen Nordafrika, im Irak, in Aden und anderen Orten ereigneten.31
Historical Journal , , S. -; Pierre Birnbaum, Le moment antisémitique, Paris . Lionella Neppi Modona Viterbo/Sonia Oberdorfer, : Un Pogrom in Toscana, in: La Rassegna Mensile di Israel, Vol. /, : -; Jean-Pierre Filippini, Difesa della Patria e odio degli ebrei. Il Tumulto del Luglio a Livorno, in: Ricerce Storico , S. ; Salvatore Foa, Il ’ e gli Ebrei d’Acqui, in: Il Vessillo Israelitico , , S. -; Ulrich Wyrwa, Sozialer Protest und antijüdische Gewalt. Die Unruhen in der Toskana, in: Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus, Festgabe für Arno Herzig zum . Geburtstag, hrsg. von Jörg Deventer u. a., Münster , S. -. Zu Wales: Geoffrey Alderman, The Anti-Jewish Riots of August in South Wales, in Welsh History Review , , S. -; Kushner, Anti-Semitism and Austerity. Antony Polonsky, A Failed Pogrom: The Demonstration in Lwów, June , in: The Jews of Poland between Two World Wars, hrsg. von Israel Gutman et al., Hanover, London , S. -; Joanna Michlic-Coren, Anti-Jewish Violence in Poland - and -, in: Polin , , S. -; Stanislaw Meducki, The Pogrom in Kielce on July , in: Polin , , S. -; Joanna Tokarska-Bakir, Cries of the Mob in the Pogroms of Rzeszów (June ), Cracow (August ) and Kielce (July ) as a Source for the State of Mind of the Participants, in: East European Politics and Societies /, , S. -; Eva Reder, Im Schatten des polnischen Staates: Pogrome - und / – Auslöser, Bezugspunkte, Verlauf, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa /, , S. -. Vgl. Leonard Dinnerstein, Anti-Semitism in America, Oxford . Antijüdische Gewaltaktionen deutschstämmiger Nationalsozialisten in den USA am . und . November sind wohl kaum von größerer Bedeutung gewesen. Vgl. Cornelia Wilhelm, Bewegung oder Verein? Nationalsozialistische Volkstumspolitik in den USA, Stuttgart . Zu den Riots gegen Chinesen in den USA: Roger Daniels (Hrsg.), Anti-Chinese Violence in North America: An Original Anthology, New York ; Craig Storti, Incident at Bitter Creek: The Story of the Rock Springs Chinese Massacre, Ames ; gegen African-Americans siehe: Charles Crowe, Racial Massacre in Atlanta September , , in: Journal of Negro History , , S. -; Elliott Rudwick, Race Riot at East St. Louis, July , , Urbana ; Dominic J. Capeci/Martha Wilkerson, Layered Violence. The Detroit Riot of , Jackson und London ; Roberta Senechal de la Roche, The Sociogenesis of a Race Riot: Springfield, Illinois, in , Urbana . Goldberg, Rites and Riots, ; Richard Ayoun, A propos du pogrom de Constantine (Aout ), in: Revue des Etudes juives , , S. -; ders., Les Juifs d’Algerie. De la dhimma a la naturalisation française, in: Les Temps Modernes, No. , , S. ; zum Pogrom (Farhud) in Bagdad : Hayyim Cohen, The Anti-Jewish Farhud in
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Was die deutsch-jüdische Geschichte angeht, so hat sich die Forschung schon seit den frühen er Jahren mit der nationalsozialistischen Gewalt gegen Juden im Jahre , der »Reichskristallnacht«, befasst, zu der inzwischen eine unübersehbare Zahl an lokalhistorischen, regionalen und landesweiten Studien vorliegt.32 Doch erst in den letzten dreißig Jahren finden wir eine wachsende Zahl von Arbeiten, die sich entweder mit einzelnen antijüdischen Gewaltaktionen im . oder . Jahrhundert befassen oder die Ereignisse einer bestimmten Periode untersuchen. Forschungsschwerpunkte bilden einmal die frühe Phase der Judenemanzipation in Deutschland in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts, die von Wellen antijüdischer Gewalt begleitet war,33 sowie Arbeiten zu Fällen kollektiver antijüdischer Gewalt im Kaiserreich,34 in der Weimarer Republik35 und im »Dritten Reich« vor .36
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Baghdad , in: Middle Eastern Studies , , S. -; Elie Kedouri, The Sack of Basra and the Farhud in Baghdad, London , S. -; Zvi Yehuda/Shmuel Moreh (Hrsg.), Al-Farhud: the Pogrom in Iraq, The Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism, (hebr. ); zu Aden Tudor Parfitt, The Road to Redemption: The Jews of the Yemen -, Leiden . Hermann Graml, Reichskristallnacht, Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich, München (zuerst ); in den letzten Jahren sind neben zahlreichen Lokalstudien auch noch eine ganze Reihe von übergreifenden Darstellungen erschienen: Wolfgang Benz, Der Novemberpogrom , in: ders. (Hrsg.), Die Juden in Deutschland -. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, München , S. -; Dieter Obst, »Reichskristallnacht«. Ursachen und Verlauf des antisemitischen Pogroms vom November , Frankfurt a. M., Bern ; Arno Kropat, Kristallnacht in Hessen. Der Judenpogrom vom November . Eine Dokumentation, Wiesbaden: Schriftenreihe der Kommission für die Geschichte der Juden, Bd. : . Den Forschungsstand kurz zusammenfassend: Gross, November . Erb/Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier; Gerson, Die Ausschreitungen gegen die Juden im Elsaß. Vgl. die von den Hep-Hep-Ausschreitungen von bis zu den Novemberpogromen reichende Zusammenstellung in Hoffmann/Bergmann/Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence; Christoph Nonn, Zwischenfall in Konitz. Antisemitismus und Nationalismus im preußischen Osten um , in: Historische Zeitschrift , , S. -; ders., Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen ; Helmut W. Smith, Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen ; Martin Ulmer, Antisemitische Massenkrawalle in Stuttgart – Anlass, Verlauf, Diskurse und Ursachen, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, , , S. -. Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland -, Hamburg , f.; Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt; Cornelia Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn ; hier bringen Lokal- und Regionalstudien immer wieder neue Fälle antijüdischer Übergriffe ans Licht, z. B. Jon Gunnar Mølstre Simonsen, Perfect Targets – Antisemitism and Eastern Jews in Leipzig, -, in: Leo Baeck Institute Year Book , , S. -. Michael Wildt, Gewalt gegen Juden in Deutschland bis , in: WerkstattGeschichte , , S. -; dazu frühere Arbeiten zusammenfassend: ders., Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz bis , Hamburg . Als eine frühe Studie zu den »Kudamm-Krawallen« siehe Moshe Gottlieb, The
ZUM GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHEN FORSCHUNGSSTAND
Auch wenn es sich bei den NS-Gewaltverbrechen seit Beginn des Zweiten Weltkrieges primär um organisierten Massenmord handelt, in den Fälle von Pogromgewalt eingelagert waren, so hat doch die Diskussion über die näheren Umstände der Mordaktionen der SS-Einsatzgruppen und der Polizeibataillone an der jüdischen Bevölkerung in Polen und in der Sowjetunion sowie über die Beteiligung der deutschen Wehrmacht an diesem Geschehen, die von Christopher Browning, Daniel J. Goldhagen und anderen ausgelöst wurde, eine wichtige Rolle für die Hinwendung der Wissenschaft zur Geschichte der antijüdischen Gewalt vor gespielt.37 Die in die Frühphase des Feldzuges gegen die Sowjetunion eingebetteten Pogrome, die unter Mitwirkung der einheimischen Bevölkerung im Zuge der deutschen Besetzung der osteuropäischen Staaten geschahen,38 und diejenigen, die sich kurz vor dem Krieg in autoritär regierten Staaten wie Rumänien abspielten, sind erst seit kurzem Gegenstand intensiverer Forschungen.39 Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete jedoch nicht das Ende kollektiver antijüdischer Gewalt in Europa. War das Pogrom von Kielce im Jahre noch recht gut bekannt, so werden erst in den letzten Jahren die Ausschreitungen gegen die kurz vor oder nach Kriegsende in ihre Heimatländer zurückkehrenden Juden in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei näher erforscht,40 dies gilt
Berlin Riots of and Their Repercussions in America, in: American Jewish Historical Quarterly , , S. -. Browning, Ganz normale Männer; Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Vgl. die heftige Diskussion und weiteren Forschungen, die das Buch von Jan T. Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München , in Polen ausgelöst hat. Auch Andrzej Zbikowski, Local Anti-Jewish Pogroms in the Occupied Territories of Eastern Poland, June-July , in: Lucjan Dobroszycki/Jeffrey S. Gurock (Hrsg.), The Holocaust in the Soviet Union. Studies and Sources on the Destruction of Jews in the Nazi Occupied Territories of the UdSSR, -, New York , S. -. Die Befunde gehen hinsichtlich der Frage des Anteils der einheimischen Bevölkerung und der deutschen Seite für Litauen und für Galizien bis heute auseinander, vgl. Yitzhak Arad, The Murder of the Jews in German-Occupied Lithuania (-), in: Alvydas Nikžentaitis/Stefan Schreiner/Darius Staliūnas (Hrsg.), The Vanished World of Lithuanian Jews, Amsterdam, New York , S. -; Arūnas Bubnys, The Holocaust in Lithuania: An Outline of the Major Stages and their Results, in: ebd., S. -; Christoph Dieckmann, Pogrome in Litauen im Sommer , in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung , , S. ; Miroslaw Tryczyk, Miasta Smierci. Sasiedzkie pogromy Zydów, Warschau ; Jeffrey S. Kopstein/Jason Wittenberg, Intimate Violence. Anti-Jewish Pogroms on the Eve of the Holocaust, Ithaca ; Grzegorz Rossoliński-Liebe, Der Verlauf und die Täter des Lemberger Pogroms vom Sommer . Zum aktuellen Stand der Forschung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung , , S. -. Zum Letzteren vgl. Radu Ioanid, The Pogrom of Bucharest - January , in: Holocaust and Genocide Studies /, , S. -; Markus Bauer, Zur Geschichte eines »Pogroms« – Iaşi, Juni , in: Aschkenas, /, , S. -. Marc Hillel, Le Massacre des Survivantes en Pologne -, Paris ; David Engel, Patterns of Anti-Jewish Violence in Poland, -, in: Yad Vashem Studies , , S. -; Juliane Wetzel, Der Pogrom von Kielce und der jüdische Massenexodus aus Polen, in: Beate Kosmala (Hrsg.), Die Vertreibung der Juden aus Polen . Antisemitis-
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auch für Vorfälle in Westeuropa, etwa in Großbritannien in den späten er Jahren.41 Insgesamt ist nach für die europäischen Länder aufgrund der staatlichen Kontrollpolitik ein Formwandel der antijüdischen Gewalt zu beobachten, die sich nun zumeist gegen Objekte des Gedenkens an die Verfolgung der Juden, gegen jüdische Friedhöfe oder andere jüdische Einrichtungen (Gemeindehäuser, Synagogen) richtet, die beschmiert oder beschädigt werden, und seltener gegen einzelne Juden bzw. die Juden als Kollektiv. Fälle terroristischer Anschläge auf Juden bzw. jüdische oder israelische Einrichtungen gingen vor allem in den -er Jahren auf das Konto palästinensischer Terrorkommandos. In den letzten Jahren erleben wir Terroranschläge durch Anhänger des radikalen Islamismus in westeuropäischen Ländern, die sich in mehreren Fällen auch oder aber allein gegen Juden richteten. Seltener gingen Anschläge auf das Konto einheimischer rechtsextremer oder linksextremer Gruppen, deren Identifikation mit der PLO bei einigen Terrorgruppen in den er Jahren in Anschläge auf jüdische Einrichtungen und in der Zusammenarbeit mit dem arabischen Terrorismus mündeten.42 Gewalt gegen einzelne Juden oder jüdische Einrichtungen, die in den letzten zehn Jahren wieder deutlich häufiger als zuvor auftritt, wird in vielen europäischen Ländern (mehr oder weniger genau) dokumentiert und polizeilich verfolgt.43
mus und politisches Kalkül, Berlin , S. -; zu Kielce auch Klaus-Peter Friedrich, Antijüdische Gewalt nach dem Holocaust. Zu einigen Aspekten des Judenpogroms von Kielce, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung , , S. -; Tokarska-Bakir, Pogrom Cries; antijüdische Tumulte gab es in der frühen Nachkriegszeit auch in der Slowakei und Ungarn sowie vor allem gegenüber den Displaced Persons in Deutschland und Österreich: Helga Embacher, Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach , Wien . Zu Fällen in Polen, Ungarn, Rumänien und der Slowakei siehe Wolfgang Benz/Brigitte Mihok (Hrsg.), »Juden unerwünscht«. Anfeindungen und Ausschreitungen nach dem Holocaust, Berlin . Tony Kushner: Anti-Semitism and Austerity: the August Riots in Britain, in: Panikos Panayi (Hrsg.), Racial Violence in Britain -, Leicester , S. -. Zum linksextremen Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg . Zur Statistik der Straf- und Gewalttaten heute vgl. die European Union Federal Agency for Fundamental Rights, Antisemitism. Summary Overview of the Situation in the European Union -, November ; aktuell für Deutschland: Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen. Bericht im Auftrag des Deutschen Bundestages, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Berlin , Kap. .
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. Pogrome als Form kollektiver interethnischer Gewalt: Einige theoretische Überlegungen . Kollektive interethnische Gewalt Gegen die im vorstehenden Kapitel geschilderte Dominanz des modernisierungstheoretischen Paradigmas hat sich seit den er Jahren eine neue Sichtweise zu entwickeln begonnen, die ethnische Gruppen nicht mehr als Ausläufer vormoderner Gesellschaften betrachtet, sondern als wichtiges Vehikel der Interessenvertretung und Konfliktaustragung in modernen, pluralistischen Gesellschaften, deren Bedeutung gerade in den letzten Jahrzehnten wieder deutlich gewachsen ist.1 Gesellschaftliche Konflikte entlang nationaler und ethnischer Differenzierung werden nun geradezu als ein Produkt der sich demokratisierenden und nationalisierenden Gesellschaften seit dem ausgehenden . Jahrhundert verstanden2 und nicht mehr als bloße Epiphänomene ökonomischer Interessen und Widersprüche.3 Man nimmt an, dass in einer Gesellschaft Konflikte sowohl vertikal zwischen den verschiedenen Schichten oder Klassen als auch horizontal zwischen ethnischen Gruppen auftreten können, so dass ein zweidimensionaler Ansatz zur Analyse pluraler Gesellschaften nötig ist. Entsprechend werden Interessenkonflikte von kulturellen oder ethnischen Konflikten unterschieden, wobei die Grenzen zwischen diesen Typen in der gesellschaftlichen Realität fließend sind, da sich Spannungen zwischen ethnischen Gruppen sowohl aus Differenzen von Status und Machtposi-
Micheal W. Giles/Arthur Evans, The Power Approach to Intergroup Hostility, in: Journal of Conflict Resolution , , S. -; dies., External Threat, Perceived Threat, and Group Identity, in: Social Science Quarterly , , S. -; Susan Olzak, Causes of Ethnic Conflict and Protest in Urban America, -, in: Social Science Research , , S. -; kritisch zu dieser Theorie Stewart E. Tolnay et al., Black Lynchings: The Power Threat Hypothesis Revisited, in: Social Forces , , S. -; klassisch dazu: Frederick Barth (Hrsg.), Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Cultural Differences, Boston ; G. P. Ghai (Hrsg.), Autonomy and Ethnicity. Negotiating Claims in Multi-Ethnic States, Cambridge . Zu Ansätzen, die gerade moderne Plural Societes als anfällig für ethnische Konflikte einschätzen, vgl. Mann, Die dunkle Seite der Demokratie; Christian P. Scherer, Ethno-Nationalismus im Zeitalter der Globalisierung, Münster . Engel, What’s in a Pogrom? S. , weist auf die Rolle von Ethnizität und Religion als Statusmerkmale in »divided societies« hin, da in Konflikten die Handlungen in diesen Gesellschaften nicht individuell zugerechnet werden, sondern das Verhalten der untergeordneten Opfergruppe entlang bestehender Vorurteile interpretiert wird. Der Bezug auf kulturelle Differenzen wurde als »falsches Bewusstsein« abgetan. Dazu Theodor Hanf, The Prospects of Accomodation in Communal Conflicts: A Comparative Study, in: Bildung in sozioökonomischer Sicht, Festschrift für Hasso von Reccum, hrsg. von Peter A. Döring et al., Köln , S. -, S. .
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POGROME ALS FORM KOLLEKTIVER INTERETHNISCHER GEWALT
tionen wie aus unterschiedlichen Wertsystemen, kulturellen Praxen und Ideologien ergeben können. Als ethnische Gruppe bezeichnet man Gruppen von Menschen, die auf der Basis von gemeinsamer Sprache, Abstammung, Wirtschaftsweise, Geschichte, Kultur, Religion oder Verbindung zu einem bestimmten Gebiet eine eigenständige Identität als Wir-Gruppen entwickelt haben.4 Gegenüber einem essentialistischen oder primordialen Verständnis von Ethnizität, das eine exklusive und zeitlose Identität auf der Grundlage eines klar abgegrenzten Territoriums und einer geteilten »Kultur, verbunden mit klaren Merkmalen wie Sprache, Kunst, Religion aller Angehörigen annimmt, hat sich heute eine konstruktivistische Sichtweise durchgesetzt, die betont, dass die Angehörigen solcher Gruppen sich als Wir-Gruppe – allerdings nicht isoliert, sondern in Interaktion mit anderen Gruppen – in einem historischen diskursiven Prozess konstituiert haben, womit zugleich die Wandelbarkeit von Ethnien betont wird. »Contrary to the common-sense reifications of people’s own discourses, and the rhetoric of ethnic activists as well as anthropology textbooks, ethnic identity is determined not by massive facts of shared culture and shared history, but instead in each case by a more limited set of criteria«.5 Die Zugehörigkeit zur Gruppe, die für Gruppenmitglieder wie für die Umwelt erkennbar sein muss, entsteht durch geteilte kulturelle Werte, die sich in einem gemeinsamen Feld der Kommunikation und der Interaktion konstituieren und sich in kulturellen Zeichen manifestieren. Sowohl für Klassen- wie für ethnische Konflikte gilt die Voraussetzung, dass die Existenz von Schichtung und kulturellen Differenzen allein nicht ausreicht, sondern dass diese Gruppen ein Bewusstsein ihrer Eigenart als Klassen oder ethnische Gruppen entwickelt haben und sich so von anderen abgrenzen. Doch nicht nur das Modernisierungs- und Zivilisierungsparadigma hat die Beschäftigung mit ethnischer Gewalt in Form von Pogromen lange Zeit behindert, sondern auch die Tatsache, dass unter dem Begriff »ethnische Gewalt« ganz heterogene Phänomene zusammengefasst werden und es bis heute auf diesem Gebiet vielfach noch an gesicherten theoretischen und begrifflichen Differenzierungen fehlt, zumal der Begriff von »Ethnizität« selbst alles andere als klar definiert ist.6 Kollektive ethnische Gewalt kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, die von lokaler Gewalt in Form von Lynchaktionen über Ausschreitungen der dominanten Gruppe gegen eine Minderheit (Pogrome) und der Minderheit gegen die Mehrheitsgesellschaft (Rassenunruhen, religiös motivierte Unruhen) bis hin zu Georg Elwert, Ethnie, in: Christian F. Feest/Hans Fischer/Thomas Schweizer (Hrsg.), Lexikon der Völkerkunde, Stuttgart , S. f. Frederik Barth, Overview: Sixty Years in Anthropology /, , S. -, hier S. . Peter Waldmann, Gesellschaften im Bürgerkrieg. Zur Eigendynamik entfesselter Gewalt, in: Zeitschrift für Politik , , S. -, hier S. ; vgl. auch Edward W. Walker, Ethnic War, Holy War, War O’ War: Does the Adjective Matter in Explaining Collective Political Violence? Berkeley Program in Soviet an Post-Soviet Studies, University of California, Berkeley (https://pdfs.semanticscholar.org/e/ffccdcc eaff bf.pdf (eingesehen am ..).
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KOLLEKTIVE INTERETHNISCHE GEWALT
organisierten Formen wie Vigilantismus, Terrorismus, Massakern, Bürgerkriegen und schließlich Genoziden reichen. Es ist deshalb wichtig, genauer zwischen den zu erklärenden Gewaltformen zu unterscheiden. Brubaker und Laitin plädieren denn auch ebenso wie Robin W. Williams für eine Disaggregierung der zu erklärenden Gewaltformen.7 Die Variationen zwischen diesen Gewaltformen ergeben sich m. E. in folgenden Dimensionen:8 ) im Gewaltobjekt: die Adressaten kollektiver Gewalt können entweder einzelne Mitglieder einer anderen Gruppe oder die Gruppe als Ganze bzw. deren materieller Besitz sein; ) in der Richtung der Gewalt: sie kann von Mitgliedern der Mehrheit gegen eine Minderheit oder umgekehrt von einer Minderheit gegen die Mehrheit bzw. die Staatsorgane ausgeübt werden oder in einem Kampf zweier ungefähr gleichstarker Gruppen miteinander bestehen; ) im Organisationsgrad auf Seiten der Gewalttäter wie der Opfer: kollektive Gewalt kann auf beiden Seiten mehr oder weniger hoch organisiert bzw. nicht-organisiert/»emergent« sein; ) in der Rolle dritter Parteien: Der Staat und seine Kontrollorgane (»Ordnungspartei«) können sich ganz unterschiedlich verhalten: sie können die Gewalt selbst ausüben (Massaker, Genozid), sie anstiften oder sie geschehen lassen oder – am anderen Ende des Kontinuums – sie mit allen Mitteln unterdrücken. ) Auch die Rolle der Zuschauer (bystanders) nimmt Einfluss auf den Verlauf der Gewaltaktionen.
Brubaker/Laitin, Ethnic and Nationalist Violence, S. ; Robin W. Williams Jr., The Sociology of Ethnic Conflicts: Comparative International Perspectives, in: Annual Review of Sociology , , S. -, S. . Vgl. die Entwicklung von ähnlichen Kategorien für die Formen des sozialen Protests in der Protestforschung: Dauer, Grad der Beteiligung, die verwendeten Mittel, Grad der Gewaltsamkeit, Organisationsgrad des Protests, Konfliktparteien (Protestpartei und Ordnungspartei) und Protestobjekt, d. h. die Adressaten von Gewalt. Siehe dazu: Heinrich Volkmann, Kategorien des Protests im Vormärz, in: Geschichte und Gesellschaft , , S. -, hier S. -.
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. Was ist ein Pogrom? – Definitionsprobleme Wie man Pogromgewalt hinsichtlich dieser fünf Dimensionen zu definieren hat, wird in der Wissenschaft bis heute unterschiedlich beantwortet. Der Begriff Pogrom bezeichnet eine umfassende Zerstörung, die sowohl von der Natur wie vom Menschen ausgehen kann.1 Erst in der Welle antijüdischer Pogrome der er Jahre setzte sich der Begriff, wohl wegen seines archaischen Klangs, zunächst in der Publizistik des Zarenreiches durch, während die Behörden weiterhin den üblichen Terminus »besporjadki« (беспорядки/Unruhe) für die Ausschreitungen benutzten, um damit die Störung der öffentlichen Ordnung hervorzuheben.2 Die Verwendung des Begriffs Pogrom ist historisch relativ jung und setzte sich international erst nach dem Pogrom von Kishinev im Jahre für die Bezeichnung der antijüdischen Gewalt in Russland durch.3 Von seinem zeitgenössischen Verständnis her verband sich, wie John D. Klier in seinem grundlegenden Artikel »The Pogrom Paradigm in Russian History«4 ausführt hat, der Begriff Pogrom mit der Vorstellung von staatlich gelenkten Ausschreitungen gegen Juden im Zarenreich, denen zudem ein hohes Gewaltniveau zugeschrieben wurde. Die Begriffsentwicklung ging im . Jahrhundert dann in zwei Richtungen: In der Sowjetunion verlor der Begriff Pogrom seine Verknüpfung mit antijüdischen Ausschreitungen und wurde für politische Unruhen mit reaktionärem Charakter sowie ab für Episoden interethnischer Gewalt benutzt, während im Westen die gedankliche Verbindung zu antijüdischer Gewalt erhalten blieb und die staatliche Planung oder Billigung sowie das hohe Gewaltniveau betont wurden.5 Nach Wiese haben sich im Pogrom Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. f. Von Zeitgenossen wurden die Pogrome auch als Demonstrationen, Verfolgung oder Kampf bezeichnet. Siehe Hans Rogger, Conclusion and Overview, in: John D. Klier/Shlomo Lambroza (Hrsg.), Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge, New York , S. -. Die AZJ verwendet für die Pogromwelle der er Jahre den Pogrombegriff nicht, sondern spricht von Judenverfolgungen, Unordnung, Krawallen, Exzessen usw. Dies bestätigt für die deutsche Presse auch Sonja Weinberg: »The term ›pogrom‹ was not yet used in the German press in the s – neither for collective anti-Jewish violence in Germany nor for similar occurrences in Russia« (Germania and the Anti-Jewish Riots in Germany and Russia, -, in: Leo Baeck Institute Year Book , , S. -, hier S. ). Vgl. dazu auch ihr Buch: Pogroms and Riots. German Press Responses to Anti-Jewish Violence in Germany and Russia (-), Frankfurt a. M. . John D. Klier, The Pogrom Paradigm in Russian History, in: Klier/Lambroza (Hrsg.), Pogroms, S. -. In Webster’s Third New International Dictionary (Springfield, IL ) wird Pogrom definiert als »an organized massacre and looting of helpless people, usually with the connivance of officials, specifically, such a massacre of Jews«, während das Oxford English Dictionary () ebenfalls von einem »organisierten Massaker« in Russland spricht, das sich allerdings nicht allein gegen Juden richten muss, sondern die »destruction or annihilation of any body or class« meint. Das Kennzeichen von Riots sieht das Dictionary in der Gewaltanwendung und der aktiven Verletzung der staatlichen Rechtsordnung seitens der Bevölkerung.
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WAS IST EIN POGROM?
– DEFINITIONSPROBLEME
begriff bis heute drei Elemente erhalten: die Fokussierung auf Juden, Steuerung oder zumindest Duldung von oben sowie eine Exotisierung. Impliziert ist damit die Zuschreibung einer spezifischen Qualität durch die Verbindung zur skrupellosen »Petersburger Despotie« und ihren »zu allen Grausamkeiten fähigen Untertanen« sowie die Verbindung zum damals als rückständig, unzivilisiert und grausam geltenden Russischen Reich.6 Das Definitionsmerkmal »staatliche Lenkung« geht jedoch auf ein historisch unzutreffendes Urteil über die russischen Pogrome der frühen er Jahre zurück, die tatsächlich als spontane Unruhen anzusehen sind. Klier hat als gemeinsames Kennzeichen der russischen Pogromwellen deren spontanen und konfusen Charakter, das Fehlen langfristiger Ziele, ihren städtischen Ursprung herausgearbeitet und, wie generell in der neueren Forschung, ihre staatliche Lenkung verneint.7 Während einige Autoren (wie Paul R. Brass) dem älteren Begriffsverständnis anhängen und mit dem Kriterium der staatlichen Lenkung und Beteiligung ein Pogrom von einem spontanen Riot unterscheiden wollen,8 liegt Donald L. Horowitz in seinem bahnbrechenden Buch über »The Deadly Ethnic Riot« auf der Linie Kliers und rechnet zu den wesentlichen Kennzeichen von »deadly ethnic riots« ihre sehr unregelmäßige Zusammenballung in Raum und Zeit, ihren relativ spontanen Charakter (obwohl Elemente von Organisation und Planung nicht fehlen müssen), die Auswahl der Opfer auf Grund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie und die Äußerung einer leidenschaftlichen Ablehnung der anderen Gruppe.9 Er unterscheidet diese Form einer »mass civilian inter-group violence in which victims are chosen by their group membership« von anderen Formen wie Genozid, Lynchen, gewaltsamem Protest, Fehden und Bürgerkrieg.10 Die frühere Einengung des Begriffs auf antijüdische Gewalt ist heute aufgegeben worden. Demnach können Menschen, die entweder einer abgrenzbaren gesellschaftlichen Gruppe angehören oder aber von den Tätern einer realen bzw. vermeintlichen gesellschaftlichen Gruppe zugeordnet werden, zu Opfern eines
In deutschen Lexika wird Pogrom sehr allgemein als »Hetze mit Gewalttaten gegen eine Gruppe der Bevölkerung« definiert, im Nachsatz wird dann auf die Pogrome gegen Juden verwiesen (Brockhaus ). Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . Klier, The Pogrom Paradigm, S. . »When it can be proved that the police and the state authorities more broadly are directly implicated in a ›riot‹, in which one community provides the principal or sole victims, then, of course, one is confronted with a pogrom, in which the victims were targeted by the state itself or its agents« (Paul R. Brass, Introduction: Discourses of Ethnicity, Communalism, and Violence, in: ders. (Hrsg.), Riots and Pogroms, Hampshire , S. -, hier S. ). In seiner Erörterung über die Abgrenzung von »Riot or Pogrom« nimmt er seinen eigenen Definitionsvorschlag aber partiell wieder zurück, da weder der Begriff Riot noch der des Pogroms die Dynamik von Massengewalt erfassen könne, die immer Elemente von Spontaneität sowie von Planung und Organisation enthielten. Er kommt zu dem Schluss, dass »it is quite fruitless in such situations to seek to define a situation precisely as either a riot or a pogrom« (ebd., S. ). Horowitz, Deadly Ethnic Riot, S. . Ebd., S. ff.
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POGROME ALS FORM KOLLEKTIVER INTERETHNISCHER GEWALT
Pogroms werden. Stefan Wiese weist zu Recht die Engführung auf ethnische Gruppen zurück, da auch soziale und politische Gruppen, wie die »Intelligenzija« oder aber Ärzte in Cholera-Ausschreitungen, zu Opfergruppen werden können,11 doch dürften ethnisch-religiöse Gruppen das primäre Ziel dieser Gewaltform darstellen. Für unseren Fall der antijüdischen Pogrome richtet sich die Gewalt jedenfalls gegen eine ethnische Minderheit. Die deutschen Begriffe Unruhe, Ausschreitung, Krawall, Tumult und Exzess lassen ebenso wie die englischen »riot«, »disturbance« oder »turmoil« die spezifische Konfliktkonstellation nicht erkennen. Gary T. Marx hat bereits beklagt, dass man zwar Riots von Revolutionen und Revolten abgegrenzt habe, dass es aber wenig Versuche gebe, sich systematisch mit verschiedenen Typen von Riots zu beschäftigen.12 Häufig wird unter dem Begriff »riot« oder »race riot« sowohl die kollektive Gewalt seitens einer sich benachteiligt fühlenden ethnischen Gruppe verstanden, die sich gegen den Staat oder die Mehrheitsbevölkerung auflehnt, als auch der gewaltsame Übergriff seitens der Mehrheit gegen eine ethnische Minderheit. Morris Janowitz hat deshalb vorgeschlagen, entsprechend zwischen »commodity riots«, in denen die Bevölkerung gegen die Staatsmacht und gegen andere »Unterdrücker« vorgeht, brennt und plündert, von »communal riots« zu unterscheiden, in denen eine ethnische Gruppe eine andere angreift (»interracial clash«). In den »property« oder »commodity riots« wird Gewalt gegen Personen mehrheitlich gegen die bzw. von der Polizei verübt, während in den »communal riots« die Angehörigen einer anderen ethnischen Gruppe und ihr Besitz angegriffen werden.13 Pogrome gehören zum Typ der »communal riots«, von Janowitz auch »contested area riots« genannt, da es um Konflikte im lokalen Raum geht.14 Damit ist allerdings noch nichts über das Zahlen- und Machtverhältnis zwischen den involvierten ethnischen Gruppen ausgesagt. Susan Olzak unterscheidet in diesem Sinne ebenfalls zwischen ethnischen Konflikten, in denen Teile der Majorität eine minoritäre Ethnie angreifen, und solchen zwischen zwei ethnischen Minderheiten, ohne allerdings eine begriffliche Differenzierung vorzuschlagen.15 Pogrome setzen offenbar eine Quantitäts-, Macht- oder aber unterstellte Statusdifferenz, also eine Asymmetrie zwischen Angreifer und angegriffener Gruppe (Gewaltobjekt) Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . Gary T. Marx, Issueless Riots, in: James F. Short Jr./Marvin E. Wolfgang (Hrsg.), Collective Violence, Chicago, New York , S. -, hier S. . Morris Janowitz, Social Control of Escalated Riots, Chicago ; für Clark McPhail, der noch die Typen »Police Riots«, »Celebration Riots« und »Protest Riots« hinzufügt, unterscheiden sich diese Riots nach ihren Akteuren, Zielen, Aktionsformen und Ursachen (Presidential Address. The Dark Side of Purpose: Individual and Collective Violence in Riots, in: Sociological Quarterly , , S. -, S. ). Morris Janowitz, Patterns of Collective Racial Violence, in: Hugh Davies Graham/Ted R. Gurr (Hrsg.), The History of Violence in America. Historical and Comparative Perspectives, New York , S. -, S. . Susan Olzak, The Dynamics of Ethnic Competition and Conflict, Stanford , S. .
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WAS IST EIN POGROM?
– DEFINITIONSPROBLEME
voraus.16 Anders sieht dies Jakob Rösel, der auch gewaltsame Ausschreitungen bei ungefähr gleicher Gruppenstärke als Pogrome bezeichnet.17 Hier besteht in der Forschung noch kein begrifflicher Konsens. Die Begriffsverwendung ist in der Literatur also uneinheitlich, doch besteht insoweit Einigkeit, Pogrome als eine spezifische Art von Ausschreitungen zu definieren und deshalb einerseits gegen die Form des Massakers sowie gegen andere Formen von Unruhen abzugrenzen. Allerdings werden Pogrom und Massaker häufig – wie etwa in den oben angeführten lexikalischen Definitionen – nicht unterschieden und als »mass murder, often implicating the state (or allowed to be killed) some members of a collectivity or category, usually a communal group, class, or political faction« definiert.18 Tatsächlich sind Massaker und Pogrome nicht immer leicht abzugrenzen: In beiden Fällen handelt es sich um einseitige, kollektive Angriffe auf eine unterlegene Opfergruppe. Die Differenzen liegen im höheren Organisations- und Bewaffnungsgrad der Angreifer (häufig Armee- oder Polizeieinheiten) im Fall des Massakers und in ihrer Absicht, die Angehörigen der angegriffenen Gruppe (oder zumindest die männlichen Mitglieder) zu töten,19 wohingegen die pogromtypischen Momente einer kurzfristig im lokalen Rahmen handelnden Menschenmenge und der sich zumeist auf Zerstörung und Plünderung von Besitz beschränkenden Gewalt keine wesentliche Rolle spielen. In dieser Arbeit steht der Begriff Pogrom als Bezeichnung für eine bestimmte Gewaltkonstellation (zur Definition s. u., S. ). Zwar werden in den folgenden historischen Fallanalysen häufig Begriffe wie Ausschreitung, Unruhe, Exzess, Tumult oder Krawall verwendet, doch sind sie typologisch alle als Pogrome anzusehen. Der Pogrombegriff wird aus zwei Gründen nicht durchgängig verwendet. Einmal weil er in gewisser Weise für das . Jahrhundert anachronistisch ist, denn als Begriff findet er erst für die antijüdischen Ausschreitungen im Zarenreich in den frühen er Jahren Anwendung und wird international sogar erst im frühen . Jahrhundert gebräuchlich. Entsprechend werden kollektive Gewaltaktionen gegen Juden in den zeitgenössischen Quellen auch nicht als Pogrome, sondern mit den in dieser Arbeit verwendeten Begriffen (Judenverfolgung, Unruhen, Exzesse, Tumulte oder Diese Differenz betont neuerdings auch David Engel in seinem Versuch, ein Pogrom zu definieren: »Moreover, all involved collective violent applications of force by members of what perpetrators believed to be the higher-ranking ethnic or religious group against members of what they considered a low-ranking or subaltern group« (What’s in a Pogrom? S. ). Rösel, Vom ethnischen Antagonismus zum ethnischen Bürgerkrieg, S. ff. Robert Melson, Revolution and Genocide. On the Origins of the Armenian Genocide and the Holocaust, Chicago , S. ; L. Alex Swan spricht im Fall der Übergriffe von Weißen gegen Schwarze in St. Louis () ebenfalls von Massaker (The Politics of Riot Behavior, Washington D. C. , S. ); Brass plädiert im Fall der Ausschreitungen gegen Sikhs in Neu Delhi im November dafür, nicht von Riot, sondern von Massaker zu sprechen, da die Aktionen angestiftet, geplant und dirigiert worden seien (Brass, Riots and Pogroms, S. ). Mark Levene, Introduction, in: Levene/Roberts (Hrsg.), Massacres in History, S. .
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Krawalle) bezeichnet. Zum anderen haftet dem Pogrombegriff noch immer die Bedeutung einer besonders gewalttätigen, zahlreiche Todesopfer fordernden und große materielle Zerstörungen anrichtenden Form kollektiver Gewalt an. Da dies für die ganz überwiegende Zahl der hier untersuchten Fälle nicht zutrifft, werden wahlweise Begriffe verwendet, die dem jeweiligen Geschehen entsprechen. Deshalb wurde mit der Klimax »Tumulte – Excesse – Pogrome« ein Buchtitel gewählt, der der Differenzierung der kollektiven Gewaltaktionen in Zeit, Raum und Ausmaß Rechnung trägt.20
Darius Staliūnas hat kürzlich eine Ergänzung meiner Pogromdefinition um die Dimensionen Zeit, Ausmaß und Raum vorgeschlagen, um eher alltägliche »small scall domestic conflicts« von Pogromen als außergewöhnlichen Ereignissen zu unterscheiden, wobei Erstere leicht in Letztere münden können. Ein Pogrom im vollen Sinne würde also durch eine Dauer von wenigstens einigen Stunden, mit der Teilnahme von einigen Dutzend Personen und der Lokalisierung an einem öffentlichen Ort wie einem Marktplatz oder der Ausbreitung über eine gewisse Wohngegend definiert sein (Introduction, in: ders., Enemies for a Day. Antisemitism and Anti-Jewish Violence in Lithuania under the Tsars, Budapest, New York , S. -, hier S. f.).
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. Bausteine zu einer Soziologie des Pogroms In der Soziologie sind Ansätze vorhanden, die Erklärungen für ethnische Konflikte und Ausschreitungen des Pogromtyps liefern und an die das hier von mir entwickelte Pogrom-Modell anschließt, in dem eine Reihe sonst getrennter Ansätze kombiniert werden. Da Pogrome eine kollektiver Gewaltaktion darstellen, soll hier kurz der von mir verwendete Gewaltbegriff skizziert werden. Da in den Sozialwissenschaften kein Konsens über den Gewaltbegriff besteht,1 folge ich dem Rat von Felix Schnell, den Begriff aus forschungspragmatischen Überlegungen heraus selbst festzulegen.2 Ich folge hier einem engen Gewaltbegriff und definiere die Ausübung von Gewalt im Anschluss an Ronald Hitzler handlungstheoretisch als eine intentional ausgeübte sinnhafte Tätigkeit, die dem handelnden Subjekt dazu dient, »durch wie auch immer gearteten Einsatz von wie immer auch gearteten Zwangsmitteln ein bestimmtes Verhalten [des Gewaltobjekts, W. B.] zu begrenzen, zu verändern, zu unterdrücken oder hervorzurufen«.3 In unserem Fall ist das Zwangsmittel physische Gewalt, die im Sinne von Heinrich Popitz’ Gewaltdefinition zu einer »absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt«4 und/oder aber zu deren Einschüchterung oder zur Beschädigung oder Zerstörung von deren materiellen Besitz. D. h., das gewalttätige Handeln (Machtaktion) erfolgt nicht »besinnungslos«, sondern basiert auf »Weil-Motiven«, d. h., es hat bestimmte Ursachen, und es basiert auf »Um-zu-Motiven«, d. h. es verfolgt bestimmte Ziele, auch wenn diese Sinnhaftigkeit des Handelns vom Handelnden in der Handlungssituation zumeist nicht als solche reflektiert wird.5 Gewalt wird zumeist mit Unordnung und außer Kontrolle geratenen Emotionen verbunden, doch stellt sie letztlich auch ein wichtiges Medium sozialer Ordnung Friedhelm Neidhardt hat in seiner Durchsicht der Definitionen und Konnotationen des Gewaltbegriffs in der einschlägigen Forschungsliteratur gezeigt, dass in den Sozialwissenschaften ein auch nur minimaler Konsens in der Bestimmung des Phänomens »Gewalt« nicht besteht (Gewalt. Soziale Bedeutungen und sozialwissenschaftliche Bestimmungen des Begriffs, in: ders., Gewalt und Terrorismus, Wissenschaftszentrum Berlin , S. -). Schnell, Gewalt und Gewaltforschung, Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, .. , http://docupedia.de/zg/schnell_gewalt_gewaltforschung_v_de_ DOI: http:// dx.doi.org/./zzf.dok...v Ronald Hitzler, Gewalt als Tätigkeit. Vorschläge zu einer handlungstheoretischen Begriffsklärung, in: Sieghard Neckel/Michael Schwab-Trapp (Hrsg.), Ordnungen der Gewalt. Beiträge zu einer politischen Soziologie der Gewalt und des Krieges, Opladen , S. -, hier S. . Hitzler verweist darauf, dass aus der Opfer- oder Zuschauerperspektive Handeln, das vom Handelnden selbst nicht so intendiert war, als Gewalt interpretiert werden kann, wie umgekehrt ein Täter sein Handeln als Gewalt intendiert haben kann, das aber vom Opfer nicht als »Gewalt« erfahren wird (S. ). Er spricht deshalb vom dualen Charakter der Gewalt, wobei die Aspekte der Gewalterfahrung und die intendierte Gewalthandlung nicht aufeinander reduzierbar sind (ebd.). Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen (. Aufl.), S. . Hitzler, Gewalt als Tätigkeit, S. .
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in jeder Gesellschaft dar, muss die Ausübung von staatlicher Macht sich im Fall des Widerstrebens der Adressaten doch auf das Mittel der Gewalt stützen können.6 Insofern ist Gewalt (auch) als ein Mittel sozialer Kontrolle zu betrachten, so wie sie selbst etwa über Rituale eingehegt werden kann. Setzt der Staat sein Macht- und Gewaltmonopol bei Normverstößen oder deviantem Verhalten nicht ein, können Personen oder Kollektive sich ihrerseits physischer Gewalt bedienen, da Gewalt nach Popitz eine »Jedermann-Ressource« ist, denn jeder Mensch könne jederzeit und überall Gewalt ausüben, und gewalttätiges Handeln bietet zudem aufgrund der Verletzlichkeit des menschlichen Körpers immer die Chance, Macht auszuüben und seine Interessen durchzusetzen.7 Einen Erklärungsansatz für kollektive Gewalt im Rahmen der von Donald Black entwickelten Theorie sozialer Kontrolle hat Roberta Senechal de la Roche vorgelegt, der bestimmte Gewaltformen als Ausübung sozialer Kontrolle seitens einer sozialen Gruppe versteht.8 Die gewaltsame Selbsthilfe einer Gruppe setzt demnach ein, wenn sie ein Verhalten als deviant, d. h. als Grenzverletzung und Normverstoß definiert, und wenn von Seiten des Staates keine Abhilfe geschaffen wird.9 Dies liegt häufig auch daran, dass es keine funktionierenden Kommunikationsverbindungen zu staatlichen Instanzen gibt, um die eignen Belange zu artikulieren und durchzusetzen. Senechal de la Roche hat die Formen einseitiger, nicht-staatlicher kollektiver Gewalt analysiert, zu denen auch Riots gehören. Sie unterscheidet vier Typen, je nach dem Organisationsgrad und der Zurechnung des abweichenden Verhaltens auf ein Individuum oder eine Gruppe: Lynchen ist gering organisiert und auf eine Person bezogen; Riot (Pogrom) ist gering organisiert und gruppenbezogen; Vigilantismus ist hoch organisiert und personenbezogen; Terrorismus ist hoch organisiert und gruppenbezogen.10 Vgl. dazu Niklas Luhmanns Konzept von Gewalt als einem »symbiotischen Mechanismus«, auf den das soziale Kommunikationsmedium des politischen Systems, nämlich Macht, im Notfall zurückgreifen können muss. Niklas Luhmann, Symbiotische Mechanismen, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. , Opladen , S. -; ders., Macht, Stuttgart , S. ff.; vgl. dazu klassisch: Popitz, Phänomene der Macht. Popitz, Phänomene der Macht, S. ff. Roberta Senechal de la Roche, Collective Violence as Social Control, in: Sociological Forum , , S. -. Thomas Klatetzki, »Hang ’em high«. Der Lynchmob als temporäre Organisation, in: Axel T. Paul/Benjamin Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen. Über die Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt, Hamburg , S. -, charakterisiert an einem anderen Typ dieser Selbsthilfeformen, dem Lynchen, diese »extralegale« Form der Bestrafung, die im »Spannungsfeld zweier Ordnungsformen der Gewalt angesiedelt wird, nämlich der Ordnung der gewalttätigen Selbsthilfe auf der einen und einer Sozialordnung, in der der Staat den Anspruch auf das Gewaltmonopol erhebt, auf der anderen Seite«. Der Begriff Spannungsfeld soll dabei darauf hinweisen, dass extralegale Formen der Bestrafung dann und dort auftreten, wo der Staat entweder noch kein Gewaltmonopol besitzt oder unfähig ist, es durchzusetzen. Kommunale Akteure greifen dann zu Selbsthilfe im Grenzbereich von Legalität und Illegalität (S. f.). Senechal de la Roche, Collective Violence, S. ff.
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BAUSTEINE ZU EINER SOZIOLOGIE DES POGROMS
Organisationsgrad
Zurechnung des Normverstoßes
hoch
niedrig
personenbezogen
Vigilantismus
Lynchen
gruppenbezogen
Terrorismus
Riot (Pogrom)
Die Wahl des Gewalttyps beruht nach dieser Theorie auf dem Grad sozialer Polarisierung und der Kontinuität des abweichenden Verhaltens. Kollektive Zurechnung tritt eher bei großer sozialer Polarisierung auf (Pogrome, Terrorismus), und gering organisierte Gewalt antwortet eher auf sporadische Devianz. Von diesem Ausgangspunkt her definiere ich Pogrome als: eine nicht oder nur gering organisierte, einseitige und nicht-staatliche Form kollektiver sozialer Kontrolle, als extralegale gewaltsame Selbsthilfe seitens einer im Namen der Mehrheit handelnden Gruppe, die dann einsetzt, wenn diese von Seiten des Staates keine Abhilfe gegen eine als Bedrohung empfundene Normverletzung durch eine andere Gruppe erwartet.11 Von den anderen Formen der Kontrolle, wie dem Lynchen12 und dem Vigilantismus,13 unterscheidet sich das Pogrom dadurch, dass eine Gruppe von Tätern, verstärkt von einer Menge an Bystandern, von einer Verantwortlichkeit der gesamten Out-Group ausgeht (kollektive Zurechnung)14 und sich deshalb gegen diese als Ganze richtet und nicht gegen einen einzelnen Normverletzer aus der Auch andere Formen von »Riots« lassen sich als nicht oder nur gering organisierte, einseitige und nicht-staatliche Form kollektiver sozialer Kontrolle, als extralegale Selbsthilfe bestimmen, doch gehen sie anders als bei Pogromen nicht von einer dominanten Gruppe (gegen eine Minderheit) aus, sondern von einer sich benachteiligt fühlenden Minderheit gegen staatliche Organe und die Mehrheitsgesellschaft (z. B. in den sog. Rassenunruhen, den Brotunruhen usw.). Siehe unten. Klatetzki, »Hang ’em high«, S. ff., stuft hingegen das Lynchen als eine Form des Vigilantismus (»vigilantes Gewalthandeln«) ein, da es zur Ausbildung temporärer Organisation kommen kann und sich handlungsleitende Lynchskripte herausbilden, während Senechal de la Roche den geringen Organisationsgrad betont, was im Vergleich zu hochorganisierten Terrorgruppen und vigilantischen Gruppen wie z. B. Todesschwadronen sicherlich auch berechtigt ist. Mit Vigilantismus »bezeichnet man Aktivitäten zur Unterdrückung abweichenden Verhaltens (Devianz) anderer Bürger seitens Privatpersonen oder auch seitens Beamter außerhalb ihrer Dienstzeit«. Wenn Personen sich in einer Weise verhalten, die von den etablierten Normen einer Gemeinschaft abweicht, dann können andere Personen dagegen individuell oder kollektiv gewaltsam vorgehen (David Kowalewski, Vigilantismus, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden , S. -, hier S. ). Die Definitionsmacht in der Frage der Zugehörigkeit liegt bei den Tätern, ganz gleich, ob sich einzelne Opfer dem Kollektiv zurechnen oder nicht.
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Gruppe;15 und von Terrorismus und Vigilantismus dadurch, dass das Pogrom gewöhnlich einen geringen Organisationsgrad besitzt bzw. in den meisten Fällen eine nicht organisierte (emergente) Form kollektiver Gewalt ist.16 Dies und die Nicht-Beteiligung des Staates unterscheiden das Pogrom von anderen gewaltsamen ethnischen Konflikten, wie Massaker, Bürgerkriege und Genozide.17 Durch das Machtgefälle, also eine asymmetrische Akteurskonstellation zugunsten der Angreifer, unterscheidet sich das Pogrom von anderen Formen von Unruhen (Brotunruhen, Rassenunruhen), in denen es ebenfalls um das »Einklagen« von Normen geht (um die moral economy im Sinne von E. P. Thompson), die aber einen anderen Adressaten als Pogrome haben: In Letzteren werden der Staat bzw. bestimmte Berufsgruppen von Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung (Bäcker, Getreidehändler, Fabrikbesitzer) selbst zum Ziel der gewaltsamen Protests. Im Unterschied zu diesen Sozialprotesten, Rassenunruhen und sozialen Bewegungen, die zu kollektiver Gewalt greifen, um für eine benachteiligte Minderheit Inklusion zu fordern, handelt es sich bei Pogromen um kollektive Exklusionsaktionen, zu denen sich Teile der dominanten Gruppe durch »illegitime« Ansprüche, Bedrohungen oder angebliche Übergriffe einer Minderheit aufgerufen fühlen. Pogromgewalt ist dann aus der Sicht der Pogromisten eine Form der gerechten Bestrafung.18 Dennoch bewegt Diese kollektive Zurechnung hängt ab vom Grad der sozialen Polarisierung zwischen Gruppen, die wiederum resultiert aus dem Grad der sozialen und kulturellen Distanz, der Ungleichheit und dem Grad funktionaler Abhängigkeiten (Senechal de la Roche, Collective Violence, S. ). Klier beschreibt dies für die Pogromwelle im Zarenreich - so: »An important facet of the growing antipathy toward the Jews was the tendency to view them as a collective, attributing the deviant behavior of individual Jews to all Jews. This can be seen in the propaganda of the Judeophobes, exemplified by the concept of the ›Jewish kahal‹, which joined all Jews together in an anti-gentile conspiracy« (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ). »Während Organisation in dem Versuch besteht, einen auf bewussten Entscheidungen basierenden Ordnungsentwurf durchzusetzen, etwa indem Mitgliedschaftsregeln und Vorschriften erlassen und Kontrollmechanismen eingerichtet werden, entstehen emergente Ordnungen ›einfach so‹, ohne dass ihre Struktur im Voraus reflektiert worden wäre« (Benjamin Schwalb/Axel T. Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, in: dies. (Hrsg.), Gewaltmassen, S. -, hier S. . Zum Verhältnis von Emergenz und Organisation vgl. Göran Ahrne/Nils Brunsson, Organization Outside Organization. The Significance of Partial Organization, in: Organization /, , S. -. Die Theorie der sozialen Kontrolle von Donald Black ist auch zur Analyse der Gewaltform des Genozids angewendet worden. Siehe: Bradley Campbell, Genocide as Social Control, in: Sociological Theory /, , S. -. »Many official reports observed that the pogromshchiki had no sense that they were committing a crime and were angered and mystified when brought to trial« (Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. ). Die aus der Darstellung von Pogromen bekannten Gewaltformen, die in modernen Gesellschaften als Verbrechen gelten, beschreibt Donald Black als Formen von Konfliktmanagement, sozialer Kontrolle und sogar als Recht in traditionalen Gesellschaften: Totschlag, Verstümmelungen, Prügel, Konfiszierung oder Zerstörung von Besitz und Formen der Beraubung und Degradierung (Crime as Social Control, in: American Sociological Review, , , S. -, hier S. S. ).
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sich die kollektive »Kontrollgewalt«, worauf John Bohstedt hingewiesen hat, immer an »frontiers of legitimacy« zwischen Politik und Verbrechen.19 Pogrome gehören also zu den von Charles Tilly und Sidney Tarrow als »contentious collective action« beschriebenen Handlungsformen. »Collective action becomes contentious when it is used by people who lack regular access to representative institutions, who act in the name of new or unaccepted claims and who behave in ways that fundamentally challenge others or authorities«.20 Aus dieser Grundkonstellation ergeben sich weitere Differenzen zu Inklusionsbewegungen: im Verhältnis zum Staat, in der Wertorientierung, in der Beziehung zur Gewalt und in den Zielen und Wirkungen. Aus der Theorie sozialer Kontrolle von Black lassen sich Hypothesen darüber ableiten, wann welche Gruppe zu kollektiver Gewalt als Mittel sozialer Kontrolle greift.21 Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Gewalttypen sowie die Schwere der Gewalt variiert mit der Struktur der Gruppenbeziehungen: kollektive Gewalt korreliert positiv mit großer sozialer Distanz, mit kultureller Distanz/ Fremdheit, geringer funktionaler Verflechtung der Gruppen (ökonomische und politische Kooperation) sowie mit hohen Statusdifferenzen (Gruppengröße, Ressourcen, Klassen).22 Diese Konstellation finden wir historisch häufig gegenüber Gruppen von Zuwanderern, Flüchtlingen oder sog. »middleman minorities«,23 die in der Aufnahmegesellschaft kulturell Fremde sind, aufgrund ihrer Situation einen niedrigen Status aufweisen und mit der Gesellschaft funktional nur gering oder gar nicht verflochten sind.24 Diese Annahme wird auch durch die Studien zu den russischen Pogromen der er Jahre bestätigt. Michael Aronson und auch John D. Klier betonen, dass die osteuropäischen Juden eine distinkte »ethno Bohstedt, The Dynamics of Riots, S. ; siehe oben dazu ähnlich Klatetzki, »Hang ’em high«, Fußnote . Sidney Tarrow, Power in Movement. Social Movements and Contentious Politics, Cambridge , S. . Siehe dazu umfassend auch Charles Tilly, The Politics of Collective Violence, Cambridge . Black identifiziert einige typische Muster, weist aber darauf hin, dass es eine umfassende Theorie der Selbsthilfe noch nicht gibt (Crime, S. ). Senechal de la Roche, Collective Violence, S. ff. Minderheiten spielten in vielen vormodernen, aber auch in modernen Gesellschaft oft die Rolle von Middleman-Minorities, die von den dominanten Eliten genutzt werden, um bestimmte Vermittlerpositionen als Kaufleute, Bankiers oder Verwalter zu besetzen, da sie einerseits über bestimmte Fähigkeiten und Verbindungen verfügen, andererseits aber als stigmatisierte Außenseiter – trotz eines eventuell erworbenen Reichtums (weak money) – nicht über Macht zu verfügen. Diese Mittlerrolle ließ diese Minderheiten häufig zum Sündenbock in Konflikten etwa zwischen Bauern und Gutsbesitzern und wegen ihres Wohlstandes zum lohnenden Ziel für Raub und Plünderung werden. Siehe dazu: Walter P. Zenner, Middleman Minority Theories: a Critical Review, in: Helen Fein (Hrsg.), The Persisting Question. Sociological Perspectives and Social Contexts of Modern Antisemitism, Berlin, New York , S. -. Panayi, Anti-Immigrant Riots; Karapin, Antiminority Riots in Unified Germany; Willems, Jugendunruhen und Protestbewegungen, S. ff.
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religiöse Kultur« entwickelt hätten und für ihre Nachbarn so »ethnic strangers« geblieben seien, die durch ihre Religion mit ihren anderen Festtagen und Ritualen, ihre Kleidung, Berufsstruktur, ihren Bildungsstand, ihre Sprache sowie durch das endogame Heiratsverhalten eine ausgesprochen große soziale und kulturelle Distanz zu den Christen aufwiesen, so dass sie nicht als Teil der örtlichen Gemeinschaft galten und außerhalb des »universe of oligation« standen.25 Dies galt im Zarenreich ähnlich auch für Muslime, die ebenfalls zum Ziel von Pogromen wurden. Die diskriminierende zaristische Politik markierte diese Differenzen zusätzlich. D. h., die Haltung des Staates gegenüber der Minderheit spielt eine wichtige Rolle in der Positionszuschreibung der Minderheit. »Perhaps the most significant facilitator of rioting is authoritative social support for group violence.«26 Die Anwendung von Gewalt durch die sich als dominant verstehende Gruppe kann zudem das letzte Mittel sein, wenn die legalen Mittel zur Abwendung der externen Bedrohung ausgeschöpft sind (in manchen Fällen geht den Ausschreitungen eine Phase voraus, in der die Behörden durch Petitionen oder Klagen auf einen »Missstand« aufmerksam gemacht wurden) oder wenn es sich um »Bedrohungen« handelt, die nur in den Augen der Ingroup als illegitim angesehen werden und zu deren Behebung es keine rechtlichen Mittel gibt bzw. der Staat dazu keine Veranlassung sieht. Pogromgewalt wäre damit die Form gewaltsamer sozialer Kontrolle, auf die zurückgegriffen wird, wenn die soziale Polarisierung groß ist und gleichzeitig die Normverstöße der anderen Gruppe nicht permanent auftreten. In einer Situation, in der zwischen sozialen oder ethnischen Gruppen eine große soziale und kulturelle Distanz und Polarisierung besteht, sind also drei Bedingungsbündel für das Entstehen von Pogromen zentral: ) eine Veränderung in den Gruppenbeziehungen oder ein Ereignis werden von der dominanten Gruppe als bedrohliche Normverletzung wahrgenommen; ) die Haltung des Staates und seiner
Aronson, Troubled Waters, S. f.; auch Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. ff. Diese Distanz und Bipolarität drückt sich sehr genau in dem bei Ausbruch von Pogromen aus Anlass einer Wirtshausschlägerei häufig zu hörenden Ruf »die Juden schlagen unsere Leute« aus. Vgl. auf theoretischer Ebene zur Bedeutung funktionaler und sozialer Distanz zwischen Gruppen für die Ausübung von Kontrollgewalt Senechal de la Roche, Collective Violence. Der Begriff »circle of obligation« ist von Helen Fein eingeführt worden. Er bezeichnet die moralische und rechtliche Ausgrenzung von Gruppen, die eine Voraussetzung für die Anwendung (genozidaler) Gewalt darstellt (Genocide. A Sociological Perspective, London , S. ). Horowitz, Deadly Ethnic Riot, S. . Horowitz meint mit autoritativ das Verhalten der politischen Autoritäten oder der höheren sozialen Schichten, wobei mit sozialer Unterstützung ein Verhalten gemeint ist, das die Gewalttäter als Zustimmung zu ihrem Vorgehen auffassen. Dies können Worte oder Handlungen, Unterlassungen oder Beauftragungen sein, wobei diese nicht objektiv als Zustimmung gemeint sein müssen, aber so interpretiert werden können (S. f.). Manche halten diese autoritative Unterstützung gar für den entscheidenden Faktor, der den Unterschied zwischen einzelnen Übergriffen und größeren Ausschreitungen ausmacht. Dies gilt jedoch so generell nicht.
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Kontrollorgane – d. h. die politische Gelegenheitsstruktur für kollektive Gewalt; und ) die ideologische Deutung und Verschärfung des Konflikts. Entstehungsbedingungen von Pogromen Veränderungen der Machtbalance Eine explizit auf Pogrome bezogene Theoriebildung, die die allgemeinen Erklärungsansätze zur Entstehung kollektiver ethnischer Gewalt spezifizieren würde, fehlt bisher weitgehend.27 Als ethnischer Exklusionskonflikt hat das Pogrom andere Voraussetzungen als kollektive Gewalt vom Typ Rassenunruhen, Hungerrevolten oder Protestaktionen sozialer Bewegungen, denen Erfahrungen relativer Deprivation zugrunde liegen und die entlang von Klassengrenzen und Interessengegensätzen ausgefochten werden. Ethnische Minderheiten und Protestbewegungen greifen zur Ressource der kollektiven Aktion, um Forderungen zur Lösung sozialer Probleme oder zur Bereitstellung öffentlicher Güter an zumeist genau definierte Adressaten Nachdruck zu verleihen. Gewaltanwendung richtet sich dabei gegen ressourcenstärkere Instanzen, zumeist wird in den lokalen Aufständen, wie wir sie in der Gegenwart in den Émeutes in den Banlieues von Paris und in den englischen Riots wie in Brixton erlebt haben, gezielt gegen öffentliches Eigentum und die Polizei vorgegangen, um gegen die Diskriminierung seitens der Polizei und das Vorenthalten von Bürgerrechten und Lebenschancen zu protestieren.28 Ein ethnischer Intergruppenkonflikt vom Pogromtyp ist dagegen durch ein deutliches Machtgefälle zugunsten einer Gruppe gekennzeichnet.29 Unter welchen Bedingungen entsteht ein solcher Mehrheits-/Minderheitskonflikt? Historiker haben auf der Basis ihrer Fallstudien zu Ausbrüchen antijüdischer Gewalt im . und . Jahrhundert Faktoren identifiziert, die man zu den verallgemeinerbaren Entstehungsbedingungen von Pogromen rechnen kann.30 ) Hans Rogger nimmt an, dass Pogrome wahrscheinlicher werden, wenn sich über eine lange Zeit etablierte Über- und Unterordnungsverhältnisse zwischen Gruppen ändern bzw. strittig werden, wenn die etablierte Exklusion bestimmter Gruppen Vgl. zur Übersicht über die unterschiedlichen Erklärungsansätze: Bergmann, Pogrome, in: Heitmeyer/Kagan (Hrsg.), Internationales Handbuch, S. -. Ferdinand Sutterlüty, Kollektive Gewalt und urbane Riots. Was erklärt die Situation, in: Paul/Schwalb, Gewaltmassen, S. -. Stefan Wiese hat aber zu Recht darauf verwiesen, dass Pogrome nicht automatisch Taten der Mehrheit gegen eine Minderheit sind, sondern dass die Täter zwar beanspruchen, im Namen der Mehrheit zu handeln, sie jedoch auf der Handlungsebene eine Minderheit von Akteuren gegen zahlreiche Angehörige der »Opfergruppe« darstellen können, denen gegenüber sie nur situativ Dominanz herstellen können (Pogrome im Zarenreich, S. ). Siehe dazu die Arbeiten von: Rogger, Conclusions and Overview; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier; Löwe, Pogroms in Russia; Aronson, Troubled Waters; Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, Kap. : What’s in a pogrom?
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durchbrochen oder gelockert wird oder wenn Individuen der subordinierten Gruppe einen dramatischen sozialen Aufstieg erleben und damit sozial sichtbar und erfolgreicher werden als Angehörige der dominanten Gruppe. In solchen Situationen, in denen sich die Machtbalance verändert, kommt es zu Spannungen zwischen den Gruppen. Es sind also Pogrome eher dort zu erwarten, wo Mitglieder der als inferior angesehenen Gruppe rechtlich, sozial und ökonomisch erfolgreich sind und entsprechende Barrieren überwinden. Allgemein werden Fragen bezüglich des »kommunalen Status« der Minderheit zum Auslöser von Konflikten. Klier betont, dass dabei die Auffassung zentral ist, die Minderheit sei in irgendeiner Weise inferior, ganz gleich, wie wohlhabend, angesehen oder mächtig einzelne Mitglieder der Minderheit real sein mögen.31 Aus diesem Grunde verletzt die Zurschaustellung von Reichtum und sozialem Status seitens einer inferioren Gruppe diese Auffassung und kann zum Auslöser kollektiver Gewalt werden, um so die bestehenden Grenzen zu markieren. ) Ein spezifischer Fall der Veränderung der Größen- und Machtverhältnisse zwischen den Gruppen ist die Zuwanderung. Generell scheint eine größere Zahl von Zuwanderern (»outsiders«) zu Stress in lokalen Situationen zu führen, so dass ein gewaltsames Auf begehren der einheimischen Bevölkerung wahrscheinlicher wird. Überdies besteht eine positive Korrelation zwischen der Größe der Minderheit an einem Ort und der Wahrscheinlichkeit von Pogromen. ) Sozioökonomische Spannungen und Wirtschaftskrisen erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Pogromen,32 vor allem wenn es sich um plötzliche und dramatische Umschwünge handelt. Dies erklärt auch, warum Pogrome häufig in größeren Wellen, zeitlich und räumlich konzentriert auftreten. Diese Wellen deuten für Löwe darauf hin, dass es nicht so sehr die üblichen konjunkturellen Krisen sind, die Pogromwellen auslösen, sondern Phasen, in denen die alte soziale, ökonomische oder politische Ordnung durch ein neue ersetzt wird, etwa durch die Industrialisierung, die Einbindung in den Weltmarkt oder die Entstehung neuer Staaten.33 Gewalt gegen eine ethnische Minderheit erscheint in diesen Fällen als eine Form von »displaced social protest«, d. h., diese wird als »Sündenbock« für eine allgemeine Krise attackiert.34 Die Anfälligkeit erhöht sich, wenn eine Min
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Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . Berk, Year of Crisis, S. -. Löwe, Pogroms in Russia, S. . Hierbei spielt die von Juden häufig eingenommene Position einer »middleman minority« eine wichtige Rolle. Juden waren in einer Reihe osteuropäischer Länder keine Gutsherren, sondern nur deren Verwalter, keine Großhändler, sondern kleine Ladeninhaber, die als greif bare Repräsentanten der Gutsherren und Großhändler vor Ort für Teuerungen oder Knappheiten verantwortlich gemacht und für die depravierten Unterschichten zum Ziel von Gewalt wurden. Auch andere middleman minorities, wie die Chinesen in Indonesien oder Inder in Ostafrika, wurden Opfer von Pogromen. Vgl. Zenner, Middleman-Minority Theories; Keely Stauter-Halsted, Jews as Middleman Minorities in Rural Poland. Understanding the Galician Pogroms of , in: Robert Blobaum (Hrsg.), Antisemitism and Its Opponents in Modern Poland, Ithaca, London , S. -; Pal Kolsto, Competing with
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derheit ursächlich mit Krisen in Verbindung gebracht werden kann, etwa im Fall jüdischer Getreidehändler in Situationen von Agrar- und Hungerkrisen, oder wenn die Minderheit als »Krisengewinnler« erscheint, d. h. ihr ökonomischer und sozialer Status sich im Vergleich zur Mehrheit verbessert, die dann eine relative Deprivation erfährt.35 ) Allgemeine Phasen öffentlicher Unruhe bei gleichzeitigem Verlust von Macht und Autorität auf Seiten des Staates, etwa in revolutionären Situationen oder nach einem verlorenen Krieg, bilden eine günstige Gelegenheitsstruktur für Pogrome, da der Schutz des Staates für die Minderheiten geschwächt ist oder ganz ausfällt. Pogrome können in solchen Phasen revolutionärer Gewalt, Bürgerkriegskämpfe, Streikaktionen, nationalistischer Umzüge oder Übergriffe aus einer Verschiebung von Gewaltaktionen entstehen, die ursprünglich ein anderes Ziel verfolgten. Die Gewalt kann auf eine Minderheit umgelenkt werden bzw. diese wird zu einer Zielgruppe unter anderen.36 ) Zum Ausbruch von Pogromen können auch Akteure wie Journalisten aber auch Träger der Staatsmacht beitragen, die bestehende sozioökonomische Konflikte schüren.37 Wenn auch nicht als unmittelbare Ursache, so wird doch der organisierten Agitation und der Presseberichterstattung gegen eine Gruppe eine wichtige Rolle bei der Erzeugung einer konfliktgeladenen Atmosphäre zugeschrieben. Klier hat überdies betont, dass durch die Massenkommunikationsmittel die konkrete Möglichkeit eines (antijüdischen) Pogroms im allgemeinen Bewusstsein etabliert wurde und als ein Handlungsmodell für zukünftige Ausschreitungen fungierte.38 Dies erklärt u. a. auch den Wellencharakter von Pogromen, da ein Ereignis an einem Ort Modellcharakter für andere Orte gewinnt. ) Die allgemeine Tendenz der staatlichen Politik gegenüber einer Minderheit spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Die rechtliche Benachteiligung sowie eine feindselige, auf Einschränkung der Minderheit zielende Politik bei gleichzeitigem Assimilationsdruck erhöht die Wahrscheinlichkeit von Übergriffen, die als legitim, wenn nicht gar als vom Staat erwünscht erscheinen.39 Dies gilt natürlich
Entrepreneurial Diasporians. Origins of Anti-Semitism in Nineteenth-Century Russia, in: Nationality Papers /, , S. -. James M. Olson/C. Peter Herman/Mark P. Zanna (Hrsg.), Relative Deprivation and Social Comparison, Hillsdale, NJ . Wynn, Workers, Strikes, and Pogroms; Eric Lohr, Nationalizing the Russian Empire: The Campaign against Enemy Aliens during World War I, Cambridge, Mass., London , eine lange Reihe von Beispielen bei Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. ff., S. . Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . Auch wenn Politiker, Verwaltungsbeamte oder Militärs durch Äußerungen oder Maßnahmen Judenfeindlichkeit befördern mögen, so handelt es sich bei Pogromen dennoch nicht um staatlich organisierte Gewaltaktionen. Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . Aronson, Troubled Waters, S. und ; Klier betont, dass sich in Russland der unterschiedliche Status der Juden in der speziellen rechtlichen Kategorie »inorodtsky« oder »aliens« ausdrückte, was sie in den Augen der Bauern außerhalb des gesetzlichen Schutzes stellte (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ).
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vor allem dann, wenn Teile der politischen Elite, etwa einzelne Parteien, offen gegen die Minderheit Partei ergreifen oder im Extremfall sogar die Regierung stellen.40 Diese aus historischen Fallanalysen gewonnenen Annahmen entsprechen den theoretischen, empirisch gestützten Arbeiten von Soziologen. In der amerikanischen Soziologie haben Herbert Blumer und Hubert Blalock die Frage der Machtbeziehungen und Gruppenpositionen zum Ausgangspunkt des »power approach to intergroup hostility«, auch als »conflict« oder »competitive ethnicity«-Modell bezeichnet, genommen.41 »The power model views racial and ethnic groups as participants in ongoing competition for control of economic, political and social structures and suggests that intergroup hostility and antagonism are natural products of that competition«.42 Die Feindseligkeit resultiert demnach aus zwei Bedingungen: ) aus der realen oder befürchteten Bedrohung oder Benachteiligung durch eine Out-Group, wobei empirische Studien in den USA vor allem zwei Faktoren für die Bedrohungswahrnehmung identifiziert haben: Die numerische Größe der untergeordneten im Vergleich zur dominanten Gruppe und die ökonomische Lage, deren Zusammentreffen (z. B. bei Zuwanderung und ökonomischer Krise) einen ethnischen Konflikt noch wahrscheinlicher machen.43 Neuere international vergleichende Studien in Europa haben ebenfalls gezeigt, dass das Ausmaß an Vorurteilen gegen eine Minderheit mit deren Größe korreliert. So nahmen Vorurteile mit dem Anteil von Nicht-EU-Ausländern oder Zuwanderern und Asylsuchenden zu,44 Vgl. die Entwicklung in Indien, wo zwischen - die nationalistischen Hinduparteien (BJP, VHP) zu Ausschreitungen gegen Muslime aufriefen, um auf diese Weise Wähler zu gewinnen. Durch die politische Unterstützung, vor allem nachdem diese Parteien an die Regierung gelangt waren, erhöhte sich auch das Gewaltniveau deutlich, so dass C. Jaffrelot vom Übergang »from riot to pogrom: state-sponsered violence« spricht: Christophe Jaffrelot, Communal Riots in Gujarat: The State at Risk? Heidelberg Papers in South Asian and Comparative Politics, Working Paper No. , Juli . Hubert M. Blalock, Toward a Theory of Minority-Group Relations, New York ; Herbert Blumer, Race Prejudice as a Sense of Group Position, in: Pacific Sociological Review , , S. -. Robert A. LeVine/Donald T. Campbell, Ethnocentrism: Theories of Conflict, Ethnic Attitudes, and Group Behavior, New York, London , S. . Lincoln Quillian, Prejudice as a Response to Perceived Threat: Population Composition and Anti-Immigrant and Racial Prejudice in Europe, in: American Sociological Review , , S. -, hier S. ; Micheal W. Giles/Melanie A. Bruckner, David Duke and Black Threat: An Old Hypothesis Revisited, in: Journal of Politics , , S. -. Marcel Coenders, Nationalism and Ethnic Exclusionism in a Comparative Perspective. An Empirical Study of Attitudes towards the Nation and Ethnic Immigrants in Countries, Nijmegen ; Lauren M. McLaren, Anti-Immigrant Prejudice in Europe: Contact, Threat Perception, and Preferences for the Exclusion of Migrants, in: Social Forces , , S. -; Peer Scheepers/Mérove Gijsberts/Marcel Coenders, Ethnic Exclusionism in European Countries. Public Opposition to Civil Rights for Legal Immigrants, in: European Sociological Review , , S. -; Moshe Semyonov et al., The Rise of Anti-Foreigner Sentiment in European Societies, -, in: American Sociological
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doch hängen diese auch von der Form und dem Ausmaß der Kontakte zwischen Mehrheitsbevölkerung und Zuwanderern ab.45 ) Die zweite Bedingung ist die Identifikation mit einer In-Group,46 denn ohne diese würde der Einzelne nur auf Konkurrenzverhältnisse und Bedrohungen reagieren, die ihn persönlich betreffen.47 Zentral für den Ansatz ist die Gruppenbedrohung. Es geht also um kollektive Güter, d. h., Interessengegensätze und Einzelkonflikte werden zu einem ethnischen Antagonismus »kollektiviert«.48 Dies geschieht auf Seiten dominanter ethnischer Gruppen wesentlich durch die Definition einer Situation als kollektive Bedrohung (sei es wirtschaftlicher Interessen, der kulturellen oder politischen Autonomie, der kulturellen Identität oder Existenz) durch eine Out-Group, die der Gewalt vorausgeht.49 Man sieht sich in einem Freund-FeindSchema als Opfer von Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Aggression, auf die man mit, unter Umständen gewaltsamer, sozialer Kontrolle reagiert.50 Der »Power
Review , , S. -; Moshe Semyonov et al., Population Size, Perceived Threat, and Exclusion: A Multiple Indicator Analysis of Attitudes toward Foreigners in Germany, in: Social Science Research , , S. -. Vertreter der Kontakthypothese stellen die Gruppenbedrohungsthese in Frage, da empirische Studien zeigen, dass der Kontakt zwischen Mitgliedern ethnischer Gruppen unter bestimmten Bedingungen zu einer Reduktion von Vorurteilen führt (dazu Ulrich Wagner/ Rolf van Dick/Thomas F. Pettigrew/Oliver Christ, Prejudice and Minority Proportion: Contact Instead of Threat Effects, in: Social Psychology Quarterly , , S. -; Mikael Hjerm, Do Numbers Really Count? Group Threat Theory Revisited, in: Journal of Ethnic and Migration Studies , , -). Allerdings zeigen auch diese Studien, dass zwar unter günstigen Kontaktbedingungen (freiwilliger, regelmäßiger persönlicher Kontakt bei gleichem Status) die Vorurteile mit steigendem Anteil der zuwandernden ethnischen Gruppe zunächst abnehmen, aber ab einem hohen Niveau der Zuwanderung wieder ansteigen (Cornelia Weins, Gruppenbedrohung oder Kontakt? Ausländeranteile, Arbeitslosigkeit und Vorurteile in Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie , , S. -, S. f.). Giles/Evans, Power Approach. Studien zu Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit stoßen immer auf einen ausgeprägten Nationalstolz als einen wesentlichen Faktor für eine feindselige Haltung gegenüber Out-Groups (Andrea Herrmann/Peter Schmidt, Autoritarismus, Anomie und Ethnozentrismus, in: Gerda Lederer/Peter Schmidt (Hrsg.), Autoritarismus und Gesellschaft, Opladen , S. -; Klaus Ahlheim/Bardo Heger, Nation und Exklusion. Der Stolz der Deutschen und seine Nebenwirklungen, Schwalbach a. T. ; vgl. auch Aribert Heyder/ Peter Schmidt, Deutscher Stolz. Patriotismus wäre besser, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge , Frankfurt a. M. , S. -. Rösel Vom ethnischen Antagonismus, S. . Veena Das, Official Narratives, Rumour, and the Social Production of Hate, in: Social Identities /, , S. -, hier S. , nennt diesen Vorgang, in dem die gesamte Gruppe für die Handlung oder Verfehlung einer Person verantwortlich gemacht wird, »Totalisierung«, die er als typische Erscheinung in Situationen kollektiver Gewalt ansieht. Diese »Totalisierung« gilt aber auch für die In-Group (die »endangered collectivity«), die nun insgesamt zum Handeln aufgerufen ist. Zur Bedeutung der Verletzung von Gerechtigkeitsnormen und zur Funktion von Gerechtigkeitsrhetoriken für die Genese sozialer Konflikte vgl. Michael Wenzel et al., Funktionen
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approach to intergroup hostility« sieht demnach in Unruhen eine extreme Form, ethnische Konflikte auszutragen: »We may say therefore, that race riots are extreme forms of racial conflict in which two racial groups struggle in a particular kind of political, social, economic and legal conflict setting, using riots as an alternative and ultimate technique to establish, maintain or change power relations in society«.51 Dieser Ansatz ist bisher vor allem zur Erklärung rassistischer Vorurteile, aber nicht zur Erklärung kollektiver Gewalt in Form von Pogromen angewandt worden.52 Da Pogrome von der dominanten Gruppe ausgehen, will diese gewöhnlich nicht eine Änderung, sondern den Erhalt bzw. die Wiederherstellung einer bestimmten sozialen, ökonomischen oder politischen Machtposition bzw. die Verhinderung eines Vorteils oder Aufstiegs der Minderheit.53 Walter Korpi hat deshalb vorgeschlagen, den »political process approach«, in dem der Kampf um Ressourcen und die Mobilisierung von Machtressourcen zur Erklärung von kollektiver Gewalt im Mittelpunkt stehen, um den »expectation achievement approach«, in dem es um motivationale Aspekte geht, zu erweitern.54 Sein Modell der Machtbalance kann zur Erklärung des Auftretens von Pogromen insofern beitragen, als sie annimmt, dass die Wahrscheinlichkeit von manifesten Konflikten zunimmt, wenn sich die Macht- oder Statusrelationen zwischen Gruppen zu Ungunsten der dominanten Gruppe verschieben. Bei extrem ungleicher (etwa im indischen Kastenwesen) wie bei stabiler gleicher Machtverteilung sind Konflikte selten. Nimmt jedoch eine große Machtdifferenz zwischen zwei Gruppen ab, dann erlebt die dominante Gruppe eine Form »progressiver Deprivation«, wodurch sich die Konfliktwahrscheinlichkeit erhöht, zumal wenn die dominante Gruppe erwarten kann, dass ein Konflikt Erfolg versprechend für sie sein wird.55 Diese Theorie macht jedoch keine Aussage, wann und warum ein solcher Konflikt mit Gewalt ausgetragen wird.56
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von Gerechtigkeitsauffassungen und Gerechtigkeitsrhetoriken für Genese, Verlauf und Management von Konflikten, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie, , S. -. L. Alex Swan, The Politics of Riot Behavior, S. . Susan Olzak hat mit ihm die Häufigkeit des Auftretens von Lynchgewalt zu erklären versucht (The Political Context of Competition). Gemäß der von George Rudé vorgeschlagenen Unterscheidung von »backward-looking« und »forward-looking« riots fallen Pogrome also unter den ersten Typus (The Crowd in History, S. ff.). Korpi, Conflict, Power. Ebd., S. . Mit diesem Ansatz wendet sich Korpi einmal gegen ältere Ansätze, die eine generelle positive Korrelation zwischen relativer Deprivation und Konflikt annehmen, zum anderen gegen das »political process modell«, das neben dem Verlust von Machtressourcen auch deren Gewinn als Konfliktursache ansieht, wie es von David Snyder/Charles Tilly, Hardship and Collective Violence in France, to , in: American Sociological Review , , S. -, vertreten wird. Verliert eine schwache Gruppe an Ressourcen oder gewinnt die dominante weitere hinzu, so nimmt nach Korpi die Konfliktwahrscheinlichkeit eher ab als zu.
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Susan Olzak und ihre Mitarbeiter haben in ihrer Theorie betont, dass es weniger um einfache ökonomische Konflikte geht als um Grenzen und Identitäten von Gruppen. Dabei nimmt diese Theorie an, dass gerade die ethnische Desegregation, insbesondere auch die auf dem Arbeitsmarkt, ethnische Konkurrenz verstärkt, die dann wiederum die Rate ethnischer Konflikte bis hin zu Ausschreitungen erhöht, da die dominante ethnische Gruppe versucht, die Zuwanderer auszuschließen.57 D. h., die zentrale Hypothese der »ethnic competition theory« ist, dass dominante ethnische Gruppen auf das Eindringen von Minderheiten mit Vorurteilen und eventuell auch ausschließender Gewalt reagieren.58 Albert Bergesen und Max Herman haben dieses Modell auf eine neue Situation in den amerikanischen Städten des Südwestens angewendet und interpretieren den Aufruhr in Los Angeles als »backlash violence in response to recent Latino and Asian immigration into African American neighborhoods«.59 Sie fanden einen signifikanten Zusammenhang zwischen Zuwanderung von Latinos und Asiaten in einen Stadtteil bei gleichzeitiger Abwanderung der afroamerikanischen Bevölkerung und der Gewalt in dem Los Angeles Riot von .60 Für sie besteht ein Zusammenhang zwischen der ethnischen Sukzession, wobei deren Tempo eine wichtige Rolle spielt (»hyperethnic succession«), und dem Vorkommen von »riot violence«.61 Neben Veränderungen der quantitativen Gruppenrelationen durch Zuwanderung bergen auch Grenzverschiebungen etwa durch den Zerfall imperialer Olzak, The Dynamic of Ethnic Competition, S. ; dies./Suzanne Shanahan/Elizabeth H. McEneaney, Poverty, Segregation and Race Riots, -, in: American Sociological Review , , S. -. Albert Bergesen/Max Herman, Immigration, Race, and Riot: The Los Angeles Uprising, in: American Sociological Review , , S. -, hier S. . Für den amerikanischen Kontext gab es diesen »backlash« von Weißen gegenüber den vor allem aus den Südstaaten in ihre Nachbarschaft zuwandernden Schwarzen im frühen zwanzigsten Jahrhundert, während die Rassenunruhen der er Jahre und spätere Unruhen (Miami ) nicht auf einen solchen Zuwanderungskonflikt zurückzuführen sind, da hier die schwarze Ghettobevölkerung revoltierte und nicht die weiße Mehrheitsbevölkerung. Vgl. Janowitz, Patterns; Capeci/Wilkerson, Layered Violence; Crowe, Racial Massacre in Atlanta; Cheryl Greenberg, The Politics of Disorder: Reexamining Harlem’s Riots of and , in: Journal of Urban History , , S. -; Rudwick, Race Riot at East St. Louis; Senechal de la Roche, The Sociogenesis of a Race Riot: Springfield, Illinois; Stanley Lieberson, A Piece of the Pie: Blacks and White Immigration since , Berkeley ; Douglas S. Massey/Nancy A. Denton, American Apartheid. Segregation and the Making of an Underclass, Cambridge, Mass. . Bergesen/Herman, Immigration, hier S. . Bergesen/Herman fanden den größten Anteil von Getöteten in der »Kontaktzone« entlang der Grenze zwischen den stärker von Schwarzen und den stärker von Latinos bewohnten Stadtteilen. Diese gemischte Zone mit jeweils starken Anteilen beiden ethnischen Gruppen wurde zu einer »contested area« (Immigration, S. ). Dabei spielt die »interracial competition« auf dem Arbeitsmarkt oder um Wohnungen nicht die zentrale Rolle (wie noch in der Theorie Susan Olzaks), sondern »the arrival of new racial/ethnic immigrants into residential areas with a different racial/ethnic majority already established« (Bergesen/Herman, Immigration, S. ).
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Reiche in mehrere Nachfolgestaaten oder durch Gebietsabtretungen nach einem verlorenen Krieg Ansatzpunkte für ethnische Konflikte: »New boundaries seriously disturb pre-existing ethno-religious relations, reversing majority-minority relationships, eliminating traditional mediating elements, fragmenting peoples, and suddenly casting some vulnerable border areas«.62 Durch diese Veränderungen der Machtbalance werden die Unsicherheiten für die Zukunft vergrößert und als Bedrohung wahrgenommen, was wiederum den Rückgriff auf Gewalt wahrscheinlicher macht. Aus weiteren soziologischen Untersuchungen und aus der historischen Forschung ist bekannt, dass auch andere Veränderungen der Gruppenpositionen, etwa durch die Verbesserung der Rechtsstellung einer Minderheit (z. B. in der Judenemanzipation des . Jahrhunderts, in der Sklavenbefreiung in den USA), in Kriegszeiten,63 durch Status- und Prestigeverluste der Eigengruppe, etwa in Folge schnellen sozialen Wandels, eines verlorenen Krieges oder durch tatsächliche oder vermeintliche Übergriffe seitens der Out-Group zu Bedrohungsgefühlen und entsprechenden »Abwehrreaktionen« der dominanten Gruppe führen können.64 Das heißt, die Ethnisierung sozialer Beziehungen ist nicht naturwüchsig gegeben, sondern erst unter solchen Bedrohungsbedingungen wird ethnische Zugehörigkeit zur einzigen übergreifenden Kategorie verabsolutiert.65 Das kollektive Selbstbewusstsein ist herausgefordert und reagiert mit Bedrohungs- und Überlegenheitsphantasien oder aber mit realen Verfolgungen gegenüber als nicht zugehörig definierten Gruppen. Die Konfliktdynamik entsteht also aus Veränderungen in der Machtbalance zwischen Gruppen, wobei allerdings objektive Veränderungen allein, z. B. eine verstärkte Zuwanderung, nicht ausreichen, vielmehr müssen diese in ein Bedrohungsszenario (perceived threat) übersetzt werden.66 Wie bekannt, können Rapoport, The Importance of Space, S. . Panayi, Dominant Societies and Minorities, S. -. Charles Tilly, Collective Violence in European Perspective, in: Hugh D. Graham/Ted Gurr (Hrsg.), Violence in America, New York , S. -; Erb/Bergmann, Die Nachtseite; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier; Lawrence Bobo/Vincent L. Hutchings, Perceptions of Racial Group Competition: Extending Blumer’s Theory of Group Position to a Multiracial Social Context, in: American Sociological Review , , S. -; vgl. für die Hindu-Moslem-Riots: Jaffrelot, Communal Riots. Theodor Hanf sieht eine allgemeine Tendenz, Gruppenkonflikte eher als kommunale ethnische Konflikte auszutragen denn als Klassenkonflikte. Er nennt dafür drei Gründe: einmal erleichtern vertraute und leicht verstehbare Merkmale (ethnische, religiöse, sprachliche Differenzen) die Mobilisierung im Unterschied zu den komplizierteren ökonomischen Beziehungen, zum anderen gibt es häufig eine Überlappung von Klassen- und ethnischen Zugehörigkeiten. Hinzu kommt eine andere Form der Deprivation, nämlich die symbolische. Auf die Verachtung der eigenen Religion oder Sprache, ungeachtet des eigenen ökonomischen Status, reagiert die Gruppe mit besonderer Bitterkeit (The Prospects of Accomodation, S. f.). Vgl. zu den kognitiven und affektiven Ursachen für eine Fehleinschätzung von Bedrohungen, z. B. in bereits vorhandenen Überzeugungssystemen, in einem Mangel an Einfühlungsvermögen in kontrastierende kognitive Kontexte, im »fundamental attribution
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dieselben Ereignisse je nach Situation sehr unterschiedlich gedeutet werden, und insbesondere in Konfliktsituationen dürfte die »Gefahrenwahrnehmung« stark ansteigen. Wir haben es also immer mit Interpretationsprozessen (Framing) zu tun, in denen dann bereits vorhandene Vorurteile, Erinnerungen an frühere Konflikte und Ethnizitäts- und Nationalitätssemantiken eine wichtige Rolle spielen.67 Als Verbindungsglied zwischen dem »Power Approach« und der Wahl kollektiver Gewalt (Theorie sozialer Kontrolle) sind weitere Überlegungen zwischenzuschalten, die erklären, wie soziale Beziehungen in eine Bedrohungssituation transformiert werden, die den Einsatz kollektiver gewalttätiger Selbsthilfe legitimiert. Es geht also um die Frage, wie gemeinsame Handlungsabsichten entstehen können, ohne dass die Koordination über Organisation sichergestellt werden kann. Dies geschieht m. E. über Prozesse des »Framing«, in denen gemeinsames Wissen, Erwartungen und Gefühle, d. h. geteilte Situationsdefinitionen erzeugt werden, die eine »begrenzte situative Selbstorganisation« in Gang setzen können.68 Framing: Die Konstruktion einer Bedrohungssituation Machtbeziehungen umfassen als einen Aspekt ihrer Reproduktion symbolische Formen, in denen sie begriffen und interpretiert werden. Ein kollektiver Angriff auf eine ethnische Minderheit innerhalb eines Gemeinwesens muss deshalb in besonderer Weise kulturell legitimiert und vorbereitet werden, da er grundlegende Normen des Zusammenlebens und das staatliche Gewaltmonopol verletzt.69 Es müssen also innerhalb der In-Group kommunikativ bestimmte Interpretationsrahmen (»injustice frames«) eingeführt und öffentlich durchgesetzt werden, die das Handeln der Out-Group als »Unrecht« und Bedrohung definieren, und sie müssen entsprechende »action frames« zur Abwehr vorschlagen.70 Mitglieder einer
error«, in bestimmten psychischen Ängsten oder Bedürfnissen usw., Janice Gross Stein, Building Politics into Psychology: The Misperception of Threat, in: Political Psychology , , S. -. Jaffrelot betont die zentrale Bedeutung der Konfliktgeschichte zwischen Hindus und Muslimen, vor allem natürlich die Gewalt in der Phase des Übergangs in die Unabhängigkeit und der Teilung des Landes, die dazu führt, dass sich viele Hindus trotz ihrer Mehrheitsposition in Indien bedroht fühlen (Communal Riots, S. ). Vgl. ähnlich Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. f. Randall Collins spricht davon, dass Menschen auf Solidarität gepolt sind, weshalb ihnen Gewalt sehr schwerfällt. Um Gewalt ausüben zu können, muss man die konfrontative Furcht überwinden. Dies geschieht im Fall der Pogrome dadurch, dass der Angriff hier Schwächeren gilt und man im Namen der gesamten Eigengruppe zu handeln meint (Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg , S. ). Ist die Hemmschwelle einmal überwunden, kann es zu situationsspezifischen Gewalteskalationen kommen. Gewalt hemmende Normen werden temporär suspendiert (Ralph H. Turner, Race Riots Past and Present: A Cultural-Collective Behavior Approach, in: Symbolic Interaction /, , S. -, hier S. ). Mit »injustice frames« können Probleme dramatisiert, die Ursachen definiert und die Schuldigen angeklagt werden; »identity frames« erlauben es, im Rückgriff auf In-Group/
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Out-Group haben gegen zentrale, als unverletzlich angesehene moralische Werte verstoßen (Tötung oder Verletzung von Mitgliedern der In-Group, Eigentumsrechte, Ehre, religiöse Überzeugungen, Gerechtigkeitsvorstellungen, z. B. einer moral economy, Bedrohung einer Machthierarchie usw.), die in der In-Group kollektiv Wut und Empörung sowie den Wunsch nach Bestrafung der Täter auslösen, um so die verletzte Ordnung wiederherzustellen.71 Wie die Einstellungsforschung zeigt, ist die Ausbildung von negativen Überzeugungen gegenüber Out-Groups weniger von individuellen Erfahrungen abhängig, sondern ein kollektiver Prozess, der im Wesentlichen auf der Wahrnehmung von externer Bedrohung (perceived threat) basiert, die die Bereitschaft erhöht, sich bedingungslos mit der Eigengruppe zu identifizieren.72 Insofern bedingen die genannten Statusverschiebungen die Ausbildung einer extrem negativen Sicht der Out-Group, die allerdings häufig bereits traditionell vorgeformt ist. Rösel unterscheidet hier drei Formen der Radikalisierung des Freund-Feind-Schemas: die Dekontextualisierung von Ereignissen, d. h., den Handlungen der anderen Gruppe werden selektiv Schädigungsabsichten unterstellt; die Reinterpretation, d. h., jeder neue Zwischenfall wird auf dem Hintergrund der historischen Konfliktgeschichte »gelesen«,73 was möglicherweise auch erklärt, warum es in bestimmten Regionen oder Städten wiederholt zu Pogromen
Out-Group-Unterscheidungen den Gegensatz zwischen den Werten und Interessen der In- und Out-Group zu markieren usw. Vgl. zum Konzept des »Framing«: ders., News as Framing, in: American Behavioral Scientist , , S. -; ders., Talking Politics, Cambridge ; David A. Snow et al., Frame Alignment Processes. Micromobilization and Participant Mobilization, in: American Sociological Review , , S. -; David A. Snow/Richard D. Benford, Ideology, Frame Resonance and Participant Mobililization, in: Bert Klandermans et al. (Hrsg.), From Structure to Action: Social Movement Research Across Cultures, Greenwich, CT , S. -. Als Beispiel vgl. Jaffrelot, der für die anti-muslimischen Ausschreitungen in Indien resümiert: »Indeed, research on communal riots in India after suggests that these riots largely originate from a distorted idea – ideology – of the Other; the Hindu though representing an overwhelming majority, often perceive of the Muslims as a ›fifth column‹ threatening them from within Indian society« (Communal Riots, S. ). Klatetzki, »Hang ’em high«, S. , spricht in diesem Kontext im Rückgriff auf Emile Durkheim von »sakralen Kernwerten« (Freiheit, Ehre, Eigentum u. a.), die ebenso emotional besetzt sind wie »der sie schützende moralische Rahmen«. Deren Verletzung löst das Verlangen nach Strafe aus. A. Wade Smith, Racial Tolerance as a Function of Group Position, in: American Sociological Review , , S. -; Quillian, Prejudice as a Response. Als ein wichtiger Faktor wird in der Pogromforschung deshalb auch die Erinnerung an frühere Gewaltereignisse angesehen, die über einzelne Personen, über Volkslieder und Erzählungen tradiert werden und zu Anlässen (an Jahrestagen) eigener Art werden. Vgl. Klier: »The role of popular memory should not be underestimated« (Russians, Jews and the Pogroms, S. f.). Die Bedeutung der kollektiven Erinnerung an frühere Ausschreitungen für den Ausbruch neuer Pogrome hebt auch Rösel hervor (Vom ethnischen Antagonismus, S. ).
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kommt,74 sowie die Solidarisierung und Identifizierung mit der eigenen Gruppe.75 In ethnischen Konflikten muss zur Legitimation von Gewalt mit Hilfe von »identity frames« eine dichotome Ordnung nach fraglos Zugehörigen und Außenseitern etabliert und zu einem Freund-Feind-Verhältnis radikalisiert werden. Es bildet sich sozusagen eine Diskursgemeinschaft, in der zwei »vorgestellte Gemeinschaften« entworfen werden, die zwar unsichtbar sind, aber homogene, solidarische und vergeltungsbereite Massen darstellen.76 Im Gegensatz zu Rassenunruhen und sozialen Bewegungen, die ihre Forderungen mit universalistischen Wertorientierungen begründen müssen, basieren Pogrome auf partikularistischen Normen (»Deutsche zuerst!«), die der Out-Group bestimmte allgemeine Rechte (auf Arbeit, Wohnen, eigene Sprache und Kultur, religiöse Betätigung) absprechen. Deshalb müssen entlang physischer, kultureller oder religiöser Differenzen sich ausschließende Werte- und Loyalitätsgemeinschaften konstruiert werden, die die Exklusion als notwendige Abwehrmaßnahme begründen. Gerüchte über Angriffe seitens der Minderheit (Entführungen, Vergewaltigungen, Vorwurf der Beteiligung an Attentaten, Ausnutzung des Sozialstaates, symbolische Übergriffe) bilden eine typische, »soziale Kontrollgewalt« legitimierende Kommunikationsform unmittelbar vor Ausbruch von Pogromen. Gerüchtekommunikation In den Studien zu einzelnen Pogromen, aber vor allem in Analysen von Pogromwellen ist deshalb immer wieder die zentrale Rolle dieser Gerüchtekommunikation im Vorfeld, aber auch in der Ausbreitung von Pogromen (Ansteckungseffekt) betont worden.77 Letzteres ist darauf zurückzuführen, dass Gerüchte durch die Aktualität ihrer Information gekennzeichnet sind.78 Da ihre Botschaft schnell veraltet und damit an Wert verliert, müssen sie gewöhnlich rasch weitererzählt werden, wobei feindselige Gerüchte immer weiter zunehmen, positive dagegen schnell wieder ver-
Aronson weist auf die lebendige und aktive Tradition der gewaltsamen Übergriffe gegen Juden im Süden und Südwesten Russlands hin, auf Chmielnicki und die Pogrome in Odessa von , und (Troubled Waters, S. ). Rösel, Vom ethnischen Antagonismus, S. ff. Ebd., S. . Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. -, widmet in seiner Analyse der Vorgänge im Jahre in Konitz ein ganzes Kapitel dem Thema Gerüchte; Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. ff.; Horowitz, Deadly Ethnic Riot, Kap. : Before the Riot: The Critical Role of Rumor, S. -. Nach Klaus Merten (Zur Theorie des Gerüchts, in: Publizistik , , S. -, hier S. ) beschreibt der journalistische Begriff der Aktualität den Kommunikationsdruck, der aus der Interaktion von Relevanz (importance) und Informationsdefizit (ambiguity) entsteht, den beiden Elementen, aus denen das »basic law of rumor« von Gordon W. Allport/ Leo J. Postman (The Psychology of Rumor, New York ) besteht.
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ebben.79 So reisen sie schnell auch über größere Entfernungen, wobei ihre Reichweite im Wesentlichen von der Übereinstimmung der Interessen und Problemlagen der jeweiligen Bevölkerungsgruppe abhängt.80 Terry Ann Knopf hat in ihrem Buch Rumors, Race and Riots von anknüpfend an die Theorie kollektiven Verhaltens von Neil J. Smelser81 ein Prozessmodell der Gerüchtekommunikation entwickelt, in dem Gerüchte funktional mit basalen Konflikten verbunden sind und eine Form darstellen, durch das Medium negativer Vorstellungen mit diesen Konflikten umzugehen.82 Man kann deshalb sagen, dass Gerüchte als eine Form »kommunikativer Selbsthilfe« bei Normverletzungen die Selbsthilfe mittels Gewalt, die wir als Pogrom definieren, vorbereiten bzw. an dessen Ausbreitung mitwirken. Die das Handeln organisierende Funktion ist es, die nach Donald Horowitz ein offizielles Dementi so wirkungslos macht. Gerüchte haben im »Riot-Prozess« also eine wichtige Funktion, da sie die Gewalt legitimieren, die gerade ausbricht.83 Neben strukturellen Problemlagen (»structural strain« im Sozialsystem) hebt Knopf vor allem die Bedeutung der Existenz eines feindseligen Vorstellungs Vgl. dazu auch das Sprichwort »Bös Gerücht nimmt immer zu, gut Gerücht kommt bald zur Ruh« (Manfred Bruhn, Gerüchte als Gegenstand der theoretischen und empirischen Forschung, in: Manfred Bruhn/Werner Wunderlich (Hrsg.), Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform, Bern, Stuttgart , S. -, S. . Merten definiert Gerüchte unter Bezug auf Luhmanns Theorie sozialer Systeme »als vernetzte Kommunikationsprozesse«, die eine systemische Struktur besitzen, indem sie nach ihrer Entstehung (Katalyse) ein Eigenleben gewinnen und bestrebt sind, sich selbst durch weitere Kommunikation aufrechtzuerhalten. Gerüchte bezeichnen zugleich den Prozess der Verbreitung von Informationen wie auch das Resultat dieses Prozesses (Zur Theorie des Gerüchts, S. und f.). Neil J. Smelser, Theorie des kollektiven Verhaltens, Köln , S. -, der Gerüchte als generalisierte Vorstellungen ansieht, die zu kollektivem Verhalten wie Ausschreitungen, Paniken oder Manien führen können. In seiner Strukturanalyse eines »feindseligen Ausbruchs«, unter den man auch die Form des Pogroms subsumieren kann, unterscheidet Smelser vier Phasen in der Wechselbeziehung zwischen Gerücht und feindseligem Gewaltausbruch: unruhiges negatives Geraune; Gerüchte nehmen eine spezifisch bedrohliche Form an; Hetzparole, die die Gewalt entzündet; schnelle, fanatische Gerüchtekommunikation während des Aufruhrs (S. f.). Terry A. Knopf, Rumors, Race and Riots, New Brunswick, NJ . Auch Merten definiert die Entstehung und Verbreitung von Gerüchten »als einen Prozess kollektiver sozialer Selbsthilfe, der stets dann als fortgesetzte Kommunikation aktualisiert wird, wenn in einer Gruppe, einer Population oder in der Gesellschaft Defekte an den grundlegenden sozialen Strukturen (Normen, Werte, Kommunikationsbarrieren, unterdefinierte Situationen) auftreten oder aufzutreten scheinen« und wenn es einen Mangel an Information und Informationskanälen gibt (Zur Theorie des Gerüchts, S. ). Auch andere, wie Jean-Noël Kapferer, schreiben Gerüchten eine Warn- und Entlastungsfunktion zu und verstehen sie als eine kommunikative Abwehrreaktion oder ein Instrument sozialer Kontrolle (Gerüchte. Das älteste Medium der Welt, Leipzig , S. ). »Rumor prevails because it orders and organizes action-in-process« (Horowitz, Deadly Ethnic Riot, S. ).
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Systems (»hostile belief system«) für die Ausbreitung von Gerüchten hervor: »By this term we mean a negative set of generalized views, perceptions and convictions held by one race with respect to another«.84 Zu den negativen Überzeugungen zählt sie vor allem auch eine große Unwissenheit (»ignorance«) über die jeweils andere Gruppe. Diese feindseligen Vorstellungen, in denen Fakten und Fiktionen miteinander verwoben sind, dienen dazu, die Ursachen der sozialen Spannungen zu identifizieren und der feindlichen Gruppe die Verantwortung dafür zuzuschreiben. Damit stärken Gerüchte wiederum auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Eigengruppe. In ihrem Prozessmodell betont Knopf, dass Gerüchte erst in Situationen von sozialer Spannung (Stress) und bei Vorhandensein eines entsprechenden feindseligen Überzeugungssystems ins Spiel kommen und ein Pogrom auslösen oder über die Ausbreitung von Gerüchten eine Pogromwelle in Gang setzen können.85 Das Gerücht ist in mehrfacher Hinsicht funktional mit dem feindseligen Vorstellungssystem verbunden: »Crystallizing, confirming, intensifying beliefs, while linking them to actual events«.86 Die negativen Erwartungen gegenüber dem Handeln und den Absichten der anderen Gruppe bilden den wichtigsten Nährboden für die Akzeptanz von Gerüchten über diese Gruppe, deren Inhalt sehr stark von den negativen Überzeugungen geprägt ist. Das Gerücht leistet also quasi eine Bündelung negativer Überzeugungen und schließt die Lücke zwischen einer emotional verankerten Überzeugung und deren kognitiver Bewahrheitung in einem, die Überzeugung bestätigenden »Faktum« (»confirming function«).87 Bei diesen »Fakten« handelt es sich häufig, worauf Horowitz hingewiesen hat, um behauptete verborgene Drohungen oder Übergriffe, die schwer zu verifizieren sind, wie drohende Invasionen, geplante Massaker, etwa Brunnen- oder Lebensmittelvergiftungen, entführte Kinder, »Ritualmorde«.88 Gerüchte leisten also die Verknüpfung eines häufig deutungsoffenen Ereignisses (z. B. Auffinden eines toten Kindes) mit den negativen Überzeugungen, wie in diesem Fall mit der Ritualmordlegende (»linkage function«), was dann das Ereignis viel bedeutsamer und provozierender erscheinen lässt. Gerüchte beglaubigen jedoch die feindseligen Vorstellungen über die andere Gruppe nicht nur, sondern sie intensivieren sie auch, indem sie tatsächliche Geschehnisse dramatisieren, also aus einer Handgreiflichkeit einen schwerwiegenden Übergriff der anderen Gruppe, aus einem leicht Verletzten mehrere Todesopfer machen (»intensification function«).89 Gerüchte zeichnen Knopf, Rumors, S. . Ebd., S. . Knopf betont, dass ein Gerücht allein keine Unruhen auslöst, wenn nicht die anderen Vorbedingungen erfüllt sind. Ebd., S. . »Each confirms the other: the rumor […] proves the belief […], while the belief explains the rumor« (ebd., S. ). Gerüchte leisten also nicht nur eine Konkretisierung und Kristallisierung feindseliger Vorstellungen, sondern auch als deren Realisierung eine Bestätigung durch die »Realität« (S. ). Horowitz, Deadly Ethnic Riot, S. . Dass bei der Weitergabe die aktuelle und negativere, spektakuläre Version des Gerüchts gewählt wird, hängt mit dessen systemischen Charakter zusammen, d. h. der Selbsterhal-
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sich bisweilen durch bizarre Übertreibungen und Entstellungen der Wirklichkeit aus, sie nivellieren aber zugleich auch die Information, indem Einzelheiten im Prozess der Weitergabe verloren gehen, während andere Elemente hervorgehoben werden, doch wird die zentrale Botschaft des Gerüchts – bei allen Variationen, die der situative Kontext verlangt – relativ konstant gehalten.90 Knopf leitet aus diesen Überlegungen eine Zahl von Annahmen über das Auftreten von Gerüchten in Rassenunruhen ab, die sie nachfolgend auch durch empirische Studien bestätigen kann: Die meisten Unruhen sind durch die Formierung von Gerüchten gekennzeichnet, die mehrdeutige, unklare Situationen strukturieren, indem sie Ereignisse erklären oder voraussagen.91 Wenn der Ausbruch von Unruhen droht, nimmt die Zahl darauf bezogener Gerüchte zu, die sich zudem auf gerade aktuelle Konfliktpunkte beziehen, ihnen Ausdruck verleihen, sie aber auch ausweiten.92 Gerüchte sind mit dem auslösenden Ereignis verbunden. Da sich im Laufe der tungstendenz des Gerüchts. Dies erklärt auch die oft beobachtete Negativität von Gerüchten (Merten, Zur Theorie des Gerüchts, S. ). Merten, Zur Theorie des Gerüchts, S. . Nach Allport/Postman geschieht bei der Verbreitung von Gerüchten einerseits eine Verkürzung durch Weglassen von Einzelheiten (levelling), andererseits aber auch eine Verschärfung durch das Hervorheben anderer Aspekte (sharpening). Dies rührt daher, dass der jeweilige Erzähler das Gerücht dem entsprechenden Kontext (der Sprache und Vorstellungswelt der Rezipienten) anpasst, in dem er es weitergibt (Psychology of Rumor, S. ff.). Vgl. Bruhn, Gerüchte als Gegenstand der theoretischen und empirischen Forschung, S. . Dabei ist schwer zu eruieren, ob diese Gerüchte als Strategie einer Gruppe, etwa von Seiten von Agitatoren, bewusst in Umlauf gebracht werden oder spontan entstehen, zumal in Bevölkerungsgruppen, deren Informationsbedürfnis nicht über die offiziellen Kanäle befriedigt wird oder werden kann (im Fall von Analphabetentum). Im Unterschied zur Nachricht haben Gerüchte keinen sicher identifizierbaren Urheber, sie sind als »prozessuale und multiautoritative Form der ungesicherten und ungeprüften Informationsweitergabe zu verstehen« (Kay Kirchmann, Gerüchte und die Medien. Medientheoretische Annäherungen an einen Sondertypus der informellen Kommunikation, in: Bruhn/Wunderlich, Medium Gerücht, S. -, S. ); d. h. die Quelle des Gerüchts bleibt vage (vom »Hörensagen«), sein Wahrheitsgehalt ungesichert. Eine interessante Variante des Schutzes eines Gerüchts berichtete die AZJ: In Odessa seien bei verhafteten Pogromisten in Goldbuchstaben gedruckte Proklamationen mit der Unterschrift des Zaren Alexander III. gefunden worden, in denen dieser seinen Willen erklärt, die Juden zu massakrieren. Da jedoch seine Minister dagegen seien, dürften die Behörden nichts von diesem Ukas erfahren, weshalb er niemandem gezeigt werden dürfe (Jg. , Heft , .., S. ). Tim Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. , beschreibt, wie Menschen versuchen, die unbestätigten Gerüchte über einen Vorfall, wonach die Juden angeblich ein Attentat auf einen Priester planten, zu überprüfen. »In diesem Klima wurden alle möglichen Handlungen als Hinweise auf erneute Gewalt oder tatsächliche Attentate gedeutet. Da Juden und Christen in einem täglichen Austausch standen, dynamisierte sich das Gerede.« In der Forschung werden denn auch vier Faktoren genannt, die für die Verbreitung von Gerüchten sorgen: allgemeine Unsicherheit (Ambiguität), individuelle Ängstlichkeit (Spannung, Besorgnis, verbunden mit der Erwartung eines bevorstehenden negativen Ereignisses), Wichtigkeit und Glaubwürdigkeit des Gerüchts (Bruhn, Gerüchte als Gegenstand der theoretischen und empirischen Forschung, S. ff.).
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Unruhen der Konflikt zuspitzt, nimmt auch die Zahl der Gerüchte zu, deren Gehalt sich in den verschiedenen Phasen der Unruhen verändern kann.93 Der hier von Knopf entwickelte Typus des Gerüchts, der sich auf das tatsächliche oder nur vermutete Fehlverhalten der Out-Group bezieht und eine emotionale Konfliktdynamik auslöst, gehört zu den von Robert Knapp zum Typ der »feindseligen oder Aggressionsgerüchte« (wedge-driving oder aggression rumor) zählenden Gerüchten, die aus Motiven des Hasses und der Aggression entstehen, die kollektiven Hass aber auch selbst erzeugen. Knapp wertet neben der Feindseligkeit auch Wünsche oder Furcht als emotionale Bedürfnisse, die durch Gerüchte befriedigt werden können. Entsprechend identifiziert er noch einen aus Angst oder Unruhe entspringenden Gerüchtetyp »bogy rumors« sowie die aus einem Wunsch hervorgehenden »pipe dream« oder »wish rumors«.94 In Pogromen finden wir neben den feindseligen Gerüchten auch diese aus Furcht (z. B. vor einem Attentat auf ein Mitglied der InGroup oder vor Angriffen seitens der Selbstwehr der Out-Group) oder aus Wünschen entspringenden Gerüchte. Bei fast allen Pogromwellen taucht das Gerücht auf, gewaltsame Übergriffe gegen diese Gruppe seien von der höchsten staatlichen Autorität (wie dem Zaren, dem Reichskanzler Bismarck usw.) für einen gewissen Zeitraum erlaubt worden. Diese Gerüchte erleichtern die Mobilisierung zögernder Mitglieder der Eigengruppe, da sie die Furcht vor einer möglichen Bestrafung als gegenstandslos erscheinen lassen, auch wenn bei allen Beteiligten gewisse Zweifel an der Wahrheit des Gerüchts bestehen.95 Diese »Ungewissheit bzw. die Unklarheit über den Wahrheitsgehalt des Gerüchts« ist nun gerade ein konstitutives Merkmal dieser informellen Kommunikationsform. D. h. auch, Gerüchte sind ihrem Inhalt nach nicht immer verfälscht oder unwahr, sondern können einen Sachverhalt auch richtig wiedergeben. Die angebliche Freigabe der Gewalt kann sich zur Erwartung eines bevorstehenden »Schlages gegen die Juden« verdichten, die auf Seiten der InGroup eine gewisse (freudige) Erwartungshaltung erzeugt (Wunschgerüchte), bei Knopf, Rumors, S. f.; Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. f., schildert einen solchen Fall einer »Verwandlung des Gerüchts«. Da das Gerücht, der Kaiser habe die Erlaubnis zum »Schlagen der Juden« gegeben, durch einen harten Polizeieinsatz eigentlich widerlegt worden war, schützte man seine Geltung durch ein neues Gerücht, wonach die Polizei von den Juden bestochen worden sei. Auf diese Weise überlebte das Narrativ einer Freigabe der Juden auch »seine deutlichste Widerlegung«. Merten betont, dass Aussagen eines Gerüchts Existenzaussagen darstellen, die nicht falsifizierbar sind. Das Gerücht immunisiert sich gegen die Versuche seiner Widerlegung, z. B. indem es sich an die jeweilige Situation anpasst (Zur Theorie des Gerüchts, S. ). Robert H. Knapp, A Psychology of Rumor, in: Public Opinion Quarterly /, , S. , hier S. ff., hier zit. nach Bruhn, S. ; Merten weist aber zu Recht auf die Schwächen dieser nicht theoretisch abgeleiteten Typologien hin (Zur Theorie des Gerüchts, S. ). Nach Ralph H. Turner definieren Gerüchte eine sich entwickelnde Situation, indem sie Menschen ermöglichen, mit einer Zuversicht und Entschiedenheit zu handeln, die vorher nicht gegeben war. Gerüchte entstehen, wenn »there is a strong incentive to engage in a form of collective activity against which norms are ordinarily operative« (Collective Behavior, in: Robert E. L. Farris (Hrsg.), Handbook of Modern Sociology, Chicago , S. -).
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der Zielgruppe der Gewalt dagegen ängstliche Befürchtungen wecken, zumal es in dieser Phase häufig zu expliziten Drohungen mit Gewalt kommt. Ist so ein Gerücht über bevorstehende Unruhen in der Welt, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass es in geeigneten Situationen, einem Fest, einem Markttag, einer Versammlung, dann tatsächlich zum Ausbruch von Gewalt kommt.96 Es eröffnet auf der anderen Seite aber auch präventive Möglichkeiten von Seiten der Opfergruppe und des Staates. Im Fall von Pogromen stellt diese Art von »vorhersagenden Gerüchten« für die potentiellen Aggressoren ein optimistisches, für die bedrohte Gruppe ein pessimistisches Gerücht dar mit entsprechend gegensätzlichen Handlungstendenzen (Angriff vs. Schutz). Gerüchtekommunikation ist nicht auf die Weitergabe in Form interpersonaler Kommunikation (Gerede) begrenzt, sondern auch Massenmedien können zu Erfindern oder Multiplikatoren von Gerüchten werden und so zur Auslösung von Pogromen bzw. ihrer Ausbreitung beitragen.97 Gerüchte haben häufig einen längeren, oft massenmedial vermittelten Vorlauf, in dem sich Vorurteile und nationalistische Semantiken verdichten und radikalisieren. Fallanalysen zeigen, dass die kollektive Gewalt oft durch Flugblatt-Kampagnen, Hetzartikel in Zeitschriften oder politische Debatten vorbereitet wurde.98 Hierbei kommt »ethnischen Ideologen« eine wichtige Rolle zu, die öffentlich eine Sicht der Realität entwickeln, in der die Out-Group als Bedrohung und als Urheber der gegenwärtig ungünstigen Situation der Eigengruppe hingestellt wird.99 Gewaltanwendung setzt einen Kommunikationsprozess voraus, in dem Werte und Normen verändert werden und die Zielgruppe schrittweise »exkommuniziert« wird, so dass die kollektive Gewalt den Endpunkt in einem Prozess der Ausgrenzung darstellt. Die Balance zwischen Anreiz und Blockierung, die Aggression reguliert, gerät zudem dann aus dem Gleichgewicht, wenn man sich positiv auf »höhere Prinzipien« und auf die Selbstinterpretation des Handelns als bloße Gegenwehr berufen kann.100 Auch wenn sich an den Gewaltaktionen zumeist nur ein Bruchteil der überwiegend jungen, männlichen Bevölkerung beteiligt, können die Gewalttäter mit einem großen Kreis an Sympathisanten rechnen, von denen viele zwar die Wahl der Mittel und eine aktive Beteiligung ablehnen mögen, nicht aber das Ziel der Bestrafung, Degradierung und Exklusion. Kollektive Gewalt ist, auch wenn nicht alle Akteure, die die Gewaltintention teilen, sich in gleicher Weise an der Schädigung der Opfer beteiligen, dennoch »Gewalt im Wir-Modus«, denn entscheidend für die Hier ist auf die perlokutionäre Macht von Worten hinzuweisen, nämlich ihre Fähigkeit, etwas zu tun, indem man etwas sagt: »In this way, words come to be transformed from a medium of communication to an instrument of force« (Vas, Official Narratives, S. ). Dazu Kirchmann, Das Gerücht und die Medien. Vgl. exemplarisch für die antisemitischen Ausschreitungen in Pommern und Westpreußen : Hoffmann, Politische Kultur, S. ff.; klassisch auch die Rolle der antisemitisch hetzenden Zeitung Bessarabets des aktiven Antisemiten Pavel Krushevan in der Vorbereitung des Pogroms in Kishinev , vgl. Judge, Easter in Kischinev. Rösel, Vom ethnischen Antagonismus, S. f. Bohstedt, The Dynamics.
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Kollektivität ist die geteilte Intention von Tätern und Zuschauern.101 So gesehen, ist der Angriff auf eine seit längerem diskriminierte Gruppe im Verständnis der für die Täter relevanten Bezugsgruppen kein abweichendes, sondern normgerechtes Verhalten, die Täter sind also Konformisten, die nur einen Schritt weiter gehen als ihre Umgebung. Die Anwendung illegaler politischer Gewalt wird damit letztlich ebenso von sozialen Normen und Gratifikationen gesteuert wie die Anwendung legaler und gewaltloser Mittel. Wie schon von Pogrom-Historikern beobachtet (s. o.), spielt für die Ermutigung der Selbstjustiz die allgemeine Tendenz der staatlichen Politik gegenüber einer Minderheit ebenfalls eine wichtige Rolle. Eine feindselige, auf Einschränkung und Benachteiligung der Minderheit zielende Politik bei gleichzeitigem Assimilationsdruck erhöht die Wahrscheinlichkeit von Übergriffen, die für die Mehrheitsbevölkerung als legitim bzw. sogar als vom Staat erwünscht erscheinen. – Dem Staat kommt also in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselrolle für das Ausbrechen von Pogromen zu. Zur triadischen Konfliktrelation von Mehrheit, Minderheit und Staat Rassenunruhen oder soziale Bewegungen richten ihren Protest fast immer auch oder sogar primär an staatliche Instanzen, sei es, dass der Staat selbst Angriffsziel ist, sei es, dass er zum Handeln im Sinne des eigenen Anliegens gebracht werden soll, wenn andere Kommunikationsformen (Petitionen) vergeblich waren oder Kommunikationskanäle zur etablierten Politik fehlen. Bei Pogromen haben wir es mit einer anderen, einer dreistelligen Beziehungsrelation zu tun: Angriffsziel ist eine andere ethnische Gruppe, wobei die Rolle des Staates als dritter Partei ambivalent wahrgenommen wird, denn einerseits sehen die Akteure ihre Selbsthilfe als legitim an, andererseits »wissen« sie aber, dass sie das Gewaltmonopol des Staates durchbrechen und ihrer Aktionen strafbar sind. Die Tatsache, dass der Staat die »Bedrohung« der In-Group nicht abwehrt oder sie sogar – etwas durch Gleichstellungsmaßnahmen oder starke Zuwanderung – befördert, kann der gewalttätigen Selbsthilfe einmal der Charakter einer loyalen Ersatzhandlung geben, zum anderen aber auch einen staatskritischen Zug. Im ersten Fall sehen sich die Pogromisten als legitime Vertreter der Mehrheit an, wähnen sich gleichsam in Kooperation mit dem – allerdings aus welchen Gründen auch immer inaktiven – Staat. In vielen der untersuchten Pogromwellen gingen Gerüchte um, dass die Gewalt gegen Juden vom jeweiligen Machthaber für einen gewissen Zeitraum erlaubt worden sei.102 Es Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. . Schwierig ist die Beurteilung der »Reichskristallnacht«, da die Nationalsozialisten hier die Form des Pogroms (die »Volkswut« als Deckmantel) benutzten, obwohl es sich von den Entstehungsbedingungen her, nämlich der zentralen Anordnung von oben und der Ausführung des Befehls durch lokale NS-Organisationen, nicht um Pogrome gehandelt hat, wie auch der NS-interne Sprachgebrauch als »Judenaktion« belegt. Was den Fall schwierig macht, ist einerseits die »dual state«-Struktur des »Dritten Reiches«, die eine klare Scheidung zwischen Partei und Staatsmacht erschwert, zum anderen die Tatsache, dass
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gibt in der Tat Fälle der Duldung durch Teile der politischen Elite und der Polizei, die sich in manchen Fällen sogar an den Gewaltaktionen beteiligt.103 Vor allem lassen sich häufig Differenzen in der Haltung der lokalen staatlichen Organe und der Zentralgewalt erkennen, die die Pogromisten als Legitimierung ihres Vorgehens empfinden.104 Es gibt am anderen Pol auch schnelle und massive staatliche Intervention. Greift der Staat jedoch zugunsten der angegriffenen Minderheit ein bzw. wendet sich gegen Mitglieder der Mehrheitsbevölkerung, dann kann der Konflikt seinen »loyalen« Charakter verlieren, indem nun etwa auch Repräsentanten der staatlichen Gewalt angegriffen und als »Schutztruppe« der Minderheit in die Kritik geraten.105 Stephen Reicher hat auf das Problem der Ordnungskräfte hingewiesen, deren Behandlung aller Anwesenden als »Gegenseite« aus einer völlig disparaten Menge eine einheitliche Gewaltmasse macht, die sich im Widerstand gegen die Polizei vereint fühlt, die nun zum »Feind« wird, was zugleich Ziele und Handlungsoptionen der Menge verändert.106 Greifen die Kontrollorgane massiv durch, so werden sie gewöhnlich von den Pogromisten nicht attackiert, sondern
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sich auch Teile der Bevölkerung spontan beteiligt haben, als die Aktion lief. D. h., es ist möglich, dass wir es an bestimmten Orten tatsächlich mit Pogromen im hier definierten Sinne zu tun haben. Vgl. dazu Uli Baumann/François Guesnet, Kristallnacht – Pogrom – State Terror: A Terminological Reflection, in: New Perspectives on Kristallnacht: After Years, the Nazi Pogrom in Global Comparison, in: The Jewish Role in American Life. An Annual Review of the Casden Institute for the Study of the Jewish Role in America, Vol. , edited by Steven J. Ross, Wolf Gruner, Lisa Ansell, S.-. Vgl. als ein aktuelles Beispiel die fünftägigen anti-muslimischen Pogrome in der indischen Provinz Gujarat im Jahre , die seitens der hindunationalistischen Regierungspartei BJP angestiftet und organisiert wurden. Durch ihre Kontrolle der Sicherheitsorgane konnte sie diese auch vom Eingreifen abhalten, entsprechend brutal waren die Aktionen und entsprechend hoch die Zahl der Opfer. Die offiziellen Zahlen lagen bei getöteten Muslimen und getöteten Hindus (dazu jeweils . bzw. Verletzte), Jaffrelot rechnet mit mehr als . Toten (Communal Riots, S. ). Dieser Punkt muss noch weiter differenziert werden. Da neben den verschiedenen lokalen, regionalen und nationalen Staatsorganen auch die Differenzierung von Staat und Gesellschaft eine Rolle spielen kann, wenn die Pogromisten den Staat als illegitim betrachten und sich auf den »Volkswillen« berufen oder wenn Staat und Minderheit in einer engen Beziehung gesehen werden (im Begriff der »Judenrepublik« haben die Nationalsozialisten beides kombiniert). Vgl. dazu den von Amrita Basu beschriebenen Fall in Bijnor (Indien), wo Ausschreitungen von Hindus gegen die muslimische Minderheit sich mit einem Angriff auf den Staat vermischten (Why Local Riots Are not Simply Local: Collective Violence and the State in Bijnor, India -, in: Theory and Society /, S. ). Die Staatsorgane, in denen ja fast ausschließlich Mitglieder der Mehrheitsbevölkerung vertreten sind, fühlen sich in dieser Rolle in vielen Fällen unwohl: »Russian officials themselves were uncomfortable in the guise of defenders of the Jews, and repeatedly complained that the Jews were taking advantage of this protection«. Diese Konstellation erkärt auch das z. T. zögernde Eingreifen der Polizei: »Governor-General Drenteln, before the Kiev pogrom, famously complained his reluctance to ›trouble himself for a pack of Jews‹« (Klier, Russians, Jews and the Pogroms, S. ). Stephen Reicher, »Tanz in den Flammen«. Das Handeln der Menge und der Quell ihrer Freude, in: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen, S. -, hier S. .
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diese weichen vor ihnen zurück bzw. weichen aus und setzen ihre Angriffe an anderer Stelle fort.107 Ein massiver Einsatz mit Todesopfern sowie auch Verhaftungen können aber auch im Fall von Pogromen zur Gegengewalt der Pogromisten gegen Polizei und Militär führen und damit den Handlungsspielraum auf beiden Seiten einengen.108 Zwar kann es in diesen Konfrontationen von Pogrommenge und staatlichen Sicherheitskräften temporär zu einer Gewalteskalation kommen, in der die Gewalt der einen Seite die der anderen rechtfertigt und steigert, doch anders als im Fall höher organisierter Gruppen, z. B. bei Demonstrationen sozialer Bewegungen, kommt es nicht zu einer Institutionalisierung von Gewaltkollektiven und der damit verbundenen Reproduktion »legitimer« Anlässe für die Fortsetzung des gewaltsamen Konflikts. Pogrommengen zerstreuen sich nach dem Ereignis wieder und es findet hier keine Bildung radikaler Gewaltkollektive und auch keine Herausbildung einer sozialen Identität als Gewalttäter statt.109 Die ambivalenten Wirkungen des Eingreifens der Staatsmacht zeigen sich auch darin, dass etwa die vorsorgliche Stationierung von Truppen auf Wunsch der örtlichen Minderheit gerade zum Auslöser eines Pogroms werden kann, da diese Initiative von der Mehrheit als eine Beleidigung aufgefasst wird. Pogrome benötigen also in besonderem Maße eine günstige »politische Gelegenheitsstruktur«, da dem Verhalten von Regierung, Polizei, öffentlicher Meinung und den Bystanders eine Schlüsselstellung zukommt. So können eine staatliche Politik der Benachteiligung und Ausgrenzung einer Minderheit und ein signalisiertes Verständnis für die Nöte der Pogromisten zur Anwendung von Gewalt ermutigen. Die pogromspezifische Dreieckskonstellation hat Rückwirkungen auf die Rolle der staatlichen Kontrollorgane, da diese anders als bei Rassenunruhen und sozialen Bewegungen als Vertreter der Mehrheitsgesellschaft bis zu einem gewissen Grad parteiisch sind und überdies nicht das primäre Angriffsziel darstellen. Hinzu kommt, dass Verbrechen, die den Charakter von »kollektiver Selbsthilfe« haben, gewöhnlich vergleichsweise milde bestraft werden.110 Dies erklärt, warum Gerüchte Vgl. dazu Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . In Elisavetgrad »›verschwanden‹ die Menschenmengen ›wie Rauch‹, sobald sich ein Trupp Husaren mit Entschiedenheit näherte, wenig später setzten sie das Plündern und Zerstören an anderer Stelle fort.« (ebd.). Pogromisten reagieren auf die Parteinahme der Staatsorgane für die Minderheit mit Wut, Bestürzung und Abscheu, insbesondere natürlich, wenn Mitglieder der In-Group von der Polizei oder der Armee in Verteidigung der Out-Group getötet werden. Klier berichtet von einem Pogrom in Smela im Jahre (Zarenreich), bei dem die Menge auf die Eröffnung des Feuers seitens der Truppen ausrief »They’re shedding Christian blood for the Jews« (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ). Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. . Vgl. Black, Crime, S. . So sind im amerikanischen Süden Lynchmorde an Schwarzen, denen man Übergriffe gegen einen Weißen vorwarf, kaum geahndet worden, obwohl man die Täter kannte und hätte leicht verhaften können. Dies gilt grundsätzlich auch für die Verfolgung von Pogromisten. Es kommt nach Pogromen zwar zu Prozessen, doch fallen die Strafen zumeist milde aus.
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über eine staatliche Lenkung von Pogromen so weit verbreitet sind und wieso die Kontrollorgane häufig zögern, massiv gegen die Pogromisten vorzugehen.111 Selbst die als nicht zimperlich bekannten Kosaken haben in den russischen Pogromwellen nur in Ausnahmefällen auf die Pogromisten geschossen, während sie umgekehrt die sich wehrenden Pogromopfer angriffen und verhafteten. Stefan Wiese hat in seinen Fallstudien nicht nur bei der örtlichen Polizei, sondern auch beim Einsatz von Militär eine geringe Bereitschaft zur Gewaltanwendung festgestellt, tödliche Gewalt kam nur als Ultima Ratio zum Einsatz.112 Andererseits stellen kollektive Gewaltaktionen immer auch Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols dar, so dass der Staat sie auf Dauer nicht tolerieren kann, selbst wenn die Eliten die Ablehnung der Minderheit teilen.113 Aufgrund dieser dreistelligen Relation können folgende Veränderungen der Machtbalance zu Gewaltaktionen führen: ) Reale oder vermeintliche Positionsansprüche oder -gewinne der Minderheit in rechtlicher, politischer, ökonomischer oder symbolischer Hinsicht bzw. eine quantitative Verschiebung zugunsten der Minderheit führen zu einer Abwehrreaktion der von Statusverlust oder in ihrer Sicherheit bedrohten Gruppen (z. B. in den Hep-Hep-Unruhen als Reaktion auf die Judenemanzipation; in AntiImmigranten-Pogromen zur Abwehr weiterer Einwanderung;114 in antijüdischen Ausschreitungen aufgrund vermeintlicher Ritualmorde an christlichen Kindern). Dabei gibt es offenbar sehr stabile Vorstellungen von einer ethnischen Hierarchie, gegen deren Veränderung man sich von Seiten der dominanten Gruppe sträubt.115
In der neueren Forschung zu der russischen Pogromwelle von - wird dagegen vor allem der Mangel an polizeilichen Ressourcen und Inkompetenz für das häufig zu späte staatliche Eingreifen verantwortlich gemacht (Aronson, Troubled Waters). Ähnlich sieht auch Nonn in Konitz eher »banale Inkompetenz« und »Feigheit, eigene Fehler einzugestehen« als die Existenz antijüdischer Einstellungen als Ursache für die ungenügende Ausübung der staatlichen Schutzfunktion (Zwischenfall, S. ). Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . Da die Vorschriften hohe Hürden für den Einsatz von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung enthielten, scheuten viele Offiziere die Verantwortung für einen entsprechenden Einsatzbefehl. Auch konnten sie der Loyalität ihrer Soldaten in so einem Fall nicht sicher sein. Dies war das primäre Motiv der Politik der preußischen Regierung in Pommern und Westpreußen und Vgl. Christhard Hoffmann, Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten. Die antisemitischen Ausschreitungen in Pommern und Westpreußen , in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung , , S. -; Nonn, Zwischenfall, S. . Panayi, Anti-Immigrant Riots. Klier hält die allgemeine Vorstellung unter der nicht-jüdischen Bevölkerung, dass Juden, ungeachtet ihres tatsächlichen Reichtums, ihres sozialen Status oder ihrer Macht über Nicht-Juden, in irgendeiner Weise dennoch eine inferiore Stellung einnehmen, für den Schlüssel zur Psychologie von Pogromen. Entsprechend sperrt sie sich gegen die Anerkennung einer Statusveränderung. Er zitiert den Grafen Kutaisov mit der Bemerkung: »The people […] could not get used to the idea of having to acknowledge the Jews as their ›masters‹« (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ).
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Als zentraler Instanz bei der Regulierung sozialer Konflikte und bei der Gewährung von kollektiven Gütern kommt dem Staat dabei eine Schlüsselrolle zu. ) Situationen von Machtverschiebungen oder allgemeinem Machtverfall auf Staatsebene. Hier lassen sich verschiedene Konstellationen unterscheiden: a) Machtvakanz (durch politischen Mord, Systemwechsel, einen verlorenen Krieg, Abzug von Besatzungstruppen) oder b) innerstaatliche Machtkämpfe in Revolution und Bürgerkrieg, in denen es einmal wegen des Ausfalls staatlichen Schutzes zu einem Übergreifen der Gewalt auf Minderheiten kommt, die als Parteigänger der inneren oder äußeren Feinde betrachtet werden, in denen zum anderen kollektive »gewalttätige Selbsthilfe« naheliegt, da der Staat als nur eingeschränkt handlungsfähig gesehen wird.116 ) Ist eine ethnische oder religiöse Minderheit aus einem anderen Nationalstaat zugewandert und bleibt also solche identifizierbar, kann sie in Phasen eines Konflikts zwischen dem Herkunftsland und dem Aufnahmeland zum Ziel von Pogromgewalt werden, da sie als ein Vertreter des Feindes im Inneren (»fünfte Kolonne«) gilt.117 ) Das Machtmodell muss jedoch um jene Fälle erweitert werden, in denen der Minderheit Bedrohungsursachen attribuiert werden, die in gesamtgesellschaftlichen Konstellationen begründet sind. Modernisierungskrisen mit ihrer Destabilisierung von Lebenslagen, Kriege, Hunger oder Seuchen, für die Urheber schwer auszumachen bzw. nicht angreif bar sind, werden – häufig verschwörungstheoretisch »gerahmt« – als absichtsvolle Schädigung seitens einer Minderheit gedeutet, die man als Nutznießer imaginiert. Robert A. LeVine und Donald T. Campbell sprechen hier von der für den Ethnozentrismus typischen Tendenz, »to blame the outgroup for the troubles and deprivations of ingroup members«.118 Die Wahl des Gegners hängt von Determinanten ab, die nicht in direktem Zusammenhang mit einem Streitpunkt stehen, sondern in bestehenden Vorurteilstraditionen Felix Schnell hat am Bespiel des Russischen Bürgerkrieges und des dort stattfindenden Dauerpogroms auf die Bedeutung »staatsferner Räume« für die Ausübung physischer Gewalthandlungen hingewiesen, wobei er unter Staatsferne »eine Situation in einem sozialen Raum« versteht, »in dem keine über ein Gewaltmonopol gebietende Staatsgewalt existiert«. Damit sei aber nicht deren völliges Fehlen gemeint, sondern ihre Schwäche, »aus der heraus Vertreter des Staates nur Konkurrenten um die Macht, aber keine Machthaber sind« (Der Sinn der Gewalt, Textabschnitt ). Auch hier ist das Pogrom eine Form der »Selbsthilfe«, wenn der Staat nicht selbst handelt, indem er »enemy aliens« von sich aus interniert, eine übliche Praxis in Kriegssituationen. Vgl. zum »Deutschenpogrom« in Moskau im Zuge des Ersten Weltkriegs im Mai : Eric Lohr, and the War Pogrom Paradigm in the Russian Empire, In: J. DekelChen et al. (Hrsg.), Anti-Jewish Violence, S. -; auch Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. ff. LeVine/Campbell, Ethnocentrism, S. . Hier haben wir es mit der von Lewis A. Coser so genannten Form des »unechten Konflikts« zu tun, in dem eine Konfliktsituation mit einem Ersatzobjekt (Sündenbock) geschaffen wird (Theorie sozialer Konflikte, Neuwied , S. ff.).
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und in der Schwäche oder der Verfügbarkeit der angegriffenen Gruppe zu finden sind (deshalb bestehen funktionale Alternativen in den Objekten). Diese Form des Konflikts hat die Funktion der Aggressionsabfuhr und dient der Integration der destabilisierten Gemeinschaft mittels des Kampfes gegen eine Minderheit.119 Haben wir uns bisher mit den Voraussetzungen befasst, unter denen es zu Gruppenspannungen kommt, die, ausgelöst durch ein bestimmtes Ereignis, zu kollektiver Gewalt führen können, so hat sich die Gewaltforschung in den letzten zwanzig Jahren zunehmend mit dem in Gewaltsituationen ablaufenden Interaktionsgeschehen befasst. In der Sozialpsychologie und der Mikrosoziologie sind Theorien entwickelt worden, die man als »situationistische Erklärungsansätze« zusammenfassen kann. Diese betonen nach Ferdinand Sutterlüty die Eigendynamik von Gewaltsituationen, so dass die Analyse ohne Rekurs auf die Persönlichkeitsmerkmale der Akteure auskommen und zudem zeigen muss, wie sich die vorausgehenden strukturellen Spannungen und kulturellen Orientierungsmuster in der konkreten Situation manifestieren. D. h., im Vordergrund steht der Verlauf des physischen Gewalthandelns selbst.120 Die Pogromdynamik Wie bereits die sozialhistorische Protestforschung herausgearbeitet hat, folgen Unruhen einerseits bestimmten Regeln oder Skripts (protocols of riots) und besitzen ähnliche Verlaufsformen, zumal wenn es eine präfigurierende Pogromtradition im eigenen Land gibt. Wie im Framing-Kapitel dargestellt, steuern die der Out-Group vorgeworfenen Verletzungen normativer Standards bis zu einem gewissen Grad die Handlungsmotive und Verhaltensweisen der Pogromisten im Verlauf der Gewaltaktionen, gilt es doch, die verletzte Ordnung wiederherzustellen. Doch folgen sie, wie interaktionistisch angelegte Situationsanalysen zeigen, dabei keineswegs nur vorab feststehenden Regeln, sondern im Zusammenwirken aller Akteure kommt es zu neuen Situationsdeutungen und Veränderungen der Handlungsziele.121 So hat Donald Horowitz in seiner international vergleichenden Studie zwar einerseits Vgl. dazu die Hypothese der Realistic Group Conflict Theory: »False perceptions of threat from outgroups cause increased ingroup solidarity and outgroup hostility« (LeVine/ Campbell, Ethnocentrism, S. ). Vgl. dazu Sutterlüty, Kollektive Gewalt und urbane Riots, in: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen, S. -, hier S. -; mit einem solchen Ansatz arbeitet auch Wiese, Pogrome im Zarenreich, in seinen empirischen Analysen. Sutterlüty hat dieses Verhältnis von kulturell übermittelten Skripten und normativen Vorgaben und interaktionistischen Situationsanalysen zu bestimmen gesucht (Kollektive Gewalt und urbane Riots, S. -). Auch Schwalb/Paul (Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. f.) betonen, dass die Handlungsfähigkeit einer Menschenmenge auf einem geteilten Wissen basiert, das teils von den Anwesenden in die Situation mitgebracht, teils in der Situation selbst neu hervorgebracht wird, indem das mitgebrachte Wissen erweitert oder angepasst und seltener wohl »aus dem Nichts« heraus neu entwickelt wird.
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betont, dass ein »ethnic riot« ein gewisses Grundmuster besitzt, jeder konkrete Fall aber anders verläuft: Ein »ethnic riot« ist ein »event with a structure, a process and a character. It has overall rhythms … There is no single course taken by every riot as it develops, but there is a rough sequence in many riots that characterizes the transition from peace to mass violence and back. The riot is preceded by a chain of identifiable precipitants, events that persuade people that violence is necessary and appropriate«.122 Pogrome stellen eigendynamisch verlaufende Prozesse dar, wobei »die Akteure die sie antreibenden Motivationen im Prozessverlauf selbst hervorbringen und verstärken«.123 D. h., wir haben es mit rekursiven Prozessen zu tun, bei denen die Wirkung eines Ereignisses oder Handelns (etwa eine Schlägerei, ein Gerücht) als Ursache auf dieses Handeln zurückwirkt und so einen eigendynamisch verlaufenden Prozess in Gang setzt. Wichtige Bedingung für diesen Typ sozialer Prozesse ist, »dass alle Beteiligten sich fortlaufend gegenseitig stimulieren, im Feld zu bleiben und weiterzumachen«, womit Motive seiner Fortsetzung erzeugt werden.124 D. h. im Fall nicht-organisierter kollektiver Gewalt, dass diese auf fortgesetzte Interaktionen unter Anwesenden angewiesen ist, da es ein Kennzeichen eigendynamischer Prozesse ist, dass alle Beteiligten sowohl agieren als auch auf das Handeln der anderen Akteure im Handlungssystem reagieren.125 Auch wenn kollektive Gewalt nicht oder kaum organisiert ist, verläuft sie im konkreten Ablauf doch nicht unkoordiniert. Diese Prozesse können sich über unterschiedlich lange Zeiträume erstrecken, wobei für Pogrome eine relativ kurze Dauer typisch ist. Es gibt zwar situative Mechanismen der Verstetigung bzw. Eskalation, die aber gewöhnlich nicht mehr als zwei bis drei Tage tragen, da Eskalationsprozesse nicht unendlich gesteigert werden können. Es kommt nicht zu einer längerfristigen Institutionalisierung oder Formalisierung der Gewalt etwa in Form von Riten oder in mitgliedschaftsbasierten sozialen Gebilden (Gruppen, Organisationen), die wie im Vigilantismus oder in Genoziden zu einer Verstetigung des Gewalthandelns führen, und es kommt auch nicht zu einer motivationalen Verselbständigung des Gewalt Horowitz, Deadly Ethnic Riot, S. . Grundlegend dazu: Renate Mayntz/Birgitta Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie /, , S. -, hier S. . Das Besondere der eigendynamischen Prozesse sind nicht ihre Folgen, sondern die Art ihres Zustandekommens, ihrer Fortsetzung und Verlaufsform (S. ). Friedhelm Neidhardt, Über Zufall, Eigendynamik und Institutionalisierbarkeit absurder Prozesse. Notizen am Beispiel einer terroristischen Gruppe, in: Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. Festschrift für René König zum . Geburtstag, hrsg. von Heine von Alemann/Hans Peter Thurn, Opladen , S. -, hier S. f. Mayntz/Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse, S. ; Collins, Dynamik der Gewalt, S. , hat betont, dass Riots/Pogrome, um am Laufen zu bleiben, Akteure zur Teilnahme motivieren müssen. Diese müssen etwas zu tun haben, sonst drohen sie die Szene zu verlassen. Er sieht dabei Plünderungen als besonders effektive Form der Aufrechterhaltung und »Personalrekrutierung« an, die allerdings auch viele Trittbrettfahrer anlockt.
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handelns über einen längeren Zeitraum, da das Risiko der Teilnahme aufgrund der zunehmenden Gegenreaktion der Ordnungsmacht ansteigt.126 Schwalb und Paul betonen zu Recht, dass es sich bei Gewalt um ein relationales Phänomen handelt, das sich nicht so sehr aus den Motiven und Prägungen der teilnehmenden Akteure ergibt, sondern vor allem aus ihren Beziehungen untereinander,127 d. h. bei Pogromen aus der Interaktion von Opfern, Tätern/Zuschauern und Ordnungskräften.128 Selbst wenn Akteure bereits mit einer Gewaltabsicht in eine bestimmten Situation eintreten, so ist dies »weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung dafür, dass es zur Gewalttat kommt«: Zum einen kann sich die Gewaltintention erst in einer konkreten Situation ergeben, wie es bei Pogromen zumeist der Fall ist, zum anderen sorgen die eigendynamischen Prozesse im Fall nicht-organisierter Gewalt dazu, dass sich die Handlungsbedingungen und -ziele in der Interaktion mit den anderen Akteuren auf nicht vorhersehbare Weise verändern können.129 Da Pogrommengen nur zum Teil aus Mitgliedern bestehen, deren Wir-Bewusstsein sich aus konkreten Interaktionen speist (Nachbarn, Freundesgruppen, Familienangehörige), sich – je nach Ortsgröße natürlich – vielmehr vor allem aus einander fremden Personen zusammensetzen, ergibt sich die Frage, wie sie dennoch koordiniert handeln. Stephen Reicher hat zur Erklärung auf die sozialpsychologische Theorie der sozialen Identität zurückgegriffen, wonach ein Wir-Bewusstsein auch ohne Interaktion entstehen kann, allein dadurch, dass Menschen sich einer sozialen Kategorie zurechnen, also über die Ausbildung einer stereotypen Selbstund Fremdwahrnehmung.130 Nehmen sich die in einer Situation Anwesenden als Mitglieder derselben sozialen Kategorie wahr, erhöht sich damit ihre Fähigkeit, koordiniert zu handeln. Nach Reicher entsteht die gemeinsame Identität der Menge durch kognitive, relationale und affektive Transformationen, in denen das Handeln steuernde, wenn auch nicht völlig determinierende Gruppenüberzeugungen und Ziele, die Kooperationsbereitschaft aufgrund des der eigenen Gruppe entgegengebrachten Vertrauens und Respekts, sowie des Gefühls der kollektiven Selbstverwirklichung in der Ausübung gemeinsamen Handels entstehen.131 Die ja gerade Pogromen vorausgehenden Aktualisierungen negativer Wissensbestände Mayntz/Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse, S. ; Schwalb/Paul, Nichtorganisierte kollektive Gewalt, S. f. Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. . Auch wenn hier vier beteiligte Gruppen als Akteure genannt werden, besteht grundsätzlich eine dreistellige Konstellation, da die Täter/Zuschauer-Rollen situativ gewechselt werden können und Täter und Zuschauer gewöhnlich die gleiche Handlungsintention haben. Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. , unterscheiden also zwischen der normativen Billigung von Gewalt, der Gewaltintention und der Gewalthandlung. Stephen D. Reicher, The St-Pauls’ Riot: An Explanation of the Limits of Crowd Action in Terms of a Social Identity Model, in: European Journal of Social Psychology , , S. -. Reicher, »Tanz in den Flammen«, S. -. Reicher wendet sich damit gegen die alte Auffassung vom Kontrollverlust und der Irrationalität der Menge.
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und Emotionen gegenüber der Out-Group verstärken dieses Wir-Bewusstsein oder Zusammengehörigkeitsgefühl, das nach Schwalb und Paul die »Sympathie, die Kooperations- und Interaktionsbereitschaft der zugehörigen Anwesenden sowie deren Konformität mit den Gruppenerwartungen« erhöht.132 Beginn, Verlauf und Gewaltniveau von Pogromen unterscheiden sich je nachdem, ob wir es mit emergenten oder stärker organisierten Aktionen zu tun haben. Man muss hier ein Kontinuum annehmen zwischen dem Pol einer stärker organisierten Form, die bis hin zur staatlichen Beihilfe und Anstiftung reichen kann und zumeist sehr gewaltsam verläuft,133 und dem Pol eines spontanen Krawalls auf niedrigem Gewaltniveau. Werden angesichts der beschriebenen Krisenerscheinungen in Phasen sozialen Wandels, in denen Statusunsicherheit herrscht und Statusverluste drohen, die ethnischen Grenzen betont, so setzt ein Prozess sich verstärkender sozialer Polarisierung zwischen der In- und der Out-Group ein, den wir im Kapitel »Framing« als Entwicklung konfligierender »identity frames« beschrieben haben, und es entsteht eine »Konfliktstruktur«. Konfliktparteien tendieren dazu, von der Gegenseite ausschließlich Negatives zu erwarten und zu glauben, dass diese sie zu schädigen versucht. Daraus ziehen sie die Konsequenz, sozusagen in »Notwehr« ebenso destruktiv zu handeln. Insofern ist in Konfliktkommunikation immer eine Tendenz zur Eskalation eingebaut. Vor allem Gerüchte über angeblich bereits ausgebrochene oder aber kurz bevorstehende Gewalt führen dazu, dass alternative Möglichkeiten einer friedlichen Verständigung versperrt werden. Denn was nützen Verhandlungen, wenn die andere Seite bereits zur Gewalt gegriffen hat?134 Wie gestalten sich nun die Entwicklung hin zu einem Zustand ansteigender Intergruppenspannung und der Übergang zum offenen Pogrom? ) In Pogromen fehlen tragfähige horizontale Netzwerke zur anderen Konfliktpartei bzw. diese sind schwächer ausgeprägt. Im Unterschied etwa zu lokalen Subsistenzunruhen des frühen . Jahrhunderts, wo solche Netzwerke innerhalb einer christlichen Dorf- oder Stadtgemeinde bestanden und Gewalt durch Verhandlungen und Brauchtum (»protocols of riots«) eingegrenzt war, bestehen zwischen ethnischen Gruppen, insbesondere wenn es zwischen ihnen eine große soziale und kulturelle Distanz gibt, weniger überlappende Beziehungen und sie verringern Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. . Wenn die Minderheit ihrerseits Selbstwehrgruppen aufgebaut hat, kann die Gewalt zu einer Art Bürgerkrieg eskalieren, Eine solche Eskalation gab es in Russland, wo Juden in Reaktion auf die antijüdischen Pogrome der er Jahre solche Gruppen gründeten. Shlomo Lambroza, Jewish Self-Defense during the Russian Pogroms of -, in: Herbert A. Strauss (Hrsg.), Hostages of Modernization. Studies in Modern Antisemitism -/, Vol. /, Berlin , S. -; Leonard Rowe, Jewish Self-Defense: A Response to Violence, in: Studies on Polish Jewry -, hrsg. von Joshua A. Fishman, New York, , S. -; neuerdings Stefan Wiese, »Spit Back with Bullets«. Emotions in Russia’s Jewish Pogroms, -, in: Geschichte und Gesellschaft , , S. -. Horowitz, Deadly Ethnic Riot, S. .
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sich im Zuge eines eskalierenden Konflikts immer mehr.135 Das niedrige Informationsniveau (»information asymmetry«) zwischen ethnischen Gruppen führt dazu, dass man über die Verhaltensweisen und Mitglieder der anderen Gruppe schlechter informiert ist, so dass bei einem Zwischenfall der konkrete Schuldige nicht identifiziert werden kann, sondern nun die Out-Group kollektiv haftbar gemacht wird. Damit wird eine Entwicklung hin zur Anwendung gewalttätiger Selbsthilfe in Gang gesetzt, die nur dadurch gestoppt werden kann, dass die Kontrollorgane der Out-Group bei der Suche und Bestrafung des konkreten Anstifters helfen (ingroup policing). Der Störung der Kommunikation mit der Out-Group steht eine intensive lokale In-Group-Kommunikation gegenüber, die man gemeinhin als »Pogromstimmung« beschreibt, d. h. eine durch vorherige Agitation, Medienberichte, Gerüchte,136 dass ein Pogrom drohe, und gewalttätiges Probehandeln (eine Testphase von Drohungen, Sachbeschädigung) verdichtete und emotional aufgeladene Situation.137 Diese ist gewöhnlich durch Unsicherheit und eine fehlende Struktur gekennzeichnet, so dass eine klare Ausrichtung des Handelns schwierig ist. Dennoch besteht in diesen Massensituationen gewöhnlich nicht eine Situation der »doppelten Kontingenz«, in der kollektives Handlungswissen ohne jede Vorgabe neu erzeugt werden muss.138 Nach Tamotsu Shibutani entwickeln Personen in solchen unterdefinierten Situationen Anstrengungen, um diese für sich zu
Zum Abbruch der Kommunikation zwischen Sikhs und Hindus nach der Ermordung der indischen Ministerpräsidentin Indira Gandhi und den anschließenden Pogromen gegen die Sikhs in Delhi vgl. Das (Official Narratives, S. ): »The key characteristics of the crisis were as follows: a mounting panic which signaled the breakdown of social communication; the animation of a societal memory composed of incomplete or interrupted stories; and the appearance of a panic-laden rumor.« Zu deren Kennzeichen gehören neben der interaktiven, lokalen und situativen Produktion auch ihr kollektiver Charakter und die kettenförmige Weitergabe, wonach jeder Weitererzähler zugleich Vermittler und Mitproduzent ist: man »mischt in der Gerüchteküche mit«. Vgl. Thomas S. Eberle, Gerücht oder Faktizität? Zur kommunikativen Aushandlung von Geltungsansprüchen, in: Bruhn/Wunderlich (Hrsg.), Medium Gerücht, S. -, hier S. -. Schwalb/Paul betonen ebenfalls die zentrale Rolle von »emotionalen Zuständen und Dynamiken« bei der Entstehung einer gemeinsamen Absicht zur Anwendung konkreter körperlicher Gewalt (Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. und ). Schwalb/Paul diskutieren im Anschluss an Niklas Luhmanns Überlegungen (Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. , S. -) dieses Problem der doppelten Kontingenz, wonach es zwei füreinander undurchsichtige Akteure, die ihr Handeln jeweils von dem des Anderen abhängig machen wollen, unmöglich ist, ihr Handeln zu bestimmen. Aus dieser Unsicherheitserfahrung heraus unterstellen die Akteure sich wechselseitig, dass bestimmte Aktivitäten vom anderen intendiert, also als Kommunikation gemeint sind, woraufhin reagiert werden kann, so dass ein Handlungssystem entsteht (Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. f.). Derartige völlig unbestimmte Situationen existieren jedoch vor Ausbruch von Pogromgewalt nur in Ausnahmefällen, vielmehr sind bereits zuvor Deutungsmuster und Verhaltenserwartungen (auf beiden Seiten) ausgebildet worden. Zudem »wandert« in Pogromwellen das Wissen darüber, wie ein Pogrom verläuft.
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deuten.139 Die Entstehung von Gerüchten leistet eine solche – für Gewaltaktionen essentielle – Handlungskoordination, da diese Orientierung bieten, wenn Informationen fehlen oder nicht als glaubwürdig erscheinen, wenn Informationskanäle fehlen oder blockiert sind (Zensur) und wenn Normen und Werte verletzt sind.140 In solch einer Situation formulieren Gerüchte Deutungsangebote (»improvised news«), die für andere plausibel erscheinen, also Gegenargumente überlebt haben müssen, um weiter kommuniziert zu werden. Gerüchte besitzen also eine kollektive Struktur, indem mehrere Personen ein Deutungsangebot übernehmen und weitertragen.141 Diese Übernahme wird zumeist dadurch erleichtert, dass Gerüchte an Vorerfahrungen, Vorurteile und Interessen anschlussfähig, also mithin selten völlig aus der Luft gegriffen sind.142 Gerüchte sind demnach wichtig für die Klärung einer unsicheren Situation und konstitutiv für eine lokale Gegenöffentlichkeit unterhalb der Schwelle formeller Kommunikation.143 ) In dieser Spannungssituation steht die Minderheit also unter scharfer Beobachtung, ob von ihr nicht schädigende Aktionen ausgehen oder sie ihre sozialen Grenzen überschreitet. Ob ein Pogrom ausbricht oder nicht, hängt von kontingenten Ereignissen ab, wie die Schwierigkeiten zeigen, für die US-Rassenunruhen der er Jahre strukturelle Unterschiede zwischen »riot« und »nonriot cities« zu finden.144 Einigkeit besteht aber in der Forschung darüber, dass der Ausbruch pogromistischer Gewalt ein auslösendes Ereignis benötigt, in dem sich der Gruppenkonflikt manifestiert und an dem kollektives Handeln ansetzen kann:145 So wie »Rassenunruhen« häufig durch die Verhaftung eines Ghettobewohners und dem erfolgreichen Vorgehen dagegen ausgelöst werden, sind für Pogrome Ereignisse Tamotsu Shibutani, Improvised News: A Sociological Study of Rumor, New York . Merten, Zur Theorie des Gerüchts, S. . Ebd., S. , nennt als Beispiel für eine solche Situation, dass die Behörden eine Straftat nicht aufklären können, so dass Gerüchte entstehen, die eine entsprechende Aufklärung bieten. Genau dieses Szenario finden wir typischerweise in den Pogromen, die sich an nicht aufgeklärte Morde knüpfen, in denen der Ritualmordvermutung Glauben geschenkt wird und die Juden als Täter definiert werden (siehe Kap. : Tiszaezlár, Polná, Xanten, Konitz). Joachim Eibach, Gerüchte im Vormärz und März in Baden, in: Historische Anthropologie , , S. -, hier S. f. Für die Frage der späteren Bestrafung von Agitatoren und Aufhetzern ist es wichtig, wie Joachim Eibach angemerkt hat, dass die Quelle des Gerüchts fast immer unbekannt bleibt, d. h., wegen dieser geringen Zurechenbarkeit stellen Gerüchte eine Form risikoloser Kommunikation dar, die andere Inhalte erlauben als etwa Petitionen oder Zeitungsartikel ebd., S. f.). Spilerman, The Causes of Racial Disturbances; McPhail, Presidential Address, S. ff.; Bryan T. Downes, Social and Political Characteristics of Riot Cities: A Comparative Study, in: Social Science Quarterly , , S. -. Nach Schwab/Paul sind Situationen kollektiven Handelns durch einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus (trigger event) und eine geteilte emotionale Stimmung gekennzeichnet (Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. ).
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auslösend, in denen sich eine Bedrohung der Mehrheit und ihrer »heiligen Werte« symbolisiert. Um Ostern verschwundene christliche Kinder ließen sehr schnell den Ritualmordverdacht gegen Juden aufkommen, der seinerseits dann Anlass für die Forderung nach Bestrafung mittels kollektiver Gewalt war.146 Dabei ist wichtig, wie Rösel hervorgehoben hat, dass die Interpretation solcher auslösenden Ereignisse nicht vom Einzelnen selbst zu leisten ist, sondern dass bereits kollektive Interpretationsmuster bereitstehen, etwa Annahmen über die Interessen und Gebräuche der anderen Gruppe.147 Der »empörende Anlass« löst Gefühle von Wut und Rache aus,148 verdichtet die Kommunikation und führt zum faktischen Zusammenkommen einer »kritischen Masse« an Personen, die bereit sind, sich an kollektiven Aktionen zu beteiligen.149 Eine Menschenmenge, die zur selben Zeit am selben Ort ist und in der sich die Menschen als getrennte Individuen wahrnehmen, verwandelt sich in eine Gruppe, in der sich die Menschen als zur selben sozialen Kategorie gehörig empfinden, d. h. zu einer psychologischen Menge werden.150 Schon Émile Durkheim hat bereits auf die hohe emotionale Besetzung »sakraler Kernwerte« und der sie schützenden Normen hingewiesen, deren Verletzung im betroffenen Kollektiv eine leidenschaftliche Reaktion auslöst, Wut und den Wunsch nach Vergeltung. Diese gemeinsame Erregung initiiert und begleitet die folgende Bestrafung, die die Fortgeltung der verletzten moralischen Ordnung sichert (Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (), Frankfurt a. M. , S. . Rösel, Vom ethnischen Antagonismus, S. ff. Zur Bedeutung von Gefühlen wie Wut und Rache vgl. Charles D. Brockett, A ProtestCycle Resolution of the Repression/Popular-Protest Paradox, in: Social Science History , , S. -, hier S. . Roger D. Petersen hat ein Buch über die Bedeutung von Emotionen in ethnischen Konflikten geschrieben: Understanding Ethnic Violence. Fear, Hatred, and Resentment in Twentieth-Century Eastern Europe, Cambridge . Zwar können längerfristige strukturelle Verschiebungen in den Intergruppenbeziehungen, aufkommender Nationalismus oder Antisemitismus eine Rolle spielen, doch müssen sich diese in einem Ereignis, einer »direct irritation« manifestieren, um ein Pogrom auszulösen. Ein gutes Beispiel dazu bietet die kleinere Pogromwelle in Litauen im Jahre . Vgl. Darius Staliūnas, How Insulted Religious Feelings Turned into Pogroms: Lithuania in , in: East European Jewish Affairs /, , S. -, hier S. . Pamela Oliver/Gerald Marwell/Ruy Teixera, A Theory of Critical Mass. I. Interdependence, Group Heterogeneity, and the Production of Collective Action, in: American Journal of Sociology , , S. -. Pamela Oliver/Gerald Marwell, The Paradox of Group Size in Collective Action: A Theory of the Critical Mass. II., in: American Sociological Review , , S. -. Dies bestätigen auch die Aufsätze in Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen. Eine wahrgenommene Konfliktsituation verstärkt einerseits die Identifikation mit den zur Eigengruppe gezählten Anwesenden und die Abgrenzung zu der als Konfliktgegner wahrgenommenen Gruppe, »sie verändert und verschiebt andererseits auch das Repertoire von Handlungen, das von den Teilnehmern in Erwägung gezogen und akzeptiert wird«, z. B. in Richtung Gewalt (Schwalb/Paul, Nicht-organisierte Gewalt, S. ). Reicher, »Tanz in den Flammen«, S. , terminologisch unterscheidet Reicher bei Menschenmengen/Massen entsprechend zwischen »aggregate« und »crowd«. Den Übergang von einer Form zur anderen haben Reicher und Kollegen in einem »Elaborated Social Identity Model of Crowd Psychologie« theoretisch zu erfassen versucht. Vgl. schon
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Diese Emotionen haben motivierende Funktion nicht nur für die Ausbildung der Intention zu »gerechter Gewalt«, sondern sie überbrücken dabei auch die Kluft zwischen dieser Absicht und der tatsächlichen Gewaltanwendung.151 Wichtig ist dabei der Hinweis von Schwalb und Paul, dass die Vergemeinschaftung durch gemeinsames Fühlen und Handeln gewöhnlich nicht alle in einer Situation Anwesenden umfasst, da Menschenmengen psychologisch heterogen sind. Vielmehr bilden die miteinander Handelnden ein besonderes Interaktionssystem, dessen Grenzen durch die notwendige gegenseitige Wahrnehmbarkeit der Akteure bestimmt ist. D. h., die Masse (»der Mob«) als Ganze handelt nicht gemeinsam, sondern nur die temporär entstehenden Interaktionssysteme (»ephemere Vergemeinschaftungen«), während andere Anwesende das Publikum bilden, wobei die Rollen durchaus wechseln können, indem Handelnde das Feld verlassen, Zuschauer zu Gewaltakteuren werden oder es zu einer Arbeitsteilung zwischen Plünderern und Personen (nicht selten Frauen und Kinder) kommt, die die Beute dann wegschaffen.152 Das Publikum signalisiert aber durch sein Zuschauen Billigung, und in vielen Fällen behindert die Menschenmenge das Eingreifen der Kontrollorgane.153 Wiese hat in seiner Analyse des Pogroms von Elisavetgrad auf diese besondere Rolle der Zuschauermenge hingewiesen, deren Anwesenheit den Haupttätern Schutz bot und zudem den Einsatz von Waffengewalt seitens der Staatsorgane verhinderte, da diese nicht auf Frauen und Kinder schießen wollten. »Das Zusammenspiel von Tätern und Zuschauern trug also maßgeblich dazu bei, die Polizei und insbesondere das Militär handlungsunfähig zu machen.«154 Generell kann man sagen, dass sich Aktionen kollektiver Gewalt aus ganz unterschiedlichen Handlungen von Einzelnen oder kleinen Gruppen zusammensetzen (eben keine »Mobgewalt« sind), dass sich nicht alle anwesenden Personen beteiligen, dass auch die Beteiligten dies nicht kontinuierlich tun. McPhail spricht in Bezug auf Ausschreitungen von »patchworks and kaleidoscopes of individual and collective, nonviolent and violent, alternating and varied actions«.155
Jean-Paul Sartre, der in seinem Buch: Kritik der dialektischen Vernunft, Bd. : Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Reinbek , S. und , das von außen und passiv vereinigte Kollektiv von der gemeinsam handelnden Gruppe unterscheidet, in der das Individuum nicht mehr allgemein und abstraktes Individuum ist, sondern »gemeinsames Individuum«. Jeder ist gleich, und alle haben das gleiche Recht aufeinander. Dazu Collins, Dynamik der Gewalt, S. f. Schwalb/Paul sprechen von einem »passiv aktiven Täterkern«, um den herum es einen größeren oder auch sehr großen Zuschauerkreis gibt, der von Beobachtern als »Masse« oder pejorativ als »Mob« wahrgenommen wird (Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. f. und ). So etwa das »bessere Publikum« in Konitz, Nonn, Zwischenfall, S. ; vgl. zur Rolle des Publikums auch Wolfgang Benz, The November Pogrom of : Participation, Applause, Disapproval, in: Hoffmann/Bergmann/Smith, Exclusionary Violence, S. -. Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. f. McPhail, Presidential Address, S. .
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) Anders als dauerhafte soziale Bewegungen, die ihre oft national verzweigten Netzwerke für Aktionen gezielt mobilisieren können, benötigen Pogrome wie auch Rassenunruhen als lokal bestimmte Aktionsformen eine vor Ort mobilisierbare Masse.156 Die Anwesenheit einer genügend großen Zahl Anderer ist in mehrfacher Hinsicht entscheidend: »In einem Gruppenkonflikt wird die Gewaltoption […] für viele erst dann attraktiv, wenn sie nicht nur legitim, sondern in Anbetracht der Stärke der Gegenseite auch erfolgversprechend ist. Auf der individuellen Ebene beeinflusst die Anonymität der großen Zahl zudem das wahrgenommene Risiko, für Normverstöße verantwortlich gemacht zu werden.«157 Für Jack Katz steht im Mittelpunkt kollektiven anarchischen Verhaltens das »Gewahrwerden einer großen Zahl von Individuen, dass derartig viele Einzelne strafbare Handlungen begehen, dass jeder von ihnen als Einzelner für die Staatsgewalt unsichtbar wird«. Katz nennt dies die »Epiphanie der Unsichtbarkeit«.158 Heinrich Volkmann hat für die Analyse von Sozialprotesten im Vormärz drei Kategorien von Menschenmengen nach ihrem Grad der Strukturiertheit unterschieden: Im Fall der »diffusen Menge« setzt sich diese aus ganz unterschiedlichen Akteuren zusammen ohne signifikante Konzentration von Status- oder Berufsgruppen; in einer »strukturierten Menge« ist diese ebenfalls unterschiedlich zusammengesetzt, besitzt aber eine signifikante Konzentration von Status- oder Berufsgruppen; und im Fall einer Menge aus »spezifischen Gruppen« sind Status- oder Berufsgruppen der bestimmende oder ausschließliche Träger der Aktion.159 Im Fall von Pogromen dominieren der erste und zweite Typ, doch gibt es auch Fälle, in denen etwa die Belegschaft einer Fabrik (umgelenkte Streikaktionen), Studenten oder Bauern die dominierenden Akteure bilden. Eine handlungsbereite Menschenmenge kann auf verschiedene Weise zusammenkommen: a) Bereits konstituierte Menschenansammlungen bei Umzügen, Streiks, auf Märkten usw. richten sich bzw. werden durch ein auslösendes Ereignis oder durch Agitatoren auf das neue Ziel hingelenkt; nicht zufällig wählen die Kontrollorgane zur Prävention Ausgangssperren, Verbote von Jahrmärkten, Schließung von Lokalen etc. McPhail hat in einem Forschungsüberblick die Bedeutung Für diese nicht organisierten, aber dennoch nicht regellos handelnden Menschenmengen ist der Begriff »Gewaltmassen« vorgeschlagen worden. Siehe: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen. Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. f. Jack Katz, Epiphanie der Unsichtbarkeit. Wendepunkte bei Unruhen: Los Angeles , in: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen, S. -, S. . Wenn es keinen Unterschied macht, ob Ordnungskräfte an- oder abwesend sind, dann kann es nach Katz für den Einzelnen sinnvoll sein, auf eine Art und Weise zu handeln, die sonst undenkbar wäre. Katz interpretiert auch die materiellen Zeichen der Zerstörung, wie zerbrochene Fensterscheiben, ausgebrannte Autos usw., als Ausdruck der Unordnung, die ebenso wie gewaltausübende Personen zu einem Gefühl der Anarchie und damit zur Unsichtbarkeit der Handelnden beitrügen, was den Einstieg in das gewaltsame Mitmachen erleichtere (S. und ). Volkmann, Kategorien des sozialen Protests im Vormärz, S. .
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struktureller Verfügbarkeit für den Versammlungs- und Mobilisierungsprozess hervorgehoben: die zeitliche Verfügbarkeit von Personen (nach Dienstschluss, an Wochenenden oder Feiertagen),160 die soziale Dichte, die Häufigkeit der Interaktion zwischen Angehörigen der Konfliktgruppen, die Schnelligkeit, mit der sich die Information über ein Pogrom verbreitet u. a.161 Dabei muss nicht von vornherein ein gewaltsamer Konflikt intendiert sein, er kann das Resultat eines Eskalationsprozesses aus normalen Alltagskonflikten zwischen Angehörigen der betreffenden ethnischen Gruppen sein,162 oder er kann auch aus der Verschiebung eines anderen Konflikts, gleichsam als Ersatzhandlung entstehen.163 b) Es existieren auf lokaler oder regionaler Ebene Gruppen, z. B. Fabrikbelegschaften, Studentengruppen, Hooligans oder nationalistische Organisationen, die ad hoc eine handlungsfähige Pogrommenge bilden, die organisierend wirken können und die von vornherein Gewalt intendieren.164 c) Die Mobilisierung kann aber auch von einer kleinen, sich ad hoc bildenden Gruppe ausgehen, die sukzessive weitere Mitstreiter, häufig Bekannte oder Nachbarn, zum Mitmachen aufruft oder gar nötigt, oder der sich spontan weitere Personen anschließen. Diese Form dürfte eher für kleinere, nur kurze Zeit andauernde Ausschreitungen gelten.165 Es ist vor allem die Form der Gerüchtekommunikation, die auf lokaler Ebene für die Mobilisierung zur Handlung ausschlaggebend ist. Dies liegt einmal daran, dass in den Gerüchten ein Unrecht oder ein Übergriff der Out-Group vom »Hörensagen« kommuniziert wird, was starke Emotionen wie Empörung und Wut auslöst, zum anderen weil in dieser face Cristian Lüdemann/Christian Erzberger, Fremdenfeindliche Gewalt in Deutschland. Zur zeitlichen Entwicklung und Erklärung von Eskalationsprozessen, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, , , S. -, hier S. , haben für die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Deutschland - eine systematische Bevorzugung der Wochenenden ermittelt: fanden in der Zeit von Freitag bis Sonntag statt, also zu Zeiten, in denen sich Freizeitcliquen zum Feiern, zum Besuch von Gaststätten etc. treffen konnten. McPhail, Presidential Address, S. ff. Vgl. mit Bezug auf die historischen Analysen von Charles Tilly: McPhail, Presidential Address, S. f. Charters Wynn hat in seiner Untersuchung über das zaristische Russland zahlreiche Beispiele gefunden, in denen Arbeiterunruhen und Streikaktionen in antijüdische Pogrome umschlugen, zumal wenn die Arbeiter ihre eigentlichen Ziele nicht attackieren konnten. Wynn spricht von einer »mixture of causes« (Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen, Hunger, eine Cholera-Epidemie und Antisemitismus) und einer »mixture of targets« (Workers, Strikes, and Pogroms). Bohstedt/Williams, The Diffusion of Riots, S. , betonen, dass eine Krisensituation (hardship), Wut (outrage) und die Nachrichten über Ausschreitungen an anderen Orten nicht ausreichten, um eine Menge aus einzelnen, unverbundenen Individuen zu schaffen: »Rather, these factors were more likely to bring about riots by galvanizing networks of people already used to cooperating«. Vgl. empirische Belege für Kischinev: Dahlke, Race and Minority Riots. Als ein Beispiel für den Grenzfall eines detailliert vorbereiteten und organisierten Ablaufs eines Pogroms mit entsprechenden Zielvorgaben, Transportmitteln und Bewaffnung siehe Jaffrelot, Communal Riots in Gujarat, S. ff. Vgl. die Schilderung einer solchen Mobilisierung in einem kleinen Ort in Galizien (Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. ff.).
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to face-Kommunikation schon rudimentär kleine Aktionskerne für das Handeln entstehen (anders als bei privater Lektüre einer Zeitungsmeldung).166 Die Menge muss zudem ein räumlich identifizierbares Zielgebiet besitzen, d. h., die Minderheit muss in einer ethnischen Kolonie oder im Flüchtlingsheim konzentriert wohnen, identifizierbare Geschäftslokale besitzen oder sich gerade an einem Ort versammelt haben. Eine Reihe weiterer Faktoren begünstigt den Übergang von einem Spannungszustand hin zum konkreten Ausbruch von Gewalt: a) Es besteht bereits ein bekanntes Gewaltprogramm, wie wir es etwa von den Rügebräuchen (»Katzenmusiken«) her kennen, das in einer Ansammlung von Menschen aktiviert werden kann. Ein solches Modell, das sich in den Pogromwellen etwa im Zarenreich herausgebildet hatte, hat das sog. »Pogromparadigma« abgegeben.167 b) Auch »Führung« kann eine aktivierende Rolle spielen. Häufig sind es proaktive, gewaltbereite »ethnische Ideologen« und »Unternehmer«,168 die ein auslösendes Ereignis zur Eskalation nutzen und dem gemeinsamen Handeln Richtung und Modell vorgeben und die im Sinne von »extremities shifts« entweder eskalierend oder deeskalierend auf die Menge einwirken können.169 Eine versammelte Menge bedarf also einer oder mehrerer, manchmal abwechselnd agierender Personen, um Die verschiedenen Kommunikationswege erfüllen unterschiedliche Funktionen. Die Kommunikationsprozesse in Fall von Ausschreitungen bestehen bei der Teilnahme an der örtlichen Gewalt vor allem in interpersonaler Kommunikation, die präziser über Anlass, Ort und Zeit informiert. Massenmedien spielen eine größere Rolle bei Informationen über vorhergegangene Ausschreitungen an anderen Orten (vgl. dazu die empirische Studie von Benjamin S. Singer, Mass Media and the Communication Process in the Detroit Riot of , in: Public Opinion Quarterly , , S. -). Schwalb/Paul sprechen hier von »geteilten Skripten« (Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. ). Zum Aufbau des Lynchskripts als Basis für den ritualhaften Charakter von Lynchmorden siehe: Klatetzki, »Hang ’em high«, S. . Collins, Dynamik der Gewalt, S. und , unterscheidet zwischen wenigen Gewalttätigen, die er auch als »Herr der Lage« bzw. »Action-Sucher« bezeichnet, die in Konfliktsituationen konfrontativ agieren, und der engeren Unterstützergruppe, die für die Gewalttäter als emotionale Unterstützung fungieren, fallweise sogar selbst zur Gewalt greifen. Als weitere Gruppen nennt Collins noch die »Masse in der Mitte«, die zwar die Ziele der Aktivisten teilt, ihnen ein späteres Mitmachen signalisiert, aber weniger mutig und selbstbewusst ist, um die Initiative zu ergreifen, und die eher als bloße Zuschauer fungierenden hinteren Reihen, die aber insofern eine Funktion erfüllen, als sie den aktiv Handelnden Beachtung schenken. Zur Bedeutung von Führung vgl. Bohstedt, Dynamics, S. f. Lüdemann und Erzberger unterscheiden in ihrem Schwellenwertmodell kollektiver Gewalt zwischen den Anreizen von Initiatoren, als Erste zu handeln und damit Mut und Risikobereitschaft zu demonstrieren, und denen der späteren »Einsteiger«. Sie nehmen an, dass bei den Initiatoren mit dem Schwellenwert null negative Einstellungen und Gefühle gegenüber der angegriffenen Gruppe und der Wunsch, diese auch auszudrücken, die Grundlage für ihre Entscheidung bilden (Fremdenfeindliche Gewalt, S. f.).
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den Übergang zum aktiven Handeln zu schaffen, doch ist offenbar umgekehrt auch eine gewisse kritische Masse an Personen nötig, damit diese Vorreiter das Risiko der Offensive eingehen. Es gibt Fälle, in denen sich eine bereits konstituierte Menschenmenge wieder zerstreut oder weiterzieht.170 Während die Täter ihr Gewalthandeln positiv als Selbstermächtigung und als vergemeinschaftend empfinden, wobei sich die Ausübung von Gewalt und das Gefühl der Gemeinschaftlichkeit gegenseitig steigern können, erleben die Gewalt billigenden Zuschauer diese als »Belohnung« mit dem ekstatischen Gefühl der »kollektiven Selbstrealisierung« (Stephen Reicher), etwa in der Umkehrung der sozialen Ordnung (vgl. den karnevalesken Zug bei Pogromen) oder dem Ausleben von Gefühlen, was wiederum gemeinschaftsstiftend wirkt. D. h., die Gewalt einiger weniger beflügelt auch die Masse der Zuschauer, was wiederum die Gewalttäter zur Fortsetzung ihres Handelns motiviert.171 Wichtig ist dabei auch, dass Personen, die die Gewalt missbilligen oder die in Gefahr sind, selbst Opfer zu werden, sich aus der Szene entfernen, so dass potentielle Gegenkräfte ausfallen und sich durch diese Vermeidungsstrategie die Handlungsfreiheit und Anonymität der Täter erhöhen.172 c) Im Anschluss an Stephen Reicher diskutieren Schwalb/Paul eine dritte Möglichkeit, wonach es in bestimmten, zumeist konfrontativen Situationen, etwa mit der Staatsgewalt oder einer Fremdgruppe, zu spontanen Veränderungen von Vorstellungen und Handlungsweisen von Personen kommt, die sie zuvor als illegitim und unvereinbar mit ihrem Selbstverständnis wahrgenommen haben.173 Kontextabhängig kann also aus heterogenen Menschenansammlungen ein gemeinsam handelndes Kollektiv werden. Diese Form tritt im Fall von Pogromen selten auf. Sie kommt dort zumeist erst dann vor, wenn Polizei oder Militär oder die attackierte Minderheit Gewaltmittel einsetzen, die auch »unschuldige« Zuschauer treffen, so dass ein Solidarisierungseffekt eintritt, wobei sich der Fokus dann z. T. vom ursprünglichen Ziel (die Minderheit) auf die staatlichen Organe verschieben kann. d) Auslöser von Pogromen sind sehr häufig vorausgegangene Pogrome in benachbarten Orten. Ausschreitungen sind keine isolierten Ereignisse, sondern treten zumeist wellenförmig als eine Serie interdependenter Ereignisse auf, darauf deuten die geographischen wie zeitlichen Verdichtungen (cluster) ihres Auftretens hin.174 Über diese Eskalationsdynamik wissen wir bisher noch wenig,175 doch scheint hier Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. ff. Dazu Stephen Reicher, »Tanz in den Flammen«, S. -; ders., The St. Pauls’ Riot. Katz, Epiphanie der Unsichtbarkeit, in: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen, S. , hat auf diesen Effekt hingewiesen, der den Rioters freie Hand lässt und ihre »Unsichtbarkeit« erhöht. Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. f. Daniel J. Myers, The Diffusion of Collective Violence: Infectiousness, Susceptibility, and Mass Media Networks, in: American Journal of Sociology , , S. -, hier S. f. Willems, Jugendunruhen und Protestbewegungen, S. ff. Vgl. das Schwellenwertmodell von Lüdemann/Erzberger, Fremdenfeindliche Gewalt. Auch andere Studien weisen darauf hin, dass »positive Ergebnisse« von kollektiver Gewalt an einem Ort die Bereit-
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ein kommunikativ induziertes Nachahmungsverhalten (copycat riots) im Spiel zu sein, das wir auch bei anderen veröffentlichten Ereignissen wie Terroranschlägen und Selbstmorden beobachten. Pogromgewalt an einem Ort wird dann selbst zu dem wichtigsten auslösenden Ereignis für Folgeaktionen. Dies gilt für Aktionen am Ursprungsort selbst, wo sich Eskalationen oft über mehrere Tage erkennen lassen176– also größere Teilnehmerzahl, z. B. durch Trittbrettfahrer, höheres Gewaltniveau –, aber auch für eine größere, wellenförmige geographische und zeitliche Ausbreitung.177 Klier nimmt an, dass Pogrome wiederum ein Modell für weitere Pogrome abgeben, so dass jeder Ausbruch von Gewalt die sozialen Schranken und Tabus gegenüber dieser Form der Gewaltanwendung in der Zukunft verringert.178 Dieses Phänomen hat viele Beobachter zu der Annahme geführt, solche Häufungen seien nur durch eine staatliche Lenkung möglich gewesen.179 Für die Diffusion spielen die soziale Dichte, d. h. die Möglichkeit der en bloc-Rekrutierung von Teilnehmern, und die Kommunikationsdichte und -wege eine wichtige Rolle.180 In vielen Fällen reisen nicht nur die Gerüchte, sondern Teilnehmer eines Pogroms werden zu Initiatoren von Gewaltaktionen in benachbarten Orten. Heute haben die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, wie in Rostock-Lichtenhagen zu beobachten, z. T. unfreiwillig diese Verbreitungsfunktion (electronic contagion) übernommen. Ein erfolgreiches Pogrom verändert als Handlungsmodell die Kosten/Nutzen-Relation zugunsten einer Teilnahme, da sich mit der Größe der Pogrommenge und bei einer Unterreaktion des Staates das Sanktionsrisiko verringert, sich diffuse Gewaltbereitschaft konkretisiert und Plünderungsgewinne winken. Kollektive Gewalt ist anfällig für Trittbrettfahrerverhalten. Was den Ausbreitungseffekt von Pogromen angeht, so deuten zahlreiche Studien darauf hin, dass bestimmte Orte oder Regionen wiederholt zum Schauplatz solcher Ereignisse geworden sind (z. B. Odessa, Elisavetgrad, Lemberg, Hinterpommern, das Elsass), während benachbarte Orte davon nicht betroffen waren. Bohstedt
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schaft an anderen Orten erhöhen, ebenfalls zu diesem Mittel zu greifen (»reinforcement effects«, vgl. Myers, Diffusion, S. ). Margaret J. Abudu Stark et al., Some Empirical Patterns in a Riot Process, in: American Sociological Review , , S. -. Vgl. zum »Ansteckungseffekt« M. Midlarsky, Analyzing Diffusion and Contagion Effects, in: American Political Science Review , , S. -; Rodger M. Govea/ Gerald T. West, Riot Contagion in Latin America, -, in: Journal of Conflict Resolution , , S. -. Govea und West definieren diesen Ansteckungseffekt (contagion) wie folgt: »Thus, we would define contagion as the unplanned spread of a particular type of behavior as the result of one actor’s performing the behaviour and facilitating that behaviour in the observer« (S. ). »Earlier incidents also provide a model for future outbreaks and produce remarkably similar phenomena« (Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. ). Für die Pogromwelle von - in Russland kann dies heute als widerlegt gelten. Allerdings kennen wir Fälle, wie die »Reichskristallnacht« oder die »Pogrome« im indischen Bundesstaat Gujarat im Jahre , in denen das gleichzeitige Auftreten von Gewalt an vielen Orten auf eine dahinterstehende Organisierung zurückzuführen ist. Bohstedt/Williams, Diffusion, S. ; Aronson, Troubled Waters.
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und Williams haben bei ihrer Untersuchung der Diffusion von Unruhen Ende des . Jahrhunderts in Devonshire neben strukturellen Ursachen und dem Einfluss von Unruhen an anderen Orten festgestellt, dass die geographische Verteilung der Unruhen dem Muster früherer Wellen von Unruhen folgte: »These recurrences suggest that a tradition of rioting existed in particular places. The experience of successful rioting in the past could have been part of a collective mentality of a given community and increased its proclivity to riot when threats or opportunities appeared.«181 Soziologische Studien zu den »Rassenunruhen« der er Jahre in den USA haben ähnliche Einflussfaktoren identifiziert.182 Bei der Diffusion spielen die Kommunikationsverbindungen, vor allem auch die Massenmedien eine wichtige Rolle, denn die Nachrichten über kollektive Gewalt bieten für mögliche Akteure an anderen Orten die »Möglichkeit, sich zu entscheiden«.183 Wie kommt es zum Erlahmen der Pogromdynamik und zum Ende von Pogromen? Zunächst besitzen Pogrome wie andere Unruhen grundsätzlich einen episodischen Charakter, da eine »kritische Masse« nicht langfristig mobilisierbar ist und nur selten auf Netzwerken oder Organisationen aufruht, weil die Akteure ihr Zerstörungs-, Plünderungs- und Vertreibungswerk oft in kurzer Zeit vollbracht haben und weil der Staat den Zustand öffentlicher Unordnung nicht allzu lange andauern lassen kann, auch wenn Teile der Kontrollorgane mit den Zielen der Ausschreitungen sympathisieren.184 Neben dem massiven Einsatz von Ordnungskräften können auch weitere Faktoren zu einem Ende eines Pogroms führen: wenn keine weiteren Häuser mehr zu plündern und Mitglieder der Out-Group zu attackieren sind, fehlt der »Treibstoff« für dessen Fortsetzung. Aber auch ganz banale Gründe, wie das Einsetzen der Dunkelheit, heftiger Regen oder die Tatsache, dass sich die strukturelle Verfügbarkeit ändert (der nächste Tag ein Arbeitstag ist), können das Zustandekommen einer genügend großen Menge verhindern, so dass das Pogrom
Bohstedt/Williams identifizieren eine Reihe von Bedingungen, z. B. muss die Einwohnerschaft eines Ortes stabil bleiben, der Ort darf nicht zu groß sein, da sich sonst soziale Netzwerke nicht herausbilden können usw. (Diffusion, S. f.). Hier spielt die Ortsgröße eine Rolle: größere Städte reagieren weniger auf externe Ereignisse als kleinere Orte. Zwar brechen Unruhen zunächst häufiger in größeren Städten aus, von denen sie sich dann aber vor allem in die kleineren Städte ihrer Umgebung ausbreiten und weniger in andere größere Städte. Umgekehrt lösen Unruhen in kleineren Orten selten Unruhen in größeren aus (Myers, Diffusion, S. f.; f.). Unruhen andernorts bieten Anlass zu überlegen bzw. zu diskutieren, was dort die Unruhen ausgelöst hat, ob diese berechtigt waren, was die Ziele waren, ob man die Akteure unterstützen bzw. selbst handeln sollte usw. (Myers, Diffusion, S. ). Myers betont, dass dieser »occasion-creating effect« nur eine kurze Dauer besitzt. Ein instruktives Beispiel dafür, dass eine politische Partei in regionaler Regierungsverantwortung Pogrome angestiftet und organisiert hat, aber mit Übernahme der Zentralregierung und mit Rücksicht auf Koalitionspartner nun die Politik ändert und die öffentliche Ordnung aufrechterhalten muss, ist die hindunationalistische Partei BJP, die die Regierungsverantwortung in Neu Delhi übernahm (Jaffrelot, Communal Riots, S. ). Selbst das NS-Regime hat im November schnell wieder auf die – nicht sofort durchsetzbare – Eindämmung der Gewalt hingewirkt.
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erlischt. Nur in seltenen Fällen kann die Gegenwehr der angegriffenen Gruppe die Gewalt beenden. Ziele, Wirkungen und Kosten der Gewalt Protest- und Bewegungsforschung haben militanten Aktionen sozialer Bewegungen und »Rassenunruhen« ein hohes Maß an Rationalität zugesprochen und emotionale Aspekte weitgehend ausgeblendet. Für sie entstehen Akte ziviler Gewalt aus gewaltlosen Formen, so dass Gewalt nur als ein unter Umständen rationales Mittel der Zielerreichung erscheint.185 Es sind die zumeist langfristigen, organisatorisch verfestigten Handlungsperspektiven sozialer Bewegungen, die ein kurzfristig wirksames Gewaltinteresse begrenzen, d. h., soziale Bewegungen sind »repeat players«, Pogromisten dagegen »one shotters« ohne ausgedehnte Zukunftsperspektive.186 Pogrome und Lynchaktionen setzen in vielen Fällen sogleich als Gewalthandeln ein, und die Anwendung von Gewalt bedeutet hier nur selten einfach nur eine Konfliktsteigerung zur Durchsetzung bestimmter Ziele, nachdem man es vorher mit anderen Formen der Interessenvertretung (wie Petitionen oder Protesten) versucht hatte, was in einigen Fällen aber durchaus vorkommt, sondern Gewalt ist ein eigenständiger Modus der Konfliktaustragung,187 eine Form der Kommunikation, die ohne Sprache funktioniert, selten Widerrede zulässt, dem Täter ein Gefühl von Macht und Überlegenheit verschafft und damit seinen Sinn partiell schon in sich selbst trägt.188 Gerade für episodische Gewalt im lokalen Rahmen kann deshalb rationale Interessenverfolgung zweitrangig sein.189 Die Pogromisten stellen keinerlei konkrete, begrenzte Forderungen, vielmehr sind Gewaltaktion und mögliche Effekte untrennbar verbunden, so dass die Akteure bei größerer Gewaltanwendung die Vertreibung, Depravierung, Demütigung oder materielle Schädigung der Opfer umso vollständiger erreichen. Das Handeln der Akteure in Pogromen vereinigt zweckgerichtete, symbolisch-kommunikative und affektive Elemente. Wie Volkmann es schon für soziale Protestaktionen festgestellt hat, sind die genauen Ziele und Resultate von Pogromaktionen aber selten überliefert und daher in ihrem Ausmaß und ihrer Dauerhaftigkeit schwer einzuschätzen, zumal ein Erfolg auch im Gewalterlebnis selbst und in der Erfahrung der Stärkung der Michael Bantons (Racial and Ethnic Competition, Cambridge ) Versuch, die Rational Choice-Theorie auf die Situation ethnischer Konkurrenz anzuwenden, hat ihm von T. S. Chivers den Vorwurf eingetragen, andere Rationalitätsformen, z. B. Wertrationalität, zu vernachlässigen, die gerade bei ethnischen Konflikten zentral sind (Is Expulsion rational? Dealing with Unwanted Minorities as Issues of Rationality, in: Ethnic and Racial Studies , , S. -). Senechal de la Roche, Collective Violence, S. . Brubacker/Laitin, Ethnic and Nationalist Violence, S. . Jörg Baberowski, Einleitung: Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt, in: ders./Gabriele Metzler (Hrsg.), Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt a. M., New York , S. -, hier S. . James Rule, Theories of Civil Violence. Berkeley , S. .
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Solidarität der In-Group bestehen kann.190 Unterscheiden lässt sich allenfalls zwischen Misserfolg, d. h. dem Ausbleiben jeglicher Resultate, und dem Erreichen von Teilerfolgen. Zudem muss man bei der Frage des Erfolgs auch die Kosten des Pogromhandelns gegenrechnen, die sich aus den Ordnungsmaßnahmen des Staates und (seltener) aus der Gegenwehr der attackierten Gruppe ergeben.191 So kann ein Pogrom durchaus sein Ziel erreichen und etwa (zumindest für einen gewissen Zeitraum) zur Verhinderung einer gesetzlichen Besserstellung der Opfergruppe führen, doch kann gleichzeitig das Eingreifen der Ordnungsmacht Tote und Verletzte kosten und zur Bestrafung von Gewalttätern führen. Kollektive Kosten für die lokale Gemeinde können durch die Auf bürdung von Stationierungskosten für die zur Unterdrückung der Gewalt einquartierten Soldaten sowie durch Entschädigungszahlungen an die Opfer entstehen. Volkmann hat auf die ambivalenten Funktionen von Sozialprotest hingewiesen, die zwar immer auf eine Veränderung zielen, jedoch einerseits ein innovatives, die gesellschaftliche Entwicklung vorantreibendes Potential haben, zum anderen aber auch entwicklungshemmende und zerstörerische Effekte.192 Für Pogrome dürfte nur das Letztere gelten, da sie letztlich immer rückwärtsgewandte Ziele verfolgen, indem sie den Status quo bzw. eigene Vorrechte durch die Ausübung normverletzender Gewalt verteidigen und auf die Exklusion bzw. Benachteiligung der angegriffenen Gruppe zielen. Kulturalistische Ansätze heben für diesen Pogromtyp des . Jahrhunderts die kulturelle und symbolische Logik des kollektiven Handelns hervor, das Parallelen zum rituellen Handeln aufweist.193 Gruppenkonflikte folgen einem kulturellen Handlungsmuster, das den Verlauf des Pogroms bestimmt und das Angreifer wie Angegriffene kennen, ein Muster, das zugleich auch Grenzen der Gewalt wie auch das Maß der Gegenwehr seitens der Opfer regelt.194 Man kann das Pogromhandeln als eine Form von Passage-Ritus ansehen, der die Funktion hat, sowohl das Volkmann, Kategorien des sozialen Protests, S. . Ist das Kostenrisiko zu hoch, da das verfügbare Ordnungspotential des Staates zu groß ist und man mit dessen massivem Einsatz rechnen muss, kann dies den Ausbruch der Pogromgewalt verhindern, wie umkehrt ein Autoritätsverlust das Risiko minimiert und eine Teilnahme an den Aktionen befördert. Dazu auch Volkmann, Kategorien des sozialen Protests, S. . Volkmann, Kategorien des sozialen Protests, S. f. Goldberg (Rites and Riots) greift für seine Analyse am Fallbeispiel eines antijüdischen Pogroms in Tripolis im Jahre auf ethnologische Theorien symbolischen Handelns zurück, wie sie Claude Lévy-Strauss und Victor Turner entwickelt haben, insbesondere auf das Konzept der Passage-Riten in Übergangssituationen (liminal states). Vgl. zum Letzteren Victor Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, Chicago . »The process was to a significant degree a ritual process. From the gathering in the streets, to the occupation of the market place, to the aspersions cast at Jews, to the rocks thrown, to the threats to beat the last Jew to death, to the smashing of windows, and the beating of walls and doors of Jewish houses with sticks, the drama and serious play of antisemitic violence revealed a great many characteristics of ritual«. Dabei übernehmen die Einzelnen in der Menge in dem Drama verschiedene Rollen: es gibt die aktiven Täter (Hauptrol-
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Erlangen eines neuen wie die Wiedergewinnung eines früheren Status zu regeln, also einen als Normverletzung verstandenen Zustand zu korrigieren. Demnach sollte das destruktive Handeln in Pogromen: a) nicht als unstrukturiert beschrieben werden, da kulturelle Erwartungen über den Handlungsverlauf bei den Akteuren bestehen, und b) nicht einfach als zufälliger Ausdruck von Aggression gesehen werden, da es kondensierten symbolischen Formen folgt, die aus den vorhandenen kulturellen Traditionen stammen, die oft die Polarität sozialer Kategorien betonen. c) Die symbolischen Formen können gleichzeitig auf die Herstellung einer neuen oder die Wiederherstellung der alten Ordnung abzielen, und d) diese symbolische Dimension stellt die Pogrome in einen historischen Kontext und verleiht ihnen damit Bedeutung über die individuellen Motive der Handelnden hinaus.195 In diesem Sinne sind religiöse Unruhen häufig eine Ausweitung religiöser Rituale und laufen z. T. auch ritualisiert ab. Beide Handlungsformen werden als rationales und sinnhaftes Handeln betrachtet, dem eine wichtige Rolle in der Konstitution sozialer Identitäten zukommt. Pogrome und Rituale sind demnach verbunden in der Herstellung von gemeinschaftlicher Identität im öffentlichen Raum.196 Die kollektive öffentliche Gewalt in Form von Pogromen und Ritualen dient als Mechanismus der Grenzziehung zwischen Gruppen, indem sie die Gemeinschaft von inneren und äußeren Bedrohungen »reinigt«. Pogrome sind im Verständnis von Natalie Zemon Davis kulturelle Phänomene, genauer eine Form rituellen Handelns, in denen es im Kern um »Ordnung« und »die Reinheit der Gemeinschaft« geht.197 Pogrome, verstanden als Rituale der Gewalt, kann man im Sinne von Victor Turner als außeralltägliche Übergangsphasen (liminal states) definieren.198 Diese Übergangsphasen beschreibt Turner als eine »anti-structure«, d. h. als Zeiten oder Zustände zwischen zwei Ordnungen oder Strukturen, in denen die sonst geltenden Regeln und Hierarchien zeitlich begrenzt außer Kraft gesetzt oder gar auf den Kopf gestellt werden. Die soziale Ordnung wird also für einen Moment verflüssigt.199 Durch die Teilnahme an diesem Gewaltritual in der liminalen Phase wird die Zugehörigkeit zu einer Gruppe gestärkt (communitas) und zugleich die Grenze
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len), die direkten Komplizen (Chor) und die Zuschauer (Bergmann/Hoffmann/Smith, Introduction, Exclusionary violence, S. f.). Goldberg, Rites and Riots, S. . Einen ähnlichen Untersuchungsansatz hat Peter Loewenberg gewählt, indem er die »Reichskristallnacht« als »degradation ritual« analysiert hat (The Kristallnacht as a Public Degradation Ritual, in: Leo Baeck Institute Year Book , , S. -). Peter van der Veer, Riots and Rituals: The Construction of Violence and Public Space in Hindu Nationalism, in: Brass (Hrsg.), Riots and Pogroms, S. -, S. . Natalie Zemon Davis, The Rites of Violence: Religious Riot in Sixteenth Century France, in: Past and Present , , S. -. Auch Goldberg nimmt an, dass »during the ›liminal‹ states of political transition, cultural elements which are not salient in daily life are given symbolic emphasis and influence the course of collective outbursts« (Rites and Riots, S. ). Turner, The Ritual Process.
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gegenüber einer anderen stärker gezogen.200 Ziel der Pogromgewalt ist also, die Dominanz der Eigengruppe wiederherzustellen bzw. zu bekräftigen, die soziale Zugehörigkeit der Minderheit zumindest temporär zu bestreiten und so die lokalen Grenzen neu zu ziehen. Der angegriffenen Gruppe soll so ihre unsichere Situation vor Augen geführt werden, indem man sie zwingt, sich verspottende und demütigende Slogans anzuhören, sich in ihren Häusern zu verbarrikadieren, Schläge einzustecken und den Ort zeitweise oder ganz zu verlassen.201 Zugleich enthält das Gewalthandeln eine Botschaft an die staatlichen Organe, die Rechte der Eigengruppe zu schützen bzw. wiederherzustellen. Diese rituelle Einhegung von Gewalt kann allerdings misslingen, wenn eine Seite die Regeln bricht.202 Dies kann der Fall sein, wenn die Minderheit ihre Selbstwehr über den zulässigen Punkt hinaus ausübt, etwa einen Pogromisten tötet; wenn die Ordnungskräfte zu massiv gegen die Pogromisten vorgehen oder wenn auf Seiten Letzterer eine durch Agitation oder Gerüchte besonders aufgehetzte Menge agiert. In solchen Fällen kann es zu exzessiver Pogromgewalt kommen, die mit den Kategorien zweckgerichteten oder symbolischen Handelns schwer zu fassen ist, sondern starke Momente von Expressivität, der Entlastung von emotionaler Spannung und feindseliger Aggression, der Demonstration von Macht und Stärke, der Lust an Gewalt aufweist.203 In der jüngeren Gewaltforschung ist für die Handlungsdimension Instrumentalität/Expressivität diese unmittelbar expressive und konsumatorische Seite bzw. eine Vermischung der Aspekte betont worden, insbesondere bei Aktionen episodischen Charakters.204 Dabei wird darauf verwiesen, dass Pogromisten häufig aus einem subkulturellen Milieu oder aus kriminellen Banden stammen,205 Victor Turner, Dramas, Fields and Metaphors: Symbolic Action in Human Society, Ithaca , S. . Dieser Gedanke liegt auch dem Buch von Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung, zugrunde. An das »communitas-Konzept« Turners schließt sich auch Tokarska-Bakir (Pogrom Cries) in ihrer Analyse des Pogroms von Kielce an. Zum rituellen Charakter des Lynchens in den amerikanischen Südstaaten, das den Charakter von »communal acts of human sacrifice« besitzt, vgl. Orlando Patterson, Rituals of Blood: Consequences of Slavery in Two American Centuries, New York , S. . Die Zähmungskapazitäten von Kultur können sich durchaus auch als begrenzt erweisen. Vgl. dazu E. Valentine Daniel, The Limits of Culture, in: Near the Ruins: Cultural Theory at the End of the Century, Minneapolis . Klier weist auf den Umstand hin, dass die Pogrome in der Welle von - im Zarenreich zunehmend gewalttätiger wurden. Er erklärt dies als Antwort auf die zunehmende Repression seitens der Kontrollorgane. Diese griffen nun schneller zum Einsatz tödlicher Gewalt, bei der es mehr Tote unter den Pogromshciki gab, was von diesen mit brutaler Gegengewalt beantwortet wurde. Allerdings fügt er einschränkend hinzu, dass einige vereinzelte Pogrome der Jahre und besonders gewalttätig verliefen, obwohl sie nicht Teil einer Pogromwelle waren (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ). Wolfgang Sofsky, Die Gewalt in der Meute, in: Gewalt in der Kultur. Vorträge des . Deutschen Volkskundekongresses, Teilband II, hrsg. von Rolf W. Brednich/Walter Hartinger, Passau , S. -; Kai-Uwe Hellmann, Systemtheorie und neue soziale Bewegungen. Identitätsprobleme in der Risikogesellschaft, Opladen . Für die russischen Pogrome von - nennt Klier als ein Motiv die Gelegenheit für
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in denen Gewalt viel weniger instrumentellen Ausnahmecharakter besitzt.206 Kriminalitätsraten und Phasen uneingehegter kollektiver Gewalt korrelieren miteinander, ebenso »rioting« und jugendliches Alter und Männlichkeit.207 Ferdinand Sutterlüty hat aber zu Recht die Position von Wolfgang Sofsky kritisiert, wonach das »Gewaltgeschehen […] sich durch sich selbst und durch die von ihm entfesselten Leidenschaften [erkläre]«, so als sei die Gewalt selbst ein »Kollektivsubjekt, welches das Handeln der Akteure steuert«.208 Zwar können seiner Meinung nach Gewalthandlungen körperliche und normative Ausnahmezustände erzeugen, doch selbst da, wo die Gewalt zum Selbstzweck wird, handelt der Täter auf der Grundlage eines bestimmten Handlungssinns, den er der Gewalt in einer Situation zuschreibt. Auch sadistische Lust an Gewalt ist demnach kein »kontextfreies Motiv«,209 d. h., bei Analysen von Gewaltaktionen sind immer historische Kontexte und sozialisatorische wie gesellschaftliche Erfahrungen der Täter zu berücksichtigen. Neben der zumeist dominierenden symbolischen besitzt das Handeln der Pogromisten jedoch auch eine utilitaristische Komponente. Die Pogromisten versprechen sich neben der Verbesserung oder Wiederherstellung bzw. Sicherung ihres Gruppenstatus auch eine Statusverschlechterung der angegriffenen Minderheit. Wie die Beschädigung, ja bisweilen völlige Zerstörung von Wohnungen und Arbeitsstätten (z. B. durch Brandstiftung und die Plünderung des beweglichen Besitzes) zeigen, spielen auch direkte materielle Interessen eine Rolle. Insbesondere die »zweite Welle« der Pogromisten, die zu einer bereits laufenden Ausschreitung hinzukommt, wird von Plünderungsgewinnen angelockt. Für diese »Trittbrettfahrer« ist der ursprüngliche Konfliktanlass oft kaum noch handlungsleitend, vielmehr bietet die Pogromsituation, in der sich die Grenzen zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem, moralischem und unmoralischem Handeln aufgelöst haben, nun die Möglichkeit, ganz offen zu stehlen, ohne sich selbst als Dieb zu betrachten,210 was noch durch die Inaktivität von Ordnungskräften unterstützt werden kann.
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Bauern, die sich ansonsten nur schwer artikulieren konnten, und neidische Stadtbewohner zur Rache für die Beleidigungen des täglichen Lebens (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ). »They act to make their perceptions match their goal of violating – intimidating, assaulting, injuring or killing – another human being« (McPhail, Presidential Address, S. ); für das Hooligan-Milieu hat Bill Buford in verdeckter teilnehmender Beobachtung Ähnliches beobachtet (Geil auf Gewalt, Unter Hooligans, München ). Vgl. Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . In der Pogromwelle von im Zarenreich waren unter den . Personen, bei denen das Geschlecht vermerkt war, nur Frauen; Bert Useem, Breakdown Theories of Collective Action, in: Annual Review of Sociology , , S. -, S. . Sutterlüty, Kollektive Gewalt und urbane Riots, S. f. Ebenso auch Hitzler, Gewalt als Tätigkeit, S. , dass Gewalt für den Täter einen subjektiven, die Handlung transzendierenden Sinn besitzt, auch wenn er sich nur Lustgefühle verschaffen und Spaß haben will. Katz, Epiphanie der Unsichtbarkeit, S. und . Zu den möglichen Selbstrechtfertigungen für die Gründe des Plünderns siehe S. . Katz berichtet von den Riots in Los Angeles im Jahre , dass hier Plünderer ihre gerade aus einem Geschäft gestohlene
BAUSTEINE ZU EINER SOZIOLOGIE DES POGROMS
Wenn eine Masse von Fremden plündert, erscheint das Stehlen nicht mehr als abweichendes, kriminelles Verhalten, obwohl die Plünderer wissen, dass sie sich fremdes Eigentum aneignen.211 Die Übergriffe fordern indirekt auch staatliche Maßnahmen gegen die Minderheit zugunsten der Eigengruppe, was sehr häufig auch Erfolg hat, da sich als Folge von Pogromen Zuzugsbeschränkungen, der Erlass diskriminierender Gesetze oder die Verzögerung der Verbesserung des rechtlichen Status der Juden beobachten lassen. Die Chancen für die Pogromisten, ihre Ziele partiell zu erreichen, stehen deshalb recht gut, weil der Staat die Minderheit zwar schützen kann (was er nicht immer schnell genug und in ausreichendem Maße tut), jedoch nicht auf Dauer gegen Teile der Mehrheitsbevölkerung handeln wird. Nimmt der Staat aber auf sie keine Rücksicht, riskiert er, dass sich Unmut und Gewalt gegen ihn selbst richten und er als »Parteigänger« der Minderheit gilt. Die beabsichtigten Wirkungen auf die Minderheit sind Verunsicherung, Angst und eine Verschlechterung der sozialen Lage bis hin zur Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz, die im Extremfall zu Selbstmorden oder Ab- oder gar Auswanderung führen. Die vom zionistischen Hilfsfonds eingesetzte Kommission zur Erforschung der Pogrome im Russland betont die weitreichenden Wirkungen auf das Lebens- und Sicherheitsgefühl der jüdischen Bevölkerung in Reaktion auf die Pogromwelle von . Die Juden hätten bis zum Frühjahr das »Bewusstsein der Sicherheit« besessen. »Seitdem ist im Leben und in der Psyche der russischen Juden eine neue Periode angebrochen. Es gibt keine Zeit mehr, in der sie sich völlig sicher fühlen. Das Bewusstsein, dass sie vogelfrei sind, dass jeden Augenblick ganze Horden von Menschen, auch von solchen, denen sie es nie zutrauen möchten, über sie herfallen können, verlässt sie niemals …«212 Zu den Wirkungen gehört jedoch auch der Aufbau von Selbsthilfeorganisationen auf Seiten der attackierten Minderheit. Pogrome stellen also (zusammen mit Lynchaktionen und Massakern) einen spezifischen Phänomenbereich kollektiver Gewalt dar. Dies betrifft einmal die Form des ethnischen Mehrheits-/Minderheitskonflikts selbst, in dem der Staat in anderer Weise als bei Rassenunruhen, Terrorismus oder sozialen Bewegungen involviert ist bzw. werden soll. Es betrifft die Dimension der Wertorientierung, die denen der Emanzipationsbewegungen und der Tendenz zur sozialen, kulturellen und politischen Inklusion zuwiderläuft, und es betrifft die Rolle von Expressivität, Emotion und Gewalt. Ware im nächsten Moment, unter Wiedereinsetzung von Eigentumsrechten, an die Umstehenden verkauften (S. ). Ebd., S. . Vgl. dazu am Beispiel von race riots auch: E. L. Quarantelli/Russell R. Dynes, Property Norms and Looting: Their Pattern in Community Crisis, in: Phylon , , S. -. A. Linden, Prototyp des Pogroms in den achtziger Jahren, in: Die Judenpogrome in Russland, hrsg. im Auftrag des Zionistischen Hilfsfonds in London von der zur Erforschung der Pogrome eingesetzten Kommission, I. Allgemeiner Teil, Köln, Leipzig , S. -, hier S. .
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Schematisch lassen sich diese Zusammenhänge abschließend so darstellen: Modell kollektiver Gewalt 213
Bedingungen für kollektive Gewalt
intervenierende Variablen Politische Gelegenheitsstruktur | Ausbruch der Gewalt
Bedingungen für kollektive Gewalt
Intervenierende Variablen
Ausbruch der Gewalt
– quantitative Veränderungen im Mehrheits-Minderheits-Verhältnis – Zu- oder Abwanderung – Bevölkerungswachstum
politische Gelegenheitsstruktur: Spaltung der Eliten – Gewaltsituation (Krieg, Okkupation, Bürgerkrieg, Revolution) – Ausfall der Kontrollorgane
auslösende Ereignisse als Symbol für den Intergruppenkonflikt (trigger events): – Streit zwischen Angehörigen der Mehrheit und Minderheit – Maßnahmen seitens des Staates zugunsten der Minderheit – Übergreifen eines anderen Konflikts
ökonomische Konkurrenz: – Arbeit – Wohnen – Ausbildung
Organisationsgrad der Mehrheit: – minderheitsfeindliche Organisationen – verfügbare »Massen« – Agitatoren – Medien
Verschiebung der Gewalt von einem anderen Ziel auf die Minderheit: – Ausweitung auf andere Zielgruppen – Ansteckungseffekte
kulturelle Spannungen: – konfessionelle Unterschiede. – ethnische U. – sprachliche U. – Lebensweise
In-Group–Kommunikation: – Gerüchte – Medienkampagnen
politische Konkurrenten: – ethnische Parteien – rechtlicher Status
externe Mobilisierungsbedingungen: – Jahreszeit – Wetter – Wochentage – Feste – Krieg/Mobilisierung
Existenz einer feindseligen Ideologie
Basiert auf einem Grundmodell von Govea/West, Riot Contagion, S. . Vgl. einen ähnlichen Schematisierungsversuch zur Kategorisierung des sozialen Protests im Vormärz bei Volkmann, Kategorien des sozialen Protests, S. -. Das »Schema der Protestkategorien«
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. Antiemanzipatorische und revolutionäre Gewalt – - Die Forderung nach einer Emanzipation der Juden wurde im späten . Jahrhundert von einer kleinen bürgerlichen und adligen Schicht von Aufklärern und aufgeklärten Staatsbeamten erhoben, die mit ihren Schriften die europäische Reformdiskussion auf den Weg brachten. Diese Reformbestrebungen stießen aber beim Gros der christlichen Bevölkerung, insbesondere in Institutionen wie den Kirchen, bei bestimmten Berufsgruppen, etwa Kaufleuten, und bei der Landbevölkerung auf Ablehnung, da sie jede Verbesserung der rechtlichen und sozialen Position als eine Stärkung des als schädlich angesehenen Judentums ablehnten, das von ihnen als eine religiös, politisch und ökonomisch von der christlichen Gesellschaft abgesonderte und gesellschaftlich nicht zugehörige Gruppe betrachtet wurde.1 Als Integrationshindernis galt vor allem die jüdische Religion, welche die Juden zu kulturell Fremden machte und ihnen den Vorwurf des Separatismus eintrug. Da die jüdischen Gemeinden als autonome Korporationen zahlreiche nicht-religiöse Aufgaben erfüllten, sah man in ihnen eine ihrerseits exklusive und eng vernetzte Solidargemeinschaft, als einen »Staat im Staate«, bzw. sogar als so etwas wie eine »jüdische Internationale«.2 Und noch in einer weiteren Dimension wichen die Juden von der Feudalgesellschaft ab: in ihrer sozialen und beruflichen Schichtung. Es gab weder Adel noch Klerus noch abhängige Bauern, sondern es herrschte eine Schicht von kleinen, zum Teil verarmten Selbständigen vor (Händler, Pfandleiher, Pächter, Schankwirte), über die eine kleine Spitze überregional oder sogar international tätiger Finanziers und Kaufleute herausragte. Diese abweichende Schichtung und die (erzwungene) berufliche Spezialisierung brachten Juden in der entstehenden kapitalistischen Gesellschaft Startvorteile, doch wurden gerade diese Berufe von der christlichen Bevölkerung als besonders »gemeinschädlich« betrachtet. Mit Rücksicht auf diese ablehnende Haltung der Bevölkerung setzte man in Mittel- und später auch in Osteuropa auf schrittweise, staatlich gelenkte Reformen, die zwei, allerdings oft widerstreitende Ziele verfolgten: Sie sollten dem Staat nützliche Bürger schaffen und die christliche Bevölkerung vor der »schädlichen Handelstätigkeit« der Juden bewahren, und sie sollten die Lage der Juden
Vgl. dazu und zum folgenden Victor Karady, Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Frankfurt a. M. ; Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München , Kap. II. Jacob Katz, A State within a State. The History of an Anti-Semitic Slogan, in: ders., Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften, Darmstadt , S. -; vgl. zusammenfassend Werner Bergmann, Staat im Staate, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart Bd. : Begriffe, Theorien, Ideologien. hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin, New York , S. -.
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verbessern und ihre Sozialstruktur der Mehrheitsgesellschaft angleichen.3 Ersteres gelang, da Juden in vielen europäischen Ländern die neuen sozialen Freiheiten zum sozialen Aufstieg nutzten, während dieselben traditionell privilegierte Gruppen unter Konkurrenzdruck setzten, was soziale Spannungen auslöste und diese Gruppen zum Widerstand gegen die Modernisierung und damit auch gegen die Judenemanzipation movierte. Dies führte in vielen europäischen Staaten zu einem Zickzackkurs von rechtlichen Reformschritten und ihren fallweisen Rücknahmen über fast ein Jahrhundert hin. Der Emanzipationsprozess nahm in West-, Mittelund Osteuropa aus einer Reihe von Gründen einen unterschiedlichen Verlauf.4 Ein Grund lag in der Größe und Beschaffenheit der jüdischen Minderheit. Anders als in den westeuropäischen Ländern mit sehr kleinen und z. T. bereits verbürgerlichten Judenheiten, deren gesellschaftliche Integration auf vergleichsweise geringeren Widerstand stieß, ergab sich für Preußen, das Habsburgerreich und das Zarenreich ein Reformbedarf allein schon aus dem großen Zuwachs an einer weitgehend verarmten jüdischer Bevölkerung durch die polnischen Teilungen ab . Hatten um die Mitte des . Jahrhunderts auf dem Gebiet des späteren deutschen Kaiserreichs ungefähr . Juden gelebt, die gleiche Zahl kann man für die habsburgischen Länder annehmen, so stieg sie am Ende der napoleonischen Kriege im mitteleuropäischen Raum auf ca. -. an, was für Deutschland einem Bevölkerungsanteil von einem Prozent entsprach. Zum Russischen Reich, in dem es auf Grund eines Ansiedlungsverbots bis dahin praktisch keine Juden gegeben hatte, gehörten nach dem Erwerb von Weißrussland, Litauen und der Ukraine ungefähr . Juden und andere Minderheiten. Die Juden, die sich in Polen relativer religiöser und gesellschaftlicher Freiheit erfreut hatten, gerieten unfreiwillig ins rückständige Zarenreich, und ihre Geringschätzung der russischen Kultur war ein Grund für ihre geringe Integrationsbereitschaft, was sie in den Augen vieler Russen zu einem fremden und unassimilierbaren Bevölkerungsteil machte. Die Integration wurde zusätzlich durch ein rasantes jüdisches Bevölkerungswachstum erschwert, so wuchs die Zahl der Juden von , Millionen im Jahre auf , Millionen an. Da von ihnen im Ansiedlungsrayon lebten, einem Gebietsstreifen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, betrug ihr Bevölkerungsanteil hier oft , örtlich bildeten Juden manchmal sogar die Mehrheit. Mit einem Anteil von am Ende des . Jahrhunderts ( im Jahre ) gestaltete sich die Integration im Zarenreich wesentlich komplizierter als in Deutschland oder Frankreich, wo zur Zeit der Französischen Revolution nur rund . Juden lebten, deren Zahl sich bis zum Ende Die Erwartung auch von Fürsprechern der Emanzipation, die als »gemeinschädlich« betrachtete berufliche Schichtung der Juden würde sich bei freier Berufswahl im Laufe der Zeit an die der Christen angleichen, erfüllte sich begreiflicherweise nicht, da dies für die Juden die Wahl überbesetzter und zudem rückläufiger Berufszweige (Bauern, Handwerker) bedeutet hätte. Siehe dazu den Sammelband von Pierre Birnbaum/Ira Katznelson (Hrsg.), Paths of Emancipation. Jews, States, and Citizenship, Princeton ,
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des . Jahrhunderts lediglich verdoppelte (in den anderen west- und nordeuropäischen Ländern stellten die Juden im . Jahrhundert nie mehr als zwei Promille). Allein dieser Abriss über die Größe, Siedlungsstruktur, soziale Lage und Assimilationsbereitschaft der jeweiligen jüdischen Minderheit zeigt die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Judenemanzipation. Diese von West nach Ost ungünstigere Lage ging natürlich keineswegs überwiegend auf das Konto der jüdischen Minderheit, sondern wurde wesentlich durch andere Faktoren bedingt: den bereits erreichten Grad an gesellschaftlicher Modernisierung, vor allem die Stärke einer bürgerlich-liberalen Gesellschaftsschicht, der voremanzipatorischen Rechtsstellung der Juden, und die Form und Probleme der Nationalstaatsbildung. In allen Fällen bestand ebenfalls ein West-Ost-Gefälle: Frankreich war bereits eine relativ stärker verbürgerlichte und homogene Staatsnation, die neben den Juden keine größere ethnische Minderheit zu integrieren hatte und in der die Judenemanzipation den neuen republikanischen Prinzipien entsprach. Die ca. . portugiesischen Juden Südwestfrankreichs waren zudem rechtlich bereits weitgehend integriert. Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, das in eine Vielzahl von Staaten zerfiel, entstand eine nationale Einheitsbewegung erst mit den napoleonischen Kriegen, und das liberale Bürgertum blieb gegenüber den fortbestehenden ständischen Strukturen schwach. Die Juden wurden über »Judengesetze« und »Schutzbriefe« im Grunde wie Ausländer behandelt und besaßen jeweils nur einen temporären Aufenthaltsstatus. Das Habsburger- wie das Zarenreich waren Vielvölkerstaaten, in denen die Juden nur eine ethnische Gruppe unter vielen waren, die sich von der christlichen Umwelt gleich mehrfach durch ihre Religion, Sprache, Kleidung und politischen Rechte unterschied. Russland war wirtschaftlich und politisch am rückständigsten, so dass erste gesellschaftliche Reformen (wie z. B. die Bauernbefreiung) erst in der zweiten Hälfte des . Jahrhundert einsetzten. Entsprechend hinkte hier auch die Emanzipation der Juden hinterher und zog sich bis ins . Jahrhundert hin. Aus den theoretischen Annahmen des zweiten Kapitels und dem gerade geschilderten zeitlichen Verlauf des Emanzipationsprozesses, der den Juden eine neue Stellung in den christlichen Gesellschaften einräumte, was wiederum von Teilen der christlichen Gesellschaft nicht ohne Widerstand hingenommen wurde, ergibt sich auch die Chronologie gewalttätiger Auseinandersetzungen. Es beginnt mit Konflikten im Anschluss an die Judenemanzipation in Frankreich, dort vor allem im Elsass, gefolgt von einigen italienischen Staaten und ab dann auch in deutschen Staaten, während im Habsburgerreich antijüdische Ausschreitungen erst um die Jahrhundertmitte beginnen und im Zarenreich, vom multiethnischen Odessa einmal abgesehen, in den neu entstandenen Nationalstaaten Rumänien und Bulgarien antijüdische Ausschreitungen erst im letzten Viertel des . Jahrhunderts einsetzen.
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. Die Französische Revolution und antijüdische Gewalt im Elsass - Während sich in vielen europäischen Staaten der Prozess der rechtlichen Gleichstellung der Juden bis ins letzte Drittel des . Jahrhunderts, im Zarenreich sogar bis hinzog und immer wieder von Rückschlägen gekennzeichnet war, brachte die Französische Revolution für Frankreichs ca. . Juden die sofortige Gleichstellung als Staatsbürger. Allerdings ist es bezeichnend, dass auch hier in den Entscheidungen der Konstituante am . und . Dezember den Juden gleiche bürgerliche Rechte noch mit knapper Mehrheit verweigert worden waren, während man sie der protestantischen Minderheit und den unehrenhaften Berufen zuerkannt hatte.1 Dies ging auf den Widerstand der katholischen Geistlichkeit und adliger wie bürgerlicher Abgeordneter aus dem Osten Frankreichs zurück, welche die Gefahr einer Finanzherrschaft der Juden einerseits, die eines Volksaufstandes gegen die Juden in ihren Regionen andererseits befürchteten. Für viele Kleriker hatte die französische Nation grundsätzlich christlichen Charakter, so dass Juden in ihr keine Führungspositionen übernehmen konnten. Auch sahen die Gegner in den Juden eine eigene Nation, der man keine aktiven Bürgerrechte verleihen könne.2 Betrachtet man die Petitionen (»Cahiers de doléances«), die am Vorabend der Revolution seit Anfang an die Generalversammlung gerichtet wurden, dann wird deutlich, dass von dieser Seite vor allem Klagen gegen die Juden und ihr schädliches Wirken vorgebracht wurden, während diese ihrerseits in ihren »Cahiers de doléances« Beschwerden anmeldeten, Rechtsgleichheit forderten, aber zugleich auf der Beibehaltung ihrer Gemeindestrukturen mit eigenen Rechten als »jüdische Nation« beharrten, womit sich die elsässischen Juden in klarem Widerspruch zu den kulturellen Einigungsbestrebungen der Revolutionäre befanden.3 Weniger Probleme sah man darin, den . stark assimilierten, in Südwestfrankreich ansäs Die Einschränkung betraf aber nur die Rechte als aktive Bürger, d. h. das Wahlrecht und das Recht, gewählt zu werden. Die bürgerlichen Grundrechte und Menschenrechte, darunter auch Religionsfreiheit, galten auch für die französischen Juden. Vgl. Gary Kates, Jews into Frenchmen: Nationality and Representation in Revolutionary France, in: Ferenc Fehér (Hrsg.), The French Revolution and the Birth of Modernity, Berkeley , S. f. Vgl. zu den unterschiedlichen Positionen zur »Judenfrage« im Vorfeld und während der Französischen Revolution neuerdings Maurice Samuels, The Right to Difference. French Universalism and the Jews, Chicago, London , S. -. Der radikale judenfeindliche elsässische Abgeordnete Jean-Francois Reubell formulierte dies so: »The Jews collectively are a corps de nation separate from the French. They have a distinct role. Thus they can never acquire the status of an active citizen« (Archives parlamentaires de a , Vol. , S. , zit. nach Kates, Jews into Frenchmen, S. ). Vgl. Pierre Birnbaum, Between Social and Political Assimilation: Remarks on the History of Jews in France, in: ders./Katznelson (Hrsg.), Paths of Emancipation, S. -, hier S. ; Jean Daltroff, Le Juifs de Durmenach entre histoire et mémoire, Conference du octobre au Foyer Saint-George, S. f. http://tzundel.chez.com/durmenqach/histoire/ durmenach_se_souvient/confJD.html (zuletzt eingesehen am ..).
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sigen sephardischen Juden bereits im Januar die volle Gleichberechtigung zu gewähren, während es noch bis zum September dauern sollte, bis sie für alle Juden beschlossen wurde. Zu dieser Verzögerung hat sicher beigetragen, dass es schon antijüdische Unruhen im Elsass gegeben hatte, da man sich damit nicht noch einen zusätzlichen Konflikt mit den christlichen Bürgern einhandeln wollte, die eine rechtliche Gleichstellung der Juden vehement ablehnten. Die starke Autonomie und geringe Verflechtung der elsässischen Juden mit ihrer christlichen Umgebung sind Faktoren, die ihre Diskriminierung und das Ausbrechen kollektiver Gewalt begünstigt haben. Von Ausschreitungen gegen sephardische Juden im Südwesten des Landes und in Paris, die ihre Loyalität auf die neue offene Gesellschaft übertrugen und zu französischen Bürgern werden wollten, ist nichts bekannt. Wir finden im Elsass Ende des . Jahrhunderts eine Reihe von Umständen vor, die den ethnisch-religiösen Konflikt begünstigten. Nach dem Anschluss der größten Teile des Elsass an Frankreich nach dem Westfälischen Frieden behielt der Adel, wie im Heiligen Römischen Reich üblich, das Recht, über die Ansiedlung von Juden auf seinem Besitz zu entscheiden, die entsprechend ihre Steuern an ihren Feudalherren zahlten. Damit war bereits eine Konfliktstruktur etabliert, da die Juden nicht »zum allgemeinen Steueraufkommen des Ortes« beitrugen und (fälschlich) zudem als privilegierte Steuerzahler angesehen wurden.4 Ihre Integration in die Gemeinde blieb deshalb gering und wurde auch durch ihre orthodoxe, auf Autonomie beharrende Lebensweise behindert. Zu dieser latenten Konfliktlage trugen außerdem die starke Zuwanderung und die höhere Geburtenrate der Juden bei, deren Zahl von Mitte des . Jahrhunderts bis von . auf . anwuchs (ca. der Bevölkerung), so dass hier ungefähr die Hälfte der französischen Juden lebte. Gerade die beiden Regionen, in denen die Zunahme besonders hoch ausfiel, im südelsässischen Sundgau sowie im Gebiet L’Outre-Forêt, lagen zwischen und Hochburgen der antijüdischen Agitation und Gewalt. Hinzu kam, dass diese Zunahme der jüdischen Bevölkerung, die ihren Unterhalt als Hausierer und Geldverleiher (»Wucherer«) verdiente, mit einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage für die Landbevölkerung zusammenfiel, so dass sich Spannungen und Rechtsstreitigkeiten zwischen Schuldnern und Gläubigern entwickelten. Da die Provinzbehörden Juden nicht als Staats- und Ortsbürger anerkannten, blieb ihr rechtlicher Status ungesichert. Lokale Behörden haben deshalb im Laufe des . Jahrhunderts immer wieder versucht, die Juden aus ihrem Gebiet zu vertreiben, konnten sich damit aber gegenüber der Regierung in Paris nicht durchsetzen, so dass es nur zu örtlichen Ausweisungen armer Familien und Erschwernissen des Aufenthalts kam. Bereits hatte es im südlichen Elsass Proteste gegen die Obrigkeit gegeben, und im Jahre sorgte die »l’affaire des fausses quittances« (Affäre der gefälschten Quittungen) für judenfeindliche Ausschreitungen im Sundgau, vor allem in den Orten Durmenach, Hagenau und Thann, nachdem der Landvogt von Blotzheim, Jean-François Hell, zusammen mit Komplizen tausende gefälschter Quittungen in Dazu und zum Folgenden Gerson, Kehrseite, S. ff.
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Umlauf gebracht hatte, die die christlichen Schuldner der Juden von ihren Schulden befreiten und zugleich die Juden ruinieren und zum Verlassen des Landes zwingen sollten.5 Als die jüdischen Gläubiger gegen die Fälschungen vor Gericht zogen, löste dies antijüdische Unruhen aus. Dass Hell zwar leicht, seine Komplizen z. T. schwer bestraft wurden, änderte nichts daran, dass seine Kritik an dem »ausbeuterischen Treiben der Juden« allgemeinen Beifall fand – sogar unter »Judenfreunden« wie dem Abbé Grégoire oder dem österreichischen Kaiser Joseph II. – und dass er nach seiner Rückkehr aus der Verbannung im Elsass freudig empfangen und wieder in seine Ämter eingesetzt wurde. Dies zeigt den Grad der Spannungen und den breiten gesellschaftlichen Konsens über den schädlichen jüdischen »Wucher« an.6 Die antijüdischen Aktionen im Elsass und in Lothringen waren richtungsweisend auch für Zunftunruhen in Trier und in anderen Gebieten des Rheinlandes, denen jahrzehntelange Streitigkeiten zwischen den Zünften, insbesondere den Metzgern, und den ansässigen unzünftigen jüdischen Handwerkern und Händlern vorausgegangen waren, die sich angesichts der sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen für die Zünfte immer weiter verschärften, zumal die Landesherrn den Klagen ihrer christlichen Untertanen nur wenig Beachtung schenkten, um ihre Einkünfte aus den Steuern der Juden nicht zu verlieren. Die unablässigen Angriffe und Klagen der Bürgerschaft und der Zünfte im Saar-Mosel-Raum zielten nach Cilli Kaspar-Holtkotte »offenbar auf die Verdrängung und Vertreibung der Juden ab«.7 Zwar hatte es in den Jahren vor der Revolution auch im Elsass eine ganze Reihe von Bestrebungen und Ereignissen, wie etwa die »Lettres patentes du Roi, pourtant Réglement concernant les Juifs« von ,8 die Abschaffung des Leibzolls (péage corporel) , das Preisausschreiben zur »Judenfrage« in der Metzer Akademie (-) und die zahlreichen Memoranden, Bücher und Pamphlete gegeben, die Gerson, Kehrseite, S. ff. Zu seiner Rechtfertigung publizierte Hell in Frankfurt a. M. eine antijüdische Schmähschrift »L’Observation d’un Alsacien sur l’affaire présente des Juifs d’Alsace«, die nach Gerson die Emanzipationsdebatte im Vorfeld der Französischen Revolution beeinflusste (S. ). Für unser Thema interessant ist es, dass Hell zur Illustrierung seiner These, die Juden hätten schon immer ihre christlichen Mitbürger betrogen und seien deshalb verfolgt worden, auf die Verbrennung der Juden Basels im Zuge der Pestpogrome im Jahre rekurrierte, die er als gerechte Bestrafung hinstellte. Dies zeigt, wie lebendig und aktualisierbar die Gewaltgeschichte der Region für die damalige Zeit war. Gerson, Kehrseite, S. -; die Diskussionen um die Emanzipation der Juden in Frankreich zeigen deutlich, dass auch die Befürworter der völligen staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden auf die Probleme hinwiesen, die durch deren Rolle im Geldverleih (»Wucher«) entstünden. Siehe dazu: Samuels, The Right to Difference, S. ff. Vgl. Cilli Kaspar-Holtkotte, Juden im Auf bruch. Zur Sozialgeschichte einer Minderheit im Saar-Mosel-Raum um , Hannover , S. -, hier S. f. Der französische König erließ am . Juli eine neue Ordnung für die Juden des Elsass (deutsch: Offener königlicher Brief betreffend die Juden Verordnung im Elsass), die wegen ihrer zahlreichen Restriktionen bis hin zu Ausweisungen den Protest der elsässischen Juden hervorrief und die man nicht als proto-emanzipatorisch, sondern eher als Ausdruck einer judenfeindlichen Entwicklung verstanden hat.
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wichtige Wegmarken hin zu einer Verbesserung des jüdischen Status darstellten, doch betont Zosa Szajkowski, dass die einflussreichen, die Revolution von mit vorbereitenden Assemblées provinciales im Elsass bei ihrer judenfeindlichen Einstellung blieben, was auch für andere lokale und zentrale Regierungsbehörden galt.9 Diese Differenzen zwischen der Rechte gewährenden Zentralregierung und regionalen wie örtlichen Behörden, die dies nicht akzeptieren wollten, ist ein häufig wiederkehrendes Muster, das sich auf die Bereitschaft ausgewirkt hat, in Fällen kollektiver Gewalt gegen Juden auf lokaler Ebene so energisch vorzugehen, wie es die Regierung forderte (siehe oben Kap. .). Dies zeigte sich etwa im Konflikt Herz Cerfbeers, eines der Führer der elsässischen Juden, mit der Stadt Straßburg, die sich noch auf das Ansiedlungsverbot von berief und auf der Notwendigkeit des Schutzes der Christen vor jüdischem Wucher bestand. Obwohl Cerfbeer, ausgestattet mit einem Patentbrief des französischen Königs, das Ansiedlungsrecht zustand, weigerte sich Straßburg, dies anzuerkennen, was zu einem erbitterten Konflikt führte, zumal die Gegner der Juden befürchteten, Cerfbeer ginge es darum, einen Präzedenzfall zu schaffen und so die Verhältnisse der Juden generell zu »revolutionieren«.10 Der Konflikt zog sich bis hin. Straßburg forderte von der Nationalversammlung die Respektierung seiner alten Rechte und verwies auf den noch offenen Rechtsstreit mit Cerfbeer. Erst das Gesetz vom . September machte diesem Konflikt ein Ende, so wie die Revolution auch die Umsetzung der in den Lettres patentes angeordneten Ausweisung nicht registrierter Juden aus dem Elsass verhinderte.11 Zosa Szajkowski kommt für den Stand der Judenemanzipation am Vorabend der Revolution zu einem negativen Fazit: »Until the very last days preceding the outbreak of the Revolution, the Jews were an oppressed, barely tolerated group. All liberal voices favouring the Jews did not achieve any practical improvement in their status. It took a far more important event to accomplish that – the Revolution«.12 Schon die Forderungen der Juden nach Beteiligung an den Wahlen zu den Generalständen stießen – sogar in Südwestfrankreich – auf heftige Ablehnung, und man sah gar die öffentliche Ordnung gefährdet. Tatsächlich tat in der unruhigen Phase der »grand peur« vor der Revolution der Vierte Stand im Juli seine Meinung in Plünderungen und Pogromen im Elsass kund, so dass diese die Konstituante um Schutz baten und auch ein entsprechendes Dekret erwirkten. Die antifeudale Gewalt, die sich primär gegen Schlösser und Amtssitze des Adels richtete, hatte im Elsass und hier wiederum besonders im Sundgau die Juden als weiteres Ziel im Zosa Szajkowski, Jews and the French Revolutions of , and , New York , S. . Mitglieder in diesem Gremium waren Männer, wie J. B. Reubell, die später in der Nationalversammlung gegen die Emanzipation der Juden kämpften. Vorsitzender der Commission Intermediaire, die ein neues Judenstatut für das Elsass ausarbeiten sollte, war niemand anders als F. Hell (s. o.) (vgl. ebd., S. ff. zu dem erarbeiteten Entwurf des Statuts). Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd.
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Visier. Das Wunschgerücht, der König habe auch die Vernichtung von Schuldscheinen erlaubt, zeigt, wie hier konkrete wirtschaftliche Interessen der christlichen Schuldner bei der antijüdischen Gewalt mitspielten. Tagelang zogen marodierende Banden, von der Obrigkeit nicht gehindert, durch die Dörfer, bedrohten die jüdischen Einwohner, vernichteten Schuldscheine, demolierten oder plünderten den Hausrat, bisweilen wurden auch die Häuser völlig zerstört. Nur in wenigen Fällen kam es zu Übergriffen auf die Synagoge.13 Häufig waren es jedoch auch die ortsansässigen Christen, die z. T. unter Beteiligung des Bürgermeisters über ihre jüdischen Nachbarn herfielen, die zu Hunderten in die größeren Städte, vor allem nach Basel und Mühlhausen (Mulhouse), flüchteten und einige Zeit dort blieben. Erst in den letzten Julitagen gelang es, unter Einsatz des Militärs die Unruhen zu beenden, und im August wurde zahlreichen Plünderern der Prozess gemacht, der mit kurzen Gefängnisstrafen für geringfügigere Plünderungen bis zu mehrjährigen Verurteilungen, z. B. auf die Galeeren, für die Haupttäter endete.14 Die Rückkehr der vertrieben Juden gestaltete sich mancherorts schwierig. Nicht nur, weil ihre Häuser z. T. zerstört und ausgeplündert waren, sondern weil sich die christlichen Dorf bewohner ihrer Rückkehr widersetzten. Nur mit der Rückendeckung einer offiziellen Verordnung fanden Juden wieder Aufnahme, waren aber immer wieder Zerstörungen ihrer Häuser und Bedrohungen ausgesetzt, wie etwa Gewehrsalven, als sie am jüdischen Neujahrsfest in den Synagogen beteten.15 Dies ist ein Hinweis auf den hohen Grad an sozialer Distanz und Feindseligkeit zwischen Christen und Juden in den Dörfern des Elsass, die bis immer wieder zu Ausschreitungen führen sollten. Daniel Gerson, der die judenfeindliche Gewalt im Elsass untersucht hat, spricht davon, dass sich mit »dem Vorwurf des wucherischen Geldverleihs im Zentrum« in den Dörfern dort vom Ende des . bis Mitte des . Jahrhunderts eine »potentiell gewalttätige Judenfeindschaft« gehalten hat. Die revolutionären Veränderungen von trafen im Elsass also auf eine bereits durch Unruhen, Proteste und Gewalt aufgeheizte Situation.16 Betroffen von den Ausschreitungen waren die Juden in Durmenach, Hagenthal, Hégenheim, Rixheim und Sierentz (Daltroff, Les Juifs de Durmenach, S. ; Gerson, Kehrseite, S. ff.). Es ist bezeichnend, dass – wie auch sonst zwischen und – Gewalt sich nur selten gegen Personen richtete und Todesfälle selten waren. Zwar wird aus Basel von der Versorgung von verletzten Flüchtlingen berichtet, doch ist dies bei Geflüchteten eine vergleichsweise geringe Zahl. Todesfälle wurden nicht bekannt. Ich stimme hier mit Gerson (S. ) überein, dass es offenbar, wie auch in den food riots, so etwas wie »protocols of riots« gab, die den Verlauf solcher Aktionen regelten und massive physische Gewalt gegen Personen aus dem Handlungsrepertoire ausschlossen. Gerson, Kehrseite, S. f., f. Szajkowski (Jews and the French Revolutions, S. ff.) spricht von Tausenden von Misshandlungen, Arretierungen, Anschuldigungen, Forderungen nach Ausweisung usw. z. T. auch von revolutionärer Seite, die sich in den Quellen finden. Gerson, Kehrseite, S. . So wurde nur einen Tag nach der gesetzlichen Gleichstellung vom .. vom Parlament ein Sondergesetz verabschiedet, das Geldgeschäfte zwischen Juden und Christen im Elsass regeln sollte (ebd., S. ).
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Größere Städte Antijüdische Ausschreitungen im Elsass: /
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Als am . September den Juden schließlich die Gleichberechtigung zuerkannt wurde, führte dies kaum zu antijüdischen Aktionen, die von elsässischen Parlamentariern vorausgesagt worden waren, um die Nationalversammlung gegen die Judenemanzipation einzunehmen. Zwar herrschte eine aufgeladene antijüdische Stimmung17 und es gab einige Protestpetitionen gegen die Gewährung der Bürgerrechte, z. B. aus Straßburg, doch lösten die zunächst relativ abstrakt bleibenden neuen Rechte keine größeren Gewaltaktionen aus, zumal die christliche Bevölkerung und sogar die Jakobiner an den Restriktionen für Juden (höhere Steuern, keine freie Wahl des Wohnortes usw.) festhalten wollten.18 Bedrohliche Situationen entstanden primär aus lokalen Vorkommnissen, zumeist durch Regelungen, die das Zusammenleben an einem Ort veränderten. Entsprechend kam es bei der Ablegung des Bürgereides (le serment civique) von Juden an einigen Orten zu judenfeindlichen Äußerungen, die aber nicht in offene Gewalt umschlugen, zumal die revolutionären Regierungsbeamten für die Gleichberechtigung der Juden auch gegen den Willen der lokalen Bevölkerung eintraten.19 Die Vorgänge in Bischheim-au-Saume, einem Dorf in der Nähe von Straßburg, belegen diese konfliktgeladene Stimmung. Bei der öffentlichen Ablegung des Bürgereides weigerten sich fünf prominente Juden des Ortes, sich zu bekreuzigen. Der Streit wurde schließlich vom Direktorium des Departments zugunsten der Juden entschieden. Die Eidesleistung sollte dann am . April vom Regierungskommissar selbst unter dem Schutz von dreißig Nationalgardisten abgenommen werden. Dies scheiterte jedoch wiederum, da die Menge und auch Angehörige der Nationalgarde von den Juden forderten, den Hut abzunehmen. Die Stimmung wurde so bedrohlich, dass sich der Regierungskommissar entschloss, die Zeremonie zum Schutz der Juden abzubrechen. Schließlich konnten die fünf Bischheimer Juden am . April den Eid doch noch schwören, nachdem das Direktorium darauf insistiert und sogar Truppen in den Ort verlegt hatte, die allerdings allein bei den jüdischen Einwohnern einquartiert wurden.20 Das Beispiel zeigt, dass ein energi In Lixheim (Lothringen) sollen die antijüdischen Gefühle so heftig gewesen sein, dass jüdische Kreditgeber sich fürchteten, ihre Schulden bei den christlichen Gläubigern einzufordern. Dort kam es bei Wahlen im November zu Tätlichkeiten, als man Juden aus der Kirche, die als Wahllokal diente, hinaustrieb, da sie sich aus religiösen Gründen weigerten, die Hüte abzunehmen (Szajkowski, Jews and the French Revolutions, S. ). Vgl. zu diesem Widerstand vieler Kommunen gegen die Judenemanzipation das Kapitel »The discussion and struggle over Jewish emancipation in Alsace in the early years of the revolution«, ebd., S. ff.). Von den antijüdischen Aktionen im Department Bas-Rhin zwischen und richteten sich allein gegen eine neue jüdische Ansiedlung oder Handelstätigkeit am Ort. Vgl. Rodolphe Reuss, L’ Antisémitisme dans le Bas Rhin pendant la Révolution, in: Revue des Etudes Juives , , S. (zit. nach Szajkowski, Jews and the French Revolutions, S. ). Allerdings richteten sich ähnliche Vorbehalte auch gegen andere Gruppen, etwa die Protestanten (ebd., S. ). Gerson, Kehrseite, S. . Vgl. dazu den ausführlichen Bericht in David Feuerwerker, L’émancipation des Juifs en
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sches Eintreten des Staates den drohenden Gewaltausbruch verhindern konnte. – Dieser Kampf um die Durchsetzung der Gleichberechtigung der Juden im lokalen Rahmen sollte im Elsass noch bis weit ins . Jahrhundert andauern und in Krisensituationen immer wieder zu judenfeindlichen Ausbrüchen führen. Gefahr für die Juden drohte aber nach Gerson auch noch aus einer anderen Richtung. Der antiklerikale Geist der Revolutionäre begünstigte einerseits die Emanzipation der Juden, doch richtete sich die antireligiöse Politik der Jakobiner in den Jahren / auch gegen das Judentum, das als abergläubische Sekte Religion über die Vernunft setze. Es wurden Synagogen geschlossen, die Sabbatruhe verboten, Rabbiner entlassen. Vor allem im Osten Frankreichs gab es Aufrufe zur Konfiszierung und Verbrennung des Talmuds, die aber weitgehend nicht befolgt wurden, sowie Anträge von Volksvereinen, etwa von den Jakobiner-Clubs von Colmar, Nancy und Toul (), die Juden auszuweisen. Gerade von Seiten der Revolutionäre war die Gleichberechtigung immer mit der Vorstellung verbunden gewesen, die Juden müssten damit ihre eigenen Gemeindestrukturen und religiösen Gesetze aufgeben, so dass von ihnen ein starker Assimilierungsdruck auf die Juden ausging, der nach Gerson ein beträchtliches antisemitisches Konfliktpotential barg.21 Szajkowski weist zu Recht darauf hin, dass die Verfolgung der jüdischen Religion seitens der Jakobiner nicht als ideologischer Kampf um die Abschaffung des jüdischen Glaubens per se oder als Aktionen mit antijüdischem Charakter anzusehen seien, sondern als Teil der Maßnahmen, die sich in diesen Jahren gegen viele Gruppen richteten, die aufgrund ihres Festhaltens an religiösen Riten als Gegner der Revolution galten.22 Der judenfeindliche Druck vor allem in den östlichen Departements, in denen um / die judenfeindliche Gewaltbereitschaft aufgrund von Wuchervorwürfen und des Vorwurfs der Finanzherrschaft durch den Aufkauf von Kirchengut stark angewachsen war, hatte Erfolg, denn er bewog Napoleon , die Freizügigkeit und Handelstätigkeit der Juden durch ein Gesetz wieder einzuschränken (»Infames Dekret«), das bis in Geltung blieb.23 Die sofortige rechtliche Gleichstellung der Juden führte zunächst kaum zu ihrer politischen und sozialen Integration, da in der Restaurationsperiode der Katholizismus bis Staatsreligion blieb, was den Zugang von Juden zu höheren Staatsämtern und in die Verwaltung erschwerte. Eine Ausnahme bildete nur das Militär. Die France, Paris , S. -. Vgl. Kates, Jews into Frenchmen, S. f. Vgl. auch den ähnlichen Konflikt in Lixheim, s. o. Fußnote . Gerson, Kehrseite, S. . Szajkowski, Jews and the French Revolutions, S. . So wurden in der Zeit der Terreur (Juli bis Juli ) zahlreiche Synagogen und kommunale jüdische Einrichtungen geschlossen und nationalisiert, in einigen Fällen auch zerstört, doch insgesamt in geringerem Umfang als das Eigentum der katholischen Kirche (ebd., S. f.). Vgl. dazu Daniel Gerson, Décret Infame, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. ; Jacques-Olivier Boudon, Napoleón et les cultes: les religions en Europe à l’aube di XIXe siècle, -, Paris .
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Juden blieben auf Handel und Industrie als Auswegkarrieren verwiesen. Allerdings gab es in der Integration große Unterschiede zwischen den sephardischen und aschkenasischen Juden. Erstere und einige aus Deutschland zugewanderte Familien, wie die Rothschilds, Erbachs und Hirschmanns, spielten in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts eine wichtige Rolle im Auf bau des französischen Bankwesens, besaßen großen politischen Einfluss und wurden so zum Ziel einer antikapitalistischen Judenfeindschaft.24
Frühsozialistische Denker sahen in dieser Zeit in jüdischen Bankiers die Hauptträger des kritisierten Finanzkapitalismus wie der Titel des Buches Les Juifs, rois de l époque. Histoire de la féodalite financière von Alphonse Toussenel von zeigt. Vgl. Jean-Yves Camus, Alphonse Toussenel, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. /, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -.
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. Ausschreitungen gegen Juden in Italien - Während es in den deutschen Ländern und in Frankreich bis gegen Ende des . Jahrhunderts keine größeren Übergriffe gegen Juden gab, finden wir in den stadtgeschichtlichen Darstellungen und Arbeiten zur jüdischen Geschichte Italiens für diese Zeit immer wieder Berichte über gewalttätige Krawalle und Ausschreitungen gegen Juden in der Toskana.1 Diese Darstellungen deuten auf eine Labilität der Beziehungen zwischen den städtischen Unterschichten und den Juden hin, die bei kleinen Anlässen in Gewalt münden konnten. Ulrich Wyrwa hebt in seiner Preußen und die Toskana vergleichenden Arbeit hervor, dass in den toskanischen Unterschichten im . Jahrhundert im Unterschied zu den preußischen »starke antijüdische Vorurteile und Aversionen« vorherrschten und es neben Spottumzügen und -liedern auch zu gewalttätigen Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung und zu Plünderungen ihrer Wohnungen kam.2 So führte eine angeblich durch eine Explosion gestörte Konversion zweier Juden zum Christentum in Livorno zu Gewaltaktionen christlicher Unterschichten.3 In Pisa kam es am . April zu einem xenophoben und judenfeindlichen Tumult, als ein Mann mit Namen Lorenzo Mengozzi drei junge Juden und zwei aus Algerien bzw. Marokko stammende, orientalisch gekleidete muslimische Kaufleute mit Wohnsitz in Livorno, die sich angesichts des verschlossenen Doms die Skulpturen an den Außenwänden aus der Nähe anschauten, lauthals beschuldigte, die Figuren an der Dompforte angespuckt und Steine aus einem Kruzifix auf dem Campo Santo herausgebrochen zu haben.4 Daraufhin versammelte sich eine bedrohliche Menschenmenge, vor der die Angeschuldigten sich durch Flucht in Sicherheit brachten. Sie wurden am nächsten Morgen, bewacht von einer militärischen Eskorte, unbeschadet nach Livorno zurückgebracht. Dieser angebliche Angriff auf die christliche Religion wirkte als empörendes auslösendes Ereignis, da sich am Abend der Tumult ausweitete und nun gegen die Häuser der einheimischen Juden richtete. Dabei wurde ein unbeteiligter, aus Algerien stammender, in Pisa wohnhafter Jude getötet, dem sein »türkisches Aussehen« zum Verhängnis wurde. Ihn traf der Säbelhieb eines jungen Soldaten, der durch Mengozzi aufgehetzt worden sein soll und den Getöteten für einen der geflüchteten »Täter« gehalten hatte. Nach diesem Vorfall wandte sich die aufgeregte Menge zur nahen Synagoge und bewarf diese mit Steinen. An diesem Punkt griffen die Ordnungskräfte ein und beendeten den Tumult ohne weitere Zwischenfälle. Dazu und zum Folgenden Wyrwa, Sozialer Protest, S. . Ulrich Wyrwa, Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg i. Pr., Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. , Tübingen , S. . Wyrwa verweist auf die von bis wiederholte Verkündigung der Erlasse »Bando per il quale si proibisce usare mali trattamenti, ingiurie, e violenza alla Nazione Ebrea«, die Belästigungen und Tätlichkeiten gegen Juden verboten (Sozialer Protest, S. ). Siehe zu diesem Vorfall: Roberto G. Salvadori, Un tumulto xenofobo a Pisa nel , in: Bolletino storico Pisano , , S. -.
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Er hatte vor allem auch wegen der energischen Intervention des Großherzogs der Toskana ein Nachspiel für die Tumultuanten wie auch für den Magistrat der Stadt Pisa, denn der Auslöser des Tumults, L. Mengozzi, wurde als Hauptverantwortlicher angeklagt, und der Täter wurde zu fünf Jahren öffentlicher Arbeit verurteilt und ihm wurde am Ort seiner Tat der Kopf kahlgeschoren. Die weiteren etwa dreißig angeklagten Tumultuanten wurden in die Verbannung geschickt, mussten einige Tage Gefängnis verbüßen oder wurden öffentlich ausgepeitscht. Der Großherzog intervenierte mit einem Schreiben an den Magistrat von Pisa, in dem er den befremdlichen und skandalösen Tumult verurteilte, aber auch scharf das zögernde Eingreifen der Behörden kritisierte, die nicht rechtzeitig gegen die Zusammenrottung der Tumultuanten vorgegangen seien und so die folgenden Ausschreitungen zu lange zugelassen hätten. Er entsandte einen Kommissar des höchsten Gerichts zur Untersuchung nach Pisa, der ihm Ende des Monats einen Bericht vorlegte.5 kam es dann in der Toskana jedoch zu Unruhen, die weit über das in den genannten Fällen sichtbar gewordene Ausmaß an Gewalt hinausgingen. Der Ausgangspunkt der Unruhen lag in diesem Fall nicht in einem spezifisch christlichjüdischen Konflikt begründet, sondern es handelte sich zunächst um einen Protest der Unterschichten gegen die jansenistische katholische Reformbewegung und die Kirchenpolitik des Großherzogs Peter Leopold, vor allem gegen die Auflösung der christlichen Bruderschaften, die Profanierung von deren Kapellen zu Warenlagern sowie die Veränderungen kirchlicher Zeremonien.6 Ein weiteres Ärgernis für die Unterschichten waren die wegen der Einführung des freien Getreidehandels steigenden Lebensmittelpreise, die vor allem in Florenz den Anlass für die Unruhen bildeten. Die Unruhen brachen zuerst Ende April in Pistoia aus, wo der jansenistische Bischof seinen Sitz hatte, und richteten sich nicht gegen Juden.7 In Livorno brachen Unruhen am . Mai aus. Auch wenn vor den Unruhen in Livorno, das eigentlich als »Paradies der Juden« galt, und Florenz eine gewisse Missstimmung gegenüber den Juden geherrscht hatte, so haben wir es im Kern mit einer Verschränkung von Normen- und Subsistenzprotesten zu tun, in denen die Wiederherstellung der herkömmlichen religiösen Traditionen und »gerechte Preise« gefordert wurden, während typische antijüdische Konfliktanlässe wie Ritualmordvorwürfe, Hostienfrevel, Wucher etc. fehlten. In Livorno kam das Judenviertel als Ziel der Ausschreitungen erst ins Spiel, als das Gerücht auftauchte, dass Teile des Marmors, die in einer der geschlossenen und nun von der Menge wiedereröffneten Kapelle fehlten, in der Synagoge verbaut worden seien.8 Die Menge zog zur Synagoge, Salvadori, Un tumulto xenofobo a Pisa, S. . Dazu auch Wyrwa, Juden in der Toskana, S. . Wyrwa, Sozialer Protest, S. . Die Unruhen griffen auch auf Prato über, wo keine Juden lebten. Dies belegt den abgeleiteten Charakter der antijüdischen Unruhen. Wyrwa, Juden in der Toskana, S. f. Die Tatsache, dass man auch die griechisch-orthodoxe Kirche angriff, in der man ebenfalls Marmor aus der aufgelösten eigenen Kirche vermutete, belegt den abgeleiteten Charakter der antijüdischen Krawalle (Wyrwa Sozialer Protest, S. ). Diese Ausschreitungen am
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AUSSCHREITUNGEN GEGEN JUDEN IN ITALIEN
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um die Marmorplatten herauszubrechen. Das Angebot der jüdischen Gemeinde, durch Spenden die Ruhe wiederherzustellen, war vergebens, so dass sie Soldaten zur Hilfe rief, durch deren Einsatz vier Tumultuanten getötet, weitere verletzt wurden. Daraufhin attackierte ein Teil der Menge die Soldaten, während ein anderer Teil plündernd durch das Judenviertel zog und die Fenster der Häuser einwarf, wobei Personen nicht zu Schaden kamen. Die Menge plünderte aber die Kanzlei der jüdischen Gemeinde, drang in die Synagoge ein, in der man einen Kultgegenstand aus dem Oratorium einer der aufgelösten Bruderschaften vermutete, und nahm einen großen silbernen Leuchter mit. Nachdem der Streit zwischen den Tumultuanten und der jüdischen Gemeinde durch einen Offizier geschlichtet worden war, entstand wiederum durch ein Gerücht, es sei in der Via degl’ebrei zu einem Massaker gekommen, erneut eine bedrohliche Situation, da nun die Menge nochmals ins Judenviertel eindrang. Erneut konnte der genannte Offizier die Menge beruhigen.9 Nachdem die Ruhe wiederhergestellt worden war und die Protestierer sich mit ihren Forderungen nach der Restitution der Bruderschaften durchgesetzt hatten, gaben sie die Marmorplatten und andere geraubte Gegenstände an die jüdische Gemeinde bzw. deren Besitzer zurück, auch dies ein Zeichen dafür, dass die Juden nicht als Juden das Ziel des Protests waren. Der Erfolg dieser Aktionen ließ die Unterschichten nach Ulrich Wyrwa eine neue Forderung erheben, nämlich erneut eine Behörde zur Kontrolle der Lebensmittelpreise und -qualität einzuführen. Da die Regierung entsprechende Maßnahmen traf, konnten in Livorno weitere Unruhen vermieden werden, während es nun in Florenz aufgrund jener Konflikte um Lebensmittelpreise zu Unruhen kam. Auch wenn wiederum die Juden nicht das primäre Ziel darstellten, so kamen doch auch hier Gerüchte auf, das Ghetto solle geplündert werden. Tatsächlich griffen die Tumulte, die zunächst anderen Ladenbesitzern gegolten hatten, auf das Ghetto über und es kam zu Plünderungen und Diebstählen, obwohl der Florentiner Bischof die Aufständischen davon abzuhalten suchte. Die Bürgerwehr der christlichen Händler sowie herbeigerufene Wachbataillone der Stadt konnten am Abend des . Juni die Ruhe wiederherstellen.10 Es ist bemerkenswert und bildet einen deutlichen Unterschied zur Situation im Elsass und in den deutschen Staaten, dass den bedrängten Juden sowohl von kirchlicher Seite wie von den christlichen »Konkurrenten« Schutz und Hilfe gewährt wurden. Ulrich Wyrwa betont zu Recht, dass diese Unruhen keine Reaktion auf die aufgeklärte Judenpolitik des Großherzogs waren, also keine explizit politische Ursache hatten. Sie waren weder ein Protest gegen die Emanzipation der Juden in der Toskana noch finden sich Hinweise, dass es einen Zusammenhang mit der Französischen Revolution gab. Auf der anderen Seite machen sie aber deutlich, . Mai wurden nach Jean-Pierre Filippini auch als »rivolta di Santa Guilia« bezeichnet (Difesa della patria e odio degli Ebrei). Il tumulto del Iuglio a Livorno, in: Ricerce storico , S. -. Wyrwa, Juden in der Toskana, S. . Wyrwa, Sozialer Protest, S. f.
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wie schnell sozialer Protest sein Ziel in den Juden finden konnte.11 Die Unruhen in der Toskana entsprechen also einem Typ antijüdischer Unruhen, den wir im frühen . Jahrhundert auch anderswo in Europa finden, in dem sich ein gegen die Verletzung religiöser Traditionen oder von Standards der »moral economy« der Unterschichten gerichteter Protest in Ausschreitungen gegen die Kirche und den Adel oder gegen Maßnahmen des Herrschers auch gegen Juden wenden konnte. Einen politischen Hintergrund hatten die Unruhen in der Toskana im Jahre .12 Nach der »Befreiung Italiens« durch Napoleon im Jahre war dieser mit dem habsburgischen Großherzog Ferdinand III. zu einem stabilen Kompromiss gekommen, da er sich auf die zeitweilige Besetzung des Hafens von Livorno beschränkte. Es blieb zwei Jahre lang ruhig, auch wenn die französischen Truppen sich Übergriffe auf die Religion erlaubten und den Klerus finanziell auspressten. Die Stadtbevölkerung litt aber zunehmend unter Versorgungsproblemen, was zur Unzufriedenheit auch auf dem Lande führte. Die Ausbeutung seitens der Franzosen ließ die religiösen Gefühle wachsen, in Opposition zu den französischen »Jakobinern« ließ man den katholischen Großherzog ostentativ hochleben. Dies hatte zur Folge, dass man sich auch gegen die »Nazione ebrea« wandte, die man als Sympathisanten der Franzosen ansah, zumal Napoleon ein Bündnis mit führenden Juden in Livorno und Florenz anstrebte, was diese in einen Loyalitätskonflikt zwischen den Franzosen und dem Großherzog brachte. Die Rechtsstellung der Juden änderte sich in dieser Zeit zwar nicht, aber Napoleon gewährte ihnen nun Zugang zur Nationalgarde, was eine enorme symbolische Aufwertung bedeutete und einen ausgesprochen negativen Effekt hatte, da nun zu der traditionell-religiösen Ablehnung von Juden ein neues Motiv hinzutrat: »das Bild des bewaffneten Juden«.13 Als sich die französischen Truppen nach der Niederlage Napoleons in der Schlacht von Abukir kurzzeitig aus Italien zurückziehen mussten, fanden im April überall in der Toskana konterrevolutionäre Feste statt, auf denen man die gerade von den Franzosen und ihren jakobinischen Parteigängern gepflanzten Freiheitsbäume fällte und Häuser von Jakobinern bedrohte. Am . Mai kam es schließlich zu einem Aufstand in Arezzo, wo man den Freiheitsbaum fällte, Embleme der französischen Herrschaft zerstörte und Jakobiner festnahm, darunter auch eine ganze Reihe von Juden, gegen die man bereits gezielt vorging. Arezzo, wo sich mit kirchlichem Segen eine »Art Unterschichten-Miliz« gebildet hatte, wurde zum Ausgangspunkt der »Viva Maria-Bewegung«.14 Aus dem einfachen Volk gebildete Ebd., S. . Wyrwa zitiert eine zeitgenössische Stimme (Francesco Maria Gianni, Memoria sul tumulto accaduto in Firenze del Giugno , in: ders., Scritti di pubblica economica storico-economici e storico-politici, Bd. , Firenze , S. -), die auf die antijüdischen Dispositionen der Bevölkerung hinwies, die schon beim kleinsten Anzeichen von Judenfeindschaft durch die Regierung in Aversion und Gewalt gegen die Juden umschlagen könnten. Dazu im Folgenden: Viterbo/Oberdorfer, : Un Pogrom in Toscana. Wyrwa, Juden in der Toskana, S. . Ebd.
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Scharen, die ihre Anführer in gewaltbereiten Stadtbewohnern fanden, bildeten unter dem Kriegsruf »Viva Maria« eine Volksbewegung gegen die Franzosen, die in und um Arezzo für einige Monate auch Florenz und weite Teile der Toskana unter ihre Kontrolle brachte. Im Zuge dieser Bewegung wurden die Juden Opfer extrem judenfeindlicher Gewaltausbrüche, wie man sie vorher dort nicht gekannt hatte.15 Eine antijüdische Stimmung in der Landbevölkerung hatte es, wie der Dichter Salomone Fiorentino aus Monte San Savino bereits im Dezember schrieb, schon vorher gegeben, und es war in der Umgebung von Arezzo zu Bedrohungen und Misshandlungen von Juden gekommen.16 In Monte San Savino brachen in der Nacht vom . auf den . Juni antijüdische Unruhen aus, als Bauern das Ghetto stürmten und die Türen der Häuser einschlugen, Silber aus der Synagoge stahlen und Jüdinnen bedrohten. Dies schuf für die dortigen Juden eine gefährliche Situation, zumal es keinen Schutz seitens des Staates gab,17 im Gegenteil wurden nicht die Tumultuanten, sondern mehrere Juden festgenommen. Als die Angriffe gegen die Juden fortdauerten, verhängte die provisorische Regierung eine Ausgangssperre für Juden, ja verfügte Ende Juni sogar die Ausweisung der gesamten jüdischen Bevölkerung des Ortes.18 Einige Juden waren nach Florenz und Siena geflüchtet in der Hoffnung, dort Schutz zu finden. In Siena kamen sie jedoch vom Regen in die Traufe und erlebten noch gewalttätigere Ausschreitungen als in Arezzo und Monte San Savino. Es waren Aufständische aus Arezzo, die bei ihrem Einrücken in Siena am . Juni , unterstützt durch Teile der einheimischen Unterschicht, in das Ghetto eindrangen, Häuser und Geschäfte zerstörten und Juden misshandelten. Danach drangen sie in die Synagoge ein und raubten bzw. zerstörten deren Inneneinrichtung. Sie erschlugen dort mehrere Juden. Auch auf der Straße wurden weitere Juden ermordet. Man geht von einer Zahl von Toten aus. Anschließend hätten sie die Körper der Getöteten, möglicherweise zusammen mit einem Freiheitsbaum, auf einem Scheiterhaufen auf dem Campo Santo verbrannt.19 Eine zeitgenössische Darstellung der Unruhen durch dem Geistlichen Giovanni Battista Crisolino20 gab eine sehr verständnisvolle Lesart der Vorgänge in Siena: Das Volk sei unter »Viva Maria«-Rufen zusammengeströmt und habe sich von der Last, die Vgl. dazu das Kapitel Viva Maria oder »Die Jagd auf die Juden«, in: Wyrwa, Juden in der Toskana, S. -. Viterbo/Oberdorfer zitieren den Brief von Salomone Fiorentino, einem Juden aus Monte San Savino, einem Ort in der Nähe Arezzos, der die schwierige Situation der Juden schilderte (Un Pogrom, S. f.) Ebd., S. f. Wyrwa, Juden in der Toskana, S. . In einer anderen zeitgenössischen Darstellung ist aber davon die Rede, dass die Juden den Ort aus Furcht verlassen hätten (ebd.). Wyrwa, Juden in der Toskana, S. ; für die Verbrennung dieser ermordeten Juden ist nach Wyrwa in einer Schrift von E. A. Brigidi (Giacobini e realisti, aus dem Jahre , zum ersten Mal der Begriff »Holocaust« benutzt worden (»Holocaust«. Notizen zur Begriffsgeschichte, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung , , S. -). Insurrezione dell inclita a valorosa città di Arezzo mirabilmente seguita il die maggio , Bd. , Città di Castello , S. f.
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ihm auf dem Herzen lag, erlöst. Es habe den »närrischen Freiheitsbaum« ins Feuer geworfen. Danach habe man die Juden als »Widersacher der katholischen Religion« angegriffen und ihre Häuser und Geschäfte geplündert, wobei auch einige Juden erschlagen worden seien, deren »verabscheute Kadaver« man in das noch vom Freiheitsbaum brennende Feuer geworfen habe.21 Auch in Florenz war die Lage für die Juden in dieser Zeit äußerst bedrohlich. Dies belegt ein überliefertes Flugblatt, in dem den »bösartigen und verfluchten Juden« (ebrei maligne et maledetti) vorgeworfen wird, die kaiserliche Armee verraten und Partei für die Franzosen ergriffen zu haben. Man warnte sie (»wehe euch«), wenn sie nicht die bald einrückenden aretinischen Aufständischen unterstützten. Ansonsten drohte das Flugblatt die Plünderung des Ghettos und die Vertreibung der Juden aus der Stadt an.22 Besonders bedrohlich wurde die Lage, als sich die französischen Truppen aus der Stadt zurückziehen mussten und es zu konterrevolutionären Akten kam, die in den anderen Städten ja oft den Auftakt zu antijüdischen Übergriffen gebildet hatten. Die jüdische Gemeinde hatte aber, gewarnt von den Ereignissen in San Savino und Siena, Vorsorge getroffen und Wachen im Ghetto postiert. Dies und die Unterstützung des Florentiner Bischofs verhinderten das Übergreifen der Aktionen auf das Ghetto.23 Als die Franzosen schließlich am . Juli auch Livorno aufgeben mussten, drohte sich dort das Szenario zu wiederholen. Viele der aktiven Jakobiner, darunter auch einige Juden, flohen aus der Stadt. Sogleich begannen Aufständische in Livorno den Freiheitsbaum im jüdischen Viertel zu fällen, und man schreckte die Juden mit Drohungen, schlug ihre Fenster ein und riss die an den Häusern angebrachten Symbole der französischen Herrschaft herunter. Dem Beispiel der anderen Tumulte folgend, begann das Volk auch hier Marmorplatten von den Wänden der Synagoge abzuschlagen. Als am . Juli der Freiheitsbaum auf dem Hauptplatz von Livorno gefällt wurde, drohten weitere Angriffe auf das Ghetto, sie konnten aber von Truppen abgewehrt werden. »Tod den Juden!«-Rufe hallten an den folgenden Tagen durch die Straßen, und man nahm als Jakobiner bekannte Personen fest, darunter auch Juden, die im Unterschied zu den Christen länger in Haft bleiben mussten und auch schwerer bestraft wurden.24 Aber damit waren die antijüdischen Unruhen in Livorno noch nicht zu Ende. Bevor die französischen Truppen im Juli wieder in Livorno einrückten, folgten die Livorner Unterschichten, die den Franzosen wenig Sympathie entgegenbrachten, einem Befehl zur Massenaushebung von Wehrfähigen und begannen am . Juli das Waffendepot der Stadt zu plündern und sich zur Verteidigung ihrer Stadt zu bewaffnen.25 Ein Teil drang ins nahe gelegene jüdischen Viertel ein, weil
Wyrwa, Juden in der Toskana, S. . Der Text des Flugblattes ist abgedruckt in: Viterbo/Oberdorfer, Un Pogrom, S. . Wyrwa, Juden in der Toskana, S. . Ebd., S. f. Filippini, Difesa della patria, S. . Verschärfend hatte sich auch ausgewirkt, dass die Königin von Neapel die Stadt wegen der herannahenden Franzosen vorzeitig verlassen musste, was die antifranzösische Stimmung noch mehr anfachte (ebd., S. ).
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sie annahmen, Juden hätten Waffen versteckt, da sie neuerdings in der Nationalgarde dienen durften.26 Bei dieser Suche wurden Mobiliar zerstört und Wertsachen geraubt, wobei die Eindringlinge mit großer Brutalität (»i’atroci attentati«) vorgegangen sein sollen, wie der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in zahlreichen Eingaben schilderte,27 wobei allerdings trotz der verbalen Drohungen kein Jude getötet wurde.28 Die Juden besaßen keine Waffen und leisteten auch keine Gegenwehr, sondern suchten sich in ihren Häusern zu verschanzen, zum Teil allerdings vergeblich.29 Dass dieser Tumult nicht so blutig verlief wie einige der anderen zuvor, lag nach Filippini daran, dass die Autoritäten der Stadt dieses Vorgehen nicht billigten, die Unterschichten ihnen eine gewisse Loyalität entgegenbrachten und dass die Ordnung durch den schnellen Einsatz von Soldaten und Freiwilligen aus der Livorner Bürgerschaft bald wieder hergestellt wurde.30 Dieser Einsatz und das Verhalten der Autoritäten sieht Filippini als Beleg dafür, dass Antijudaismus nicht in der gesamten, ja vielleicht nicht einmal bei der Mehrheit der Livorner Bevölkerung verbreitet war.31 Auch die Tumultuanten gaben an, im Judenviertel nur nach Waffen gesucht und aus Neugier gehandelt zu haben.32 Deshalb verzichtete die Justiz auch auf die Bestrafung der angezeigten Täter, zumal ihre Beteiligung nur schwer nachweisbar war und man keine Unschuldigen bestrafen wollte. Es bleibt aber die Tatsache, dass die »Nazione ebrea« Stunden der Angst durch diese Manifestation des toskanischen Patriotismus und des Hasses seitens der städtischen Unterschichten erlebte (die man als »Veneziani« bezeichnete) – so das Resümee von Jean-Pierre Filippini.33 Die beraubten Juden bekamen nur einen kleinen Teil des Geraubten wieder zurück, so dass der Tumult sie auch materiell erheblich schädigte.34 Nach Filippini war das Eindringen von Livornern in das jüdische Ghetto eine »Expedition in ein unbekanntes Land«, das viele vorher noch nie betreten hatten (ebd., S. ). Ebd., S. , zum Vorgehen der Tumultuanten im Einzelnen S. f. »Insomma ci sono numerossissimi esempi di parole e atti violenti che gli ebrei hanno dovuto subire durante l’invasione del loro quartiere. Però, malgrado di violenza delle parole, nessuno dei rivoltosi ha mai tentato di uccidere un ebreo« (ebd., S. ). Ebd., S. f. Juden, die ihre Häuser freiwillig öffneten und sich der Suche nach Waffen nicht widersetzten, erlebten keine Gewalt. Bei denjenigen, die ihre Türen verschlossen hielten, drangen die Tumultuanten mit Gewalt ein, und es kam zu Übergriffen und verbalen Drohungen, da die Eindringlinge durch deren Widerstand irritiert waren (S. ). Filippini resümiert dazu: »In quanto alle forze dell’ordine, sono intervenute il più presto possibile e non hanno dimostrato nessuna compiacenza verso i tumultuanti«. So konnten die Freiwilligen und die Soldaten zwar nicht alles Hab und Gut der Juden beschützen, doch befreiten sie diese von der Bedrohung durch die Tumultuanten und retteten so vielleicht deren Leben (Difesa della patria, S. , ). Ebd., S. . Der Gouverneur soll die Juden immer als eine Bevölkerungsgruppe angesehen haben, die für das Prosperieren der Hafenstadt unverzichtbar sei (»elemento dispensabile alla prosperità del porto labronico«). Ebd., S. . Ebd., S. . Die Täter waren meist von nicht beteiligten Livornern angezeigt worden, während die betroffenen Juden Täter nur in Ausnahmefällen identifizieren konnten oder wollten (ebd., S. ).
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In den antijüdischen Ausschreitungen der bäuerlichen und städtischen Unterschichten verband sich der traditionelle religiöse Hass auf die »Feinde der katholischen Religion« mit der gegen die Französische Revolution und die französische Besatzung gerichteten Feindschaft. Ein Hauptziel bildeten dabei die Jakobiner, zu denen auch nicht wenige Juden zählten. Filippini hält Antisemitismus oder besser Antijudaismus vor allem unter den weniger Besitzenden für eine seit langem verbreitete Einstellung. Juden erschienen ihnen als Parteigänger der Franzosen und somit als Verräter am Großherzog. Schon der Ablauf der Unruhen, die ihren Ausgangspunkt meist mit dem Fällen eines Freiheitsbaumes nahmen, weist auf diesen engen Zusammenhang hin. Hinzu kam nach Ulrich Wyrwa auch das neue und herausfordernde Bild des »bewaffneten Juden«, das dem gängigen Klischeebild vom wehr- und waffenlosen Juden widersprach.35
Wyrwa, Juden in der Toskana, S. f. Wyrwa weist hier noch auf eine interessante sprachliche Formulierung hin, da nach dem Vorbild der »perfiden Juden« (»pro perfidis Judaeis«) im Karfreitagsgebet nun die Verbindung »giacobini perfidi« aufgetaucht sei. Es habe auch die Formulierung von den Juden als den »doppelten Jakobinern« gegeben (ebd.).
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. Abwehr der Konkurrenz: Antijüdische Ausschreitungen in Warschau Die Warschauer Ausschreitungen des Jahres , die ein isoliertes Vorkommnis waren, richteten sich ebenfalls gegen Statusverbesserungen der polnischen Juden und waren eng mit der polnischen Debatte der »Judenfrage« verbunden. Auch in Polen war die Diskussion um die Modernisierung des Landes, die von Beamten und Publizisten verfochten wurde, eng mit der Frage der »bürgerlichen Verbesserung« der Juden verknüpft, die von den Reformanhängern wegen der »ethischen Entartung der Juden« als dringend erforderlich angesehen, jedoch verschieden interpretiert wurde.1 Piotr Kendziorek weist auf die im Vergleich zu Westeuropa abweichenden demographischen, wirtschaftlichen und ideologischen Kontexte hin, in denen diese Debatten geführt wurden. Der polnische Staat wurde durch seine beiden Nachbarn in seiner Existenz bedroht (polnische Teilungen), und die feudale Wirtschaft und das besondere politische System des adligen Republikanismus mit einer schwachen Position des Königs steckten in einer tiefen Krise. Die Juden, die mit - der Bevölkerung im täglichen Leben sehr viel präsenter waren als in Westeuropa, nahmen als typische »middleman minority« wichtige Funktionen sowohl in der adligen Verwaltung (als Pächter, Schankwirte, Käufer) wie als Geldund Warenvermittler in den Marktbeziehungen einer feudalen Wirtschaft ein. Der Adel war also auf die Juden angewiesen, die er aufgrund ihrer kommerziellen Tätigkeiten zugleich aber auch verachtete. Das schwach entwickelte polnische Bürgertum war kein Träger liberaler Ideen, sondern fürchtete die wirtschaftliche Konkurrenz der Juden.2 In der Phase des Vierjährigen Sejm von - wurde die »Judenfrage« erstmals öffentlich diskutiert, dabei ging es nicht nur um die konfessionelle Differenz, sondern auch um wirtschaftliche und politische Aspekte. Für bürgerliche Aufklärer, wie den katholischen Priester Stanisław Staszic, die sich für die Rechte der Stadtbürger einsetzten, spielten die Juden bei der Entwicklung der Städte eine negative Rolle. Ihre wirtschaftliche Tätigkeit hatte ihrer Meinung nach katastrophale Folgen für die soziale Situation der Bauern und des städtischen Standes, wobei der Adel als deren Verbündeter galt, da er die jüdischen Ausbeutungspraktiken im eigenen Interesse zulasse und die Juden privilegiere.3 Der Konflikt in Warschau bildete ein Glied in einer Kette von Auseinandersetzungen zwischen der Szlachta, dem herrschenden polnischen Adel, und den mit ihnen eng verbundenen Juden auf der einen und der christlichen Stadtbevölkerung auf der anderen Seite, deren Privilegien als Einwohner königlicher Städte den poli Dazu und zum Folgenden: Piotr Kendziorek, Auf der Suche nach der nationalen Identität: Polnische Debatten um die »Judenfrage«, in: Andreas Reinke et al., Die »Judenfrage« in Ostmitteleuropa. Historische Pfade und politisch-soziale Konstellationen, Berlin , S. -, hier S. ff. Ebd., S. . Ebd., S. . Staszic hatte sich in seinem Buch Przestrogi dla Polski (Warnungen für Polen) gerade in dieser Weise geäußert.
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tischen und ökonomischen Interessen der Szlachta entgegenstanden.4 Von Mitgliedern der Szlachta und von jüdischer Seite bestanden Interessen, den Einfluss auf die Städte auszuweiten, in denen die Wirtschaft immer noch von den christlichen Gilden monopolisiert wurde. Diese Fragen standen u. a. auf der Tagesordnung des sog. Vierjährigen Sejms, der von bis in Warschau tagte. Im Dezember ergriffen polnische Bürger unter Führung Warschaus die politische Initiative. In der sog. Schwarzen Prozession fuhren die Deputierten der Städte, allesamt in schwarze Röcke gekleidet, in einer Kolonne von fünfzig Kutschen zum königlichen Schloss und übergaben dem König Stanislaus August das »Memorandum über die Vereinigung der Städte«, in dem sie die politische Partizipation der Bürger Polens forderten. Der antibürgerliche Flügel des Adels wollte diese Partizipation jedoch mit allen Mitteln verhindern, indem er sie gegen die Gleichstellung der Juden ausspielte, die wiederum von den Stadtbürgern abgelehnt wurde.5 So hatte Michał Swinarski in seinem Buch Darstellung der Rechte der Stadt Warschau gegenüber den Juden und der von ihnen geforderten Lokalisierung in dieser Stadt6 die Niederlassungsbeschränkungen verteidigt und dabei die »Rolle der Juden in der Gesellschaft in apokalyptischen Bildern beschrieben«.7 Er wandte sich mit seinem Buch gegen eine Schrift, in der sich die Warschauer Juden an den König und das Parlament gewandt und um die freie Zulassung zu den Städten gebeten hatten, wobei sie ihre wirtschaftliche Nützlichkeit betont hatten.8 Die antijüdischen Ressentiments der Bürger waren eng mit den politischen und ökonomischen Interessen verbunden, sie stellten nach Ekaterina Emiliantseva einen Dazu und zum Folgenden Krystyna Zienkowska, ›The Jews Have Killed a Tailor‹. The Socio-Political Background of a Riot in Warsaw in , in: Polin , , S. -, hier S. f. Ekateria Emiliantseva, Der fremde Nachbar. Warschauer Frankisten in der Pamphletliteratur des polnischen Vierjährigen Sejm (-), in: Alexandra Binnenkade/Ekaterina Emiliantseva/Svjatoslav Pacholvic, Vertraut und fremd zugleich. Jüdisch-christliche Nachbarschaften in Warschau – Lengnau – Lemberg, Köln, Wien , S. -, hier S. . Kendziorek, Auf der Suche, S. . Der polnische Buchtitel lautet: Ekspozycja praw miasta Warszawy względem Żydów oraz odpowiedź na źadąną przez nich w tymże mieście lokacją. Swinarski schrieb: »Die in die Städte und Kleinstädte eingedrungenen Juden haben – wegen ihres natürlichen Hasses den Christen gegenüber – die einen mithilfe von tausendfachen Tücken zugrunde gerichtet, die anderen trunksüchtig gemacht, und die Städte von allem beraubt, auch der Bevölkerung« (Kendziorek, Auf der Suche, S. ). Selbst in aufgeklärteren und toleranteren Schriften aus der Sicht des Bürgertums wurde aber die Befürchtung geäußert, dass »die Zulassung von Juden in Warschau unweigerlich zum Ruin der Stadt führen werde, was die Juden auch beabsichtigten« (ebd., S. ). Eine positive Sichtweise, die die jüdische Vermittlerfunktion als notwendige Form der Arbeit und als wichtig für die Modernisierung der Wirtschaft betonte, war nach Kendziorek auf polnischer Seite selten anzutreffen (ebd., S. ). Auch Markowski vertritt die Ansicht, dass in den ersten Warschauer Pogromen von (?), und die Wahrnehmung der Juden als ökonomisch schädlich und antichristlich eingestellte Gruppe eine enorme Rolle gespielt habe (Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, S. ). Kendziorek, Auf der Suche, S. f.
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starken Mobilisierungsfaktor in der Auseinandersetzung mit dem Adel dar.9 Was Warschau betrifft, so galt formal immer noch das alte Ansiedlungsverbot für Juden (das Privileg de non tolerandis Judaeis), doch wurde dies durch eine ganze Reihe von Konzessionen unterlaufen, wie dem Ansiedlungsrecht in der Provinz Masowien, dem Recht, sich vor den Toren Warschaus anzusiedeln, dort Handel zu treiben, was während der Sitzungen des Sejm auch Warschau selbst einschloss. Auch wenn das Ansiedlungsverbot de jure weiterhin galt und der Status der Juden in Warschau unsicher blieb, so siedelten sich faktisch immer mehr Juden in der Stadt an. Ging es also im Kern um einen Konflikt zwischen den widerstreitenden Interessen der Szlachta und der Stadtbürger, die ihr Handels- und Handwerksmonopol verteidigten, so waren die Juden eng in den Konflikt eingebunden.10 Krystyna Zienkowska sieht neben dem wachsenden Zuzug von Juden in der Stadt noch eine Reihe weiterer Gründe, die in den er Jahren zur Verschärfung des Konflikts bis hin zu seiner gewaltsamen Austragung beitrugen: die Untätigkeit des Polizeidepartments, die Apathie der städtischen Obrigkeit sowie die Hungerkrise von - aufgrund einer Folge von Missernten.11 Der beständige Zuzug von Juden, auch wenn die Zahl der bereits ansässigen von den Warschauern überschätzt wurde, das fremdartige Aussehen und Benehmen der z. T. aus Galizien zuwandernden Juden, ihr abweichendes Geschäftsgebaren, nämlich die Waren aktiv an den Kunden zu bringen und nicht im eigenen Laden oder Werkstatt auf Kundschaft zu warten, sowie der beständige Druck seitens der einflussreicheren Juden hin auf eine Legalisierung der Anwesenheit in der Stadt führten zur Gegenreaktion der sich bedroht fühlenden christlichen Händler und Handwerker, deren Eingaben an die Obrigkeiten erfolglos blieben. Zwar wurden in einem neuen Dekret die alten restriktiven Ansiedlungsbedingungen für Juden bestätigt, doch blieb dies faktisch wirkungslos. In einem Memorandum der Gilden an den König Stanislaw August () bat man um Gnade und Gerechtigkeit und sah den Grund für die eigene Misere in der wachsenden jüdischen Konkurrenz auf allen wirtschaftlichen Gebieten. »From the content of the memorandum it emerges quite clearly that a situation of increasing conflict was developing in Warsaw. The city’s population felt seriously threatened: by fear of loss of income, work, even one’s whole fortune; an increasing sense of legal impotence within the existing situation – these were attitudes which generated hostility, and led to open conflict.«12 – Wir haben damit eine typische Situation vorliegen, in der sozialer Protest in einen Angriff auf die Emiliantseva, Der fremde Nachbar, S. . »The fact that the privileges of Warsaw burghers were being infringed de facto at the time and increasingly threatened de jure, had a more than passing significance in the growth of anti-Jewish hostility« (Zienkowska, The Jews, S. ). So teilte der Magistrat von AltWarschau den Handwerkern der Stadt mit, dass man ihre Gilden auflösen wollte und verfügte zugleich, dass sie eine Gebühr zu entrichten hätten, wenn sie gegen jüdische Kaufleute vor einem Warschauer Stadtgericht Klage erhoben (ebd., S. ). Ebd., S. . Ebd., S. .
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Minderheit münden kann, die als Bedrohung des eigenen Status und der ökonomischen Existenz betrachtet wird. Gewalt erscheint als letztes legitimes Mittel, um eine als illegitim angesehene Konkurrenz und Bedrohung abzuwehren, zumal wenn zwischen den Gruppen eine so große kulturelle Distanz bestand wie zwischen den katholischen Polen und den Juden. Nachdem sich in der Stadt die Vertreter der Stadt gegen den Starosten mit ihrer Forderung durchgesetzt hatten, den bisherigen Präsidenten Jan Dekert ohne Wiederwahl zu bestätigen, fühlten sich Vertreter der Handwerker im März ermutigt, ihre Feindseligkeit gegenüber den Juden lautstärker vorzubringen. Einige Rädelsführer, die in Kneipen und bei privaten Treffen mit andern Gildenmitgliedern drohten, die Juden aus der Stadt zu treiben, fanden dafür Widerhall in den Gilden, so dass sie sogar offiziell damit beauftragt wurden, mit dem Magistrat über diese Frage zu verhandeln. Am . März kam es dann, während die Warschauer Deputation des Sejm im Rathaus tagte, zu einer Demonstration von mehren hundert Menschen, vor allem aus den Gilden der Schneider, Kürschner und Kupferschmiede. Die Lage war so bedrohlich, dass Soldaten zum Schutz aufgeboten werden mussten. Es kam zu Verhandlungen, in denen die Vertreter der Gilden die Ausweisung der jüdischen Kleinhändler und Handwerker forderten, eine Forderung, der die Deputation der Stadt Warschau und ein Vertreter des Polizeidepartments feierlich versprachen, in naher Zukunft nachzukommen. Ausgenommen werden sollten nur die Kaufleute und diejenigen mit einem Aufenthaltsrecht in der Stadt. Tatsächlich verfügte eine öffentliche »Akklamation« des Vertreters der Krone (Marszałek wielki koronny), dass neben den jüdischen Kleinhändlern und Handwerkern auch Christen, die ihren Handel und ihre Handwerke ohne Zustimmung der Gilden betrieben, sowie Bettler und andere Personen ohne ausreichenden Lebensunterhalt die Stadt verlassen müssten. Dennoch war allen klar, dass diese Maßnahme sich primär gegen die Juden richtete und dass das Polizeidepartment dem Druck der Warschauer Bevölkerung nachgegeben hatte. Die Akklamation wurde mehrfach wiederholt, es gab Hausdurchsuchungen nach illegalen Zuwanderern und die Wachen eskortierten Juden hinaus aus der Stadt, dabei unterstützt von den Unterschichten. Dennoch wurde diese Ausweisungspolitik wenig energisch verfolgt, vor allem wollte man angesichts der bevorstehenden Sitzungen des Sejm, in dem die Juden starke Fürsprecher besaßen, nicht zu hart vorgehen. Angesichts dieser Politik fühlte sich die Warschauer Bevölkerung getäuscht, und die Bürgerelite der Stadt verlor ihren mäßigenden Einfluss: »The authorities played the wrong card and lost control over events«.13 Am . April kam es anlässlich einer Sitzung des Magistrates wiederum zu Demonstrationen und der Forderung, die Juden innerhalb von drei Tagen auszuweisen. Der Magistrat verfolgte eine Hinhaltetaktik, indem er die Handwerker aufforderte, ihre Forderungen schriftlich einzureichen. Dies geschah, und in dem Brief forderten die Gilden von der städtischen Obrigkeit, sie solle den Marszałek Zienkowska, The Jews, S. .
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wielki koronny dazu bringen, die Akklamation, auch konsequent umzusetzen, dies wurde mit der Forderung verbunden, bei den Hausdurchsuchungen mitzuwirken und Posten an den Toren aufzustellen, die eine Rückkehr der ausgewiesenen Juden verhindern sollten. Der Brief war ein klarer Ausdruck des Misstrauens der Bevölkerung in die staatlichen Autoritäten. Nach Auffassung von Zienkowska deutet dieses Dokument darauf hin, dass sich hier aus der spontanen Bewegung einer Pressuregroup heraus eine soziale Gruppe zu konstituieren begann, die Kontrolle über die Obrigkeit zu gewinnen suchte und über einen klaren Feind verfügte. »Thus the conspiracy of interest, hatred and fear was strengthened«.14 In der ersten Maihälfte gab es mehrere inoffizielle Treffen der Gilden, bei denen die Obrigkeiten wegen ihrer Untätigkeit heftig angegriffen wurden und sogar mit Streik gedroht wurde. Diese Treffen zeigten Wirkung. Das Polizeidepartment wies kurz darauf am . Mai eine Anzahl von Juden aus. Das Nachgeben nahm in diesem Fall jedoch nicht den Druck aus der Situation, im Gegenteil wurde dies offenbar als Aufforderung zum eigenen Eingreifen aufgefasst. Am . Mai, als sich an dem Sonntagnachmittag viele Menschen versammelt hatten, um einer Vorführung des Ballonfahrers Jean-Pierre Blanchard beizuwohnen, lockte der lautstarke Streit eines christlichen Schneiders mit jüdischen Schneidern und zwei Handelsleuten eine Menschenmenge an, als plötzlich das Gerücht aufkam, die Juden hätten einen Schneider getötet.15 Dieses Gerücht lief durch Warschau, und eine große Menschenmenge, bewaffnet mit Stöcken und Keulen, begann unter dem Vorwand, den Schneider zu suchen, in Häuser von Juden einzubrechen und diese zu verprügeln. Gleichzeitig tagte im Rathaus eine Versammlung der Gildemeister, die ein Memorandum an die Deputation der Stadt Warschau richteten, die Ausweisungsverfügung vom . März nun endlich durchzusetzen. Als die Nachricht vom Aufruhr diese Versammlung erreichte, begaben sich die Gildemeister direkt zum Ort des Aufruhrs, und die Obrigkeit bot Soldaten auf. Als der Ratsälteste schließlich den tot geglaubten Schneider auffand und der Menge präsentierte, bekam man den Aufruhr an seinem Ausgangspunkt unter Kontrolle, doch breitete er sich umso gewalttätiger in anderen Straßen aus, nun vor allem von Handwerkslehrlingen, Arbeitern und Dienern getragen, die sich auch gegen die eingesetzten städtischen Wachen wandten. Abends gegen Uhr waren die Ausschreitungen beendet. Zienkowska betont zu Recht, dass vor allem im letzten Fall die Menge die Wohnungen der Juden nicht nur plünderte, sondern das Eigentum zerstörte, was sie als symbolisches Handeln einstuft, das darauf abzielte, die Position des Feindes zu untergraben. Wie auch in anderen Ausschreitungen dieser Jahre wa Ebd., S. . Die folgende Schilderung folgt ebd., S. f. Nach Zienkowska stellte sich hier – auch für die Obrigkeit – die Frage nach der bewussten Anstiftung zum Aufruhr. Doch selbst wenn dies die Intention gewesen sein sollte, so betont sie zu Recht, dass »it is after all the state of social tensions and conflicts, and the readiness to commit specific (in this case aggressive) collective actions which must be a condition of the success of any provocation and constitute the terms by which it must be defined« (The Jews, S. ).
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ren keine Todesopfer zu beklagen.16 Da die jüdischen Niederlassungen auf einem exterritorialen Gebiet lagen, das der Szlachta und nicht der Stadt gehörte, muss man dies zugleich als Aggression gegenüber der Szlachta als Beschützerin der Juden ansehen, wofür auch spricht, dass man gegen die Soldaten des »Marschalls« vorging, sie also nicht länger als Autoritäten anerkannte.17 Dies zeigte sich auch kurz darauf, als der Magistrat zwei der mutmaßliche Anstifter aus dem Arrest entlassen musste, weil die drohende Menge vor und im Rathaus dies forderte. Obwohl der Sejm den Aufruhr als Straftat einstufte, womit die Gerichte zuständig wurden, und auch sonst versuchte, das Ausmaß der Unruhen zu übertreiben, um der Bürgerbewegung der Stadt zu schaden, wurden schließlich nur zehn Personen verurteilt und erhielten relativ milde Strafen (zwei Jahre Festungshaft für die beiden »Rädelsführer« waren die höchste Strafe), was das Gericht vor allem mit der schwierigen Identifikation von Tätern während eines Pogroms begründete. Ein wichtiger Grund dürfte aber gewesen sein, dass sich in der Bevölkerung kaum Zeugen fanden, da die Solidarität mit den Tumultuanten groß war. Dafür spricht auch, dass von Seiten der Gilden in Briefen an den Magistrat zugunsten der Beklagten interveniert wurde. Da die Zuwanderung von Juden als Verletzung verbriefter Rechte empfunden wurde, fiel die Bewertung der Ausschreitungen ambivalent aus: sie mussten als gewaltsamer Übergriff verurteilt werden, zugleich gab es jedoch Verständnis für die als Gegenwehr gegen die Verletzung der eigenen Rechte gedeuteten Gewalt als »Selbsthilfe«,18 zumal ja von Seiten der Obrigkeiten keine Abhilfe geschaffen worden war, so dass diese ebenfalls zum Ziel des Unmuts wurden. Nicht völlig zu Unrecht sah die Szlachta die Ausschreitungen auch als Rebellion gegen sie selbst, auch wenn die Juden keineswegs nur das Ersatzobjekt gebildet hatten. Die Neuigkeiten über die Ausschreitungen in Warschau verbreiteten sich schnell in den Provinzen, doch blieb eine Pogromwelle aus, was für die Spezifik der Konfliktlage in Warschau spricht. Nur in Łęczyca, einer Kreisstadt in Mittelpolen, Kilometer nördlich von Łódź, kam es im August zu schwereren antijüdischen Unruhen, als mehrere jüdische Gastwirte verprügelt wurden. Hintergrund war ein Konflikt über die städtischen Gastwirtschaften, die der Landrat (Starost) an die jüdische Gemeinde verpachtet hatte. Die Bürger drohten dort an, Ausschreitungen »wie in Warschau« auszulösen.19
Ob neben der ökonomischen Konkurrenz auch religiöse Feindschaft – die Gilden waren schließlich christliche Bruderschaften – und Ablehnung des fremden Lebensstils für die Ausschreitungen eine Rolle gespielt haben, ist schwer zu sagen. Möglicherweise haben Letztere zur Eskalation beigetragen. Zienkowska, The Jews, S. . Ein Verteidiger der Beklagten formulierte dies ganz explizit, wenn er einerseits die Juden als Opfer der Angriffe auf ihre Person und ihr Eigentum bezeichnete, andererseits aber auch feststellte: »The Christian populace suffered violence perpetrated against their privileges, which also harms their fortunes and way of life« (ebd., S. ). Ebd., S. .
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1790
Trotz der Ausschreitungen setzte der Sejm eine Kommission ein, die über die Möglichkeit debattierte, den Juden den Bürgerstatus zu verleihen.20 Im Herbst führten »jüdische Vertreter, die mit der Frage nach der rechtlichen Stellung der Juden vom Sejm beauftragte Kommission, einzelnen Deputierte und der König« eine intensive Diskussion über die Frage, ob man den Juden den Status als Bürger einräumen könne. Die antibürgerliche Opposition im Sejm unterstützte diese Reformpläne, lehnte aber zugleich die »volle Beteiligung der Bürger an den gesetzgebenden Organen des Sejm ab«.21 Der Burgherr von Lokow, Jacek Jeziersky, nutzte die antijüdischen Ausschreitungen der Bürger, die er verurteilte, um damit die Verhandlungen über die Rechte der Städte noch einmal negativ zu beeinflussen.22 Auf diese Verhandlungen reagierten im Herbst einige Bürger mit antijüdischen Schriften, die sich gegen eine Emanzipation der Juden wandten, indem sie die »Defekte« der Juden und aller sonstigen »Schädlinge«, worunter Frankisten, Wucherer und Bankiers fielen, anprangerten.23 Nach Emiliantseva waren die antijüdischen Ressentiments, die mit diesen Schriften angestachelt werden sollten, eng mit den politischen und ökonomischen Interessen der Bürgerschaft verbunden und stellten einen »starken Mobilisierungsfaktor in der Auseinandersetzung mit dem Adel dar«, denn Stadtbürgerechte sollten nur Christen zustehen.24 Dass die Beziehungen zwischen Stadtbürgern und Juden angespannt blieben, zeigen die erneuten antijüdischen Ausschreitungen im Jahre , die ausbrachen, als während einer Prozession ein Dachziegel auf einen Baldachin fiel, der über das Heilige Sakrament ausgebreitet war. Sogleich beschuldigte man die Juden dieses antichristlichen Angriffs und begann sie zu attackieren.25 Am . Mai sollte Warschau erneut zum Schauplatz antijüdischer Ausschreitungen werden, die Artur Markowski als die definitiv am schlechtesten dokumentierten im Königreich Polen bezeichnet hat.26 Es war wohl ein spontaner Gewaltausbruch christlicher Handwerksgesellen, die Juden auf der Straße angriffen, so dass Gendarmen eingreifen
Emeliantseva, Der fremde Nachbar, S. . Zu der Kommission gehörten Deputierte des Sejm, jüdische Vertreter und der König. Ebd., S. . Ebd. Im Zuge dieser Debatten richteten sich heftige Angriffe auch gegen die »Frankisten«. Die Anhänger Jacob Franks bildeten eine religiöse Gruppe von zum Katholizismus konvertierten Juden, die aber als »heimliche Juden« oder »Juden im Kontusch« (d. h. als Polen verkleidete Juden), die Wucherer, Mörder, Intriganten, Meineidige usw. seien, beschimpft wurden (ebd., S. -). Ebd., S. f. Markowski, Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, S. f. und FN zu den archivalischen Quellen. Eine detaillierte Studie über den Verlauf dieser Ausschreitungen liegt nicht vor. Ebd S. . Sowohl die Akten der Polizei wie der lokalen Regierung sind während des Warschauer Aufstandes von verbrannt.
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mussten. Juden seien verprügelt und es sei ein Christ, den man aufgrund seiner Kleidung für einen Juden gehalten hatte, schwer verletzt worden.27 In den Warschauer Konflikten mischen sich vormoderne Konfliktlagen mit denen der Emanzipationszeit. Wie im Mittelalter und der Frühen Neuzeit ging es um Machtkämpfe in den Städten, in denen die Stadtbürger ihre Autonomie gegen die Interessen des Königs oder des Adels verteidigten. Aus finanzpolitischen Erwägungen war der Adel an der Ansiedlung von Juden interessiert, während die Ortsbürger dies zu verhindern suchten. Damit gerieten die ansässigen bzw. zuwandernden Juden zwischen die Fronten, was in gewaltsame Übergriffe münden konnte. Dies war eine für die Emanzipationszeit typische Konfliktkonstellation, wenn die neuen Emanzipationsedikte der Landesherren den Juden den Zuzug in bis dato verschlossene Städte erlaubten, ihnen politische Mitwirkungsrechte gewährten und auch freie wirtschaftliche Betätigung erlaubten. Der – bisweilen auch gewaltsame – Protest dagegen sollte in Deutschland bis zur Mitte des . Jahrhunderts andauern.
Ebd., Markowski bezieht sich auf eine Studie von Małgorzata Karpińska, Złodzieje, agenci, policyjni, strażnicy …: Przestepstwa pospolite Warszawie -, Warschau , S. f., die sich wiederum auf Aufzeichnungen eines in Warschau eingesetzten Polizeibeamten stützt.
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. Antijüdische Unruhen in den Schweizer Judendörfern Endingen und Lengnau Der Export der Französischen Revolution führte auch außerhalb Frankreichs zu Debatten über die Rechtsstellung der Juden, die vielerorts in Gewalt mündeten. Obwohl die Schweiz früh zu einem republikanischen und demokratischen Staat wurde, verzögerte sich dort die Emanzipation der Juden länger als in vielen anderen europäischen Staaten. Zwar gab es auch in der Schweiz eine Bewegung von Emanzipationsbefürwortern, doch war es vor allem der Druck von Seiten Frankreichs, der die rechtliche Gleichstellung der Juden vorantrieb. Die Judenemanzipation bekam so auch eine außenpolitische Dimension. Im Jahre führte das Eingreifen französischer Revolutionstruppen in die innerschweizerische Entwicklung zur Gründung der Helvetischen Republik.1 Die neue Helvetische Verfassung beschloss die Gleichstellung aller Bürger und beseitigte zudem alle Untertanenverhältnisse der alten Eidgenossenschaft. Zunftprivilegien, Standesunterschiede und die Feudalherrschaft wurden abgeschafft. Damit kam auch die Frage der Gleichstellung der Juden erstmals auf die politische Tagesordnung. Beide Kammern des Parlaments, der Große Rat und der Senat, wurden wiederholt Schauplatz leidenschaftlicher Auseinandersetzungen über die Stellung der Juden, wobei eine den Juden wenig freundliche Gesinnung nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch bei den Mitgliedern des Großen Rates vorherrschte, obwohl sie überwiegend keinerlei Kontakt zu Juden hatten. Seit der Ausweisung der Juden aus der Eidgenossenschaft im Jahre durften Juden nur in den eidgenössischen Untertanenländern Thurgau und im Rheintal wohnen. In der Grafschaft Baden, die ebenfalls ein Untertanengebiet war, wurden Juden bis über das . Jahrhundert hinaus geduldet, ihre Ansiedlung im sog. Judenmandat aber auf die Orte Endingen und Lengnau begrenzt.2 Die dort ansässigen Juden unterstanden dem Landvogt in Baden und besaßen nur den Status von »Schutzjuden«, den sie alle Jahre gegen Geldzahlungen erneuern lassen mussten. Ihr äußeres Leben war stark eingeschränkt, da sie keinen Grundbesitz erwerben und nicht in der Landwirtschaft tätig sein konnten und auch kein Handwerk oder Gewerbe
Zu den verwickelten und konfliktträchtigen Vorgängen im Aargau vgl. Bruno Meyer/Dominier Sauerländer/Hans Rudolf Stauffacher/Andreas Steigmeier (Hrsg.), Revolution im Aargau. Umsturz – Aufbruch – Widerstand -, Aarau . Sabine Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky. Jüdisches Leben in St. Gallen -, Zürich , S. ; Augusta Weldler-Steinberg (bearbeitet und ergänzt durch Florence Guggenheim-Grünberg), Geschichte der Juden in der Schweiz vom . Jahrhundert bis nach der Emanzipation, Goldach , S. (zuerst in zwei Bänden /). Bis gehörte dieses Gebiet zur Grafschaft Baden. Vgl. zur Emanzipationsdebatte auch: Holger Böning, Die Emanzipationsdebatte in der Helvetischen Republik, in: Aram Mattioli (Hrsg.), Antisemitismus in der Schweiz -, Zürich , S. -; dort auch eine Auflistung der in den Debatten gegenüber den Juden vorgebrachten Einwände (S. ff.).
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ausüben durften. Sie hatten zudem Kopf- und Sondersteuern zu zahlen.3 So waren die meisten Juden im Surbtal arm, da ihre Tätigkeit auf Vieh- und Markthandel, Hausiererei und Geldverleih beschränkt war.4 Es handelte sich in Endingen und Lengnau alles in allem um etwas über neunhundert Juden, denen ungefähr . christliche Dorfbewohner gegenüberstanden,5 d. h., Juden bildeten dort eine große Minderheit. Die christlichen Untertanen der Grafschaft Baden, die in die beiden Kantone Baden und Aargau aufgeteilt wurde, hatten seit Mitte des . Jahrhunderts mehrfach die Vertreibung der Juden aus den beiden Dörfern gefordert, zuletzt sogar noch im Jahre , als »sämtliche Untervögte in einer Klageschrift unter Hinweis auf angeblich wucherische Handelspraktiken für diese Maßnahme plädierten«.6 Diese wurde aber von der Obrigkeit aus finanziellem Interesse an den Abgaben der Juden abgelehnt. Immer wieder kam es auch zu gewalttätigen Übergriffen, so zur Zerstörung und Plünderung von Judenhäusern, d. h., wir haben es also mit einer langen Vorgeschichte von Gewalt zu tun. Aram Mattioli betont die soziokulturelle Segregation von Juden und Christen in diesen Dörfern, in denen die Juden ein geschlossenes Sondermilieu gebildet hätten, an deren Assimilationsbereitschaft man mit Verweis auf ihre Absonderung und ihre eigenen Gesetze stark zweifelte und deren »angeborene Gemeinschädlichkeit« und ketzerische »Verstocktheit« für viele außer Frage stand.7 Große soziokulturelle Distanz und geringe funktionale Verflechtung boten eine gewaltsame Konflikte begünstigende Konstellation. Angesichts dieser Vorgeschichte verwundert es nicht, dass beide Kammern des Parlaments deutliche Vorbehalte gegen die Verleihung der Bürgerrechte an Juden äußerten, obwohl diese nach Artikel der Verfassung alle Bedingungen für die Staatsbürgerschaft (zwanzig Jahre Ansässigkeit, Unbescholtenheit, Nützlichkeit) erfüllten. In den parlamentarischen Debatten wurde darüber gestritten, ob sie als »Fremde« und als eine eigene religiöse oder politische Korporation anzusehen seien Ralph Weingarten, Freiheit, Gleichheit – auch für die Juden? in: Meyer et al. (Hrsg.), Revolution im Aargau, S. f. Edith Hunziker/Ralph Weingarten, Die Synagogen von Lengnau und Endigen und der jüdische Friedhof, Berlin , S. f. Erika Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu !« Das Pogrom von gegen die jüdischen Gemeinden im Surbtal, in: Badener Neujahrsblätter , , S. -, hier S. ; die Zahl der jüdischen Haushalte hatte sich seit Mitte des . Jahrhunderts mehr als verdoppelt (Böning nennt für die Zahl von Familien mit Personen), obwohl die Aufnahme fremder Juden verboten war. Eine Heirat mit einer fremden Jüdin war nur unter Zahlung einer hohen Geldsumme möglich (Böning, Die Emanzipationsdebatte, S. ). Einwohnerzahlen von bis finden sich auch bei Alexandra Binnenkade, KontaktZonen. Jüdisch-christlicher Alltag in Lengnau, Köln, Weimar, Wien , S. : habe es demnach in Lengnau Juden und Christen, in Endingen Juden und Christen gegeben. Aram Mattioli, Die Schweiz und die jüdische Emanzipation -, in: ders. (Hrsg.), Antisemitismus in der Schweiz, S. -, hier S. . Ebd., S. f. Binnenkade, KontaktZonen, hat in ihrer Arbeit aber ein anderes Bild der dörflichen Beziehungen von Juden und Christen gezeichnet.
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oder nicht.8 Selbst unter den Befürwortern der Emanzipation waren antijüdische Vorurteile zu finden, doch setzte man auf eine moralische Verbesserung der Juden durch Erziehung.9 Es wurde eine »Commission der Reformation helvetischer Judengesetze« eingesetzt, in der die Meinungen darüber auseinandergingen, ob die Juden alle bürgerlichen Rechte erhalten sollten oder nicht. Der reformierte Pfarrer von Endingen und Tegerfelden, Konrad Fischer, intervenierte mit einer Flugschrift, in der er zwar den Juden aus allgemeinen Gesichtspunkten das Bürgerecht nicht verwehren wollte, zugleich aber ein Übergewicht der jüdischen Stimmen bei den Wahlen in seiner Gemeinde befürchtete, obwohl Juden in den Dörfern in der Minderheit waren.10 Auf eine Petition der Juden hin befreite man sie im Mai zwar von der herabwürdigenden Kopfsteuer und vom Leibzoll, doch scheiterte der Versuch, ihnen per Akklamation alle Bürgerrechte zuzusprechen. Über die Frage des Bürgereides entbrannte im Großen Rat ein heftiger Streit.11 Obwohl es zahlreiche Befürworter eines Bürgerrechts für Juden gab, schlossen Großer Rat und Senat nach hitzig geführten Debatten im August Juden zunächst vom Bürgereid aus, doch gewährte man ihnen nach einer erneuten Debatte im Februar schließlich am . Mai des Jahres vor allem aus wirtschaftlichem Eigennutz das Recht von niedergelassenen Fremden, das ein Niederlassungsrecht, das Recht auf den Erwerb von Liegenschaften und die Handels- und Gewerbefreiheit einschloss.12 Eine grundsätzliche Regelung der Bürgerrechte für Juden kam aber nicht zustande. Das Verhalten der Bevölkerung, aber auch vieler Behörden und Verwaltungen gegenüber den Juden blieb so weiter feindselig, und die Weigerung, den Juden das Bürgerrecht zu verleihen, kam einer obrigkeitlichen Absegnung dieser Haltung gleich und ermutigte manche zu
Zentral war dabei für viele nicht die religiöse Differenz, sondern der Vorwurf, Juden würden eher eine politische als eine religiöse Korporation darstellen. Zudem würden sie an ein kommendes messianisches Reich glauben und verstießen damit gegen die Forderung der Verfassung, auf jedes andere Bürgerrecht zu verzichten. Siehe: Florence GuggenheimGrünberg, Vom Scheiterhaufen zur Emanzipation, Die Juden in der Schweiz vom . bis . Jahrhundert, in: Willy Guggenheim (Hrsg.), Juden in der Schweiz. Glaube – Geschichte – Gegenwart, Küsnacht, Zürich (. Auflage), S. -, hier S. . Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. . Das Ortsbürgerrecht war denn auch immer besonders umstritten, da es vor Ort durchaus ökonomische Konsequenzen hatte. So wies der Pfarrer darauf hin, dass die Juden dann in den Genuss der Bürgernutzens kämmen (Holz, Weiden des Viehs auf der Almende) und der Armenkasse des Ortes zur Last fallen könnten (Mattioli, Die Schweiz, S. ). Vgl. die Schrift von Conrad Fischer, Ein Wort über das Aktivbürgerrecht der Juden in Helvetien, in Hinsicht auf die beyden Gemeinden, in denen sie izt wohnen, Aarau . Ebd., S. ff.; vgl. auch Böning, Die Emanzipationsdebatte, S. ff. Böning, Die Emanzipationsdebatte, S. ff.; vgl. auch Weingarten, Freiheit, Gleichheit – auch für die Juden? S. f. Da sich nach der Französischen Revolution Juden aus dem Elsass, die das französische Bürgerrecht besaßen, in einigen Städten der Schweiz (Basel, Genf, Bern) ansiedelten, wurde diesen aufgrund eines Vertrages zwischen Frankreich und der Schweiz ein Niederlassungsrecht eingeräumt, das man altansässigen Juden aber weiterhin verweigerte.
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einem gewaltsamen Vorgehen gegen die Juden.13 Es kam jedoch unter dem Schutz französischer Truppen zunächst nicht zu Übergriffen. Als die Truppen aber im Juli vorübergehend aus Schweizer Gebiet abzogen wurden, begann angesichts des Machtvakuums eine Phase der Auflösung der Helvetischen Republik und es »kam allerorten zu kleinen Insurrektionen«. Konservativ-reaktionäre Föderalisten und Aristokraten hatten in Baden und Aarau schon länger einen Aufstand vorbereitet, und im September besetzten bewaffnete Scharen, die zum größten Teil aus mit Stöcken bewaffneten Bauern bestanden, Aarau (verharmlosend als »Stecklikrieg«, auch wegen der Erntezeit als »Zwetschgen-« oder wegen der gestohlenen Bänder als »BändeliKrieg« bezeichnet).14 Erika Hebeisen betont das Zusammengehen der entmachteten aristokratischen Elite und der katholischen Landbevölkerung des Voralpengebietes gegen die im Wesentlichen von der bürgerlichen Elite vorangetriebene Modernisierung der Gesellschaftsordnung und gegen die französische »Schutzmacht«.15 Die Landbevölkerung habe sich gegen diesen Bruch mit »ihren tiefverankerten religiösen, wirtschaftlichen und politischen Traditionen« gewehrt. Manifester Widerstand richtete sich gegen die neue Verfassung, den Bürgereid und die Aushebung von Hilfstruppen für die französische Armee. Die Landbevölkerung rebellierte zum Teil mit Gewalt gehen die sozialen und ökonomischen Belastungen von Krieg und Besatzung sowie die wiedereingeführte Zehntpflicht. D. h., die Wochen vor den antijüdischen Ausschreitungen waren in den Kantonen Aargau und Baden von vereitelten Aufständen, militärischer Mobilisierung und schließlich vom Bürgerkrieg um Baden, in dem der mobilisierte Landsturm gegen helvetische Truppen vorging und so die helvetische Regierung zur Kapitulation zwang, bestimmt gewesen.16 Auch in der Hauptstadt Bern gelang der politisch reaktionäre Umsturz, und der Kanton Aargau, der sich in revolutionärem Geiste von der Berner Herrschaft losgesagt hatte, wurde erneut unter Berner Vorherrschaft gestellt. Am . September wurde die Rückkehr der aristokratischen Herrschaft im Aargau gefeiert. Damit wurde auch eine Wiederaufhebung der den Juden gewährten neuen Rechte denkbar, was möglicherweise zusammen mit der antihelvetischen Stimmungsmache dieser Tage ebenfalls einen Anreiz für die Gewalt gegen die Juden geboten hat.17 Im Kanton Baden entstand hingegen nach dem Sturz der Zentralregierung ein Machtvakuum, und die Föderalisten setzten eigenmächtig eine provisorische Regierung ein.18 In dieser Situation zogen am . September »Christen und Christinnen aus sämtlichen Dörfern nördlich von Baden«19 in die beiden Judendörfer Endingen Ebd., S. . Böning, Die Emanzipationsdebatte, S. f. Erika Hebeisen, Vom Widerstand zum Bürgerkrieg, in: Meyer et al. (Hrsg.), Revolution im Aargau, S. -, hier S. f. Ebd., S. -. Ebd., S. . Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. . Ebd., S. . Nach Hebeisen schwanken die Zahlen in den Quellen zwischen und Tumultuanten (ebd., S. ).
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und Lengnau »mit mehr Körben als Waffen versehen« und plünderten dort die Häuser und Geschäfte der Juden.20 Nach Erika Hebeisen fühlten sie sich dazu aus mehreren Gründen berechtigt: Ihre Legitimation hätten die Bauern einerseits aus dem christlich-religiösen Selbstverständnis einer Überordnung der Christen gegenüber den Juden bezogen, andererseits aus einem traditionalistischen Wirtschaftsverständnis (»moral economy«), wobei die neue helvetische Rechtsordnung durch die Gewährung der vollen Handels- und Gewerbefreiheit für Juden die ohnehin konfliktträchtigen Beziehungen zwischen Bauern und Händlern zuungunsten der Letzteren verändert hatte. Entscheidend war aber, dass man die Juden einerseits als scheinbare Nutznießer und Unterstützer der gescheiterten helvetischen Republik ansah,21 man andererseits die Verweigerung der vollen Bürgerrechte an die Juden auch als antijüdisches Signal seitens der Obrigkeit verstand, wonach Juden nicht den vollen staatlichen Schutz genossen. So wollten die Bauern der Region, die sich nicht ganz zu Unrecht als Verlierer der Helvetik betrachteten,22 den Juden als den angeblichen Gewinnern einen Denkzettel verpassen und zudem die alte Über- und Unterordnung wiederherstellen, wozu sie sich durch die die Juden zurücksetzende Regierungspolitik auch legitimiert fühlten. Erika Hebeisen fasst die Motive unter der Überschrift »Enttäuschte suchen Sündenböcke« so zusammen: »Vorurteile, politisch widersprüchliche Signale und das Selbstverständnis als Verlierer machten der Landbevölkerung das Plündern in den jüdischen Gemeinden möglich«.23 Nach dem bisherigen Forschungsstand gibt es zwei Lesarten für den Ausbruch der Ausschreitungen. Einer älteren Deutung zufolge nahmen sie in dieser Situation eines Machtvakuums und allgemeiner Anarchie ihren Ausgang in einer katholischen Prozession, die eine größere Anzahl von Wallfahrern als handlungsfähige Menge zusammenführte. So sollen die Bauern aus den Dörfern des Sigithals und an der Aare in einer Kreuzes-Prozession nach Zurzach gewandert sein. Während dieser Prozession habe sich das Gerücht verbreitet, Endinger Juden hätten einem Christen den Unterkiefer abgeschnitten, was die Gemüter der »ohnedies raublustigen Waller [erhitzt] und ihnen den zum Frevel nötigen Muth« gegeben habe.24 Hier erscheint Böning, Die Emanzipationsdebatte, S. . Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. ; zu den zahlreichen Reformen, die einen Umsturz im Wirtschaftsalltag bedeuteten und für Verwirrung. Ratlosigkeit und Widerstand führten, vgl. Dieter Kuhn/Dominik Sauerländer, »Schade, dass wir die goldenen Ähren mit Thränen befeuchten!« Die helvetische Wirtschaftspolitik zwischen Kontinuität und Aufbruch, in: Meyer et al. (Hrsg.), Revolution im Aargau, S. -. Hebeisen verweist dazu auf die Tatsache, dass die von der helvetischen Republik in Aussicht gestellte Ablösung der Feudallasten nicht zustande kam, sondern dass das zeitweise nicht entrichtete Geld rückwirkend wieder eingetrieben wurde. Zudem hatten die Bauern unter Kriegszerstörungen und der französischen Besatzung zu leiden gehabt (»Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. ). Hebeisen, Vom Widerstand zum Bürgerkrieg, S. . Zit. bei Böning, Die Emanzipationsdebatte, S. (Quelle: Markus Goetsch Dreyfus, der Zwetschgen- oder Büntelkrieg im Jahre , in: Jüdisches Volksblatt zur Belehrung und Unterhaltung auf jüdischem Gebiet, Jg. , Leipzig , Nr. ). Hebeisen referiert dabei,
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es demnach so, als habe sich die Prozession spontan zu einem Feldzug gegen die Judendörfer umformiert und dabei das bestehende Machtvakuum ausgenutzt. Neuere Forschungen von Erika Hebeisen stellen die Vorfälle eher als einen von konterrevolutionären Kräften geplanten und vorbereiteten Überfall dar.25 Sie stützt sich dabei primär auf die Darstellung der frühen jüdischen Geschichtsschreibung zu diesem Ereignis, wonach die Juden in den beiden Dörfern sich bereits Tage vorher auf den »Empfang der Rebellen« vorbereitet hätten. Man habe untereinander beratschlagt, was zu tun sei.26 Laut den jüdischen Gemeinden sollen Briefe herumgeschickt worden sein, in denen der . September als Tag benannt worden sei, an dem sich die Bauern und Bäuerinnen der umgebenden Gemeinden zwischen Limmat, Aare und Rhein bewaffnet in Endingen und Lengnau einfinden sollten. Zudem seien in der Nacht vor dem . September bewaffnete Männer nach Lengnau gekommen, um im Auftrag des Jakob von Steiner die jüdische Gemeinde aufzufordern, eine Klage vor dem Obersten Gerichtshof zurückzuziehen, was diese auch tat. Daraufhin seien einige Alte, Frauen und Kinder über den Rhein zu jüdischen Familien der Grenzgemeinden Tiengen und Kadelburg geflohen.27 Auch seien Reiterstafetten am Morgen des Pogroms zur Koordination des Aufmarsches der Plünderer unterwegs gewesen. Die Initiative zu den Ausschreitungen sei nicht von den Bauern selbst, sondern vom ehemaligen Zürcher Landvogt Hans Jakob von Steiner ausgegangen, der im September als Zivilkommissar in der nahegelegenen Residenz der Berner Landvögte im Kloster Königsfelden (Gemeinde Windisch) tätig war. Er stand in Kontakt zu weiteren Konterrevolutionären, zwei Brüdern der Schultheiss-Familie Frey aus Brugg. Johannes Jakob Frey sowie dessen Bruder Friedrich und ein weiterer, nicht verwandter Namensvetter Anton Frey waren aktiv an der Vorbereitung sowie an den Ausschreitungen beteiligt, Letzterer hoch zu Ross als »Bauernführer«. Nach dieser Darstellung hätten die Bauern der Umgebung von Endingen und Lengnau also nicht aus eigener Initiative gehandelt, sondern die Ausschreitungen hätten ihren Ausgang von Planungen konterrevolutionärer Kräfte genommen. So wurde Jakob von Steiner später in den Verhören von den Plünderern, aber auch von seinem Mitstreiter Anton Frey als Auftraggeber dass die »jüdische Erinnerung« der Prozession die treibende Kraft für das Pogrom zugeschrieben habe (»Hier geht es schrecklich unmenschlich zu !«, S. ), damit widerspricht sie aber der eigenen Darstellung, es habe sich um ein von oben organisiertes und verabredetes Geschehen gehandelt. Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu !«; dies., Der Bändelikrieg: manifester Widerstand auf Abwegen – ein Werkstattbericht, in: Akten des . Helvetik-Kolloquiums, Flüelen , S. -. Juden nahmen die bedrohliche Stimmung sehr genau wahr. Sie schrieben bereits vor Ausbruch der Unruhen, dass ihre »Lage […] von Tag zu Tag gefährlicher« würde (Hebeisen, Vom Widerstand zum Bürgerkrieg, S. ). Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. . Der Lehrer und Schriftsteller Markus Goetsch Dreyfus aus Endingen habe dies anhand mündlicher Überlieferung aufgezeichnet (Der Zwetschgen- und Büntelkrieg). Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. .
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angegeben.28 Anton Frey galt aber der Untersuchungskommission selbst als der Haupturheber des Pogroms und der Plünderungen vor Ort, an denen er sich auch selbst beteiligt hatte. Die Brüder Frey aus Brugg gaben zu, am Tage der Ausschreitungen an den beiden Orten präsent gewesen zu sein, bestritten aber eine Teilnahme an den Plünderungen, ja behaupteten sogar, Beschützer der Juden gewesen zu sein.29 Aus der Verwicklung dieser Vertreter der alten Eliten in die Planung und Durchführung der Ausschreitungen wird deutlich, dass die alte Elite das Pogrom billigte, da es zur Wiederaufrichtung ihrer Macht der Unterstützung der Landbevölkerung gegen die Helvetische Republik bedurfte. Während der Ausschreitungen am Morgen des . September kam es zu Misshandlungen von Juden und zu Plünderungen ihrer Häuser zunächst in Lengnau. Gegen Mittag zogen die Plünderer, darunter auch Frauen und Kinder, dann nach Endingen weiter, wo die Ausschreitungen heftiger ausfielen. Nach Angaben der betroffenen Juden, die den »Tod über ihrem Haupte« schweben sahen, drängten sich »mehr als bewaffnete Bauern […] in unser Dorf, es fing auf die hartherzigste, wildeste Art die Plünderung an, und bis zum Einbruch der Nacht waren wir fast ohne Ausnahme ausgeplündert. Alles, was ihnen unter die Hände kam, wurde zerschmettert, Kisten und Beschläge zerschlagen, Kaffee, Zucker und Spezereien zerstreut, der Wein ausgetrunken, und das übrige in die Keller auslaufen lassen, oder die Gasse floss es herum«.30 Sie zerrissen zudem auch mit »großer Wuth« Schriftstücke, die sie für Schuldscheine hielten bzw. erpressten deren Herausgabe, da sie häufig bei jüdischen Händlern verschuldet waren.31 Nach Wendler-Steinberg retteten die Juden kaum mehr als ihr nacktes Leben und mussten es durch Lösegeld erkaufen. Der Schaden soll in Lengnau rund . Franken, im besonders stark durch Plünderungen betroffenen Endingen sogar . Franken betragen haben. Die Übergriffe blieben ungesühnt, obwohl eine Untersuchungskommission eingesetzt wurde, die ihre Aufklärungsarbeit aber erst intensiviert haben soll, Nach Anton Frei sei »die Ordre die Juden zu brandschätzen [sey] von Herrn General Steiner« ausgegangen. Zit. in: ebd., S. . Wie unsicher sich die jüdischen Gemeinden nach diesem Pogrom fühlten, zeigt die Tatsache, dass sie sich mit klaren Hinweisen auf die verantwortlichen Täter sehr zurückhielten. Sie belasteten zwar die Brugger Frey-Brüder, doch ließen sie den ehemaligen Landvogt von Steiner unerwähnt und auch beschuldigten sie Anton Frey nicht der direkten Beteiligung an den Unruhen, doch sei dieser an der »Spitze der Räuberhorde hergeritten«. (ebd., S. , und Hebeisen, Vom Widerstand zum Bürgerkrieg, S. ). Hebeisen, Vom Widerstand zum Bürgerkrieg, S. ; vgl. dazu auch: Franz-Xaver Bronners Darstellung von : »Man fiel mit Wuth die Häuser an, schlug Thüren und Fenster ein, und raubte, was Jedem anstand. Männer, Weiber und Kinder […] schleppten davon, was sie tragen konnten, und in weniger als drei Stunden standen fast alle Wohnungen ausgeräumt, ja einige völlig leer«. Der Kanton Aargau, historisch, geographisch, statistisch geschildert (= Historisch-geographisch-statistisches Gemälde der Schweiz, Bd. .), St. Gallen, Bern , S. f. – Hier zitiert nach Mattioli, Die Schweiz, S. . Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. . Das Pogrom machte also die Juden, den Vorstellungen einer »moral economy« folgend, im Grunde zu Opfern einer »gewaltsamen Marktregulierung« seitens der christlichen Landbevölkerung (ebd.).
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nachdem französische Truppen wieder einmarschiert waren und General Ney um einen Bericht über die Unruhen gebeten hatte. Doch erhielten die Juden weder eine Entschädigung für die erlittenen materiellen Verluste, noch wurden die Täter zur Verantwortung gezogen.32 Im Gegenteil wurde Juden im Aargau Hausierverbot erteilt. Dies führte dazu, dass jüdische Wanderhändler von Landleuten auf den Straßen durchsucht und misshandelt wurden, so dass der Einsatz obrigkeitlichen Schutzes nötig wurde.33 Im aargauischen »Judengesetz« von , das bis zur Emanzipation in Kraft blieb, wurden die aargauischen Juden direkt dem Schutz der Kantonsregierung unterstellt, womit sie nach Sabine Schreiber in den Status von »Schutzjuden« zurückversetzt wurden. Sie hatten demnach zwar die gleichen Pflichten wie die Kantonsbürger, aber nicht die gleichen Rechte.34 Obwohl in der Schweiz Juden fast ausschließlich in den beiden genannten Dörfern geduldet waren, führte die durch die französische Besetzung des Landes und die Etablierung der helvetischen Republik ausgelöste Emanzipationsdebatte zu ähnlichen, sogar in Gewalt umschlagenden Gegenreaktionen, wie wir sie in dieser Phase auch in anderen europäischen Ländern finden. Den Bauern der Umgebung der beiden Judendörfer35 ging bereits die Unterstellung der Juden unter das Fremdengesetz und die damit erreichte Besserstellung zu weit, zumal die Wiedereinführung der Feudalabgaben die Hoffnungen der Bauern enttäuscht und diese zu Verlierern der neuen Zeit gemacht hatte, während ihnen die Juden als deren Nutznießer erschienen, gegen die sie nun ihre Wut richteten.36 Der Prozess der schrittweisen Besserstellung der Juden schritt nur sehr langsam voran und verlief nicht ohne Rückschläge.37 Noch kam es in Reaktion auf die geplante Verleihung des Ortsbürgerrechts an die Juden zu antijüdischen Krawallnächten in Oberendingen (siehe Kap. ). Erst mit der Bundesverfassung von sollten Juden als gleichberechtigte Bürger anerkannt werden. Böning, Die Emanzipationsdebatte, S. ; auch Wendler-Steinberg, Geschichte der Juden, S. . In einer Eingabe vom . Juni , in der sie die politische und bürgerlichen Gleichstellung der Juden forderten, verwiesen sie zugleich darauf hin, dass sie »noch im Lauf des letztverflossenen Jahres durch Plünderung einen sehr beachtlichen Teil ihrer Habe unter Schrecken und Angst« eingebüßt hätten (ebd., S. ). Wie schlecht sie die Aussichten für eine Realisierung ihrer Forderung einschätzten, zeigt die Tatsache, dass sie schon wenige Wochen später, am . August , eine Verzichtserklärung auf diese Rechte unterzeichneten (S. f.). Dazu Bronner, Kanton Aargau, S. f., zit. nach Binnenkade, KontaktZonen, S. , FN . Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky, S. . Der Begriff »Judendörfer« bezeichnet Orte, in denen Landjuden einen sichtbaren Bevölkerungsanteil bildeten. Dazu siehe die Pionierstudie von Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg, Tübingen (. Aufl. ); auch Monika Richarz/Reinhard Rürup (Hrsg.), Jüdisches Leben auf dem Lande: Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. , Tübingen . Böning, Die Emanzipationsdebatte, S. . Ebd.
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. Die Hep-Hep-Krawalle von Die bedeutendste Welle antijüdischer Ausschreitungen im frühen . Jahrhundert stellen die sog. Hep-Hep-Krawalle dar.1 Diese kamen für viele Zeitgenossen völlig überraschend und wurden nicht nur von Seiten der Juden als Rückfall ins »finstere Mittelalter« empfunden. Dennoch geschahen sie keineswegs zufällig, und es war auch kein Zufall, dass sie vom neu zu Bayern gekommenen Würzburg ausgingen. Sie stellten auch keinen Rückfall ins Mittelalter dar, sondern waren durchaus Ausdruck einer aktuellen gesellschaftlichen Konfliktkonstellation. Die Französische Revolution, die napoleonische Ära und die Zeit der Befreiungskriege hatten einen politischen Reformprozess in Gang gesetzt, in dem viele deutsche Staaten auch die staatsbürgerliche Stellung der Juden neu zu regeln begannen. Auf dem Wiener Kongress konnten sich jedoch die Verfechter einer weitgehenden Emanzipation der Juden nicht durchsetzen, und es kam entweder zur Festschreibung des mehr oder weniger fortschrittlichen Status quo oder, wie in einigen Städten und Staaten, sogar zur Rückkehr zu den Bestimmungen der vornapoleonischen Zeit. Dieser abgebremste Emanzipationsprozess beließ die Juden in vielen Staaten in einer konfliktträchtigen Zwischenposition zwischen ihren neuen wirtschaftlichen Freiheiten sowie Niederlassungsrechten und den nach wie vor bestehenden politischen Benachteiligungen. Dies galt auch für Bayern, dessen Edikt vom . Juni nach Auffassung von Adolf Eckstein »an der Grenzscheide zweier Zeiten steht«: »Zwei Seelen wohnen in seiner Brust, eine mittelalterliche und eine neuzeitliche Seele. Kein Wunder, dass es niemanden befriedigte, weder die Anhänger des Alten, denen es zu viel genommen, noch die Anhänger des Neuen, denen es zu wenig gegeben. Kein Wunder, dass es einen Kampf entfesselte«.2 Dieser Kampf richtete sich seitens der Juden vor allem gegen den § (Matrikel), wonach die Zahl der Judenfamilien an einem Ort nicht vermehrt werden durfte, sondern nach Möglichkeit verringert werden sollte. Eine Neuansiedlung an Orten, wo bisher keine Juden wohnten, sollte nur Handwerkern, Fabrikanten und Ackerbautreibenden erlaubt werden, schloss also Kaufleute und Händler und damit das Gros der Juden aus. Damit waren lokale Konflikte über den Zuzug von Juden vorprogrammiert, ein typischer Anlass für die Anwendung kollektiver Gewalt. Nachdem auch die Verfassung des Königreichs Bayern vom . Mai die Juden weiterhin als gleichberechtigte Bürger ausschloss, verfassten im April Die Schreibweise des nicht gänzlich aufgeklärten Begriffs variiert zwischen Hepp-Hepp und Hep-Hep, bereits zeitgenössisch finden sich beide Schreibweisen. Dieser Spott- und Hetzruf ist auch nicht erst für die Krawalle neu geprägt worden, sondern fand bereits vorher in Würzburg und an anderen Orten Verwendung (Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ). Wie häufig im Fall von revoltierenden Protestbewegungen seit dem Mittelalter zu beobachten, rekurrierten deren Benennungen auf die Rufe der Protestierenden. Vgl. dazu Daniel Gerson, Hepp-Hepp, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -. Adolf Eckstein, Der Kampf der Juden um ihre Emanzipation in Bayern, Fürth , S. .
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Vertreter mehrerer jüdischer Gemeinden des Landes eine im Druck verbreitete Denkschrift3 für die Ständeversammlung, mit der sie »die Frage der Judenemanzipation auf die Tagesordnung der öffentlichen Meinung« setzten.4 Auch christliche Autoren publizierten Broschüren zur Unterstützung der jüdischen Ansprüche,5 so dass der erste Landtag am . Mai eine Revision des Edikts von beantragte und der König diesem Antrag mit dem im Landtagsabschied vom . Juni gegebenen Versprechen zustimmte, das Ministerium des Innern werde sich mit dieser Revision unverzüglich beschäftigen und der nächsten Ständeversammlung einen umfassenden Gesetzentwurf vorlegen.6 Eleonore Sterling hat zu Recht betont, dass in Deutschland die Menschenrechte eben nicht von unten eingeklagt wurden, sondern sich obrigkeitlichem Zwang, z. T. auch durch Napoleon, verdankten. D. h., die rechtlichen Reformen im Geiste der Menschenrechte standen nicht im Einklang mit dem Willen der Bevölkerung. Dies führte bei den deutschen Nationalisten und Liberalen zu dem Eindruck, die Juden würden mit den ihnen gewogenen reaktionären und partikularistischen Gewalten kooperieren.7 Die Ausschreitungen in Würzburg und mehreren anderen fränkischen Städten kann man als Antwort auf diese angekündigten Veränderungen verstehen, die manche christliche Einwohner als Bedrohung ihres Status wahrnahmen.8 Mit dieser schon von Eckstein nahegelegten Interpretation folgen wir den neueren Darstellungen der Hep-Hep-Krawalle,9 die ihre genuin antijüdische Stoßrichtung betonen und sich weder den zeitgenössischen Annahmen, es handle sich um ein Ergebnis revolutionärer Umtriebe, noch der Auffassung von Eleonore Sterling anschließen, der Angriff auf die Juden sei eine bloße dislozierte Form von Sozialprotest gewesen, Denkschrift an die hohe Ständeversammlung, die Lage der Israeliten und ihre bürgerliche Verfassung betreffend, München, . April . Eckstein, Der Kampf, S. . Z. B. der katholische Geistliche Xaver von Schmid, Patriotische Wünsche und Vorschläge zur bürgerlichen Verbesserung der Israeliten, ; der protestantische Professor Alexander Lips, Ueber die künftige Stellung der Juden in den deutschen Bundesstaaten, Erlangen (zit. nach Eckstein, Der Kampf, S. ). Ebd., S. . Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany in , S. und . Eckstein sah hier einen ganz direkten Zusammenhang: »Diese Verheissung des Königs wurde von den Studenten in Würzburg mit einem pöbelhaften Hep-Hep Geschrei beantwortet, mit wüsten Straßenszenen, welche in mehreren Städten Frankens sich wiederholten und die Verkündigung des Standrechts notwendig machten« (ebd., S. ). Dass diese Gewalt durchaus Erfolg hatte, zeigten die Reaktionen der Juden in Bayern. Nach Eckstein saß ihnen der Schrecken der »erlebten Exzesse des Straßenantisemitismus« so in den Gliedern, dass sie erst wieder im November zu einer Notabelnversammlung in München zusammenkamen (ebd.). In der Tat unterblieb die versprochene Revision, und die Regierung erklärte im Mai auf eine Anfrage des Präsidiums der Abgeordnetenkammer hin, die Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Revision des Judenedikts sei noch nicht zeitgemäss (ebd., S. f.) Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen, mit Quellenanhang; Erb/Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation, S. ff.; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, Kap. .
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deren Ursachen primär in einer akuten Wirtschaftskrise sowie im tiefgreifenden sozioökonomischen Strukturwandel zu suchen seien.10 Allerdings werden Kontextfaktoren, wie die Hungerkrise von /11 und die Überflutung des deutschen Marktes mit englischen Manufakturwaren nach Aufhebung der Kontinentalsperre, durchaus den Grad politischer Spannungen erhöht und die Reaktionen des Staates beeinflusst haben, der rigoroser vorgeht, wenn er sich selbst durch »revolutionäre Umtriebe« bedroht sieht.12 Stefan Rohrbacher hat zu Recht hervorgehoben, dass die nähere Untersuchung lokaler Fälle zeigt, dass die Unruhen lokal und regional ganz unterschiedliche Ursachen und Charakterzüge aufweisen konnten.13 Die Hep-Hep-Unruhen, die von Würzburg ihren Ausgang nahmen und ihren Schwerpunkt im Raum Bayern, Württemberg, Baden und Hessen hatten, strahlten aber auch ins Rheinland, nach Hamburg bis hinauf nach Dänemark, sowie nach Danzig und Sachsen aus. In den verschiedenen Darstellungen der Hep-HepUnruhen gibt es allerdings teils Übereinstimmungen über die betroffenen Orte, teils finden sich in manchen aber auch Orte, die in anderen nicht aufgeführt sind, sowie Orte, die offenbar fälschlich benannt werden, da es dort zwar Spottgesänge, »Hep-Hep«-Geschrei, Drohbriefe und Aufrufe und Plakatierungen gab, die dazu Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany in . Die Bedeutung der Hungerjahre / betont Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , da die jüdischen Händler beschuldigt wurden, alles Getreide aufgekauft zu haben. Der Vulkanausbruch des Tambora führte zu einer kurzfristen Abkühlung des Klimas auch in Mitteleuropa, die katastrophale Folgen für die Ernten hatte. Vgl. dazu Wolfgang Behringer, Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München ; Gillen D’Arcy Wood, Vulkanwinter , die Welt im Schatten des Tambora, Darmstadt . Stefan Rohrbacher erwähnt, dass die politischen Morde bzw. Mordversuche an August von Kotzebue und an dem nassauischen Staatsrat von Ibell bei den restaurativen Kräften die Furcht vor Verschwörungen und revolutionären Umtrieben schürten, so dass für sie auch bei den Hep-Hep-Krawallen eine solche Interpretation nahelag. Der Angriff auf die Juden wurde dabei als bloßer Vorwand für weitergehende Ziele verstanden (Gewalt im Biedermeier, S. f.). Vgl. zum politischen Kontext des Wartburg-Festes und der Ermordung Kotzebues usw. Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany in , S. ff. Bei Jacob Katz ist die Anfrage »Der durchlauchtigsten deutschen Bundes C. U. Commission« vom . März abgedruckt, die in einer Anfrage an den »Wohlleoblichen Senat der Freyen Stadt Hamburg« um die Untersuchungsakten zu den Krawallen bittet, um der Frage nachzugehen, ob diese mit den »demagogischen Umtrieben« in Zusammenhang standen. Die Stadt Hamburg antwortete im April und sah die Ursachen allein im »Geschaefts- und Erwerbs-Neide« und als Nachahmung der andernorts stattgefundenen »Auftritte wider die Israeliten« und verweigerte entsprechend die Übersendung von Akten (Hep-HepVerfolgungen, Beilage D und E, S. f.). Stefan Rohrbacher, Die »Hep-Hep-Krawalle« und der »Ritualmord« des Jahres in Dormagen, in: Rainer Erb/Michael Schmidt (Hrsg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin , S. -, hier S. ; auch Henry Wasserman nennt die Ursachen der Unruhen »highly complex« und »rooted in the social and economic condition of Germany« (HEP!HEP!, in: Encylopedia Judaica, Vol. , Detroit , S. -).
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aufriefen, Juden zu vertreiben oder zu verprügeln, wobei es jedoch nicht zu nennenswerten Krawallen kam (z. B. in Koblenz, Köln, Düsseldorf, Hamm, Breslau, Berlin, Güstrow, Meiningen, Grünberg/Schlesien, Halle/Saale, Regensburg, Lissa/ Posen, Elbing und Königsberg,14 Riga, Helsingfors, Amsterdam, Prag, Wien und Graz).15 Wie Rohrbacher für den rheinischen Raum zeigen konnte, kam es in vielen kleinen Orten zu Schmähungen oder Drohbriefen gegen Juden und es gab vereinzelte Steinwürfe auf jüdische Häuser, ohne dass sich daraus mit Ausnahme des kleinen Ortes Hülchrath eine kollektive Gewaltaktion gegen die Juden des Ortes entwickelte.16 Die Grenzen zwischen solchen kleineren Vorfällen und ausgewachsenen Krawallen lasen sich kaum trennscharf ziehen. Das Ortsregister der Studie von Rohrbacher führt fast fünfhundert Orte auf, doch handelt es sich in der großen Mehrzahl um Orte, in denen es allenfalls zu kleineren Konflikten (»HepHep«-Geschrei, Plakatanschläge, Drohbriefe, Hetzschriften, Schlägereien, verein Zu Königsberg gibt es in den Lebenserinnerungen von Fanny Lewald, die aber erst acht Jahre alt war, eine kurze Darstellung der Hep-Hep-Ereignisse: »In Königsberg aber ging die Epidemie der Judenverfolgung ziemlich gelind vorüber. Es blieb bei den spottenden Nachrufen, und als man sich damit genug getan hatte, fand man sich von beiden Seiten äußerlich wieder zurecht« (Meine Lebensgeschichte, Bände, hrsg. von Ulrike Helmer, Königstein/Taunus , Bd. ., S. f.). Auch Stefanie Schüler-Springorum (Die jüdische Minderheit in Königsberg/Preußen -, Göttingen , S. f.) schreibt von »verhältnismäßig glimpflich verlaufenen Unruhen zur ›Hep-Hep‹-Zeit.« Vgl. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ff., . Diese Städte werden etwa in der Landkarte zum Artikel HEP!HEP! der Encyclopedia Judaica (S. -) als »Sites of major Hep !Hep! riots in « genannt, während im Artikel Henry Wassermans dazu Orte wie Elbing oder Königsberg nicht genannt werden, allein Danzig wird als Ort in Preußen erwähnt. Auch der Artikel zu den Hep-Hep-Krawallen in Mecklenburg nennt mit Meiningen, Breslau und Preßburg Orte, in denen es nicht zu nennenswerten Übergriffen kam. Auch in Schwerin blieb es bei verbalen Ausfällen und einem tätlichen Angriff eines christlichen Kaufmanns auf einen jüdischen Kaufmann (www.juden-in-mecklenburg. de/Geschichte/Hep_Hep_Krawalle_). Auch Erb/Bergmann, Die Nachtseite, S. , sprechen für einige Orte wie Breslau, Grünberg, Königsberg, Lissa, Koblenz, Hamm, Kleve und Kreuznach von Tumulten, obwohl die antijüdischen Aktionen sich auf verbalen Radikalismus beschränkten. Der HEP!HEP!-Beitrag der Encyclopedia Judaica führt auf der Landkarte irrtümlich auch den Ort Worringen auf, doch waren Einwohner Worringens nach Dormagen zur Beerdigung des angeblichen Ritualmordopfers gezogen und hatten dort gedroht, das Haus eines Juden zu stürmen (vgl. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ff.). Vgl. Rohrbacher, Die »Hep-Hep-Krawalle«, S. -. Von Dormagen, wo ein Ritualmordgerücht zu einer bedrohlichen Situation führte, die aber von den Behörden unter Kontrolle gehalten wurde, führte das Gerücht zu vereinzelten Übergriffen etwa in einigen Nachbarorten wie Rommerskirchen, Wevelingshoven und Grimlingshausen, wobei es nur in Hülchrath zu Angriffen einer Menge von - zumeist jungen Burschen kam, die große Steine auf die jüdische Schule warfen und drei jüdische Gottesdienstbesucher blutig misshandelt haben sollen. Aber auch in großen Städten dieser Region wie Köln und Düsseldorf gab es »Hep-Hep«-Rufe und Plakatanschläge, die mit der Vertreibung der Juden oder gar mit einem Blutbad drohten, wobei es durch ein entschiedenes Handeln der Behörden bei bloßen Drohungen blieb (ebd., S. -).
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zelte Steinwürfe gegen Häuser und Fensterscheiben) kam, was für die eine große Handlungsbereitschaft in der Bevölkerung und die weitere Ausbreitung der HepHep-Welle spricht. Die Dorfzeitung schrieb am . August : »der Judenlärm greift um sich wie die Ruhr und die Mode, jeder Dummkopf und Gassenjunge will nach der Mode seyn und ruf sein albernes: Hepp, Hepp!«. Nach Rohrbacher lässt sich die Ausbreitung der Hep-Hep-Unruhen in vier Phasen gliedern: ) In der ersten Augusthälfte breiteten sich die Unruhen von Würzburg aus in einem Radius von mehr als km westlich, östlich und nördlich in zumeist größere Städte aus. ) In der zweiten Augusthälfte griffen die Unruhen dann auf das nördliche Württemberg und Baden über, erreichten das ferne Hamburg und erfassen kleinere Orte Ober- und Unterfrankens. ) Im September gab es antijüdische Unruhen in Dänemark, vereinzelt auch in Preußen. In Kurhessen kam es bis Mitte Oktober zu Ausschreitungen in ländlichen Gemeinden. ) In der preußischen Rheinprovinz kam es im Zusammenhang mit der Ritualmordbeschuldigung in Dormagen im Oktober zu Ausschreitungen in ländlichen Gemeinden.17 Der Ausbruch der Unruhen in Würzburg Es stellt sich die Frage, warum die Unruhen ihren Ausgang gerade in Würzburg nahmen.18 Hier kamen mehrere begünstigende Faktoren zusammen. Zunächst spielt es eine Rolle, dass Juden erst nach dem Ende der geistlichen Herrschaft der Fürstbischöfe () ab wieder ein Niederlassungsrecht in der Stadt bekamen und ihre Zahl bis auf , dann bis auf ca. Personen anwuchs.19 Ab galt auch für Würzburg das bayerische Judenedikt von . Diese Entwicklung hatte, so beginnt jedenfalls der Bericht des Frankfurter Journals über die HepHep-Unruhen, zu Unmut in der Bevölkerung geführt: »Schon lange herrschte hier eine dumpfe Unzufriedenheit über die bedeutende Vermehrung der hiesigen Juden, von welchen in der Vorzeit gar keine hier geduldet waren, die endlich, wie Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Die soziologischen Forschungen zu den Race Riots Mitte der er Jahre in den USA haben gezeigt, dass sich keine Faktoren ausmachen ließen, die erklären, warum in einer Stadt Unruhen ausbrachen, in anderen aber nicht. D. h., wir haben es hier mit einem kontingenten Zusammenhang zwischen Handlungsabsicht und Ereignis zu tun. Ähnlich für die russischen Pogrome Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. ff. StAW Reg. Abg. : »Betreff: Jüdische Glaubensgenossen, deren Verhältnisse«; Generalia. No. : »Verzeichnis über die im Großherzogtum Würzburg befindlichen Juden«, . Nov. . Reg. Abg. : »Übersicht der Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Untermainkreis «, Würzburg Stadt Seelen. In der Würzburger Chronik. Personen und Ereignisse von - von Leo Günther, findet sich für / eine etwas niedrigere Angabe von Juden (S. ).
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der Ausbruch eines Vulkans, in eine volle Empörung gegen dieselben ausbrach.«20 Diese Unzufriedenheit deuten Leo Günther und auch Jacob Katz als Reaktion auf die wirtschaftliche Konkurrenz und den Einfluss der vermögenden Juden bei der Regierung, die anders als die Einheimischen in der jüdischen Wirtschaftstätigkeit einen Vorteil für die Stadt sah.21 Ursula Gehring-Münzel weist auf einige weitere Faktoren hin: Die Emanzipation der Juden war von der in Franken vor allem im Adel und unter den Bürgern ungeliebten neuen bayrischen Regierung über die Köpfe der Bevölkerung hinweg oktroyiert worden, der man nun die Verletzung alter, herkömmlicher Rechte vorwarf. Neben dem Aspekt der Konkurrenz wurden insbesondere das »schnelle Emporkommen« der Juden und ihre angebliche Begünstigung durch die Regierung kritisiert, der man den Vorwurf der Bestechlichkeit machte.22 Die Chancen, die Juden wieder aus Würzburg vertreiben zu können, standen demnach schlecht. Dieser generelle Unmut fand einen Fokus in den Verhandlungen des bayrischen Landtages seit dem Frühjahr , in dem es auch um die Rechtsstellung der Juden ging. Hier standen sich Teile der christlichen Bevölkerung, so auch die Würzburger Bürger, als Beschwerdeführer, die eine Begrenzung der jüdischen Handelstätigkeit verlangten, jüdischen Petenten, wie etwa dem einflussreichen Würzburger Bankier Salomon Hirsch, gegenüber, die um eine Erweiterung der Rechte der Juden bis hin zum vollen Bürgerrecht baten, was auch durch Schriften christlicher Autoren unterstützt wurde.23 Dieser zum Teil auch öffentlich geführte Meinungskampf erfuhr in Würzburg im Sommer noch eine besondere Zuspitzung.24 Nicht nur die gegen die Juden gerichtete Eingabe des Würzburger Handelsstandes25 sorgte für eine Erregung der Gemüter, sondern auch Frankfurter Journal, . August . Katz zitiert Quellen, die eine Atmosphäre von Judenfeindschaft für Würzburg belegen, etwa die diplomatischen Vertreter Österreichs und Preußens in München, die vom tiefen Judenhass der Würzburger berichten (Hep-HepVerfolgungen, S. ). Dazu beigetragen haben mag die Tatsache, dass die Zuwanderung von Juden parallel lief mit dem Verkauf säkularisieren Kirchengutes, wobei sich unter den Käufern auch Juden befanden, denen ein missbräuchlicher Umgang mit diesen religiösen Gegenständen unterstellt wurde. Vgl. Erb/Bergmann, Nachtseite der Judenemanzipation, S. f. Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. f. Ursula Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden zum Staatsbürger. Die gesellschaftliche Integration der Würzburger Juden -, Würzburg , S. . Es vermischen sich in diesen Unruhen also antijüdische mit antibayrischen und regierungskritischen Tendenzen, wobei Letztere sich vor allem gegen die neue konstitutionelle Form richteten und somit konservativ-antiaufklärerische Züge besaßen. Vgl. zu diesen Eingaben und den Landtagsdebatten (vom . März bis . Juli ) ausführlicher Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. ff. Vgl. Erb/Bergmann, Nachtseite der Judenemanzipation, S. . Vgl. zum Nachweis dieser Schriften Volkmar Eichstadt, Bibliographie zur Geschichte der Judenfrage, Bd. , , Hamburg , die Nummern -. Vorstellung des Handelsstands zu Würzburg die Handelsverhältnisse und deren Beeinträchtigung durch Juden und Musterreiter betreffend, , zit. bei Günther, Würzburger Chronik, S. .
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das auf die Bittschrift von Salomon Hirsch, als deren Verfasser den Zeitgenossen der Würzburger Jura-Professor Sebald Brendel galt,26 reagierende Buch Theodor Scheurings, der diese scharf angriff und in seiner Schrift alle gängigen antijüdischen Argumente vorbrachte und an den Würzburger Verhältnissen verdeutlichte.27 Der Inhalt dieser Schrift wurde einem größeren Leserkreis bekannt, als Scheuring Teile davon in einer Voranzeige im Intelligenzblatt für den Unter-Mainkreis des Königreichs Baiern (vom . Juli ) veröffentlichte. Das gleiche Blatt veröffentlichte in derselben Ausgabe (noch einmal wiederabgedruckt am . Juli) eine scharfe Kritik an Scheurings Publikation von Seiten Brendels, in der dieser die »Verbesserung des bisherigen politischen Zustandes der Juden« als »dringend nothwendig« hinstellte und die Veröffentlichung eines Buches über das Staatbürgerrecht der Juden ankündigte, das mit dieser Stoßrichtung argumentieren würde.28 Diesen Verriss beantwortete der Angegriffene am . Juli im gleichen Blatt mit einer wütend-ironischen Antwort, indem er Brendels Schrift »Arroganz, Schwindel und Leidenschaft« vorwarf. Nach Katz lösten die Veröffentlichung von Scheurings Buch sowie die anschließende Polemik zwischen ihm und Brendel einen »Sturm der Gemüter« aus, wobei die Personalisierung die Situation noch dramatisierte, in der nach Meinung zeitgenössischer Beobachter die Mehrzahl der Würzburger auf Scheurings Seite stand.29 Es überrascht nicht, dass bereits vor Ausbruch der Unruhen Juden auf den Straßen Würzburgs mit »Hep«-Rufen angepöbelt wurden. Wie genau die Unruhen am Abend des . August ausbrachen, ist nicht mehr zu rekonstruieren.30 Die Zahl der Tumultuanten war schnell so groß, dass die Polizei die Situation nicht mehr in den Griff bekam und Militär in die Stadt gerufen wurde, wobei es zu Übergriffen gegen die Ordnungskräfte kam (Steinwürfe, Misshandlung eines Polizeidieners); auch Juden, die sich wehrten, wurden verprügelt. Vgl. Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. ff. Theodor A. Scheuring, Das Staatsbürgerrecht der Juden. Eine unpartheiische Würdigung in Beziehung auf die von Salomon Hirsch in Würzburg an die Ständeversammlung in Baiern eingereichte Vorstellung, Würzburg , die Schrift ist wohl im Mai erschienen; vgl. Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. ; zum Inhalt dieser Schrift ausführlich: GehringMünzel, Vom Schutzjuden, S. ff. Dieser Artikel sowie die Antwort darauf von Scheuring vier Nummern später sind abgedruckt in Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, Beilagen A und B; Gehring-Münzel bezweifelt die Quellenangabe, die Kontroverse habe nicht im Würzburger Intelligenzblatt stattgefunden (S. ). Mit Bezug auf die Zeitung Hesperus. Ein Nationalblatt für gebildete Leser, Jg. , Bd. , Beilage vom Oktober , S. : Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. ; Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. . Die Schrift Scheurings hat wohl unter den Juden Würzburgs schwere Besorgnisse ausgelöst, wie die Aufzeichnungen von Le(i)ser Kraft bezeugen (ebd., S. ). Die Augenzeugenberichte von Leser Kraft aus Heidingsfeld finden sich abgedruckt in: Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. -. Zur zeitgenössischen Darstellung über den Verlauf der Unruhen siehe den »Bericht (Zirkular) des kgl. Bayrischen Staatsrats und Generalkommissärs des Untermainkreises, Freiherrn von Asbeck zu Würzburg, . August «, abgedruckt in: Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. f.
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Personen wurden festgenommen. Die Aufrufe des Stadtrates und der Regierung des Untermainkreises an die Bevölkerung, Ruhe zu bewahren, sowie die Aufforderungen an die Vorsteher der Handwerker- und Kaufmannsgilden, wie auch an Universitäts- und Schulleitungen, ihre Zöglinge in Schach zu halten, verstärkte Wachen und Patrouillen sowie die Aufforderung an die Juden, sich abends möglichst nicht auf der Straße zu zeigen und »alles zu meiden, was zu unangenehmen Auftritten führen könnte«, konnten nicht verhindern, dass sich am Abend des . August die Unruhen mit einer noch größeren Teilnehmerzahl und einem höheren Gewaltniveau erneuerten, wofür die Misshandlungen von Juden und auch der nun überall zu hörende Ruf »Schlagt die Juden todt!« sprechen. Hier spielt sicher eine Rolle, dass der beliebte liberale Abgeordnete Professor Behr bei seiner Rückkehr von den Landtagsverhandlungen, die einen Antrag auf Revision des Edikts von erbracht hatten, von einer großen Volksmenge empfangen wurde, wobei hier möglicherweise die Anwesenheit Professor Brendels konfliktverschärfend gewirkt haben mag.31 Die Ordnungskräfte und auch der persönliche Einsatz von Stadtkommissar, zweitem Bürgermeister und Magistratsmitgliedern erwiesen sich als untauglich, die Menge zu beruhigen und die Wohnungen und Geschäfte der Juden gegen die Steinwürfe, Demolierungen und Plünderungen zu schützen, zumal sich auch Soldaten der Garnison an den Ausschreitungen beteiligten.32 Polizei und Militär sahen sich Angriffen der Menge ausgesetzt, und beim Widerstand der Menge gegen die Arretierung eines Tumultuanten wurde ein Würzburger Bürger durch den Schuss eines Polizeidieners getötet. Am kommenden Tag erschoss ein Schuhmachermeister einen Soldaten. Zwar trat am . August abends um elf Ruhe ein, doch kam es trotz einer weiteren Verstärkung des Militärs bereits am Morgen des . August erneut zu Zusammenrottungen und die Menge tobte den ganzen Tag weiter, obwohl das Zur Anwesenheit Brendels vgl. Die Dorfzeitung vom . August , S. , und Confluentia , S. f., Bericht aus Würzburg, die sonst keine Erwähnung findet. Der Stadtchronist Günther schreibt, dass die Rückkehr des Liberalen Behr »von den Würzburgern merkwürdigerweise durch eine reaktionäre Orgie, durch einen regelrechten Pogrom gefeiert« worden sei (Würzburger Chronik, S. ). Schon dem zeitgenössischen Beobachter in der Zeitschrift Hesperus ist diese Verwunderung anzumerken: »Ich wage nicht zu behaupten, dass der zufällige Einzug des Universitäts-Landstandes, Hofraths Behr, den man, freilich sonderbar genug, wie im Triumph durch die ganze Stadt führte, die Unruhe vergrößert habe« (zit. bei Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. ). Wie sehr Brendel das Objekt des Hasses war, zeigen die zahlreichen aufgefundenen Drohbriefe, die seine Entlassung aus der Universität ankündigten, ihn als »Judenrex« oder »Judenprofessor« schmähten, mit seiner Ermordung drohten und seine Verlobte vor dem Verlöbnis warnten (ebd., S. f.). Günther, Würzburger Chronik, S. f. Bei einer Sitzung der Kreisregierung am Morgen des . August wurden von Seiten des Regierungsdirektors schwere Vorwürfe gegen den Würzburger Stadtkommandanten erhoben, da der General das königliche Stadtkommando trotz des Hilfeersuchens des Magistrats nicht eingesetzt hatte. Als dieses schließlich tätig wurde, war der Tumult schnell niedergeschlagen (Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. f.).
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Militär immer weiter verstärkt wurde.33 Es wurden die Schilder von jüdischen Läden heruntergerissen, die Fenster eingeworfen und Häuser geplündert; Juden, die sich wehrten, wurden verprügelt; wie üblich aus den umliegenden Dörfern in die Stadt kommende Juden wurden nach dem Augenzeugenbericht von Leser Kraft von einer wilden Menge verfolgt.34 Die Regierung ließ den Auszug über »Aufstand und Tumult« öffentlich proklamieren, doch blieb die Menge den ganzen Tag über unruhig und musste auseinandergetrieben werden, wobei es – wie erwähnt – unter den Soldaten zu einem Todesopfer kam. Am . August war das Militär dann Herr der Lage, blieb in der Stadt aber noch bis zum . August massiv präsent. Am . August wurden Haupttumultanten verhaftet.35 Unter den Festgenommenen waren durch Versteigerung ihrer Habe verarmte Bürger, verabschiedete Soldaten, Tagelöhner und Gassenjungen sowie ein Regierungsbeamter. Doch darf man von den tatsächlich Festgenommenen nicht – wie Jacob Katz es tut36 – auf die soziale Zusammensetzung der Menge schließen, da ja offensichtlich auch mehrere Bürger auffällig wurden. Die Tatsache, dass ein angesehener Kaufmann und Würzburger Bürger im Tumult erschossen wurde und dass ein von mehreren Offizieren festgenommener Mann sich als Regierungssekretär entpuppte und ein Schumachermeister auf die Soldaten schoss, macht deutlich, dass es sich bei den Tumultuanten keineswegs nur um Ortsfremde, Jugendliche oder »Pöbel« gehandelt hat, sondern dass sich respektable Würzburger Bürger an der Gewalt gegen die Juden beteiligten.37 Regierung und Zeitungen, wie die Allgemeine Zeitung vom . August , Die gesamte Würzburger Garnison rückte aus, verstärkt durch zahlreiche Detachements der Landwehr unter Führung angesehener Bürger (ebd., S. .) Die größte Stärke erreichte das Militär am . August mit Mann – bei . Einwohnern Würzburgs. Vgl. Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. . Ebd., S. f. Ebd., S. ; der allerdings den Bürgern die historische und ideologische Verantwortung zuweist und den engen Kontakt zwischen den sozialen Schichten betont. »Im Bericht des kgl. bayerischen Fiskalats Würzburg über die Untersuchungssache gegen Ludwig Schleicher und Konsorten wegen Erpressung, Landfriedensbruch und Störung des häuslichen Friedens« wird in der »Thatgeschichte« ausgesagt, dass sich »viele Leute von verschiedener Classe« in Würzburg am Abend des . August an dem Auflauf der Menge und den HepRufen beteiligt hätten (Dokument ist abgedruckt in Katz, S. ff.). Die Liste der dort genannten Angeschuldigten umfasst durchaus angesehene Berufe: Bürger und Heckenwirt, Webermeister, Kaminfeger, Tüncher, zwei Schuhmachergesellen, Bürger und Maekler, Hutmacher, Kreis-Kassen-Kontrolleur, Tagelöhner (einmalige Nennung), Zimmerlehrjunge (einmal) und ein zwölfjähriger Junge. Regierungsdirektor Stumpf meldete an das Innenministerium, dass Bürger wie Pöbel das gemeinsame Ziel hätten, »sich aller dahier wohnenden Juden zu entledigen und den hieher handelnden ferneren Zugang zur Stadt zu wehren« (zit. nach Gehring-Münzel, Von Schutzjuden, S. ). Sterling weist zu Recht auf die soziale Zusammensetzung der Judenfeinde hin: »The most dangerous enemies of the Jews came from the educated rather than from the uneducated classes, from urban populations rather than from the superstitious peasantry« (Anti-Jewish Riots in Germany , S. ). Zudem breitete sich die Gewalt eher in den konstitutionell regierten Ländern Süddeutschlands aus als in den ländlichen, von der Landaristokratie dominierten Teilen Preußens.
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versuchten die Beteiligung der Würzburger Bürger herunterzuspielen und machten »zugelaufenes Gesindel« sowie Handwerksburschen, also den »rauflustigen Pöbel« für die Gewalt verantwortlich, doch waren nach Meinung Gehring-Münzels die Ausschreitungen eine genuin Würzburger Angelegenheit.38 Die bedrohliche Lage hatte die meisten Juden der Stadt am . August zur Flucht – zum Teil unter militärischem Schutz – in die Umgebung Würzburgs veranlasst, wobei einige kein Quartier fanden und unter freiem Himmel übernachten mussten.39 Die Juden konnten unter Polizei- und Militärschutz am . August wieder in die Stadt zurückkehren. Die beträchtliche Dauer der Unruhen, die Massivität des militärischen Einsatzes (allein Soldaten versahen zwischen dem . und . August Wachdienst in der Stadt) und die beiden Todesopfer machen deutlich, dass wir es hier nicht mit dem verbreiteten Typus eines kurzfristigen Krawalls auf niedrigem Gewaltniveau zu tun haben, sondern, wie das Frankfurter Journal es formulierte, mit einem »allgemeinen Aufstand gegen die Juden«.40 Wie tiefgreifend die Spannungen waren, zeigt auch die Tatsache, dass in Würzburg »der Geist der Unordnung und Unruhe fort(wirke), welcher durch falsche Gerüchte, freche Schmähungen, Ausstreuung drohender Briefe sowie durch andere boshafte Mittel öffentlich wie heimlich genährt und aufgeregt« würde, so dass man von Regierungsseite weitere Übergriffe fürchtete.41 Nicht zu Unrecht, kam es doch in der letzten Augustwoche zu einem Einbruch in die Synagoge, deren Inneres verwüstet wurde, und zu Anschlägen auf Professor Brendels Wohnung.42 Tatsächlich kam es in Würzburg und Umgebung in den Sommermonaten bis ins Jahr immer wieder zu Demonstrationen, Hetzreden in Kaffee- und Wirtshäusern, Steinwürfen, Schlägereien und Schmierereien an jüdischen Läden und Häusern. Eine andere Methode bestand darin, Hausbesitzer durch die Ankündigung einer Brandstiftung dazu zu bewegen, jüdischen Kaufleuten ihre Läden und Wohnungen zu kündigen. Im Juni kam es wieder zu Übergriffen, als in der Nacht vom . auf den . Juni Türen dreier jüdischer Häuser beschmiert wurden und eine einen Juden darstellende Puppe an einem Dachfenster
Vom Schutzjuden, S. ; dort auch eine Liste der verhafteten Personen. Vgl. Frankfurter Journal vom ..: »Sämmtliche Juden haben sich entweder verborgen oder sind entflohen«. Ebd. Schreiben des Staats-Ministeriums des Innern an die Regierung des Regenkreises vom . September . StAA, Nr. (abgedruckt in Erb/Bergmann, Nachseite, S. ). Günther berichtet ebenfalls von heimlichen Umtrieben und Drohbriefen, u. a. wird die angebliche Entlassung Brendels durch den Senat der Universität verkündet (Würzburger Chronik, S. ). Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. f.; aufgrund eines Drohbriefes waren von der Frau des Hauswirts ein Mordkomplott und ein Brandanschlag auf ihr eigenes Haus fingiert worden, um Brendel aus dem Haus zu bekommen (Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. ).
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aufgehängt wurde, wobei die Täter sich den Spottruf »Achhie« zuriefen. Drei der fünf Täter, Schumachergesellen, wurden der Stadt verwiesen.43 In weiteren Gewalt androhenden Briefen, in denen den Juden »strafbarer Wucher« vorgeworfen und auf die »altherkömmlich, ehrenwerten, fränkischen Gesetze« verwiesen wurde, die »keinem Juden einen öffentlichen Laden gestatten«, richteten sich Vorwürfe und Drohungen aber auch gegen die Regierung. So wird in einem Brief (»Zur Nachricht«) die Regierung als »ungerecht und höchst saumselig« beschrieben, in einem anderen (»Euer Wohlgeboren«) wird behauptet, dass »Schurken und Juden verschwistert den Zügel der Regierung führen«, und es wird angedroht, dass der »niedergedrückte Franke seine Fesseln lösen wird, weder Militär- noch Zivilgewalt wird man achten«.44 Die Königliche Regierung war so besorgt, dass sie den Würzburger Magistrat aufforderte, eine hohe Belohung für die Entdeckung der Urheber der Drohbriefe auszusetzen, und den Gastwirten Strafen androhte, wenn in ihren Etablissements Schmäh- und Drohreden gehalten würden oder Ruhe störende Auftritte vorkämen. Magistrat und die Vorsteher der Gilden reagierten auf diese massive Kritik mit einer Loyalitätserklärung an den König und der Versicherung, nur »sehr wenige« Bürger hätten an den Unruhen teilgenommen. Sie gaben zudem dem Wunsch Ausdruck, künftig »jede Verletzung des Rechtszustandes einer Klasse von Einwohnern, welchen religiösen Glaubens sie seyn mögen« zu verhindern.45 Dahinter stand natürlich auch das Bestreben, die kostenpflichtige Anwesenheit von Militär in der Stadt abzukürzen. Doch erst nachdem die politisch Verantwortlichen der Stadt dem König zugesichert hatten, künftig an der Verhinderung solcher Vorfälle mitzuwirken, wurde die Garnison am . August abgezogen. In der Entschließung des Königs vom . August wird deutlich, dass er mit dem ausgebliebenen Widerstand der Bürger gegen die Gewalt in ihrer Stadt unzufrieden war.46 Die Tatsache, dass Hep-Hep-Unruhen wenig später auch in einer ganzen Reihe anderer Städte ausbrachen, führte die Behörden zu der Annahme, dass die »Judenexzesse« organisiert worden sein müssten (»von geheimer Hand«), dabei konnte man die Drahtzieher als von außerhalb zugewandert ansehen (wandernde Hand Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. . Beide Briefe sind abgedruckt bei Günther, Würzburger Chronik, S. f. Diese Drohbriefe gegen die Regierung trugen dem Würzburger Magistrat heftige Vorhaltungen seitens der Königlichen Regierung ein, die die öffentliche Ordnung und den Ruf der Stadt gefährdet sah (ebd., S. ). Augsburger Allgemeine Zeitung vom . August , zit. nach Katz, S. . »Seine königliche Majestät haben […] ausdrücklich erklärt, dass Allerhöchst dieselben Attentate solcher Art, wie sie dahier vorgefallen sind, nimmermehr dulden zu können und wollen, und dass, wenn ein zügelloser Haufe in der patriotischen Gegenwirkung des größern Theiles der Bürgerschaft kein hinlängliches Gegengewicht fände, die Gesamtgemeinde sich die Folgen der sodann unabwendbaren […] Maaßregeln selbst zuzuschreiben habe.« Königliche Entschließung vom . August , mitgeteilt durch Regierungsentschließung der Regierung des Untermainkreises vom . August , zit. nach GehringMünzel, Vom Schutzjuden, S. .
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werksburschen) oder aber hinter den »planmäßig angelegten Umtrieben« eine langjährig geplante Verschwörung vermuten, oder aber die Anstifter in den Reihen der Würzburger Kaufleute selbst suchen.47 Bei der Kreisregierung und beim Stadtkommissär, der Mitglied der Regierung und nicht des Magistrats war, kam sogar der Verdacht auf, dass es zwischen den Verschwörern und Angehörigen des Magistrats eine Verbindung gäbe. Diese Verbindung erscheint insofern sehr plausibel, als Würzburger Kaufleute im Magistrat und im Gemeindekollegium die Mehrheit hatten.48 Die Regierung verwarnte den Magistrat, rügte ihn in scharfem Ton für sein nachlässiges Vorgehen, forderte alle Amtspersonen zur Mithilfe »bei der Entdeckung aller verdächtigen Umtriebe« auf und setzte sogar eine hohe Belohung für Hinweise auf die Identität der Verfasser der entdeckten Drohbriefe aus.49 Wie ernst es der Regierung war, ist daraus zu ersehen, dass der Stadtkommissär bei Fortdauer der Exzesse mit dem Entzug der der Stadt gerade zuerkannten Selbstverwaltung drohte, zum anderen, dass sie Anfang September der Stadt drohte, im Bedarfsfalle wieder eine starke Garnison zu stationieren oder sogar das Standrecht zu verhängen. Als diese Entschließung der Regierung bekannt wurde, hörten ab Mitte September auch die Drohbriefe und bösartigen Lieder auf, die zur Vertreibung der Juden aufriefen.50 Es gab aber in der öffentlichen Berichterstattung über die Ereignisse auch die umgekehrte Tendenz, nämlich ihr Ausmaß und ihre Bedeutung als bloße Episode herunterzuspielen, insbesondere alles Regierungskritische abzustreiten. Die Gerichte kamen nach ihren Untersuchungen zu dem Schluss, dass es zwar strafrechtliche Vergehen gegeben habe, dass sich aber in Bezug auf die Unruhen keine Verbrechen des Landfriedensbruchs und des Tumults ereignet hätten, während das Würzburger Regierungsfiskalat eine Anklage wegen Landfriedensbruchs zu erreichen suchte, da es von der Organisation der Unruhen überzeugt war.51 Vgl. Günther, Würzburger Chronik, S. f. Günther stellt diese Vermutungen recht ironisch dar, zumal in den wilden Spekulationen liberale Oppositionsblätter mit ihrer Kritik am wachsenden Einfluss der Juden die reaktionären Deutschtümler zu der Idee veranlasst hätten, den Pöbel zu diesen Aktionen anzureizen. »In der Tat eine ganz merkwürdige Kombination, der Liberalismus im Bunde mit der Reaktion !«, kommentiert Günther. Dabei hatte derselbe Autor, der Stadtkommissar Gessert, in seinem Bericht an die Regierung am . September die Urheber und ihre wirtschaftlichen Motive klar benannt: »Die vielen Wahrnehmungen, die ich selber gemacht habe, überzeugen mich lebhaft, daß diese Umtriebe nur von eigennützigen, unruhigen Kaufleuten dahier ausgehen. Welcher hiesige christliche Bewohner, der nicht Tuch- und Warenkrämer ist, hat ein Interesse in dem Umstande zu suchen, daß man die Warenlager der Juden sperrt …?« (ebd., S. ). Zu dieser Auffassung neigt auch Gehring-Münzel, die zahlreiche Aussagen von Augenzeugen und aus Drohbriefen zitiert (Vom Schutzjuden, S. ff.). Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. f. Ebd., S. f. Ebd., S. f.: dort ist auch das Lied »Aufmarsch der Juden« abgedruckt. Bericht des kgl. bayerischen Fiskalats, (Katz, S. ), siehe auch Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. f.: »Die vorherige Zusammenkunft dieser Leute, die nachherigen Versammlungen derselben an denselben Plätzen und zu derselben Zeit, die gemeinschaftliche
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Der Magistrat, eingeklemmt zwischen den Forderungen der Königlichen Regierung und der judenfeindlichen Stimmung unter ihren Bürgern und in seinen eigenen Reihen, sorgte zwar einerseits für die Sicherheit der Juden in der Stadt, begann andererseits aber, deren Aufenthaltsrecht in der Stadt genauer zu prüfen und sie bei fehlenden Nachweisen auch auszuweisen.52 Der Magistrat ging dabei offenbar sehr schikanös und unnachgiebig vor, so dass der bayrische Innenminister Friedrich Karl Graf von Thürheim gegenüber dem amtierenden Regierungsdirektor die Befürchtung äußerte, dass diese Praxis »von dem Pöbel sehr leicht als Belohnung seiner verübten Frevel angesehen werden dürfte«.53 Durch die Intervention der Regierung des Untermainkreises wurde die rigide Politik des Magistrats dann abgeschwächt, so dass statt sieben nur zwei Juden ausgewiesen wurden. Nach Meinung des jüdischen Augenzeugen Leser Kraft bewahrheitete sich aber dennoch die Befürchtung des Innenministers, denn die Untersuchung wurde von christlichen wie jüdischen Zeitgenossen als »Erfolg« der Ausschreitungen verstanden.54 Für den Bankier Jakob von Hirsch bildeten die Unruhen jedenfalls den letzten Anstoß, Würzburg noch im selben Jahr in Richtung München zu verlassen. Die Würzburger Juden mussten in der Folgezeit mit deutlichen Zurücksetzungen leben, so wurden ihre Mitglieder etwa von einer feierlichen Parade der Landwehr am . August ausgeschlossen, und es kam schon am nächsten Tag wieder zu einzelnen Angriffen auf Juden in der Stadt. Die Ausbreitung der Gewaltwelle im Deutschen Bund Die Würzburger Ereignisse erregten in zahlreichen Ländern des Deutschen Bundes und in den europäischen Nachbarländern großes Aufsehen und wirkten als Auslöser für weitere Unruhen. Die Tatsache, dass die antijüdische Gewalt an vielen anderen Orten in Deutschland und bis ins dänische Kopenhagen Nachahmung fand, ist ein Beleg dafür, dass ihr nicht allein lokale Würzburger Umstände zugrunde lagen, sondern dass sie Ausdruck einer verbreiteten Problemlage war. Jacob Katz spricht von einer »ideologischen antijüdischen Gärung«, die durch die auf dem Wiener Kongress auf die politische Tagesordnung geratene Diskussion um die Stellung der Juden, insbesondere was die vollen bürgerlichen Rechte an ihrem Wohnsitz betraf, ausgelöst worden war und in der sich Emanzipationsbefürworter
Bewegung zu den Bestimmungs Orten, die Art der Leitung des Zuges und die Aneiferung, die gewählten Mittel, welche zur Ausführung derselben That dienlich waren, und die Gemeinschaft des Zweckes selbst, lassen keinen andern vernünftigen Entstehungs-Grund zu, als entweder vorherige Verabredung der Theilnahme, oder die Veranstaltung durch einen Dritten«. Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. . StAW, RA , Ministerialanfrage vom . August , zit. nach Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. . Ebd.
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und -gegner scharf bekämpften und dabei die »Gewaltfrage« ins Spiel brachten.55 Die antijüdische Agitation war nicht auf den lokalen Rahmen begrenzt, wie im Fall der Schrift Scheurings, sondern es gab prominente Autoren wie den Heidelberger Philosophen Jakob Friedrich Fries,56 den Jenenser Historiker Friedrich Rühs oder den Hamburger Ludolf Holst, deren Schriften, in denen sie Gewaltreaktionen der Bevölkerung an die Wand malten, wenn man den Juden größere Rechte einräumte, statt sie zu beschränken, reichsweit gelesen wurden. Jacob Katz hat hervorgehoben, dass eine antijüdische Propaganda in allen deutschen Städten verbreitet war, in denen beklagt wurde, dass »diese unwillkommenen Fremden schon mehr, als ihnen zukam, erreicht hatten, und es die Pflicht der Regierungen sei, diese Errungenschaft zu beschränken und gewiß nicht zu erweitern«. Manche Autoren hätten auch gewarnt, »wenn die Regierung nicht die entsprechenden Maßnahmen ergreife, es dazu kommen könnte, daß die Volksmenge zur Selbsthilfe schreiten werde, wie es schon in vorigen Generationen geschehen sei …«.57 Nach Katz hallten »Gedanken an Mord und Vertreibung von Juden […] selbst in den Äußerungen Wohlgesinnter wider«, wobei die Verteidiger der Juden sehr wohl sahen, dass die Gewaltdrohungen und -phantasien der Judenfeinde die Gefahr tatsächlicher Gewaltausbrüche erhöhten.58 Als noch stärkerer Gewaltanreiz wirkten allerdings die antijüdischen Ausschreitungen selbst; die Würzburger Ereignisse wurden zum Fanal für eine ganze Kette von weiteren Unruhen. Die Allgemeine Zeitung aus Frankfurt schrieb bereits am . August: »Wer die gegen die Juden fast überall herrschende allgemeine Stimmung kennt, der sagte schon bei der ersten Nachricht von den Auftritten in Würzburg eine Wiederholung derselben an anderen Orten voraus«.59 Die Ereignisse griffen pogromtypisch zunächst auf die unmittelbare Nachbarschaft Würzburgs nach Heidingsfeld über, wohin sich viele Würzburger Juden geflüchtet hatten. Dort begannen bereits am . August Ausschreitungen und »Hep-Hep«-Rufe. In Brandbriefen wurde mit Feuer gedroht, und als am . August ein Feuer in dem Städtchen ausbrach, wurde den jüdischen Mietern von ihren christlichen Vermietern gekündigt. Trotzdem kam es zu weiteren Brandstiftungen und zu antijüdischen Schikanen der aus Würzburg angerückten Feuerwehr.60 Die Regierung des Untermainkreises reagierte schnell und verurteilte nicht nur die vorgefallenen Exzesse, sondern übertrug den Land- und Herrschaftsgerichten und den Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen, S. f. Vgl. dazu auch Erb/Bergmann, Nachtseite der Judenemanzipation, zu den zahlreichen Schriften der Jahre -. Jakob Friedrich Fries, Über die Gefährdung des Wohlstandes und des Charakters der Deutschen durch die Juden, Heidelberg ; Ludolf Holst, Über das Verhältnis der Juden zu den Christen in den deutschen Handelstädten, Leipzig ; Friedrich Rühs, Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht. Mit einem Anhang über die Geschichte der Juden in Spanien, Berlin . Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen, S. f. Ebd., S. f.; vgl. zu diesen Diskussionen und Gewaltvorstellungen auch Erb/Bergmann, Nachtseite der Judenemanzipation, Kap. III und V. Allgemeine Zeitung, . August , S. (zit. nach Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. ). Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .
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städtischen Magistraten die »schärfste Aufsicht unter eigener Verantwortlichkeit« und machte die Gemeinden kollektiv für die bei den Juden angerichteten Schäden haftbar.61 Es folgten ab dem . August mehrtägige Ausschreitungen in Bamberg, in denen die Fensterscheiben von Juden bewohnter Häuser eingeworfen wurden, obwohl Patrouillen der Bürgerwehr eingerichtet worden waren. Erst ab dem . Juli kehrte wieder Ruhe ein. Ein ähnliches Muster zeigen die Krawalle am . und . August in Bayreuth, wo es bereits seit dem . August Drohbriefe und »Hep-Hep«-Rufe gegeben hatte. Die Unruhen blieben aber nicht auf die Städte begrenzt, sondern es kam in Ober- und Unterfranken auch in kleineren Orten und auf dem Lande zu »Hep-Hep«-Rufen und Übergriffen. So wurden am . August in Sommerach (Unterfranken) und in Rimpar und Leinach bei Würzburg die Synagogen verwüstet, und in der gleichen Nacht zogen die christlichen Einwohner Burgkunstadts mit »Hep-Hep«-Rufen durch die vor allem von Juden bewohnte Unterstadt.62 Außerhalb Ober- und Unterfrankens blieb es in Bayern weitgehend ruhig, es kam nur zu kleineren Vorfällen und Drohbriefen etwa in Regensburg, wo die sofort ergriffenen militärischen Schutzmaßnahmen weitere Eskalationen verhinderten, sowie in Fürth und Zirndorf. Frankfurt am Main Die Vorgänge in Würzburg fanden schnell in Frankfurt und im Großherzogtum Hessen Nachahmung. In Frankfurt gab es dafür begünstigende lokale Bedingungen. Zunächst gehörte Frankfurt zu den Reichsstädten, die an den alten restriktiven Regelungen die Juden betreffend festgehalten hatten, bis sie, wie in Frankfurt durch Karl Theodor von Dalberg, von bis Großherzog von Frankfurt, im Zuge der napoleonischen Besatzung zur Einführung von Emanzipationsgesetzen gezwungen worden waren. Diese versuchte Frankfurt auf dem Wiener Kongress wieder rückgängig zu machen, und es kam zwischen und zu einem Kampf um das Judenregulativ zwischen dem Senat der Stadt Frankfurt und der Israelitischen Gemeinde.63 Der Rat, der Senat und die Bürger, vor allem die Vorsteher Entschließung der Regierung des Untermainkreises, Kammer des Innern, an den Stadtmagistrat zu Aschaffenburg und Schweinfurt und an sämtliche Land- und Herrschaftsgerichte, Würzburg, . August [Staatsarchiv Würzburg: Gericht Schweinfurt ), abgedruckt in Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. f. Ebd., S. ff. Vgl. dazu »Verfügung des Landgerichts Weismain an den Magistrat zu Burgkunstadt, . August «, abgedruckt bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , in der der Magistrat aufgefordert wird, Anzeige über die gemeldeten Vorfälle zu erstatten und eine Landwehr-Compagnie von Mann zu bewaffnen. Vgl. dazu ausführlich: Siegfried Scheuermann, Der Kampf der Frankfurter Juden um ihre Gleichberechtigung (-), phil. Diss. Universität Würzburg, Kallmünz , S. - und -; Dietmar Preissler, Frühantisemitismus in der Freien Stadt Frankfurt und im Großherzogtum Hessen ( bis ), Heidelberg , S. f. Auch Katz betont, dass sich durch die jahrlange Auseinandersetzung über die künftige Rechtsstellung der Juden
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der Gilden und die Kaufleute wachten eifersüchtig über die rechtlichen Beschränkungen und fürchteten, bei der Gewährung aller Rechte für die Juden in wenigen Jahren zu deren Dienern herabzusinken und auf eine »Christengasse« beschränkt zu werden.64 Im Sommer stand die Frage der Verhältnisse der Juden in Frankfurt wieder ganz oben auf der Tagesordnung, da Senat und gesetzgebender Ausschuss von der Kommission des Bundestages aufgefordert worden waren, endlich eine verbindliche Regelung zu verabschieden. Neben dem Streit um das Judenregulativ tobte auch eine Auseinandersetzung um die aufgrund der Missernten von / hohen Getreidepreise, wobei sich die Verwürfe des Kornwuchers vor allem gegen Juden richteten. Der Kampf wurde in einem öffentlichen Flugschriftenstreit ausgefochten.65 Jüdische wie christliche Kaufleute und Bankiers hatten gleichermaßen von den napoleonischen Kriegen profitiert, die wiederum die heimische Industrie ruiniert und viele Menschen arbeitslos gemacht hatten. Deren zunehmende Verarmung kontrastierte mit dem wahrnehmbaren Aufstieg der Juden, die für diese Verschlechterung der Verhältnisse verantwortlich gemacht wurden.66 Am . Juli legten die Deputierten des Frankfurter Senats einen »Entwurf eines Gesetzes der freien Stadt Frankfurt zur Festlegung der privatbürgerlichen Rechte der Juden« vor, der bei der Bundestagskommission keinen Beifall fand, die vielmehr zahlreiche Änderungen zugunsten der Juden forderte. Noch bevor der Vorstand der jüdischen Gemeinde auf den geänderten Entwurf reagieren konnte, brachen in Frankfurt die Hep-Hep-Unruhen aus.67 Als die ersten Nachrichten über die Würzburger Ereignisse in Frankfurt einliefen, die in einer Frankfurter Zeitung (am . August) mit einem aufhetzenden
in Frankfurt die Gegensätze zwischen Juden und der Stadt verschärft hätten (Hep-HepVerfolgungen, S. ). Vgl. die ausführliche Darstellung der Verhandlungen in den gesetzgebenden Körperschaften Frankfurts sowie in der Bundesversammlung in: Paul Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. : Der Gang der Ereignisse, hrsg. vom Kuratorium für jüdische Geschichte e. V. Frankfurt a. M. Bearbeitet und vollendet durch Hans-Otto Schemps, Darmstadt , IV., S. ff. Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. . Es war vor allem die gesetzgebende Bürgerversammlung, in der Vertreter der Kaufleute, Handwerker und Kleinbürger saßen, die nach Katz an den alten Vorurteilen festhielten und in den Juden vor allem Konkurrenten erblickten, aber auch ideologisch mit dem gefährdeten christlichen Charakter der Stadt argumentierten. Nach Katz herrschte in der Stadt eine Atmosphäre der Judenfeindschaft (Hep-Hep-Verfolgungen, S. f.). Nach Arnsberg verfolgte der Frankfurter Senat jedoch keine judenfeindliche Politik, sondern eine ausgesprochen prochristliche, eine, die diesem Bevölkerungsteil nicht abträglich sein sollte. Innerjüdische Angelegenheiten wurden »huldreich« behandelt (Die Geschichte der Frankfurter Juden, S. ). Dazu Preissler, Frühantisemitismus, S. . Scheuermann, Der Kampf der Frankfurter Juden, widmet der literarischen Fehde über den sog. Frankfurter Prozess, die Frankfurter Juden hatten nämlich als letztes Mittel in ihrer Sache den Bundestag als Richter in diesem Streit angerufen, ein eigenes Kapitel (), S. -. Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. . Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden, S. .
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Kommentierung versehen wurden,68 kam es in den Straßen schon am . August zu »Hep-Hep«- und »Jude verreck«-Rufen, allerdings, wie die Allgemeine Zeitung zu berichten wusste, in einer »freundlichen Art«, und eine Menschenmenge trieb sich im jüdischen Viertel herum.69 Am . August gab es in Frankfurt eine erste Reiberei zwischen christlichen Handelslehrlingen und Juden vor der Briefpost, wobei Letztere auf die Verteilung der Post wartend von Ersteren hinausgeworfen wurden. Es kam dabei zu ersten Tätlichkeiten. Obwohl die Kirche am . und auch am Sonntag, den . August von den Kanzeln die Krawalle verurteilen ließ, gingen die Reibereien vor der Post weiter und zwei Tage später sollten die Unruhen größere Ausmaße annehmen, ohne jedoch das Gewaltniveau der Würzburger Ausschreitungen zu erreichen, da es bei Reibereien, Belästigungen und Steinwürfen blieb. Auslöser dafür war das pogromtypische Gerücht, »dass Juden einen Christen geschlagen hätten«.70 Am Sonntag (. August) ließ man Polizeistreifen in der Judengasse patrouillieren, dennoch kam es am Nachmittag dazu, dass Juden von der öffentlichen Promenade der Stadt vertrieben wurden. Am Abend drangen zunächst Dutzende, dann »einige Hundert Menschen«,71 die mit Knüppeln, Steinen und Messern bewaffnet waren, in die Judengasse und die angrenzenden Straßen ein, um die Fenster einzuwerfen, wodurch etliche Juden verletzt wurden, Schüsse abzufeuern, die Wohnungen reicherer Juden zu verwüsten72 und Juden zu attackieren, die sich auf die Straße wagten. Von den auf beiden Seiten abgefeuerten Schüssen sollen auf beiden Seiten
Vgl. Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. f. Sterling, Anti-Jewish-Riots in Germany , S. f. Preissler, Frühantisemitismus, S. f. Ebd., S. . Zum Verlauf der Unruhen in Frankfurt siehe: Bericht des bayrischen Gesandten von Aretin an die Regierung in München. Frankfurt, . August , abgedruckt in Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , wo von einem »Volkshaufe« von »ungefähr Menschen, großentheils aus Straßenjungen, Studenten, Handwerksburschen und Handlungs-Commis, dann Einwohnern aus Sachsenhausen bestehend«, die Rede ist. Katz erwähnt diese zeitgenössische Schätzung ebenfalls, wonach . Menschen zur Judengasse und in die Nachbarstraßen gezogen seien (Hep-Hep-Verfolgungen, S. ), während Rohrbacher von einer »offenbar nach Tausenden zählenden Menge« vor dem Geschäftshaus Rothschilds (Gewalt im Biedermeier, S. ) spricht. Nach Arnsberg wuchs die Menge vor der Konstablerwache »gefährlich auf Tausende an« (Geschichte der Frankfurter Juden, S. ). Dies zeigt einmal mehr, wie unsicher solche Angaben über die Größe einer Menschenmenge sind. Auch das Geschäftshaus der Familie Rothschild wurde angegriffen, was große Besorgnis im Rat des Bundestages auslöste, der in der Stadt versammelt war, da dessen Gelder dort deponiert waren. Die Gesandten der deutschen Staaten nahmen daraufhin ihre Einlagen in ihre Wohnungen mit. Der Präsident des Rates schlug dem Senat der Stadt vor, Truppen aus Mainz zur Hilfe holen zu lassen, was für diesen sehr demütigend war und entsprechend abgelehnt wurde (in: Allgemeine Zeitung, . August ). Die Gesandten übten erheblichen Druck auf den Frankfurter Senat aus, indem sie ihre Regierungen von den Vorfällen in Kenntnis setzten, was am . August sogar zu einer Ministerkonferenz in Karlsbad führte. Auch James Rothschild wandte sich an Metternich um Hilfe, dieser schickte per Kurier entsprechende Mitteilungen nach Frankfurt (Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. -).
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Personen verletzt worden sein. Erst zwei Stunden nach Beginn der Unruhen setzte der Senat die Landwehr ein, die »mit gefälltem Bajonett und Kolbenstößen eingriff und die Judengasse von Tumultuanten säuberte«. Es kam auch zu Verhaftungen, doch musste der jüngere Bürgermeister die Inhaftierten wieder freilassen, um die bedrohlich angewachsene Menge vor der Konstablerwache zu beruhigen.73 Die in Frankfurt ansässigen Gesandten der Mächte des Deutschen Bundes ließen keinen Zweifel aufkommen, dass im Falle, dass die Stadt Frankfurt sie nicht beschützte, man Militär aus der Mainzer Garnison in die Stadt rufen würde.74 Der Senat ließ deshalb spät am Abend noch das städtische Militär und die bürgerliche Kavallerie eingreifen, die bis ein Uhr nachts auf den gefährdeten Straßen die Ruhe wiederherstellten.75 Trotz der Gegenmaßnahmen des Senats, der alle verfügbaren Ordnungskräfte der Stadt auf bot und überall Wachen postierte, die Loyalität der Frankfurter Bürger proklamierte und am nächsten Tag »fremdes Gesindel« aus der Stadt wies, hielten die Unruhen bis zum . August an.76 Die Frankfurter Juden blieben zu Recht skeptisch, zumal der Senat am Nachmittag des . August eine Bekanntmachung an die Bevölkerung anschlagen ließ, in der die Unruhen als jugendlicher Mutwille und als Nachahmung der Vorgänge an anderen Orten verharmlost wurden und der Senat zudem den Juden selbst eine Mitverantwortung zuwies, indem er diese aufforderte, jede Veranlassung zur Beunruhigung der Stadt zu vermeiden und den christlichen Einwohnern durch »unbescheidenes Benehmen und durch Anmaßung« keinen Grund zur Beschwerde zu geben.77 Am . August wurden am Dom Plakate angeschlagen, in denen zu Judenverfolgungen und zum Ungehorsam und zur Ablehnung des Dienstes in der Landwehr aufgerufen wurde. Es mussten Truppen aufgeboten werden, um die Unruhen zu beenden, da sich bei Einbruch der Dunkelheit erneut viele Menschen sammelten und vor der Konstablerwache und in den angrenzenden Straßen wieder Fensterscheiben einschlugen. Es waren in diesen Tagen weiterhin »Hep-Hep«-Rufe zu hören, und einzelne Juden, die sich auf die Straße wagten, wurden misshandelt, doch kam es nicht mehr zu größeren Störungen.78 Erst der Einsatz von Militär ermöglichte den nach Darmstadt, Hanau, Offenbach und anderen umliegenden Orten geflohenen Juden die Rückkehr nach Frankfurt. Die Truppen und die Polizei sicherten das Ghettogebiet
Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden, S. . Preissler interpretiert dieses Verhalten des Bürgermeisters als Ausdruck einer »unverhohlenen Sympathie für die Randalierer« (Frühantisemitismus, S. f.). Vgl. auch Scheuermann, Der Kampf der Frankfurter Juden, S. , der den »Druck der Straße« betont. Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. f.; Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden, S. . Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden, S. . Preissler, Frühantisemitismus, S. . Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. ; Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden, S. . Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden, S. .
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für acht weitere Tage ab.79 Nach Preissler handelte es sich bei den Akteuren vor allem um jüngere Leute aus den unterbürgerlichen Schichten, die sich allerdings, wie schon in Würzburg deutlich wurde, der unverhohlenen Sympathie der Bürger sicher sein konnten.80 Die Frankfurter Bürger versuchten den Gewaltausbruch durch Schweigen vergessen zu machen und strengten auch keine Untersuchung an, um die möglichen Anstifter oder eventuelle Verbindungen zu den Würzburger Unruhen zu finden. Katz betont jedoch, dass der Senat Frankfurts die Ruhestörungen ernst nahm und für Ruhe und Ordnung zu sorgen versuchte, da die Stadt nun, nachdem sie es auf dem Wiener Kongress geschafft hatte, der drohenden Einverleibung in den bayrischen Staat zu entgehen, beweisen musste, die öffentliche Ordnung selbst garantieren zu können.81 Entsprechend wurden in den Proklamationen des Senats auch scharfe Strafverfolgungen angekündigt und die Hausväter verwarnt, ihre Untergebenen zu überwachen. Man verzichtete jedoch darauf, die möglichen Drahtzieher der Unruhen zu ermitteln.82 – Die Unruhen hinderten die Frankfurter Kaufleute nicht, wenige Tage später über die Einschränkung des jüdischen Hausierhandels in Frankfurt zu beraten, wobei sie auf die Unterstützung des Senats zählen konnten. Daran wird erkennbar, dass die Bürger zwar die Gewalttätigkeiten nicht guthießen, aber die Ziele der Tumultuanten durchaus teilten. Auch in den meisten anderen Orten hielt die antijüdische »Gärung« nach Wiederherstellung der Ordnung an.83 Die Unruhen bewogen den Frankfurter Senat zunächst jedoch nicht, den Juden bei der Gewährung privatbürgerlicher Rechte entgegenzukommen, so dass eine Entscheidung über den bürgerlichen Status der Juden in Frankfurt trotz des Drucks von Seiten der Bundesversammlung und insbesondere Metternichs die politischen Gremien noch lange beschäftigen sollte.84
Die jüdische Gemeinde bedankte sich bei den Bürgermeistern für die Bekämpfung der Unruhen und zahlte sogar eine Gratifikation an die Bürgerwehr (Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. ). Preissler, Frühantisemitismus, S. f. Als Täter werden »Gehilfen, Commis, Lehrlinge, Gesellen und Arbeiter« genannt. Arnsberg spricht von Handlungsdienern und stadtfremdem Volk (Geschichte der Frankfurter Juden, S. ). Man hatte offenbar auch Handlungsgehilfen festgenommen, die auf öffentlichen Plätzen Hetzparolen anschlugen (S. ). Um dieser Aufgabe nachzukommen, bewilligte die Gesetzgebende Versammlung des Deutschen Bundes dem Frankfurter Senat auf dessen Antrag hin einen Kredit von . Gulden zur vorübergehenden Verstärkung der Polizei. Vgl. Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden, S. . Ebd. Ebd., S. . Ebd., S. ff.
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Großherzogtum und Kurfürstentum Hessen Als die Frankfurter Unruhen wieder unter Kontrolle waren, begannen am . August die Exzesse in Darmstadt, wo sich »eine nicht unbeträchtliche Menge« in zwei Gassen versammelte, in denen mehrere Juden wohnten. Bis Mitternacht wurden durch Steinwürfe Fenster und Läden der jüdischen Häuser zerstört, Vorgänge, die sich am nächsten Tag unter noch größerer Beteiligung von »unerwachsenen Menschen, Lehrlingen und Handwerksgesellen« wiederholten.85 Erst am . August gelang es der Landwehr mit Mühe, weitere Gewalttaten zu verhindern. Im Großherzogtum Hessen gab es Unruhen in weiteren Orten, und sie erreichten auch Mainz. Das Darmstädter Staatsministerium ging energisch gegen die Tumultuanten vor, da die »polizeiwidrigen Angriffe gegen Israeliten« nicht in ein Zeitalter passen wollten, »in welchem man mit Aufklärung und liberalen Gesinnungen so gern zu prunken pflegt«. Dem sollten »kräftige Maßregeln entgegengesetzt werden«.86 Durch die am . September ergangene Ankündigung, die Gemeinden für weitere Schäden haftbar zu machen (allerdings »vorbehältlich ihres Rückgriffs gegen die Schuldigen«), sollten die Verantwortlichen vor Ort zum Durchgreifen gezwungen werden.87 Anlass für diese gewalttätige »Gegenreaktion« wird nach Eckart G. Franz die von Regierungsseite »geförderte Einbeziehung der Juden in den neuen Staat und seine bürgerliche Gesellschaft gewesen sein«.88 In Kurhessen gab es Unruhen vor allem in Fulda und Kassel, aber auch in kleineren Orten. Nachdem in Fulda bereits am . August erste Drohungen, Steinwürfe und »Hep-Hep«-Rufe seitens kleinerer Gruppen junger Leute und Handwerksburschen registriert worden waren, blieb es in der Stadt unruhig, und am . wurde am Morgen in einem »Circular an die Bürger der Stadt Fulda« dazu aufgerufen, die Juden wie in Würzburg und Frankfurt aus der Stadt hinauszuprügeln, was in den Abendstunden dann zu erneuten Zusammenrottungen junger Leute führte. Doch konnte ein Ausbruch der Gewalt durch Militärpatrouillen verhindert werden.89 Die Nachrichten über die Unruhen in Fulda und die Vorgänge in Würzburg und Frankfurt sorgten auch auf dem Lande rings um Fulda für entsprechende Gerüchte Preissler, Frühantisemitismus, S. f. Der preußische Gesandte von Otterstedt berichtete am . August nach Berlin, dass sich »in der Großen und Kleinen Ochsengasse eine ungewöhnliche Menge Menschen versammelt« hatte. In der folgenden Nacht hatten sich »noch mehr Menschen zusammengerottet, alle gütlichen Aufforderungen, sich zu entfernen, nicht geachtet und Exzesse mancherlei Art begangen. Es wurden mehreren Juden die Fenster eingeworfen« (Eckhart G. Franz (Hrsg.), Juden als Darmstädter Bürger, Darmstadt , S. ). Franz, Juden als Darmstädter Bürger, S. . Beruhigend fügte das Staatsministerium jedoch hinzu, dass an »den Unordnungen kein solider rechtlicher Bürger und kein achtbarer Familienvater Anteil genommen habe«. Franz, Juden als Darmstädter Bürger, S. . Ebd. waren nach einer längeren Phase einer restriktiven Ansiedlungspolitik gleich zehn prominente Mitglieder der jüdischen Kaufmannschaft als Darmstädter Bürger aufgenommen worden (S. ). Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .
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und Befürchtungen, doch kam es nicht zu Übergriffen. Bis in den Oktober hinein waren aber an vielen Orten Kurhessens antijüdische Umtriebe zu verzeichnen, die sich abgesehen von gelegentlichen Steinwürfen zumeist in Drohungen, Gerüchten und Flugschriften sowie Anschlägen mit entsprechenden Gewaltaufrufen manifestierten, die Gegenmaßnahmen der Behörden auslösten. Diese Art von Vorkommnissen fand sich nach Rohrbacher auch im württembergischen Franken, wo vielerorts »Hep-Hep«-Rufe und ähnliche »Neckereien« sowie Drohbriefe und Steinwürfe berichtet wurden, während es in den übrigen Gebieten des Königreichs Württemberg ruhig blieb.90 Großherzogtum Baden Dies galt nicht für das angrenzende Großherzogtum Baden, wo es in der zweiten Augusthälfte sowohl in den Handelsstädten wie auch auf dem Lande zu erheblichen Ausschreitungen kam. In dem Bericht eines Heidelberger Regierungskommissars wurden die Ursachen der Hep-Hep-Unruhen benannt: »Als Motiv der Judenmißhandlungen gibt man allgemein derselben schnelles Emporkommen in allen Bereichen, deren angebliche Begünstigungen durch die Regierung, sodann den Handwerksneid an, weil einigen Juden verstattet wurde, mit Meubles zu handeln«.91 Ähnlich äußerte sich der Minister des Innern, Ernst Philipp Freiherr von Sensburg,92 über die Ursachen der Unruhen, indem er zugleich auf die Widersprüchlichkeit der christlichen Forderungen verwies. »Ackerbau und zünftige Profession habe der Christ voraus und will sie dem Juden nicht zulassen. Auf der anderen Seite wolle man den Juden Handel abgewöhnen, auf der anderen Seite sie von Ackerbau und Gewerbe fernhalten«.93 Verhandelt wurde also der Status Ebd., S. f. Über Vorfälle in Württemberg, hier in den Oberämtern Mergentheim, Künzelsau und Crailsheim, berichtet Jeggle (Judendörfer in Württemberg, S. -). Es handelte sich dabei um vielerorts vorkommende »Neckereien« und Zettel mit Drohungen gegen die Juden, die in einigen Orten, wie Berlichingen, auch zu Steinwürfen einiger junger Burschen gegen einige jüdische Häuser oder zu physischer Gewalt eines betrunkenen Soldaten gegen einen einzelnen Juden ausarten konnten. Deutlich werden bei diesen Vorfällen einerseits die geringe Einsatzbereitschaft bzw. die Hilfslosigkeit von örtlichen Amtspersonen (Polizeidiener, Gemeindevorsteher), das Zusammenhalten der christlichen Dorfgemeinschaften, die nichts gesehen haben wollten, aber auch die Versuche von höheren Stellen, die Vorfälle zu untersuchen, auch wenn diese Untersuchungen meist nichts erbrachten und nur selten zur Bestrafung von Tätern führten. Jeggle berichtet von einem Fall in Künzelsau, wo »Hep-Hep«-Rufe von Erwachsenen mit einer Geldstrafe, von Kindern mit »Rutenstreichen« zur Erlernung von Toleranz geahndet wurden (S. ). Jürgen Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, hrsg. vom Landratsamt Karlsruhe, Karlsruhe o. J., S. . Ernst Philipp Freiherr von Sensburg (-) war ein badischer Minister und Diplomat. Er stammte aus einer jüdischen Familie. Sein Vater war zusammen mit seinen Kindern konvertiert. Jürgen Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal – mit einem Beitrag von Thomas Adam, Ubstadt-Weiher , S. .
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des jüdischen Bürgers in der ländlichen wie der städtischen Gemeinschaft, womit zugleich deren eigener Status tangiert war. Die Begünstigung seitens der Regierung betraf ja vor allem die Fragen des Ortsbürgerrechts und der Aufhebung von Handelsbeschränkungen. Aber auch auf andere Maßnahmen, die Juden zu bevorzugen schienen, wurde schnell mit Gewalt reagiert. Während sich am ./. August in Karlsruhe und auch in Mannheim die judenfeindlichen Aktionen auf den Anschlag von Drohplakaten, Kaffeehausdiskussionen, »Hep-Hep«-Rufen und vereinzelten Übergriffen beschränkten, brachen zwischen dem . und . August die ersten größeren Ausschreitungen in kleineren Städten, wie Pforzheim, Bühl sowie Heidelsheim94 und Untergrombach,95 beide zwischen Bruchsal und Karlsruhe gelegen, aus, die in einigen Fällen erst durch herbeigerufenes Militär unterdrückt werden konnten.96 Die badischen Autoritäten gingen gegen die Unruhen energisch vor. So drohte das badische Innenministerium in einem Erlass vom . August ein hartes Vorgehen an.97 In Heidelsheim sollten auf Anordnung des Ministeriums alle Heidelsheimer Bürger einbestellt und ihnen eine Frist von Stunden eingeräumt werden, um die Täter zu benennen, die dann für den angerichteten Schaden aufkommen müssten. Sollte dies erfolglos sein, so sollte der betreffende Geldbetrag ohne Verzug von der gesamten Gemeinde eingetrieben werden. Die Heidelsheimer beugten sich diesem Druck nicht und behielten die Namen der Täter für sich.98 Zu großen Ausschreitungen kam es dann in den beiden größeren Städten Heidelberg und Karlsruhe. In Heidelberg waren schon einige Tage »Hep-Hep«-Rufe zu hören gewesen, aber von den Behörden als nicht gefährlich eingestuft worden, bis dann am . August der sog. »Heidelberger Judensturm« losbrach.99 Über die erste zur Eskalation führende Entwicklung gibt es widerstreitende Berichte von Nach einem Bericht der Weimarischen Zeitung vom .. konnte man der Ausschreitungen in Heidelsheim nur durch den Einsatz von Militär Herr werden (Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ). Knapp zwei Wochen später wurde der Weinberg des Vorstehers der jüdischen Gemeinde und weiterer Juden verwüstet. Als Auslöser für diese neuerlichen Übergriffe nannte das Bruchsaler Oberamt die angebliche Bevorzugung von zwei »Judensöhnen« bei einer Musterung (Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal, S. f.). Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Ebenfalls wurde die jüdische Leichenhalle auf dem Friedhof in Obergrombach angezündet, und es kam dort zu weiteren Akten des Vandalismus (Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal, S. ). Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. ; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Reinhard Rürup, Die Judenemanzipation in Baden, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins , , S. -, hier S. . Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal, S. . In Heidelsheim kam es und wiederum zu »kleinen Ausschreitungen und Sachbeschädigungen« gegen die jüdischen Einwohner (Otto Härdle, Heidelsheim. Geschichte und Bild einer ehemaligen Reichsstadt, Heidelsheim , S. ). gab es in Heidelsheim erneut Ausschreitungen gegen die ansässigen Juden (s. u.). Heidelsheim ist heute ein Ortsteil von Bruchsal. Nach Michael Anthony Riff gibt es widerstreitende Berichte über einen allerdings isoliert bleibenden Vorfall (»Erdmann-Affäre«) in Heidelberg im März (The Anti-Jewish
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Seiten des Stadtdirektors und in der Darstellung der Neuen Speyerer Zeitung.100 Ob nun, wie die Zeitung behauptet, ein jüdisches Mädchen durch einen Bürger beleidigt und dieser dann verhaftet und durch die Bürgermiliz eigenmächtig befreit wurde,101 oder ob ein Müllermeister am . August wegen seiner »Hep«-Rufe und Morddrohungen vor der Wohnung eines Juden arretiert, am nächsten Morgen aus dem Arrest geflohen war und von einigen Grenadieren oder Bürgern gegen eine Wiederverhaftung durch den Polizeidiener geschützt worden war, in jedem Fall scheinen Ereignisse dieser Art, die typische Trigger-Ereignisse darstellen, den Anlass für die Zuspitzung der antijüdischen Erregung an diesem Tage gegeben zu haben.102 Der Ausbruch von Gewalt wurde dadurch begünstigt, dass der Großherzog an diesem Tage Namenstag hatte und so eine größere Menschenmenge in Volksfeststimmung auf den Straßen unterwegs war und den ganzen Tag Gerüchte kursierten, es sei für die Nacht ein »Juden-Lärm« verabredet. Nachdem zunächst nur Neckereien und grobe Scherze zu hören gewesen waren, sammelten sich am Abend des . August »Schaaren von Heppmännern«, wohl vor allem Handwerksburschen und Straßenjungen, und zogen mit Äxten und Brecheisen bewaffnet in die Judengasse, wo sie im Laufe der Aktion von einer größeren Menschenmenge unterstützt in die Häuser wohlhabender Juden eindrangen, sie plünderten und den Hausrat zerstörten, wobei erheblicher Sachschaden entstand.103 Die Neue Speyerer Zeitung hebt besonders hervor, dass die Plünderer drei Stunden lang ungestört agieren konnten und weder Polizei noch die an dem Tag in der Stadt paradierende und unter Waffen stehende Bürgergarde eingegriffen hätten.104 Hilfe kam denn auch
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Aspect of the Revolutionary Unrest of in Baden and its Impact on Emancipation, in: Leo Baeck Institute Year Book , , S. -, S. ). Die Darstellung der Zeitung ist abgedruckt in Wirtz, »Widersetzlichkeiten«, S. f.; Rohrbacher folgt der Darstellung des Stadtdirektors, Gewalt im Biedermeier, S. ff. Diese Version zitiert auch Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , der sich auf einen Bericht der Schwäbischen Kronik vom .. bezieht. Nach Mumm seien die Juden schon am . August durch »Hep-Hep«-Rufe und Drohungen über eine bevorstehende Abrechnung angegriffen worden, so dass schließlich ein Müllermeister festgenommen wurde, der aber im Schutz der Volksmenge aus dem Rathaus wieder hatte flüchten können (Hans-Martin Mumm, »Denket nicht: ›Wir wollen’s beim Alten lassen.‹« Die Jahre der Emanzipation -, in: Norbert Giovannini, Jo-Hannes Bauer, Hans-Martin Mumm (Hrsg.), Jüdisches Leben in Heidelberg. Studien zu einer unterbrochenen Geschichte, Heidelberg , S. -, hier S. ). Nach Mumm betonten Zeitgenossen wie üblich die niedere soziale Herkunft der Tumultuanten (»Pöbel aus der Vorstadt«, eine »Menge großer und kleiner Kinder« usw.), doch sieht Mumm in den Ausschreitungen eher eine Aktion von Handwerkern, denen sich nichtzünftige Armut und Gassenjugend angeschlossen hätten. Von den Verhafteten, von denen der Stadtdirektor nur neun als Beteiligte identifizierte, waren vier nichtbadische Handwerksgesellen sowie fünf Söhne Heidelberger Bürger (darunter ein Maurer- und ein Schreinergeselle und wohl auch ein Schlosser), die zu Geldstrafen verurteilt wurden (Mumm (Hrsg.), Jüdisches Leben in Heidelberg, S. f.). Neue Speyerer Zeitung, Nr. , vom . August , zit. nach Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. .
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nicht von dieser Seite, sondern von zweihundert Heidelberger Studenten, die die Juden vor weiteren Misshandlungen und Plünderungen bewahrten und die auch in den nächsten Tagen zusammen mit (wenigen) anderen Bürgern durch Patrouillegehen für Ruhe in der Stadt sorgten.105 Dennoch flammten am . August, einem Sonntag, noch einmal »Hep-Hep«-Rufe auf, und es gab Konflikte mit den Patrouillen. Ähnlich wie schon in Würzburg lässt sich eine sehr unterschiedliche Haltung seitens der Regierung des Neckarkreises und der Lokalbehörden bzw. der Einwohnerschaft feststellen, die anschließend auch in den Fragen der Zurechnung von Verantwortung und der Zusammensetzung der Tumultuanten zu beobachten ist. Während die Regierung den Studenten am . August ihren Dank aussprach und der Kreisdirektor sogleich Militär in die Stadt holte, hatten sich die Studenten bei den Heidelbergern, insbesondere bei den Handwerkern, mit ihrer Hilfsaktion und den vorgenommenen Verhaftungen verhasst gemacht, so dass am . August Gerüchte umliefen, man werde am Abend erneut gegen die Juden und »die hiesigen Akademiker zu Feld ziehen.«106 Es scheint so, dass sich der Unmut nun stärker gegen die Studenten richtete, und so war der militärische Schutz auch für diese gedacht. Die Neue Speyerer Zeitung erhob deshalb gegenüber den Bürgern der Stadt den Vorwurf, das Treiben der Gassenjungen mit verursacht und gebilligt zu haben.107 Für die Triftigkeit dieses Vorwurfs spricht der ausbleibende Einsatz der lokalen Ordnungskräfte wie auch die Tatsache, dass sich eine größere Menschenmenge beteiligte, in der sich auch Bürger befunden haben dürften – der am Vortag arretierte »Hep«-Rufer war ein Müllermeister, und unter den wenigen festgenommenen Tumultuanten befanden sich immerhin fünf Heidelberger Bürgersöhne. Wie Rainer Wirtz zeigt, findet sich auch in Heidelberg die Tendenz, die Unruhen in ihrer Bedeutung herunterzuspielen und auf den Pöbel zu schieben, Nach einem zeitgenössischen Bericht wären alle jüdischen Häuser geplündert und zerstört worden, wäre nicht »plötzlich eine ungewöhnliche Hilfe gekommen […] Blitzschnell bewaffnete sich die studirende Jugend, Schläger und Hieber wurden geschwungen. Zwei unser hochgeachtetsten Lehrer, der eine Jurist, der andere Theolog, dieser versehen mit einen Rapier, jener mit einem Degen, führten ihre Zuhörer an. Ein Sieg ohne Kampf; der Feind nahm Reißaus beim Anblick der akademischen Rüstschar« (Mumm, »Denket nicht: ›Wir wollen’s beim Alten lassen‹«, S. ). Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , zitiert hier eine Quelle aus dem Universitätsarchiv. Die Anforderung von Militär wurde flankiert durch weitere Maßnahmen, so rief der Stadtdirektor die Viertel- und Zunftmeister sowie die Offiziere der Bürgergarde zusammen, um mit ihnen das weitere Vorgehen und einen Aufruf an die Bürger zu beraten (Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. ). »Diesen edlen Sinn [der Studenten, W. B.] noch durch lobenden Commentar hervorzuheben, wäre überflüssig, zumal da es diejenigen nicht daran fehlen lassen werden, die diesen Exzessen mit stiller Freude zusahen, oder sie durch jahrelange Machination hervorgebracht haben. ›Nur Pöbel und Straßenjungen‹ waren die Thäter, wird man hier und anderwärts sagen. Aber es bleibt doch immer rätselhaft, was in so vielen Städten gerade die Gassenjungen allarmirte !!?« (Neue Speyerer Zeitung, . August ).
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während die Bürgerschaft der Stadt als friedliebend dargestellt wird.108 So zitiert er Leserbriefe aus der zuvor so kritischen Neuen Speyerer Zeitung, deren Schreiber behaupten, mehrere Heidelberger Bürger und Magistratspersonen hätten versucht, sich gegen die Gewalt zu stellen, und sogar weitere jüdische Häuser vor Plünderung bewahrt.109 Dieser Tendenz folgte auch der offizielle Untersuchungsbericht, und auch die von Bürgern und den »Herren Akademikern«, nach Beilegung ihres Streits, verfassten Kommuniqués über das Geschehen, in denen der Gewaltausbruch zu einem »Unfug« verharmlost und der Konflikt zwischen Bürgerschaft und Studenten bis zur Unkenntlichkeit abgemildert wird.110 Zeigten die lokalen Stellungnahmen wie fast immer auch hier eine Tendenz zur Verharmlosung der Vorfälle, reagierten die übergeordneten Behörden weniger nachsichtig. So sahen auch die vorgesetzten Behörden des Neckarkreises die Vorfälle kritischer, insbesondere die mangelnden Vorkehrungen bzw. »absichtsvolle Nachlässigkeit« seitens des Stadtdirektors (dessen berufliches Schicksal zur Disposition stand), die Passivität der lokalen Ordnungskräfte, die Beteiligung auch von Bürgern sowie die als gering eingeschätzte Bereitschaft der Lokalbehörden, an der Aufklärung des Geschehens mitzuwirken, die diese vielmehr blockierte.111 Auch dem von der Regierung des Neckarkreises eingesetzten »Special Commissaire« gelang es nicht, die Namen möglicher Tatbeteiligter herauszubekommen – die Heidelberger Bürger schwiegen, so dass dieser zu dem Schluss kam, dass »die Urheber der Unordnung weit ausgedehnt sind, und große Bemühungen gemacht werden, um verborgen zu bleiben«.112 Auch was die Motive angeht, kommt der Special Commissaire zu klaren Aussagen. Er verneint jegliche Verbindung zu revolutionären Umtrieben und sieht die Ursachen in dem Neid auf das schnelle Emporkommen der Juden, das durch die Regierung begünstigt würde, und in der Konkurrenz zu einheimischen Handwerkern. Dennoch ist gerade für Heidelberg der Einfluss der antisemitischen Schriften der einheimischen Professoren Jakob Friedrich Fries und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus113 von großer Bedeutung, Mumm, »Denket nicht: ›Wir wollen’s beim Alten lassen‹«, S. (FN ), wirft Wirtz vor, dass dieser versuche, die Bürger Heidelbergs als Haupttätergruppe hinzustellen, womit er die »Judenfeindlichkeit der Unterschichten aus dem Blickfeld« schiebe. Neue Speyerer Zeitung, Nr. , vom . September , zit. nach Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. . Ebd., S. . Es waren demnach nur ein paar Unverständige, die in der Einmischung der Studenten eine Anteilnahme am Judentum zu sehen glaubten, während es diesen doch nur um die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung gegangen sei. Die Bürgerschaft habe deshalb auch keinen Anteil an den »Unbilden«, die einzelne Studenten erfahren mussten. Dieses Kommuniqué übt im Übrigen auch Kritik an dem ersten Bericht der Neuen Speyerer Zeitung, der die Untätigkeit und Mitverantwortung der Heidelberger Bürger herausgestrichen hatte. Vgl. »Aus dem Bericht des Kreisdirektors Siegel über die in Heidelberg ergriffenen Maßnahmen« (. August , abgedruckt in Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. f.). Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. . Vgl. die von Paulus herausgegebene Schrift Beiträge von jüdischen und christlichen Ge-
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da diese die Debatten um die Rechtsstellung der Juden, um die es sowohl in der badischen Verfassung wie in der Bundesakte (Artikel ) ging, weiter anheizten und ihnen eine antijüdische Richtung gaben.114 Die Judenemanzipation war ein heißes öffentliches Thema, und die große Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere auch der gebildeten Schichten, lehnte sie ab. Umso erstaunlicher war der Einsatz der Studenten zum Schutz der Juden. Die geschädigten jüdischen Hausbesitzer klagten auf Schadensersatz, zumal der entstandene Schaden nicht unbeträchtlich war. Nach Mumm waren aber die Häuser nicht unterschiedslos angegriffen worden, sondern offenbar vor allem solche mit Geschäften, die in Beziehung zum Handwerk standen (z. B. Möbel verkauften), während benachbarte Häuser reicher Juden nicht betroffen waren. So war ein sehr hoher Schaden im Haus von Samuel Hirsch entstanden, dessen Sohn das Schreinerhandwerk erlernt und einen Möbelhandel eröffnet hatte. Der Tumult beschränkte sich aber nicht auf eine Zunft, sondern hatte das gesamte handwerkliche Milieu erfasst. Insofern scheint die These von Handwerkerprotesten gegen jüdische Geschäftstätigkeit als plausibel, doch kann man das hohe Gewaltniveau und die Judenfeindschaft als Indikatoren dafür ansehen, dass die Motive für die Tumulte über die üblichen Handwerkerproteste hinausgingen.115 Die Hemmschwelle für die gewalthaften Proteste war nach Mumm nicht einfach dadurch herabgesetzt, dass die Angegriffenen Juden waren, sondern weil die Reformen von den Juden gegen »alles Herkommen« nun die Möglichkeit eröffneten, ihre Erwerbstätigkeit in die handwerkliche Sphäre auszudehnen. Auch für Karlsruhe gab der Minister des Innern eine ähnliche Motivlage an, nämlich den Widerwillen der christlichen Ortsbürger und Handwerker gegen die Teilhabe der Juden an Ackerbau und zünftigem Gewerbe, auch hier vor allem gegen den konzessionierten Handel mit Möbeln, doch verliefen die Ereignisse in der Residenzstadt glimpflicher, wo eine Plakatierungsaktion an jüdischen Häusern und der Synagoge den Juden »Tod und Verderben« ankündigte und es zu »Hep-Hep«Rufen auf den Straßen und zu heftigen Wirtshausdebatten und sogar zu Angriffen auf Juden durch Einzelpersonen kam. Zwei Tage nach dem »Heidelberger Judensturm« schien sich am . August in Karlsruhe etwas Ähnliches zu entwickeln, als sich am Abend eine Menschenmenge unter »Hep-Hep«-Rufen versammelte, lehrten zur Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens, Frankfurt a. M. . Zu Paulus siehe auch Werner Bergmann, Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. /, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. f. Vgl. den Brief Rahel Varnhagens aus Karlsruhe, die Professoren wie Fries und Rühs, aber auch Literaten wie Achim von Arnim und Clemens Brentano vorwarf, das Volk negativ zu beeinflussen (Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eignen Lebens. Die Karlsruher Jahre -, hrsg. von H. Haering, Karlsruhe , S. ). Mumm (Hrsg.), Jüdisches Leben in Heidelberg, S. . Sechs Juden hatten Schadensersatz angemeldet, dessen Summe sich insgesamt auf über . Gulden belief, wobei der Schaden für die einzelnen Häuser eine erhebliche Spannbreite aufwies: zwischen . und Gulden.
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wobei die Stimmung nach Aussagen des Augenzeugen Ludwig Robert, des Bruders Rahel Varnhagens, eher karnevalesk als wirklich fanatisch-bedrohlich gewesen sein soll.116 Anders als in Heidelberg wurden hier von den vorgewarnten Behörden jedoch sofort Kavalleriepatrouillen eingesetzt, Unruhestifter verhaftet und Ausgangssperren verhängt, so dass die Lage nicht eskalierte. Bis Mitternacht war die Ruhe wiederhergestellt.117 Wirtz erklärt dies damit, dass Karlsruhe als politisches Zentrum stärker auf Ruhe und Ordnung bedacht und zudem besser mit Polizei und Militär ausgestattet war. Zudem konnte man dort die Autorität des Großherzogs zum Judenschutz nutzen.118 Nach diesen Vorfällen sind in Baden keine weiteren Vorfälle mehr registriert worden. Nach Sterling reagierten viele jüdische Familien mit einer Flucht aus Baden, um im nahen Frankreich Schutz zu suchen. Die Regierung habe sogar Wachposten an den Landstraßen aufstellen müssen, um die Flüchtenden vor Übergriffen der Bauern zu schützen. Wie in anderen Staaten des Deutschen Bundes geriet nach der Emanzipationsprozess auch in Baden ins Stocken, zumal sich auch im badischen Parlament eine judenfeindliche Stimmung zeigte. Die Neufassung der Gemeindeordnung von nahm einige Errungenschaften der früheren Edikte wieder zurück bzw. schränkte sie ein.119 In anderen deutschen Staaten, wie in Sachsen und Mecklenburg, beschränkten sich die Übergriffe, etwa in Leipzig, Dresden und Güstrow, auf Steinwürfe gegen die Fenster jüdischer Häuser oder auf das Auslegen von Brandschriften, auf Plakatanschläge mit Drohungen, auf »Hep«-Rufe und auf das »Anklopfen« an die Häuser jüdischer Einwohner, zumal die Behörden entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatten120 Preußen Nachdem man in der historiographischen Literatur lange angenommen hatte, dass die Hep-Hep-Bewegung sich nicht nach Preußen ausgedehnt hätte, so hat man inzwischen doch ihre Ausläufer in preußischen Orten nachgewiesen, auch wenn die Wachsamkeit der Behörden, etwa auch durch Publikationskontrolle, indem kleinere Zwischenfälle nicht öffentlich gemacht wurden, eine Eskalation verhindern konnte.121 Zit. nach Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. ff. Siehe auch: Jael B. Paulus, Emanzipation und Reaktion -, in: Juden in Karlsruhe. Beiträge zu ihrer Geschichte bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung, hrsg. von Heinz Schmitt unter Mitwirkung von Ernst-Otto Bräunche und Manfred Koch, Karlsruhe , S. -. Nach Angabe von Sterling verließ der Großherzog sein Schloss, um das Haus des jüdischen Bankiers von Haber, das Ziel von Angriffen zu werden drohte, durch seine persönliche Anwesenheit zu schützen (Anti-Jewish Riots in Germany , S. ). Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, S. . Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. -. Katz spricht von zehn Orten, an denen es zu kleineren Vorfällen gekommen sei, darunter
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In den preußischen Provinzen lässt sich vielerorts von der Rheinprovinz über Westfalen bis hin nach Ostpreußen und Schlesien die mobilisierende Wirkung der südwestdeutschen Hep-Hep-Unruhen erkennen, doch blieb es zumeist bei drohenden Aufrufen und Plakatanschlägen, antijüdischen Schmierereien, vereinzelten Steinwürfen gegen Synagogen oder die Häuser von Juden sowie gelegentlichen Tätlichkeiten gegen einzelne Juden. Zu kleineren Eskalationen, in denen eine zusammengelaufene Menge Steine warf und einzelne Juden verprügelte, kam es am . September in Enger (Westfalen) und in der zweiten Oktoberhälfte in Dormagen und Umgebung, wo im Gefolge der Ritualmordbeschuldigungen jüdische Gottesdienstbesucher tätlich angegriffen wurden.122 Anders war die Situation in Danzig, das nach zu den neuen bzw. wiedereingegliederten Gebieten Preußens zählte, in denen das Emanzipationsedikt von keine Anwendung finden sollte, wenn auch bereits als Staatsbürger anerkannte ansässige Juden ihre Rechte behalten konnten. Am Fall Danzigs, zu dem Michał Szulc eine sehr detaillierte Studie vorgelegt hat, auf die sich die folgende Darstellung stützt,123 lässt sich zeigen, wie der Einsatz kollektiver Gewalt ein Mittel in einem politischen Konflikt über die Frage der Bürgerrechte der Juden bildete, zu dem immer dann gegriffen wurde, wenn man die eigenen Rechte durch staatliche Entscheidungen als verletzt ansah. So waren in Danzig die Jahre ab von lokalen Einschränkungsversuchen hinsichtlich der Rechte und des Zuzugs von Juden bestimmt. Dies ging zunächst von der Stadtverordnetenversammlung, später auch vom Magistrat Danzigs aus, die dafür auch die Unterstützung bei der eingerichteten Danziger Regierung und beim Oberpräsidium von Westpreußen unter dem Oberpräsidenten Theodor von Schön fanden.124 Nach Szulc wurde die Frage der Präsenz von Juden in der Stadt in diesen Jahren auch auf den Straßen der Handelsstadt diskutiert, und es kam »regelmäßig zu verbalen Angriffen und einzelnen Exzessen zwischen christlichen und jüdischen Verkäufern auf dem St.Dominik-Jahrmarkt«.125 Im Jahre dauerten diese Tätlichkeiten sogar über drei Tage an, bis die Polizei sie beenden konnte. Zusätzlich zu diesem Konflikt um die
Berlin (Hep-Hep-Verfolgungen, S. ff.), während Rohrbacher von keinem nennenswerten Echo in Berlin spricht (Gewalt im Biedermeier, S. ). Sterling sieht vor allem sozioökonomische Ursachen für die geringere Resonanz der Hep-Hep-Welle in Preußen. Die befreiten Bauern hätten weniger in den jüdischen Geldverleihern als in den adligen Grundbesitzern ihre Gegner gesehen, und die Kaufleute und Gildenmeister hätten durch die Reform von ihren Einfluss bereits zu weitgehend verloren, um gegen die Handelstätigkeit der Juden vorgehen zu können (Anti-Jewish Riots in Germany , S. ). Vgl. die Übersicht bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ff.; Katz kommt deshalb zu dem Schluss, dass die Juden in Preußen, in dem immerhin ein Drittel der jüdischen Bevölkerung des Deutschen Bundes lebte, von der drohenden Gefahr verschont geblieben seien (ebd., S. ). Michał Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat. Die Judenpolitik in Danzig -, Göttingen . Ebd., S. ff. Ebd., S. .
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Rechte der Juden in Danzig benennt Szulc noch weitere, gewalttätige Konflikte begünstigende Faktoren. Dazu zählt er die Verarmung der Bevölkerung infolge der napoleonischen Kriege, die Deklassierung der Gewerbetreibenden durch den Wandel im Stadtbürgerrecht und in der Zunftwirtschaft im Zuge der preußischen Reformen, der für viele eine objektive wie relative Verschlechterung gegenüber anderen Gruppen (etwa den Juden) mit sich brachte, die nun Zutritt zu ihnen zuvor verschlossenen Institutionen bekamen.126 Hinzu kam, insbesondere durch die Zuwanderung polnischer Juden, das Moment kultureller Fremdheit. Nach den erneuten Unruhen von waren sich die Staats- und Stadtbehörden nach Szulc auf allen Verwaltungsebenen »über den allgemein herrschenden Judenhass unter großen Teilen der Danziger Einwohnerschaft« einig. Die Danziger Regierung sprach von einer »hier gegen die Juden herrschenden Stimmung« im »den Juden in höchstem Grade abgeneigten Publikum«.127 Zwar sollte diese Ablehnung in allen Schichten der Bevölkerung anzutreffen gewesen sein, doch konstatierte die Danziger Regierung, dass es einen »unbefangenen und gebildeten« Teil der Einwohner gebe, der sich der vorurteilsvollen Mehrheit entgegenstellte. Damit bot die allgemeine antijüdische Stimmung in der Stadt einen guten, durch Presseberichte über die antijüdischen Ausschreitungen an anderen Orten und hetzerische Aushänge, die man Tage zuvor schon in der Stadt entdeckte, weiter bereiteten Nährboden für antijüdische Übergriffe.128 Im Zuge der sich über Deutschland ausbreitenden Hep-Hep-Welle hörte man in der Zeit des Dominik-Jahrmarktes Sommer einzelne »Hep-Hep«-Rufe, und es gab hetzerische Anschläge an jüdischen Marktständen. Dies wiederholte sich mit Plakatierungsaktionen und Angriffen auf einzelne Juden am ./. September , doch zu einem regelrechten Tumult kam es erst am . September, als sich eine große Menschenmenge, vornehmlich aus Lehrjungen, Ladendienern und Handwerkern, vor der Synagoge in der Breitengasse sammelte, aus der heraus Steine geworfen und Fensterscheiben zerschlagen wurden. Die Polizei konnte die Randalierer zerstreuen, doch wiederholten sich die Ausschreitungen am ., wo es unter »Hep-Hep«-Rufen in den der Synagoge benachbarten Straßen nun zu Übergriffen auf jüdische Häuser kam.129 Als sogar Aufrufe zu Plünderungen zu hören waren, wurden mehrere Kompanien Infanterie als Verstärkung herbeigerufen, die die Ruhe wiederherstellten. Doch blieb es auch danach für einige Wochen in der Stadt unruhig. Die Festgenommen wurden bald wieder freigelassen. Interessant ist, Ebd., S. f. Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. . Der Oberpräsident Theodor von Schön formulierte es noch schärfer, der einen »tiefverwurzelten Haß gegen die Juden« feststellte, »der beym Publico bis zur höchsten Blindheit hier statt findet« (S. f.). Die Presseberichte über antijüdischen Unruhen sollen von den Danzigern mit Schadenfreude aufgenommen worden sein und nach Meinung des Polizeipräsidenten von Vegesack zur Mobilisierung des »Unwillens gegen die Juden« beigetragen haben. Nach Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. , wurden an zwölf von Juden und zwei von Christen bewohnten Häusern die Fensterscheiben eingeschlagen.
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dass es über die Interpretation der Vorfälle – wie wir es ja schon in Würzburg und Heidelberg angetroffen haben – zu einem Meinungsstreit zwischen den Behörden kam, in dem es nach Michał Szulc um zwei Punkte ging: nämlich um die Frage, wer sich an den Tumulten beteiligt hat und ob es sich um einen spontanen oder geplanten Vorfall gehandelt hat.130 Der Polizeipräsident Dagobert von Vegesack sah den Tumult aufgrund eines antijüdischen Anschlags an der St. KatharinenKirche als geplantes Vorgehen an, an dem sich nicht nur der »Pöbel«, sondern auch Danziger Bürger und gebildete Menschen beteiligt hätten.131 Demgegenüber war der Oberpräsident Theodor von Schön der Auffassung, dass die Störung der öffentlichen Ordnung ohne Steuerung und Plan verlaufen und vielmehr als eine Sache »des Spotts und des Hasses der Juden« anzusehen sei. Die Tumulte seien spontan entstanden und »nur das Werk weniger Menschen aus der gemeinsten Volksklasse gewesen«. Die von Vegesack ausgemachten Bürger seien Danziger Krämer gewesen, die sich bürgerlich gekleidet hätten, aber letztlich nicht zum Bürgertum zählten. Auch die These eines religiösen Fanatismus unter Danziger Bürgern wurde zurückgewiesen.132 Die untergeordneten Danziger Behörden bemühten sich, gegenüber den vorgesetzten Behörden den Eindruck zu vermeiden, es habe sich um gegen den Staat gerichtete Unruhen gehandelt, da man in diesen Jahren politisch motivierte demagogische Umtriebe fürchtete. Deshalb betonte man, dass nun in der Stadt Ruhe und Ordnung herrschten.133 Die Danziger Regierung nutzte aber die antijüdischen Tumulte, um auf die zu hohe Zahl von Juden in der Stadt hinzuweisen, die aufgrund ihrer orientalischen und isolierten Lebensweise dem Ebd., S. f. Der Bericht v. Vegesacks ist nicht mehr erhalten, kann aber aus der polemischen Antwort der Danziger Regierung dem Sinn nach rekonstruiert werden. Szulc (Emanzipation in Stadt und Staat, S. ) zitiert aus dieser Schrift das Folgende: »Die Erbitterung gegen die Juden zeigte sich unter allen Klassen der Einwohner, man sähe mit anscheinendem Vergnügen dem Tumulte zu, es fielen selbst von gebildeten Männern und Bürgern der Stadt Äußerungen, welche dem gemeinen Manne noch mehr Aufmunterung gaben und niemand aus der Bürgerschaft zeigte durch Vorstellungen oder durch die That, dass er das gesetzwidrige Benehmen missbillige, wohl aber schien er ungerne zu sehen, dass die Behörden dem Unfuge so kräftig Widerstand leisteten.« (Hervorhebung im Fettdruck seitens des Vf. der Schrift). Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. f. Szulc zitiert aus einem privaten Brief des Danziger Großkaufmanns und britischen Konsuls Alexander Gibsone an General Gneisenau, in dem dieser mit ähnlicher Stoßrichtung schreibt, es habe keine anderen Spuren von Unruhen gegeben als diejenigen, die aus Abneigung gegen die Juden resultierten. »Gegen diese ist aber der Unwille allgemein in Deutschland und anderswo, und sollte der Regierung die Überzeugung geben, daß diese Menschen gegründete Ursache dazu haben müßten«. Es habe sich zudem um einen kleinen Tumult von ein paar Abenden gehandelt (Emanzipation in Stadt und Staat, S. ). Die Skepsis vor allem gegenüber den nach Danzig zuziehenden polnischen Juden ist auch in der Stellungnahme des zuständigen Kommandierenden General Ludwig von Borstell zu spüren, der im November auf die Gefahr der physischen und moralischen Mängel dieser Gruppe für das Wohl des Staates hinwies (S. f.).
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christlichen Bürgertum völlig fremd blieben und denen es zudem an Patriotismus mangele. Das Ministerium des Innern wies die Danziger Regierung aber darauf hin an, dass sie dennoch auch diese Untertanen vor Unruhen zu schützen habe. Nach Szulc habe die Danziger Regierung den Ausbruch der antijüdischen Gewalt und die daraus sprechende antijüdische Stimmung der Bevölkerung mehrfach als Argument gegen die Verleihung neuer Rechte an die Juden verwendet, wenn sie auch in Einzelfällen eine Ansiedlung von Juden befürwortete, zumal das Ministerium des Innern Ausnahmen auch gegen den Willen der Stadt bewilligte.134 Wir finden hier eine typische, lokale Pogrome begünstigende Konstellation wieder, da die von den Regierungen beschlossenen Rechtsverbesserungen für Juden nicht nur von den jeweiligen Ortsbewohnern, sondern auch teilweise von lokalen Behörden abgelehnt wurden. In Danzig lagen zudem aber auch lokale Behörden im Streit miteinander. In Danzig hielt sich ähnlich wie in Würzburg eine antijüdische Stimmung über das Jahr hinaus und sollte sich Ende Juli erneut in mehrtägigen Unruhen manifestieren. Auslöser für den Ausbruch der Unruhen war ein Streit zwischen den Stadt- und Staatsbehörden über den Wunsch einiger jüdischer Kaufleute, ihre Marktstände von ihrem langjährigen Standort in der Breitengasse auf den Erdbeermarkt verlegen zu dürfen, um eine Doppelbesteuerung zu vermeiden. Obwohl die Danziger Regierung diese Doppelbesteuerung für unzulässig hielt, wiesen die städtischen Behörden den Antrag der jüdischen Kaufleute auf Verlegung ihrer Stände zurück. Nach längerem Hin und Her zwischen den Behörden bewilligte die Polizei schließlich den Umzug und widerrief damit ihre ältere Entscheidung. Auf die am . Juli öffentlich gemachte Ankündigung einiger jüdischer Kaufleute, ihre Stände zu verlegen, reagierte die Stadtgemeinde zehn Tage später mit der Nachricht, dies sei von ihr nicht genehmigt worden. Das Stadtgericht wies aber am . Juli eine entsprechende Klage der Stadtgemeinde ab.135 Daraufhin wollten Einwohner Danzigs zur gewalttätigen »Selbsthilfe« schreiten. Auf den Aufbau der jüdischen Marktstände hin tauchten noch am selben Tage die ersten antijüdischen Drohungen auf, und bereits am nächsten Abend versammelte sich eine Menschenmenge und wollte die neu errichten Buden abreißen, was aber durch das Einschreiten von Polizei und Militär verhindert wurde. Am . August versammelte sich auf dem Markt eine noch größere Menge. Zugleich wurde die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom selben Tage bekannt, dass die Bewilligung zum Auf bau der Stände auf dem Erdbeermarkt durch die Polizei außerhalb ihrer Kompetenzen lag, die allein bei der Stadtgemeinde liege. Die versammelte Menge interpretierte diese Entscheidung so, als habe das Gericht die Entfernung der Buden angeordnet, und wollte nun dem Abriss zusehen. Als dieser aber nicht erfolgte, griff die Menge zur Selbstjustiz und warf etliche Buden um und Fenster in von Juden bewohnten Häusern ein, bis das Eingreifen von Militär die Lage gegen
Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. . Ebd., S. ff.
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Mitternacht beruhigte. Einen Tag später kam es zu noch größeren Tumulten,136 die durch das Eingreifen des Militärs schnell beendet werden konnten. Am . August revidierte das Stadtgericht sein erstes Urteil und gab der Stadtgemeinde Recht, so dass die Juden ihre Markstände auf dem Erdbeermarkt wieder abbauen mussten. Nach Szulc wurden bei den dreitägigen Unruhen neun Soldaten und eine wesentlich größere Zahl von Tumultuanten verletzt (ob darunter auch Juden waren, wird nicht ausgeführt), fünfzig Personen wurden festgenommen, von denen die meisten aber nach kurzer Zeit wieder freikamen. Es gab jedoch auch eine Reihe höherer Strafen: fünf Personen erhielten eine Gefängnisstrafe; ein als Händler tätiger Stadtbürger wurde als Anführer der Unruhen mit einer Zuchthausstrafe von drei Jahren am strengsten verurteilt, die anderen erhielten drei bis sechs Monate Gefängnis. Beschädigt wurden von Juden bewohnte Häuser, wobei die Eigentümer aber Danziger Christen waren.137 Wie schon anlässlich der Unruhen von vertraten die damaligen Protagonisten wiederum gegensätzliche Auffassungen über den Charakter und die Motive der Unruhen. Der Polizeipräsident von Vegesack ging von einer geplanten Aktion aus und wollte unter den Randalierern »einen großen Theil sehr wohl gekleideter Einwohner« erkannt haben, während der Oberpräsident v. Schön ausschließlich Lehrlinge und Gesellen gesehen haben wollte, die sich auf den Straßen herumgetrieben hätten.138 Nach Szulc geben die Polizeiakten hier Letzterem Recht. Wer für die Agitation gegen die Juden verantwortlich war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, doch gibt es Hinweise, dass diese von christlichen Kaufleuten ausging, die damit eine Einschränkung der jüdischen Konkurrenz und die Revision der Emanzipationspolitik erreichen wollten. Diese sollen ihr Vorhaben mittels antijüdischer Aushänge, die mit Bedacht an von »der gemeinen Volksclasse am meisten besuchten Orten« angeklebt worden waren, und einer Entlohnung von Randalierern befördert haben, wobei sie auf die allgemeine Ablehnung der Danziger gegenüber Juden setzen konnten.139 Die Texte der Schmähschriften von und drehten sich nach der Auswertung Szulcs um die Themen Brotneid, Konkurrenzangst und Religion und beziehen sich zumeist auf die konkrete Situation in Danzig. Den Juden wurde vorgeworfen, der Wirtschaft Danzigs mit ihren Betrügereien und unmoralischen Praktiken zu schaden. Die Entfernung der Juden aus der Stadt wurde als einzige Möglichkeit hingestellt, um die Erwerbsmöglichkeiten der Christen zu verbessern. Als Mittel der Wahl zur Rettung der Stadt wurde vorgeschlagen, die Juden einzuschüchtern, zu verjagen, ja sogar sie zu töten. Interessant ist, dass man Da die Polizei an den Vortagen entschieden gegen die Randalierer vorgegangen war, war der Polizeipräsident bei den Tumultuanten unbeliebt und wurde als »Juden-König« verspottet (ebd., S. ). Ebd., S. . Ebd. Ebd., S. . Die Untersuchung der Schmähschriften durch Polizeibeamte in Marienwerder ergab zahlreiche Indizien, die auf einen Stadtverordneten als Verfasser hindeuteten, gegen den aber dennoch kein Verfahren angestrengt wurde (S. f.).
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sich dabei auf das Vorgehen gegen die Juden in anderen Städten wie Würzburg, Kopenhagen oder Odessa bezog.140 Man berief sich auf die frühere klare Trennung zwischen dem christlichen Revier innerhalb der Stadtmauern und dem jüdischen in den Vorstädten, die man wiederherstellen wollte. D. h., es ging um eine Revision des Niederlassungsrechts für Juden in Danzig selbst, also um die Wiederherstellung der alten Ordnung. Der Bezug auf antijudaistische Vorurteile wie den Christusmord und die Verortung der Juden in der Hölle kamen vereinzelt vor, bildeten aber nicht den zentralen Konfliktpunkt. Ganz klar wurde in den Anschlägen auch die Notwendigkeit der Selbstjustiz betont. Man wollte die Durchsetzung der »Gerechtigkeit« auch gegen den Widerstand der Behörden und des Militärs in die eigenen Hände nehmen. Entsprechend richteten sich spöttische Angriffe auch gegen den Danziger Polizeipräsidenten, andere Polizeibeamte und das Militär, die die Juden bei der Durchsetzung ihrer Rechte schützten. Da sich der Widerstand gegen die Umsetzung des Emanzipationsedikts seitens der Danziger Behörden als erfolglos erwiesen hatte, sahen die Bürger, aber auch die unteren Schichten ohne Bürgerrecht in der Hinwendung zu kollektiven Gewaltaktionen die einzige Chance, die Präsenz der Juden in der Stadt rückgängig zu machen. Trotz der martialischen Drohungen richteten sich die Angriffe aber – wie in anderen von den Hep-Hep-Unruhen heimgesuchten Orten, wie Stefan Rohrbacher zeigen konnte141 – primär gegen die Symbole jüdischer Anwesenheit in der Stadt (Buden und Häuser) und kaum gegen die Juden selbst.142 Wie in anderen Städten auch waren sich die politisch Verantwortlichen der Bedeutung der soziopolitischen Anliegen der Tumultuanten durchaus bewusst. So gab es in Danzig nach eine über ein Jahr anhaltende Debatte zwischen den Stadtund Staatsbehörden über drei Fragen: ) »die Beurteilung der Behördenaktivitäten vor und während der Unruhen; ) die Geltung des Emanzipationsedikts in Danzig und ) die Frage, wer über die Organisation des Handels in Danzig zu entscheiden habe«.143 Insofern kann man sagen, dass die Unruhen insoweit ihr Ziel erreichten, dass sie die Frage der Emanzipation erneut auf die politische Tagesordnung gebracht hatten. Die Beantwortung der drei Fragen erfolgte sehr kontrovers vor dem Hintergrund schon zuvor bestehender Konfliktlinien zwischen den städtischen Behörden und dem Oberpräsidenten v. Schön einerseits und der Staatsregierung in Berlin und dem Danziger Polizeipräsidenten v. Vegesack auf der anderen Seite. Während der »Sonderermittler«, der Geheime Justiz- und Oberlandesgerichtsrat aus Marienwerder, Johann Gottlieb Hecker, im Auftrag der Ministerien des Innern und der Justiz die Stadtverordneten und die Danziger Regierung als die Hauptverantwortlichen für die Unruhen ausmachte, da deren Entscheidungen für das Standgeld der Juden und ihr Widerstand gegen die Verlegung der jüdischen Stände der Bevölkerung den Anreiz für die Gewalt gegeben hätten. Hecker wertete die
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Ebd., S. f. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. -. Ebd., S. .
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Unruhen letztlich als eine zwar nicht von oben autorisierte, aber doch im Interesse der städtischen Behörden durchgeführte Aktion.144 Das Verhalten des Polizeipräsidenten in dieser Frage hielt er hingegen für angemessen. Letzterer sah die Unruhen sogar als eine geplante Veranstaltung, da der Termin und der Verlauf der Unruhen genau geplant gewesen seien, so dass es sich nicht um den Ausbruch einer Massenleidenschaft gehandelt habe. Er warf wichtigen städtischen Persönlichkeiten vor, Maßnahmen unterlassen zu haben, mit denen man die Spannungen hätte abbauen können.145 Gegen die Vorwürfe des »Sonderermittlers« verfassten die städtischen Behörden ihrerseits eine Reihe von Verteidigungsschriften, in denen gänzlich andere Ursachen für den Ausbruch der Unruhen verantwortlich gemacht wurden: nämlich der starke Anstieg der jüdischen Bevölkerung seit der Zweiten Polnischen Teilung, die Grundstücke in der Stadt ankaufte; die Anwendung unlauterer Geschäftspraktiken und die Geldgier der jüdischen Kaufleute sowie die Fehlentscheidung der Polizeibehörden, den Juden die Verlegung ihrer Buden zu erlauben,146 ein Vorgehen, das der »Sonderermittler« in seinem Bericht als rechtmäßig bezeichnet hatte. Die Regierung in Danzig wiederum spielte die Bedeutung der Unruhen herunter, indem sie diese als einen in Großstädten gelegentlich vorkommenden kollektiven Protest wertete, der aufgrund der starken antijüdischen Stimmung auch nicht zu verhindern gewesen sei. Sie sah die Schuld für den Ausbruch der Unruhen ganz auf Seiten des Polizeipräsidenten, da er trotz der bestehenden Uneinigkeit der Behörden die Juden darin bestärkt hätte, mit ihren Buden umzuziehen. Die Regierung zeichnete zudem ein sehr negatives Charakterbild des Polizeipräsidenten. In die gleiche Richtung zielte die Stellungnahme des Oberpräsidenten von Schön, der den Ausbruch der Unruhen auf das Verhalten des Polizeipräsidenten und den herrschenden Hass auf die Juden zurückführte.147 Insbesondere zwei Stadtverordnete wurden als Anstifter der Unruhen, die auch gegen die Polizei agitiert hätten, in der Untersuchung Heckers genannt. Ihnen seien aber nur mehrere »Nachschreier« gefolgt, nicht aber die Mehrheit der Stadtverordneten. Polizeipräsident von Vegesack ging aber weiter und beschuldigte die Stadtverordneten insgesamt, mit kollektivem Rücktritt gedroht zu haben, sollte die Polizei die Verlegung der Buden positiv für die Juden entscheiden (Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. ). Negativen Einfluss auf die Behörden habe insbesondere die »englische Clique« ausgeübt, eine Gruppierung von Kaufleuten und Beamten, zu denen er den Oberpräsidenten von Schön und den britischen Konsul und Geschäftsmann Alexander Gibsone zählte. Er übte auch heftige Kritik an anderen städtischen und staatlichen Behörden. Zwar gab es nach Szulc gute Kontakte zwischen dem Oberpräsidenten und Danziger Kaufleuten, doch dürfe man die politische Motivation des Polizeipräsidenten nicht vernachlässigen, der in Danzig eher unbeliebt war (Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. -). Die Stadtverordneten argumentierten geradezu verschwörungstheoretisch, als sie den Verdacht äußerten, die Juden hätten sich den städtischen Behörden so mutig widersetzt, weil »unsichtbare Mächte« hinter ihnen stünden. Hecker sah darin aber nicht mehr als den rechtmäßigen Polizeischutz für die Juden (ebd., S. ). Ebd., S. -.
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Die Staatsbehörden in Berlin übernahmen insgesamt die Position Heckers und von Vegesacks, wonach die Stadtverordneten die Hauptschuld an den Unruhen trügen, die nach Hardenberg »durch Haß und Verfolgungssucht gegen ihre jüdischen Mitbürger« geleitet worden seien.148 Während man den Danziger Magistrat milde beurteilte, sah man auf Seiten der Danziger Regierung und des westpreußischen Oberpräsidenten eine Mitschuld, da sie den Polizeipräsidenten nicht unterstützt, sondern sich opportunistisch auf die Seite der lokalen Bürgerschaft geschlagen hätten.149 König Friedrich Wilhelm III. äußerte sich in zwei Ordres zu den Danziger Ereignissen und übernahm dabei die Position der Berliner Staatsbehörden und wünschte sich von der Danziger Regierung, vom Oberpräsidenten und den Gerichten in Zukunft mehr Besonnenheit.150 Die auch bei anderen Hep-Hep-Unruhen zu beobachtende Differenz zwischen der Position der örtlichen Politiker und Beamten und den staatlichen Behörden in Bezug auf die Integration der Juden in die städtische Gesellschaft und Wirtschaft ist also auch für Danzig zu konstatieren. Dies zeigte sich auch im zweiten Diskussionspunkt, nämlich in der Frage der Geltung des Emanzipationsedikts für die Stadt Danzig. Während die lokalen politischen Instanzen die Auffassung vertraten, das Edikt finde in Danzig keine volle Anwendung (so die Stadtverordnetenversammlung), seine Anwendung müsse von der Akzeptanz des Danziger Bürgertums abhängig gemacht werden (Magistrat) oder die Verteilung der Gewerbetreibenden sei nach Gewohnheitsrecht vorzunehmen (Danziger Regierung), stellte Hecker in seinem Untersuchungsbericht klar, dass das Emanzipationsedikt auch für Danzig Gültigkeit habe und alle vormaligen Regelungen damit außer Kraft gesetzt worden seien. Die Positionen der lokalen Behörden stünden damit in einem deutlichen Widerspruch zur preußischen Integrationspolitik, die auf eine Gleichstellung der jüdischen Bürger abziele und gegen jede Art von Isolation und Ghettoisierung sei. Trotz des Berichts Heckers wurde die Frage der Gültigkeit des Edikts in Danzig aber auch weiterhin fallweise in Zweifel gezogen. Die lokale Judenschaft blieb ihrerseits nicht untätig und wandte sich in zwei Briefen an den Innenminister und den Staatskanzler, in denen sie sich auf die Geltung des Emanzipationsedikts beriefen und trotzdem fortbestehende Einschränkungen kritisierten. Dass aber auch die Zentralregierung zögerte, sich allzu sehr in lokale Belange einzumischen, zeigt deren Reaktion auf das von den Juden vorgebrachte Anliegen, als preußische Bürger anerkannte Juden die Niederlassung in Danzig zu erlauben. Das Ministerium des Innern und der Staatskanzler lehnten das Gesuch ab und verwiesen auf die Order des Königs, in den neu- und wiedereroberten Provinzen keine neue Niederlassung zu erlauben.151 Zit. nach ebd., S. . Der Danziger Regierung drohte im Zuge einer angestrebten Verwaltungsreform sogar die Auflösung, da man sie für den Ausbruch der Unruhen verantwortlich machte. Die Sache zog sich aber hin und es kam nicht zu ihrer Auflösung. Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. . Ebd., S. f.
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Die politische Botschaft der Tumultuanten, die sich einem Zuzug von Juden in die Stadt und der Verleihung von Bürgerrechten widersetzten und die durchaus den Interessen von Teilen der lokalen politischen Institutionen und Personen entsprach, machte schlaglichtartig die Diskrepanz zwischen den gesamtstaatlichen Integrationsbemühungen hinsichtlich der jüdischen Minderheit und der Ablehnung gleicher Rechte für Juden in großen Teilen der lokalen Bevölkerung sichtbar, und die unterschiedliche Bewertung der Unruhen führte entsprechend zu einer Zuspitzung von bereits zuvor bestehenden Spannungen zwischen Instanzen der lokalen, der provinziellen wie der Berliner Zentralbehörden. Ein Muster, das auch in anderen Fällen antijüdischer Unruhen zu beobachten ist. Hamburg Die jüdische Gemeinde Hamburgs, die mit ca. . Personen damals größte in Deutschland (ca. - der Gesamtbevölkerung Hamburgs), wendete sich bereits am . August um Schutz an den für die Polizei zuständigen Senator, da sie offenbar Unruhen in der Stadt befürchtete. Dieser sah keinen Grund zur Beunruhigung, sicherte der Gemeinde aber Schutz zu. Hintergrund für die Befürchtungen war, dass ähnlich wie im Fall Frankfurts die rechtliche Lage der Juden in der Stadt umkämpft war. Diese hatten nach der Eroberung der Stadt durch napoleonische Truppen und ihrer Einverleibung in das französische Kaiserreich die völlige Gleichberechtigung erhalten. Nach dem Fall Napoleons stellt sich ab die Frage, ob das alte oder neue Recht für die Juden gelten sollte, so dass ihr Fall – wie die Fälle Bremens und Lübecks – auf dem Wiener Kongress verhandelt, aber letztlich nicht entschieden wurde. Während die führenden Schichten Hamburgs die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden unterstützten, kamen die Gegner aus den Zünften und dem Krameramt, die die jüdische Konkurrenz in Handwerk und Handel fürchteten und am alten System festhalten wollten.152 Aufgrund dieser Ludolf Holst (-), der sich in Hamburg seit einen Namen als Wirtschaftsexperte gemacht hatte, veröffentlichte (anonym) die Schrift Über das Verhältnis der Juden zu den Christen in den Handelsstädten (Leipzig ), in der er die Juden vor allem aufgrund ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit kritisierte. Holst sieht die Quellen der wirtschaftlichen Macht der Juden in den »jüdischen gewinnreichen Grundsätzen und Handelsmaximen«, die nach seiner Meinung besonders für Handelsstädte »verderblich sind« (S. f.). Nach Moshe Zimmermann ist ein direkter Zusammenhang zwischen Holsts Ausführungen und den Hep-Hep-Ausschreitungen in Hamburg nicht nachweisbar (Die Hep-Hep-Unruhen in Hamburg. Ludolf Holsts Schrift »Über das Verhältnis der Juden zu den Christen in den Handelsstädten«, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, http://juedische-geschichte-online.net/quelle/ jgo:source- [..]). Jacob Katz betont aber, dass es sich bei Holsts Schrift in Wahrheit um eine Propagandaschrift handelte, die »wahrscheinlich von interessierter Seite in einer der mächtigen Städte in Auftrag gegeben war, vermutlich in Holsts Geburtsort Hamburg, wo die Judenfrage aktuell war« (Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus -, München , S. ). In einer weiteren, zwei Jahre nach
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Konfliktlage sahen jüdische Gemeindevertreter nicht zu Unrecht mögliche Unruhen von Seiten der Letzteren auch in Hamburg voraus.153 Sterling erwähnt als ein zusätzliches Moment, dass Hamburg im Juli eine schwere Finanzkrise erlebte, als einige Handelshäuser in Konkurs gingen. Diese unerwartete Krise habe in der Bevölkerung für Unruhe gesorgt.154 In Hamburg begannen die Konflikte in Kaffeehäusern und Pavillons an der Binnenalster, was schon einen Hinweis auf die soziale Trägerschicht der Gewalt gibt.155 Nachdem am Abend des . August Juden von anderen Gästen, vor allem Handlungsdienern, verhöhnt und unter Schlägen aus einem Pavillon an der Alster gedrängt worden waren, folgten ähnliche Szenen an den folgenden Tagen. Dabei leisteten Juden in einigen Fällen heftige Gegenwehr, so dass es zu regelrechten Schlägereien kam.156 Es wurden Aufrufe in der Stadt verteilt, in denen Überfälle auf Juden angedroht und ihre Vertreibung aus der Stadt verlangt wurde. Ob man daraus schließen kann, dass hinter den Unruhen ein Plan stand, wie der
den Hep-Hep-Unruhen veröffentlichten Schrift Judenthum in allen dessen Theilen aus einem staatswissenschaftlichen Standpuncte betrachtet, Mainz , rechtfertigt Holst im Vorwort im Grunde die Unruhen von , da für ihn der Grund für den Judenhass nicht im »fanatischen Geist« oder in der »barbarischen Rohheit« der Nichtjuden liege, sondern im Verhalten der Juden (S. ). Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. -; Helga Krohn betont aber, dass zwar auch in Hamburg die Juden im Handel überpräsentiert waren, dass ihre Sonderstellung aber nicht dermaßen ausgeprägt war wie in anderen deutschen Städten (Die Juden im Hamburg -, Frankfurt a. M. , S. ). Moshe Zimmermann spricht von einer schmalen sozialen Basis für diese Unruhen, von einer Minderheit, die keine Unterstützung im Senat fand, was seines Erachtens die verhältnismäßige Marginalität der Unruhen im Hamburg erklärt (Antijüdischer Sozialprotest? Proteste von Unter- und Mittelschichten -, in: Arno Herzig/Dieter Langewiesche/Arnold Sywottek (Hrsg.), Arbeiter in Hamburg, Hamburg , S. -, S. ). Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. . Nach Zimmermann waren die Unterschichten zu Beginn an den Krawallen nicht beteiligt (Antijüdischer Sozialprotest? S. ). Sterling zitiert das Weimarer Oppositions-Blatt, das behauptete, Personen der höchsten Klassen hätten sich zerlumpte Kleider angezogen, um an diesem »rowdyism« teilzunehmen (Anti-Jewish Riots in Germany , S. ). Für die späteren Phasen der Unruhen ist allerdings eine Beteiligung der ärmeren Schichten belegt. Von Seiten jüdischer Autoren wurde z. T. auch die Anstiftungstheorie vertreten. So schrieb ein Autor names Philalethes (Pseudonym für Friedrich Alexander Simon): »Die Gährung der Gemüther, die Gewaltthätigkeiten der neuesten Zeiten zeugen nicht für eine Verwilderung der niederen Volksklasse, sondern für die eines Theils der höheren, gewisser Halbgebildeter, und sittlich verwahrloster, welche die Stimmung des Pöbels lenken und bearbeiten.« Der selbst getaufte Autor wendete sich mit seiner Schrift: Beleuchtung der Stimme des Volks über die Juden (Niedersachsen ) aus jüdischer Sicht gegen eine von einem Autor namens Philopatros veröffentlichte extrem judenfeindliche Schrift: »Stimme des Volcks über die Juden«, o. O. . Vgl. dazu Erb/Bergmann, Nachtseite, S. f.; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ff.
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Hamburger Senat annahm, ist zu bezweifeln.157 Der Vorstand der jüdischen Gemeinde trat daraufhin zusammen und beschloss, dem Senat den Ernst der Lage zu schildern, zumal Gruppen junger Juden, die zum Teil in den Befreiungskriegen gekämpft hatten, einen Selbstschutz organisiert hatten. Obwohl die Gemeinde versuchte, diese Gruppen von einem Eingreifen abzuhalten, warfen junge Juden am . August Gäste aus einem Kaffeehaus hinaus. Mit diesem Verhalten verletzten sie die Regeln, nach denen solche Tumulte abliefen, d. h., die Grenzen des Rituals wurden durchbrochen, so dass das Risiko einer enthemmten Gegengewalt anstieg. Ein Hamburger Senator brachte in einem Gespräch mit dem Gemeindevorstand die in der Stadt herrschende Erbitterung über das Vorgehen des jüdischen Selbstschutzes zum Ausdruck. Die Gemeinde wies die Verantwortung dafür zurück, doch sorgte sie in den nächsten Tagen aktiv dafür, ihre Mitglieder zu ermahnen und zu kontrollieren, um jede weitere Eskalation zu vermeiden.158 Die Unruhen begannen sich auf andere Stadtteile auszudehnen, und nun beteiligte sich auch der »Pöbel«, d. h. Angehörige der »niederen Klassen«.159 Am . weiteten sich die Tumulte auf die Stadt aus, und es wurden Häuser wohlhabender jüdischer Bürger attackiert und die einschreitenden Polizisten beschimpft und geschlagen. Erst die Kavallerie konnte die Unruhen vorläufig beenden. Am folgenden Abend eskalierte die Situation weiter, und eine große Menschenmenge zog durch die Stadt, warf in den von Juden bewohnten Häusern die Fensterscheiben ein, misshandelte ihre Bewohner und kehrte sich mit Steinwürfen sogar gegen die Ordnungskräfte, wobei Mitglieder der Bürgerwehr offenbar die Seiten wechselten. Die Menge musste schließlich mit gefälltem Bajonett auseinandergetrieben werden.160 In einem Fall wurde sogar von einem bewaffneten Haufen ein Haus gestürmt und demoliert, in dem angeblich ein Christ gefangen gehalten wurde. Der Einsatz von Bürgermilitär konnte die jüdischen Bewohner vor Übergriffen bewahren. Einige Juden flohen daraufhin in das nahe gelegene dänische Altona. Der Hamburger Senat, der vergeblich versucht hatte, durch Aufrufe die immer wieder aufflammenden Ausschreitungen einzudämmen, griff nun zu Maßnahmen, um die Menschen von der Straße zu bringen und jegliche Konfliktanlässe zu vermeiden. Er erneuerte deshalb am . August das Tumultmandat von , das Ausgehverbote vorsah, harte Strafen androhte und den Gebrauch der Schusswaffen Vgl. Zimmermann, der diese Sichtweise übernimmt (Antijüdischer Sozialprotest? S. ): »Die Drahtzieher verteilten handgeschriebene Zettel mit dem Aufruf ›Hepp! Hepp Jude verreck‹ oder ›Hepp ! Hepp ! Der Jude muß im Dreck (sic !)‹. Der Senat wusste, dass die Unruhen geplant worden waren und im ›Geschäfts- und Erwerbsneide … ihren Grund hatten‹, er betrachtete die Unruhen als Gefahr für das Ansehen der Handelsstadt, und vermutete, dass die Unterschichten sich nur wegen der Hetzaufrufe der Drahtzieher angeschlossen hatten« (Zimmermann, Die Hep-Hep-Unruhen in Hamburg). Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. . Siehe dazu näher Fußnote . Rapport der Hauptwache des Hamburger Bürgermilitärs über die dortigen Unruhen (. August . – Staatsarchiv Hamburg: Cl. VII Lit. Lb vol fasc. ), abgedruckt in: Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. f.
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seitens des Militärs erlaubte. Der Senat wandte sich in seinem Aufruf aber auch an die Juden und forderte sie auf, ihre Häuser nicht zu verlassen und jegliche Provokationen zu vermeiden. Patrouillen und das Schließen der Kaffeehäuser vor Einbruch der Nacht sorgten in den kommenden Tagen dafür, dass die Unruhen nicht wieder aufflammten und der Ausnahmezustand am . August wieder aufgehoben werden konnte. Dass die Stimmung aber angespannt blieb, belegen vereinzelte Übergriffe und »Hep-Hep«-Rufe bis in den November hinein. Zeitgenössische Beobachter lobten das im Vergleich zu Frankfurt energische Durchgreifen des Hamburger Senats, der auch die verhafteten Täter vor Gericht brachte und bestrafte.161 Wie für die staatliche Reaktion auf Pogrome üblich, mussten die Behörden aber den Eindruck vermeiden, die Juden zu begünstigen, sie mussten vielmehr auch den Pogromisten Zugeständnisse machen, um den Druck aus der Situation zu nehmen. Deshalb gab der Senat auch dem Drängen etwa der Kaufmannsgilde nach und verbot den Hausierhandel und sandte auch sonst einige Signale an die judenfeindlichen Kreise, um zu demonstrieren, dass man nicht einseitig für die Juden Partei ergriff, sondern die Beschwerden der Bürger ernst nahm. Moshe Zimmermann sieht durch die Unruhen weitere Reformversuche vereitelt, sogar die jüdische Armenschule, deren Ziel die Erziehung der Juden zum Handwerk war, musste ihr Curriculum so ändern, dass die Absolventen keine Chancen mehr auf Arbeitsplätze im zünftigen Handwerk hatten.162 Zwar stellte ein interner Bericht über die Unruhen fest, dass die Juden keinen direkten Anteil an ihrem Ausbruch gehabt hätten und eine friedfertige Gruppe darstellten, doch enthielt der daraufhin öffentlich verkündete Aufruf neben der Ermahnung der Bürger, Juden nicht anzugreifen oder zu beschimpfen, auch eine Mahnung an die Adresse der Juden, sich an öffentlichen Orten bescheiden und höflich zu benehmen und sich auch »aller Ansprüche zu enthalten, die mit ihren Verhältnissen gegen den Staat nicht verträglich sind«.163 Letztlich, so Jacob Katz, nutzte der Staat die Hep-Hep-Ausschreitungen, um die Gewährung der vollen Bürgerrechte an die Juden auf die lange Bank zu schieben. Die Orte der Übergriffe in Frankfurt am Main und Hamburg zeigen, dass es nicht allein um direkte wirtschaftliche Konkurrenz ging, sondern auch um die Verweigerung der Anerkennung des sozialen Aufstiegs und der kulturellen Assimilation der Juden. Mit ihrem Besuch der Kaffeehäuser überschritten Juden in den Augen ihrer christlichen Mitbürger die symbolischen Geselligkeitsgrenzen und demonstrierten zugleich ein zu ausgeprägtes »jüdisches Selbstbewusstsein«, so dass sie Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. ff.; dieses härtere Durchgreifen mag auch darin begründet gewesen sein, dass der Senat die Unruhen als Gefahr für das Ansehen der Handelsstadt begriff (Moshe Zimmermann, Antijüdischer Sozialprotest? S. ). Ebd., S. . Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. f. Die jüdische Gemeinde war empört über diesen Aufruf, und eine größere Gruppe beschloss, beim Senat dagegen zu protestieren, doch ließ man auf Anraten von »höherer Stelle« dieses Vorhaben schließlich fallen.
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gewaltsam entfernt werden mussten. Die soziale Ordnung, die den Christen jahrhundertelang einen Vorrang eingeräumt hatte, wurde nicht kampflos aufgegeben. Das Übergreifen auf die Nachbarländer Frankreich und Dänemark Die Nachrichten über die antijüdischen Ausschreitungen machten nicht an den deutschen Grenzen halt, sondern fanden auch in den Nachbarregionen Widerhall. In Wien und Graz lassen sich nur geringe Spuren finden, in Krakau soll es antijüdische Übergriffe von Seiten der Studenten gegeben haben, die vom Militär unterdrückt werden mussten.164 Auch im notorisch unruhigen Elsass kam es in Straßburg zu »Hep-Hep«-Rufen und zu unruhigen Auftritten, etwa in Schlettstadt und Ribeauvillé (Rappoltsweiler), in der Umgebung von Mühlhausen sowie in Durmenach, aber es waren keine Exzesse zu verzeichnen.165 Solche »Auftritte« gab es auch in einigen kleineren Orten Lothringens (Brugny, Bionville-sur-Nied), nur in der Kleinstadt Sarrebourg kam es zu handfesten Ausschreitungen.166 Insgesamt ist die Einschätzung des französischen Innenministeriums zutreffend, dass es in Frankreich zu keinen den deutschen Ausschreitungen vergleichbaren Ereignissen gekommen sei und dass auch keinerlei Befürchtung bestehe, die Juden in Frankreich könnten ähnlichen Verfolgungen ausgesetzt sein.167 Die Übergriffe nahmen nur in Dänemark ernstere Ausmaße an, zumal man in der Bevölkerung dort befürchtete, die von Hamburg nach Altona geflüchteten Juden könnten von der Regierung in Kopenhagen angesiedelt werden. Dort deuteten Gerüchte und Plakatanschläge, die dazu aufforderten, das »Judenpack« loszuwerden, und die zu gewalttätigen Handlungen aufriefen, auf die bevorstehende Judenverfolgung hin. Therkel Stræde weist der von dem Schriftsteller Thomas Thaarup, der mit seiner Publikation des antijüdischen Buches Moses und Jesus des deutschen Autors Friedrich Buchholz, dem er ein eigenes antijüdisches Vorwort vorangestellt hatte, ausgelösten literarischen »jødefejde« eine wichtige Rolle für den Ausbruch der Ausschreitungen in Dänemark zu. Auch wenn die Verteidiger der Juden die literarische Judenfehde gewonnen hätten, griffen die »rowdy ›kinsmen‹ of Thaarup and his supporters«, befeuert durch ihre fortgesetzten antijüdischen Publikationen, die Juden in Kopenhagen und anderen Städten verbal und physisch an.168 Trotz der sogleich verstärkten Zensur- und Sicherheitsmaßnahmen kam es Vgl. Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. . Gerson, Die Kehrseite, S. ; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. f. Offenbar hatten in einigen Fällen die Behörden Vorsichtsmaßnahmen getroffen, so ließ der Unterpräfekt aufgrund der Polizeiberichte und der Befürchtungen der jüdischen Gemeinde in Durmenach für die hohen jüdischen Feiertage im September Polizeipatrouillen anordnen, obwohl er selbst diese Maßnahme für übertrieben hielt. Gerson, Die Kehrseite, S. . Ebd., S. . Therkel Stræde, The »Jewish Feud« in Denmark , in: Christhard Hoffmann (Hrsg.), The Exclusion of Jews in the Norwegian Constitution of . Origins – Contexts – Consequences, Berlin , S. -, hier S. .
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am . September zu ersten Ausschreitungen, in denen Seeleute die bewaffneten Bürger unterstützen. Bei diesen Übergriffen wurden jüdischen Geschäften in der Østergade die Schaufensterscheiben eingeschlagen und die Polizeikräfte von der großen Menschenmenge in die Flucht geschlagen (Husaren sollen sich geweigert haben, gegen die Tumultuanten vorzugehen), so dass erst eine Militäreinheit mit gezücktem Säbel die Tumulte beenden konnte. Trotz verstärkter Patrouillen breitete sich der Aufruhr in den nächsten Tagen aus, und Gruppen sowohl feiner Leute als auch der »Pöbel« zogen durch die Stadt und zerstörten Fenster jüdischer Wohnungen. Es wurde das Haus eines Wechslers und Pfandleihers gestürmt und geplündert, er selbst einen Tag später von einer Menschenmenge verfolgt und misshandelt. Ältere Juden, die sich auf die Straße wagten, wurden geschlagen und gejagt. Viele Juden versteckten sich in den Kellern ihrer Wohnungen. Die Angriffe auf Häuser von Juden hielten bis zum . September an.169 Träger dieser Unruhen waren vor allem Handwerksgesellen und Lehrlinge, die von ihren Meistern ermutigt und durch Flugblätter angestachelt worden waren. Die Unruhen blieben aber nicht auf Kopenhagen begrenzt, sondern zeigten sich auch an anderen Orten Seelands und Fünens, so wurden nach Jens Christian Manniche Unruhen in Helsingør, Hillerød, Næstved, Vordingborg und Slagelse verzeichnet, und am . September kam es in Odense zu einem Tumult nach dem üblichen Muster, indem man den Abzug der Juden forderte, Häuser mit Steinen bewarf und in einzelnen Fällen auch plünderte. Auch hier konnte erst das Eingreifen des Militärs die Ruhe wiederherstellen.170 Therkel Stræde nennt diese antijüdischen Ausschreitungen in Kopenhagen und einigen Provinzstädten »events that may well be labeled pogroms and certainly were experienced as such by the Jews, even if no Danish Jew was killed, and the number of injured was low.«171 Die Tumultuanten riefen bezeichnenderweise auch Parolen gegen den König.172 Dieser politische Aufruhr in der Stadt erschreckte den Polizeichef und den König, zumal es ähnlich wie in Deutschland auch in Dänemark Leute gab, die für eine Abschaffung der Monarchie und für Demokratie waren. Der König handelte entschlossen und setzte die berittene königliche Garde ein, die mit gezogenem Säbel gegen die Randalierer vorging, und entließ den Kopenhagener Polizeichef wegen der Passivität und Hilflosigkeit der Polizei. Dennoch flammten die Unruhen immer wieder auf. So versuchte die Menge zu zwei jüdischen Bankhäusern vorzudringen, Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. f. Jens Christian Manniche, Jødefejden i Odense , in: Historie. Jyske Samlinger , /, S. -; Bent Blüdnikow nennt noch Vordingbord als weiteren Ort, an dem Unruhen stattfanden: Jødeuroen i Køpenhavn , in: Historie/Jyske Samlinger , , S. -, S. ; Jen Rasmussen, Jødefejden og de beslægtede uroligheder, in: Kirkehistoriske Samlinger , S. -. Stræde, The »Jewish Feud«, S. . Bent Blüdnikow hat kritisiert, dass die dänische Forschung diesen Unruhen lange Zeit nur geringe Bedeutung beigemessen habe (Jødefejden -, in: ders. (Hrsg.), Jøderne som frie borgere. Anordningen af . marts , Kopenhagen , S. -. Stræde, The »Jewish Feud«, S. .
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wurde aber vom Militär zurückgedrängt. Die Polizei verdächtigte politische Aktivisten, Menschen aufzustacheln, konnte aber niemanden ermitteln. Sie nahm eine Menge Leute fest und versuchte die Turbulenzen durch die Ausgangssperre, Drohungen und die Verhängung schwerer Strafen zu beenden, und unterdrückte so schließlich die Ausschreitungen. Der König setzte eine Kommission zur Untersuchung der Unruhen ein, deren Ergebnisse dann zur Bestrafung einiger Tumultuanten und Anstifter führten, unter denen sich nach Stræde nicht nur Schläger und fehlgeleitete Jugendliche befanden, sondern auch »decent citizens«.173 Katz hat auf den ausgesprochen regierungsfeindlichen Charakter der Unruhen aufmerksam gemacht (»Heute die Juden, morgen der König«), was seiner Meinung nach auch das entschlossene Vorgehen der Regierung erklärt, die den Ausnahmezustand verhängte und die gefassten Täter schwer bestrafen ließ.174 Hintergrund der Kritik der Judengegner war die Tatsache, dass der dänische König Friedrich VI. den Juden am . März das volle Bürgerrecht verliehen hatte, so dass auch hier, wie in Würzburg, Frankfurt und Hamburg, die neue und umstrittene rechtliche Position der Juden den Anlass für den Unmut in der Bevölkerung bot. Dem König, der als »Judenkönig« geschmäht wurde, warf man deshalb eine zu integrationsfreundliche Politik vor. Der weitere historische Kontext der gewalttätigen Proteste und der im Jahre publizistisch ausgefochtenen sog. »Judenfehde« war die Krise, in die das mit Napoleon verbündete Dänemark geriet, nachdem die Engländer die gesamte dänische Handelsflotte zerstört hatten, was das Land in den Staatsbankrott führte.175 Die daraus resultierenden sozialen Spannungen wurden noch durch die nationale Demütigung durch die Abtretung Norwegens an Schweden im Jahre verschärft. Im Zuge der schon erwähnten literarischen Judenfehde um die Schrift von Friedrich Buchholz Moses und Jesus () hatte der Übersetzer Thomas Thaarup wirtschaftliche und rechtliche Einschränkungen der Juden gefordert. Dies wurde von vielen anderen Autoren aufgegriffen.176 Ziel der Angriffe waren dänisch-jüdische Bankiers und Großkaufleute, denen man vorwarf, sich durch die betrügerische Ausfuhr von Edelmetallen und andere Spekulationen bereichert und die ruinöse Geldpolitik der Regierung veranlasst zu haben. Dänische Theologen sekundierten diesen Vorwürfen noch mit tradierten religiösen Anschuldigungen an die Adresse der Juden. Diese Angriffe wurden zwar sowohl von jüdischer Seite wie auch von nichtjüdischen Autoren zurückgewiesen, doch sorgten sie zusammen mit den allgemeinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ebd., S. . Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. . Dieses entschiedene Vorgehen war nach Stræde eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die in Kopenhagen wieder aufflammenden antijüdischen Ausschreitungen nicht das Ausmaß der Gewalt von erreichten (The »Jewish Feud«, S. ). Blüdsnikow, Jødeuroen i Køpenhavn, S. . Vgl. dazu Thorsten Wagner, Judenfehde und Hepp-Hepp-Unruhen in Dänemark (, ), in: Handbuch des Antisemitismus, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -; siehe auch Stræde, The »Jewish Feud« in Denmark .
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Spannungen für ein Klima, das Vertreter der jüdischen Gemeinde ein Umschlagen in Gewalt fürchten ließ, eine Sorge, die sie der Regierung auch vortrugen.177 Die »Judenfehde« von flammte noch einmal auf.178 Die Hep-Hep-Unruhen in Deutschland waren dann der Auslöser für dieses befürchtete Umschlagen in physische Gewalt gegen Juden in Dänemark (den korporlige jødefejde). Anders als in vielen Staaten des Deutschen Bundes setzte aber die dänische Regierung ihre Politik der Judenemanzipation fort, verband sie aber nach Thorsten Wagner nun stärker mit Forderungen nach Assimilation an die Adresse der Juden.179 kam es in Kopenhagen zu erneuten antijüdischen Ausschreitungen, die dieses Mal aber schnell unterbunden werden konnten. Die staatlichen Reaktionen auf die Gewaltwelle Insgesamt gesehen ist es aber erstaunlich, dass sich in den deutschen Staaten der Unmut über die Verbesserung der jüdischen Rechtsstellung allein gegen die Juden selbst und nicht auch gegen die verantwortlichen Regierungen richtete, während umgekehrt der bayrische König, Metternich und andere Regierungen, aber zum Teil auch die Presse einen Zusammenhang der Hep-Hep-Ausschreitungen mit den revolutionären Umtrieben der Demagogen und Studenten vermuteten, zumal nach den Attentaten auf August von Kotzebue und einen Minister der nassauischen Regierung im Frühjahr und Sommer . Es gab jedoch auch andere Stimmen, die in den Angriffen auf die Juden keine gefährliche politische Tendenz erkennen wollten. Die während der Hep-Hep-Unruhen tagende Karlsbader Konferenz setzte einen in Mainz angesiedelten Untersuchungsausschuss ein, der die Ursachen der politischen Unruhe aufdecken sollte. Katz spricht von einer »Reaktion der Angst«, denn die Trägerschichten, die sich wesentlich aus Handwerkern, Kleinbürgern und dem gewerblichen Mittelstand zusammensetzten, und die Ziele der antijüdischen Gewalt unterschieden sich deutlich von denen der gegen die politische Reaktion Wagner, Judenfehde und Hep-Hep-Unruhen, S. . Auch in Schweden kam es in der sog. »Grevesmöhlen-Fehde« zu einer scharfen massenhaften antijüdischen Pamphletdebatte (rund Schriften), die allerdings nicht in Gewalt mündete. Hintergrund waren die Krise des schwedischen Staates und die prekäre finanzielle Situation durch die vorangegangenen Kriege, an denen man den wenigen Juden des Landes eine Mitschuld gab. Angesichts dieser Krise und des Zuzugs von jüdischen Kaufleuten forderten Vertreter des Bürgerstandes die Verschärfung des bestehenden Judenreglements sowie ein erneutes Einwanderungsverbot (Christoph Leiska, Grevesmöhlen-Fehde (), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Wolfgang Benz, Bd. , Berlin , S. -. Vgl. Christhard Hoffmann, Hepp Hepp in Kopenhagen. Knud Gamborgs Darstellung () der dänischen »Judenfehde« /, in: Bilder kollektiver Gewalt. Kollektive Gewalt im Bild. Annäherungen an eine Ikonographie der Gewalt. Festschrift für Werner Bergmann zum . Geburtstag, hrsg. von Michael Kohlstruck/Stefanie Schüler-Springorum/Ulrich Wyrwa, Berlin , S. -. Wagner, Judenfehde und Hepp-Hepp-Unruhen, S. .
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auf begehrenden nationalistischen und politischen Intellektuellen.180 Katz betont zu Recht, dass es zwar durchaus einige pro-revolutionäre und zugleich judenfeindliche Personen gab, wie Jakob Friedrich Fries und sicher auch manchen Studenten (schlossen doch einige Burschenschaften Juden aus),181 doch dass deren Nationalismus sie nicht zu tätlichen Angriffen gegen die Juden führte, auch wenn ihre antijüdische Propaganda den Boden für die Unruhen mit bereitet hatte. Im Gegenteil, wie das Heidelberger Beispiel zeigt, griffen Studenten zum Schutz der Juden ein. Gegner der Judenemanzipation mussten den Vorwurf deutlich zurückweisen, dass es sich bei den Hep-Hep-Unruhen um revolutionäre Umtriebe handele, der teils von staatlicher Seite, teils aber auch von Juden erhoben wurde, die damit ihre Gegner bei den Regierungen diskreditieren wollten, indem sie diese als Anstifter von revolutionärer Unruhe hinstellten.182 Moshe Zimmermann vertritt die Auffassung, dass die Krawalle für die Judengegner sogar kontraproduktiv gewesen seien. Er nimmt an, dass Interessenten aus dem Mittelstand die Unterschichten für ihre Sache mobilisiert bzw. als Alibi benutzt hätten, was er für einen taktischen Fehler hält, da für die Regierungen der Restaurationsperiode Revolutionäre die größte Gefahr darstellten.183 Nach Sterling nutzten die Regierungen die Unruhen als Vorwand, um noch schärfer gegen vermeintliche geheime revolutionäre Umtriebe Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. . Bald nach der Gründung der ersten Burschenschaft ( in Jena) brach innerhalb der Burschenschaften ein Streit darüber aus, ob jüdische Studenten aufgenommen oder als Feinde der sich christlich-deutsch definierenden Burschenschaften ausgeschlossen werden müssten. An den einzelnen Universitäten kam es zu unterschiedlichen Regelungen. Siehe: Ulrich Wyrwa, Deutsche Burschenschaften, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -. Der Hamburger Autor Ludwig Holst warf in seiner Schrift Judenthum in allen dessen Theilen aus einem staatswissenschaftlichen Standpuncte betrachtet (Mainz ) rückblickend jüdischen Autoren vor, sie dichteten den gegnerischen Autoren »durch Unterschieben von Motiven, sogar die aller niedrigsten, und was mehr als alles sagen will, selbst revolutionäre Absichten an, welche sie theils direkt, theils indirekt, ausführen« (S. ). So habe Ludwig Börne behauptet, »der Streit gegen die Juden und der Streit gegen den Adel geht (sic) aus einer und derselben Quelle hervor, nämlich: eine vermeinte Aristokratie zu bekämpfen, die in Geldvorzügen und Geburtsvorzügen liegen soll« (S. ) und Dr. Sabbatia Joseph Wolff habe in seiner Schrift Wider Juden. Sendschreiben an Herrn Julius Voss veranlasst durch die von ihm mir gewidmete Schrift die hep heps zu Verteidigung der Christen (Berlin ), behauptet: »Nicht der Jude allein war es, den man anfeindete, nein! Man war auch mit der Regierung unzufrieden, hoffte und beredete sich, daß wenn es nur erst recht drunter und drüber, recht bunt untereinander gienge, es auch schon besser werden würde« (S. ). Um jeden Verdacht zu entkräften, betonte Holst, »dass Deutschland kein Land für Revolutionäre sei« (S. ). Vgl. dazu Zimmermann, Die HepHep-Unruhen in Hamburg. So richteten sich die Karlsbader Beschlüsse, die während der Hep-Hep-Unruhen vom . bis zum . August diskutiert und schließlich verkündet wurden, gegen »Elemente des Bürgertums, die man für aufrührerisch hielt – Studenten, Professoren, Turner etc.« (Zimmermann, Die Hep-Hep-Unruhen in Hamburg).
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vorzugehen und zahlreiche Personen zu verhören und zu verhaften. Sie sieht auch die Karlsbader Beschlüsse vom . September und die in Mainz eingerichtete Untersuchungskommission für die Unruhen in diesem Licht: »A Central Commission of Investigation was established at Mainz, and military force was henceforth to be used. To enforce the final choking of the freedom of the universities and of the press.«184 Jacob Katz, dem Stefan Rohrbacher, Rainer Erb, Werner Bergmann und andere hierin gefolgt sind, sieht in den Unruhen aber allein eine Konfrontation auf lokaler Ebene, in der die betroffenen Schichten der einheimischen Bevölkerung sich gegen den Zuzug bzw. den Aufstieg jüdischer Konkurrenz wehrten.185 Auch wenn bisweilen religiöse Motive, wie Ritualmord- oder Gottesmordvorwürfe, reaktiviert wurden, so verteidigte man die althergebrachte ständische und zünftige Ordnung gegen emanzipatorische Veränderungen, die man als bedrohlich wahrnahm. Inwieweit die Hep-Hep-Unruhen selbst oder aber die generelle reaktionäre Zeitstimmung und Politik den weiteren Fortgang der Judenemanzipation hemmten, lässt sich schwer sagen. Die Gegner der Emanzipation beriefen sich jedenfalls häufig auf die Unruhen, um vor weiteren Veränderungen zugunsten der Juden zu warnen. Für Hamburg ließ sich feststellen, dass der Senat in der Tat weitere Verbesserungen der Rechtsstellung der Juden nach den Unruhen auf die lange Bank schob, und auch Bayern verzichtete auf ein neues, weitergehendes Judenedikt, während sich etwa der dänische König von den Unruhen nicht beeindrucken ließ. Auf jüdischer Seite gab es, wie die Reaktion Rahel Varnhagens belegt, zunächst Schrecken und Verwirrung und eine temporäre Flucht aus den betroffenen Orten. Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen, führten die Unruhen nur selten zu einer dauerhaften Abwanderung der jüdischen Einwohner, auch wenn zunächst gerade einflussreiche und wohlhabende Juden daran dachten, nach Frankreich, in die Niederlande oder nach Wien überzusiedeln. Die meisten verließen ihre Wohnorte letztlich jedoch nicht. Sterling betont allerdings für die unmittelbare Zeit nach den Unruhen, dass es durch das Fernbleiben jüdischer Kaufleute zu einer Störung der Frankfurter Messe im September kam und dass jüdische Bankhäuser die Wechsel christlicher Kaufleute nicht einlösten, die sie verdächtigen, an den Unruhen beteiligt gewesen zu sein. Dies habe den Handel mit England behindert.186 Wie die Wiederaufnahme des »Hep-Hep«-Rufes in den Ausschreitungen des späten . und frühen . Jahrhunderts belegt, blieben sie im kollektiven Gedächtnis soweit als paradigmatisch präsent, dass sie in antijüdischen Aktionen reaktiviert werden konnten.187 Für die unmittelbaren Reaktionen auf die Hep-Hep-Welle gilt Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. . Vgl. neuerdings ebenso Smith, From Play to Act, S. -: »The Hep Hep Riots thus represented the first uprising against emancipation, and especially against that part of emancipation that affronted local privilege« (S. ). Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. . »Hep-Hep«-Rufe sind belegt für die antijüdischen Unruhen in Neustettin (), Xanten () und Konitz (). Siehe Kap. dieser Arbeit. Siehe dazu auch: Gerson, Hepp-
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indessen, dass man sie sowohl auf christlicher wie auf jüdischer Seite möglichst schnell ad acta legen wollte, um das Einvernehmen zwischen den Gruppen nicht weiter zu stören.
Hepp, S. -. Der Ruf »Hep-Hep« blieb vor allem auch im Gedächtnis der deutschen Juden präsent und wird häufig, etwa in Karikaturen, kritisch gegen Äußerungen von Antisemitismus gewendet.
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. Ausschreitungen im Gefolge der Juli-Revolution – - Die französische Juli-Revolution von hatte nach Thomas Nipperdey »exemplarischen Charakter und gesamteuropäische Resonanz«, da sie der Ausdruck einer allgemeinen Krise der restaurativen Ordnung war, die auf Dauer nicht mehr zu halten schien.1 Die Revolution erfasste Belgien, die Schweiz, Teile Italiens, Russisch-Polen und brachte auch die Verhältnisse im Deutschen Bund in Bewegung, wobei sie dort, den vielen Teilstaaten entsprechend, ganz unterschiedlich verlief. Im Zuge der Julirevolution kam es zunächst im Elsass und dann ab Ende August auch in einer ganzen Reihe von Regionen des Deutschen Bundes vor allem in Nord- und Mitteldeutschland (Braunschweig, Kassel und ganz Kurhessen, Göttingen (Südhannover), Leipzig, Dresden) zum Sturm bewaffneter Bürger, darunter, Handwerker, liberale Bürger, Bauern und Arbeiter, auf Regierungsgebäude, um die Fürsten und Minister zum Rücktritt zu zwingen und liberale Verfassungen durchzusetzen, wobei dieser politische Protest häufig mit Sozialprotest unterfüttert war, der sich gegen die hohen Steuerlasten, Feudalabgaben, die versteinerte Bürokratie, das Polizeiregiment, die Zollgrenzen, aber auch gegen Fabrikanten richtete. In den bereits konstitutionellen Staaten Süddeutschlands kam es nicht zu Unruhen, eine Ausnahme war Oberhessen, wo sich der Protest gegen Steuern, Zölle und die feudalen Verhältnisse richtete. Unberührt von den Erschütterungen der Julirevolution blieben Preußen und Österreich, wo es weder Verfassungsbewegungen noch Sozialproteste gab.2 Die Welle der Unruhen blieb nicht auf die kurze Spanne nach der Julirevolution beschränkt, sondern hielt bis an. Heinrich Volkmann kam in seinen Untersuchungen der Unruhen von - auf insgesamt Protestfälle, denen er konjunkturell-wirtschaftliche, strukturell-wirtschaftliche, politische sowie ethnische und konfessionelle Ursachen zuordnete.3 Bei den konfessionellen Unruhen handelt es sich zumeist um antijüdische Unruhen, die in einigen größeren Städten wie Hamburg, Breslau, Hanau und Karlsruhe sowie in kleineren Orten Hessens, Badens, Bayerns und Frankens gravierend ausfielen.4 Gewalt gegen Juden im Kontext antirevolutionärer Unruhen im Elsass Es sollte wiederum das Elsass sein, in dem – wie bereits – zu Beginn der JuliRevolution von antijüdische Unruhen ausbrachen, so in Wintzenheim, wo die Juden beim Präfekten um Schutz nachsuchten, und in den Gemeinden rund um Phalsbourg (Mosel).5 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte -, München , S. . Ebd., S. f. u. . Heinrich Volkmann, Die Krise von . Form, Ursache und Funktion des sozialen Protests im deutschen Vormärz. MS. Habilitationsschrift, Berlin , S. . Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. f. Dazu und zum Folgenden Szajkowski, Jews, S. ff.
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Antijüdische Ausschreitungen im Zuge der Juli-Revolution in Frankreich, Dänemark und im Deutschen Bund -
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Zu den schwersten Unruhen kam es aber erst zwei Jahre später. Diese müssen als Teil von breiter angelegten, konterrevolutionären Aktionen gegen die im Zuge der Juli-Revolution von eingesetzte Regierung, die unter Juden und Protestanten breite Unterstützung fand, verstanden werden, wobei die katholische Kirche und die legitimistische Partei zusammenarbeiteten.6 Am . Juni wurde die Einweihungsprozession für die neue Synagoge in Itterswiller gestört, als Christen ihr Vieh in die Reihen der Feiernden trieben, was ein Handgemenge auslöste. Der katholische Ortsgeistliche nahm diesen Vorfall zum Anlass für eine gezielte antijüdische Agitation.7 Am . Juni griffen Bauern und Arbeiter der örtlichen Fabriken, darunter auch Einwohner aus dem nahe gelegenen Itterswiller, Juden in Bergheim (Department Haut-Rhin) an, wobei es neben der Zerstörung und Plünderung zahlreicher Häuser auch zwei, eventuell sogar drei Tote und ungefähr zwanzig Verletzte gegeben haben soll.8 Dies dürfte geschehen sein, weil die Angreifer auf eine Armeeeinheit schossen, die die Menge zerstreuen sollte. Die einheimischen Juden wurden zur Flucht in die umliegenden Orte wie Colmar und Sélestat gezwungen. Einige kehrten nicht wieder in ihre Heimatorte zurück. Der Auslöser für dieses Pogrom bleibt nach Daniel Gerson unklar, ein Wirtshausstreit soll den Anfang gemacht haben.9 Demnach hätten vier junge Leute einen Juden in einem Gasthaus verspottet. Als sie dieses verließen, stießen sie auf eine größere Anzahl von Juden in den Uniformen der Nationalgrade, die auch ihre Waffen trugen. Sie hatten von der Verspottung ihres Religionsgenossen gehört und versperrten den Ebd., S. . Mit dem Begriff Legitimisten (französisch légitimistes) wird eine Partei bezeichnet, die in Frankreich nach der Revolution von die Ansprüche der französischen Könige aus der Linie der Bourbonen unterstützen. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Szajkowski sieht dies Unruhen deshalb auch stark von den judenfeindlichen Einstellungen der katholischen Kirche beeinflusst (Jews, S. ff.). Szajkowski, Jews, S. f. Die Formulierung »peasants and workers of the local factories attacked the Jews with casualties of two dead and eighteen or twenty wounded« lässt zwar vermuten, dass es sich bei den Toten und Verletzten um Juden handelte, doch da auf eine Armeeeinheit geschossen wurde und diese möglicherweise mit Schüssen geantwortet hat, wären Tote und Verletzte auch unter den Soldaten und Tumultuanten denkbar. Auch Gerson merkt an, dass Szajkowski nicht präzisiere, ob es sich bei den Opfern um Juden oder Nichtjuden handelte (Die Kehrseite, S. ). Szajkowski kommt auf S. noch einmal auf die Unruhen in Bergheim zurück und schreibt, dass es dort drei tote Tumultuanten (attackers) gegeben und man von ihnen verhaftet habe. D. h., bei den Toten hat es sich offensichtlich nicht um Juden gehandelt. Über die Gründe für eine Beteiligung von Fabrikarbeitern an den antijüdischen Unruhen von und auch später gibt es keine überzeugenden Erklärungen. Zu Recht verwirft Szajkowski die von Historikern vorgebrachten Gründe, die Juden seien als wohlhabende Bevölkerungsgruppe oder als Eigner von Pfandbriefen zum Ziel der Angriffe geworden, da beides sich empirisch nicht halten lässt (ebd., S. f.). Möglicherweise unterscheiden sich in dieser Zeit die Arbeiter in ihrer Mentalität noch kaum von der bäuerlichen Bevölkerung, vor allem nicht in kleineren Orten, so bezweifelt Szajkowski auch die von manchen behauptete Existenz einer organisierten Arbeiterbewegung und vor allem, dass diese antijüdisch orientiert gewesen sei. Gerson, Die Kehrseite, S. .
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vier jungen Leuten den Weg, so dass es zum Kampf kam, wobei einer der jungen Männer schwer verletzt wurde, während die übrigen in ein Geschäft flüchteten, wo sie erregt von der Verletzung ihres Kameraden und betrunken vom Wein begannen, die Fensterläden und die Einrichtung des Ladens zu zerschlagen. Die Autoritäten des Ortes reagierten schnell, verhafteten die vier jungen Leute und brachten sie auf die Polizeiwache. Als sie am folgenden Tag ins Gefängnis von Colmar überführt werden sollten, bildeten sich Gruppen von Menschen auf dem Marktplatz, so dass sich, verstärkt von Arbeitern aus den Fabriken, schließlich ungefähr achthundert Menschen versammelt hatten, die in das Gefängnis eindrangen und die Verhafteten befreiten. Sie brachen dann in den Keller eines gewissen Blum ein und verteilten die Weinvorräte. Dies begünstigte den Ausbruch der folgenden Unruhen, die von Uhr mittags bis in die Nacht dauerten.10 Dank der Ankunft des königlichen Prokurators und von Truppen aus Ribeauville und der Nationalgarde wurde die Ordnung wiederhergestellt. Es wurden mehr als Personen, darunter ein großer Anteil von Fabrikarbeitern, verhaftet. Der Ort wurde abgeriegelt, und es begannen Hausdurchsuchungen, um das Plünderungsgut aufzuspüren, wobei ein großer Teil der Gegenstände sichergestellt werden konnte. Juden Bergheims forderten als Entschädigung knapp . Francs, mehr als das Doppelte des Wertes der entwendeten Gegenstände. Die Gemeinde Bergheim wehrte sich gegen diese Forderung. Dennoch wurde die Gemeinde in erster und in zweiter Instanz verurteilt, den Schaden zu ersetzen, und musste auch die Prozesskosten tragen.11 Die Berichte der Behörden über diesen Vorfall nennen den jüdischen Wucher und die damit Szajkowski (Jews, S. ) zitiert aus einem Bericht des Unterpräfekten aus Seléstat vom . Juli : »The streets were full of broken furniture thrown out by the rioters from Jewish homes; roofs and other parts of Jewish houses were destroyed; Christians who were apprehensive that they might be subjected to a search, were returning various effects from looted Jewish houses. Jews who had tried to escape to Seléstat found the roads blocked by Christians.« M. Ginsburger, Les Juifs à Ribeauvillé et Bergheim, Conférence faite lors de la ème assemblée générale de la Société d’histoire et d’archéologie de Ribeauvillé, le mars . Publication de la Société pour l’Histoire des Israélites d’Alsace et de Lorraine XXV – , http://judaisme.sdv.fr/synagog/hautrhin/r-z/ribeauv/historiq.htm. Der Artikel bezieht sich auf die Strassburger israelitische Wochenschrift, IV, , No. . Vor dem Zivilgericht in Colmar kam es anschließend zum Prozess um die Zahlung von Entschädigungen für das während der Ausschreitungen in Bergheim zerstörte und entwendete jüdische Eigentum. Die Gemeinde Bergheim behauptete, alles getan zu haben, um den Aufruhr zu zerstreuen und die Plünderungen zu verhindern, und wollte keine Entschädigung zahlen. Um den Sachverhalt zu klären, ordnete das Gericht eine Expertise über den entstandenen Schaden an. Das Gericht verurteilte am . Juni die Gemeinde zu Schadenersatz gegenüber den Klägern wegen der angerichteten Schäden und der Entwendung von Eigentum. Die Gemeinde wiederholte ihre Beweisgründe und bot an, zu beweisen, dass sie alles getan habe, um die Unordnung und Plünderungen zu stoppen. Die zweite Instanz bestätigte jedoch das Urteil der ersten Instanz (Jurisprudence Générale du Royaume. Recueil Périodique et Critique de Législation, de Doctrine de Jurisprudence, et Matière Civile, Commerciale, Criminelle, Administrative et de Droit Public, von M. Dalloz, Paris , S. ).
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verbundene Ausbeutung der Bevölkerung als Ursache, wobei sie die Gewalt als einen wenn auch nicht legalen, so doch legitimen Akt von Selbstjustiz betrachteten.12 Die Befürchtung, die Unruhen könnten auf andere Orte übergreifen, sollte sich bewahrheiten: Am . Juni bereiteten sich die Einwohner von Châtenais darauf vor, am Abend die Juden in Schervillé (Bas-Rhin) zu attackieren, so dass der gewarnte Subpräfekt eine Armeeeinheit dorthin beorderte. Ausschreitungen konnten damit verhindert werden. Eigentlich hätte die lokale Nationalgarde für solche Fälle eingesetzt werden sollen, doch galt sie für den Schutz der Juden offenbar als unzuverlässig, was für die weite Verbreitung antijüdischer Einstellungen im Elsass spricht.13 Auch in einigen anderen Orten waren öffentlich judenfeindliche Äußerungen und einzelne Tätlichkeiten zu verzeichnen, die jedoch nicht in größere Krawalle übergingen. Wir haben es in diesem Fall also nicht mit genuin antijüdischen Ausschreitungen zu tun, sondern mit politischen, anti-revolutionären Aktionen gegen das neue Regime, in die Erstere eingebettet waren. Dabei konnten fehlgeschlagene größere Aufstandspläne zu einem ersatzweisen Angriff auf Juden führen, oder umgekehrt versuchte man, antijüdische Ausschreitungen als Initialzündung für größere politische Unruhen zu nutzen.14 Waren es im Elsass konterrevolutionäre Akteure, die die Unruhen schürten, so war es in Hamburg, wie einige der Forderungen der Tumultuanten zeigen, durchaus eine in Teilen revolutionäre Stimmung, in der es zu den antijüdischen Ausschreitungen kam. »Anmaaßung und Krämersinn«: antijüdische Ausschreitungen in Hamburg und Die Ursachen für die antijüdischen Unruhen unterschieden sich in Hamburg kaum von denen von . Der liberale Hamburger Chronist Johann Gustav Gallois stellte sogar einen kausalen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen her, indem er annahm, dass sich darin »die noch von her im Volk steckende Erbitterung der Hamburger Mittelklasse gegen die Juden« entlud.15 Es waren nämlich Gerson zitiert den für Sélestat im Pariser Parlament sitzenden Abgeordneten Longuet, der »den Hass der Katholiken gegen die Juden in den Departementen Haut-Rhin und BasRhin sowie die Ereignisse zu Bergheim dem Wucher und den betrügerischen Geschäften [zuschreibt], deren sich die Juden tagtäglich schuldig machen« (Kehrseite, S. ). Tatsächlich erreichte es Longuet, dass es zu einer kleinen Enquete bezüglich des jüdischen Wuchers im Elsass kam. Szajkowsky, Jews, S. f. Gestützt auf die Berichte des Unterpräfekten von Seléstat vom Juni bzw. Oktober , schreibt Szajkowski dazu, »that agitators had tried to foment a revolt of the people against the July regime … When this maneuver failed, the age-old incitement of the people against the Jews was resorted to.« […] »The priests were again active in the villages, where they agitated against the Jews. ›The Jews were always the excuse the agitators use for provoking uprising in Alsace‹« (Szajkowski, Jews, S. ). Zit. nach Hans-Georg Stümke, »Wo nix is, hett de Kaiser sein Recht verlor’n oder Der
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wiederum die zünftigen Handwerker und die im Krameramt organisierten Kaufleute, die sich durch die Entwicklung der modernen Wirtschaft, etwa die Senkung der Einfuhrzölle und die reformierte Gesetzgebung (ein Ausschuss sollte die Struktur der Zünfte überprüfen) bedroht fühlten. Nach Auffassung dieser Kreise nutzten die reichen Juden die für sie günstige Gesetzgebung sowie die gute Konjunktur, um noch reicher zu werden, während sich die ärmeren jüdischen Händler durch Umgehung der Krameramtsartikel illegal Vorteile verschafften.16 So gab es zahlreiche Beschwerden gegen den »Lärm jüdischer Trödler«. Nach Moshe Zimmermann nutzten diese Kreise die durch die französische Juli-Revolution auch in Hamburg ausgelöste revolutionäre Stimmung, um gewaltsam gegen die Juden vorzugehen.17 Ob dies in organisierter Weise geschah, ist schwer zu beurteilen.18 Der erste »Tumult« begann ganz nach dem Muster von am Abend des . August, als sich vor dem Alsterpavillon eine aufgebrachte Menge versammelte, »Hepp, Hepp, Hepp« und »Juden raus !« skandierte und schließlich die jüdischen Gäste der Kaffeehäuser an der Alster auch tätlich angriff und aus den Lokalen vertrieb. Gleichzeitig wurde aber auch die Marseillaise gesungen, und es wurden Schärpen mit den Farben der Trikolore getragen, was auf eine politisch-revolutionäre Stimmung hindeutet. Am nächsten Abend gingen die Unruhen weiter. Es kam zu »starken Zusammenrottungen«, und nun beschränkte man sich nicht mehr allein auf die Kaffeehäuser, sondern warf auch die Fenster jüdischer Häuser ein. Auch am dritten Abend versammelte sich eine große Menschenmenge am Jungfernstieg, um antisemitische Drohungen hinauszuschreien und Juden aus den Kaffeehäusern hinauszuwerfen.19 Träger dieser Übergriffe kamen zwar überwiegend aus den »geringeren Klassen«, doch gab es Hinweise von Augenzeugen auf die Teilnahme von Kaufleuten und gutsituierten Handwerkern.20 Die Tatsache, dass die Menge sich an drei Abenden hintereinander ungehindert versammeln und randalieren konnte, deutete auf eine große Zurückhaltung der Polizei und des Bürgermilitärs hin. Der Senat, obwohl
Stein auf dem Sofa der Senatorin«. Die Hamburger Unruhen vom . August bis . September , in: Jörg Berlin (Hrsg.), Das andere Hamburg. Freiheitliche Bestrebungen in der Hansestadt seit dem Spätmittelalter, Köln, , S. -, S. . Zimmermann, Antijüdischer Sozialprotest? S. Vgl. zur Beschreibung dieser spontanen Begeisterung in Hamburg Stümke, »Wo nix is«, S. f. In den Quellen (in der Unpartheyischen Darstellung der Unruhen in Hamburg im September ) wird erwähnt, dass sich am Abend des .. die Gäste im Schweizerpavillon auf ein verabredetes Zeichen hin unter »Juden heraus!«-Rufen auf die jüdischen Gäste gestürzt hätten (zit. bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .). Auch Stümke erwähnt die Verteilung von Handzetteln auf dem Jungfernstieg, auf denen »Nieder mit dem Judenpack! Nieder mit Rautenberg ! [ein verhasster mystischer Pietist mit Einfluss im Rat der Stadt] Sont aux armes ! Darunter ein Schwert gezeichnet« zu lesen war, als Beleg für das bewusste Schüren der Unruhen durch interessierte Gruppen. Welche dies gewesen sein könnten, ist allerdings nicht bekannt (»Wo nix is«, S. ). Ebd., S. . Zimmermann, Antijüdischer Sozialprotest? S. .
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von den Tumulten in Kenntnis gesetzt, zögerte mit dem Einsatz dieser Kräfte, da man glaubte, es läge zu »einer Beunruhigung kein Grund« vor.21 Erst als sich am Abend des . September die Menge nach der Verhaftung von Demonstranten gegen die anwesenden Ordnungskräfte richtete und diese sich in das nahe des Jungfernstiegs liegende Stadthaus flüchten mussten, das nun zum Ziel der Angriffe wurde, wendete sich das Blatt und der Senat setzte Ulanen und weitere Polizeikräfte ein, um die Menge mit Waffengewalt zu zerstreuen. Angesichts dieser Eskalation und des direkten Angriffs auf Einrichtungen der Stadt reagierte der Senat nun mit Härte und erließ schon am nächsten Tag das »Tumultmandat von «. Die vor dem Stadthaus agierende Menschenmenge beschränkte sich aber nicht auf Steinwürfe gegen das Stadthaus, sondern erhob auch politische Forderungen wie: »Zoll wieder erhöht, Steuern abgeschafft! Weg mit den reichen (Alias: fremden) Kaufleuten, die keinen Zoll wollen! Weg mit der Mietabgabe und dem Wallgeld! Weg mit der Accise!« usw., die verbunden wurden mit Parolen gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder Personen: »Nieder mit den Juden und Hausierern ! […] Nieder mit dem Rat! Nieder mit den Aristokraten! Weg mit dem Nepotismus (wobei einzelne Namen genannt wurden) […] Nieder mit der Zensur! Nieder mit den Ulanen! […] Budget, öffentliches Budget! Rechenschaft des Rats!« u. a.22 Diese politischen und sozialen Forderungen an den Senat zeigen aber auch, dass die Juden zwar als »Sündenböcke« für eine allgemeinere Unzufriedenheit mit der Politik des Senats und gegenüber der reichen Bürgerschicht herhalten mussten, dass sie aber nicht zufällig gewählt worden waren, sondern als eine durch die Senatspolitik besonders begünstigte, sich durch Zuzug ständig vergrößernde fremde Gruppe gesehen wurden, während sich die einheimischen Kaufleute und Handwerker benachteiligt sahen.23 Trotz des verhängten Ausnahmezustandes hörten die Unruhen nicht auf, sondern am Abend des . September kam es zu heftigen Straßenschlachten zwischen den Tumultuanten und Ulanen, und die Menge zog Parolen skandierend durch die Stadt und warf bei Häusern von Christen und Juden die Fenster ein. Es gab einen regelrechten Angriff auf das Stadthaus. Man errichtete Barrikaden, und viele Ulanen und Polizeikräfte wurden übel zugerichtet, was auf eine veränderte Ausrichtung der kollektiven Gewalt hindeutet. Wie sich zeigte, war auch in Hamburg auf die Bürgergarde und Teile des Militärs nur bedingt Verlass, da diese mit den Demonstranten sympathisierten und sich zum Teil gegen die von außen herbeigeorderten Einheiten des Linienmilitärs wandten. Trotz des Militäreinsatzes gingen die Unruhen auch am . September weiter, verlagerten sich nun aber von der durch Militäreinheiten kontrollierten Innenstadt vor die Tore der Stadt ans Millerntor (heute St. Pauli) und mussten mit Hilfe des verspätet eintreffenden Militärs zerstreut werden. Am Sonntag, dem . September, fürchtete man eine weitere Zuspitzung der Lage, und tatsächlich kam es wiederum am Millerntor zu heftigen Max Treu, Die Hamburger Unruhen im September , in: Hamburgische Geschichtsund Heimatblätter, , Heft , S. -, hier S. . Zit. nach Stümke, »Wo nix is«, S. . Ebd., S. .
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Auseinandersetzungen zwischen »Pöbel«, Matrosen und dem Militär, bei denen es mehrere Tote und viele Verletzte unter den Tumultuanten gab.24 Diese heftige Intervention der Staatsmacht löste Erschütterung in der Bevölkerung aus und wendete das Blatt, da die Unruhen nach dem . September nicht wieder aufflammten. Der Senat ging mit Härte gegen die verhafteten Unruhestifter vor, die z. T. zu Gefängnisstrafen von zwei Monaten bis zu einem Jahr verurteilt wurden. Bei diesen von zwei Senatoren geführten Kriminaluntersuchungen ging es auch darum, die vermuteten geheimen revolutionären Unruhestifter zu finden.25 Da die Interessenkonflikte zwischen Juden und dem christlichen Mittelstand fortdauerten, kam es wiederum zu antijüdischen Ausschreitungen, die nach dem gleichen Muster abliefen, die aber ein noch größeres Ausmaß annahmen.26 Wieder begannen die Krawalle in den Kaffeehäusern am Jungfernstieg. Nachdem Kaffeehausbesitzer zunächst erfolglos versucht hatten, jüdische Besucher durch überhöhte Preise fernzuhalten, wurden am . Juli jüdische Gäste mit Gewalt aus der Alsterhalle vertrieben.27 Da sich diese sich nicht vom Besuch der Kaffeehäuser abschrecken ließen, wiederholte sich dies, zumal offenbar Flugblätter dazu aufriefen, an den folgenden Abenden, ohne dass Polizei oder Bürgerwachse eingegriffen hätten.28 Am Abend des . August weiteten sich die Tumulte aus, da nun die vor den Kaffeehäusern versammelte Menge in die Neustadt zog, um dort ungestört vor den Häusern der Juden zu randalieren. Zwar ergriff die Polizei Gegenmaßnahmen, indem Militär »zur Disposition« bereitgehalten wurde, doch erst nach einer Woche griffen die Behörden durch, um die Ausschreitungen zu beenden.29 Der verant Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Stümke, »Wo nix is«, S. . Über die Ursachen war man sich in Hamburg durchaus im Klaren. Der Hamburger Advokat Patow wies die Annahme, es handele sich um Religionshass, zurück, da dafür der Hamburger zu vernünftig sei. Es handele sich um »Anmaaßung und Krämersinn. Letztere wird nur zu leicht erweckt, wenn Einzelne schreien und dadurch dem Eigenutze Nahrung und Schwingung geben. Bald strömen dann Unberufene und Unerfahrene hinzu und schreien mit, ohne zu wissen, was und wem es gilt« (zit. bei Zimmermann, Antijüdischer Sozialprotest? S ). Wie der »Aufruf zu Ausschreitungen gegen die Juden, aufgefunden auf dem Neuen Wall, . August «, zeigt, hat es auf Flugblättern einen Aufruf an »Kammeraden = Handwerks=Gesellen = Lehrburschen = und Arbeit=lose Leute und wer sonst noch Hände hat« gegeben, die sich in der Alsterhalle versammeln und gegen die Juden vorgehen sollten. Abgedruckt in Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. [Staatsarchiv Hamburg: Polizeibehörde Kriminalwesen C Jg. /]. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ; Zimmermann, Jüdischer Sozialprotest? S. f. Dies motivierte Gabriel Riesser zu einer deutlichen Kritik an der Stadtregierung, indem er schrieb, die Polizei habe den »Anspruch«, die Misshandlung von Juden sei »eines der vielen bürgerlichen Privilegien« ex post facto gebilligt. Riesser kritisierte auch die populäre Presse, die die Anschuldigungen gegen die Juden publiziert und so die Unterschichten aufgewiegelt habe (Zimmermann, Antijüdischer Sozialprotest? S. ).
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wortliche Senator forderte die Juden auf, sich von den Kaffeehäusern fernzuhalten, ohne aber auf die sozialen Ursachen der Unruhen einzugehen. Hintergrund für die Eskalation swaren einmal die erneut geführte Debatte um die Zunftfrage, die erlassenen neuen Gesetze zur Gesindeordnung und zur Neuordnung des Bürgerrechts, zum anderen die daran anschließenden Bemühungen einer progressiven Gruppe von Juden um Gabriel Riesser, die eine Denkschrift über die bürgerlichen Verhältnisse der Hamburgischen Israeliten eingereicht hatte, in der sie die völlige rechtliche Gleichstellung der Juden in Hamburg verlangte, zu der auch die Gewerbefreiheit gehörte. Obwohl der Senat am . Dezember bekannt gab, dass man die Forderung nach völliger Gleichberechtigung für verfrüht halte, war er doch bereit, eine »Commission zur Erörterung der Verhältnisse der hiesigen Israeliten« einzusetzen. Dies wurde von den Gegnern der Judenemanzipation als bedrohlich empfunden,30 so dass man die Unruhen von wiederum als den erfolgreichen Versuch werten kann, die weitere Gleichstellung der Juden in Hamburg zu verhindern. Der Senat sah sich Druck von zwei Seiten ausgesetzt: Die jüdische Gemeinde verwies auf den erheblichen wirtschaftlichen Schaden, den eine Handelsstadt wie Hamburg durch die Unruhen erleide, da ausländische Juden die Stadt meiden würden, während die Handwerker und Kaufleute sich ihrerseits allen Veränderungen des jüdischen Status entgegenstemmten und auf ihre prekäre wirtschaftliche Situation verwiesen. Der Senat ging deshalb einerseits gegen die bekannten Unruhestifter vor, sperrte sich aber gleichzeitig gegen Zugeständnisse an die Juden der Stadt.31 Antijüdische Tumulte in Kopenhagen () und Stockholm () Es waren wohl die seit Anfang September andauernden Hamburger Unruhen, die das Vorbild für Ausschreitungen in Kopenhagen anlässlich der Grundsteinlegung für die neue Synagoge am . September boten. Zuvor hatten die Nachrichten über die revolutionären Kämpfe in Paris und die Abdankung des französischen Königs Karl X. zwar zu einem angespannten Klima in der Stadt geführt, doch war es nicht zu Unruhen gekommen, zumal die Polizei seit dem . September mit einer verstärkten Überwachung der Wirtshäuser reagiert hatte. Die Hamburger Unruhen waren dort, wie Polizeiinformanten berichteten, zwar Gesprächsgegenstand und man glaubte, dass es auch in Kopenhagen zu Unruhen kommen könne. Es waren auch judenfeindliche Stimmen zu hören und Plakate in den Straßen aufgetaucht,32 so dass die jüdische Gemeinde in Erinnerung an die Hep-Hep-Unruhen von in der Stadt anlässlich der Einweihung der neuen Synagoge eine Wiederholung befürchtete, doch blieb es zunächst ruhig. Drei Tage vor der Grundsteinlegung versammelte sich jedoch am Abend eine Menschen Ebd., S. . Ebd., S. . Blüdnikow, Jødeureon in Køpenhavn, S. . Blüdnikow stützt sich bei seiner Analyse auf überlieferte Berichte von Informanten der Polizei.
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menge, die unter Johlen und Pfiffen durch die Straßen zog, sich dann aber wieder auflöste. Gegenüber der Polizei äußerten sich die Teilnehmer ganz unterschiedlich, doch hatten einige offenbar in der Erwartung teilgenommen, es würde gegen die Juden gehen. Ähnliches ereignete sich auch an den beiden folgenden Tagen, und in der Stadt herrschte die Erwartung, dass bald »etwas« passieren würde, eine oft vor Pogromen anzutreffende Stimmungslage.33 Am . September fand sich eine »heterogene Schar von Neugierigen« offenbar in Erwartung eines Tumultes am Bauplatz der Synagoge ein. Die jüdische Gemeinde hatte aber die Zeremonie, wohl angesichts der versammelten, unruhigen Menge, abgesagt. Trotz Polizeipräsenz öffneten einige Anführer den Bauzaun, und es flogen Steine gegen das benachbarte jüdische Wohnstift »Meyers Minde«. Ein Bewohner, der Hilfe holen wollte, wurde umgestoßen und geschlagen. Das Wohnstift glich einer belagerten Festung, und die eingeschlossenen älteren Juden waren in großer Angst. Niemand konnte in das Stift gelangen oder es verlassen, ohne mit Steinen beworfen und mit dem »Hurra« des zahlreichen Pöbels empfangen zu werden.34 Der Tumult dauerte am Nachmittag drei Stunden an, wobei die Menge in den Garten gestürmt war und Fenster eingeschlagen hatte, was der Inspektor vor Ort nicht hatte verhindern können. Dieser Vorfall war offenbar Auslöser für Tumulte an anderen Orten in der Stadt, wo man die Fenster jüdischer Geschäfte einwarf und auch einem Juden den Hut vom Kopf schlug. Ähnliche Vorfälle wiederholten sich auch am folgenden Tag.35 Danach kehrte Ruhe ein, obwohl es Gerüchte gab, die Unruhen könnten mit aller Macht weitergehen und es würden auch die Studenten einbezogen werden.36 Die Ursache für diese Ausschreitungen scheint den Beteiligten wie auch der Obrigkeit Blüdnikow, Jødeureon in Køpenhavn, S. ; vgl. auch Christoph Leiska, Räume der Begegnung – Räume der Differenz. Jüdische Integration und Antisemitismus in Göteborg und Kopenhagen -, Berlin , S. ff. Blüdnikow, Jødeureon in Køpenhavn, S. , dort auch ein Brief des Inspektors des Wohnstiftes »Meyers Minde« an die jüdische Gemeinde zum Ausmaß der Schäden. Über den Charakter und das Ausmaß der Unruhen gehen die Einschätzungen der Historiker Harald Jørgensen und Georg Nørregård (Danmark mellem Øst og West -, ) auseinander. Während Ersterer ein jugendliches Publikum mit eher spielerischem Verhalten beschreibt, sieht Letzterer Tausende von Menschen in den Straßen, d. h., Teilnehmer waren nicht nur junge, sondern auch ältere Leute. Zeitungen waren, auch wegen der Zensur, eine weniger geeignete Quelle als die Polizeiverhöre, die ein detailliertes und nuanciertes Bild der Geschehnisse liefern, was nicht heißt, dass sie notwendigerweise ein richtiges Bild zeichnen, da sie sich vor allem auf die Aussagen der später in den Prozessen verurteilten Jugendlichen stützen. Blüdnikow zeigt auf, wie sehr die Berichte in den unterschiedlichen Quellen (Zeitungen, Polizeiakten, Gesandtenberichte) differieren (Blüdnikow, Jødeureon in København, S. ). Blüdnikow, Jødeureon in København, S. ff. Es kam auch zur polizeirechtlichen Ahndung der Übergriffe – so eine Verhandlung gegen Jugendliche, die Fenster eingeworfen hatten, sowie zu einer Verhandlung wegen des Angriffs auf einen alten Juden aus dem Wohnstift. Als Rädelsführer wurde durch Zeugenaussagen der Zimmermann Johan Christoper Petersen identifiziert, der zu dreißig Tagen Gefängnis bei Wasser und Brot verurteilt wurde (S. f.).
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nicht ganz klar gewesen zu sein.37 Gegen die These von politisch motivierten revolutionären Unruhen spricht, dass die Bevölkerung gegenüber dem König loyal blieb.38 Die Unruhen waren eindeutig gegen die Juden gerichtet. In einem Klima von revolutionärer Nervosität und sozialem Protest und nach dem Vorbild der Hamburger Unruhen, die Gegenstand von Wirtshausgesprächen waren,39 hatten hier Kopenhagener Einwohner zu traditionellen Formen der Sanktionierung (Tumult am Bauplatz der geplanten Synagoge, Steinwürfe gegen jüdische Häuser, Pfiffe, das Herunterschlagen des Hutes) dessen gegriffen, was sie als Verletzung herkömmlicher Normen seitens der Juden auffassten. Der Bau einer neuen Synagoge wurde als Zeichen der Ausweitung der durch die Emanzipation gewonnenen Rechte betrachtet, mit denen sich die traditionelle räumliche Ordnung der Stadt wie die sozialen Hierarchien zuungunsten der Christen zu verschieben begannen. Die begrenzte physische Gewalt gegen die Juden und ihre Häuser, die auf eine symbolische Degradierung und Einschüchterung und nicht auf ernsthafte Verletzungen oder tatsächliche Austreibung zielte, muss also als Ausdruck des Protests vor allem der unterbürgerlichen Schichten, die noch an ständischen und christlichen Ordnungsvorstellungen festhielten, gegen den Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe der Juden am öffentlichen Raum gelesen werden.40 Die Einweihungsfeier der Synagoge verlief dann ohne solche Zwischenfälle wie im September . Es erschien jedoch am Tag der Einweihung ein Spottgedicht in »jiddelnder Sprache« in der populären Zeitschrift Raketten, die den (allzu) schnellen ökonomischen und sozialen Aufstieg eines Juden (Moses Groscheer) vom Hausierer zum statusbewussten Börsenmakler karikierte, was man mit Christoph Leiska als Kritik an der als anmaßend angesehenen Verschiebung der hergebrachten sozialen Rolle der Juden lesen muss und was auch von den Juden selbst so verstanden wurde.41 Im Unterschied zu einigen Staaten des Kontinents war es in Dänemark und Schweden nach der Niederlage Napoleons nicht zur Rücknahme der im juderegle Der Historiker Harald Jørgensen hatte in seinem Buch Jødeuroligheder i København von Gassenjungen für diese zufällig entstandenen Unruhen verantwortlich gemacht, doch behauptet Blüdnikow, dass dies nicht mit den Quellen übereinstimme. Er betont, dass man schon früh Unruhen am . September erwartet hatte und sich die Unruhen unter Beteiligung einer großen Menge über mehrere Tage erstreckten. Die Aktionen beschränkten sich auch nicht auf lautes Rufen, sondern es wurden Fenster eingeschlagen, ein Jude wurde misshandelt und man hinderte die Polizei, die Gassenjungen zu verhaften (S. ). Blüdnikow, Jødeureon in København, S. . Dass auch Deutsche an den Unruhen beteiligt gewesen sein sollen, wird zwar aufgrund von Gesandtenberichten behauptet, doch fand Blüdnikow in den Polizeiakten darauf keinen Hinweis (ebd., S. ). Leiska, Räume der Begegnung, S. . Dass diese Form des Protests auch von jüdischer Seite so gedeutet wurde, wird an der gelassenen Reaktion des Gemeindevorstandes Lion Israel erkennbar, der die Bewohner des Wohnstiftes mit den Worten beruhigte: »Lass sie ruhig kommen, die tun nichts« (vgl. Blüdnikow, Jødeureon in Køpenhavn S. ). Raketten, Nr. vom ..: »Moses, som Groscheer«, S. -, zit. nach Leiska, Räume der Begegnung, S. f.
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mentet festgelegten rechtlichen Bestimmungen gekommen.42 Es gab jedoch danach kaum weitere Fortschritte in Richtung einer vollständigen rechtlichen Gleichstellung der Juden, im Gegenteil wurden im schwedischen Ständereichstag in den Jahren , , , und »Judenfragen« debattiert, in denen, wenn auch erfolglos, Verschärfungen des Judenreglements gefordert wurden, obwohl König Karl XIV. Johann seinerseits Verbesserungen anstrebte.43 Die »Judenfrage« wurde ähnlich wie in Deutschland in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts auch in Schweden in Büchern und einer Pamphletliteratur breit diskutiert, wobei rechtliche Verbesserungen mehrheitlich abgelehnt wurden.44 Die Ausschreitungen von bildeten also einen Strang in einem politischen Diskurs, der im Reichstag, in antijüdischen Druckerzeugnissen und in der Öffentlichkeit geführt wurde. Die schwedische Staatsbürokratie sah die Bestimmungen des judereglementet von aber zunehmend als überholt an, und der schwedische König hob es am . Juni auf und ordnete die bürgerliche Gleichstellung jüdischer und christlicher Schweden an.45 Zunächst gab es vor allem Kritik am Gesetzgebungsverfahren, da die Neuregelung ohne Mitarbeit der Stände zustande gekommen war, die sich zwei Jahre zuvor gegen eine teilweise Emanzipation der Juden ausgesprochen hatten. Interessant ist, dass die Gegner der Neuregelung einerseits die staatlichen Akteure angriffen, die sie des »Ultraliberalismus« und einer ökonomischen und rechtlichen Bevorzugung der Juden bezichtigten, sich andererseits die Vorwürfe auch gegen die Juden selbst richteten, die nun, von Restriktionen befreit, massenhaft einwandern und Städte und kleine Orte überschwemmen würden. D. h., man akzeptierte die Emanzipation der einheimischen Juden, lehnte aber die Zulassung von Immigration und freie Ansiedlungsrechte für Juden ab und beklagte das »Ein Cordelia Hess hat in der bisher einzigen separaten Studie zu den Ereignissen von in Stockholm darauf hingewiesen, dass man diesem Ereignis in der schwedischen Forschung lange Zeit nur wenig Bedeutung beigemessen und es nur als eine Fußnote in der Stockholmer Stadtgeschichte behandelt habe (Eine Fußnote der Emanzipation? Antijüdische Ausschreitungen in Stockholm und ihre Bedeutung für eine Wissensgeschichte des Antisemitismus, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. , , S. -, hier S. ). Dazu und zum Folgenden: ebd., S. f. Nach Hess sind internationale Einflüsse als Anlass für diese Debatten nicht erkennbar, sie vermutet daher, dass die Forderung nach Wiederherstellung der religiösen Homogenität unter der Staatskirche das treibende Motiv gewesen sei. In Schweden wurden sowohl Juden wie Katholiken repressiv behandelt (ebd.). Leiska, Räume der Begegnung, S. f. Hess, Eine Fußnote der Emanzipation, S. . Zum Zustandekommen des judereglementet in Zusammenarbeit mit Vertretern der jüdischen Gemeinde und mit Oberstatthaltern, Landeshauptmännern und Freiherren siehe ebd., S. -. Das Reglement sah vor, dass im Lande geborene Juden den Bürgerstatus bekommen sollten, während eingewanderte Juden Rechte wie andere Ausländer erhalten sollten. Die Beschränkung der Juden auf einige Städte wurde aufgehoben und dem König wurde eine gewisse Kontrollfunktion gegenüber der jüdischen Gemeinde eingeräumt, der verboten wurde, sich in Belange der Staatskirche einzumischen (ebd.).
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dringen der Juden in alle Wirtschaftszweige«.46 Ein weiteres typisches Argument betraf die jüdische Religion, die nicht als eine reine Sittenlehre galt, sondern die eine theokratische Gesellschaftsordnung vorsah, in der die Juden nur Pflichten gegenüber ihresgleichen, nicht aber gegenüber anderen Völkern hätten. Wir finden hier also die typischen Einwände gegen eine Statusverbesserung der Juden wieder. Große Teile der schwedischen Presse starteten eine Kampagne gegen die Regierungspolitik, und die Zeitungen veröffentlichten täglich Artikel über Juden, in denen auch in antisemitischer Weise Bezug auf Ereignisse in anderen europäischen Ländern genommen wurde. Die »Judenfrage« wurde so zum privaten wie öffentlichen Gesprächsthema.47 Auch die Abgeordneten des Ständereichstags wandten sich gegen diese Entscheidung, und der zuständige Ausschuss des Reichstages forderte eine Rückkehr zum bestehenden Reglement. In dieser Situation kam es nach drei Wochen in der Altstadt Stockholms zu Massenkrawallen, bei denen nicht nur Fenster jüdischer Häuser eingeworfen wurden, sondern in denen die Menge sich auch gegen das Eigentum derjenigen wandte, die sie für das Emanzipationsedikt verantwortlich machte.48 Nach Cordelia Hess, deren Darstellung wir hier folgen, sammelten sich am . und . August Menschenmengen, die Krawall machten und Steine auf Privathäuser warfen, wobei die antijüdische Stoßrichtung der Unruhen nicht gleich offensichtlich war. Die Polizei konnte die Menge schnell zerstreuen. An den beiden folgenden Abenden wiederholten sich die Vorgänge an anderen Stellen der Stadt, die durch das Einschreiten von Kavallerie beendet wurden. Obwohl auch jetzt weder Parolen noch die betroffenen Häuser benannt wurden, schien nun deutlich zu werden, dass die Gewalt eine antisemitische Stoßrichtung aufwies.49 In den folgenden zwei Wochen kam es immer wieder zu Angriffen auf die Häuser der in der Altstadt (Gamla) ansässigen Juden und das Haus des Staatsrates Carl Skogman, der als Vorsitzender des Kommerzkollegiums als hauptverantwortlich für die Neuregelung galt. Hier zeigt sich somit deutlich, dass rechtliche Verbesserungen für Minderheiten für den Staat nicht ohne Risiko sind, da sich der – auch gewaltsame – Widerstand häufig sowohl gegen die Minderheit selbst wie auch die staatlichen Organe richten kann. Hess konstatiert, dass die Berichte über den genauen Ablauf und das Ziel der Unruhen sowohl in den Berichten von Polizei und Militär wie auch von Augenzeugenberichten in der Presse widersprüchlich ausgefallen seien, wobei Erstere die Störung der öffentlichen Ordnung, Letztere die Opfer der willkürlichen Polizeigewalt beklagten, sich also auf die Seite der Tumultuanten stellten. Alle Darstellungen sahen in Ebd., S. . Ebd. Zu dieser medialen Kampagne: »Wie ein Problem gemacht wird«, S. -. Lars M. Andersson/Henrik Bachner, Schweden, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. : Länder und Regionen, hrsg. von Wolfgang Benz, München , S. -, hier S. . Die Polizei befürchtete »einen Versuch, gegen die Juden in der Stadt eine starke, im Voraus geplante Verfolgung« anzuzetteln, und einige Juden hatten beim Oberstatthalter um Schutz nachgesucht (Hess, Eine Fußnote der Emanzipation, S. ).
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dem Verlauf der Ausschreitungen keinerlei antijüdische Zielrichtung, weder in den gerufenen Parolen noch in direkten Angriffen auf Juden, obwohl sich alle über den antijüdischen Charakter der Unruhen einig waren, da die Häuser und Stockwerke attackiert wurden, in denen mehrheitlich bekannte Juden oder jüdische Familien wohnten. Die Unruhen erreichten ihren Höhepunkt am . September, als eine ganze Reihe jüdischer Häuser attackiert und dabei Scheiben eingeschlagen wurden, wobei es »aus Versehen« auch Wohnungen von Christen treffen konnte.50 In einigen Berichten wird die Beobachtung wiedergegeben, dass die Ausschreitungen durch »wohlgekleidete, mit Zigarren versehene Herren« organisiert gewesen seien, die die Gruppen schlechter gekleideter Personen instruiert und durch Pfiffe zu den Zielobjekten gesteuert hätten, aber jeweils beim Herannahen von Patrouillen geflohen seien, während sie nach einem anderen Bericht sogar die letzten Pferde der Patrouille mit Regenschirmen und Gehstöcken angegriffen hätten. Die Menge wird als mit Keulen und Stöcken bewaffnet beschrieben und ihr wird eine klar judenfeindliche Ausrichtung zugeschrieben, da sie »Wir wollen die höllischen Bauernhunde zerstören, nieder mit den schwarzen Teufeln!« gerufen habe.51 Es ist schwer zu sagen, ob diese Beobachtungen den Tatsachen entsprechen, da die Steuerung der »Pöbels« durch Agitatoren, die damit eigene Interessen verfolgten, ein Topos in Pogromberichten ist, der dem Paradigma folgt, Unruhen seien stets organisiert. Cordelia Hess sieht jedoch in der Tatsache, dass die Übergriffe trotz der Repression über drei Wochen an mehreren Abenden immer wieder an denselben Orten aufflammten, ohne sich aber zu verschärfen oder auf andere Stadtteile überzugreifen, einen Beleg dafür, dass diese keinen spontanen Charakter gehabt hätten, sondern in der beschriebenen Weise von einer »kleinen Gruppe Stockholmer der oberen Mittelklasse« initiiert und eventuell auch bezahlt worden seien.52 Stutzig stimmen muss allerdings, dass Ordnungshüter zwar »gut gekleidete Herren« beobachtet haben wollen, ja diese sogar unter den Angreifern ausmachten, dass es aber keine Festnahmen und Schuldeingeständnisse gab, so dass – wie Cordelia Hess einräumen muss – die Urheber nicht bestimmt werden konnten. Dass sich Unruhen spontan über Wochen an vielen Abenden wiederholen können, ohne organisiert worden zu sein, zeigen viele der in diesem Buch behandelten Fälle.53 Die Zerstörungen während der Ausschreitungen fanden auch in den bürgerlichen, emanzipationskritischen Zeitungen ein negatives Echo, wobei man den
Ebd., S. ff. Ebd., S. . Ebd., S. . Hess scheint bei der Beurteilung der Unruhen besonders gewalttätige Massenpogrome als Maßstab zu nehmen, dabei entsprechen die Stockholmer Krawalle vielen anderen Vorkommnissen im frühen . Jahrhundert, in denen gewaltsam gegen rechtliche Verbesserungen für Juden protestiert wurde. Dabei waren physische Angriffe auf Juden selten, es ging, wie auch in Stockholm, wie Hess richtig schreibt, um »ein Zeichen im öffentlichen Raum, wohl auch um eine Einschüchterung der Opfer, allerdings nicht um eine faktische Vertreibung aus der Stadt« (ebd., S. ).
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Juden, die die ihnen angebotenen Verbesserungen annähmen, keine Vorwürfe machen könne. Die Kritik richtete sich vielmehr gegen die staatlichen Organe: Die Schuld sei beim König und beim Kommerzkollegium zu suchen, die die Neuregelung durchgesetzt hätten, ohne die Stände einzubeziehen. Den Kontrollorganen wurde wiederum vorgeworfen, dass man die Situation nicht unter Kontrolle bekommen und die Juden nicht genügend geschützt, sondern stattdessen die friedlichen Bürger terrorisiert habe, was die »Allgemeinheit gegen die Autoritäten aufgebracht« habe.54 Trotz der Ausschreitungen führte die Presse die Kampagne für eine Abschaffung des judenreglementet fort, indem sie immer wieder betonte, die Eingliederung des »fremden Elements« in die schwedische Nation sei unmöglich, da die Juden eine »Nation in der Nation« darstellten.55 Hess weist dabei auf einen interessanten Zwiespalt zwischen der Betonung der Unschuld der in den Unruhen angegriffenen Juden und dem Festhalten an einer kollektiven Schuld der »Juden« hin, die nichts von dem zurückgäben, was sie durch das Reglement bekommen hätten, da sie nur der eigenen Gruppe verpflichtet seien (»Abwesenheit von jeglicher Reziprozität«).56 Diese Krawalle, der öffentliche Druck und die politische Opposition erreichten, wie in vielen anderen Fällen zu beobachten, schließlich auch hier eine teilweise Rücknahme der Aufhebung des judereglementets. Im revidierten Reglement vom . September , das aber ansonsten in Geltung blieb, wurden vom König vor allem die Paragraphen wieder zurückgenommen, in denen den Juden das freie Niederlassungsrecht und die Gewerbefreiheit zugestanden worden waren. Auch die Naturalisierung sollte nur für die im Lande lebenden Juden auf Antrag möglich sein, und die Beschränkungen der Immigration von Juden blieben in Kraft. Sie waren – wie wir es aus zahlreichen anderen Fällen dieser Jahre kennen – der Hauptanlass für den Aufruhr gewesen.57 Auch wenn sich in Schweden führende Liberale in den er Jahren um ein Emanzipationsgesetz bemühten, das den Juden die völlige Gleichstellung bringen sollte, war die liberale Bewegung im ländlich geprägten Schweden eher schwach und stieß auf Widerstand aus den Reihen der protestantischen Geistlichkeit, aber auch von Seiten der unteren, zunehmend judenfeindlicher werdenden sozialen Schichten, die sich als Verlierer und die Juden als Profiteure im fortschreitenden Liberalisierungsprozess der Wirtschaft sahen. Der Widerstand gegen die ökonomische Liberalisierung, etwa die Abschaffung des Gildensystems, mündete in Stockholm und erneut in antijüdische Krawalle. Lars M. Andersson und Henrik Bachner machen dafür die verbreitete »Hetzblattpresse (Vormärz-Presse)« verantwortlich, die bis in die er Jahre antisemitische Kampagnen lancierte.58
Ebd., S. . Hess zitiert hier aus der Zeitung Dagligt Allehanda vom ... Ebd., S. ff. Ebd., S. . Hess zitiert hier aus dem Aftonbladet vom ... Leiska, Räume der Begegnung, S. ; Andersson/Bachner, Schweden, S. . Andersson/Bachner, Schweden, S. .
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Wie im Deutschen Reich sollte das schwedische Parlament erst die vollständige Emanzipation der Juden beschließen. Sozialprotest und antijüdische Unruhen in Hessen, Baden und Bayern - Kurhessen und das Großherzogtum Hessen-Darmstadt, aber auch Frankfurt und das Großherzogtum Baden waren Brennpunkte der allgemeinen Unruhe, die sich in Brotrevolten, Sturm auf Steuer- und Zollämter und Bauernaufständen manifestierte.59 Judenfeindliche Ausschreitungen hatten ihren Ursprung in einem zunächst auf ein ganz anderes Ziel gerichteten Ereignis, nämlich dem »Sturm auf das Hanauer Lizentamt am . September «, bei dem es zu dessen Demolierung und zur »Vernichtung der Zoll- und Steuereinnahmen und der konfiszierten Waren« kam. Dieser Angriff fand dann allerdings seine Fortsetzung in der nahe gelegenen Judengasse, wo die Menge, unbehelligt von Polizei und Militär, vor den Häusern der Juden randalierte und schließlich ein Haus stürmte und plünderte.60 In den folgenden Tagen kam es in der Umgebung Hanaus bis zum ./. Oktober zu zahlreichen ähnlichen »Mautstürmen«, zu Angriffen auf Amtspersonen und Juden. Dabei vermischten sich an vielen Orten Angriffe auf missliebige Beamte mit antijüdischen Exzessen, bei denen man Fenster einwarf, in die Häuser einbrach, diese demolierte oder plünderte und Laubhütten zerstörte (so in Gudensberg, Felsberg, Wolfhagen, Amöneburg, Sontra), wobei in einigen Fällen Polizei und Militär untätig blieben.61 Ähnlich wie in Kurhessen kam es auch in Hessen-Darmstadt Ende September/Anfang Oktober zu Ausschreitungen. In Viernheim waren die sich primär gegen die Juden richtenden Ausschreitungen so heftig, dass erst Militäreinheiten die Ruhe im Ort wiederherstellen konnten. Auch die Zeit danach bleibt unruhig, und es kam zu einer hohen Zahl von Übergriffen auf jüdische Händler.62 In Baden war es wiederum Karlsruhe, wo nach mehrtägigen Belästigungen von Juden seitens junger Leute am . September ein Tumult ausbrach, bei dem am Von den für von Volkmann (Die Krise von ) gezählten Protesten entfielen zwanzig auf Kurhessen und Hessen-Darmstadt. Interessant ist, dass es in Sachsen, einem anderen Brennpunkt sozialer Unruhen um diese Zeit ( Protestfälle), nicht zu antijüdischen Unruhen kam, was möglicherweise der geringen Zahl von Juden in Dresden und Leipzig geschuldet war. Denkbar ist aber auch, dass sich in Sachsen trotz behördeninterner und öffentlicher Diskussionen ab die rechtliche Lage der Juden nicht verbessert hatte. In der Diskussion um die neue Verfassung von gab es Forderungen nach einer weiteren Beschränkung der Juden, und die neue Verfassung von erfüllte die Forderungen der Juden nach gesetzlichen Verbesserungen nicht. Zum Mittel der Gewalt zur Abwehr jüdischer Ansprüche zu greifen, war somit nicht erforderlich. Vgl. Michael Schäbitz, Juden in Sachsen – Jüdische Sachsen? Emanzipation, Akkulturation und Integration -, Hannover , S. -. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Ebd., S. ff.; Preissler, Frühantisemitismus, S. . Ebd.
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Abend Handwerksburschen und junge Leute der niederen Volksklassen die Fenster der Synagoge und jüdischer Häuser einwarfen. Der vom Vorstand der jüdischen Gemeinde alarmierte Stadtkommandant begab sich an den Ort des Geschehens, doch konnte er die Menge nicht zum Auseinandergehen bewegen, so dass er schließlich Kavallerie einsetzen musste. Da die Untersuchung der Vorfälle keine Schuldigen ermitteln konnte und man die Vorfälle als eine »nicht gefährliche, höchstens mutwillige Bewegung gegen die hiesigen Israeliten und nur gegen diese« klassifizierte, an denen auch keine Mitglieder der besseren Klassen teilgenommen hätten, wurde schließlich dem Stadtkommandanten der Vorwurf gemacht, er habe durch sein Verhalten die Vorfälle erst provoziert und dadurch zur »Misshandlung ruhiger Bürger« und zur Publizität der Vorgänge beigetragen.63 Nach Wirtz belegt diese »Sündenbockstrategie«, dass es die Städte in jedem Fall zu vermeiden suchten, solche Tumulte in die breitere Öffentlichkeit dringen zu lassen, um den Ruf der Stadt nicht zu schädigen. Wie in Karlsruhe gab es auch an anderen Orten judenfeindliche Übergriffe. So mussten in Mannheim am ./. Oktober Militär und Bürgergarde eingreifen, um die Juden zu schützen. Im Oktober gab es im Kraichgau Unruhen (in Eppingen, Heidelsheim und Obergimpern, wo es erneut zu Übergriffen kam), Gewaltandrohungen in Tauberbischofsheim und Buchen, ohne dass es hier zu Ausschreitungen kam.64 Wie Rohrbacher richtig vermutet hat, drehten sich die Unruhen in Eppingen, Obergimpern und Heidelsheim um den Anteil der jüdischen Einwohner am »Bürgernutzen«, d. h. um die Teilhabe an der Allmende und anderen materiellen Vorrechten.65 Bereits in der Nacht vom . auf den . Februar waren in Eppingen die Fenster an einigen Judenhäusern eingeworfen worden, in der Nacht vom . auf den . September ereigneten sich erneut »ernste Auftritte«, als sich »einige Haufen Pursche« zusammenrotteten, Spottlieder sangen und begannen, einige Häuser mit Steinen zu bewerfen. Dem örtlichen Amtmann gelang es, die Ruhe wiederherzustellen, und die Nacht über sorgten Wachen dafür, dass es ruhig blieb. Hintergrund der Unruhen waren schon lange schwelende Streitigkeiten über den Bezug von »Bürgerholz«, das die Juden, nachdem sie Ortsbürger geworden waren, nun einforderten. Man schloss am . September einen für die jüdische Seite ungünstigen Vergleich, da sich die jüdischen Ortsbürger mit nur drei Bürgergaben Holz für ihre ärmsten Glaubensgenossen begnügen mussten.66 Auch in Obergimpern führte der Konflikt um den Bürgernutzen sowohl wie auch zu Übergriffen. In der Nacht vom . auf den . Oktober soll es einen Aufruhr »lediger Leute« gegeben haben, um »die Juden zu verstören«. Zuerst sei, was eher eine Ausnahme darstellte, die Synagoge
Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. ff. Ebd., S. und f. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Wolfram Angerbauer/Hans Georg Frank, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn. Geschichte, Schicksale, Dokumente (Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn, Bd. ), Heilbronn , S. f. Der Streit um die Bürgerholzgaben sollte am Ort bis andauern, obwohl die Juden in Baden seit völlig gleichberechtigt waren.
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betroffen gewesen, deren große Fenster und ein gläserner Leuchter zerstört worden seien. Zwar hätten Wachmannschaften die Leute auseinandergetrieben, doch sei es die ganze Nacht über »unruhig« geblieben. Im Februar kam es erneut zu Unruhen, weil die Einwohner sich weigerten, einem ansässigen jüdischen Kaufmann die ihm zustehende Bürgerholzgabe zu überlassen. Man warf dem Mann die Fenster seines Hauses ein. Die Unruhen wurden vom badischen Direktorium des Neckarkreises als »nichts weniger als unerheblich« eingestuft. Obwohl der Amtmann aus Neckarbischofsheim mit einem elfköpfigen Trupp Gendarmen anrückte, konnten die Auseinandersetzungen nicht beigelegt werden. Für die angespannte Stimmung am Ort spricht, dass der Amtmann bewusst auf Verhaftungen verzichtete, weil er befürchtete, dies könne das »Signal zu den gröbsten Exzessen« geben. Erst einem anderen Amtmann gelang es dann, die Aushändigung der Bürgerholzgabe an den jüdischen Kaufmann durchzusetzen.67 Nachdem es schon im Juli unruhig gewesen war, Flugschriften verbreitet worden waren und der Gemeinderat zu Ruhe und Ordnung hatte aufrufen müssen, kam es in der Nacht vom . auf den . August auch in Heidelberg wieder zu einem judenfeindlichen Tumult, als man das Haus eines Juden stürmte, das bereits Ziel von Angriffen gewesen war. Wie wurden dabei wiederum »Hep-Hep«-Rufe laut. Die Bürgerwehr machte dem Aufruhr ein Ende. Noch drei Jahre später hatte der Geschädigte den geforderten Schadensersatz nicht erhalten.68 Neben den Konflikten um den Zugang zu materiellen Gütern konnten auch liberal-demokratische Feste, wie das Hambacher Fest von . Mai bis . Juni , in antijüdische Ausschreitungen münden. Als die Teilnehmer des Hambacher Festes aus Worms69 und den umliegenden Orten am . Mai in ihre Stadt zurückkehrten, gab es »Pöbelunruhen«, bei denen Läden gestürmt und Juden misshandelt wurden.70 Wir haben es hier mit einem Pogromtyp zu tun, bei dem Menschenmengen, die aus einem anderen Anlass zusammengekommen waren, sich gegen neue, mit dem ursprünglichen Anlass nicht notwendig zusammengehörige Ziele wandten. Warum sich nach einem liberal-demokratischen Fest die Menge gegen Juden wandte, lässt sich wohl damit erklären, dass in diesem Zeitraum an vielen Orten Juden zum Ziel von kollektiver Gewalt wurden. Auch in anderen Teilen Bayerns machte sich ab der dritten Septemberwoche Unruhe breit. In größeren Städten, wie Würzburg, Nürnberg, Bamberg und Bayreuth waren »Hep-Hep«-Rufe zu hören oder es tauchten Drohbriefe und Anschläge an Häusern auf, auf denen »Hep-Hep«-Parolen und Drohungen mit Mord und Totschlag zu lesen waren, häufig auch verbunden mit anderen politischen
Angerbauer/Frank, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn, S. f. Mumm, »Denket nicht: ›Wir wollen’s beim Alten lassen‹«, S. . Die Rheinpfalz gehörte damals zu Bayern. Hoffmann, Dieter, »… wir sind doch Deutsche«. Zu Geschichte und Schicksal der Landjuden in Rheinhessen, Hrsg. Stadt Alzey, Alzey , S. . Bei Hoffmann steht wohl fälschlich das Datum . März.
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Forderungen, etwa nach Abschaffung der Steuern auf bestimmte Lebensmittel.71 Zu insgesamt eher geringfügigen Ausschreitungen kam es in der Nacht vom . auf den . September in München, wo die »Synagoge mit Gassenkoth« beworfen wurde und Drohbriefe kursierten. Betroffen waren in der ersten Oktoberhälfte auch viele Orte in Unterfranken, wo Häuser von Juden mit Steinen beworfen und beschädigt wurden (Sommerach, Thüngen, Großmannsdorf, Veitshöchheim), während sich die Aktivitäten an anderen Orten auf »Hep-Hep«-Rufe und Zettel mit (Todes-)Drohungen beschränkten (Würzburg, Aschaffenburg). Auch in Mittelfranken fanden sich in einigen Orten drohende Plakatierungen und Zettel (Baiersdorf ), doch eskalierte die Lage hier wie auch in der Rheinpfalz nicht bis hin zu Tätlichkeiten. Erst im Juni kam es in Deidesheim zu einem antijüdischen Tumult. In Norddeutschland blieb es mit Ausnahme der gravierenden Unruhen in Hamburg ruhig, dies galt auch für antijüdische Umtriebe. Das Gleiche gilt für Preußen, wo nur Breslau eine Ausnahme bildete, wo am Abend des . September Schneider- und Tischlergesellen die Kleiderläden der jüdischen Konkurrenz und die großen Möbelmagazine attackierten, doch konnten diese Übergriffe durch den raschen Einsatz von Militär abgewehrt werden.72 Die antijüdischen Ausschreitungen von bis unterschieden sich deutlich von denen der Hep-Hep-Welle von . Wie die am . August in Karlsbad abgehaltene geheime Konferenz der Herrscher der deutschen Königreiche und Fürstentümer, auf der diese aus Angst vor einer Revolution die repressiven Karlsbader Beschlüsse fassten, zeigt, lag es für die Herrschenden zunächst nahe, fälschlich auch die Hep-Hep-Unruhen als Ausdruck einer befürchteten revolutionären Stimmung unter den enttäuschten Liberalen zu interpretieren. Doch diese Unruhen richteten sich allein gegen Juden. Demgegenüber waren die antijüdischen Ausschreitungen von bis Teil einer Welle von Protesten, die überwiegend in die Anfangsphase der Revolution im September und Oktober fielen. Für Heinrich Volkmann waren die Proteste in dieser Phase durch eine große Diffusität und die Überlagerung verschiedener Ursachenkomplexe gekennzeichnet, wobei es zur Ableitung der Spannungen auf »Sündenböcke« kam.73 Die Ereignisse in Hamburg oder in München zeigen, dass von den Protestierenden, die keine einheitliche soziale Gruppe mit gleichen Interessen bildeten, eine ganze Reihe von Missständen angeprangert wurden, von hohen Steuern und Lebensmittelpreisen über korrupte Verwaltungen, Nepotismus, fehlende politische Rechte bis hin zu Klagen über den Wucher der Juden und über die Beeinträchtigung durch mechanische Pressen. Gerade im Fall der Unruhen in Bayern und Kurhessen spricht auch Stefan Rohrbacher, der gewöhnlich die Eigenständigkeit antijüdischer Motive betont, von Subsistenzunruhen, in denen die Angriffe auf die Läden von Juden bzw. die Vgl. hierzu und zum Folgenden Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. -. Ebd., S. , siehe F. G. Adolf Weiß, Chronik der Stadt Breslau von der ältesten bis zur neuesten Zeit, Breslau , S. . Volkmann, Krise von , S. .
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Klagen über »jüdischen Wucher« der Logik dieser Unruhen entsprachen, d. h., die Juden wurden aufgrund ihrer wirtschaftlichen Position ebenso angegriffen wie nichtjüdische Bäcker, Kaufleute und Zollämter. Die Angriffe auf Juden wurden in den zahlreichen Drohbriefen und Plakaten entsprechend mit wirtschaftlicher Konkurrenz, gezielter Lebensmittelverknappung und Wucher begründet.74 Doch betont Rohrbacher zu Recht, dass der Zusammenhang der antijüdischen Unruhen mit der Revolution nicht durchgängig gegeben war, sondern dass wir es in einigen Fällen wie in Sommerach (Unterfranken) und in den Dörfern und Kleinstädten Badens mit Übergriffen zu tun haben, die sich wie gegen den Zuzug bzw. die lokalbürgerliche Gleichstellung der Juden richteten, zumal in Baden seit hier politisch keine neue gesetzliche Regelung getroffen worden war.75
Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. f. Ebd., S. f. Als Beleg für diese These kann Rohrbacher anführen, dass im September in Eppingen die ansässigen Juden kurz nach den Exzessen auf einen Teil des ihnen zustehenden Bürgerabholzes verzichteten – wohl um des lieben Friedens willen. Auch Angerbauer/Frank, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn, S. , sprechen für Eppingen etwas abweichend von einem für die Juden freilich ungünstigen Vergleich (s. o., S. ).
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. Ritualmordvorwurf und antijüdische Tumulte am Niederrhein Die durch einen Kindesmord ausgelösten antijüdischen Ausschreitungen in Neuenhoven und Umgebung im Jahre gehören nicht in den Kontext revolutionärer Proteste, sondern haben ihre Ursache in der vormodernen volkskulturellen Judenfeindschaft. Dieser Fall eines Ritualmordpogroms steht in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts noch relativ isoliert da, auch wenn es in Odessa und vor allem in Damaskus solche Vorfälle gegeben hatte, wobei vor allem Letzterer europaweit große Resonanz erfuhr.1 Erst ab den er Jahren häuften sich nach Morden an Kindern und Jugendlichen in mehreren mittel- und osteuropäischen Ländern Ritualmordvorwürfe, die in vielen Fällen zu Strafprozessen und weit ausstrahlenden antijüdischen Unruhen führten (siehe Kap. ). Blutbeschuldigungen waren allerdings in der Rheinprovinz im frühen . Jahrhundert nicht unbekannt gewesen (z. B. in Köln , in Dormagen ). Sie wurden in Heiligenkalendern durch die Lebensbeschreibungen der angeblichen Ritualmordopfer, wie des »guten Werner« von Oberwesel () und Simon von Trient (), tradiert.2 Nach Herbert A. Strauss bewahrte vor allem der Niederrhein als Nachbar des »mystisch-pietistischen Katholizismus« der Niederlande diese europäische Volkstradition.3 Stefan Rohrbacher betont hingegen, dass die Tradition im Rheinland durch die Erinnerung an zwei »Ritualmordopfer«, nämlich an Werner von Oberwesel und Johanneken von Troisdorf wachgehalten wurde, zumal der Werner-Kult hier Mitte des . Jahrhunderts wieder aufgelebt war.4 Die Überlieferung war in den frühen er Jahren durch die Veröffentlichung des von dem bekannten Bilker (Ort bei Düsseldorf ) katholischen Priester und Kirchenhistoriker Dr. Anton Joseph Binterim herausgegebenen Buches mit Lebensbeschreibungen von Heiligen, darunter die Geschichte von Simon von Trient, wieder aktualisiert worden. Da die Darstellung als Bestätigung für die Existenz von Ritualmorden die Vgl. zur Geschichte der Ritualmordlegende Rainer Erb (Hrsg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, Berlin ; zur DamaskusAffäre: Markus Kirchhoff, Damaskus, in: Dan Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK), Bd. , Stuttgart, Weimar , S. -; Jonathan Frankel, The Damascus Affair. »Ritual Murder«, Politics, and the Jews in , Cambridge ; Ronald Florence, Blood Libel. The Damascus Affair of , Madison . Vgl. zu Tradition des Ritualmord-Glaubens im Rheinland Rohrbacher, Die »Hep-Hep«Krawalle; ders., Gewalt im Biedermeier, S. ff., hier auch ausführlich zum Fall in Dormagen, S. ff. Im Dormagen benachbarten Ort Worringen randalierte im Oktober eine Menge mit »Hep-Hep«-Rufen vor dem Haus eines Juden und drohte, es zu stürmen. Hier mag auch die gerade über Deutschland hinweggegangene Hep-Hep-Welle einen Einfluss ausgeübt haben (ebd., S. f.). Herbert A. Strauss, Die preußische Bürokratie und die antijüdischen Unruhen im Jahre , in: ders./Kurt R. Grossmann (Hrsg.), Gegenwart im Rückblick. Festgabe für die Jüdische Gemeinde zu Berlin Jahre nach dem Neubeginn, Heidelberg, Berlin , S. -, S. . Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. f.
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nen konnte, verfasste der Autor auf Drängen einer jüdischen Abordnung eine Flugschrift Über den Gebrauch des christlichen Blutes bei den Juden, die in hoher Auflage unter dem Landvolk verkauft wurde und der Ritualmordlegende entgegentreten sollte. Die Breitenwirkung war jedoch eine völlig entgegengesetzte, da Binterim sich nicht hatte entschließen können, der Legende entschieden entgegenzutreten, sondern die angeblichen Ritualmorde als Werke jüdischer Fanatiker und Sektierer hingestellt hatte,5 ein häufig geübtes Ausweichen christlicher Autoren, um die Ritualmordlegende nicht völlig aufgeben zu müssen. Auch wenn viele katholische Ortsgeistliche in ihren Predigten während der Unruhen für die Juden und gegen die Legende Partei ergriffen, so war doch die langfristige Wirkung der katholischen Erbauungsliteratur dadurch nicht aufzuheben. Die Erklärung des Kindermordes als Ritualmord war für viele einleuchtend, zumal die Obduktionsbefunde, die ein Sexualverbrechen festgestellt hatten, zunächst unter Verschluss gehalten wurden. Die verspätete Bekanntmachung, dass es sich um ein Sexualdelikt gehandelt habe und dass dem Kind keinerlei Blut abgezogen worden sei, kam am . Juli zu spät, um die Stimmung noch zu wenden, zumal der wahre Täter nicht gefasst wurde.6 War der Kindesmord der Auslöser der antijüdischen Unruhen, so lag aber die Ursache nicht einfach in dem religiösen Gegensatz, vielmehr bestanden auf dem Lande nach wie vor antagonistische Gruppenbeziehungen, die sich aus der starken wirtschaftlichen Position der Juden im Landhandel als Kleinhändler, Kleinkreditgeber und Vieh- und Produktenhändler ergaben. Die preußischen Ermittlungsbeamten schrieben von »im allgemeinen verhassten Juden« und von üblichen Spottliedern, von Übergriffen von Kindern und Jugendlichen. Die Rede von »wucherischer Bedrückung« und »scharfsinnigen Schacherkünsten« zum Nachteil der christlichen Landbewohner findet sich in den zeitgenössischen Berichten von Beamten und Zeitungen und wird als eine Ursache für die Exzesse angeführt.7 Dieser noch aus der voremanzipatorischen Zeit stammende strukturelle Grundkonflikt wurde durch die landwirtschaftliche Grundkrise und die Krise des Handwerks, ausgelöst durch die liberalisierte Marktwirtschaft, in dieser Zeit noch verschärft. Der steile Bevölkerungsanstieg nach dem Ende der napoleonischen Kriege hatte in Verbindung mit einer nur schwachen Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion zu Überbevölkerung und Arbeitslosigkeit geführt, was u. a. die damals stark zunehmende Auswanderung aus Deutschland zur Folge hatte.8 Insbesondere in Hans Georg Kirchhoff, Der Kindesmord in Neuenhoven und das Judenpogrom von , in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Grevenbroich, Bd. , hrsg. vom Geschichtsverein für Grevenbroich und Umgebung e. V., , S. -. Amtliche Bekanntmachungen und Anzeigen zur Aufklärung der den Juden zur Last gelegten Bluttat von Neuenhoven, Abdruck in der Kölnischen Zeitung vom . Juli . Es half auch nichts, dass der Vorstand der israelitischen Gemeinde in Düsseldorf ebenso wie der Staat eine Belohnung zur Ergreifung des Täters aussetzten (Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden im Rheinland -. Eine Dokumentation, Teil , bearb. von Dieter Kastner, Köln , S. ). Kirchhoff, Der Kindesmord, S. f. Strauss, Die preußische Bürokratie, S. ff.
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Krisenzeiten gerieten die Juden als Kleinkreditgeber der nur marginal kapitalisierten Bauern und vermeintliche Verursacher in die Kritik, wenn diese ihre Schulden nicht mehr begleichen konnten. Herbert A. Strauss zählt aus diesen Gründen die Exzesse von sozial-ökonomisch zu den vorindustriellen Agrarrevolten, die von den wirtschaftlich marginalen und sozial frustrierten Unterschichten getragen wurden, sekundiert von der ländlichen Bevölkerung und geduldet bzw. unterstützt von dorfbürgerlichen Personen, die die Juden als Konkurrenz empfanden.9 Auslöser der Unruhen war der Mord an einem sechsjährigen Jungen aus Neuenhoven, dessen Leiche man am . Juli in einem Roggenfeld in der Nähe des Ortes auffand. Diese Tat erregte großes Aufsehen und Erbitterung, und es kamen schnell Ritualmordgerüchte auf. In der Nacht vom . auf den . Juli rotteten sich in Neuenhoven, das damals nur ca. Einwohner zählte, vier- bis fünfhundert Personen aus der Umgebung zusammen und begannen die Häuser und Läden zweier ansässiger Judenfamilien zu stürmen, die Möbel zu zertrümmern, Waren zu plündern und einige Hausbewohner zu misshandeln. Erst die zur Hilfe gerufenen Husaren stellten ab Uhr die Ruhe wieder her.10 Allerdings zog ein Teil »dieses Gesindels«, wie es der Bürgermeister ausdrückte, ins benachbarte Bedburdyck weiter und erstürmte die dortige Synagoge, zertrümmerte viele Gegenstände und nahm die Thorarolle heraus, um sie außerhalb der Synagoge zu verbrennen.11 Diese »leicht entzündliche Aufregung wider die Juden«, wie es der Regierungspräsident in seinem Bericht an den preußischen Innenminister formulierte, verbreitete sich rasch in der gesamten Gegend, und am Abend des . Juli kam es zu »Hep-Hep«Rufen und Steinwürfen gegen jüdische Häuser in Gladbach, Glehn und anderen kleinen Orten des Kreises Grevenbroich. Sie sollten sich in den kommenden Wochen am Niederrhein bis in die Kreise Neuss, Geldern (Xanten), Gladbach, Jülich und Düren sowie nach Düsseldorf ausbreiten. Die preußischen Behörden reagierten schnell und stationierten ein Husarenregiment »inmitten der besagten Ebd., S. ; auch der Bearbeiter der einschlägigen Akten (Der Rheinische Provinziallandtag, S. ) bewertet die Unruhen als eine »Revolte von ländlichen Unterschichten in einer überbevölkerten, noch nicht von der Industrialisierung berührten Region«. Die betroffenen Juden Leon Aretz und Jakob Baumgarten schilderten später in einer Eingabe an die Regierung den Vorfall aus ihrer Sicht: »Bei dem frenetischen Rasen einer Menge von mehr als tausend Menschen, die unsere Häuser erstürmten, plünderten, unser Eigenthum, Waaren, Bücher, raubten und zerstörten, uns selbst mißhandelten, schlugen, stießen, regte sich nicht nur von Seiten unserer Mitbürger keine Hand zu unserer Vertheidigung, sondern auch die kniefällig erbetene Hilfe unserer Ortsobrigkeit ward uns verweigert, und nur einem durch Vermittlung des Bürgermeisters von Odenkirchen, Hn. von Sabienski, zu unserem Schutz herbeigeeilten Detachement Husaren verdanken wir die Rettung unseres Lebens«. Das Gesuch um Entschädigung wurde abgelehnt, wohl weil der Bürgermeister von Bedburdyck die Antragsteller in unvorteilhafter Weise schilderte (Stefan Rohrbacher, Juden in Neuss, Neuss , S. ). Erste amtliche Berichte aus der Bürgermeisterei Bedburdyck an den Landrat des Kreises Grevenbroich über die Ausschreitungen gegen die Juden in Neuenhoven (Kreis Grevenbroich), in: Der Rheinische Provinziallandtag, S. f. Zu den Unruhen von gibt es eine umfangreiche Aktenüberlieferung im HStA Düsseldorf.
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Ortschaften« und richteten ein Patrouillen-System ein, das ein schnelles Eingreifen ermöglichen sollte.12 Der Regierungspräsident nahm die Vorfälle so ernst, dass er am . Juli selbst nach Neuenhoven kam, nachdem der Untersuchungsrichter und Staatsanwalt schon am Vortag angekommen waren und erste Verhaftungen veranlasst hatten. Er hielt die Lage dort für so bedrohlich, dass er weitere Truppen anforderte. Am Abend des . Juli mussten diese in Grevenbroich eine größere, mit Gewehren und Heugabeln bewaffnete Menge zerstreuen, die randalierte, Juden bedrohte und auch die Gendarmen mit Steinwürfen attackierte.13 Am folgenden Abend des . Juli kam es in Wevelingshoven zu bürgerkriegsartigen Zusammenstößen zwischen der Bürgerwache und der militärischen Besatzung des Ortes, bei denen es einige Verletzte gab.14 Der Ort bekam daraufhin als Strafmaßnahme bis zum . August eine starke militärische Einquartierung. Der Bürgermeister von Wevelingshoven versuchte die Vorfälle zu bagatellisieren, indem er sie eher für ein Missverständnis denn für schlechte Absicht hielt und die Schuld beiden Seiten gleichermaßen zuschrieb.15 Das Patrouillen-System und die militärische Einquartierung in den Gemeinden Grevenbroich, Wevelingshoven, Hemmerden und Bedburdyck scheint dem zweiten Bericht des Regierungspräsidenten vom . Juli zufolge zusammen mit der Unterstützung der »bessern Bürger« und von Teilen des örtlichen Klerus zu einer relativen Beruhigung der Lage beigetragen zu haben, zumal in den Städten wie Gladbach und Rheydt, während es im Kreis Grevenbroich weiter gärte und immer wieder kleinere Übergriffe und Drohungen vorkamen. Der Regierungspräsident hob aber auch hervor, dass die antijüdischen Gerüchte auch von einigen »unwürdigen katholischen Geistlichen« genährt wurden. Ortsgeistliche, die in ihrer Mehrheit nach den Vorfällen zu Toleranz und Frieden gemahnt hatten, stießen in ihren Gemeinden allerdings auf wenig Gegenliebe und wurden sogar öffentlich kritisiert.16 Berichte des Regierungspräsidenten von Düsseldorf, Graf zu Stolberg-Wernigerode, an den preußischen Minister des Innern in Berlin, v. Rochow, über die gegen die Juden gerichteten Unruhen in seinem Regierungsbezirk, . Juli – . September , in: Der Rheinische Provinziallandtag, S. ff. Rohrbacher datiert diese Vorgänge auf den . Juli und schreibt, dass es die Mitglieder der Bürgerwehr waren, die mit Gewehren und Haugabeln bewaffnet und unter »HepHep«-Rufen durch die Straßen zogen und jüdische Häuser mit Steinen bewarfen (Juden in Neuss, S. ). Hans Georg Kirchhoff, Judenhaß und Judenschutz: Das Pogrom des Jahres in der Stadt Neuss, in: Almanach für den Kreis Neuss , Hrsg. Vereinigung der Heimatfreunde Neuss, S. -, hier S. . Kirchhoff interpretiert diesen Zusammenstoß und einen ähnlichen am ./. August dahingehend, dass einerseits die Bürger selbst nicht frei von Judenhass waren, dass sich dieser aber auch mit der Abneigung gegen die preußische (protestantische) Regierung verband (ebd., S. , Kirchhoff, Der Kindesmord, S. ). Auch von Hemmerden wird von regelrechten Kämpfen zwischen rebellierender Bürgerwehr und den Husaren berichtet (Rohrbacher, Juden in Neuss, S. ). Kirchhoff, Der Kindesmord, S. . Anmerkung des Bearbeiters der vorgenannten Dokumentation, in: Der Rheinische Provinziallandtag, S. .
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Bis Mitte August dauerte die öffentliche Aufregung fort, allerdings zunächst in nicht mehr gewalttätiger Form, sondern die Menge verlegte sich auf Spottlieder, »Hep-Hep«-Rufe, gelegentliche Steinwürfe, Schmierereien an jüdischen Häusern und »Neckereien«, um die Juden einzuschüchtern und ihren Geschäftsbetrieb massiv zu stören. Wie hartnäckig Teile der Bevölkerung hier sein konnten, zeigen die Unruhen in Neuss, wo sich ab Ende Juli allabendlich größere Volksaufläufe junger Burschen und der »untersten Volksklasse« ereigneten (zu denen sich aber auch andere Bürger gesellten), die auch durch das Eingreifen des Landrates und Bekanntmachungen »mittelst Trommelschlag« nicht unterbunden werden konnten.17 Auch das am . August herbeigerufene Militär schuf keine Abhilfe, da der Befehlshaber der Truppe wenig zur Unterbindung der Volksaufläufe unternahm, was allerdings schnell zu seiner Ablösung führte. Erst als man zwei Rädelsführer verhaftete und sofort zu fünf Tagen Haft verurteilte, hörten die abendlichen Tumulte auf, doch bestand die allgemeine Erregung in der Bevölkerung fort.18 Hatte der Regierungspräsident, Graf zu Stolberg-Wernigerode, in seinem Fünften Bericht an den Minister vom . August zwar die fortdauernde Aufregung, aber die Abwesenheit von antijüdischer Gewalt konstatieren können, so musste er im Sechsten Bericht vom . August für die Zeit vom .-. August wieder von tätlichen Angriffen auf die Häuser von Juden und auf die eingreifenden Nachtwachen und Polizeidiener in den Kreisen Grevenbroich (in Hemmerden, Garzweiler, Bedburdyck) Düren (Aldenhoven) und Neuss (Rommerskirchen) Meldung machen. Ausgangspunkte waren Trinkereien im Wirtshaus und die in dieser Jahreszeit stattfindenden Kirmes- und Schützenfeste, also typische Anlässe, in der größere Menschenansammlungen die Mobilisierung zu Aktionen kollektiver Gewalt begünstigen.19 Der Regierungspräsident reagierte darauf sehr entschieden, indem er in beiden Orten eine starke militärische Besatzung einquartierte. Eine solche militärische Lösung, die die betroffenen Gemeinden finanziell sehr stark belastete und viel Militär band, bot keine dauerhafte Lösung angesichts der immer noch anhaltenden antijüdischen Stimmung, die immer wieder an vielen Orten zu Beleidigungen, Bedrohungen und Tätlichkeiten gegen Juden führte. Auch wenn die verantwortlichen Bürgermeister die Unruhen auf »fremdes Gesindel« zurückführten, wird in vielen Schilderungen erkennbar, dass eine breite Mehrheit der Ortsbewohner das Vorgehen gegen die Juden billigte und die Rädelsführer durch eine Mauer des Schweigens schützte. Landräte und Militär, die man verdächtigte, auf Seiten der Juden zu stehen, mussten sich deutliche Missfallensbekundungen anhören, wenn sie vor Ort erschienen, um dem Treiben ein Ende zu machen.20 Der Vgl. Kirchhoff, Judenhaß. Ausführlich zu Neuss: Rohrbacher, Juden in Neuss, S. -. Der Rheinische Provinziallandtag, S. f. und die entsprechenden Kommentierungen des Bearbeiters (ebd.). Vgl., die ausführliche Schilderung der Ereignisse in Rommerskirchen bei Kirchhoff, Der Kindesmord, S. ff. Kirchhoff, Der Kindesmord, S. f. Strauss interpretiert die Tatsache, dass die preußischen Behörden die »bessern Bürger« erst durch Einquartierungen zur Kooperation bewegen
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Regierungspräsident suchte deshalb nach einer politischen Lösung, indem er die Bürgermeister des Kreises Grevenbroich anhielt, in allen Gemeinden Versammlungen der Notabeln oder aller Bürger einzuberufen, in denen sich diese verpflichten sollten, Ruhestörer anzuzeigen und für die Sicherheit ihrer jüdischen Mitbürger zu sorgen. Nach Kirchhoff war »die Wirkung dieser Selbstverpflichtung […] verblüffend«, denn als am . September in Bedburdyck und Hemmerden wiederum Juden tätlich angegriffen wurden, kam es erstmals zu einer Verhaftung der Täter seitens der Ortsbewohner. Diese Praxis machte den Unruhen schließlich ein Ende.21 Diese Umstellung von externem militärischen Eingreifen seitens der unbeliebten preußischen Behörden auf die Selbstverpflichtung der Gemeindebürger selbst zeigt an, dass die Judenfeindschaft über die »unterste Volksklasse« hinaus verbreitet war, so dass sich diese in ihren Aktionen einer gewissen Sympathie der besseren Kreise sicher sein und die Juden nicht auf deren Hilfe rechnen konnten.22 In seinem Siebten Bericht vom . August spricht der Regierungspräsident diesen Umstand offen an: »Die Aufregung im Kreis Neuß und Grevenbroich ist sehr groß; bei der starken Abneigung gegen die Juden, welche durch alle Klassen der Bevölkerung herrscht und ihren Grund in dem wuchernden Verkehre jener hat, finden die Unterbehörden wenig Unterstützung bei ihren Maaßregeln zum Schutz derselben, und wenn man einzelnen Nachrichten Glauben beimessen darf, so wird ihnen sogar von der besseren und gebildeten Klasse entgegen gearbeitet. Namentlich sollen zu den Auftritten in Rommerskirchen Gutsbesitzer und Landwirte gereizt und getrieben haben.«23 Auch die Tatsache, dass die Bürgerwehren beim Judenschutz nicht viel ausrichteten und des Öfteren sogar mit dem Militär aneinandergerieten, spricht für ein nur geringes Engagement bzw. eine Komplizenschaft der Ortsbürger. Die Behörden stellten in einigen Fällen fest, dass aus diesen Kreisen Handwerksmeister, Geschäftsinhaber und Landwirte Geld an »den Pöbel« verteilt hatten, der sich betrinken und am Abend gegen die Juden ziehen sollte. Häufig bildeten entsprechend Wirtshäuser und Kirmessen den Ausgangspunkt für die Tumulte. Die eigentlichen Träger der Unruhen stammten jedoch aus den unteren Schichten. Es handelte sich um meist junge Handwerksgesellen, Lohnarbeiter, Tagelöhner. Lehrlinge und auch konnten, als eine geringe Akzeptanz der staatlichen (preußischen) Autorität spricht (Die preußische Bürokratie, S. ). Kirchhoff, Judenhaß, S. f.; die Erklärungen der Einwohner einiger Orte haben sich in den Akten erhalten, vgl. Der Rheinische Provinziallandtag, S. ff. Der Regierungspräsident spricht in seinem Neunten Bericht vom . September neben der militärischen Besetzung des Kreises Grevenbroich und dem härteren Durchgreifen auch der Mitwirkung der »besseren Klasse« eine zentrale Rolle bei der Erhaltung von Ruhe und Ordnung zu (Der Rheinische Provinziallandtag, S. ). Nur in Bedburdyck kam es noch einmal im April zu einer antijüdischen Demonstration (ebd., S. ). Vgl. die Aussagen der beiden Familienoberhäupter der zuerst in Neuenhoven attackierten Häuser, Jakob Baumgarten und Leon Aretz, in ihrer Eingabe an die Regierung (ebd., S. ). Ebd., S. .
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Schüler.24 Hans Georg Kirchhoff schätzt den Judenhass im ländlichen Milieu des Niederrheins als ein Massenphänomen ein. In den Ausschreitungen entzündete sich ein »Gemisch aus religiösem Fremdenhass und wirtschaftlichem Neid, aus dumpfem Aberglauben und dem Gefühl wirtschaftlicher Ausbeutung«.25 Seiner Meinung nach hat nur das entschlossene Eingreifen der preußischen Behörden ein »gewaltiges Pogrom« verhindert. Allerdings gilt auch hier – wie für die Hep-HepWelle –, dass Juden nur selten physisch attackiert wurden und keine Todesopfer zu beklagen waren. Die Vermutung des Düsseldorfer Regierungspräsidenten, die Unruhen könnten politische Ursachen haben, erwiesen sich schnell als falsch. Auch wenn es den preußischen Beamten sichtlich schwerfiel, die von ihnen als »religiöser Wahn« klassifizierten Überzeugungen der katholischen Landbevölkerung zu begreifen,26 so sahen sie in dem allgemeinen Hass gegen die Juden zutreffenderweise die zentrale Ursache für die Unruhen. Hinzuzurechnen ist allerdings auch »eine im Rheinland weit verbreitete Einstellung gegen den preußischen Staat und seine Beamten«, die sich teils in der mangelnden Unterstützung der Behörden, zum Teil in den offenen Konfrontationen mit dem Militär äußerte.27 Die Juden wurden entsprechend stellvertretend auch als die Schützlinge der Behörden attackiert. Obwohl die preußischen Behörden auf den höheren Ebenen der Landräte und des Regierungspräsidenten schnell und angemessen reagierten, gelang das Unterbinden der Gewalt und vor allem das Eindämmen der judenfeindlichen Stimmung erst nach fast zwei Monaten. Der Grund dafür lag in der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit bzw. dem Willen der Ortsbehörden, d. h. der Bürgermeister sowie der Bürgerwehren. In diesem Fall erweist sich wie in vielen anderen Pogromfällen, dass bei lokalen Ausschreitungen die Fähigkeit und der Wille, diese schnell und wirkungsvoll zu beenden, bei den örtlichen Autoritäten geringer ausfällt als in den jeweils höheren Instanzen. Was die strafrechtliche Verfolgung der Übergriffe angeht, so konnten viele Täter durch das geringe Strafverfolgungsinteresse der örtlichen Autoritäten nicht ermittelt werden. Doch gingen die Behörden und Gerichte offenbar »scharf und korrekt« vor. Es wurden zwei Hauptunruhestifter zur Höchststrafe für schwere Sachbeschä Ebd., S. . Kirchhoff, Judenhass, S. . Strauss kritisiert die Verständnislosigkeit und Verachtung, die die rationalen preußischen Protestanten gegenüber dem Katholizismus des Landvolkes (Fanatismus, religiöser Aberglauben) bis hinauf zum Erzbischof an den Tag legten, die seiner Meinung nach die Landpfarrer zwangen, sich mit ihren »Schäfchen« zu solidarisieren (Die preußische Bürokratie, S. ). Manfred Gailus hebt für das . Jahrhundert »die ernorme Verschiedenheit der mentalen Landschaften, das oftmals enge Nebeneinander von Mittelalter und Neuzeit, die Schärfe der historischen Ungleichzeitigkeit«, hervor (Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens -, Göttingen , S. ). Zu der großen Zahl gewaltsamer Konfrontationen zwischen Bürgern und preußischem Militär zwischen - vgl. James M. Brophy, Violence between Civilians and State Authorities in the Prussian Rhineland -, in: German History /, , S. -.
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RITUALMORDVORWURF UND ANTIJÜDISCHE TUMULTE AM NIEDERRHEIN
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digung, Nötigung und Landfriedensbruch von je sieben Jahren Zuchthaus verurteilt.28 Von Seiten der angegriffenen Juden gab es keine Gegenwehr. Aus Angst vor Repressionen zogen zwei Juden nach den Ausschreitungen in Bedburdyck am . August ihre Anzeigen gegen einige namentlich bekannte Einwohner des Ortes wieder zurück – auch dies ein weit verbreitetes Verhalten, das aus jüdischer Sicht durchaus rational war, wenn man im Ort weiter ansässig bleiben wollte.29 Die beiden zuerst in Neuenhoven attackierten Juden, Jakob Baumgarten und Leon Aretz, verließen den Ort allerdings kurz darauf, um sich im nahe gelegenen Odenkirchen niederzulassen, zumal der Bürgermeister von Neuenhoven den von ihnen in einer Petition an den König geforderten Schadensersatz als übertrieben abgewiesen hatte, was zu einer Ablehnung des Gesuchs führte.30 Im Kreis Grevenbroich kam es knapp sechzig Jahre später, , im Zusammenhang mit der Xantener Ritualmordaffäre (Fall Buschhoff ) wiederum zu Umzügen, Angriffen auf Häuser von Juden, zu Friedhofschändungen und Brandstiftungen.
Der Rheinische Provinziallandtag, S. . Kirchhoff, Judenhaß, S. . Aus den Akten des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf, abgedruckt in Strauss, Die preußische Bürokratie, S. .
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. Unruhen in Italien, Deutschland und Böhmen in den frühen er Jahren Statuskonflikte – ein antijüdischer »Volksaufstand« in Mantua In einer Chronik der Geschichte Mantuas ist für den Sommer des Jahres ein antijüdischer Tumult beschrieben, der auf ein angespanntes Verhältnis zwischen den dort seit dem frühen . Jahrhundert im Ghetto lebenden Juden und der einheimischen christlichen Bevölkerung hindeutet, das in der Konkurrenz um den Zugang von Juden zu öffentlichen Ämtern und in einer wirtschaftlichen Dominanz begründet war.1 Während in der Chronik eher ein harmonisches Miteinander von Christen und Juden in der Stadt geschildert wird, das durch die Ausschreitungen nur kurzfristig unterbrochen worden sei, stellte ein einheimischer Jude in einer Privatmittelung aus Mantua (vom . Juli ) die christlich-jüdischen Beziehungen als schon lange gestört dar: »Schon längst hegten die christlichen Bewohner Mantua’s den bittersten Haß im Herzen gegen ihre jüdischen Mitbewohner«. Die Ursachen sah er einerseits darin, dass die Juden »durch Thätigkeit und Geist beinahe den ganzen Handel jenes bedeutenden Platzes an sich gerissen hätten«, andererseits darin, dass sie den Hass der Christen erwiderten und »sich selbst ausschließen, und einer Gleichheit nur in politischer, nicht aber gesellschaftlicher Beziehung, dieser aber umso eifriger nachstrebten«.2 Wir haben es in Mantua also mit einer wohlhabenden und selbstbewussten jüdischen Bevölkerung zu tun, die immerhin gut der Einwohner stellte und von der – zumindest nach Darstellung der Chronik – auch Angriffe auf Christen ausgingen. Die seit in Mantua bestehende jüdische Gemeinde erlebte nach einer Blütezeit unter der Herrschaft der Adelsfamilie Gonzaga (-) im . Jahrhundert und unter der einsetzenden Herrschaft der Habsburger parallel zur Entwicklung der Stadt Mantua einen ökonomischen und zahlenmäßigen Rückgang. Im Jahre erhielten die Juden von Mantua gleiche Rechte. Die Stadt war seit dem späten . Jahrhundert umkämpft, da sie zwischen und sowie und , von Napoleon eingenommen, unter französische Herrschaft stand, unter der auch das Ghetto aufgelöst wurde, aber als Wohnbezirk der Juden offenbar Guiseppe Arrivabene, Compendio Chronologico-critico della Storia di Mantova della sua Fondazione sino ai Nostri Giorni, Bd. , bearbeitet von Renato Giusti, Academia Virgiliana di Mantova, Mantua , S. -; von Bruno Di Porto wiederabgedruckt unter dem Titel: Una Sommossa Popolare Antiebraica a Mantova nel dal Compendio della Storia di Mantova (-), von Guiseppe Arrivabene, in: Materia Giudaica /, -, S. -. Guiseppe Arrivabene (-), war ein aus Mantua stammender liberaler italienischer Nationalökonom, der von den österreichischen Behörden politisch verfolgt und (oder ) in Abwesenheit sogar zum Tode verurteilt wurde. Er lebte und arbeitete in England und Belgien als Nationalökonom und kehrte erst nach Italien zurück, wo er von bis Präsident der Accademia Nazionale Virgiliana war. Arrivabene war also kein Zeitzeuge der Ereignisse von . AZJ, Jg. , , .., S. f.
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fortbestand.3 Mantua gehörte seit dem Wiener Kongress von zum Königreich Lombardo-Venetien (ital.: Regno Lombardo-Veneto) und blieb bis zum Anschluss an Italien / ein Land innerhalb des Kaisertums Österreich. König war in Personalunion der österreichische Kaiser (Ferdinand I.), als Vizekönig regierte jeweils ein Erzherzog, in den Jahren - war dies Erzherzog Rainer von Österreich. In den er Jahren dürfte die jüdische Gemeinde Mantuas ca. . Personen umfasst haben. Die Gesamtbevölkerung Mantuas betrug in dieser Zeit . Personen.4 Mit dem Ende der napoleonischen Ära, die auch für die Juden in Oberitalien wesentliche Verbesserungen ihrer rechtlichen Stellung gebracht hatte, wurden die Juden im Königreich Piemont-Sardinien und auch im habsburgischen LombardoVeneto erneut »entwürdigenden und einschränkenden Vorschriften unterworfen«. Dennoch begannen Juden in Italien (wie auch in Deutschland) sich stärker am öffentlichen Leben zu beteiligen und politisch zu engagieren, was sich nach der Julirevolution in Frankreich noch weiter steigerte, als eine Debatte um die Gleichstellung der Juden unter dem Schlagwort der Emanzipation geführt wurde.5 Diese Frage des sozialen Status bzw. hier der Wunsch nach Zugang zu allen öffentlichen Ämtern war, wie im Fall vieler antijüdischer Unruhen in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts in anderen europäischen Ländern, auch in Mantua der Ausgangspunkt des Konflikts. Die gewalttätige »Selbsthilfe« der Mantuaner Bevölkerung stellt also den Versuch dar, eine Besserstellung der Juden der Stadt zu verhindern und sie auf den, diesen ihrer Meinung nach zukommenden niedrigeren Platz zu verweisen. Auslöser der Eskalation, deren Folgen in der Chronik als »schweres Unglück« für das »beklagenswerte Vaterland« gewertet wurden,6 war die Reise einer Abordnung von Juden aus Mantua, die am . März zum König reiste, um ihn zu bitten, eine Orgel und eine Glocke und andere »pompöse Riten« in ihrer Synagoge einführen zu dürfen, und um die Erlaubnis zu erhalten, jedes öffentliche Amt bekleiden zu können.7 Einige in der Chronik als anmaßend und wohlhabend beschriebene Das Ghetto war vom mantuanischen Herrscher eingerichtet worden, wurde aber seitens der Rabbiner sehr begrüßt (Tag der Freude), da das Ghetto einerseits eine Schutzfunktion erfüllte und zudem Kontakte und auch damit einhergehende Konflikte zwischen Juden und Christen verringerte. Siehe: Gianfranco Miletto, Mantua, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. LY-PO, hrsg. von Dan Diner, Stuttgart, Weimar , S. -, hier S. . Für das Jahr gibt es eine zeitgenössische statistische Angabe von . Einwohnern Mantuas: Adolf Schmidt (Hrsg.), Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst, Geschichte, Geographie, Statistik und Naturkunde, Bd. , Wien . Ulrich Wyrwa, Jüdische Geschichte im ›langen‹ . Jahrhundert in Deutschland und Italien im Vergleich, in: Ernst Baltrusch/Uwe Puschner (Hrsg.), Jüdische Lebenswelten von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. , S. -, hier S. u. . Una Sommossa Popolare, S. . Dieses Ansuchen um politische Gleichstellung wurde aber nicht allein von den Juden Mantuas vorgebracht, sondern »im Vereine mit den übrigen Juden des Lombardisch-venetian. Reichs« (AZJ , .., S. ).
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junge Juden gaben damit an, ihre Angelegenheiten so vorbereitet zu haben, dass der König ihre Wünsche auch erfüllen werde. Die christlichen Bewohner der Stadt waren durch solche Prahlerei verstimmt und fest davon überzeugt, dass sich die Juden in der Konkurrenz um öffentliche Ämter durchsetzen würden. Dies führte zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht zu einem Ausbruch öffentlicher Erregung. Als die jüdische Abordnung am . Juni zurückkehrte, verbreitete sich die Nachricht, dass der Landesherr ihr Gesuch abgelehnt hatte.8 Dieser Fehlschlag soll nach Darstellung der AZJ den christlichen Einwohnern Mantuas die gewünschte Gelegenheit geboten haben, »ihr Gift auszulassen«, so dass »Spott und Sticheleien an der Tages Ordnung« [sic] gewesen seien. Was den Auslöser und den Verlauf der Unruhen betrifft, gehen die Darstellungen der mantuanischen Juden und die der Chronik auseinander, da Letztere eine Reihe von Vorfällen als Eskalationsstufen darstellt, für die den Juden eine auslösende Rolle zugeschrieben wurde, während der Bericht in der AZJ den Ausgangspunkt in einer Wirtshausschlägerei zwischen einem Christen und einem Juden am . Juni lokalisiert, über die in der Chronik zwar auch berichtet wird (wenn auch auf den . Juni datiert), der aber nicht die Rolle des alleinigen Auslösers zuerkannt wird. Nach der Rückkehr der erfolglosen jüdischen Abordnung am . Juni kam es in der Folgezeit vielmehr zu einer Reihe kleinerer Vorfälle, die laut Chronik dazu führten, dass sich in der Bevölkerung eine Aversion gegen die Juden entwickelte, die man für »böswillig und feindselig« hielt.9 Eine Schlägerei am . Juni brachte dann wohl das Fass zum Überlaufen, als ein gewisser Quirino Galeazzi die Cafeteria Venezia an der Piazza Purgo (heute Piazza Marconi) betrat und mit seinem Ellenbogen Salomon Loria anstieß, was dieser sofort mit einer Ohrfeige quittierte. Galeazzi griff daraufhin nach einem Stuhl, aber Loria war kräftig genug, ihn zu Boden zu werfen und ihn wütend bei den Haaren und nehmen und mit Es hieß als Begründung, dass der Vater des Königs (Ferdinand I.), gemeint ist wohl Leopold II., ihnen bereits ausreichende Vorteile gewährt habe. Una Sommossa Popoplare, S. (»per la qual cosa comincio nel populo a germogliare un’avversione agli Ebrei, considerandoli per malevoli e nemici«). Bei einem dieser Vorfälle soll ein Sohn aus der bekannten jüdischen Familie Finzi, der mit seinem Pferd durch eines der Stadttore Mantuas, die Porta Pradella (auch Porta Belfiore), zurückkehrte, mit einem armen Mann zusammengestoßen sein und ihn dabei zu Boden gestoßen haben, ohne aber anzuhalten und auch ohne sein Bedauern über diesen Vorfall zu äußern. Am Morgen des . Juni folgte nach Darstellung der Chronik die nächste »jüdische Provokation«, als junge Juden im Café del Commercio aufreizende Bemerkungen machten, die von einigen Christen zurückgewiesen wurden, die noch hinzufügten, dass die Juden ja genügend Mittel und Reichtum besäßen, um keine öffentlichen Ämter zu benötigen. In einer Fußnote wurde dazu angemerkt, es ginge das Gerücht, dass die Juden sich rühmten zu wissen, wie man mit Geld Schutz seitens des Magistrats bekommen könne, und dass viele ihrer kühnsten jungen Männer, darunter ein Finzi, zwei Norsa, ein Loria, zwei Levi und die Massarani, mit Pistolen und Messern bewaffnet wären, um von ihnen bei Gelegenheit gegen die Christen Gebrauch zu machen (Una Sommossa Popolare, S. ); in der Chronik selbst heißt es abweichend von »Correa grida«: »correa voce« – »corre voce, che«, das heißt »es geht das Gerücht, dass …«
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dem Kopf mehrere Male auf den Boden zu schlagen. Er gab ihm einige Fußtritte und kehrte schnell nach Hause zurück. Erscheint hier der Ellenbogenstoß eher als unbeabsichtigt und die Ohrfeige als überzogene Reaktion, stellt ein Bericht in der AZJ den Vorgang anders dar, der Galeazzi einen (wohl kaum unabsichtlichen) Fußtritt zuschreibt, den Loria mit einer Ohrfeige erwidert habe.10 Laut AZJ seien beide Urheber des Konflikts in Gewahrsam genommen worden, Loria habe sich sogar aus freien Stücken der Obrigkeit gestellt.11 Dies würde aber nicht erklären, warum dies den Ausgangspunkt für die Unruhen gebildet haben soll. Nach Darstellung der Chronik erregte demgegenüber dieser Zwischenfall, der zu den früheren hinzukam, noch verschärft durch die Unklugheit eines Juden, zu erklären, ein Loria habe ausreichend Geld sich zu verteidigen, und die Tatsache, dass von den Behörden nicht eingeschritten und Loria verhaftet worden war, den Unmut unter der Bevölkerung. Auch der Bericht in der AZJ spricht davon, dass die Folge dieser Schlägerei »eine allgemeine Gärung unter den Christen« gewesen sei, wobei diese zunächst vor allem die höheren Stände und den Mittelstand erfasst habe. Am Abend der . Juni versammelten sich dann viele Menschen auf der Piazza Purgo und unter den Laubengängen. Und einige begannen Juden, die ihnen begegneten, zu attackieren.12 Dann stürmten sie in das militärische Kaffeehaus von St. Carlo, wo sich mehrere Juden aufhielten, die sich nur mit Mühe verstecken konnten. Die schnell herbeieilenden Wachen beendeten die Übergriffe, und die staatlichen Kommissare schickten Trupps von Soldaten ins Ghetto, da sie dort Brandstiftungen und Plünderungen befürchteten. Nach Darstellung der Chronik wäre der sich anbahnende Tumult beendet gewesen, wenn sich nicht ein anderer widerlicher (»disgustosa«) unvorhergesehener Vorfall ereignet hätte. Demnach wurde am selben Abend der Wurst- und Käsehändler Domenico Barotti plötzlich von zwei Juden angegriffen, durch eine scharfe Waffe verletzt, zu Boden geworfen und misshandelt.13 Wiederum wird hier als Auslöser ein Angriff von Juden geschildert, während im Bericht der AZJ die am nächsten Tag, dem . Juni, folgenden Ausschreitungen nicht als durch ein solch weiteres Ereignis motiviert erscheinen. Als dieser Vorfall am nächsten Morgen bekannt wurde, AZJ, Jg. , Heft , . August , S. , Bericht aus Mantua vom . Juli. In der nächsten Ausgabe der AZJ wird im Bericht des Mantuaner Augenzeugen offengelassen, wer den Streit angefangen und wer zuerst Gewalt angewendet hat. Er betont aber, der jüdische Teilnehmer habe sich »eher tapfer als feige« betragen (Heft , .., S. ). AZJ, Jg. , Heft , . August , S. . Im Bericht der AZJ ist davon die Rede, dass einige Juden sich tapfer gewehrt hätten, was der Anlass zu einem erneuten Gewaltausbruch am nächsten Tage gewesen sei (Jg. , Heft , .., S. ). Barotti beschuldigte bei der ersten Vernehmung als Täter Mose Vivanti und Daniele Ariani, die aber von der zuständigen städtischen Präfektur freigelassen wurden; das Verfahren endete ohne Ergebnis, weil Barotti bei der zweiten Vernehmung aussagte, seine Angreifer nicht mehr genau wiedererkennen zu können. Die Bevölkerung war überzeugt, dass Barotti, durch das Gold der Juden bestochen, nun seine frühere genaue Identifizierung der Täter angezweifelt habe, um das Verfahren zu stoppen (Una Sommossa Popolare, S. ).
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begann eine aufrührerische Menge laut Chronik Juden, derer sie habhaft werden konnten, zu verfolgen und zu verprügeln. Man warnte sie, sich außerhalb des Ghettos sehen zu lassen.14 Die Justizbehörde war deshalb gezwungen, Streifen patrouillieren zu lassen, um weitere Unruhen zu verhindern. Dennoch versammelte sich am späten Abend auf der Piazza eine Menschenmenge in drohender Stimmung, weshalb sich der Königliche Gesandte Villata einmischte, um die Menge zur Ruhe zu mahnen, und er postierte zudem Gendarmen und Soldaten am Eingang des Ghettos. Er empfahl den politisch Verantwortlichen, umsichtig vorzugehen, und den Soldaten, sich geduldig zurückzuhalten, solange von der Menge keine Gewalt angewendet würde. Diese Deeskalationsstrategie wurde aber durch das harte Vorgehen der Polizisten unter dem Kommissar Cesare Giani konterkariert, auf das die Menge mit Spott und Steinwürfen auf die Polizei antwortete. Daraufhin feuerten die Soldaten in die Menge und verletzten zwölf Personen, sieben von ihnen mussten ins Krankenhaus gebracht werden.15 Den Befehl, auf die Menge zu schießen, schrieb man dem Platzkommandanten Oberst Graf Caracsy zu, der wegen seines präpotenten Charakters unbeliebt war, aber auch Kommissar Giani wurde wegen des exzessiven Vorgehens der Soldaten kritisiert. Entsprechend wurde er vom Volk mit Pfiffen begrüßt, sobald er sich sehen ließ.16 Der Verlauf der Auseinandersetzungen zwischen Volksmenge und Militär wird in der AZJ etwas anders geschildert: Demnach habe die Menge, die starken Zulauf bekam, Steine auf die das Ghetto schützenden Soldaten geworfen und dabei sogar die Offiziere geschlagen und einige Gendarmen entwaffnet. Daraufhin habe das zahlenmäßig schwache Militär sich nur durch Schüsse in die Menge zu helfen gewusst, was diese wiederum erbittert habe. Sie berichtet dann für den nächsten Tag (. Juli), dass sich dieser Vorgang wiederholt habe und das Militär erneut auf die Tumultuanten geschossen habe.17 In jedem Fall wird deutlich, dass die staatlichen Ordnungskräfte in Pogromen im Im Bericht der AZJ werden die Ausschreitungen drastischer beschrieben: »Am folgenden Tage, dem sten, drang eine aufrührerische Menge, denn heute war auch der Pöbel mit Hoffnung auf reiche Beute und Plünderung aufgewiegelt worden, in die Judengassen, zischte, lärmte, tobte, und damit nicht zufrieden, schlug und mißhandelte auch die ruhigen Wanderer, so dass sich die Juden gezwungen sahen, die Gewölbe zu schließen und sich in die Häuser zu verkriechen« (Jg. , Heft , .., S. ). Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts (Nr. , .., S. ) stellt die Vorfälle wiederum abweichend von den beiden anderen Quellen dar: Hier hatten sich die Unruhen gleich an die Kaffeehausschlägerei angeschlossen. Als der Platzoberst eingriff, um den Streit beizulegen, wurden ihm von einem der Tumultuanten die Orden von der Brust gerissen, und das herbeigeeilte Militär sah sich gezwungen, auf die Menge zu schießen, wobei einige Aufwiegler getötet, andere verwundet worden seien. Dies habe »zu einer völligen Emeute« geführt, da nun der »Pöbel, der sich bis dahin ruhig verhalten hatte, mit den Soldaten in ein Handgemenge geriet«. Die Juden hätten dann drei Tage ihre Wohnungen geschlossen halten müssen und konnten sich nicht auf der Straße sehen lassen. Una Sommossa Popolare, S. . In einer Fußnote wird darauf verwiesen, dass die Juden die Soldaten den ganzen Tag über mit reichlich Essen und Trinken versorgt hätten, die sich deshalb, durch den Wein berauscht, dem Befehl gefügt hätten. (ebd.). AZJ, Jg. , Heft , .., S. .
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mer Gefahr laufen, selbst zum Ziel der Angriffe zu werden, wenn sie sich der als »Selbsthilfe« verstandenen kollektiven Gewalt der Tumultuanten entgegenstellen, vor allem, wenn sie dabei aus Sicht der Tumultuanten zu hart vorgehen. In der Chronik werden die Vorgänge etwas differenzierter dargestellt, wobei vor allem provokative Aktionen von jüdischer Seite für die erneute Eskalation verantwortlich gemacht wurden. Nach dem harten Eingreifen der Ordnungskräfte am Abend des . Juni fürchtete man, dass die empörte Bevölkerung sich nun bewaffnen würde, zumal die Gendarmen und die kleine Zahl an Soldaten nicht ausreichten, um sich selbst zu verteidigen. Aber die Menge verlief sich. In den Tagen danach kam es noch vereinzelt zu Übergriffen auf einzelne Juden.18 Neben der wegen des Sommers geringen Stärke des im Kastell stationierten Militärs19 verhinderte auch die zeitweise Abwesenheit des Militärgouverneurs, der in diesen Tagen seinen Landsitz bei Brescia besucht hatte, und des Oberkommissars der Polizei, Luigi Martello, der sich im nahen Roverbella20 vergnügte, entschiedene Gegenmaßnahmen. Der Militärgouverneur erschien erst am Abend des . Juli unter den Laubengängen, um die erbitterte Menge zu besänftigen, und er wurde mit Jubel begrüßt, weil er das Vorgehen der Truppen am Abend des . Juni missbilligt hatte. Wie aufgebracht die Menge wegen des harten Eingreifens der Ordnungskräfte war, zeigt die Tatsache, dass der plötzlich eintreffende Oberst Graf Carascy mit Schmähungen bedacht und tätlich angegriffen wurde; er hätte tot sein können, wenn sich nicht der Militärgouverneur, der selbst einige Schlägen, abbekam, dazwischengegangen wäre, um ihn zu verteidigen und ihm die Flucht in die Festung zu ermöglichen.21 Auch der Oberkommissar der Polizei, Luigi Martello, begab sich gegen Mittag nach Mantua, kehrte aber in sein Landhaus zurück, nachdem er den Königlichen Gesandten Villata dazu veranlasst hatte, einen Anschlag zu veröffentlichen, der die Bürger zur Ruhe aufforderte und Strafen von fünf bis zehn Jahren schweren Kerker für die Teilnehmer an einem Aufruhrs androhte. Um die Menge zu beruhigen, Am Morgen des . Juli wollte ein Jude ein Café an der Piazza del Purgo betreten, obwohl der Kaffeehausbesitzer ihn davon abzuhalten suchte. Beim Hinausgehen wurde der Jude mehrfach geschlagen. Auch ein jüdischer Advokat wurde bei seiner Rückkehr aus seinem Büro in der königlichen Delegatur beleidigt und geschlagen; und um drei Uhr am Nachmittag wurde er auf dem Weg nach Hause verfolgt und es wäre ihm schlecht ergangen, wenn nicht einige Soldaten der Wache des Palastes des Militärgouverneurs erschienen wären, um ihn zu beschützen (Una Sommossa Populare, S. ). Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts schrieb, dass während der heißen Jahreszeit nur eine schwache Besatzung in der Festung lag, »die zur Herstellung des Friedens nicht hinreichte, der in der That auch drei Tage lang gestört blieb« (Heft , .., S. ). Roverbella ist ein kleiner Ort, ca. km nördlich von Mantua gelegen. In der Textausgabe von Bruni di Porto fälschlich Riverbella geschrieben (Una Sommossa Populare, S. ). Der Bericht in der AZJ datiert diesen Übergriff auf den Platzkommandanten auf den Samstagabend (. Juli), an dem sich Volksmenge und Militär gegenübergestanden hätten (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Damit ist möglicherweise der Angriff auf Oberst Graf Carascy gemeint, der in der Chronik auf Freitag datiert wird.
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gab Villata den Befehl, Loria und die beiden Juden zu verhaften, die Barotti angegriffen hatten. Diese Maßnahme schien auch tatsächlich den Tumult aufzulösen, doch angesichts der angespannten Situation reichte ein kleiner Vorfall aus, um die Gewalt wieder aufleben zu lassen. Als in den Nachtstunden Steine von den Häusern des Ghettos auf die Straßen geworfen wurden, in denen Passanten unterwegs waren, genügte dies, um erneut eine Volksmenge auf den Plan zurufen. Ein Trupp von Gendarmen und Soldaten, der den Grund für diese plötzliche Erregung nicht kannte, stürmte in die Menge und drängte diese auf die Piazza del Purgo ab, wo die Soldaten das Feuer eröffneten und fünf Personen verletzten, die sie dann in das Gefängnis des Kastells eskortierten. Sie hatten aber auch eine Frau getroffen, die aus einem Laden unter den Laubengängen gekommen war, und die ihren Verletzungen im Laufe der Nacht erlag. Von den Verletzten war auf der Piazza del Erbe eine Frau zurückgeblieben, die im dritten Stock des Hauses an einem offenen Fenster die Straße beobachtet hatte und durch einen Schuss schwer verletzt worden war. Weil ein solcher Schuss nur von einem erhöhten Standpunkt aus abgefeuert worden sein konnte, glaubte man, dass ein Schuss aus dem höheren Stockwerk des Ladens, der von dem Juden Masserani geführt wurde, und nicht aus einem Gewehr eines Soldaten abgefeuert worden war.22 Um die kritische Lage zu beruhigen, ließ der Militärgouverneur einen Wachposten des Königlichen Postamtes verhaften, der diesen Schuss hätte abgegeben haben können, befahl einem Teil der Soldaten, sich bis auf weiteres in die Kaserne zurückzuziehen und forderte den Oberster Carascy auf, seine Wohnung nicht zu verlassen. Die Deeskalationsstrategie ging auf, und die Menge löste sich innerhalb von zwei Stunden auf. Am Samstag, den . Juli, schien eine dumpfe Ruhe eingekehrt zu sein, die einen plötzlichen Angriff vorausahnen ließ, weil man eine allgemeine Bewaffnung der Bürger und Plünderungen im Ghetto durch einen Teil der Bauern befürchtete, die mit Forken ausgestattet auf die Piazza kamen.23 Die Juden, die seit drei Tagen im Ghetto eingesperrt waren und denen es am Nötigsten mangelte, lebten in großer Angst, obwohl es den Auftrag gab, sie durch die Einberufung neuer Truppen aus der Garnison zu schützen. In der Chronik bleibt ein Aspekt der Unruhen völlig unerwähnt, der in der Darstellung der AZJ ausführlich beschrieben wird. Demnach habe »der Pöbel« Mantuas die Bewohner der umliegenden Ortschaften zum Plündern der jüdischen Häuser in die Stadt gerufen, woraufhin die Obrigkeit die Brücken habe hochziehen und die Stadttore sperren »Es war nicht undenkbar, dass die Juden im Ghetto auch Schüsse auf die Christen abgefeuert haben, während die Truppe zum Teil dasselbe tat; auch der Fall der getöteten Frau und die gerichtlichen Untersuchungen lieferten dafür einige Beweise.« Zudem wurde noch hinzugefügt, dass es in dem Trupp Soldaten, der im Ghetto Wache stand, zahlreiche Juden gab, denen man die Verletzung der Bürger zuschreiben wollte (Una Sommossa Populare, S. ). Der Bericht in der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) spricht für den Samstag auch davon, dass sich die Parteien gegenübergestanden hätten und dass am Abend »einer der Platzkommandanten hart mitgenommen wurde.«
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lassen. Daraufhin hätten die Landleute die jüdischen Landhäuser rings um Mantua angegriffen und »geschleift«.24 Der königliche Gesandte übergab dem Gerichtshof sofort die Anzeigen dieses Volksaufruhrs, und seit diesem Morgen wurde einem Ratsmitglied die Befragung der Verletzten übertragen, um die Prüfung der Verstöße vorzunehmen und um die vorhandenen Spuren zu sichern, und um das Haus von Masserani aufzusuchen, weil man dort Steine, Waffen und Öl in den oberen Räumen entdeckt hatte. Am Sonntag, den . Juli, wurde die den ganzen Tag über andauernde Ruhe nach Darstellung der Chronik wiederum durch angebliche Provokationen seitens der Juden durchbrochen, als Steine aus den Fenstern des Ghettos geworfen wurden und zwei Juden, die aus dem Ghetto herauskamen, deshalb mit wütenden Schlägen zurückgetrieben wurden. Inzwischen intervenierten der Hauptmann der Gendarmerie und ein deutscher Offizier, die von Steinen getroffen worden waren, und nahmen drei dort anwesende Juden fest und eskortierten sie unter den Jubelrufen der Menge ins Kastell. Der königliche Gesandte hielt in Absprache mit dem Militärgouverneur und mit dem Bürgermeister von Bagno eine Durchsuchung des Ghettos für angebracht, um nach Waffen und anderen Angriffsobjekten zu suchen. Das löste Besorgnis unter den Juden aus, und einige jüdische Familien verließen in der Nacht mit einer von Kavallerie begleiteten Kutsche die Stadt, andere folgten in den folgenden Nächten. Auch die AZJ berichtet von der Abwanderung von »vielen der reichsten Juden«, deren Beispiel viele andere folgten.25 Die Darstellung in der AZJ, in der weder die Steinwürfe im Ghetto und die Verhaftung der »Täter« noch die Durchsuchung des Ghettos nach Waffen vorkommen, spricht von den Ereignissen am . Juli als dem Höhepunkt der Ausschreitungen, wonach die Menge (»der Pöbel«), nun von Bauern aus der Umgebung verstärkt, ins Ghetto eingebrochen sei. Sie hätten Fensterscheiben eingeworfen und »droheten, die Hausthüren aufzubrechen, die Häuser zu bestürmen und zu plündern, ein Blutbad anzurichten«.26 Nur durch das Eingreifen eines gegen Mittag aus Verona eintreffenden ungarischen Regiments, das einen Sicherheitskordon um das Ghetto zog, sei die Ruhe bald wiederhergestellt worden. Der kommandierende General sorgte auch für die Zufuhr von Lebensmitteln, die die Menge bisher blockiert hatte. Anschließend kam es nur noch zu kleineren Zwischenfällen.27 Offenbar wa AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts , .., S. . Die AZJ betont den »unberechenbaren Verlust für Mantua«, der durch die Abwanderung der Juden entstehe, da die »dortigen Juden […] den wohlhabendsten Theil der Bevölkerung bilden« (Jg. , Heft , .., S. ). AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Laut Chronik wurde am Montag ein Jude außerhalb des Ghettos durch den Hobel eines Schreiners verletzt, der dann verhaftet wurde. Am Nachmittag desselben Tages wurden aus einem Haus neben dem königlichen Finanzamt Dachziegel auf die Straße geworfen, wo sich dann bald viele Menschen versammelten. Die Staatsmacht war aber schnell herbei-
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ren aus Verona und Brescia Truppen nach Mantua verlegt worden, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Da man ein Übergreifen der Unruhen auf benachbarte Städte befürchtete, sollen etwa auch in Verona Truppen im dortigen Ghetto patrouilliert haben.28 Eine Meldung aus Wien vom . Juli spricht davon, dass man den Unruhen in Mantua bei den Behörden in Wien große Bedeutung zugemessen habe, zumal befürchtet wurde, dass diese sich an anderen Orten wiederholen könnten, wo »es neben der christlichen auch eine zahlreiche jüdische Bevölkerung giebt«.29 Aus Wien ergingen entsprechend Anweisungen an die Behörden in Mantua, die Unruhen energisch niederzuhalten und die Juden zu schützen. Entsprechend lobte die AZJ auch das »kräftige Einschreiten der Behörden gegen die dort stattgehabten Exzesse« sowie den Einsatz zum Schutz der Juden und äußerte die Erwartung, dass die Tumultuanten nicht ungestraft bleiben würden, um so Nachahmer abzuschrecken.30 Unter den Einwohnern Mantuas war entsprechend die Meinung tief verwurzelt, die Juden hätten während der neun Tage des Aufruhrs riesige Summen an die Truppen bezahlt, damit diese sie verteidigten. Am . Juli begannen die Juden die Läden im Ghetto wieder zu öffnen, es blieben aber Soldaten als Wache auf den Straßen zurück.31 Die öffentliche Empörung hatte sich zwar gelegt, doch noch immer mussten Juden, die es wagten, mittags über den Purgo zu gehen, damit rechnen, angepöbelt zu werden. Ermutigt durch die Ruhe der Bevölkerung und durch die zahlreichen Militärpatrouillen, begannen die Juden bald darauf, sich wieder auf dem Purgo und auf den Straßen nahe des Ghettos sehen zu lassen Der Tumult war zu Ende, und laut Chronik hatte sich die frühere Eintracht wieder eingestellt, was durch polizeiliche Maßnahmen, die in der folgenden Nacht und der danach folgenden durchgeführt wurden, befördert worden sei: nämlich die Verhaftung der vorgeladenen und anderer verdächtiger Personen. Einige von diesen wurden sogar aus der Provinz ausgewiesen.32 Der Bericht der AZJ stellt die Situation nach Ende der Ausschreitungen weniger harmonisch dar. Er spricht von einer »traurigen Stille« und von Niedergeschlagenheit unter Juden und Christen, da beide Seiten Opfer zu beklagen hatten: Mehrere Juden litten demnach unter den Folgen der erlittenen Misshandlungen und des Schreckens; unter den Christen gab es mehrere durch Schüsse des Militärs Verwundete sowie eine Tote (nach der Chronik waren es sogar zwei Tote). Zudem hatten ja vor allem
geeilt und brachte einen Juden ins Gefängnis, der sich im Haus aufgehalten hatte (Una Sommossa Populare, S. f.). AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Ebd., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Laut AZJ habe die Behörde bekannt gemacht, dass die Läden unter ihrem Schutz stünden und die Inhaber nichts zu befürchten hätten (Jg. , Heft , .., S. ). Eine kritische Situation hätte noch entstehen können, als in der Nacht zum . Juli bekannt wurde, dass die Frau von Tamassia ihren Verletzungen erlegen war, was in der Bevölkerung große Trauer auslöste. Ihre Leiche war zur Sektion in das örtliche Krankenhaus gebracht worden und wurde um Uhr morgens am . Juli heimlich auf dem Friedhof beigesetzt, wohl um erneute Tumulte zu verhindern.
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wohlhabende Juden die Stadt verlassen und zögerten, wieder zurückzukehren. Die AZJ beschreibt auch, dass die Obrigkeit über die Vorfälle erbittert sei und gerecht, aber streng verfahre.33 Dass dies ein Risiko bot, deuten aus Mantua stammende Briefe an, die davon sprechen, dass durch die strengen Untersuchungen der Behörden gegen die Ruhestörer die »Erhitzung der Gemüther unter der christlichen Bevölkerung« neue Nahrung gewinne. Man akzeptierte in der Bevölkerung zwar die Unterbindung weiterer Unruhen, doch nur unter der Bedingung, dass nicht weiter nachgefragt würde, »wer an dem Vergangenen vorzugsweise Theil genommen«.34 Zu den während des Tumults festgenommenen Christen gehörten Personen, denen das Verbrechen der Anwendung öffentlicher Gewalt und Bedrohung vorgeworfen wurden. Nach einem umfangreichen Verfahren ergingen ein Jahr später am . Juli die folgenden Urteile: von einem Monat bis zu einem Jahr Haft für acht Personen; die Aussetzung des Prozesses wegen fehlender Beweise für acht weitere Personen; Freisprüche für drei Personen, wegen Widerrufs aufgrund des Fehlens rechtlicher Indizien für zehn Personen; für zwei weitere Personen wurde das städtische Amtsgericht für zuständig erklärt. Es wurde weiter eine Rücknahme der Anzeigen gegen weitere siebzig nicht Festgenommene ausgesprochen. Die AZJ berichtet in einer anderen Meldung davon, dass auch viele Landleute aus der Umgebung Mantuas wegen der Zerstörung der jüdischen Landhäuser festgenommen worden seien.35 Es wurden, wie in den meisten Fällen solch unübersichtlicher kollektiver Aktionen, letztlich nur wenige Personen bestraft. Auffällig ist, dass die in der Chronik mehrfach behaupteten Verhaftungen von jüdischen Tätern bei der Aufzählung der justiziellen Bearbeitung der Unruhen nicht auftauchen. Die Unruhen in Mantua zeigen die für die Emanzipationszeit typische Konfliktkonstellation, in der zwischen christlichen und jüdischen Ortsbürgern Statuskonflikte ausgetragen wurden. Diese konnten durch das sehr selbstbewusste Auftreten zumal junger wohlhabender Juden, wie etwa auch in Hamburgs Kaffeehäusern im Jahre , in Gewalt umschlagen. Im Fall Mantuas entwerfen die Darstellung in der Chronik der Stadt und die teils auf Augenzeugenberichte aus Mantua zurückgehenden Artikel jüdischer Zeitungen in Deutschland ein recht unterschiedliches Bild der Vorgänge. Während die Chronik die Angriffe der Menge an vielen Stellen durch Übergriffe seitens der Juden motiviert sieht, die den Konflikt so immer wieder neu aufflammen ließen, findet sich in den Zeitungsberichten nur ein solcher Fall, der als Auslöser der Unruhen insgesamt angesehen wird. So fehlen in diesen Berichten auch die Hinweise auf Verhaftungen von Juden bzw. Maßnahmen der Behörden, wie etwa eine Durchsuchung einer jüdischen Wohnung oder des Ghettos insgesamt. Umgekehrt hebt die Chronik eben dies besonders hervor, schweigt aber wiederum dazu, dass etwa die Bauern jüdische Landhäuser zerstörten und dass deutliche Truppenverstärkungen von außen herbeigerufen werden mussten, was AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Ebd. Ebd.
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für die Schwere der Unruhen spricht. Auch differiert verständlicherweise die Bewertung des Militäreinsatzes zum Schutz der Juden, der von jüdischer Seite positiv dargestellt wird, während die Chronik sehr deutlich den Unmut der Menge über das harte Vorgehen der Truppen schildert und auf deren Überzeugung verweist, die Juden hätten sich Schutz durch ihren Reichtum erkauft. Uneinigkeit herrscht zwischen beiden Quellen auch hinsichtlich der Frage nach dem christlich-jüdischen Verhältnis vor und nach den Unruhen. Während die Chronik am Ende von der Wiederherstellung der vor den Unruhen harmonischen Beziehungen zwischen Christen und Juden spricht, die allein durch eine Reihe jüdischer Provokationen unterbrochen worden sei, zeichnet die AZJ ein anderes Bild, indem sie den bestehenden Hass der Christen auf die wohlhabenden und sich wenig assimilationswillig zeigenden Juden hervorhebt und auch ein nach dem Ende der Gewalt weiterhin gestörtes Verhältnis wahrnimmt, da etwa die Verurteilung von christlichen Tumultuanten Unmut unter den Christen hervorrief, während eine strenge Bestrafung den Interessen der Juden im Sinne einer Gewaltprävention entsprach. – Da wir über keine weiteren Quellen verfügen, lässt sich nicht feststellen, welche Darstellung der Unruhen den tatsächlichen Verlauf genauer wiedergibt. In diesem Fall wird das Quellenproblem besonders evident, da die verfügbaren Quellen eindeutig parteiisch sind und entsprechend selektiv über die Vorgänge berichten, so dass die Schuld an den Ausschreitungen jeweils der Gegenseite zugeschrieben wird und die eigene Seite belastende Ereignisse nicht berichtet werden. Religionstumulte in Ländern des Deutschen Bundes - In den er Jahren kam es nach den Vorgängen am Niederrhein auch an einigen anderen Orten im Deutschen Bund, wie dem westfälischen Geseke () und dem rheinischen Blatzheim (), zu »Religionstumulten« zwischen Christen und Juden, die allerdings nicht durch Ritualmordgerüchte ausgelöst wurden.36 Die Unruhen in Geseke im Mai wiederholten sich über Monate und dauerten bis in den November an.37 Hintergrund war, dass der Siebte Rheinische Provinziallandtag die Gleichstellung der Juden verlangt hatte, was zwar vom preußischen König abgelehnt worden war, aber doch Emanzipationsgegner auf den Plan gerufen hatte. In Minden etwa versuchte der judenfeindliche Militärauditor Eugen Heinrich Marcard,38 der später Abgeordneter im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag wurde, mit antisemitischen Hetzschriften und einer gemeinsam mit dem Hauptmann von Scheele initiierten Unterschriftensammlung gegen die Emanzipation der Juden kleinbäuerliche und kleinbürgerliche Kreise aufzuwie Vgl. dazu im Folgenden Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. -. Diese Vorgänge hat Else Lasker-Schüler in dem Theaterstück Artur Anonymus, die Geschichte meines Vaters als Vorlage genommen. Werner Bergmann, Heinrich Eugen Marcard, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. /, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -.
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geln.39 Über den in Flugblättern verbreiteten Vorwurf der Hostienschändung versuchte Marcard einen Religionstumult zu erzeugen, der zwar für Unruhe in der »ungebildeten Klasse der Bevölkerung« und zu schweren Beleidigungen von Juden führte, ohne allerdings in Gewaltaktionen zu münden.40 Im Minden benachbarten Geseke bildeten die Auseinandersetzungen um die gegen den Willen der Eltern erfolgte Konversion eines jüdischen Jungen zum Katholizismus den Kern des Konflikts, da die Eltern versuchten, ihren Sohn zurückzubekommen. Als der Junge aus Geseke verschwand, kam das Gerücht auf, er sei nach Berlin zu polnischen Juden gebracht worden, um ihn zum Judentum zurückzubringen. Dieses Gerücht zusammen mit einem anonymen antichristlichen Schmähbrief an den Pfarrer von Geseke, den man dort den Juden zuschrieb, verstärkte die Erregung weiter.41 Obwohl die Geseker Juden eine Belohnung für die Enthüllung des anonymen Briefschreibers aussetzten, kam es am . Mai zu ersten Steinwürfen zunächst gegen das Haus des Vaters des Konvertiten und eines anderen Juden, am nächsten Abend wurden dann zunächst »Hepp, Hepp, Jude verreck !«-Rufe laut und später sämtliche jüdischen Häuser mit Ausnahme der Synagoge und des Lehrerhauses attackiert, Türen und Fenster eingeschlagen und Waren und Möbel zerstört.42 Es kam aber nicht zu Übergriffen auf Personen und nicht zu Plünderungen. Der Bericht in der Allgemeinen Preußischen Zeitung betonte, dass während des anderthalbstündigen Krawalls nur ein Gendarm und zwei Sergeanten anwesend waren, aber weder Polizei noch Mitglieder des Magistrats vor Ort gewesen seien. Als schließlich zwei Mitglieder des Letzteren erschienen, zogen sich die Tumultuanten zurück.43
Margit Naarmann, Die Paderborner Juden -. Emanzipation, Integration, Vernichtung, Paderborn , S. . Naarmann hebt die Resonanz hervor, die Marcards Schriften bei Rittergutsbesitzern und bei der judenfeindlichen protestantischen Geistlichkeit Mindens, die in Opposition zur judenfreundlichen katholischen Geistlichkeit des Rheinlands standen, gefunden hätten (ebd.). Hier gibt es einen Dissens in der Darstellung von Rohrbacher (Gewalt im Biedermeier, S. ) und Naarmann (Die Paderborner Juden, S. ): Während Letztere, gestützt auf Arno Herzig, von Ausschreitungen spricht, bestreitet Rohrbacher, dass es gewalthafte Übergriffe gegeben habe. Bei Naarmann ist ein antijüdisches Flugblatt abgedruckt, in dem der Vorwurf erhoben wird, die Juden verspotteten die Hostie (S. ). Sowohl der Bericht der Magdeburger Zeitung vom . Mai über die Geseker Vorfälle wie auch der Bericht der zuständigen Regierung in Arnsberg üben heftige Kritik an der Proselytenmacherei der katholischen Geistlichkeit, die zudem den Hass und den Fanatismus nicht besänftigt, sondern sogar angestiftet habe. Zit. nach AZJ. Jg. , Heft , vom .., S. f., u. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Die Magdeburger Zeitung forderte sogar, dass gegen diese Geistlichen ebenfalls eingeschritten werde. Der Orient, Nr. , .. , S. , schreibt, dass am Abend des . Mai »zwischen - Uhr Abends alle Judenhäuser bis auf eines, worin eine Wöchnerin lag, demolirt« wurden. Der Grund sei gewesen, dass man glaubte, ein Schmähbrief, den der Geistliche von Paderborn empfangen hatte, sei von den Geseker Juden geschrieben worden. Zit nach dem Wiederabdruck in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. f.
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Einen Abend später fielen die christlichen Bewohner des Nachbardorfes Störmede, aber wohl mit tätiger Mithilfe von Gesekern, über die dort lebenden drei jüdischen Familien her, wobei es anders als in Geseke sogar zu schweren körperlichen Misshandlungen und zu Zerstörungen und Plünderungen kam. Es gab offenbar auch Gerüchte, dass an anderen Orten der Umgebung, etwa in Paderborn, Aktionen gegen die Juden geplant seien.44 Die Übergriffe hörten auch danach in Geseke nicht auf, es kam im folgenden halben Jahr immer wieder zu kleineren nächtlichen Angriffen, so dass die Behörden alle öffentlichen Festlichkeiten für verboten. Der Vater des konvertierten Jungen ließ diesen schließlich zurückholen und willigte ein, ihn auf ein katholisches Gymnasium zu schicken. Dennoch sah sich die Familie bis Januar immer wieder Anfeindungen ausgesetzt und übersiedelte schließlich nach Gütersloh. Die Untersuchung und Bestrafung der Täter gestaltete sich schwierig, da »an dem Exzeß Hunderte von Einwohnern Theil genommen« hatten und belastende Zeugenaussagen typischerweise kaum zu bekommen waren.45 Dies deutet auf eine große Unterstützung und judenfeindliche Haltung der Bevölkerung hin. Dennoch wurden insgesamt zwanzig Personen aus Geseke und Störmede angeklagt, neun von ihnen bekamen strenge Zuchthausstrafen von zwei bzw. drei Jahren.46 Diese antijüdischen Ausschreitungen in Westfalen führten auch zu einer Reaktion seitens des preußischen Kultusministeriums, das als Ursache dieser Vorfälle zwar auch soziale und wirtschaftliche Motive annahm, aber den religiösen Judenhass, noch geschürt durch die Geistlichkeit, als primär ansah. Entsprechend forderte der preußische Kultusminister Karl Friedrich von Eichhorn (-) alle Bischöfe und Superintendenten auf, über den Klerus auf die »gereizte Stimmung« in den Gemeinden einzuwirken, was diese offenbar auch taten.47 In der jüdischen Zeitung Der Orient wurden zwei eher als gegensätzlich einzuschätzende Motive genannt: Einerseits wurde ein religiöser Fanatismus der Katholiken gegen die protestantische preußische Regierung angenommen, andererseits wurde den Gebildeten unterstellt, die Abneigung gegen die Juden nur zu nutzen, um ihre eigentlichen, nämlich revolutionären Ziele zu verdecken. Der Verfasser will hier sogar eine Parallele zum Wartburgfest von erkennen, wo die demagogischen Umtriebe ebenfalls mit einem »Hep-Hep«-Geschrei begonnen hätten.48 Naarmann, Die Paderborner Juden, S. . Der Bürgermeister von Geseke warnte aufgrund dieser Gerüchte Ende Mai den Paderborner Stadtdirektor, der daraufhin die Polizei zu besonderer Wachsamkeit anhielt, Patrouillen durchführen ließ und die Bürgerwehr in Bereitschaft hielt. Außer einigen »Hep-Hep«-Rufen von Gymnasiasten blieb es aber in Paderborn ruhig. Bericht der Regierung von Arnsberg, Abt. des Innern, vom . Juni , zit. nach Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Naarmann, Die Paderborner Juden, S. . Ebd., Dort wird der Minister wie folgt zitiert: In Westfalen hätten ein »eigentümliches Verhältnis des bürgerlichen Verkehrs der Juden zu der ärmeren christlichen Bevölkerung«, ein »nicht zu unterschätzender Eigennutz« der Juden und ein »übersteigertes religiöses Bewusstsein« die feindliche Stimmung hervorgerufen. Der Orient (Nr. , ..) macht für die Übergriffe in Geseke einen »unversöhnlichen
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Für Stefan Rohrbacher weisen die Ereignisse in Blatzheim von auf einen ähnlichen sozial-konfessionellen Hintergrund hin: Es handelt sich in beiden Fällen um ein katholisch geprägtes bäuerliches Milieu, und in beiden Fällen wird die judenfeindliche Haltung vom Klerus unterstützt, im Fall Blatzheims sogar ausgelöst.49 Ein an sich harmloser Vorgang löste über Gerüchte verstärkt eine Pogromstimmung aus. Der Sohn des jüdischen Einwohners Abraham Kaufmann lieh ein Buch von Heinrich Heine an einen christlichen Bekannten aus, in dem letzterer Schmähungen des Christentums entdecken wollte und mit dem Buch zum Priester ging. Die daraufhin einsetzenden Gerüchte, der jüdische Junge habe noch weitere antichristliche Bücher in Umlauf gebracht oder gar selbst verfasst, wurde vom katholischen Ortsgeistlichen auch noch von der Kanzel bestärkt, so dass es in der Nacht zum . März zu Zusammenrottungen, zum Singen von »gemeinsten Schimpfliedern« und Steinwürfen junger Leute gegen das Haus der jüdischen Familie kam. Dies wiederholte sich am . April, wo die Menge zunächst vom Polizeidiener vertrieben werden konnte, aber in der Nacht wiederkam, um zu toben und Steine gegen das Haus zu werfen. Dies wiederholte sich an weiteren Tagen, konnte aber von der Polizei jeweils schnell unterbunden werden. Abraham Kaufmann versuchte diese Ereignisse herunterzuspielen und betonte vor allem, dass der katholische Pfarrer die Tumulte gerügt hätte, nachdem er über den wahren Sachverhalt aufgeklärt worden sei, dass aber einige Anstifter aus Geschäftsneid und Judenhass den Pöbel für die Tumulte »bezahlt und zu seinen Unruhen förmlich angeleitet« hätten. Er hebt auch hervor, dass die Tumultuanten zum Teil bereits abgeurteilt, teils noch in ein Untersuchungsverfahren verwickelt seien.50 Auch in diesem Fall verließ die jüdische Familie wegen der fortdauernden Anfeindungen schließlich den Ort.51 Auch wenn Abraham Kaufmann in Blatzheim die guten Beziehungen zu seinen christlichen Nachbarn herausstrich, so machen diese Vorfälle doch deutlich, dass Katholizismus« verantwortlich, der sich »gegen die evangelische Regierung in Feindschaft verbunden« habe. Die Zeitung deutet mit Blick auf weitere antijüdische Unruhen in Breslau und Prag an, dass sich »die politische Unbehaglichkeit in der Abneigung gegen die Juden ihren öffentlichen Ausdruck« suche, um so, die Schwäche der Regierung benutzend, unter falscher Maske die Gemüther besser aufzuregen; denn hier, wie allenthalben, ist es der gebildetere Theil, der die Maske des Judenhasses führt, um das revolutionäre Treiben zu verdecken.« Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ff.; auch Gailus, Straße und Brot, S. ; beide Darstellungen folgen der Schilderung der Ereignisse durch den betroffenen Abraham Kaufmann in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums (Jg. , Heft , .., S. f.), in der dieser den Bericht der B. Z. als irreführende und maßlose Übertreibung zurückweist. AZJ, Jg. , Heft , .. , S. . Vgl. die in der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) von der B. Z. übernommene Nachricht: »Der Sohn eines zu Blatzheim wohnenden Israeliten soll gegen die katholische Religion geschrieben haben, und für diesen Frevel hat sein Vater büßen müssen; ein fanatisch angeregter Volkshaufe hat sein Haus gänzlich zerstört, und die Einwohner von Blatzheim sind so erbittert, daß sie ferner die Anwesenheit des alten Israeliten in dem Orte nicht dulden wollten. Die gerichtliche Untersuchung ist eingeleitet.«
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religiöse Vorbehalte und ökonomische Konkurrenz ein leicht entflammbares Gemisch vor allem in stark religiös geprägten ländlichen Gebieten darstellten, wobei offenbar die katholische Geistlichkeit eine aktive Rolle spielte.52 Dabei ist Stefan Rohrbacher Recht zu geben, dass man nicht reduktionistisch verfahren und die religiösen Anlässe nur als Vorwand für dahinter liegende ökonomische Motive ansehen sollte. In Geseke war der religiöse Streit um den Proselyten ausschlaggebend, wobei dann, wie im benachbarten Störmede, schnell ökonomische Motive vorrangig werden konnten, wie dies offenbar in Blatzheim von Beginn an der Fall war. Man muss ja auch keineswegs, wie die recht breite Beteiligung der Bevölkerung belegt, von einer einheitlichen Motivlage unter den Tumultuanten ausgehen. Arbeitskämpfe und antijüdische Ausschreitungen in Breslau und Prag Zu sozialen Unruhen kam es im Juni im Zuge des schlesischen Weberaufstandes, der sich gegen die christlichen Fabrikbesitzer richtete. In Breslau ereigneten sich jedoch in der Nacht vom . auf den . Juni antijüdische Unruhen, als sich beim Auszug des Militärs gegen die rebellierenden Weber im Riesengebirge in der Unterschicht Unruhe breitmachte, die aber durch Militär und Polizei in Schach gehalten werden konnte. Der Bericht des Orient sieht die Juden nun als ein Ersatzopfer angesichts der Ohnmacht der Menge gegenüber der Polizei.53 Um ihre Aufregung loszuwerden, wendete man sich gegen die auch vom Staat weniger streng geschützten Juden, »gegen welche durch die Aktienkrise einige Erbitterung geherrscht hatte«. Eine Menschenmenge marschierte in der Nacht mit Geschrei und Steinwürfen durch das schlafende, zumeist von Juden bewohnte Viertel. Zu größeren Ausschreitungen kam es aber erst am Abend des folgenden Tages, als eine große Menschenmenge (»schwarze dichte Volksmasse«) nochmals durch die zumeist von Juden bewohnten Straßen zog und unter Hohngeschrei die Häuser von Juden mit Steinen bewarf und demolierte. Dem Militär gelang es nur mit Mühe, die Gewalt zu beenden. Für den nächsten Tag wurden Proklamationen angeschlagen, die die Bevölkerung vor weiterer Gewalt warnten, und Militär wurde in den bedrohten Straßen postiert.54 Obwohl die Menge nach der Beschreibung aus Angehörigen der Unterschichten bestand, stellte der Bericht die Exzesse als »von einer Klasse des Volkes diktiert« dar, »welche die Intelligenz und die Humanität zu vertreten und zu be Die Berichte der Magdeburger Zeitung und der Allgemeinen Preußischen Zeitung (beide in der AZJ abgedruckt: Jg. , Heft , .. , S. ff.) über Geseke und Störmede zeigen das Unverständnis gegenüber dem religiösen Fanatismus und der Gewalt, die sie an die finstere Zeit des Mittelalters erinnern. Der Orient, Nr. , .., S. f. Siehe dazu den kurzen Eintrag in F. G. Adolf Weiß, Chronik der Stadt Breslau, S. . Der Orient unterstellt hier, dass der Schutz auch deshalb so massiv ausfiel, weil in den bedrohten Straßen auch Christen wohnten, deren Häuser ebenfalls Schaden gelitten hatten. Der Verfasser des Artikels sieht in der Auflösung der Ghettos den Vorteil, dass nun auch Christen in der jüdischen Nachbarschaft zum »Mitleiden genöthigt sind, für den Schutz der Juden etwas zu tun« (ebd.).
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wahren zur Lebensaufgabe hat«. Die Rädelsführer seien Studenten gewesen, die als romantische, deutschtümelnde Schwärmer hingestellt wurden. Ihren Patriotismus hätten sie durch das Steinewerfen gegen jüdische Häuser beweisen wollen.55 Diese Interpretation scheint jedoch vor dem politischen und ökonomischen Hintergrund der Weberunruhen und angesichts der Beschreibung der Volksmenge als nicht sehr plausibel. Von jüdischer Seite wird häufig eine Drahtzieher-Theorie bemüht, die hinter den randalierenden Unterschichten Rädelsführer aus den gebildeten Schichten ausmachen möchte. Dies dürfte in diesem Fall ebenso wenig zutreffen wie bei den Hep-Hep-Unruhen, die gern als Parallele herangezogen wurden. Wir haben es hier mit einem der nicht seltenen Fälle zu tun, wo ausgebremste Gewaltaktionen einer Menschenmenge, in diesem Fall ein sozialer Protest der Weber gegen die Fabrikanten, sich in den Juden ein Ersatzobjekt gesucht hat. Ob diese Ausrichtung auf ein neues Ziel durch »nationale Studenten« oder aus der Menge heraus geschah, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Die sich im Juni in Prag ereignenden Ausschreitungen haben ebenfalls einen Arbeitskonflikt mit anschließender Maschinenstürmerei als Ausgangspunkt.56 Hintergrund der Unzufriedenheit war eine Wirtschaftskrise im österreichischen Teil des Habsburgerreiches, die nach Auffassung Christoph Stölzls besonders Böhmen und seine Textilindustrie traf, der die Fabrikanten durch erhöhten Lohndruck begegneten, während aufgrund von Missernten / die Lebensmittelpreise in Prag um ein Drittel anstiegen.57 Diese Krise habe die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft verschlechtert und zu einer sozialrevolutionären Stimmung geführt, die sich dann gerade gegen die jüdischen Unternehmer entlud, da diese in der böhmischen Textilindustrie, vor allem in Prag, eine Monopolstellung besaßen und man deren kommerzielle und industrielle Verdienste in der die Emanzipation befürwortenden Literatur breit herausgestellt hatte. Nach Stölzl sei damit die Vorstellung entstanden, dass Industrie und Ausbeutung in Böhmen eine Angelegenheit der Juden seien, was Ebd., S. . Somit trifft die in der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) geäußerte Bemerkung, dass sich seit dem Damaskus-Prozess, in dem es um einen vermeintlichen Ritualmord ging und der europaweit für Aufregung gesorgt hatte, die Volksstimmung geändert habe und es deshalb vielerorts zu Ritualmordbeschuldigungen (Rhodos, Marmora, Tarnow) bzw. zu antijüdischen Ausschreitungen (Karlsruhe, Geseke, Prag) gekommen sei, für die Prager Unruhen nicht zu, da hier keinerlei religiöser Hintergrund bestand. Vielmehr ist eher ein Zusammenhang, wenn auch nicht organisatorischer Art, mit dem benachbarten schlesischen Weberaufstand gegeben. Vgl. Eberhard Wolfgramm, Der böhmische Vormärz, im Besonderen die böhmischen Arbeiterunruhen des Jahres in ihren sozialen und politischen Zusammenhängen, in: Karl Obermann/Josef Polišenský (Hrsg.), Aus Jahren deutsch-tschechoslowakischer Geschichte, Berlin (Ost) , S. -, hier S. . Der Orient (Nr. , .., S. ) schreibt dazu: »Unsere adligen Juden sind von der Arbeiterklasse hart mitgenommen worden. Doch hat der Aufstand mehr den Fabrikherrn, als den Juden sammt [sic] Adelsdiplom gegolten«. Christoph Stölzl, Zur Geschichte der böhmischen Juden in der Epoche des modernen Nationalismus I, in: Bohemia, Bd. , , S. -, und Bd. , , Teil II, S. -, hier Teil , S. ff.
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sich dann noch mit dem alten »Wucher-Stereotyp« verbunden habe. Die wesentliche Trägerschicht des Antisemitismus war in Prag jedoch nicht die Arbeiterschaft, sondern das Kleinbürgertum, da die Handwerker und kleinen Gewerbetreibenden in den jüdischen Fabrikgründungen sowie in jüdischen Kaufleuten die Ursache ihres Niedergangs sahen, zumal Letztere ihre Geschäfte in Prag zunehmend auch außerhalb der Judenstadt betrieben. Da die Bedingungen für eine klare Einsicht in die objektiven Ursachen der Wirtschaftskrise ebenso wenig vorhanden waren wie eine sozialpolitische Milderung der »manchesterlichen Praktiken der Unternehmer« seitens des Staates, richtete sich die sozialrevolutionäre Stimmung im Zusammenspiel mit der verbreiteten Judenfeindschaft, wobei Ersterer wohl die mobilisierende Rolle zukam, gegen die jüdischen Kattunfabrikanten Prags. Die Fabrikarbeiter in den Baumwollfabriken forderten höhere Löhne und lehnten sich gegen die Einführung von Druckmaschinen auf, da sie befürchteten, diese würden viele der Drucker arbeitslos machen. Die Träger des Protests, die Drucker, stellten nach Stölzl eine gewerkschaftlich-berufsständisch gut organisierte Arbeiteraristokratie dar.58 Streitigkeiten über die Höhe der Löhne und Drohungen der Arbeiter, die Druckmaschinen zu zerstören, führten dazu, dass Fabrikbesitzer die Wortführer der Drucker am . Juni arretieren ließen, was die Fabrikarbeiter noch mehr erbitterte und ein starkes Motiv bildete, zu kollektiver Gewalt zu greifen.59 Am folgenden Tag, dem . Juni, drangen die Arbeiter mit Gewalt auf die Befreiung der Verhafteten und begannen die Maschinen der Kattunfabrik der Gebrüder Porges zu zerstören, was mit einem Einsatz von Militär beendet wurde. Die Arbeiter zogen nun aber von Fabrik zu Fabrik, wobei sich ihnen immer mehr Kollegen anschlossen, so dass die Menge schließlich bis an . Mann anwachsen sollte. Diese begann nun auch die neuen Maschinen in den Fabriken der jüdischen Inhaber Brandeis, Dormizer, Schick und Epstein zu zerstören, Personen wurden nicht angegriffen.60 Ferdinand Stölzl, Geschichte der böhmischen Juden, S. f. Diese Fabrikarbeiter, Drucker und Färber stellten nach Eberhard Wolfgramm »vielleicht den unruhigsten Teil der Bevölkerung dar« (Der böhmische Vormärz, S. -). In dieser marxistischen Sichtweise tritt die antijüdische Zielrichtung der Unruhen ganz hinter den politisch-sozialen Ursachen und Zielen zurück. Nach einem Bericht der Königsberger Allgemeinen Zeitung (abgedruckt in: Der Orient, Heft , .., S. ) seien die Drucker ohne jede Veranlassung ins Büro der Fabrikherren eingedrungen, obwohl diese bereits sehr hohe Löhne zahlten und auch trotz der neuen Maschinen weitere Arbeiter eingestellt hätten. Deshalb hätten die Brüder Porges vermutet, dass hinter diesen Forderungen andere Motive steckten. Dies sei der Grund für die Anzeige gewesen, die zur Verhaftung einiger Arbeiter geführt hatte. Ferdinand Schirnding, Das Judenthum in Oesterreich und die böhmischen Unruhen, Leipzig , S. ; Der Orient (Heft , .., S. -) druckte den in der Königsberger Allgemeinen Zeitung veröffentlichen Bericht eines Prager Korrespondenten ab, in dem dieser zwar die Ausschreitungen verurteilte, aber auch das Verhalten der jüdischen Fabrikbesitzer kritisierte. Er war der Meinung, dass gerade diese als Israeliten, die bei den unteren Schichten der Bevölkerung wenig beliebt seien, sich zu bemühen hätten, die Lage der Arbeiter zu verbessern. Die sehr detaillierte zeitgenössische Darstellung von Schirnding sah die Sache mit deutlich antijüdischer Tendenz ähnlich. Schirnding bestritt ausdrück-
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Schirnding betont, dass es sich um einen geregelten Arbeiteraufstand gehandelt habe, der überall »ohne Exzesse« und »unnötige Demolirungen« und »ohne Tätlichkeiten gegen die Person der Eigenthümer« abgelaufen sei.61 Das mobilisierte Militär sei zunächst meist zu spät eingetroffen, um die Zerstörung der Maschinen zu verhindern. Am folgenden Tag versammelten sich die Arbeiter, um ihre Klage dem Erzherzog Stephan, der als Landeschef von Böhmen im Schloss Baumgarten residierte, zu unterbreiten, was dafür spricht, dass ein ökonomisches Anliegen und nicht Judenfeindschaft das primäre Motiv bildete. Der Erzherzog zog sich aber in die Stadt zurück und ließ den Volkshaufen umzingeln. Den Arbeitern wurde mitgeteilt, sie sollten ihre Klagen durch eine Deputation vortragen, woraufhin sich die Menge friedlich auflöste.62 Am nächsten Tage wurde in Prag eine Proklamation angeschlagen, die den Urhebern der Unruhen mit Strafe drohte, ebenso allen, die sich nicht wieder an ihre Arbeit begeben würden. Diese Drohung verfehlte jedoch ihre Wirkung, da sich kein Arbeiter in die vom Militär besetzten Fabriken begab. Man versammelte sich vielmehr am . Juni und marschierte trotz eines großen Militäraufgebots in die Stadt, um sich vor dem Gefängnis, wo Kollegen inhaftiert worden waren, zu versammeln. Das Militär konnte die Zusammenrottung aber schnell auflösen. Erst am Nachmittag dieses . Juni begannen die Übergriffe auf jüdische Läden und die Belästigung von Juden vor allem, wie Schirnding schreibt, von einer Masse von »Gassenjungen, Lehrburschen und Leuten aus der untersten Klasse«.63 Es scheint also so, dass hier nicht die organisierte Arbeiterschaft ihren Protest gegen ein neues Ziel richtete, sondern dass es sich bei diesen Angriffen auf jüdische Läden um »Trittbrettfahrer« aus einer anderen, leicht mobilisierbaren Bevölkerungsschicht handelte, während die Fabrikarbeiter ihre Interessen mit ihrer Petition ohne Gewalt zu vertreten suchten.64 Trotz weiterer Proklamationen mit noch schärferen Strafandrohungen und Militärpräsenz in der Stadt wiederholten
lich, dass es sich um »slavische, czechische« oder »kommunistische Tendenzen« gehandelt habe, sondern behauptete, dass sie allein durch den Widerstand der Arbeiter gegen das Judentum und dem Druck, den dasselbe auf die arbeitende Klasse ausübte, motiviert gewesen seien (Das Judenthum in Oesterreich, S. ). Schirnding sah im Ausbruch der Unruhen in der Fabrik der Brüder Porges keinen Zufall, sondern diese hätten ihre Arbeiter besonders stark gedrückt, Drucker entlassen und die Löhne gesenkt (ebd., S. – siehe die genaue gegenteilige Darstellung in FN ). Als rühmliche Ausnahme erwähnt er einen Fabrikanten (Przybram), dessen Arbeiter sich den von Fabrik zu Fabrik ziehenden Tumultuanten widersetzten. Schirnding, Das Judenthum in Oesterreich, S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Dies sah auch die AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) so, die ihren Lesern riet, nicht zu glauben, dass die Prager Arbeiterunruhen zunächst gegen die Juden gerichtet gewesen seien. Das Übel liege tiefer und man habe die allgemeinere Stoßrichtung nur unter der »Maske des alten Religionshasses« verborgen. Die Gewalt richte sich gegen jüdische Fabrikanten, weil sie in Prag viele Fabriken besäßen, und weil es Pöbelexzesse seien, würde der Pöbel seine Wut auch gegen Juden richten, die keine Fabrikanten seien, da bei Gewalt gegen Juden geringere Bestrafung unterstellt werde.
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sich diese Übergriffe, die sich vor allem gegen die Juden, aber auch gegen das Militär richteten, noch bis zum . Juni. An diesem Tag versammelten sich die Drucker erneut, um den Bescheid auf die eingereichte Klageschrift abzuwarten. Sie wurden dabei jedoch festgenommen und abgeführt, was Proteste in der Bevölkerung auslöste. In der Stadt sollte über die Bestrafung der Gefangenen entschieden werden. Nach Schirnding überzeugten jedoch die vorgebrachten Beschwerden der Drucker über die unerträglichen Arbeitsbedingungen und die zu niedrige Bezahlung die Behörden, die sie letztlich straffrei ausgehen ließen. Am . Juni nahmen die Arbeiter ihre Tätigkeit wieder auf. Ob diese Unruhen sich allein gegen Juden oder ob sie sich nur unter anderem gegen jüdische Fabrikanten richteten, darüber gingen die Meinungen in der Presse auseinander. Richteten sich die Angriffe also zunächst gegen Maschinen und »die Reichen«, so war mit der Religionszugehörigkeit der Besitzer offenbar ein Nexus gegeben, den Unmut nun gegen alle Juden zu richten.65 Zu den unzufriedenen Fabrikarbeitern hatte sich laut Orient »ein Troß der niedersten Volkshefe« gesellt und dieser hätte dann, aufgestachelt durch »geschäftige Hetzer«, vorbeigehende Juden verbal und physisch attackiert. Auch nach Stölzl war »der Widerhall des Maschinensturms in der Präger Bevölkerung gewaltig; die Sympathien der Unterschichten waren auf Seiten der Drucker«.66 Zu ihnen gesellte sich schnell das Prager Kleinbürgertum mit seinem ausgeprägten Judenhass, der sie wenig später zu einer gegen die jüdische Konkurrenz gerichteten Petition veranlasste (s. u.). Der Orient beschuldigte deshalb die Bürger, die Wut mit Verwünschungen und Schmähungen gegen Juden angestachelt zu haben. Während man der »Volksmasse« mangelnde Bildung und Gesittung vorwarf und sie als letztlich »willenlosen Volkshaufen« hinstellte, wofür man den Staat verantwortlich machte, beschuldigte die Zeitung »Gebildete und Gelehrte«, die in »der Judenhass-Tragödie Hauptrollen« übernommen hätten und die anders als der von Hunger, Not, Raublust und Habsucht getriebene Volkshaufe für ihre Handlungen verantwortlich seien.67 Ihnen wurden als Motive für ihre Handlungen Neid, Eifersucht, Missgunst und raffinierter Judenhass vorgeworfen. Man sah als letzte Ursache dafür die bisher ausgebliebene Emanzipation der Juden und Christen. Es blieb jedoch bei vereinzelten Drohungen, Übergriffen und Steinwürfen. Die Zeitung schätzte aber die Lage rückblickend so ein, dass man Der Orient, Heft , .., S. ff. In Deutschland sahen Beobachter die Prager Unruhen als »Seitenstück zu den schlesischen [Weber- W. B.] Aufständen«, wobei man den judenfeindlichen Ausschreitungen, wie sie ähnlich auch in anderen Gegenden Deutschlands aufgetreten waren, keine religiöse oder antisemitische Tendenz zuschrieb (vgl., Wolfgramm, Der böhmische Vormärz, S. – er zitiert Theodor Oelckers, Politisches Rundgemälde oder kleine Chronik des Jahres – Für Leser aus allen Ständen, welche auf die Ereignisse der Zeit achten, Leipzig ). In einem zeitgenössischen sächsischen Gendarmeriebericht heißt es dazu: »Der Krieg gegen die Juden scheint eine Nebensache zu sein, obwohl man solche benutzt, die ausgebrochenen Spuren der Unzufriedenheit dadurch zu rechtfertigen« (zit. bei Wolfgramm, ebd., S. ). Stölzl, Geschichte der böhmischen Juden, S. f. Der Orient, Heft , .., S. .
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»am Vorabend einer Judenverfolgung« gestanden habe. Die Behörden schritten jedoch rechtzeitig ein, so dass eine Eskalation der Feindseligkeiten verhindert werden konnte.68 Der Orient betonte die Enttäuschung auf Seiten der Juden Prags und riet den »reichen Juden«, die Stadt zu verlassen, da es dem Staat nicht gleichgültig sein dürfte, »wenn Millionen und die mächtigsten Hebel der Industrie ihm den Rücken kehren«.69 Immer wieder findet sich in den Pogromberichten der Topos von den gebildeten Agitatoren und Drahtziehern, während den Unterschichten, die gewöhnlich das Gros der Täter stellen, kein eigener Wille zugestanden wird, sie vielmehr nur zu Ausführenden fremder Interessen gemacht werden. Zwar ist es sicher richtig, dass die Verbreitung antisemitischer Schriften durch den höher Gebildeten geschieht, doch führt kein direkter Weg von dieser Propaganda zur kollektiven Gewalt, bei der die scheinbar willenlosen Unterschichtsangehörigen durchaus eigene Interessen verfolgen, z. B. zu plündern und eine Minderheit in ihre Schranken zu weisen. Der Verweis auf Anstiftung oder sogar auf eine angebotene Belohnung wurde von verhafteten Tumultuanten immer wieder vorgebracht, da er ein probates Mittel war, den eigenen Tatwillen herunterzuspielen und sich eine mildere Bestrafung zu sichern (siehe FN ). Prag kam aber auch nach dem Ende der Fabrikunruhen nicht zur Ruhe.70 Wir haben hier den Fall, dass sozial motivierte Streikunruhen sich eng mit einer Judenfeindschaft verbanden, die auf die Rücknahme der durch die Emanzipation erreichten Statusgewinne der Juden zielte. Die Arbeiterunruhen sorgten für die Mobilisierung größerer Menschenmengen, die neben Fabriken, die oft jüdische Besitzer hatten, in den Juden leicht ein neues Ziel fanden. So sammelte sich Anfang August eine Menschenmenge am Eingang der Judenstadt, wo sich vor allem wohlhabende Juden angesiedelt hatten, und warf ihnen die Fensterscheiben ein, woraufhin die Polizei Verhaftungen vornahm.71 Am . Juli gab es in der Umgebung von Prag (Prager Vorstadt Karolinental) weitere Tumulte, als sich - Eisenbahnarbeiter Ebd., S. . Die Zeitung hatte schon im Heft vom .., S. , den gebildeten Tschechen vorgeworfen, ihnen sei angesichts der Auflehnung der Fabrikarbeiter gegen ihre Fabrikherren nichts Besseres eingefallen, als die Juden kollektiv des Betruges zu beschuldigen und ihren »rohen Judenhass unverhohlen an den Tag zu legen«. Die Prager Bürger hätten ihren »Separationsgeist« schon bewiesen, als sie die Juden vom Fackelzug zu Ehren des Erzherzogs Stephan ausgeschlossen hätten. Der Orient, Heft , .., S. . Der Orient (Heft , .., S. ) schrieb, dass die Gärung noch nicht ganz vorüber sei und »das Meer der Volksaufregung […] noch keineswegs seine Spiegelglätte wiedererlangt« habe. Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts, Heft , .., S. . Der Orient (Heft , .., S. ) schrieb dazu, dass einige Tumultuanten, die den Laden eines jüdischen Inhabers in der Christenstadt attackiert hatten, im Verhör ausgesagt hätten, dass ihnen christliche Kaufleute Geld dafür bezahlt hätten. »Einige Juden wohnen außerhalb der Judenstadt; diese müssen für ihre Kühnheit büßen: man bestürmt ihre Wohnungen !«
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versammelten und mit Stöcken und Stangen bewaffnet Richtung Prag zogen, wo es am Stadttor zu Tätlichkeiten gegen das dort zusammengezogene Militär kam. Die Soldaten machten von der Schusswaffe Gebrauch, und es gab sieben Tote unter den Tumultuanten. Obwohl Juden nach Schirnding in diesem Fall nichts mit der Lage der Eisenbahnarbeiter zu tun hatten, waren diese Unruhen Anlass zur einer »förmlichen Judenhetze«, bei der nicht nur »gemeine Schacherjuden« attackiert wurden, sondern alle, »welche Gesicht und Sprache oder die öffentliche Meinung als Juden bezeichnete«. Auf dem Tandelmarkt in Prag wurden die jüdischen Händler angegriffen, ihre Waren verstreut, ihre Buden zertrümmert und die Fenster in den Judenquartieren eingeworfen, was dafür spricht, dass hier weniger Fabrikarbeiter als Angehörige des Gewerbestandes (meist Lehrjungen und Gesellen) am Werk waren (vgl. die Unruhen in Prag in den späteren Jahren). Erst das Militär konnte die Tumultuanten zerstreuen.72 Weitere Arbeitererhebungen gab es im nordböhmischen Textilgebiet, so in Reichenberg am . Juli, in Böhmisch-Leipa und Reichstadt am . Juli, aber auch in den deutschsprachigen Kreisen Jungbunzlau, Königgrätz und Bidžov.73 Als Ursache für die Unruhen wurde in der Agramer (politischen) Zeitung angeführt, die Arbeiter seien der irrigen Auffassung gewesen, man wolle ihnen einen Teil ihres Tageslohnes vorenthalten, so dass die Zeitung etwas »Politisches« als Ursache ausschloss. Da diese Unruhen sich aber wie auch im nordböhmischen Reichenberg (Liberece) gegen jüdische Fabrikanten richteten, sah die Zeitung keinen Zweifel, »dass überhaupt der blinde Hass gegen die Juden einen erregenden Einfluss auf die Eisenbahnarbeiter geübt habe«.74 Zur selben Zeit zirkulierte in der Stadt eine an den König gerichtete Beschwerde des Handels- und Gewerbestandes, in der harte Anschuldigungen gegen die Juden und die Behörden vorgebracht wurden. Es wurde zudem gefordert, den Juden wieder die alten Beschränkungen aufzuerlegen, Konzessionen zu widerrufen und die Juden ausschließende Bestimmungen strenger anzuwenden.75 Hier wurde der im Grunde sozial motivierte Protest der Arbeiterschaft von gewerblichen Konkurrenten der Juden geschickt genutzt, um Errungenschaften der Emanzipation wieder rückgängig zu machen. Die Fabrikunruhen in Prag fanden einige Wochen später, am . Juli , ihre Nachfolge in Reichenberg, wo Fabrikarbeiter und »arbeitslose und arbeitsscheue Menschen« vier Fabriken jüdischer Besitzer angriffen und Maschinen und Webstühle zerstörten. Weitere Übergriffe konnten durch den entschlossenen Einsatz der Reichenberger Schützencorps und auch anderer Reichenberger Bürger verhindert werden. Nachdem Militär eingetroffen war, begannen die Behörden eine Untersuchung des Falles und leiteten Strafmaßnahmen gegen Beteiligte ein.76
Schirnding, Das Judenthum in Oesterreich, S. -. Wolfgramm, Der böhmische Vormärz, S. . Agramer (politische) Zeitung vom . Juli . Ebd. Wiener Zeitung vom . Juli .
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In der Presse gab es unterschiedliche Meinungen darüber, ob der »Judenhass zum czechischen oder deutschen Elemente unserer Stadt gehört«.77 Der Orient warf den »gebildeten und gelehrten Czechen« vor, die Juden kollektiv des Betrugs zu beschuldigen und ihren Judenhass unverhohlen zu äußern. Die Zeitung verwies auf den katholischen Fanatismus und sprach von »czechisch-katholisch-fanatischen Szenen« in Prag.78 Sie brachte dies mit den »Geburtswehen der czechischen Nationalität« in Zusammenhang. Die AZJ wiederum schrieb, dass alle deutschen Zeitungen irrigerweise behaupteten »ganz Böhmen (sei) vom Judenhass entzündet«79 und einen Ausbruch »slawischen Judenhasses« sehen wollten. Ein Artikel der Königsberger Allgemeinen Zeitung wiederum fragte sich auch in Bezug auf Unruhen in anderen Gebieten (Schlesien, Geseke in Westfalen), warum »gerade jetzt dieser seditiöse Geist unter der deutschen Bevölkerung verschiedener Gebiete hervorbricht«.80 Nach Stölzl resultierte aus den Unruhen eine judenfeindliche Bewegung im Prager Kleinbürgertum, die bis anhielt. gab es eine Aktion von . Prager Handwerksmeistern, die bei den Prager Behörden radikale Forderungen zur Einschränkung des jüdischen Handels vorbrachten, ansonsten würde Prag zu einer Judenstadt werden, in der die Christen den Juden Sklavendienste leisten müssten. Dies wurde mit der Gewaltandrohung verbunden, »die Juden würden vielleicht in einigen Jahren gezwungen sein, bei Nacht und Nebel aus der Christenheit zu flüchten«.81 Die Prager jüdische Oberschicht und die Presse in Deutschland interpretierten die Geschehnisse in Prag in nationaler Perspektive und sahen darin den Ausbruch eines »slawischen Judenhasses«, obwohl nationale Motive in dieser Zeit noch keine große Bedeutung besaßen.82 Nach Stölzl spielte für diese simplifizierende Interpretation die Tatsache eine Rolle, dass im Vormärz sozialkritisches Gedankengut des frühen Sozialismus mit Antisemitismus versetzt nach Böhmen gelangte – etwa durch die in Leipzig erscheinenden Broschüren des Grafen Ferdinand Schirnding –, wodurch die sozialrevolutionäre Kritik an Industrie und Handel eine antijüdische Schlagseite erhielt. Diese Interpretationslinie wurde auch in Kreisen des Prager Bürgertums, des Kleinbürgertums und der Intelligenz vertreten.83 So waren die Jahre vor der er Revolution durch einen »praktisch-ökonomischen Antisemitismus« geprägt, befeuert durch judenfeindliche Stellungnahmen von Organisatoren der nationalen tschechischen Bewegung wie František Brauner und Václav Štulc, die die Bedeutung der Einheit der Religion für die Nation sowie die des Bauernstandes hervorhoben.84
Der Orient, Heft , .., S. . Der Orient, Heft , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Abgedruckt in: Der Orient, Heft , .., S. . Stölzl, Geschichte der böhmischen Juden, S. . »Die Petition enthielt eine komplette historische (!) Darstellung der negativen Rolle der Juden in Böhmen«. Ebd., S. f. Ebd., S. . Das Prager jüdische Großbürgertum verstand diese kritischen Hinweise und gründete einen »Verein zur Beförderung des Ackerbaus und der Handwerke unter den Israeliten Prags« (ebd., S. ).
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. Antijüdische Ausschreitungen im Kontext der er Revolution (-) Die Jahre zwischen und waren schwere Krisenjahre des Übergangs vieler europäischer Gesellschaften von korporativ-feudalen zu bürgerlich-kapitalistischen Strukturen. Man hat von einer »Modernisierungskrise« gesprochen, in der sich eine ganze Reihe von Krisenelementen überlagerten und gegenseitig verstärkten. Diese wurde auslöst durch die »Kommerzialisierung und Kapitalisierung der Landwirtschaft, den Übergang von der Heimindustrie und Manufaktur zur industriellen Produktion, den Ausbau der Verkehrsnetze, die Erschließung neuer Märkte und die ständig wachsende Bedeutung des Kapitals.«1 Verschärft wurde die Situation zusätzlich durch die durch Missernten der Jahre / ausgelösten Teuerungsund Hungerkrisen, so dass sich aus sozialer und wirtschaftlicher Not geborene revolutionäre Volksbewegungen bildeten. Ausgelöst durch die Februarrevolution in Paris erfasste die Revolution von einen großen Teil der europäischen Staaten. Von Frankreich aus breitete sie sich über die Staaten des Deutschen Bundes und der Habsburgermonarchie bis in deren südosteuropäische Territorien und die osmanischen Fürstentümer Moldau und Walachei aus, ebenso nach Italien und Dänemark. Ziel dieser Revolutionsbewegung war »die Reform der politischen und auch der gesellschaftlichen Herrschaftsverfassungen« hin zu Parlamentarisierung und Demokratisierung.2 Auch wenn diese Revolutionen in den einzelnen Ländern unterschiedlich verliefen, so zeigen sie nach Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche doch ein »gemeinsames Grundmuster«: »Denn standen alle europäischen Gesellschaften vor der Herausforderung, die politische Ordnung zu demokratisieren und die soziale Frage zu lösen«.3 Entsprechend ging es etwa für die Bauern primär um »Entfeudalisierung«, d. h. um die Ablösung herrschaftlicher Sonderechte und bäuerlicher Lasten, für die Handwerkerarbeiter ging es sozialpolitisch um das Recht auf Arbeit, für das Bürgertum vorrangig um die Liberalisierung der Verfassungen und um politische Mitwirkungsrechte. Die er Revolution war aber auch eine »Nationalrevolution«, d. h., abgesehen von Frankreich gehörte zu den Zielen der Revolutionäre auch die Begründung eigener Nationalstaaten bzw. zumindest das Erreichen des Status autonomer Nationalitäten.4 Reinhard Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen. Die Revolution von und die europäischen Juden, in: Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hrsg.), Europa . Revolution und Reform, Bonn , S. -, hier S. f. Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche, Die Revolution in Europa . Reform der Herrschafts- und Gesellschaftsordnung – Nationalrevolution – Wirkungen, in: Dowe/ Haupt/Langewiesche (Hrsg.), Europa , S. -, hier S. . Schon zuvor war es in Krakau und Galizien, zu Beginn des Jahres in Italien sowie im Sonderbundkrieg in der Schweiz zu Revolutionen gekommen, die aber keine europäische Kettenreaktion ausgelöst hatten (ebd., S. ) Ebd., S. . Ebd., S. f.
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Auch die Juden in Europa hatten spezifische Erwartungen an die Revolution von , auch wenn ihre Situation am Vorabend der Revolution sehr uneinheitlich war. Man kann nach Reinhard Rürup zwar für die Zeit seit der Französischen Revolution von »einem europäischen Zeitalter der Judenemanzipation sprechen«, doch war die Emanzipation in den einzelnen europäischen Staaten unterschiedlich weit fortgeschritten und auch in den jüdischen Lebensverhältnissen fanden sich in den er Jahren noch traditionelle Milieus neben weitgehend akkulturierten.5 Dennoch gab es seiner Auffassung nach eine Emanzipationsdiskussion über alle staatlichen Grenzen hinweg, und es war eine allgemeine, nicht nur unter Juden verbreitete Überzeugung, dass das Schicksal der Juden »an die Entwicklung der liberalen und demokratischen Bewegung gekoppelt war«.6 Entsprechend haben sich vor allem die »verbürgerlichte jüdische Jugend und die jüngeren Intelligenzler« aktiv an der Revolution beteiligt, in Deutschland taten dies einige wie Gabriel Riesser als Vizepräsident der Frankfurter Nationalversammlung und Johann Jacoby als Mitglied im Vorparlament und Fünfzigerausschuss sogar an führender Stelle.7 Für die europäischen Juden nahm die Revolution von ebenso wie ihre Vorläufer von und einen widersprüchlichen Verlauf. Einerseits beförderten sie den Prozess der rechtlichen Gleichstellung und boten den Juden politische Partizipationschancen, andererseits waren die revolutionären Erschütterungen häufig mit antijüdischen Ausschreitungen verbunden (siehe oben Kap. . und .), so auch in diesem Fall. Die christlich-jüdischen Beziehungen waren durch eine gewisse Zwiespältigkeit geprägt, denn einerseits gab es starke liberale Strömungen, die auf eine vollständige Gleichberechtigung der Juden drangen, so dass man auf jüdischer Seite große Hoffnungen in die Märzrevolution setzte, und es gab andererseits eine antijüdische Wendung, die sich in Flugschriften, Gerüchten und Gewaltaktionen manifestierte.8 Für Michael Riff wurde es ab bald offenbar, dass die Judenemanzipation weder in den Parlamenten noch in der Bevölkerung populär Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. f. Ebd., S. . Jacob Toury, Die Revolution von als innerjüdischer Wendepunkt, in: Hans Liebechütz/ Arnold Paucker (Hrsg.), Das Judentum in der deutschen Umwelt -. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation, Tübingen , S. -, hier S. ; dazu auch: Erik Lindner, Die Revolution von / als innerjüdische Wende, in: ders., Patriotismus deutscher Juden von der napoleonischen Herrschaft bis zum Kaiserreich, Frankfurt a. M. , S. -; auch nach Rürup (Der Fortschritt und seine Grenzen, S. ff.) geschah etwas grundlegend Neues, was die Stellung der Juden in den europäischen Staaten entscheidend veränderte. Erstmals und in großer Zahl traten Juden nun selbst als politisch Handelnde auf, dabei häufig sogar als Führer der allgemeinen politischen Bewegung, und beteiligten sich an den Straßenkämpfen und teils auch in den Nationalgarden. Zur Beteiligung in den einzelnen europäischen Ländern siehe: ebd., S. -. Der Märzsturm des Jahres kündigte positive Veränderungen der Rechtsstellung für die Juden an. Die Proklamation des bayrischen Königs vom . März stellte u. a. die Vorlage eines Gesetzentwurfs zur »Verbesserung der bürgerlichen Verhältnisse der Israeliten« in Aussicht, was unter den bayrischen Juden Freude und Hoffnung auslöste. Diese erhielt allerdings »einen Dämpfer durch die antisemitischen Ausschreitungen, mit welchen gegen
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war, insbesondere nicht in den ländlichen Gebieten, in denen die Mehrheit der Juden zu dieser Zeit lebte und ihren Lebensunterhalt als Hausierer, Vieh- und Kornhändler und Geldleiher verdiente.9 Dennoch war es nach Rürup nicht nur für die Juden, sondern auch für die liberale Öffentlichkeit in Europa ein Schock, als es vor allem in der Anfangsphase der Revolution von in einer Reihe europäischer Staaten zu Ausschreitungen gegen Juden kam, häufig dort, wo es schon während der Hep-Hep-Unruhen und in den frühen er Jahren solche Vorfälle gegeben hatte. Jacob Toury hebt vor allem für die Juden in Deutschland hervor, dass selbst die antijüdischen Ausschreitungen an etwa achtzig Orten im Lande »zu keiner gemeinsamen jüdischen Stellungnahme« geführt hätten, sie wurden wegerklärt als Exzess der Freiheit, jener »ungezogenen Tochter, die um sich schlägt,«10 oder als »vorübergehende Pöbelstürme«11 gedeutet.12 Entsprechend hätten die deutschen Juden als Gruppe auch keine Gegenreaktion, etwa in Form einer Selbstwehr, gezeigt.13 Auch Reinhard Rürup betont, dass die liberalen und demokratischen Repräsentanten der Juden dazu geneigt hätten, die »Bedeutung der Ausschreitungen herunterzuspielen«. Man sah den Ausbruch der Leidenschaften auf die Phase der Märzumwälzung begrenzt, der endete, sobald die Revolution in die Phase der Auf bauarbeit einmündete, wie Simon Dubnow annahm.14 Kurzfristig schien diese Sicht der jüdischen Beobachter auch berechtigt, denn in den Debatten der Parlamente gab es / über die Frage der Gleichstellung der Juden keine Diskussionen mehr, die Sache schien entschieden, doch war nach Rürup der Ertrag der Revolutionszeit hinsichtlich der erreichten gesetzlichen Gleichstellung geringer als erwartet, denn die im Zuge der Revolution erreichten Fortschritte sollten sich als wenig dauerhaft und als auf Teilbereiche beschränkt erweisen.15 Denn es sollte sich
Mitte März das Fest der jungen Volksfreiheit in Städten und Dörfern von Oberfranken gefeiert wurde« (Eckstein, Der Kampf der Juden, S. f.). Riff, Revolutionary Unrest of , S. . Der Orient, Nr. , .., S. . So Leopold Zunz, der bereits Mitte März meinte: »Die Pöbelstürme gegen Juden in einzelnen Gegenden werden spurlos wie anderer Unfug vorübergehen, und die Freiheit wird bleiben.«. Zit. in: Nahum N. Glatzer, Leopold Zunz and the Revolution of , in: Year Book of the Leo Baeck Institute, Bd. , , S. -, hier S. . Toury, Die Revolution von , S. . In einem Artikel »Aus dem Großherzogthum Posen«, in dem über blutige Ausschreitungen gegen Deutsche und Juden von Seiten der Polen berichtet wird, wird betont, dass »Deutschlands Juden […] in unserem Großherzogthum mit ihrem Blute ihre Anhänglichkeit für ihr jetziges Vaterland besiegelt« haben, obwohl sie »bisher kaum Ursache haben, sich Kinder des Vaterlandes nennen zu dürfen«. (Der treue Zionswächter, . Jg., Heft , .., S. ). Toury, Die Revolution von , S. . Nach Toury hatten sich Juden an von den Orten in Europa, an denen sie angegriffen wurden, zur Wehr gesetzt. In Deutschland sei dies möglicherweise an einem Ort in Posen und in einer oberschlesischen Stadt versucht worden. Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. . Zu einem kurzen Abriss über das uneinheitliche und widersprüchliche Bild der Entwicklung der rechtlichen Stellung in den einzelnen europäischen Staaten siehe Rürup,
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bald zeigen, dass viele Regierungen diese antijüdischen Ausbrüche des »Volkszorns« nur zu gern nutzten, um weitere Fortschritte der Judenemanzipation hinauszuzögern. In der Tat bestand ein Konnex zwischen raschen rechtlichen Verbesserungen für die Juden und dem gewalthaften »Widerstand« dagegen. Dies wurde auch von jüdischer Seite so gesehen.16 Die er Revolution war einerseits eine »institutionalisierte Revolution«, sie besaß aber auch einen ebenso wirkungsmächtigen aktionistischen und oft gewalthaften Anteil als »Politik der Straße«, in der der öffentliche Raum kollektiv in Besitz genommen wurde, um Beschwerden vorzubringen, Forderungen zu stellen, Druck auf die Regierenden auszuüben oder sich der eigenen Gruppenidentität zu vergewissern. Die revolutionäre Bewegung drückte sich in der Anfangsphase durch eine Vielzahl von spontanen Festen und Aufläufen aus, wobei sich darin häufig Elemente der traditionellen Volkskultur fanden. So rotteten sich junge Männer im Dunkeln zusammen, tranken Alkohol, veranstalten einen Zug durch die Stadt, »um missliebigen Personen eine Katzenmusik zu bringen«.17 Nach Charlotte Tacke standen sich hier eine bürgerliche und eine unterbürgerliche Kultur gegenüber, und die »Lärmenden wurden sozial und politisch ausgegrenzt«, indem man sie als »liederliches Gesindel«, »niedere Classe« oder »gemeiner Pöbel« abwertete.18 Auf diese Straßenpolitik ›von unten‹ antworteten die Obrigkeiten ihrerseits mit einer machtgestützten Straßenpolitik ›von oben‹, um ihre Interessen im öffentlichen Raum durchzusetzen.19 Da es keine legalen Möglichkeiten für eine politische Straßenöffentlichkeit gab, blieb den Untertanen »häufig nur der risikoreiche Weg der unmittelbaren Selbsthilfe, der direkten Aktion des ›Tumults‹«, auf den die Obrigkeiten ihrerseits mit unverhältnismäßigen militärischen Mitteln reagierten.20 Im Zuge der vieldiskutierten Volksbewaffnungsfrage bildeten sich / in Form der Bürgerwehren oder Nationalgarden »milizartige Formationen als Gegenspieler oder auch Komplizen des Militärs«, die bei den revolutionären Unruhen und auch bei
Der Fortschritt und seine Grenzen, S. -. Siehe auch: ders., Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. . Rürup zitiert einen Artikel aus der Deutsch-Österreichischen Zeitung vom .., in dem jüdische Autoren bereits im März die Befürchtung geäußert hatten, dass eine rasche Emanzipation zu »dem Spektakel bereits erlebter Judenhetze« führen werde (Der Fortschritt und seine Grenzen, S. ). Charlotte Tacke, Feste der Revolution in Deutschland und Italien, in: Dowe/Haupt/Langewiesche (Hrsg.), Europa , S. -, hier S. . Ebd., S. f. Manfred Gailus, Die Revolution von als »Politik der Straße«, in: Dowe/Haupt/ Langewiesche (Hrsg.), Europa , S. -, hier S. f.; siehe zur Straßenpolitik auch: Bernd Jürgen Warneken (Hrsg.), Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt a. M. ; Thomas Lindenberger, Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin bis , Bonn . Gailus, Die Revolution von als »Politik der Straße«, S. .
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antijüdischen Ausschreitungen eine zentrale Rolle spielten.21 Über Frage, ob Juden Mitglieder in diesen Bürgerwehren werden konnten oder ob sie eigene Formationen bilden sollten, wurde an vielen Orten heftig gestritten. Manfred Gailus spricht von einer »kaum überschaubaren Allgegenwärtigkeit von öffentlichen gewalthaften Konfrontationen um «, die man in den Kategorien von »Sozialprotest« oder »Straßenpolitik« begrifflich gefasst hat.22 So waren zu keinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte des . Jahrhunderts die Ausbrüche kollektiver Gewalt in Deutschland so weit verbreitet wie während der Jahre von bis ,23 Gailus hat in seiner Proteststatistik für die Staaten des Deutschen Bundes »etwa anderthalbtausend Aktionen der Straßenpolitik« ermittelt, die ein sich vielfach überschneidendes Gewirr von Konfliktlinien und kollektiven Solidaritäten zeigen.24 Während die großen Städte Schauplatz politischer Massengewalt waren, in der sich große Volksmassen und Militär in bürgerkriegsähnlichen Konfrontationen gegenüberstanden, waren für die ländliche Gebiete andere Formen kollektiver Gewalt typisch, etwa tumultartige Übergriffe gegen adlige Gutsherren, Amtspersonen oder Juden, Plünderungen und Zerstörung von Eigentum, Formen von Selbstjustiz gegen (vermeintliche) Straftäter usw. Zahlenmäßig überwogen die städtischen Unruhen bei weitem, obwohl nur ein Viertel der damaligen Bevölkerung in den Städten lebte. In dieser von einer Vielzahl von Aktionen, Rebellionen und Tumulten begleiteten Desintegrationsphase bildeten sich einerseits neue Solidaritäten und es gab Gefühle einer neuen Brüderlichkeit und Zusammengehörigkeit, andererseits wurden aber die Abgrenzungen gegen andere Gruppen schärfer markiert, es entwickelten sich Feindbilder und Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen verschlechterten sich.25 Die antijüdischen Ausschreitungen, deren Zahl geringer Ralf Pröve, Bürgerwehren in den europäischen Revolutionen , in: Dowe/Haupt/Langewiesche (Hrsg.), Europa , S. -, hier S. . Vgl. dort auch die Diskussion der ganz unterschiedlichen Auffassungen darüber, welche Funktion man den Nationalgarden zugedacht hatte: sollten sie im Sinne der konservativen Obrigkeiten für »Ruhe und Ordnung« sorgen und das Militär unterstützen, zumal sich in den Krisenjahren des Vormärz eine »Sicherheitslücke« aufgetan hatte, oder sollten sie im Sinne der revolutionären Bewegungen die Verfassung und die Reformen schützen? Umstritten war auch, wer als Mitglied in den Bürgerwehren zugelassen werden sollte, die trotz gewisser sozialer Öffnung eine Einrichtung des Besitzbürgertums blieben (ebd., S. -). Manfred Gailus, »Hautnahe Herrschaft« in Auflösung. Über ländliche Gewaltexzesse im östlichen Preußen um , in: Magnus Eriksson/Barbara Krug-Richter (Hrsg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (.-. Jahrhundert), Köln, Wien , S. -. Manfred Gailus, Anti-Jewish Emotion in the Crisis of German Society, in: Hoffmann/Bergmann/Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence, S. -, hier S. ; vgl. als allgemeiner Überblick: Gailus, Straße und Brot; Richard Tilly, Unruhen und Proteste in Deutschland im . Jahrhundert: Ein erster Überblick, in: ders., Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung, Göttingen , S. -. Gailus, Die Revolution von als »Politik der Straße«, S. . Gailus, Anti-Jewish Emotion, S. f.
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war als die der übrigen gewaltsam ausgetragenen Konflikte, waren also eingebettet in eine Welle gewalttätiger Aktionen, die sich auf dem Lande vor allem in antifeudalen Bauernunruhen und sozialen Rebellionen der unteren ländlichen Schichten äußerte, während die Konflikte in den Städten in unterschiedlichen Formen auftraten, als Subsistenzunruhen, als Aktionen politischer Kontrolle, als kommunale politische Unruhen, als Arbeiterproteste oder als politische Massenaktionen, die sich auf nationale politische Ereignisse bezogen. Antijüdische Tumulte konnten Bestandteil von Aktionen sein, die sich primär gegen andere Gruppen richteten, etwa gegen den Adel, Zollstellen oder gegen Getreidehändler, sie konnten aber durchaus gebietsweise für eine gewisse Zeit zur dominanten Aktionsform werden. Mit antijüdischen Unruhen an ungefähr Orten in Mittel- und Osteuropa war es die größte antijüdische Gewaltwelle der gesamten Emanzipationszeit, in der es zur Zerstörung und Plünderung jüdischer Häuser und Läden sowie zu Misshandlungen von Juden kam, die in Einzelfällen auch tödlich endeten.26 Die Unruhen reichten vom französischen Elsass über Süd- und Mitteldeutschland und das östliche Preußen bis in die habsburgischen Gebiete Böhmen, Mähren und Ungarn. Es gab aber auch in Rom antijüdische Unruhen im Ghetto, bei denen Häuser demoliert wurden.27 Die Schwerpunkte lagen im Elsass mit sechzig Orten und in den nicht habsburgischen Teilen des Deutschen Bundes mit achtzig bis hundert Orten,28 wobei diese hier vor allem in Süd- und Südwestdeutschland, insbesondere im Großherzogtum Baden, wo allein antijüdische Ausschreitungen dokumentiert sind, nicht selten mit einer antifeudalen Zielrichtung verbunden waren. Neben Baden waren vor allem das angrenzende Großherzogtum Hessen und einige Teile Frankens betroffen, auch Orte in Württemberg und Rheinhessen, während in Preußen, abgesehen von Schlesien, wo es etwa in Glatz (Neisse), Hirschberg (am . März) und insbesondere in Oberschlesien in Gleiwitz (am . Mai ), Beuthen und Ratibor zu Unruhen kam,29 in Westpreußen in Löbau/Lubawa (am .-. Juni), der Provinz Westfalen, antijüdische Jacob Toury, Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland -. Zwischen Revolution, Reaktion und Emanzipation, Düsseldorf , S. f.; siehe auch ders., Turmoil and Confusion in the Revolution of . Die Ereignisse fanden Ende März statt. Vgl. AZJ, Jg. , Heft vom .., S. . Siehe dazu Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. -; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. FN , zählt für die einzelnen Staaten des Deutschen Bundes (ohne Österreich) Fälle, die sich wie folgt verteilten: »Baden , Preußen (ohne Posen) , Hessen-Darmstadt , Bayern , Kurhessen , Württemberg , Nassau , Waldeck «. Dazu eine kurze Notiz in der AZJ, Jg. , Heft , .., S. , wonach Gleiwitzer in Reaktion auf eine von einem Juden des Ortes publizierte Zeitung, durch die sie sich beleidigt gefühlt hätten, Fenster und Möbel in den meisten von Juden bewohnten Häusern zertrümmert hätten. Nach Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. f., kam es in Gleiwitz, wo es »zu einer lokalpolitischen Fehde um die Frage der Emanzipation der Juden gekommen war«, zu schweren antijüdischen Ausschreitungen. Am Abend des . Mai, als dort Wahlen stattfanden, versammelten sich größere Menschenmassen auf dem Marktplatz, schwärmten über die ganze Stadt aus und warfen die Fensterscheiben der meisten jüdischen Häuser ein, brachen Läden auf und plünderten. Gegen Uhr abends stellte das angeforderte Militär die Ruhe wieder her.
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Vorkommnisse selten waren.30 Eine Ausnahme bildeten die Unruhen in der Provinz Posen. Nach Gailus ereigneten sich antijüdische Übergriffe am häufigsten während der Subsistenzunruhen der Jahre /,31 die sich damals in vielen europäischen Staaten ereigneten, wobei es große regionale Unterschiede gab.32 Es ist auffällig, dass sich die Ausschreitungen gegen Juden im Unterschied zu den übrigen Protestunruhen und Demonstrationen fast gänzlich auf die ersten Monate der Revolution beschränkten, von den ersten Februartagen im Elsass und in Südwestdeutschland bis zu den Unruhen, die im Mai nur einzelne Regionen wie Ungarn, Schlesien und nochmals das Elsass betrafen. Rürup hebt besonders hervor, dass es in allen späteren revolutionären Krisen, wie den bewaffneten Kämpfen in Italien, Österreich und Ungarn, dem Juni-Aufstand in Paris und den Aufstandsbewegungen in Deutschland im Zuge der »Reichsverfassungskampagne« von , keine weiteren judenfeindlichen Unruhen mehr gab.33 Im Unterschied zu den Hep-Hep-Unruhen, die sich in den größeren Städten konzentriert hatten, ereigneten sich die Unruhen der Jahre - vor allem auf dem Lande und in kleineren Städten. An vielen Orten waren es Lebensmittelunruhen, die sich angesichts von Preissteigerungen sowohl gegen die Behörden wie auch gegen alle Gruppen richten konnten, die an der Produktion und dem Verkauf etwa von Getreide oder Kartoffeln beteiligt waren, also gegen Gutsbesitzer, wohlhabende Bauern, Kaufleute, Müller, Bäcker usw., die beschuldigt wurden, Lebensmittel aufzukaufen und zu überteuerten Preise abzugeben.34 Diese Proteste, die noch den Vorstellungen einer »moral economy« folgten, richteten sich in vielen Fällen auch gegen jüdische Getreide- oder Kartoffelhändler, z. B. wenn diese die Kartoffelernte aufkauften, um daraus Schnaps herzustellen oder um sie zu exportieren. Gailus beschreibt solche antijüdischen Lebensmittelunruhen für eine ganze Reihe von Orten, die sich von der Provinz Posen im Osten über Landsberg a. d. Warthe (Brandenburg), Glatz (an der Neiße – Schlesien) bis nach Nordhessen und Koblenz im Westen erstreckten, wobei Judenfeindschaft ein verschärfendes Moment bedeutete, z. T. noch verknüpft mit der Annahme, die Juden würden von der bestochenen Obrigkeit geschützt.35 Wie schon im Fall der Hep-Hep-Unruhen finden sich in den Darstellungen judenfeindlicher Vorkommnisse im Zuge der er-Revolution teils Übereinstimmungen über die betroffenen Orte, teils finden sich in einigen Darstellungen aber auch Orte, die in anderen nicht aufgeführt sind, sowie Orte, die offenbar fälschlich benannt werden, da es dort zwar Spottgesänge, Drohbriefe, Gailus, Anti-Jewish Emotion, S. , . Ebd., S. f. Gailus hat für Deutschland zweihundert solcher Unruhen ermittelt (Food Riots in Germany in the Late s, in: Past and Present , , S. -, hier S. f.). Vgl. Christina Benninghaus/Michael Hecht, Gewalt in Hungerunruhen , in: Werner Freitag/Erich Pohlmann/Matthias Puhle (Hrsg.), Politische, soziale und kulturelle Konflikte in der Geschichte von Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) , S. -. Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. . Gailus, Anti-Jewish Emotion, S. -. Ebd.
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Antijüdische Ausschreitungen im Zuge der er Revolution in Europa (-)
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Aufrufe und Plakate zur Vertreibung der Juden gab, jedoch keine nennenswerten Krawalle.36 Angesichts der weiten Verbreitung einer judenfeindlichen Stimmung vor allem im Frühjahr kann hier kein vollständiger Überblick über alle Orte gegeben werden, an denen es zu geringfügigeren Übergriffen bzw. öffentlichen Drohungen usw. kam. Die behandelten Fälle stehen also exemplarisch für die Ursachen, die auslösenden Faktoren und den Verlauf solcher Unruhen. Antijüdische Übergriffe im Zuge der Agrarunruhen von / In vielen kontinentaleuropäischen Ländern kam es / zu Bauernunruhen mit antifeudaler und antikapitalistischer Zielrichtung. Die Bauern plünderten die Schlösser des Adels, steckten Archive und Zollämter in Brand, misshandelten Amtsträger und Geldverleiher,37 was auch Juden wegen ihrer besonderen Stellung im Handel und Kreditgeschäft zum Ziel bäuerlichen Zorns werden ließ. Nach Christoph Dipper haben die Zeitgenossen diese Bauernunruhen als ein einheitliches Phänomen betrachtet und ihnen große Bedeutung beigemessen, obwohl die Unruhen den lokalen, allenfalls regionalen Raum nicht überschritten. Die Forderungen der Bauern konnten unterschiedlich ausfallen, sie verfolgten kein grundsätzliches politisches oder revolutionäres Programm.38 Diese revolutionäre Bewegung der Bauern dauerte jeweils nur wenige Tage, da sie häufig ihre Ziele erreichte, oder die Stationierung von Militär die Lage recht schnell beruhigte. Gewaltsame Zusammenstöße zwischen Bauern und Militär gab es nicht. Da die Forderungen der Bauern zumeist in Teilen erfüllt wurden, schieden sie nach dem Frühjahr Nipperdey zufolge schnell wieder aus der Revolution aus. Auch in einigen Regionen des Deutschen Bundes kam es im Zuge der agrarischen Bewegung des Jahres zu antijüdischen Ausschreitungen seitens der Bauern.39 Ein Faktor für diese Unruhen waren die schlechten Ernten der Jahre -, die auch in den Städten zu den Hungerunruhen des Jahres führten. Neben dem akuten Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , FN , listet eine Reihe von Orten auf, die andere Autoren (wie Sterling und Toury) fälschlich als Schauplätze antijüdischer Unruhen genannt haben. Christoph Dipper, Revolutionäre Bewegungen auf dem Lande: Deutschland, Frankreich, Italien, in: Dowe/Haupt/Langewiesche (Hrsg.), Europa , S. -, hier S. . Ebd., S. . Nach Dipper konnten die Ziele wie Entfeudalisierung, Steuer- und Zollreform, Wahlrecht und Abwehr der Eingriffe des modernen Staates regional unterschiedlich ausfallen, so sahen sich doch große Teile der europäischen Grundbesitzerschicht einem als einheitlich empfundenen Angriff der bäuerlichen Schichten gegenüber (ebd., S. ). Ein solches Programm hat der bayrische Agrarwissenschaftler Fraas im Juli publiziert, in dem in einem von insgesamt zwölf Grundartikeln auch der »Schutz gegen die Landjuden« auftaucht, welcher also offenbar für Bayern ein wichtiges Anliegen war (Günther Franz, Die agrarische Bewegung im Jahre , in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie /, /, S. -, S. f.) Franz, Die agrarische Bewegung; Friedrich Lautenschlager, Die Agrarunruhen in den badischen Standes- und Grundherrschaften im Jahre , Heidelberg .
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Nahrungsmangel und den dadurch entstandenen extremen Preissteigerungen für Nahrungsmittel in vielen Gegenden Deutschlands, die das auslösende Moment für die Unruhen gewesen sein können,40 gab es jedoch weitere, schon länger bestehende Ursachen für den Unmut der Bauern. So waren in Süd- und Mitteldeutschland die Reformen, die zu einer Ablösung der herrschaftlichen Lasten führen sollten, stecken geblieben, dies galt vor allem in den Gebieten der Standesherren, zugleich hatte sich gerade in den Verfassungsstaaten ein politisches Selbstbewusstsein der Bauern entwickelt. So erhob sich in weiten Gebieten vor allem Südwestdeutschlands, Hessens, Thüringens und Frankens sowie in Schlesien (hier unter Beteiligung auch unterbäuerlicher Schichten) eine »große Bauernrevolution«, die sich gegen den Staat und die Herren richtete und nicht durch die dörfliche Armut und die sozialen Gegensätze bestimmt war.41 So wurden in einem Flugblatt ein »Freistaat wie Amerika« und die Vernichtung des Adels, die Ermordung der Beamten und die Vertreibung der Juden und Fürsten aus Deutschland gefordert.42 D. h., Juden waren in dem geforderten »Freistaat« offenbar nicht erwünscht.43 Für Monate lebten der Adel, seine Verwalter und die Juden in den genannten Gegenden in Angst. Der Ausbruch der Unruhen im südwestlichen Deutschland an der württembergischen, badischen und französischen Grenze, im Kraichgau, im Taubergrund und im Odenwald im März betraf Gebiete, die von der wirtschaftlichen Krise besonders betroffen waren, und wurde zudem von der Februarrevolution im benachbarten Frankreich befeuert.44 So legt die Tatsache, dass »beim Zertrümmern der Fenster und Läden der jüdischen Bewohner von Berwangen und Unterschüpf« die Rufe »Freiheit« zu hören waren, eine Rezeption der Februarevolution in Paris nahe, zeigt aber die bäuerliche Übersetzung in Richtung einer materiellen Reform.45 So zielten die Ausschreitungen im Südwesten Deutschlands, einem Gebiet, Benninghaus/Hecht, Gewalt in Hungerunruhen, S. ; auch Riff, Revolutionary Unrest, S. f. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. f. Die Träger der Gewalt sind die Bauern und nicht die unterbäuerlichen Schichten und Landarbeiter. Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. ; Franz, Agrarbewegungen, S. f. Nach Franz wurden Juden vor allem zu Angriffszielen, weil Bauern bei ihnen verschuldet waren. In Tauberbischofsheim kam das Gerücht auf, am nächsten Markttag (..) würde es zu einer Plünderung der Israeliten kommen. Es blieb aber ruhig (ebd., S. ). Siehe dazu: Stefan J. Dietrich, Gegen eine Minderheit: ›Freiheit und Gleichheit soll leben; die Juden müssen sterben‹, in: »Heute ist Freiheit !«: Bauernkrieg im Odenwald, , hrsg. vom Haus der Geschichte Baden-Württembergs, Stuttgart , S. -. Riff, Revolutionary Unrest of , S. . Bereits hatte es in Nonnenweier (Ortenaukreis) antijüdische Ausschreitungen im Zusammenhang mit der geplanten Judenemanzipation gegeben. Dort sollte es auch später wiederholt und zu Vorfällen kommen (Elfie Labsch-Benz, Die jüdische Gemeinde Nonnenweier. Jüdisches Leben und Brauchtum in einer badischen Landgemeinde zu Beginn des . Jahrhunderts, Freiburg i. Br. , S. ). Siehe auch: Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. f. Wirtz zitiert den Bericht eines aus Unterschüpf geflüchteten Juden, der am . März die Übergriffe so beschrieb: »Vergangene Nacht Uhr zog eine Bande man sagt von Mann mit fliegendem Spiele unter dem
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für das Wirtz in seiner Fallstudie eine existenzbedrohende Verelendung, die durch Überbevölkerung, Belastung durch Feudalabgaben und Missernten hervorgerufen wurde, konstatiert,46 primär auf die Ablösung der Feudallasten, so dass Rentämter, Forstämter und die Adelssitze Ziele der Bauern waren. Die AZJ sah die Ursachen entsprechend: »Das Landvolk, von den Resten der Feudallasten niedergedrückt, hat sich gegen die ›Herren‹ und ihre Beamten erhoben, und nebenbei seine Plünderungswuth an den Juden gekühlt«.47 Die Juden waren also zwar nicht das vorrangige Ziel, doch richteten sich nach Rürup die Proteste auch gegen die »vielbeklagte ›Geldherrschaft‹«,48 die die Bauern offenbar in den Juden verkörpert sahen, insbesondere wenn sie im Verdacht des Wuchers standen.49 Die Karlsruher Zeitung vom . März vermutete sogar, dass »hinter den Judenverfolgungen nicht bloß die Rache für vermeintliche oder wirkliche frühere Übervorteilung, sondern ein gutes Stück Kommunismus steckt, der sein Handwerk mit einer unglaublichen Frechheit betreibt«.50 Es ist nach Rürup im Einzelfall schwer zu entscheiden, ob die Juden jeweils wegen ihrer wirtschaftlichen Stellung und ihrer »wucherischen Praktiken« oder aber aufgrund ihres Status als ethnisch-religiöse Minderheit angegriffen wurden.51 Es lassen sich sowohl Fälle finden wie in Ettlingen und Richen, in denen allein die Häuser von Juden angegriffen wurden, die als schlimme »Wucherer« galten,
Rufe es lebe die Gleichheit nach Schüpf ein, und stürmten alle Judenhäuser …« (ebd., S. ). Es waren wohl eher als . Tumultuanten, vgl. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Wirtz, Widersetzlichkeiten, Kap. , hier S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Zu den zahlreichen Gerüchten gegen die ungeliebten Repräsentanten der Lokalverwaltung (Amtmänner) in den er Jahren, denen die Bevölkerung Bestechlichkeit vorwarf, siehe Joachim Eibach, Gerüchte im Vormärz und März in Baden, in: Historische Anthropologie , , S. -, hier S. f. Gerade in der Ausnahmesituation der Revolution, in der ein Informationsnotstand herrschte, kam den Gerüchten eine besondere Bedeutung zu, da sie in diesen Phasen die offiziell-formelle Kommunikation dominierten, was die Behörden und Zeitungen zu ständigen Dementis zwang (ebd., S. , ). Zu den Angriffen auf Amtssitze siehe auch: Jürgen Maciejewski, Amtmannsvertreibungen in Baden im März und April . Bürokratiekritik, bürokratiekritischer Protest und Revolution /, Frankfurt a. M. . Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. . Rürup zitiert aus einem Bericht aus dem badischen Mosbach vom März , wo es heißt: »Rings um uns her bedrohen zahlreiche Volkshaufen die Israeliten, die Standes- und Grundherren und immer mehr jeden Vermöglicheren überhaupt« (zit. aus Karlsruher Zeitung, ..). Im hessisch-darmstädtischen Reichelsheim (Odenwald) kam es Ende Februar zu Unruhen gegen die einheimischen Juden, als ein bei einem Juden verschuldeter Einwohner, der auswandern wollte, von seinem Gläubiger eingeholt und daraufhin verhaftet und in den Ort zurückgebracht worden war. Diese erzwungene Rückkehr »gab die Veranlassung zu der kleinen Emeute«, woraufhin die zahlreichen jüdischen Familien in die Umgebung flüchteten (AZJ, Heft vom .., S. f.). Zit. nach Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. . Der Bericht stammte aus Bad Mergentheim. Zit. nach ebd., S. f.
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während die Mehrheit der übrigen jüdischen Familien am Ort »vom Volksgericht« verschont blieb, als auch solche, wo sich an manchen Orten »eine barbarische Wut gegen die Bekenner des mosaischen Glaubens überhaupt […] zu erkennen gab«.52 Wie die folgenden Analysen zeigen, war es vor allem die Ablehnung der mit dem Ortsbürgerrecht einhergehenden Teilhabe am Bürgernutzen seitens der Juden, die die Ortsbewohner mit der Anwendung kollektiver Gewalt durchzusetzen suchten. Zu Recht gibt Rürup auch zu bedenken, dass die antijüdische Gewalt in Baden sowie auch im Elsass keineswegs flächendeckend alle Orte mit jüdischer Einwohnerschaft in Mitleidenschaft zog, so gab es in Baden antijüdische Unruhen an Orten, die übrigen blieben verschont, und auch im Elsass waren etwa der jüdischen Gemeinden betroffen.53 Wie die umlaufenden Drohungen und Gerüchte erkennen lassen, herrschte in diesen Gegenden eine gewaltbereite Stimmung, es lässt sich aber in den meisten Fällen angesichts der vorhandenen Quellen nicht angeben, warum es an einigen Orten ruhig blieb oder sich auf Gewalt gegen den Adelssitze oder Ämter beschränkte, während sie sich an anderen auf die Juden ausweitete oder von vornherein allein Juden betraf. Es kann am Fehlen eines (kontingenten) auslösenden Moments liegen, an Vorkehrungen der Ortsbewohner, der Stationierung von Militär oder daran, dass die umherziehenden Rotten den Ort nicht tangierten. Die Bauernzüge der ersten beiden Märzwochen, in denen es zu Angriffen auf die Leiningische Amtsstadt Boxberg, auf Mosbach, auf die Schlösser Adelsheim und Angeltürn und auf Leiningische Güter kam, wandten sich häufig auch gegen die Juden der benachbarten Orte.54 So zog der Haufe aus Boxberg am . März weiter nach Unterschüpf, wo ca. zweihundert Personen unter Mithilfe von Ortsansässigen gegen die Juden vorgingen, wobei sechs Häuser demoliert und ausgeraubt wurden, ohne dass die Bürgerwehr eingriff. In Unterschüpf hatte es schon mehrere Tage vorher Gerüchte und Drohrituale gegeben, die auf die bevorstehende Gewalt gegen Juden hindeuteten.55 Die Regierung entsandte umgehend Truppen in die betroffenen Bezirke des Odenwalds und des Kraichgaus.56 Dort und in der Hardt kam es etwa in Nußloch am ./. März zu »groben Excessen« durch das Einschlagen der Fenster und Türen und zur Zertrümmerung von Mobiliar. Gerüchte sprachen von weiteren bevorstehenden Übergriffen in den benachbarten Orten Walldorf, Rei Ebd., S. . Rürup zitiert Berichte aus der Mannheimer Abendzeitung, .., wo es zu dem ersten Fall in Richen hieß, dass dort mehrere Stimmen einen Gewalttäter zurückriefen, als er gegen den Laden eines Juden schlug: »Halt, dem gebührt nichts, der ist kein Schacherer«. Vgl. auch den Bericht über Baisingen (s. u.). In einem Nachbarort Baisingens, in Rexingen, sollen sich sogar »jüdische Proletarier oder Lumpenproletarier« den christlichen Bauern angeschlossen haben, die wohlhabende Juden bedrängten (Abraham Gilam, Die historische Bedeutung der Megillat Baisingen, in: Leo Baeck Institute Bulletin , , S. -, hier S. ). Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. . Vgl. dazu und zum Folgenden Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ff. Gailus, Anti-Jewish Emotion, S. ; Dietrich, Gegen eine Minderheit S. -. Riff, Revolutionary Unrest of , S. .
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lingen und Hockenheim und in der Gegend von Sinsheim, doch blieb es bei den Drohungen. Diese Drohungen reichten aber offenbar mancherorts aus, um die Juden zu einem »freiwilligen« Verzicht auf den Bürgernutzen zu bewegen und ihnen als »Gegenleistung« den Verzicht auf Gewaltanwendung anzubieten.57 Daran zeigt sich, dass sich die kollektive Gewalt keineswegs blind und ungesteuert ereignete, sondern durchaus einem rationalen Kalkül folgte. Reichte die Gewaltandrohung aus, um das gewünschte Resultat zu erzielen, verzichtete man auf eine Anwendung von Gewalt. An anderen Orten wurden die umherziehenden Rotten jedoch von am Ort gebildeten Schutzmannschaften an Übergriffen gegen die Juden des Ortes gehindert (Hoffenheim, Rohrbach und Weiler), an anderen gefährdeten Orten wurde Militär postiert, so dass hier Überfälle unterblieben. Stefan Rohrbacher betont, dass von Seiten der Juden die Bedrohung durch oft mehrere hundert Personen umfassende, umherziehende Rotten, denen oft noch Drohungen und wilde Gerüchte vorauseilten, als extremer wahrgenommen wurde als die innerörtlichen Konfliktfälle, doch tatsächlich schätzt er das Gewaltniveau als insgesamt vergleichbar, die Zahl der örtlichen Konflikte sogar als deutlich höher ein.58 Wie im Odenwaldgebiet bekamen auch in den standes- und grundherrschaftlichen Gebieten Ober- und Unterfrankens, im nördlichen Unter- und Obermainkreis die Bauernunruhen bisweilen eine judenfeindliche Stoßrichtung.59 Dort traf es bei Angriffen auf freiherrliche Amtsgebäude und Schlösser auch »die jüdischen Glaubensgenossen, welche gleichfalls mishandelt, ihrer bewgl. Habe beraubt u. deren Häuser demolirt wurden«, so etwa in Burgpreppach, Unterlangenstadt, Redwitz und in einigen Orten des Rodachgrundes.60 Viele Juden aus diesen Orten Im Fall Reilingens, wo mehrere Bürger aus Wirtshäusern kommend sonntagabends durch die Straßen gezogen und »hier und da Flüche gegen die Juden ausgestoßen« hatten, wobei durch polizeiliche Maßregeln die Ruhe schnell wiederhergestellt werden konnte, kam es auf Anordnung eines »hohen Ministerial-Erlasses« zu einer Einvernahme des Gemeinderates, der sich gegen den Vorwurf, es sei zu Exzessen gegen Juden gekommen, verwahrte. Der bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , abgedruckte Bericht des Amtsassessors Gärtner über die Einvernahme des Gemeinderates zu Reilingen, . März, führt dann aber weiter aus, dass es einen Tag nach dem lärmenden Vorfall zu einer stürmischen Gemeindeversammlung zur Frage der Berechtigung der Israeliten als Gemeindebürger bzw. die Bürgernützungen gekommen sei, die man einstimmig abgelehnt habe. Die auf der Versammlung erschienenen Juden hätten sich, nach einigem Widerstande, bereitgefunden, auf die »Bürgernützungen freiwillig Verzicht zu leisten«, wobei sie darauf verwiesen, dies nur unter »moralischem Zwang« getan zu haben. Diese Verzichtleistung wurde dann in einem Notariats-Akt festgehalten, wobei den Israeliten zugesichert wurde, »daß ihnen nun nichts mehr geschehe«. Die »Einvernahme« zeigt aber auch, dass die vorgesetzten Behörden auf die Anzeige, es sei zu Gewalt gegen Juden gekommen, nicht untätig blieben. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Franz formuliert dies gänzlich unkritisch, indem er die Schuld dafür bei den Juden selbst ablädt: »Die Judenemanzipation wurde in Franken leidenschaftlich abgelehnt, da der Bauer unter den unemanzipierten Juden genug zu leiden hatte« (Agrarische Bewegung, S. ). Zit. nach Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .
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flohen nach Bamberg oder Coburg, und im Rodachgrund wurden Landwehrverbände stationiert, die weitere Übergriffe verhindern konnten, auch wenn es in vielen Gegenden Unter- und Oberfrankens weiterhin unruhig blieb, Gerüchte über geplante Übergriffe die Runde machten und Juden Bedrohungen und kleineren Übergriffen ausgesetzt waren. Dass die Bauernunruhen auch Ortsansässige zu Ausschreitungen motivieren konnten, zeigt der Fall Burgkunstadt, wo es ersten Meldungen zufolge hieß, eine Rotte von bis Mann habe alle Judenhäuser angegriffen und demoliert. Tatsächlich handelte es sich bei den Tätern um einige Bürgersöhne, die die Bauernunruhen der Umgebung zum Anlass nahmen, den schwelenden lokalen Konflikt zwischen der zahlenmäßig starken jüdischen Gemeinde ( bis Personen) und den ca. christlichen Bürgern gewaltsam auszutragen. Die offenbare Untätigkeit von Magistrat, Bürgerwehr und übrigen Bürgern ließ das Landgericht vermuten, dass es sich um »ein Komplott« gehandelt habe, das mit Vorbedacht ausgeführt worden sei, zumal es eine »von jeher bestehende Feindschaft zwischen Christen und Juden« am Ort unterstellte.61 Nach Eckstein waren die »Excesse« in Burgkunstadt am heftigsten, wo die Losung lautete: Gegen Junker und Juden! Große Teile der jüdischen Bevölkerung flohen nach Bamberg, und erst der Einsatz von Militär stellte die Ruhe wieder her.62 Lokale Tumulte in Baden, Württemberg und Bayern Stefan Rohrbacher hat herausgearbeitet, dass es – mancherorts parallel zu den Bauernzügen – eine zweite Ereigniskette antijüdischer Übergriffe in vielen kleineren und größeren Ortschaften im badischen Oberland, in Schwaben und bayrischen Franken gab, deren Ursprung in den sich durch die revolutionären Entwicklungen anbahnenden Veränderungen in der rechtlichen Position der Juden zu suchen ist, während die Unruhen im benachbarten Elsass (s. u.) kaum als Auslöser in Frage kommen, da man auf dem Lande kaum etwas von diesen Vorgängen wusste. Vielmehr bestand ein ganz enger zeitlicher Konnex mit den Entscheidungen der Zweiten Badischen Kammer zur Emanzipation der Juden.63 Diese These wird untermauert durch ein von Michael Riff zitiertes Schreiben des Bezirksamts Bretten an das badische Innenministerium vom . März , in dem die vom Landtag in Ebd., S. . Eckstein, Der Kampf der Juden um ihre Emanzipation in Bayern, S. . Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ff. Ob die Ereignisse in Frankreich, insbesondere die Angriffe auf Juden im Elsass, die antijüdischen Unruhen in Baden direkt beeinflussten, ist auch nach Riff, Revolutionary Unrest of , S. f., schwer zu entscheiden. Dies dürfte nur für die Grenzregion am Oberrhein zutreffen. Wichtiger dürften auch seiner Auffassung nach die Berichte gewesen sein, wonach der badische Landtag den Juden gleiche Rechte einräumen wollte. Vgl. auch Stefan Dietrich, Gewalt und Vorurteil: antijüdische Ausschreitungen in Nordbaden, in: Badische Heimat, , , S. -, hier S. .
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Aussicht gestellte Judenemanzipation und die anhaltenden Leiden der bäuerlichen Bevölkerung wegen der Zwangsvollstreckungen seitens der Juden eine Atmosphäre geschaffen habe, die das Schlimmste erwarten lasse.64 Die an vielen Orten schwelenden Konflikte über die ortsbürgerliche Stellung der Juden wurden durch die nun zu erwartenden, von den Christen als Positionsverschlechterung abgelehnten Veränderungen zu Gunsten der Juden verschärft, und es kam in den ersten beiden Märzwochen zu antijüdischen Ausschreitungen, ohne dass gleichzeitig obrigkeitliche Einrichtungen attackiert wurden, aber auch ohne ein energisches Durchgreifen der Ortsbehörden. Deshalb wurde von der Regierung Militär in die Region entsandt, und die Gemeinden sollten für die angerichteten Schäden kollektiv haften. Der unmittelbare Zusammenhang mit der Frage des Ortsbürgerrechts lässt sich für Baden gut erkennen, wo Juden zwar auf Landesebene gleichgestellt waren, wo aber am . März die von den Demokraten eingebrachte Forderung nach der Gewährung gleicher kommunaler Rechte (wie Weide- und Jagdrecht, Waldrecht, Heiratserlaubnis und bestimmte Abgaben) für die männlichen Angehörigen aller Konfessionen, d. h. auch für Juden gebilligt wurde,65 eine Kunde, die sich schnell überall im Lande verbreitete, »großen Unwillen in allen Gemeinden« und sogleich auch erste Unruhen, wie am ./. März in Bretten und in Neckarbischofsheim auslösten, wo sie mehrere Tage andauerten. Jürgen Stude zitiert den Tagebucheintrag des achtjährigen Georg Wörner aus Bretten, der die aufgeheizte Stimmung rund um die Landtagsentscheidung, aber auch sehr genau die Motive und Forderungen der randalierenden Ortsbürger beschreibt: »Am . März, hat in Bretten die Revolution angefangen, da sind die Leute von Morgens an auf der Straße herumgestanden, alle Wirtshäuser waren gesteckt voll, dann sind sie Haufenweise gestürmt und haben gelärmt und den Juden Angst in den Leib gejagt. Sie haben dem Rabbiner, dem Kaufmann Weil und anderen ihre Backöfen abgerießen und haben gedroht, wenn die Juden ihnen nicht versprechen, daß sie kein Holz mehr wollen, ihnen bei der Nacht alles zusammenzuschlagen und sie zu den Häusern hinauszuwerfen. […] Auf die Nachtwache wurden viele Männer bestellt; als es dunkel wurde, hat der Spektakel erst recht angefangen, es wurden Fenster eingeworfen, mit Prügeln an die Haustür geklopft, gebrüllt und mit Mord und Brand gedroht. Der Veis vom Oberthor hat Geld zum Fenster hinaus geworfen, um seine Peiniger los zu werden, auch der Raphael Reis hat dem tobenden Pöbel Schnaps und Bier bezahlt«.66 Riff, Revolutionary Unrest of , S. . Die badische Regierung schob die Forderung dieses Gesetzentwurfs aber auf die lange Bank, so dass die Ortbürgerrechte für Juden auch über hinaus eingeschränkt blieben. Zit. nach Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, S. , der sich seinerseits auf die von bis erschienene Beilage Der Pfeiferturm der Tageszeitung Brettener Nachrichten, Nr. , , S. , bezieht. Dieser enthielt Beiträge zur Heimatgeschichte und Volkskunde Brettens und seiner Umgebung und wurde von der Ortsgruppe Bretten des Landesvereins Badische Heimat herausgebracht. Der Tagebucheintrag von Georg Wörner
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Obwohl die Brettener Juden am folgenden Tag, am . März, auf dem Rathaus unter Druck erklärten, für alle Zeiten auf die Bürgerrechte und den Bürgernutzen zu verzichten,67 flammten die Tumulte am . und in der Nacht vom . auf den . März erneut auf.68 Auch an Orten, in denen es noch nicht zu Gewaltakten gekommen war, verzichteten die Juden unter Drohungen vorauseilend auf den Bürgernutzen, etwa in Jöhlingen, Weingarten, Wiesloch, Walldorf, Friesenheim und Rappenau.69 Als Motiv nannten sie »die jetzt an manchen Orten stattfindenden Judenverfolgungen«.70 Diese erzwungenen Verzichtserklärungen wurden nach der Niederschlagung der Revolution von den Oberämtern gegen den Widerstand
wird auch von Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. f., zitiert, der darauf verweist, dass der Eintrag fälschlich auf den . März datiert wurde, da die Unruhen erst am . März begannen. Der oben bereits erwähnte Bericht des Bezirksamtes Bretten spricht für den Abend des . März nur von einem Lärm auf den Straßen und von einer Menschenmenge, die die Absicht hatte, Häuser von Juden anzugreifen. Dies sei aber durch die Bürgerwache verhindert worden (Riff, Revolutionary Unrest of , S. ). Die »Verzichterklärung der jüdischen Ortsbürger zu Bretten, . März « befindet sich im Stadtarchiv Bretten und ist abgedruckt bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Die Brettener Juden verzichteten »für alle Zeiten« auf die »Allmend-Genüsse«, da sie diese Frage »für den Grund der Aufregung« hielten. Bretten hatte jüdische Einwohner (, von . der Gesamtbevölkerung). Siehe: www.alemannia-judaica.de/bretten// synagoge.htm. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Dort ist auch die »Meldung des Brigadiers Ringholz an das Corpskommando zu Karlsruhe über neuerliche Exzesse in Bretten, . März « abgedruckt (S. ). Über diesen Vorfall, bei dem mitten in der Nacht das Haus einen Juden angegriffen und demoliert und sogar dessen Frau misshandelt und leicht verwundet worden sei, wobei der Brigadier quasi erklärend darauf verwies, dass diese »beim Anfang sich schimpfende Austrüke bedint [sic] haben soll«. Nach Riff wurde vom Bezirksamt Bretten auf Drängen der Ortsbürger ein Jude des Ortes auch aus seinem Amt in Bretten gedrängt, obwohl das Bezirksamt die gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen, er bevorzuge seine Religionsgenossen, nicht hatte erhärten können. Dieses Vorgehen und der erzwungene Verzicht auf den Bürgernutzen stießen im Innenministerium auf heftige Kritik, doch konnte es diese Maßnahmen nicht aufheben (Revolutionary Unrest of , S. ). In Friesenheim (Kreis Lahr) mussten die Juden im März unter Gewaltandrohung auf das Ortsbürgerrecht verzichten, während es in Jöhlingen, wo »hauptsächlich junge Burschen allerlei Unfug« verübten, die Juden bedrohten und ihre Fenster einwarfen, durchaus mehr als nur Drohungen gab. Die jüdischen Einwohner hofften durch den Verzicht auf den Bürgernutzen den Zorn von sich ablenken zu können. In Rappenau hatte ein Jude vor auf dem Prozesswege sogar schon den Status als Vollbürger erlangt, doch verlangte die Gemeindeversammlung von ihm, sein Bürgerrecht wieder abzutreten. Zu seinem Schutz musste die Gemeinde sogar die Nachtwachen verstärken. Der Jude beugte sich dem Druck, bekam sein Bürgerrecht aber gegen den Willen der Gemeinde wieder zurück. Dazu: Franz Hundsnurscher/Gerhard Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, Stuttgart , S. , , f. Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, S. , auch Riff, Revolutionary Unrest of , S. f. In Flehingen baten Juden in einer Petition an die Zweite Kammer des badischen Landtages sogar, nicht emanzipiert zu werden (ebd., S. ).
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der Gemeinden für rechtlich wirkungslos erklärt.71 In Neckarbischofsheim nahmen die Tumulte in den Nächten vom . bis . März einen ganz ähnlichen Verlauf wie in Bretten.72 Ein Eingreifen der Polizei oder der örtlichen Amtsmänner blieb entweder fruchtlos oder aber ihr Eingreifen führte in der Folge zu Übergriffen auch gegen deren Wohnungen.73 Dies verdeutlich einmal mehr, dass vor allem ortsansässige Amtspersonen Gefahr liefen, selbst zum Ziel der als legitime Selbsthilfe gegen obrigkeitliche Entscheidungen gewerteten Gewalt zu werden, während es entfernten übergeordneten Behörden leichter fiel, auch unliebsame Entscheidungen zu fällen und durchzusetzen. Das Bezirksamt Bretten forderte die Gemeinden seines Bezirks auf, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen und Versammlungen durchzuführen, um die Menschen zu beruhigen, und es wurden auch Beamte in die Orte geschickt, um den Einwohnern die neuen Maßnahmen und Gesetze zu erklären. Den Juden wurde geraten, zu Hause zu bleiben und derzeit möglichst auf das Eintreiben fälliger Schulden zu verzichten. Das Bezirksamt bat die Regierung zudem, Vorkehrungen zu treffen, damit die Bauern ihre Schulden zu gerechteren Konditionen zurückzahlen könnten, nur so seien schwere Unruhen zu verhindern.74 Diese Empfehlung zeigt, dass die Unruhen einerseits durch die zu erwartende Teilhabe der Juden am Bürgernutzen, die wiederum wirtschaftliche Nachteile zur Folge haben konnte, wie auch durch die Verschuldung christlicher Ortsbewohner bei den Juden des Ortes motiviert waren. Die Intervention des Bezirksamtes kam nach Riff jedoch zu spät, denn bereits in der Nacht vom . auf den . März kam es in der Gegend in Münzesheim, Menzingen, Gochsheim und Bauerbach zu Unruhen, die sich aber auf Steinwürfe gegen jüdische Häuser beschränkten, verletzt wurde dabei niemand.75 Diesen Unruhen folgten in den nächsten Tagen weitere mehr oder minder schwere Unruhen in den umliegenden Orten des Kraichgaus und in ganz Nordbaden.76 In den größeren Städten wie Heidelberg am . Februar77 und Karlsruhe Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, S. . Vgl. die ausführliche Darstellung bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Vor allem die Häuser von fünf Juden waren das Ziel, bei denen christliche Bürger verschuldet waren bzw. die sich wegen der verweigerten Bürgerholzgabe beschwert hatten. Der Abgeordnete Friedrich Daniel Bassermann erwähnte in der Debatte des Badischen Landtages am . März , dass die Juden in Berwangen und Neckarbischoffsheim aus ihren Häusern getrieben oder genötigt wurden, mit ihren Familien in die Keller zu flüchten, während in den Häusern alles kurz und klein geschlagen und sie bedroht wurden, so dass sie mit ihrer Habe nach Mannheim flohen (Badischer Landtag, . Kammer /, Protokolle Bd. , . Sitzung am .., S. ). So in Neckarbischofsheim (Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ) und in Menzingen im Amtsbezirk Bretten (Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, S. ). Riff, Revolutionary Unrest of , S. . Ebd.; siehe dazu ausführlicher Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Ebd., S. , . Auch in Heidelberg begann die Revolution von mit einem judenfeindlichen Tumult am . Februar, als eine kleine Gruppe von Schneidern das Haus des jüdischen Kleiderhändlers Leopold Ehrmann stürmte und dessen Kleidervorräte zerstörte. Ehrmann
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(. März) und Mannheim, deren Einwohner Petitionen an den Landtag schickten, in denen sie die Judenemanzipation befürworteten,78 kam es nicht oder nur zu kleineren Vorfällen, auch wenn Der treue Zions-Wächter bereits unter dem Datum des . März vermeldete, dass die »Judenverfolgungen […] leider eine Ausdehnung erlangt [haben], die es dringend nöthig macht, dass die Bestrebungen der guten Bürger, solche Schändlichkeiten zu verhüten oder zu unterdrücken, in einzelnen Gegenden durch die öffentliche Gewalt unterstützt werden müssen.«79 Im Süden und Südwesten Deutschlands lebte der größte Teil der Juden in ländlichen Gebieten,80 so dass sich die Unruhen primär in kleineren Orten abspielten, wo die Akkulturation der Juden schwerer fiel und langsamer vorankam, so dass hier eine große kulturelle Distanz fortbestand,81 was auch von den badischen Politikern als Problem erkannt wurde.82 Dass es einen Zusammenhang mit Konflikten um
hielt offenbar die Zunftregeln nicht ein, so dass gegen ihn auch jüdische Kaufleute offen Stellung bezogen. Siehe: Mumm, »Denket nicht: ›Wir wollen’s beim Alten lassen‹«, S. . Vgl. auch Riff, Revolutionary Unrest of , S. , der zwar auch die Übergriffe gegen Ehrmann erwähnt, aber darauf verweist, dass weder die Akten des Innenministeriums noch die der Regierung des Unterrheins Nachrichten über Unruhen in Heidelberg enthalten. Lediglich die Oberrheinische Zeitung vom . März berichtete darüber. Nach Hundsnurscher/Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden, S. , hätten die Schneider , als sie die Einführung der Gewerbefreiheit fürchteten, nicht nur Ehrmann angegriffen, sondern »die Läden der jüdischen Kleiderhändler« gestürmt. Riff, Revolutionary Unrest of , S. . Auch nach Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , »war das städtische Bürgertum zu jener Zeit nicht antijüdisch eingestellt, wie zuvor und nachher«. Viele badische Landjuden suchten deshalb Schutz in den Städten. Der treue Zions-Wächter, Heft , .., S. . Vgl. auch die AZJ, Jg. , Heft , , .., S. . In Karlsruhe kam es am Abend des . März zu einer Zusammenrottung vor dem Haus eines jüdischen Kaufmanns, dem man die Fenster einwarf und die Fensterläden zertrümmerte. Die entstehenden Ausschreitungen konnten durch ein frühes Eingreifen der Bürgergarde gestoppt werden. Reinhard Rürup, Die jüdische Landbevölkerung in den Emanzipationsdebatten süd- und südwestdeutscher Landtage, in: Monika Richarz/Reinhard Rürup, Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, Tübingen , S. -. Nach Rürup, Die jüdische Landbevölkerung, S. , dominierte, was auch die Herkunft der überwiegenden Zahl der Petitionen gegen eine rechtliche Verbesserung für die jüdische Bevölkerung belegt, die Ablehnung der Juden vor allem in den ländlichen Gebieten. Rürup zitiert einen Abgeordneten der Zweiten Badischen Kammer, der noch feststellte, »daß in einem Teile unseres Volkes, namentlich auf dem Lande, eine lebhafte Ablehnung gegen die Israeliten besteht«. So argumentierte der badische Abgeordnete Gerbel im Herbst in der Zweiten Badischen Kammer, dass er, wenn er »von der Emanzipation der Juden spreche«, nicht an die »höheren Kreise, sondern an die unteren Klassen des Volkes« denke. »Ich will dem Landvolk das Mitleben und Zusammenleben mit den Juden erträglich machen« (Rürup, Die jüdische Landbevölkerung, S. ). Man machte in den Landtagsdebatten einen deutlichen Unterschied zwischen den Juden in den größeren Städten, die den Christen bereits ebenbürtig seien, und den Juden in den kleinen Städten und Dörfern, mit denen es sich ganz anders verhalte (ebd., S. – so argumentierte ein Abgeordneter in der Zweiten Badischen Kammer noch !).
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die rechtlichen Verbesserungen für Juden gab, zeigte sich einmal darin, dass es die christlichen Nachbarn, nicht selten auch Bürger und Bürgersöhne waren, von denen die Übergriffe ausgingen, zum anderen die Tatsache, dass an vielen Orten die Juden ihren – mehr oder minder erpressten – Verzicht auf den »Bürgernutzen« erklärten, weil sie darin offenbar den Hauptkonfliktpunkt sahen, den sie durch ihren Verzicht zu entschärfen hofften. Einen Beleg dafür kann man darin sehen, dass der Bruchsaler Bürgermeister seine Genehmigung, zu Ehren von Lorenz Brentano, einem Abgeordneten, der sich immer wieder für die Emanzipation eingesetzt hatte, von jüdischer Seite einen Fackelzug zu veranstalten, zurückzog, da er offenbar negative Reaktionen seitens der Christen befürchtete; zu Recht, denn es kam trotz des Verzichts auf den Fackelzug zu Angriffen auf die Häuser und Läden der Juden,83 und Brentano »soll ein Pereat für seine Fürsprache für die Emanzipation gebracht worden sein«.84 Noch am Abend des geplanten Fackelzuges am . März kam es hier zu »Hep-Hep«-Rufen, am . März sollte es dann zum sog. »Bruchsaler Judensturm« kommen. Am Nachmittag versammelte sich »ein vom Wein erhitzter Haufen« mit Knüppeln und Steinen auf dem Marktplatz, der Zustrom von weiteren Bruchsalern bekam, so dass der Bürgermeister die Bürgerwehr auf bot, die allerdings nur aus fünfzehn Mann bestand und somit zu schwach war, den antijüdischen Ausschreitungen in einigen Stadtvierteln Einhalt zu gebieten, wo die Tumultuanten in »Geschäfte und Wohnungen eindrangen und Türen, Läden und Fenster zertrümmerten, Waren und Mobiliar zerstörten und Säcke mit Lebensmitteln aufschlitzten, ›so dass die Straße ganz von Mehl bedeckt war‹«.85 Die Karlsruher Zeitung berichtete am . März über den »Bruchsaler Judensturm«, schrieb von den materiellen Zerstörungen, betonte aber, dass »jedoch keine persönliche Mißhandlung verübt« worden sei.86 Die Juden verbarrikadierten sich in ihren Wohnungen, in den Kellern oder auf den Speichern oder versteckten sich bei christlichen Nachbarn. Daraufhin alarmierten zwei jüdische Kaufleute den Kommandanten der Dragoner, Oberst Wilhelm Heinrich von Hinkeldey, und baten ihn um Hilfe gegen die angreifenden Volksmassen, da der Oberamtsvorstand nach Hause gelaufen sei und der Bürgermeister von der Menge verhöhnt werde. Obwohl der Oberst eigentlich ein offizielles Ersuchen um Hilfe für seinen Einsatz benötigt hätte, ließ er sofort eine Abteilung Dragoner zu Fuß in die Stadt marschieren und begab sich auch selbst dorthin. Der hilflose Bürgermeister bat um das Einschreiten Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Freiburger Zeitung, .. (»pereat«, . Person Konjunktiv Präsens von »perire« = untergehen, umkommen, hier im Sinne von »nieder«, »er soll zugrunde gehen« – das Gegenteil von »vivat« – »er lebe«). Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal, S. . Das Zitat im Zitat stammt aus dem Mannheimer Morgen vom .., zit. nach Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . »Auf heute sind weitere Exzesse gegen die Wohnung des Abgeordneten Brentano angedroht« – Der »Bruchsaler Judensturm«, Karlsruher Zeitung, . März . Zit. nach Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal, S. . Dort ist auch eine Planskizze abgedruckt, auf der die Behörden die Schauplätze der Unruhen eingezeichnet hatten.
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des Militärs, doch es dauerte bis Mitternacht, bis die Ruhe vollständig wiederhergestellt war. Am nächsten Vormittag seien der Bürgermeister und ein Geheimrat bei ihm erschienen und hätten um die Sicherung der Wohnung des Abgeordneten Brentano gebeten, die am Abend des . März Ziel eines Angriffs werden sollte. Daraufhin ließ er die Straße, in der die Wohnung lag, von berittenen Soldaten sperren. An allen öffentlichen Plätzen war Militär postiert, um neue Zusammenrottungen zu verhindern. Der Oberst wurde zudem am Morgen des . März von Juden gewarnt, dass an diesem Tag auch im benachbarten Heidelsheim ein Angriff auf die Judenhäuser geplant sei, so dass er eine Schwadron dorthin gesandt habe.87 Als auch persönlich von dem »Bruchsaler Judensturm« Betroffener berichtete der Abgeordnete Brentano auf einer Sitzung der Zweiten Kammer des badischen Landtages am . März über den Verlauf der Unruhen und kritisierte insbesondere das Verhalten der Oberamtmanns von Bruchsal, der sich »später in seine Wohnung zurückgezogen [hat], während draußen die furchtbaren Zerstörungen angerichtet wurden«.88 In seiner Anklage bezog er sich auch auf die Übergriffe in Heidelsheim am . März . Brentano forderte den entschiedenen Einsatz der Behörden zum Schutz der Bürger, zumal man von der drohenden Gefahr wusste und Vorsichtsmaßnahmen hätte treffen können. Trotz der entsandten Dragoner kam es am Fastnachtsmontag, den . März , auch in Heidelsheim, das zu der Zeit ca. Juden zählte, zu einem »Judensturm«.89 Obwohl sich der Bürgermeister mitsamt dem Gemeinderat und weiteren Bürgern bemühte, die Gewalt zu verhindern, begann mitten in der Nacht bei Schneetreiben der Angriff auf die Läden und Wohnungen der Juden, in die die Plünderer mit schwarz bemalten Gesichtern eindrangen und die Fenster und Einrichtungen von zehn Häusern demolierten oder sie ebenso wie die Waren auf die Straße oder in den Marktbrunnen warfen. Gendarm, Polizeidiener und andere Helfer, die sich der jüdischen Familien annahmen, wurden von den Tumultuanten beschimpft und geschlagen. Die aus Bruchsal eintreffenden Dragoner konnten dann die Ruhe wiederherstellen. Mehrere Nächte lang musste die auf Mann verstärkte Bürgerwache für Ruhe sorgen, um weitere Ausschreitungen zu verhindern.90 Die Juden fühlten Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal, S. . Badischer Landtag . Kammer /. Protokolle Bd. , Verhandlungen der zweiten Kammer. Fünfunddreißigste öffentliche Sitzung, vom . März , S. - (http:// digital.blb-karlsruhe.de/blbihdl/periodical/pageview/). Nach Hundsnurscher/Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden, S. , hat es in Spannungszeiten dort mehrfach kleinere Ausschreitungen gegen Juden gegeben, so , , und . Nach Riff (Revolutionary Unrest of , S. f.) hatten die Einwohner von Heidelsheim die Vorfälle bedauert und sich aktiv daran beteiligt, weitere Unruhen zu verhindern. Sie hätten sich aber unkooperativ bei der Identifizierung der Täter gezeigt, die vom Oberamt als Bewohner umliegender Orte identifiziert werden konnten. Es gilt wohl für eine Reihe weiterer Orte, dass »the rabble of the surrounding area« für Übergriffe verantwortlich waren (so im Müllheim, Nußloch u. a.). Es gab aber auch den Fall, dass Einheimische die Einwohner von Nachbarorten zum Mitmachen aufforderten. Die AZJ (Heft , ..)
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sich trotz des militärischen Schutzes nicht mehr sicher und flohen nach Bruchsal.91 Am übernächsten Tag wurde ein Amtsassessor nach Heidelsheim geschickt, der in Begleitung des Bürgermeisters den Tathergang, den angerichteten Schaden protokollierte und auch ein Verfahren gegen einen Tatverdächtigen eröffnete.92 – Für die Juden sollte der »Judensturm« noch ein böses Nachspiel haben, da die jüdischen Familienväter zwei Tage später auf das Rathaus zitiert wurden, wo man sie zwang, per Unterschrift grundsätzlich auf den »Bürgernutzen« zu verzichten – so wie auch an vielen anderen badischen Orten – wie schon – Verzichtserklärungen nach Ausschreitungen eingefordert wurden. Erst drei Jahre später, im April , konnten die Heidelsheimer Juden die Aufhebung ihrer Verzichtserklärung durchsetzen.93 Antijüdische Unruhen im Breisgau und am Hochrhein mögen durch die Unruhen im benachbarten Elsass, aber auch durch jüdische Flüchtlinge von dort motiviert gewesen sein, wie es die Freiburger Zeitung vom . März anlässlich von Unruhen in Müllheim von Anfang März vermutete, da die Menschen befürchteten, die Neuankömmlinge könnten sich ebenso wie einige früher eingewanderte und besonders unbeliebte jüdische Familien im Bezirk niederlassen. Übergriffe gegen Juden soll es in dieser Gegend noch in Emmendingen und Bamlach gegeben haben.94 Das Innenministerium forderte die Bezirksämter der Gegend auf, den Grenzübertritt von jüdischen Flüchtlingen ebenso wie von Kriminellen und Bettlern zu verhindern. Auch wenn es an vielen Orten Drohungen gegen die Juden gab, so trafen die Gemeinden doch erfolgreich Vorkehrungen, um einen Ausbruch von Gewalt zu verhindern.95 Nachdem acht liberale Abgeordnete bereits in einer am . März unterzeichneten Erklärung ihrer Erschütterung über die Gewaltausbrüche der »fehlgeleiteten Landbevölkerung« mit einem Aufruf in den großen badischen Zeitungen und
berichtete unter Berufung auf die Mannheimer Abendzeitung, dass während der Ausschreitungen »die Stadtbehörden […] ruhig am Tarok, dicht nebenan, saßen«. Härdle, Heidelsheim, S. . Bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. -, ist das Protokoll über die Begehung der zu Heidelsheim in der Nacht des ./. März beschädigten Wohnungen, angefertigt durch den Amtsassessor Haury, Heidelsheim, . März, abgedruckt [Generallandesarchiv Karlsruhe: /); siehe auch Stude, Geschichte der Bruchsaler Juden, S. f. Stude, Geschichte der Bruchsaler Juden. S. und . In Bretten dauerte die Aufhebung der Verzichtserklärung sogar bis . Die »Verzichtserklärung der jüdischen Ortsbürger zu Bretten, . März « ist abgedruckt in: Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Riff, Revolutionary Unrest of , S. . Der von Riff hier ebenfalls genannte Ort Kuppenheim liegt nicht im Hochrheingebiet, sondern in Mittelbaden in der Nähe von Rastatt. Nach Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , fanden die relativ schweren Unruhen in Müllheim erst am . und . März statt. Die zahlreiche jüdische Einwohnerschaft ( waren es Personen) und die beherbergten Flüchtlinge flohen nach Basel und wurden auf dem Weg dorthin erneut ausgeplündert. Nach Rohrbacher soll es in Bamlach selbst keine Unruhen gegeben haben, vielmehr hätten sich Einwohner aus Bamlach und Rheinweiler zusammengerottet, um Flüchtlinge aus Müllheim in Hertingen anzugreifen, was aber von den dortigen Bürgern abgewehrt wurde (ebd., S. ). Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. f.
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auf Flugblättern Ausdruck gegeben hatten,96 schlossen sich ihr am . März die anderen Mitglieder der Zweiten Kammer des Landtages einstimmig an. Die antijüdischen Unruhen wurden als »beklagenswerte Exzesse« heftig verurteilt, ein Urteil, dem sich auch die Presse Badens anschloss.97 Die Abgeordneten ermahnten ihre Mitbürger, diese Übergriffe zu verhindern, hinten denen man – in völliger Verkennung der Ursachen – »reaktionäre und jesuitische Umtriebe« und »Volksfeinde« vermutete, wohl um die angeblich »fehlgeleitete Landbevölkerung« nicht direkt verantwortlich zu machen.98 Der Bericht von Lorenz Brentano zum »Bruchsaler Judensturm« und zu den Ausschreitungen in Heidelsheim zeigt das völlige Unverständnis der bürgerlichen Liberalen für die Anliegen der unterbürgerlichen Schichten, wenn er einerseits behauptete, »daß nur die ganz niedere Volksklasse, der es freilich an Einsicht fehlt, und die nicht begreifen kann, welch’ große Dinge in der Welt vorgehen, an jenen pöbelhaften und bubenhaften Handlungen Theil hätte«,99 andererseits jedoch die These aufstellte, dass »diese Excesse nicht alle von dem Pöbel«, sondern »auch von anderer Seite, von Seiten einer volksfeindlichen und reactionären Parthei, der Parthei des im Finstern schleichenden Jesuitismus, diese Angriffe ausgingen«.100 Brentano spricht weiter davon, »wohlmeinende Bürger« hätten »die Männer genannt, die im Hintergrund standen und das Feuer schürten, das sie selbst angezündet hatten.«101 Die Menge habe sich dann auch unter dem Mannheimer Abendzeitung, . März . Darin heißt es u. a.: »Mit tiefem Schmerz, welchen alle wahren Freunde der Volksfreiheit und des Vaterlandes theilen, vernehmen wir die Nachricht, daß die Tage, welche die Herzen aller wackeren Bürger mit hehrer Begeisterung erfüllen, […] entweiht werden wollten durch blinde Zerstörungswuth und Gefährdung der Personen und des Eigenthums unserer Mitbürger mosaischen Glaubens, daß das leuchtende Panier der Freiheit besudelt werden will durch schmähliche Excesse.« Riff, Revolutionary Unrest of , S. f. AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Verhandlungen der zweiten Kammer, S. . Ebd. Dieser Darstellung widersprach in der Landtagsdebatte der Abgeordnete Karl Mez, der zwar konzedierte, dass an manchen Orten die Reaktion oder der Jesuitismus die Judenverfolgung herbeigeführt hätten, doch kenne er Orte, »wo, wie ich mit großen Bedauern sagen muß, die freigesinnten Bürger derselben sich zu der schmachvollen Handlung der Judenverfolgungen hergaben«, an denen er den Juden wegen ihres Wuchers und Schachhandels eine Mitschuld zuschrieb (ebd., S. ). Der Abgeordnete Johann Georg Christian Kapp wies jedoch die Behauptung, »solche Gräueltaten seien eine Folge der Freiheit" zurück, vielmehr steckten hinter diesen und hinter der Passivitat des Bruchsaler Amtes reaktionäre Krafte, eine »Kamarilla«. Er sieht darin die Folgen des »Metternichianismus« (ebd., S. ). Ebd., S. f. Bei Brentano folgt dann eine heftige Kritik am Versagen der für die Sicherheit verantwortlichen örtlichen Amtsträger in Bruchsal und Heidelsheim (S. ), die aber vom Staatsrat Johann Baptist Bekk mit Verweis auf anderslautende Berichte der örtlichen Beamten etwas in Zweifel gezogen bzw. mit dem Verweis darauf, wie schwer es für die Beamten vor Ort sei, »das rechte Maß zu treffen«, relativiert wurde. Er verwies darauf, dass man in den Bezirken Sinsheim, Eppingen und Bretten, wo Exzesse vorgefallen waren, Militär stationiert und die »gutgesinnten Bürger« ermuntert habe, gegen die Frevler zusammenzuwirken (ebd., S. ).
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Ruf »jetzt wollen wir auch dem Judenkönig sein Eigenthum vernichten« gegen sein Haus gerichtet, doch sei es dann von einer Patrouille geschützt worden.102 Während Brentano hier eine Drahtzieher-Theorie entwirft und dem Bürgermeister Untätigkeit vorwirft, beschreibt ein anderer Abgeordneter, Rokk, der in Bruchsal selbst anwesend war, die Vorgänge gänzlich anders: Demnach hätten um halb sieben Uhr zunächst Kinder mit »Hepp, Hepp«-Rufen begonnen, was ein Polizeidiener dem Bürgermeister sofort gemeldet habe, so dass eine »gewisse Anzahl von Bürgermilitär in Thätigkeit gesetzt« und vor den bedrohten Häusern der Juden postiert habe. Nach Rokk habe sich dann eine größere Masse gesammelt »und im Augenblick waren die Fenster an etwa fünf Häusern eingeworfen und einige Möbel zertrümmert, ohne dass es dem Bürgermilitär möglich war, den Frevel abzuwehren«. Als sich zeigte, dass das Bürgermilitär nicht helfen konnte, ließ man Dragoner kommen. Rokk widerspricht damit der Darstellung Brentanos (der in Bruchsal nicht anwesend gewesen war), denn den Beamten treffe »kein gerechter Tadel, denn es ist nicht wahr, daß er auf die hier bezeichnete Weise sich benommen habe«, da er geglaubt habe, die Leute würden schon »auseinandergehen, ohne einen Unfug zu verüben«.103 In der Sitzung der Zweiten Kammer kam es über die einander widersprechenden Darstellungen Brentanos und Rokks zu den Vorgängen in Bruchsal zu einer weiteren kontroversen Diskussion zwischen einer Reihe von Abgeordneten,104 wobei neben Plädoyers für die Judenemanzipation etwas seitens Friedrich Heckers von anderen Abgeordneten teils auch Kritik am Schacher und Wucher der Juden geäußert und teils betont wurde, dass über die »Frage der Emancipation der Israeliten« im Lande eine Ansicht herrscht, »die sehr getheilt ist. […] Die Emancipation ist eine Frage, die in unserm Lande öffentlich verhandelt wird, wobei das Volk eine andere Stimmung an den Tag legen wird, als hier behauptet werden will. Ich erkläre offen, daß in unserem Lande die bei weitem größte Mehrheit des Volcks gegen die Emancipation ist«.105 Damit dürfte die Situation im Land und die aus den rechtlichen Verbesserungen der Rechtsstellung der Juden seitens der liberalen Politik, sowie der Ablehnung dieser Verbesserungen durch größere Teile der Bevölkerung entstandene Konfliktsituation zutreffend beschrieben sein. Ebd., S. . Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , schreibt dazu kritisch: »Die Bourgeoisie spielt vox populi und unterschiebt die eigenen Interessen der Gesamtheit. Die Symptome dafür, dass die Unterschicht etwas anderes als das Bürgertum will, werden mit Proklamationen zugeschminkt«. Weitere Kritikpunkte siehe ebd., S. f. Dies ist ein weiteres Beispiel für den Topos der von Angehörigen bestimmter Interessengruppen bloß angestifteten »einfachen Bevölkerung«. Verhandlungen der Zweiten Kammer, S. . Brentano widersprach dieser Darstellung, was den ersten Abend anging, am nächsten Tag hätten sich die »Beamten dann in einer Weise benommen, daß sie alle die Anerkennung verdienen (ebd.). Der Abgeordnete Kapp warf den Bruchsaler Beamten »nicht blos einen Mangel an Fähigkeit, zu helfen, sondern auch Mangel an gutem Willen« vor (ebd.). Ebd., S. So die Abgeordneten Karl Mez bzw. Franz Joseph von Buß, Verhandlungen der Zweiten Kammer, S. f.
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Die Abgeordneten Bassermann und Hecker forderten ihre Mitbürger auf, »solchen Angriffen gegen die Freiheit, das Eigenthum und die Person aus allen Kräften zu steuern und die schöne Bewegung für die Freiheit nicht durch Ausbrüche der Rohheit entweihen zu lassen«.106 In der Tat wurden in einigen Orten, genannt werden von der Zeitung beispielhaft Emmendingen107 und Mannheim, Juden durch die Bürger selbst bzw. die sich bildenden Bürgerwehren geschützt, doch versagten diese Wehren an vielen Orten oder wechselten gar selbst in die Rolle der Tumultuanten108 und es musste Militär zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt werden, was wegen der Stationierungskosten die jeweiligen Gemeinden teuer zu stehen kam und deshalb nicht gern gesehen wurde.109 Dass diese Vorgänge nicht ohne Wirkung auf die Politik blieben, zeigt sich in den Einschränkungen und Verzögerungen in der Gesetzgebung. Die AZJ konstatiert in einem Leitartikel »Wie steht es?« im April enttäuscht, dass zwar jeder wisse und fühle, dass den Juden die Gleichstellung nicht verweigert werden könne, zumal die Opposition zuvor heftig dafür gekämpft habe, doch dass es dieser nun sehr unbequem sei, »in der Stunde des Sieges« diese Gleichstellung wirklich zu vollführen. Der Artikel geht dann die deutschen Staaten von Hamburg bis nach Süddeutschland durch und kommt zu dem negativen Ergebnis, dass die Gleichstellung nicht vorwärts rücke.110 Wie in vielen anderen Fällen hatte also auch hier die gewalttätige »Selbsthilfe« von Teilen der Bevölkerung die gewünschte Wirkung, die Gleichstellung der Juden zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Allerdings reagierte die Politik nicht nur zum Schaden der Juden, sondern der badische Innenminister ließ am . März ein Gesetz verabschieden, das die Gemeinden für alle von einer »zusammengerotteten Menge« ausgehenden Schäden verantwortlich machte, d. h., man musste die Opfer für ihren Schaden entschädigen und die Kosten für den Einsatz von Militär übernehmen.111 Es scheinen zudem im Fall der Unruhen in Heidelsheim doch viele der beteiligten Tumultuanten »mit ziemlicher Strafe« belegt worden zu sein, wie aus einem Schreiben des
AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Der treue Zions-Wächter, Heft , .., berichtete über Emmendingen, dass sich dort Bürger ohne amtlichen Auftrag zusammengetan hätten, um Übergriffe gegen Juden zu verhindern. In Peckelsheim (Kreis Warburg, Ostwestfalen) geschah es, dass ein Teil der zum Appell angetretenen sechshundert Landsturmmänner aus den umliegenden Ortschaften anschließend lärmend durch die Stadt zog, in jüdische Häuser eindrang, plünderte und die Einrichtung zerstörte, während die meisten Einwohner »ruhig und lachend« diesem Treiben zusahen und nur sehr wenige eingriffen (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). So berichtete die AZJ, die Stadt Bingen »büßt jetzt für den Frevel, die (sic) Einzelne aus ihrer Mitte an den dortigen Juden verübt haben«, da man dort ein Bataillon und einige höhere Staatsbeamte stationierte, die auch eine Reihe von Übeltätern verhafteten (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). AZJ, Jg. , Heft , .., S. f. Stude, Geschichte der Bruchsaler Juden, S. ; Riff, Revolutionary Unrest of , S. .
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Rechtsanwalts der jüdischen Gemeinde hervorgeht.112 Ob die Unruhen aufgrund dieses Durchgreifens der Regierung in Baden zurückgingen oder ob es dafür andere Gründe gab, jedenfalls wurden ab April keine weiteren Ausschreitungen mehr registriert. Von jüdischer Seite hielt man sich nicht mit Kritik an den Ausschreitungen zurück. In der Allgemeinen Zeitung des Judenthums häuften sich im März und April kurze Artikel, in denen die Nachrichten von den »grausamen Judenverfolgungen in den verschiedenen Gegenden Deutschlands zur Schmach des neunzehnten Jahrhunderts« erklärt und beklagt wurden. Es wurde zugleich aber auch die positive Rolle der Presse hervorgehoben, die sich gegen diese Ausschreitungen gewandt habe.113 Stefan Rohrbacher resümiert für die jüdischen Landgemeinden Badens das Revolutionsjahr als ein »Schreckensjahr«, wobei der Höhepunkt der Welle von Drohungen und Ausschreitungen im März und April lag, die aber noch länger fortwirkte.114 Am . Mai verabschiedete die Zweite Kammer ein Emanzipationsgesetz, das den Juden als Staatsbürgern nun Zugang zu allen Zivil- und Militärstellen sicherte.115 Die Erste Kammer des Landtages nahm jedoch die Unruhen als ein deutliches politisches Warnsignal und verzögerte die Behandlung des von der Zweiten Kammer ja bereits verabschiedeten Gesetzentwurfs zur Gleichstellung der Konfessionen bis in den Februar , da man offenbar weitere Unruhen befürchtete, und so unterblieb aus demselben Grund auch weiterhin die ortsbürgerliche Gleichstellung, der eigentliche Zankapfel in Baden, die die Juden erst erreichen sollten.116 Auch nach Wiederherstellung der Ruhe waren christliche Ortsbürger vielerorts nicht bereit, den erpressten Verzicht der Juden auf den Bürgernutzen rückgängig zu machen, so dass sich darüber langwierige Streitigkeiten entspannen. Die Regierungen der Nachbarstaaten Württemberg und Bayern waren sehr besorgt, dass die Unruhen sich auf ihre Gebiete ausbreiten könnten. Sie verlegten Truppen in diese Regionen und waren recht erfolgreich, ein Übergreifen zu verhindern.117 So waren von den vielen im Königreich Württemberg gelegenen jüdischen Gemeinden nur relativ wenige von Ausschreitungen im März und April betroffen, so Orte im Taubergrund wie Markelsheim, Weikersheim und Wachbach,118 sowie in Oedheim nahe Heilbronn119 und Baisingen im Schwarzwaldkreis, das
Stude, Geschichte der Bruchsaler Juden, S. . AZJ, Jg. , Heft , .. , S. ; Heft , .., S. . Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Stude, Geschichte der Bruchsaler Juden, S. . Rürup, Die Judenemanzipation in Baden, S. ff. Riff, Revolutionary Unrest of , S. . Hier handelte es sich nicht um ein Pogrom, sondern um einen Raubüberfall von dreißig bis vierzig mit Prügeln bewaffneten Personen mit geschwärzten Gesichtern auf einen Juden, über den das Gerücht ging, er habe eine große Geldsumme im Hause (Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. ). Angerbauer/Frank, Jüdische Gemeinden im Kreis Heilbronn, S. . Die AZJ, .., korrigierte eine frühere Darstellung vom Mai , wonach es in Mergentheim zu antijü-
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wiederholt von heftigen Ausschreitungen betroffen war. Noch im Juli kam es in Hochberg bei Ludwigsburg im Zuge der Holzablösung zu Unruhen gegen Juden, aber auch gegen den Bürgermeister. Die Verantwortlichen hatten in einigen anderen Fällen (wie in Lehren) Militär ins Dorf verlegt und an anderen Orten (Neuhaus) hart durchgegriffen.120 Es gab in Württemberg auch Angriffe auf Amtspersonen wie Stadträte, Amtmänner und Schultheißen, so in Wildberg, Altensteig und Nagold. Für die antijüdischen Ausschreitungen in Baisingen liegt mit der Megillat Baisingen eine zeitgenössische Quelle vor, in der diese aus Sicht der betroffenen Juden detailliert beschrieben werden. Sie soll deshalb ausführlicher zur Sprache kommen:121 – Es hatte Wochen vor Ausbruch der Gewalt in Baisingen das Gerücht gegeben, dass »die christlichen Einwohner benachbarter Dörfer uns überfallen, berauben und misshandeln wollen«. Es waren dann aber in der Nacht zum . März einheimische Christen, die in zehn Häusern von Juden Scheiben einschlugen, wobei die Nachtwächter zusahen und sogar mittaten. Am nächsten Tag spazierten sieben »ledige Burschen aus dem nahen Dorfe Vollmaringen« mit Beilen und Messern in die Haushöfe der Juden und drohten, sie in der kommenden Nacht mit Verstärkung anzugreifen. Die christlichen Nachbarn schritten nicht dagegen ein. Der Vorsteher der jüdischen Gemeinde wandte sich um Schutz an den Pfarrer und den Schultheiß, die beschlossen, die gesamte christliche Gemeinde des Ortes bewaffnet zur Abwehr eines Angriffs von außen zu mobilisieren. Einige der bereits sehr verängstigten Juden flohen unter Mitnahme ihrer »Gelder, Preziosen und Wertpapiere« jedoch in benachbarte Orte, und auch diejenigen, die im Ort blieben, »flüchteten sich und ihre werteste [sic] Sachen in christliche Häuser des Ortes, denen sie vertrauten«. In dieser Nacht blieb es aber ruhig. Vom nächsten Tag an bezahlten die Juden über längere Zeit christliche Einwohner für einen Wachdienst, an dem sich immer auch einige Juden beteiligten. Da es ruhig blieb, meinte man, auf die Wachen verzichten zu können, die nur bis Ende Pessach weiterbestehen sollten. Nachdem sich die Ortsbürger für den Schutz ihrer Juden engagiert hatten, kam es über einen Monat später, am . April , zu einer erstaunlichen Wende, da nun ungefähr vierzig christliche Einwohner des Ortes, die als teils verheiratet, teils ledig beschrieben werden (d. h., es beteiligten sich dischen Unruhen gekommen sei. Dies sei unzutreffend, vielmehr habe eine rohe Odenwälder Bande die Auslieferung der aus dem badischen Unterschüpf nach Mergentheim geflohenen Juden gefordert, was die Behörden natürlich abgelehnt hätten. Siehe Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. -; Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. ff. Gilam, Die historische Bedeutung der Megillat Baisingen, hier S. -; eine andere Version findet sich bei Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , demnach hätten sich, motiviert durch Gerüchte über Judenverfolgungen im Elsass, junge Burschen in einem Lokal in Vollmaringen getroffen, um »dort auf den Gewinn über eine Judenverfolgung tüchtig zu zechen. In diesem Zustand stürmten sie die Judenhäuser. Mehrere Männer und Burschen aus Baisingen saßen den Sommer über im Gefängnis«.
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nicht nur junge Burschen), begannen, zunächst die christlichen und jüdischen Wachen zu verjagen, um dann »in den meisten Häusern der Juden die Türen einzuschlagen und die Läden der Fenster zu erbrechen«. Die Tumultuanten werden als schwer bewaffnet beschrieben (mit schweren Steinen, Prügeln und Äxten). Sie warfen Steine durch die zerschlagenen Fenster und riefen »Geld oder Tod!« Sie drangen aber nur in ein Haus ein, in dem sie vieles zerstörten. Die Frau des Hauses und ihre Tochter flohen, die Tochter wurde aber eingeholt, »arg geschlagen und gefährlich verwundet«. Als die Menge dann in ein weiteres Haus eindringen wollte, warf dessen Bewohner, Wolf Kiefe, ihr Gulden aus dem Fenster zu, damit sie von ihm ablassen sollte. Doch hatte dies den Effekt, dass man nun noch mehr bei ihm vermutete und schwere Steine in das Haus warf, von denen seine Frau lebensgefährlich am Kopf verletzt wurde. Auch in der Synagoge wurden die Fenster eingeschlagen und Steine ins Innere geworfen. Das Haus des jüdischen Gemeindevorstehers wurde ebenfalls attackiert, dieser konnte aber mit seiner Familie durch die Hintertür entkommen und in einen Nachbarort fliehen. Der Gemeindevorsteher hatte aber zuvor seine jüdische Magd zum Schultheiß geschickt, der auch zusammen mit einigen Bürgern erschien, woraufhin die »Krawaller« entflohen.122 Die Juden kamen nun mit Äxten, Hämmern, Beilen usw. bewaffnet aus ihren Häusern und blieben auf der Straße zusammen, um weitere Angriffe abzuwehren, doch es blieb ruhig. Die Juden blieben nun nicht untätig, sondern forderten bereits am nächsten Morgen den Schultheiß auf, in einem Schreiben an das königliche Oberamtsgericht die Vorgänge der Nacht zu schildern, was dieser auch tat. Zwei Juden wurden mit demselben Anliegen direkt zum Gericht geschickt, das drei Landjäger und einen Vertreter des Gerichts nach Baisingen entsandte. Die Juden wollten es dabei aber nicht belassen, und zwei weitere Männer begaben sich nach Stuttgart, um »möglichst durch die höchsten Männer im Staate, möglichst für künftig unsere Ruhe zu sichern«. Es wurde auch umgehend eine gerichtliche Untersuchung eingeleitet, und bereits am folgenden Tag wurden zwei Verdächtige verhaftet und ins Gefängnis nach Horb verbracht, was für Unmut im Ort sorgte. Frauen »maulten darüber, dass das Gericht wegen der Juden ihre Leute zur Verantwortung ziehen wollte«, während »christliche Männer drohende Reden hören« ließen, »daß die Haare der Unsrigen zu Berge stiegen«. In dieser Situation schickten die Juden Frauen und Kinder in die Nachbarorte und sammelten sich heimlich bewaffnet in einem ihrer Häuser, doch kam es zu keinen weiteren Ausschreitungen. Insgesamt wurden Personen inhaftiert, von denen einige schnell wieder entlassen wurden, andere aber erst nach mehreren Monaten, nachdem die Untersuchung abgeschlossen und eine Bürgschaft geleistet worden war. Über die verhängten Strafen erfährt man in der Quelle allerdings nichts. – Wie andernorts auch wurde in Baisingen die Judenschaft auf das Rathaus bestellt, um »für alle Zeit freiwillig auf Bürgerecht und gemeindebürgerlichen Ebd., S. -.
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Nutzen« zu verzichten. Sie sollten zudem erklären, dass es ihr Wunsch sei, die zwei Inhaftierten aus der Haft zu entlassen und »alle Untersuchung wegen der Begebenheiten in der Nacht auf den . April niederzuschlagen« – sonst seien sie ihres Lebens nicht mehr sicher. Die Baisinger Juden wussten sich auch hier zu wehren, schickten einen Rabbiner nach Horb, der von den dortigen Beamten die Auskunft erhielt, sie könnten die gewünschte Erklärung ruhig unterschreiben, da diese noch von höheren Behörden genehmigt werden müsse, was nicht geschehen werde. Das königliche Oberamtsgericht war bereits vom Ministerium angewiesen worden, »keinen Zwang gegen die Juden zu dulden, die gesamt christliche Gemeinde verbindlich zu machen für den Schutz der Juden und deren Habe«. Ansonsten werde man zum Schutz Militär einquartieren. Der Text weist zudem noch darauf hin, dass das Verhalten der christlichen Einwohner Baisingens von den Protestanten wie Katholiken der Umgebung »sehr getadelt« wurde.«123 Die Juden stellten in Baisingen (mit Personen im Jahre ) einen hohen Bevölkerungsanteil, und die Tatsache, dass sie Geld, Edelsteine, Schuldscheine usw. besaßen und einer von ihnen Gulden zu seinem Schutz aus dem Fenster werfen konnte, spricht für wirtschaftlichen Wohlstand, zumal man auch über Wochen die Kosten für christliche Wachmänner aufbringen konnte. Dies machte vor allem die wohlhabenden Juden für ihre weniger wohlhabenden christlichen Mitbürger, wie der Ruf »Geld oder Tod!« zeigt, zu einem lohnenden Ziel, um Geld zu erpressen.124 Ihr Vorgehen, nämlich sich sehr energisch an den Pfarrer und den Bürgermeister, das Oberamtsgericht und sogar an die höheren Behörden in Stuttgart zu wenden, spricht für ein großes Selbstbewusstsein der Baisinger jüdischen Elite, die sich zu wehren wusste. Das Beispiel zeigt wiederum aber sehr klar, dass eine solche Gegenwehr und das Hilfeersuchen bei staatlichen Organen ein zweischneidiges Verhalten waren, da dadurch einerseits Täter abgeschreckt und bestraft werden konnten, sich andererseits aber die Kluft zwischen jüdischen und christlichen Einwohnern vertiefte bis hin zu erneuten Gewaltandrohungen und sich auch eine negative Haltung gegenüber der staatlichen Politik einstellen konnte.125 Wie die Unterscheidung von »den Unsrigen« zu den christlichen Baisingern zeigt, existierte einerseits eine klare ethnisch-religiöse Differenz, andererseits waren Teile der christlichen Ortsbürger ja bereit, ihre Juden gegen Angriffe von außen zu schützen. Gilam weist auf die Am Ebd., S. f. Gilam, Die historische Bedeutung der Megillat Baisingen, hier S. , schreibt, dass die deutschen Landjuden als eine Art »Mittelklassensegment« anscheinend weniger stark von der wirtschaftlichen Depression der er Jahre betroffen waren als die bäuerliche Bevölkerung (S. ). Bei Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , findet sich der Hinweis, dass der lange Gefängnisaufenthalt der verhafteten Baisinger Täter »den Keil zwischen beiden Gruppen noch tiefer getrieben habe. Auf längere Zeit hat es schlimme Feindschaften gegeben, wurde eine Bruderschaft vom guten Tod errichtet, die versöhnend wirken sollte.« Jeggle bezieht sich dabei auf: August Hagen, Die Geschichte der Diözese Rottenburg, . Bd., Stuttgart , S. .
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bivalenz der christlich-jüdischen Beziehungen auf den Dörfern hin, da ein freundlicher Umgang im Alltagsleben – so boten christliche Nachbarn Juden Schutz vor der drohenden Gewalt – zusammengehen konnte mit einer antijüdischen Einstellung, die er als eine Folge des Neides auf die bessergestellten Juden ansieht. »Hassausbrüche wie der vom April kamen nicht täglich vor, nicht einmal häufig«.126 Die aufgeheizte revolutionäre Situation im Frühjahr konnte zu einem solchen Ausbruch führen. Auch in Bayern stellte die Proklamation des bayrischen Königs vom . März die Vorlage eines Gesetzentwurfs über die »Verbesserung der bürgerlichen Verhältnisse des Israeliten« in Aussicht.127 Eckstein schildert aus jüdischer Sicht, wie sehr der Märzsturm des Jahres und die Proklamation des bayrischen Königs unter den bayrischen Juden Freude und Hoffnung ausgelöst hätten.128 Diese erhielt jedoch einen Dämpfer durch die »antisemitischen Ausschreitungen, mit denen gegen Mitte März das Fest der jungen Volksfreiheit in Städten und Dörfern Oberfrankens gefeiert wurde. ›Staatsdienste wollt Ihr haben?‹ rief der Pöbel, ›tot müsst Ihr geschlagen werden!‹ Kein Wunder, dass die Landjuden sagten: ›Gar nichts wollen wir haben !‹«129 Im Kontext der Debatte um das neue Emanzipationsgesetz für die Juden /, das von der Kammer der Abgeordneten positiv beraten wurde, aber auf starken Widerstand in den Orten mit jüdischen Gemeinden stieß, warnte im Dezember eine große Zahl von Berichten aus diesen Orten, die über die Stimmungslage Auskunft gaben, dass es Agitation und Gewalt gegen die Juden geben könnte, wenn das Gesetz durchkäme. Es wird von der Androhung berichtet, man werde zur Selbsthilfe greifen und mit Gewalt gegen Juden vorgehen, andere warnten vor einem »gefährlichen Aufstand des Volkes« oder sogar vor einer Austreibung oder gar Ermordung der Juden (z. B. aus Gerolsheim, Hammelburg, Karlstadt, Marktheidenfeld, Gilam, Die historische Bedeutung der Megillat Baisingen, S. f.; auch Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , spricht davon, dass es »neben der Tradition des Hasses und der Verachtung« in den Judendörfern seit der »Aufklärung auch eine Tradition der Toleranz und Achtung« gab, wobei es schnell zu einem Stimmungsumschwung kommen konnte (ebd., S. ). Eckstein, Der Kampf der Juden. Ebd. Eckstein berichtet von der gänzlich anders gearteten Reaktion der jüdischen Stadtbevölkerung, die die Chance des Augenblicks ergriff, um sich mit ihren Wünschen nach Emanzipation Gehör zu verschaffen, und er zitiert einen Aufruf der Kultusgemeinde Bamberg vom . März , in dem diese vom König nicht nur eine teilweise Verbesserung, sondern die volle Gleichstellung verlangte, eine Forderung, mit der sie sich einig sah mit den christlichen Mitbürgern (ebd., S. f.). Tatsächlich hatten die Magistrate der großen bayrischen Städte mit jüdischen Gemeinden wie München, Bamberg, Nürnberg, Würzburg etc. die Wünsche der Juden mit Adressen an den König unterstützt, während der Magistrat von Fürth eine solche ablehnte mit der Begründung, dies sei der falsche Zeitpunkt. Am . März folgte die Fürther Gemeinde mit einer ähnlichen Petition (S. ff.).
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Neustadt/Saale).130 Doch blieb die Lage / erstaunlich ruhig. Der Leiter des lokalen Büros des Innenministers in Unterfranken, der diese Berichte angefordert hatte, schrieb in seinem zusammenfassenden Bericht nach München am . Dezember , dass es »Störungen der öffentlichen Ordnung und einzelne isolierte Ausbrüche von Hass geben könne, dass aber in Richtung einer Revolution nichts zu befürchten sei«.131 Die leidenschaftlich geführten Beratungen über die unbedingte Emanzipation der Juden brachten die »Judenfrage« im Dezember wieder auf die politische Tagesordnung Bayerns, was vor allem bei den »Ultramontanen« und in den katholischen »Piusvereinen« zu scharfen antijüdischen Reaktionen führte. Zwar stimmten Regierung und Zweite Kammer dem Emanzipationsgesetz zu, doch enthielt dieses eine wichtige Einschränkung, da zwar die staatsbürgerlichen Rechte in vollem Umfang gewährt werden sollten, nicht aber die bürgerlich-gemeindlichen Rechte (Ansässigmachung, Verehelichung), deren Vollzug derzeit noch von der Zustimmung der christlichen Gemeinden abhängig blieb (bis zu einem entsprechenden Beschluss der Kammer), doch leistete die Reichsratskammer Widerstand gegen das Gesetz.132 Die Judenemanzipation bildete »das Tagesgespräch«, und die konservativen katholischen Zeitungen, die Geistlichkeit sowie die Piusvereine kämpften gegen das Gesetz, beschimpften die Abgeordneten, die für das Gesetz gestimmt hatten, und rieten ihnen, sich in Altbayern nicht auf dem Lande sehen zu lassen. Sie drohten mit Judenverfolgungen und riefen zu einem »Adressensturm« gegen das Gesetz an die Reichsratskammer auf.133 Tatsächlich gingen mehrere hundert Protestadressen vor allem aus Nieder- und Oberbayern ein (wo kaum Juden wohnten), die aus über tausend Gemeinden stammten und von über . Personen bzw. teilweise auch nur von den Gemeindeverwaltungen unterschrieben waren.134 Diese Schreiben, die die »gröblichsten Beleidigungen gegen die Zweite Kammer wie das Ministerium« enthielten, stammten aus allen Teilen Bayerns mit Ausnahme der Pfalz, und nur wenige Zuschriften aus Franken. In München soll sogar der König Maximilian II. in einem Anschlag an der Theatinerkirche als »König der Juden« apostrophiert worden sein. Die AZJ vermutet, dass hier die »ultramontane Partei« gegen die Emanzipation mobilmachte, da aus protestantischen Gegenden sowie den größeren Städten überhaupt keine Protestschreiben eingegangen seien.135 Aus Würzburg wurde gemeldet, dass sich gegen das dort zirkulierende Protestschreiben gegen die Judenemanzipation Widerstand von Seiten liberaler Vereine (Märzverein, James F. Harris, The People Speak! Anti-Semitism and Emancipation in Nineteenth Century Bavaria, Ann Arbor , S. . Ebd., S. f. AZJ, Jg. , Heft , .., S. -; die AZJ spricht wegen der Einschränkungen von einer »halben Emanzipation« (S. ). Ebd. AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; dann fortlaufend in jedem Heft mit immer höheren Zahlenangaben: AZJ, Heft , .., S. ; Heft , .., S. f. Im Februar wird die Zahl von gemeldet: AZJ, Jg. , Heft , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. .
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Arbeiterbildungsverein, Turnverein und politischem Klub) regte.136 Tatsächlich beugte sich die Kammer der Reichsräte diesem öffentlichen Druck und verwarf den Gesetzentwurf über die staatsbürgerlichen und bürgerlichen Rechte der Juden mit großer Mehrheit. Somit blieb die Frage der Stellung der Juden im bayrischen Staat weiterhin offen. Die AZJ vermutet als Grund nicht nur den Druck aus der Bevölkerung, sondern auch, dass man auf diese Weise die »Märzerrungenschaften« der Revolution wieder revidieren bzw. nicht einlösen wollte.137 Viele wohlhabende jüdische Familien beschlossen deshalb, Bayern zu verlassen. Auch in diesem Fall erwiesen sich schon die Petitionen und die Androhung von Gewalt gegen Juden sowie die zahlreichen Ausschreitungen im März und April als ein äußerst wirksames Mittel, weitere Verbesserungen der Rechtsstellung der Juden zu verhindern bzw. zu verzögern, wobei der örtliche Widerstand primär darauf abzielte, die Verleihung von Ortsbürgerrechten an die Juden zu blockieren, d. h., die Abwehr war in erster Linie durch die Konkurrenz um knappe Güter und weniger durch Judenhass oder gar durch eine in Schriften verbreitete judenfeindliche Ideologie motiviert. »Lärmende Auftritte gegen die Juden« in Hessen Die Ausschreitungen, die im nordbadischen Raum und im hessischen Odenwald begonnen und exzessive Ausmaße angenommen hatten, breiteten sich noch im März ins Großherzogtum Hessen aus, wo es unter anderem in Alzey zu »großen Exzessen« kam, die sich vor allem, aber nicht ausschließlich gegen Juden richteten.138 Noch Mitte April gab es einen mehrere Tage andauernden Tumult in Bingen, wo es zu »schreiendsten Gewaltszenen« vor allem gegen die jüdische Bevölkerung gekommen sein soll. Als Träger der Unruhen werden »Landleute«, aber häufig auch »zusammengerottetes Gesindel« benannt.139 Doch erreichten sie im Großherzogtum Hessen nicht die Verbreitung und Intensität wie in Baden. Seit Mitte März begann in den niederhessischen Landkreisen eine Kette von Krawallen, die sich vor allem gegen missliebige Beamte, Adlige und Gutsherren AZJ, Jg. , Heft , ... S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. ff. Preissler, Frühantisemitismus, S. . Während Preissler die Berichte über »grobe Exzesse« in Alzey und einigen anderen Orten des Großherzogtums Hessen(-Darmstadt) dahingehend interpretiert, dass die Ziele »wohl in der Hauptsache Juden« gewesen seien, sieht Hoffmann, »… wir sind doch Deutsche«, S. , dafür keinen Beleg. Preissler, Frühantisemitismus, S. . In Bingen sollen nach Briefen des französischen Konsuls Engelhardt Aufständische am . April Juden in ihren Häusern erpresst haben. Zwei Personen wurden verhaftet, aber auf Druck der Menge wieder freigelassen. Die Gendarmen sahen tatenlos zu. Die »Anarchie« dauerte zwei Wochen, bis die Armee am . Mai einschritt. Zit. nach Florian Ferrebeuf, Der Beginn der Revolution von in Mainz aus der Sicht eines ausländischen Diplomaten, des französischen Konsuls Engelhardt, www.demokratiegeschichte.eu/…/Der_Beginn der_Revolution_in_Mainz_Florian_Ferrebeuf. pdf. S. .
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sowie gegen die ansässigen Juden richteten, etwa in Eschwege und Herleshausen. Das Gewaltniveau ging aber über das Einschlagen von Fensterscheiben und verbale Angriffe kaum hinaus.140 Über Unruhen gegen Beamte und Juden in hessischen Landstädten und Dörfern, etwa in Hofgeismar, Melsungen, Rotenburg und Breitenbach, berichtete die AZJ noch für Anfang Mai .141 Zu Unruhen kam es auch in Alsfeld am . März und in Gießen am . März.142 Rotenburg a. d. Fulda: Schauplatz antijüdischer Exzesse In Rotenburg begannen die Unruhen bereits Mitte März . Über mehrere Monate kam es dort zu abendlichen Angriffen auf die Wohnungen von Juden, die mit Äxten attackiert, deren Einrichtungen zerstört oder auch geplündert wurden.143 Im Folgenden soll die über Dokumente sehr gut rekonstruierbare Entwicklung in Rotenburg etwas detaillierter nachgezeichnet werden, da für diesen Fall eine detaillierte Untersuchung vorliegt.144 Der Kreis Rotenburg war gleich mehrfach durch die wirtschaftliche Misere betroffen. Sowohl die Leineweberei als auch der Bergbau der Gegend waren unrentabel geworden, und die Folge von Missernten seit verschärfte die Lage weiter. Die Stadt hatte zudem durch den Wegzug hoher Justiz- und Hofbehörden starke Einbußen erlitten, während, durch den Hof angezogen, die Zahl der jüdischen Einwohner in und um Rotenburg besonders hoch lag.145 Es ist kein Zufall, Heinrich Nuhn, Jiskor – Gedenke. Beiträge zur Geschichte der Rotenburger Juden, Rotenburg a. d. Fulda , S. -, S. . AZJ, . Jg., Heft , .., S. . Zu Alsfeld und Gießen siehe Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. f. Der treue Zionswächter berichtete aus Rotenburg a. d. Fulda sogar noch Ende Juni von heftigen antijüdischen Unruhen mit Misshandlungen, Plünderungen und Verwüstungen, die nur durch ein großes Aufgebot von dreihundert Schützen beendet werden konnten. Obwohl einige Tumultuanten verhaftet und nach Kassel gebracht worden waren und entsprechende polizeiliche Ermittlungen stattfanden, beruhigte sich die Lage in Rotenburg bis in den Oktober hinein nicht gänzlich. Jüdische Familien flohen mit ihren Habseligkeiten nach Kassel (Heft vom .., S. ). Diese von bis erscheinende Zeitung gab ihre Ausrichtung im Untertitel zu erkennen: »Organ zur Wahrung der Interessen des orthodoxen Judenthums«. Die folgende Darstellung stützt sich auf die sehr gute historische Auf bereitung mit entsprechenden Dokumenten: Rotenburg in der Revolution . Schauplatz antijüdischer Exzesse, Multimedia CD, AG Spurensuche der Jakob-Grimm-Schule, Rotenburg a. d. Fulda ; als Textausgabe auch publiziert in: Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. -. Ebd. Am . Mai sandte der Rotenburger Stadtrat Hein eine »Petition der Stadt Rotenburg zum Abhelfen ihres Nothstandes gestellten Desideriums« an den Landtagsdeputierten, Herrn Oberzunftmeister Nebelthau zu Kassel, Quelle: Staatsarchiv Marburg, Bestand , Rotenburg, Nr. . In diesem Schreiben beklagt Hein einerseits den Fortzug bzw. die Verkleinerung zahlreicher Behörden am Ort und weist auf die hohe Abwanderung hin, fordert aber ferner gesetzlichen Schutz gegen das »wucherische betrügliche Treiben der Juden«, das durch das Emanzipationsgesetz von noch begünstigt werde. Die Konkurrenz um knappe Stellen in der Justiz zeigte sich in der Ablehnung,
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dass gerade die östlichen Kreise der Landgrafschaft Hessen, zu denen auch der Kreis Rotenburg gehörte, besonders hohe Auswandererzahlen (fast ein Drittel der kurhessischen Auswanderer) stellten, von denen zwei Drittel ohne jedes Vermögen die Reise antraten. Aufgrund der wirtschaftlichen Notlage mussten sich viele Einwohner verschulden und Kredite bei einem der zahlreichen jüdischen Geldverleiher aufnehmen. Wenn eine Rückzahlung nicht möglich war, wurde so manchen ihre Habe von den Gläubigern, darunter nicht selten Juden, gepfändet. So erschienen Letztere vielen als die eigentliche Ursache ihres Unglücks, zumal es den meisten jüdischen Waren- und Geldhändlern wirtschaftlich besser ging als den Angehörigen der überbesetzten Handwerksberufe und den arbeitslos gewordenen Arbeitern der Gegend. Das soziale Elend der Einwohner Rotenburgs sowie die deutlich von der Mehrheitsbevölkerung abweichende Berufsstruktur der zahlenmäßig recht großen jüdischen Bevölkerung ( in den Handelsberufen gegenüber unter den Christen; bei einem Anteil von an der gesamten Erwerbsbevölkerung lag der Anteil der Juden unter den Handelsberufen bei ),146 wird bereits von den Zeitgenossen als ein Grund für die besonders heftigen und lang anhaltenden antijüdischen Ausschreitungen in Rotenburg angeführt. In einer Petition zur Ständeversammlung vom . Juni war die hohe Zahl der Juden in Rotenburg ein Beschwerdepunkt, auch dass sie sich trotz der Gewerbefreiheit weiterhin fast gänzlich dem Handel widmeten und damit die Erwartung auch vieler Emanzipationsbefürworter enttäuschten, Juden würden bei freier Berufswahl nun auch andere Berufe ergreifen und den Handel aufgeben. D. h., neben der Gewalt wurden, wie in vielen anderen Fällen, auch andere Formen genutzt, um vom Staat angesichts einer als Missstand angesehenen Lage Abhilfe zu fordern. In Rotenburg begannen die Unruhen am . März und spitzten sich am . und . erstmals zu, als mehrere jüdische Geschäftshäuser und Wohnungen attackiert wurden. Diese Aktion hatte sich aus einem zunächst friedlichen Ständchen der Bürgergarde entwickelt, das sie den im örtlichen Gasthaus logierenden Deputierten einiger Nachbarorte bei ihrer Rückkehr von einer Versammlung in Kassel dargebracht hatten. Nach der Weiterreise der Deputierten suchte sich die Menge offenbar ein neues Ziel in den jüdischen Geschäften und Wohnungen. Wie der Bericht des Kreisamtes Rotenburg (»Anzeige des Israeliten Baruch Flörsheim betr.«) an die Kurfürstliche Polizeydirection der Provinz Niederhessen zu Kassel vom . März zeigt, wurde dieses Ereignis weder polizeilich noch gerichtlich verfolgt, aber die Bürgergarde wurde zum Schutz aufgeboten. Am . März berichtete der Landrat, die der jüdische Advokat Berlein durch Kollegen am Ort erfuhr, die in seiner Bestellung nach Rotenburg eine »Beeinträchtigung ihres Einkommens« sahen. Man wollte ihn vom dortigen Obergericht fernhalten. Vgl. dessen Brief an das Kurfürstl. Justizministerium vom . Mai , Quelle: Staatsarchiv Marburg, Bestand /Justizministerium, Nr. . Ebd. zit. zwei Statistiken zu: Berufsgruppen der jüdischen Bevölkerung, Anteil der Berufsgruppen an der (männlichen) Bevölkerung in Rotenburg , Quelle: Staatsarchiv Marburg – LA Rotenburg).
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dass Ruhe und Ordnung wiederhergestellt seien, auch wenn sich nicht jede Gewalttätigkeit gegen die Juden unterbinden lasse. Diese »Aufregung«, die sich »lediglich gegen die Juden richte«, werde sich bald wieder legen, meinte der Landrat. Damit wollte er offenbar die Befürchtungen der Regierung in Kassel zerstreuen, es könnte sich um staatsfeindliche Aktivitäten handeln. Dass es mit der Ruhe nicht so weit her gewesen sein kann, belegt ein Beschwerdebrief des Kaufmanns David Linz vom . März , laut dem sich seit Tagen die »lärmenden Auftritte gegen die Juden« wiederholten, es wurden im Ort Plakate aufgehängt, auf denen die Juden aufgefordert wurden, Rotenburg binnen vier Wochen zu verlassen, andernfalls werde man sie ins Wasser werfen.147 Linz beklagte zudem die Passivität der Bürgergarde und die Tatsache, dass das Gericht genötigt wurde, die Ruhestörer wieder freizulassen. Diese Einschätzung wird von einer militärischen »Meldung« vom . April bestätigt.148 Demnach sei es in den Orten des Kreises Rotenburg ruhig, jedoch nicht in der Stadt selbst, wo »jedermann überzeugt sei, dass die früheren Störungen der öffentlichen Ordnung, die verübten Gewalttaten alsbald wieder beginnen würden, wenn das Militär abmarschierte.« Der Schreiber sieht eine Ursache zwar auch im »Wucher eines Teils der jüdischen Bevölkerung« begründet, doch ist für ihn der tiefere Grund die »moralische Gesunkenheit eines großen Teils des Mittelstandes der hiesigen Bürger«. Die Bürgergarde schätzte er ebenfalls als völlig unzuverlässig ein und plädierte dafür, weiterhin Militär in Kompaniestärke am Ort zu belassen. Dass es auch trotz des Militärs in Rotenburg weiter zu Übergriffen kam, belegen Beschwerden der Manufakturenhändler Leyser Linz und Geisel Birnbaum in Kassel am . Mai , wonach ihre Häuser seit sieben Wochen immer wieder angegriffen würden und sie sich kaum noch aus dem Hause wagten. Beide baten um Hilfe von außen, da die Bürgergarde nicht in der Lage sei, die Juden zu schützen.149 Darauf reagierte das Kurfürstliche Ministerium am . Mai mit einem Erlass, der offenbar für einige Wochen die Lage beruhigte, bevor es ab dem . Juni wieder zu fast täglichen Exzessen gegen das Eigentum der Juden kam, die allerdings von wenigen Personen zumeist mitten in der Nacht verübt wurden, so dass die Täter nicht gefasst werden konnten. Der Bericht des Regierungsassessors Mittler, Landratsstellvertreter in Rotenburg, belegt, dass sich die Menge mit Katzenmusiken auch an den örtlichen Justizbeamten Weber (als »Judenfreund«) und einen »sonst sehr populären Kaufmann« wendete. Als die Verhaftung einiger Täter Ob sich eine solche Aktion gegen einen jüdischen Einwohner tatsächlich ereignet hat oder aber eine Legende ist, lässt sich nicht mehr klären, doch wird eine solche Begebenheit im Volksmund in einer Geschichte tradiert, wonach dieser aus seiner Wohnung gezerrt, durch den Ort getrieben und schließlich in einen Teich geworfen worden sei, aus dem es sich aber habe retten können. Ebd.: »Alleruntertänigste Meldung von der mobilen Colonne im Kreis Rotenburg«, Quelle: Staatsarchiv Marburg, Bestand / Militärkabinett, Nr. (abgedruckt in: Nuhn, Jiskor – Gedenke). Quelle: Staatsarchiv Marburg, Bestand , Landratsamt Rotenburg, Nr. (abgedruckt in: Nuhn, Jiskor – Gedenke).
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gelang, darunter ein angesehener Drechslermeister, sorgte dies in der Stadt für große Empörung, und die Menge versuchte am . Juni trotz der Anwesenheit von Militär, das Fortschaffen der Inhaftierten nach Kassel gewaltsam zu verhindern.150 Bei Anbruch der Nacht vom . zum . Juni eskalierten die Ausschreitungen. bis Menschen, d. h. der größere Teil der männlichen Einwohnerschaft, zogen durch die Stadt und demolierten fast sämtliche Häuser der Juden, rotteten sich aber auch mit Protestgeschrei (»der Hund soll heraus !«) und Steinwürfen vor dem Haus eines Justizbeamten zusammen. Der Amtmann Weber befürchtete eine Wiederholung für die kommende Nacht.151 Daran wird erkennbar, dass die Obrigkeit sich selbst durch ihren Schutz der Juden unbeliebt machte, keinerlei Unterstützung von Seiten der Bürgerschaft erwarten konnte und sogar mit deren offenem Widerstand rechnen musste, da die Mehrheit der Bürger die »gewalttätige Selbsthilfe« offensichtlich als legitim empfand. Selbst der örtliche Bürgermeister verhielt sich passiv, und fast alle Mitglieder der Bürgergarde erschienen nicht zum Dienst, da sie sich durch den »Judenschutz« selbst den Zorn der Mitbürger zugezogen hatten.152 Dies verdeutlicht die prekäre Situation einheimischer Amtsträger, da Bürgergarde wie Bürgermeister sich gegen ihre eigenen Mitbürger stellen mussten, obwohl sie sicher oft deren Anliegen teilten und von deren Legitimität überzeugt waren. Da sie weiterhin geachteter Teil der Gemeinde bleiben wollten, wählten sie den Ausweg der Passivität, wenn sie nicht sogar, wie es in nicht wenigen Fällen geschah, die Seiten wechselten, um nicht selbst zum Ziel der Angriffe ihrer Mitbürger zu werden. Die Juden besaßen deshalb nicht zu Unrecht wenig Vertrauen in die einheimischen Ordnungskräfte und setzten auf militärischen Schutz von außen, wobei sogar das Militär bei Verhaftungen mit Gegenwehr bzw. der Befreiung der Festgenommenen rechnen musste. So gab Baruch Flörsheim, der nach Kassel geflohen war, am . Juni im Innenministerium entsprechend über die Lage in Rotenburg zu Protokoll, dass der Amtmann ihm keinen Schutz mehr gewährleisten könne und die Bürgergarde trotz Alarmschlagens nicht angetreten sei und den Einsatzbefehlen ihrer Kommandanten nicht folge.153 Der Amtmann Weber selbst musste sich bei seiner Rückkehr aus Kassel vor der Menge bei Verwandten verstecken und verließ am Abend die Stadt. Das Innenministerium ordnete bereits am . Juni die »schleunigste Entsendung« von genügend Militär an. Das genannte Protokoll Flörsheims gibt auch einen Hinweis darauf, dass es sich bei den Tätern, die ihm auch eine größere Menge an Wertsachen gestohlen hatten, Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. . Quelle: Bericht vom Amtmann Weber an das Kurfürstl. Ministerium des Innern, Staatsarchiv Marburg, Bestand /M. des Innern, Rep. VII, Kl. , Nr. (abdruckt in Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. .). Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. und . »Regierungs-Assessos Mittler, Landrats-Stellvertreter zu Rotenburg berichtet, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe betreffend« am . Juni an das Kurfürstl. Ministerium des Innern, Quelle: Staatsarchiv Marburg, Bestand /M. des Innern, Rep. VII, Kl. , Nr. . Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. .
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nicht um Außenseiter handelte, sondern um angesehene Rotenburger Bürger. So werden als Berufe Kantor, Dachdecker, Bäckermeister, Buchbinder usw. genannt. Flörsheim bat zudem noch um die Hausdurchsuchung bei zwei der genannten Täter sowie bei einem Seifensieder und einem Gastwirt, bei denen er wohl sein gestohlenes Eigentum vermutete. Er konnte dafür zahlreiche angesehene christliche (was eher selten vorkam) wie jüdische Zeugen benennen.154 Diese soziale Situierung erklärt wohl auch die große Unterstützung der Menge gegen deren Verhaftung und Abtransport und den Hass auf die ausführenden Amtspersonen, den Amtmann Weber und den Untersuchungsrichter Bernhard. Ebenso unbeliebt machten sich offenbar auch die Kommandeure der Bürgergarde, die bedroht wurden und deshalb ihre Ämter niederlegten.155 Der Regierungsassessor Mittler bat am . Juni um seine Ablösung aus Rotenburg, da er sich durch seine »Parteinahme für den attackierten Justizbeamten »den unverhohlenen Hass der Bürger« zugezogen habe.156 Dem Amtmann Weber riet er, die Stadt bis zur Ankunft des Militärs zu verlassen, das am . Juni in der Stadt eintraf. Dies beruhigte die Lage, insoweit nun keine weiteren Übergriffe stattfanden, doch schätzte Regierungsassessor Mittler die Lage weiterhin als bedrohlich ein und plädierte dafür, das Militär in der Stadt zu belassen bzw. es angesichts der gerichtlichen Untersuchung noch zu verstärken, da diese zu weiteren Spannungen führen könne.157 Der Untersuchungsrichter riet deshalb, die Verhandlungen nach Kassel zu verlegen. Er fürchtete die Rache der Verwandten und Freunde der Beschuldigten, weil man »fast allgemein die Exzesse gegen die Israeliten für eine wohlverdiente Bestrafung derselben und die Untersuchung darüber für ein unverantwortliches Unrecht halte«.158 Dieses Zitat verdeutlicht das abweichende Rechtsverständnis der Rotenburger Bürger, die die Übergriffe gegen Juden für legitim, das Vorgehen des Staates dagegen für illegitim hielten. Die Vorgänge in Rotenburg waren in ihrer Dauer und ihrer Ausrichtung auch auf Amtspersonen so ungewöhnlich, dass es darüber einen längeren, äußerst kritischen Bericht in der Kasselschen Allgemeinen Zeitung gab.159 Auf diese öffentliche Schelte reagierten »gehorsame Bürger und Einwohner« der Stadt mit einer Petition an die Hohe Ständeversammlung (datiert vom . Juni ), in der sie die Verschärfung der Missstände seit der Judenemanzipation beklagten und es für besser hielten, wenn das Emanzipationsgesetz von ungeschrieben geblieben wäre. Da das Unglück der Gleichstellung der Juden nun einmal passiert sei, plädierten sie für Ebd. Kasselsche Allgemeine Zeitung, Nr. , . Juni , zit nach: Nuhn, Jiskor – Gedenke. Quelle: Landgerichtsassessor Bernhard berichtet über den ihm erteilten Auftrag zur Führung von Untersuchungen bei dem Justizamt I Rotenburg, .., Staatsarchiv Marburg, Bestand /M. des Innern, Rep. VII, Kl. , Nr. . Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. . Ebd. Ebd. Abdruckt in: ebd., S. .
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einschränkende Sondergesetze.160 Dem Geist der Zeit entsprechend traten sie für die Gleichheit aller Bürger ein, doch sahen sie bei den Juden zwar gleiche Rechte gegeben, aber nicht die gleichen Pflichten, da diese sich nicht »auf ordentliche Weise nähren und ihr Fortkommen suchten«. Man forderte deshalb strengere Gesetze gegen den »Schacher- und Wucherhandel« (jeder Schacherjude verdiene mehr als der fleißige christliche Bürger) und unterbreitete die alte Forderung nach einer beruflichen Umschichtung der Juden hin auf Handwerk, Ackerbau und Viehzucht. Die Bürger betonten ihre Toleranz, sahen die Juden als »Wölfe, die sich in unaufhörlicher Hast in die christliche Herde einschleichen und sie zu zerstören suchen«. In grotesker Umkehr der Täter- und Opferrolle begründeten sie den Ausbruch der Exzesse gar mit dem »heimlichen Groll« der Juden gegen die Christen, mit dem sie sich gegen diese abgrenzten, was wiederum auf eine große kulturelle Distanz zwischen den Gruppen verweist. Die Juden hätten »auf die Stadt Rotenburg den schädlichsten und traurigsten Einfluss ausgeübt« und die Exzesse seien eben durch dieses »unselige Treiben der jüdischen Bedrücker« hervorgerufen worden. Die Rotenburger führten diese zudem noch auf die rigorose Strafverfolgung der Täter und deren ungerechte Behandlung durch den erst seit Ende April amtierenden Amtmann Weber zurück.161 Auch die Vorwürfe des engen eigennützigen Zusammenhaltens sowie der nationalen Unzuverlässigkeit wurden gegenüber den Juden ins Feld geführt. Der Hersfelder Abgeordnete Sunkel, der dem Petitionsausschuss Bericht über die Rotenburger Petition geben sollte, wies die Vorwürfe zurück und schlug vier Maßnahmen vor: die Aufhebung der rechtlichen Unterschiede zwischen Christen und Juden, Freigebung der Ehe zwischen ihnen, Beschränkung des Notund Hausierhandels sowie die Errichtung von Kredit- und Hilfskassen zur Eindämmung des Wuchers. Er wies zudem die Kritik der Rotenburger an der wucherischen jüdischen Handelstätigkeit und Geldleihe mit dem historischen Argument der Aufklärer zurück, diesen sei ja von den Christen der Zugang zu Handwerksberufen und zum Landerwerb versperrt gewesen. Ein Wechsel in die wenig aussichtsreichen Handwerkerberufe und den Bauernstand sei zudem unrealistisch.162 Dennoch zeigen die beiden letzten der vorgeschlagenen Maßnahmen, dass man auch in der Politik die Vorwürfe und Klagen der Petenten nicht unberücksichtigt ließ, was auf eine gewisse Wirkung der Unruhen hindeutet. Das Kriegsministerium reagierte am . Juni auf die weiterhin angespannte Lage in Rotenburg mit der Entsendung von zwei weiteren Kompanien, die sich sogleich an den Löscharbeiten eines Großbrandes in der Neustadt beteiligen konnten. Ein Brand, der nach Meinung des Kommandanten der Kompanie, Oberstleutnant Hillebrand, gelegt worden war, genauso wie ein weiteres Feuer in der Altstadt am . Juli. Entsprechend befand sich die Bevölkerung in »Angst und Schrecken«. Hillebrand gab seinerseits in einem Bericht an das »Kurfürstliche Kriegsministerium« Resümierend in: ebd., S. f. Weber wurde wegen seines heftigen Vorgehens in Rotenburg übrigens erneut suspendiert und versetzt (ebd., S. ). Ebd., S. f. Sunkels Bericht wurde im Hersfelder Hessenboten vom .. abgedruckt.
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eine Einschätzung der Lage ab.163 Anders als der liberale Abgeordnete Sunkel gab Hillebrand den Juden eine Mitschuld daran, dass sie gehasst würden. »Reger Wucher und vielerlei Betrügereien« seien die Ursache für die Übergriffe, wohingegen einige ehrliche Judenfamilien auch nicht angegriffen worden seien. Als Gründe auf Seiten der Christen nannte er die wegen der hohen Arbeitslosigkeit entstandene »tiefe Verarmung der mittleren und unteren Klassen« sowie die dadurch und durch den Müßiggang bei den unteren Ständen hervorgerufene »Sittenlosigkeit und Demoralisierung«. Der Hass gegen die Juden ziehe sich durch alle Stände und sei die Mehrheitsmeinung. Ja, er warf den höheren Ständen sogar vor, indirekt durch »laute Billigung« an den Exzessen beteiligt gewesen zu sein. Wichtig ist dabei die Beobachtung von Hillebrand, dass die Rotenburger die Unrechtmäßigkeit ihres Handelns nicht einsähen, sondern sich als völlig im Recht wähnten. Angesichts dieser Bedrohungslage und der richtigen Annahme, dass sich die Ursachen nicht so rasch beseitigen lassen würden, riet er dazu, die Kompanien noch für ein halbes Jahr in Rotenburg zu belassen, da insbesondere die Verhaftungen und Untersuchungen gegen Angehörige der »höheren Bürgerschaft« zu Unruhen Anlass geben könnten.164 Zu einer ähnlichen Einschätzung der Lage kam auch der seit Juli in Rotenburg amtierende Landrat Wagener in einem Bericht an die Kurfürstliche Regierung vom . August .165 Er berichtet, dass die gerichtlichen Untersuchungen der Verbrechen abgeschlossen seien und dass viele Bürger »kompromitiert« seien und eine allgemeine Besorgnis vor den Folgen vorherrsche. Auch er sieht Probleme, die Gerichtsurteile ohne militärischen Schutz zu vollstrecken, wenn man nicht Widerstand und »Versuche der Erneuerung des Aufruhrs« riskieren wollte, zumal sich viele fremde Eisenbahnarbeiter in dem Gebiet aufhielten, die sich gern daran beteiligen würden. Der Landrat ließ aber gleichzeitig auch das »Gewerbswesen der hiesigen Israeliten« überprüfen, da Beschwerden gegen diese vorlagen (Übergriffe in die Rechte zünftiger Meister, wucherlicher Handel mit Grundstücken), obwohl – wie der Landrat hervorhob – Wucher, Bereicherung und andere Verstöße auch seitens der Christen vorkämen. Im Oktober kamen die verantwortlichen Stellen dann zu der Überzeugung, dass nun das Militär abgezogen werden könne, nachdem sich auch die Gremien der Stadt verpflichtet hatten, die Bürgergarde zum Schutz bei neuerlichem Aufruhr einzusetzen. Dass die rechtliche Aufarbeitung der Ausschreitungen und der dabei vorgefallenen Straftaten von den Gerichten halbherzig betrieben und die Täter selten hart bestraft wurden, belegt eine Notiz in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums vom April , wonach die »wegen der Verheerungs- und Raubszenen von an vier Judenhäusern in Erdmannsrode Angeklagten« von den Geschworenen
Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. f.; Quelle: Bericht von Oberstleutnant Hillebrand am . Juli , Staatsarchiv Marburg, Bestand /Kriegskabinett, Nr. . Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. . Ebd., S. f. Quelle: Staatsarchiv Marburg, Bestand g, Fach , Nr. a.
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in Fulda freigesprochen wurden, obwohl, wie die Zeitung betont, »mehrere Zeugen Einzelne derselben bestimmt erkannt und die Handlungen bezeichnet hatten«.166 Die Vorgänge in Rotenburg waren in ihrem Ausmaß und ihrer Dauer gewiss eher eine Ausnahme, dennoch sind sie symptomatisch, was die Motive, Argumentations- und Handlungsweisen aller Beteiligten betrifft. Nuhn betont, dass auch hier die Unruhen keine strategische Basis hatten, sondern spontan ausbrachen. Ob der Angriff auf die Juden eher als Ventil für den Unmut über die Not und Teuerung war, also umgeleiteter sozialer Protest, oder sich gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden richtete, muss seiner Meinung nach offenbleiben. Wahrscheinlich sind beide kaum voneinander zu trennen,167 zumal ja die eigene wirtschaftliche Misere im Zusammenhang mit dem »wucherischen Treiben« der Juden gesehen wurde, das durch die Emanzipationsgesetzgebung in den Augen der Christen noch erleichtert worden war. Im Kontext der Revolution konnten solche Übergriffe gegen Juden und die Obrigkeit zudem als Ventil für aggressive Stimmungen dienen, wie Nuhn im Anschluss an Utz Jeggle annimmt. Sozialprotest und antijüdische Unruhen im Elsass Für die französische Provinz kam die Februarrevolution nach Christoph Dipper »vollkommen unverhofft und beraubte die Repräsentanten des Staates für kurze Zeit ihrer Macht«. Im Elsass, in den Pyrenäen und in den subalpinen Gebieten brachen daraufhin Waldkonflikte aus, und Kreditgeber wurden als »Wucherer« bedroht und zum Erlassen der Schulden gedrängt, was im Elsass zu judenfeindlichen Ausschreitungen wie in Südwestdeutschland führte.168 Im Elsass begannen die antijüdischen Ausschreitungen sogleich mit dem Bekanntwerden der Ausrufung der Republik in Paris am . Februar, und sie waren zudem zahlreicher als in anderen Regionen Europas. Den Hintergrund bildete nach Eduard Stadtler und Daniel Gerson die wirtschaftliche und soziale Krise seit .169 Seitdem hatte eine Kette von Missernten, verbunden mit einer Kartoffelkrankheit, zu einer der traditionellen subsistenzwirtschaftlichen Agrarkrisen größten Ausmaßes geführt. Verstärkt wurde diese durch eine industrielle Depressionsphase mit hoher Arbeitslosigkeit, so dass steigende Preise und sinkende Löhne zu einer Verelendung der Bevölkerung und zu Übergriffen gegen Bauern und Bäcker führten. Früh schon verband sich der Sozialprotest gegen die »Reichen« mit dem gegen Juden, die zu Unterstützern
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AZJ, Jg. , Heft , .., S. .
Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. . Dipper, Revolutionäre Bewegungen auf dem Lande, S. . Eduard Stadtler hat bereits in einem frühen Aufsatz zu den Ausschreitungen (Die Judenkrawalle von im Elsaß, in: Elsässische Monatsschrift für Geschichte und Volkskunde, Heft , , S. -) darauf hingewiesen, dass sich hinter dem konfessionellen Gegensatz und dem politischen Kampf in diesem Fall wirtschaftliche Probleme und materielle Not (»starke wirtschaftliche Gärung«) verbargen (S. ). Vgl. dazu ebenso Gerson, Kehrseite, Kap. .
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der Monarchie gezählt wurden. Rothschild, der als der »Bankier der Könige« galt, und der ländliche »Wucher« bildeten die Angriffspunkte. Die Ausschreitungen des Frühjahrs wurden in der ländlichen Bevölkerung als berechtigte Strafaktion gegen die »ausbeuterischen und mächtigen« Juden gerechtfertigt.170 Durch die Februarrevolution, an der die Juden ihren Anteil hatten, waren doch zwei von ihnen als Minister in die provisorische Regierung berufen und einer in das Straßburger Munizipalkomitee gewählt worden, hatte sich der Eindruck eines wachsenden Einflusses von Juden verstärkt.171 So berichtete die AZJ, dass die Berufung der beiden jüdischen Minister den »feindlichen Parteien schon Gelegenheit« gegeben habe, »sich an ihr zu reiben«. Einer der Minister, Adolphe Crémieux, wurde als »Beförderer von Juden zu Stellen« angeklagt.172 Es ging also nicht allein um wirtschaftliche Ausbeutung, sondern die christliche Bevölkerung sah in den Juden die wahren Gewinner im postrevolutionären Frankreich und fürchtete als Folge der Judenemanzipation auch, dass dadurch die christliche Prägung des Landes verloren ginge. Dies verdeutlichen Gerüchte, wonach man Juden anlässlich einer katholischen Beerdigung habe sagen hören, dass »eine solche Zeremonie […] zum letzten Mal gefeiert worden« sei, zudem sollen sie vorgeschlagen haben, einquartierte Husaren sollten die Kirche als Pferdestall nutzen.173 Zwar war der Höhepunkt der Agrarkrise überwunden, doch blieben die sozialen Spannungen bestehen und im Elsass wurde – anders als in Paris – die Februarrevolution zum Katalysator neuer Unruhen, die sich nun vermehrt gegen Juden richteten. Dennoch sieht Stadtler keinen »fanatischen Glaubenshass« und auch keine politischen Momente in den antijüdischen Übergriffen. Die Februarrevolution ist für ihn nicht Ursache, sondern bloßer Anlass für die Gewaltaktionen, die primär wirtschaftlicher Not entsprangen.174 Er betont auch, dass nach der Februarrevolution in Paris im Elsass an vielen Orten kleine Aufstände ausbrachen, die sich nicht allein gegen Juden richteten, sondern auch andere Ziele attackierten: Es gab »Aufstände der Waldbevölkerung gegen die Förster«, Grenzbewohner erhoben sich gegen die Zöllner, Abgabepflichtige griffen
Gerson, Kehrseite, S. ; Stadtler spricht vom Wucher der Juden und der hohen Verschuldung der Bauern, die unter diesen zu einer tiefen Unzufriedenheit geführt hätten (Judenkrawalle, S. ), wobei er aber auch weitere Ursachen benennt, wie die hohe Steuerbelastung von Grundbesitz und die hohen indirekten Lebensmittelsteuern. AZJ, Jg. , Heft , , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , , .., S. . In dieser Ausgabe findet sich eine der wenigen, überdies sehr kurzen Bezugnahmen der AZJ auf die antijüdischen Unruhen im Elsass, in der etwas lakonisch angemerkt wird, dass, »so oft in Frankreich politische Stürme eintreten«, Teile der elsässischen Bevölkerung ihrem Hass gegen die Juden Luft machten, die sich in die benachbarte Schweiz flüchteten. Daniel Gerson, »Juden Rebold in Dürmenach«. Die zeitgenössische bildliche Darstellung eines Pogroms im »Jerusalem des Sundgaus« während der französischen Februarrevolution von , in: Bilder kollektiver Gewalt. Kollektive Gewalt im Bild, hrsg. von Kohlstruck/Schüler-Springorum/Wyrwa, S. -, hier S. . Stadtler, Judenkrawalle, S. .
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Steuerbeamte an.175 Stadtler betont jedoch den jeweils lokalen Charakter dieser Übergriffe und Proteste, so dass man nicht von einer übergreifenden revolutionären Bewegung im politischen Sinne sprechen könne.176 Mit dem Eintreffen der Nachricht von der Februarrevolution in Paris brach am . Februar zunächst in der Kreishauptstadt Altkirch die Gewalt gegen die dort lebenden dreihundert Juden los. Deren Häuser wurden attackiert und geplündert und die Bewohner angegriffen.177 Ungewöhnlich war, dass am folgenden Tag sogar das Inventar der erst zehn Jahre alten Synagoge zerstört und entweiht wurde. Da die Randalierer von Bewohnern aus der Umgebung Unterstützung bekamen, konnten die lokalen Behörden und die Bürgergarde wenig ausrichten und man forderte Truppen an, die erst zwei Tage später eintrafen und die Ruhe wiederherstellen konnten.178 Viele jüdische Bewohner flohen aus der Stadt. Während in Altkirch selbst danach Ruhe einkehrte, lösten die dortigen Unruhen an vielen Orten des Unterelsass (Brumath, Marmoutier) und Sundgaus (Durmenach/ Dürmenach, Oberdorf, Seppois-le-Bas/Niedersept, Seppois-le-Haut/Obersept, Hagenthal-le-Bas/Niederhagenthal, Hagenthal-le-Haut/Oberhagenthal) weitere Ausschreitungen aus, bei denen Juden ihre Häuser fluchtartig verlassen mussten, die anschließend geplündert und deren Einrichtung zerstört wurde. Am schwersten betroffen war das elsässische Durmenach. Dies wies insofern eine Besonderheit auf, als hier Juden die Bevölkerungsmehrheit und auch den Bürgermeister stellten, was dem Ort den Beinamen »Jerusalem des Sundgaus« eingetragen hatte.179 Auch hier kam es bereits am Sonntag, dem . Februar, zu Zusammenstößen, wobei die nichtjüdischen Durmenacher wiederum noch Verstärkung aus der Umgegend bekamen (Stadtler und Gerson nennen die ungewöhnlich hohe Zahl von bis zu . Demonstranten). Die jüdische Nationalgarde versuchte die Ordnung aufrechtzuerhalten, wobei einer der Demonstranten erschossen wurde. Dieser »Meuchelmord« an einem Nichtjuden, der als Bruch der eingespielten »rituals of riots« empfunden wurde, ließ die Gewalt eskalieren, und die meisten Juden flohen in nahe gelegene Schweizer Gemeinden. Daraufhin plünderte die Menge vom . Februar bis . März die verlassenen Häuser, wobei Möbel und Wertsachen geraubt und Schuldscheine vernichtet wurden. Dies und ein dabei ausgebrochener Brand zerstörten über einhundert Häuser. Diese Verwüstung machte den Ort zum Gegenstand von Liedern und einer Serie von Stichen, auf denen die Zerstörung Ebd. Daltroff, Les Juifs de Durmenach, S. , spricht von einer dreifachen Krise des Jahres : neben der ökonomischen Krise habe es auch eine moralische Krise gegeben, die sich in einer großen Zahl von Finanzskandalen äußerte und die herrschende Klasse schwächte, sowie auch eine politische Krise, die zu der Erhebung am . Februar führte. Stadtler, Judenkrawalle, S. . Im Bezirk Altkirch hatte es bereits größere judenfeindliche Unruhen gegeben. Dazu und zum Folgenden Gerson, Kehrseite, S. ff.; Stadtler, Judenkrawalle, S. f. Vgl. Gerson, Kehrseite, S. ff. Zum Zahlenverhältnis von Juden und Christen in Durmenach im Jahre siehe: Daltroff, Les Juifs de Durmenach, S. : von den Einwohnern waren damals Juden, was der Einwohner ausmachte.
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und Plünderung des Dorfes dargestellt wurde.180 Es kam zu einem regelrechten »Tourismus« zu den »Ruinen Jerusalems«.181 Es gab aber auch Hilfeleistungen und Schutz für Juden von Seiten ihrer christlichen Nachbarn.182 Viele dieser Aktionen glichen Raubzügen, bei denen der jüdische Besitz mit Wagen abtransportiert wurde. Es zogen regelrechte Banden von Bauern durch die Gegend, die aber Zusammenstöße mit herannahendem Militär stets vermieden. Vereinzelte, meist kleinere Zwischenfälle hielten im Sundgau und einigen Orten auch außerhalb des Sundgaus in den Monaten März und April an. Stadtler berichtet, die Bauern seien wie »im Triumphe« umhergezogen und hätten »Jagd auf die verhaßten Juden« gemacht, wobei sie ihre Aktionen bis in die Kreise Belfort und Colmar hinein ausgedehnt hätten.183 An vielen anderen Orten wird von Drohungen und Belästigungen gegen Juden und von einer aufgeheizten Stimmung gesprochen, doch blieben hier z. T. durch den Einsatz der Nationalgarde oder präventiv georderter Truppen Ausschreitungen aus. Auch im Départment du Bas-Rhin (Unterelsass) kam es ab dem . Februar vielerorts zu antijüdischen Ausschreitungen, ohne dass aber die einheimischen Juden vertrieben wurden.184 Größere Ausmaße nahm die Gewalt nur in wenigen Orten an (Brumath, Otier, Saverne). In Brumath zogen in der Nacht vom . auf den . Februar einzelne Banden unter Absingen der Nationalhymne durch den Ort und stürmten die Wohnungen der sechs wohlhabendsten Juden, die zunächst geplündert und dann sogar niedergerissen wurden. Für den nächsten Abend war der Angriff auf die Wohnungen des Notars, des Steuereinnehmers, des Amtsrichters und des Bürgermeisters geplant. Ebenso plante man die Zerstörung von Bahndämmen und der Brückenwaage. Diese Aktionen konnten aber durch rechtzeitig eintreffendes Militär verhindert werden. Häufig kam es auch zu Gewalttätigkeiten gegen Forstbeamte, zur Verweigerung von Steuerzahlungen, Beamtenbeleidigungen und zur Verwüstung von Wäldern in den Vogesen bzw. zu Holzdiebstahl.185 Auch hier zeigt sich, dass die antijüdischen Ausschreitungen Teil größerer, gegen die Obrigkeit gerichteter Unruhen waren. Vgl. Lerch, Dominique, Imagerie populaire et antisémitisme en Alsace au XIXe siècle, in: Revue des sciences sociales , , S. -. Vgl. zur Analyse eines der genannten Stiche: Gerson, »Juden Rebold in Dürmenach«, S. -. Stadtler, Judenkrawalle, S. . Gerson, Kehrseite, S. f.; siehe die Beschreibung zweier Lithographien der Ereignisse von Daltroff, Les Juifs de Durmenach, S. f., auf denen Junge und Alte, Männer und Frauen abgebildet sind, die plündern und die Hausdächer demolieren und dem Wein zusprechen, Stadtler erwähnt hier den katholischen Pfarrer, der einigen Juden Schutz gewährte und die Menge kaum von der Erstürmung seines Pfarrhauses abhalten konnte (Judenkrawalle, S. ). Stadtler, Judenkrawalle, S. . Gerson, Kehrseite, S. ff. Stadtler zum Ort Brumath, Judenkrawalle, S. f. Die Rufe, mit denen die Aufrührer durch die Straßen zogen, belegen diese Stoßrichtung: »Vive la République ! A bas les préposés des contributions indirectes!« (S. ).
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Nach Gerson begann das größte Pogrom am . Februar in Marmoutier (Maursmünster), bei dem bis zu Häuser zerstört wurden und die Menge die herbeigerufenen Truppen heftig attackierte und dabei auch den Bürgermeister und den Friedensrichter nicht verschonte, was sonst eher selten geschah. Nach dem Bericht eines Polizeioffiziers wurden einige Juden von der Menge fast gelyncht, auch dies war in den Ausschreitungen des . Jahrhunderts ungewöhnlich. Das Verbrennen von Schuldscheinen und Wechseln führte immer wieder zum Aufflammen von Bränden. Erst am Folgetag konnte die Ordnung wiederhergestellt werden. Wie im hessischen Rotenburg a. d. Fulda lösten auch in Marmoutier die Verhaftung und Verurteilung der Aufrührer großen Unmut aus. So kam es fast einen Monat später zu einem erneuten Aufflammen der Unruhen. Am . April versammelte sich eine große Menschenmenge (dreihundert bis sechshundert Personen), um die Verhafteten aus dem Gefängnis in Saverne (Zabern) zu befreien. Mit Unterstützung von Einheimischen war es ihr tatsächlich möglich, in das Gefängnis zu gelangen, so dass der Gemeinderat von Marmoutier die zuständigen Stellen aufforderte, die Gefangenen freizulassen, was auch geschah.186 Die z. T. betrunkene Menge nahm dies zum Anlass, am kommenden Tag die Juden Savernes auszuplündern,187 und auch in Marmoutier und in Hochfelden und anderen Dörfern kam es wieder zu Übergriffen.188 Polizei und Nationalgarde erwiesen sich als zu schwach, erst der verstärkte Einsatz von Truppen beendete am . April die Unruhen. In Marmoutier hielten die Spannungen noch lange an, zumal offenbar Schadenersatzforderungen von Juden erneut für Unmut sorgten. Man befürchtete aufgrund der umlaufenden Drohungen und Gerüchte für den Sommer gar ein Massaker an den einheimischen Juden, so dass der Unterpräfekt die Stationierung von Truppen über mehrere Monate hin anordnete. Dass im Zuge dieser Unruhen auch die Häuser von Amtspersonen und reichen christlichen Bürgern Ziele von Übergriffen wurden, belegt die »revolutionäre« Unterströmung auch der antijüdischen Übergriffe. So war der Ruf »Es lebe die Revolution, Tod den Reichen, Tod den Juden!« zu hören. Diese Verbindung von Judenfeindschaft mit gegen den
Gerson, Kehrseite, S. f.; bei Stadtler findet sich eine andere Darstellung der Ereignisse: demnach wurden in Saverne in aller Eile nur zwanzig der Haftbefehle aufgehoben, doch forderten die Tumultuanten die Freilassung aller Gefangenen. Die Verantwortlichen waren sich uneinig, was zu tun sei, doch die wenigen Soldaten konnten die Menge, die sie mit Steinwürfen attackierte, nicht lange zurückhalten, so dass schließlich der Regierungskommissar die Entlassung aller Gefangenen anordnete (Judenkrawalle, S. ). Stadtler sieht den Vorgang etwas anders: Demnach hätten sich die Protestierer nach der Freilassung der Gefangenen ruhig verzogen, doch am kommenden Morgen hätten dann neue Bauerntruppen die Wohnungen der Juden angegriffen (Judenkrawalle, S. ). Hier soll nach Stadtler der dortige Amtsrichter das Hauptziel der Gewalt gewesen sein, dessen Haus verwüstet wurde, doch wurden auch zehn Häuser von Juden geplündert (Judenkrawalle, S. f.). In dieser Phase richteten sich nach Stadtler angesichts der Schwäche der Behörden nun in der zweiten Welle der Krawalle (in Marlenheim, Hochfelden, Westhofen, Saverne, Marmoutier) die Angriffe primär gegen die Beamtenschaft und erst in zweiter Linie gegen die Juden.
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Adel und die Beamtenschaft gerichteten Forderungen und Drohungen findet sich ab auch im benachbarten Baden.189 Im April unternahm dann der provisorische Unterpräfekt des Departments BasRhin (Unter-Elsass) ernsthaftere Versuche zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Im Zuge dessen wurden am . April auch die am . April gewaltsam aus der Haft befreiten Personen unter Einsatz einer Truppe von achthundert Mann gegen den heftigen Widerstand der Bauern, der diese drei Todesopfer kostete, erneut inhaftiert. Dies bedeutete einen Wendepunkt, da nun die Regierung der aufständischen Volksbewegung Herr geworden war.190 Im Oberelsass kam es hingegen in Hégenheim am . und . April noch einmal zu schweren Ausschreitungen.191 Hier hatten durchreisende Bauern aus Hagenthal antijüdische Lieder angestimmt, gegen die ein Jude des Ortes protestierte.192 Als die Bauern ihn daraufhin angriffen, eilten weitere Juden hinzu, und es kam zu einem Handgemenge, bei dem einem Nichtjuden ein Finger abgetrennt wurde. Als das Opfer seine Verwundung demonstrativ auf dem Dorfplatz ausstellte, strömten Dorfbewohner in großer Zahl hinzu, entwaffneten die jüdische Nationalgarde und begannen die Juden zu attackieren und ihre Häuser zu stürmen, wobei sie mehrere vollständig verwüsteten und die Möbel zerstörten.193 Es war ungewöhnlich, dass flüchtende Juden schwer misshandelt wurden, so dass ein Kleinkind an seinen Verletzungen starb. Erst der Einsatz von Truppen konnte die Unruhen am . April beenden. Für Stadtler entsprangen diese Unruhen vom April einer wesentlich allgemeineren Bewegung als die vom Ende Februar, da es neben den geschilderten Ereignissen an vielen anderen Orten zu Übergriffen gegen Juden kam, die er als ein »Anzeichen für eine allgemeine Mißstimmung gegen die Juden« und als eine »allgemeine tiefgehende Reaktion des Bauernstandes« interpretiert. So brachen anlässlich der Präsidentenwahl Louis Napoléons am . Dezember im Sundgau neue Krawalle aus.194 Für Stadtler wollten die Bauern damit Louis Napoleón auf ihre sozialen Nöte aufmerksam machen. Die befürchtete große Erhebung der Bauern blieb jedoch aus. Die von Daniel Gerson für das Elsass vorgenommene Auswertung der Daten hinsichtlich der Merkmale der Tatbeteiligten zeigt, abgesehen davon, dass die meisten Täter unbekannt blieben, dass sich in vielen Orten ein Querschnitt der Einwohner
Vgl. Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. . Stadtler, Judenkrawalle, S. f. Gerson, Kehrseite, S. f. Stadtler berichtet von einem anderen »Trigger«: demnach habe ein Jugendlicher am . April einem Juden die Pfeife aus dem Mund gerissen, was am Folgetag zu einem Streit zwischen Juden und Christen geführt habe, der den Verlust des genannten Fingers zur Folge hatte (Judenkrawalle, S. ). In der Darstellung Stadtlers wurde der an eine Stange gebundene Finger auch in anderen Dörfern herumgezeigt und löste auch dort, wie in Niederhagenthal, leichtere Demolierungen von jüdischen Häusern aus, nachdem die Bauern sich der Waffen der jüdischen Nationalgarde bemächtigt hatten (Judenkrawalle, S. ). Ebd., S. .
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beteiligt hatte (auch wenn die örtlichen Behörden gern fremde Personen als Täter sehen wollten) und die Ausschreitungen teils Volksfestcharakter annahmen.195 Zwar dürften sich Männer häufiger als Frauen an den Unruhen beteiligt haben, doch ist auch deren Mitwirkung, wie auch die von Kindern, vielfach belegt. Abbildungen zeigen eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, wie wir sie auch von anderen Pogromen her kennen: Während Männer die Häuser stürmten und Mobiliar zerstörten, warfen Frauen Gegenstände nach draußen, die dann abtransportiert wurden. Was das Alter der Tatbeteiligten angeht, so sind hier wohl jüngere Männer überrepräsentiert, doch finden sich, vor allem unter den Plünderern, auch ältere Personen und Kinder. Die Täter waren sowohl Ortsansässige wie auch Menschen aus den umliegenden Ortschaften, die oft gemeinsam agierten. In jedem Fall ist erkennbar, dass von Seiten der Nachbarn zwar einzelnen Juden Zuflucht gewährt oder sonst geholfen wurde, zum Schutz der Juden und ihrer Häuser durch die einheimischen Christen kam es jedoch in keinem Fall. Die Juden, die in einigen Orten ja einen großen Bevölkerungsanteil stellten, versuchten in einigen Fällen, die Angriffe abzuwehren, was im Fall von Durmenach, wo die jüdische Nationalgarde einen Demonstranten erschoss, zur Eskalation der Gewalt beitrug. In der großen jüdischen Gemeinde Hégenheim versuchte man im Vorfeld durch Patrouillen der jüdischen Nationalgarde potentielle Aufrührer abzuschrecken. Dort gelang es auch einer aus jüdischen und nichtjüdischen Nationalgardisten zusammengesetzten Truppe, den Angriff einer größeren Bande zurückzuschlagen und sogar Täter zu verhaften.196 Ein Privatschreiben berichtete Ende März von diesem Angriff einer Schar von » Insurgenten«, die die jüdische Gemeinde in Hégenheim unweit Basels angreifen wollte, aber durch die Gegenwehr der Gemeinde unter Führung ihres Rabbiners zurückgeschlagen werden konnte. Als sich daraufhin die vertriebenen Insurgenten auf eine Nachbargemeinde (in Hagenthal) stürzen wollten, konnte dies durch die Hilfe der Hégenheimer verhindert werden.197 Bei einem zweiten Angriff, dem sich nur noch die jüdische Nationalgarde entgegenstellte, kam es dann doch noch zu Ausschreitungen und Plünderungen. Berichte über Widerstandshandlungen seitens der Juden sind selten, zum Teil führte individuelle Abwehr auch zu größerer Gewaltanwendung auf Seiten der Tumultuanten, die die Gegenwehr als Bruch der »Spielregeln« ahndeten. Andere Reaktionsweisen waren die Zahlung von »Schutzgebühren« oder Bestechungen, um die Plünderung des eigenen Hauses zu verhindern, was aber nicht immer wirklich Schutz bot. Die häufigste Reaktion war es, die Rettung in der Flucht zu suchen, was insbesondere für die Orte in der Nähe der Schweizer Grenze eine Option war. Dabei floh nicht immer die gesamte Gemeinde, oft wurden Frauen und Kinder weggeschickt, andere fanden Zuflucht bei christlichen Nachbarn. Die Juden wurden zum Teil durch Gerüchte, teils durch die Warnungen von Dazu und zum Folgenden Gerson, Kehrseite, S. ff. Ebd., S. . Der treue Zions-Wächter, Heft , .., S. .
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christlichen Nachbarn über drohende Übergriffe informiert. Gerson nimmt aber auch die Möglichkeit an, dass sich nach den Erfahrungen der Ausschreitungen von und ein »Droh- und Fluchtmechanismus« etabliert haben könnte, bei dem Drohungen über Gerüchte ausgestreut wurden, um die Juden zur Flucht zu bewegen und ihre Häuser umso leichter plündern zu können.198 Neben dieser kurzfristigen Flucht, nach der die meisten Juden wieder in ihre demolierten Häuser zurückkehrten, kam es langfristig aber auch zur Abwanderung aus dem Sundgau, teils in Schweizer Städte oder in andere französische Regionen, teils vom Lande in die größeren Orte. Insgesamt ist diese – damals sowieso stattfindende Migration in die Städte – durch die Pogrome aber kaum angestiegen. Schwierig abzuschätzen sind nach Gerson die genauen Zahlen der sich zusammenrottenden Menschenmengen, die oft zudem von den Behörden gar nicht ermittelt wurden und die fallweise auch sehr unterschiedlich gewesen sein dürften. In einigen Orten, vor allem dort, wo die Zahl der zerstörten Häuser und der jüdischen Bewohner sehr groß war, wie in Durmenach (fünfhundert Juden) und Hagenthal-le-Bas und Hagenthal-le-Haut (zus. sechshundert), sind hohe Teilnehmerzahlen überliefert. In Durmenach sollen sich dreitausend »Demonstranten« zusammengerottet haben, was angesichts der fünfhundert nichtjüdischen Einwohner des Ortes auf eine starke Beteiligung auswärtigen Personen hinweist. Die Größe der Menschenmenge dürfte zwischen diesem Maximum und kleineren lokalen Übergriffen, an denen sich – wie in Friesen Männer – beteiligten, gelegen haben.199 Es gab in der Gegend im März zudem mehrere herumziehende Banden, deren Zahl zwischen hundert bis fünfhundert Personen lag. Ebenfalls schwer zu ermitteln sind Angaben zur sozialen Stellung der Täter, zumal die Zahl der Verhaftungen niedrig und die Kriterien der Festnahme unklar waren. Wie auch in vielen anderen Fällen, so finden wir auch hier nach Gerson ein eher zögerndes Vorgehen der Polizei, des Militärs und der elsässischen Justiz gegen die Tumultuanten. Der Fall der Gefangenenbefreiung der in Marmoutier Inhaftierten (s. o.) demonstrierte den Behörden nachdrücklich, wie riskant und unpopulär in der Bevölkerung solche Festnahmen waren.200 Das von Gerson gezeichnete Bild belegt die Beteiligung eines breiten Spektrums der ländlichen wie der kleinstädtischen Bevölkerung, das von den ländlichen Unterschichten (Kleinbauern, Knechte, Tagelöhner, Schmuggler) und der Arbeiterschaft über Ladenbesitzer bis hin zu Großbauern und zum Dorfarzt reichte.201 Wenn sich also auch Bevölkerungsschichten beteiligten, die von der Wirtschaftsund Agrarkrise kaum betroffen waren, so deutet sich doch ein Übergewicht der ärmeren Schichten bei den Pogromen an, zumal diese eher auf Plünderungsgewinne aus waren bzw. besonders unter der Wirtschaftskrise litten. Für das Elsass gilt, wie auch für die Unruhen des Jahres im übrigen Europa, dass sich die Zerstörungsund Plünderungswut primär gegen die Häuser von Juden und gegen deren Besitz
Gerson, Kehrseite, S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. -.
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richtete, während physische Angriffe auf Personen und insbesondere Todesfälle nur selten zu verzeichnen waren, obwohl mit Morddrohungen nicht gespart wurde.202 Allerdings betont Gerson zu Recht, dass es zwar nicht zur »entfesselten Gewalt gegenüber Personen« kam, dass Juden, die nicht fliehen konnten, aber durchaus tätlich angegriffen wurden, insbesondere wenn die Menge auf Widerstand stieß. Damit entsprechen die Vorgänge im Elsass einem weit verbreiteten Verlaufsmuster. Was die Folgen der Ausschreitungen angeht, so kam es aufgrund der eher kleinen Zahl der Verhaftungen nur zu wenigen Strafverfahren, wobei die Geschworenengerichte die Gefangenen fast durchweg freisprachen oder nur sehr milde verurteilten, was der elsässischen Justiz einen Rüffel aus Paris eintrug.203 Vor allem der Freispruch der Verhafteten von Marmoutier seitens der unterelsässischen Geschworenen löste einen Skandal aus, da er für die Juden ein Schlag ins Gesicht war. Das Zentralkonsistorium protestierte deshalb auch beim Justizminister. Kurz darauf kam es noch zu einem weiteren Freispruch der Angeklagten von Hochfelden.204 Der jüdische Justizminister Adolphe Crémieux wandte sich um Aufklärung an den Generalprokurator, dessen Antwort die Gewalt der Landbevölkerung und ihren Hass auf die Juden, den er mit einem Hinweis auf den Wucher der Juden erklärte, als verständlich hinstellte. Diese habe sich handstreichartig nur dessen wieder bemächtigt, was ihr durch den illegalen Handel der Juden genommen worden sei. Allein die Zeit könne den Hass der Bauern beschwichtigen und dem Handel der Juden eine legitimere Ausrichtung geben. Der Nachfolger Crémieuxs im Amt des Justizministers schrieb an den Rand des Schreibens nur die lakonische Bemerkung: Es gibt nichts zu tun, nicht mal eine Antwort ans Konsistorium (»Il n’y a rien á faire, pas même á répondre au consistoire«).205 Die Juden konnten sich also nur bedingt auf die Unterstützung seitens der Politik verlassen.206 In den meisten Fällen aber sahen sich die Orte Schadenersatzforderungen gegenüber, die zum Teil einzelne Juden, zum Teil auch die gesamte jüdische Ge Vgl. zu dieser Beobachtung auch schon Eleonore Sterling, Er ist wie Du. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland (-), München , S. ; neuerdings wieder bei Walser Smith, Continuities; Bergmann, Ethnic Riots. Stadtler spricht hingegen noch von Massenverhaftungen und einer starken Truppenpräsenz »in den zu Unruhen geneigten Dörfern«. Er stellt also den Verantwortlichen ein gutes Zeugnis bei der Bekämpfung der Unruhen aus (Judenkrawalle, S. ). Auch er räumt aber ein, dass man mit Rücksicht auf die Zeitumstände sowie die Lage der Bevölkerung die »gerichtliche Untersuchung beschleunigt und in möglichst engen Grenzen gehalten« habe (S. ). Ebd., S. . Vgl. den französischen Text bei Stadtler, Judenkrawalle, S. f. Stadtler zitiert aus einem amtlichen Schreiben des zuständigen Generalprokurators, in dem dieser schreibt, dass die ländliche Bevölkerung des Elsass den Juden als einen Feind betrachte, der sie durch Wucher ihres Besitzes beraubte. Es sei leider gut bekannt, dass die Juden des Elsass (auch wenn es ohne Zweifel Ausnahmen gebe) einen strafbaren Geldhandel betrieben. Allein das Vorurteil gegen diese Klasse von Bürgern sei so blind, dass die Aufrührer alle Juden ohne Unterschied von guten und schlechten angriffen (S. ).
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meinde erhoben.207 Die Prozesse zogen sich aber jahrelang hin und führten auch bei einer Verurteilung der Orte meist nur zu schleppenden und eher geringfügigen Zahlungen.208 Dabei finden wir sowieso schon deutlich weniger Kläger als Geschädigte, was darauf hinweist, dass viele Juden auf eine Klage verzichteten, wohl weil die Prozesse teuer und die erreichbare Entschädigung niedrig war. Dies galt nach Gerson offenbar wohl insbesondere für Beschädigungen des Hauses, während die überdurchschnittlich häufig als Kläger verzeichneten reicheren Juden zumeist Schadensersatz für die geplünderten und zerstörten Warenlager forderten. Er weist aber die Auffassung zurück, die Übergriffe hätten sich als eine Form des Sozialprotests nur gegen »reichere Juden« gerichtet, vielmehr machten seiner Meinung nach »die Judenfeinde im Elsass grundsätzlich keinen Unterschied zwischen armen und reichen Juden«.209 Während die Juden als Juden angegriffen wurden, zeigt sich bei den nichtjüdischen Opfern der Übergriffe ein anderes Muster: hier wurden vor allem exponierte Vertreter der Staatsorgane wie Steuereinnehmer, Amtsrichter und Förster (wegen der verbreiteten Waldplünderungen) sowie wohlhabende Nichtjuden, wie Geldverleiher und Fabrikbesitzer, angegriffen. Die Reaktion jüdischer Organisationen auf die Unruhen, vor allem des Zentralkonsistoriums in Paris, blieb verhalten bzw. erfolgte verspätet, was offenbar auch der schlechten Informationslage geschuldet war. Erst im Mai wendete sich das Zentralkonsistorium an den Justizminister, der eine rasche Strafverfolgung im Elsass zusagte. Früher reagierte ein jüdisches Komitee des Départments du HautRhin, das sich schon Ende März beim Regierungskommissar in Colmar beklagt hatte, dass die Bedrohung fortbestehe und die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen würden. Nach Gerson zeigen diese offiziellen Reaktionen, dass die Juden sich ihrer prekären Lage bewusst waren und nur sehr zurückhaltend protestierten.210 Wie prekär die Lage tatsächlich war, belegen auch die Reaktionen der staatlichen Stellen. Die Gemeindebehörden unternahmen nur sehr selten etwas zum Schutz der einheimischen Juden, die für sie offenbar keine »citoyens«, sonder eben nur »les Juifs« waren. Im Nachhinein versuchten die Gemeinden die Klagen der Juden auf Schadenersatz abzuweisen, indem sie Übergriffe angesichts jüdischen Fehlverhaltens (»anmaßendes Gebaren«) als gerechtfertigt erscheinen lassen wollten. Dies galt auch für die höheren Provinzbehörden der Präfekturen und Unterpräfekturen. Gerson, Kehrseite, S. ff. Ein Beleg für die lange Dauer der gerichtlichen Auseinandersetzungen findet sich in der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ), wo von einem Prozess in Colmar berichtet wird, in dem »eine Entscheidung über die traurigen Vorfälle des Februars zu treffen« war, die zudem für die Kläger zunächst negativ ausgefallen war, bevor sie doch zu ihrem Recht kamen: »Eine Horde von Plünderern hatte die Synagoge zu Altkirch verwüstet. Die durch die Gründer der Synagoge gemachte Reclamation beim Gerichtshof zu Altkirch wurde von diesem und vom Hofe in Colmar abgewiesen. Wieder aufgenommen durch das Consistorium zu Colmar wurde die Reclamation angenommen, und die städtische Gemeinde zu Altkirch wurde verurtheilt, die jüdische Gemeinde zu entschädigen«. Gerson, Kehrseite, S. . Ebd., S. .
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Auch der Schutz durch die örtliche Nationalgarde blieb zumeist aus oder musste »erkauft« werden, Armeeeinheiten waren in der Zeit der Unruhen kaum verfügbar und man scheute vor ihrem Einsatz gegen die Zivilbevölkerung zurück. Allein die neue republikanische Regierung in Paris verurteile die Unruhen scharf und übte auch deutliche Kritik an der weitgehenden Untätigkeit der elsässischen Behörden.211 Dieses Muster von eher zögernd agierenden Verantwortlichen vor Ort und der Forderung nach schnellem und härterem Vorgehen der Zentralregierung findet sich in sehr vielen der in diesem Buch untersuchten Fälle. Die Unruhen im Elsass vom Frühjahr zeigen das bekannte Muster der antiemanzipatorischen Gewalt gegen Juden im frühen . Jahrhundert. Die christlichen Elsässer nutzten die durch den Machtwechsel in Paris entstandene Situation eines Machtvakuums und der revolutionären Unruhe, um die inzwischen sozial besser etablierten Juden in ihre Schranken zu verweisen und sich dabei zu bereichern, wobei die Plünderung als gerechter »Ausgleich« des Schadens betrachtet wurde, der den Christen angeblich durch den »Judenwucher« entstanden war. Zwar wurden die Juden von der Zentralregierung als gleichberechtigte Bürger angesehen, im ländlich geprtägten Elsass war diese Gleichstellung aber keineswegs akzeptiert und durchgesetzt, was einmal mehr durch die kollektive Gewalt unterstrichen wurde. Antijüdische Ausschreitungen in Italien: Acqui und Rom Obwohl es im Zuge der Revolutionen von / in den italienischen Fürstentümern zu einer Welle von Aufständen seitens der Einigungsbewegung kam, richteten sich Ausschreitungen nur selten gegen die zahlenmäßig ja geringe jüdische Bevölkerung (ca. .). Dies lag daran, dass die italienische Nationalbewegung sich im Unterschied zu Deutschland und anderen europäischen Ländern »durch eine weitreichende Integration und starke Partizipation der jüdischen Bevölkerung« auszeichnete.212 Dennoch tauchten nach Ulrich Wyrwa in den revolutionären Tagen Ritualmordvorwürfe auf, in Florenz konnte man an den Häuserwänden Aufschriften wie »Morte agli ebrei« lesen und es gab es judenfeindliche Äußerungen auch von Wortführern der demokratischen Bewegung.213 Zu Ausschreitungen gegen Juden sollte es aber nur in Rom und im piemontesischen Acqui (heute Acqui Terme) kommen. Eine historische Einordnung der Ereignisse der Ostertage (./. April) von in Acqui bietet Marto Francesco Dolermi.214 Er betont den engen Zusammen Ebd., S. ff. Ulrich Wyrwa, Italien, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, München , S. -, hier S. . Ebd. Marco Francesco Dolermi, La costruzione dell’odio. Ebrei, contadini, e diocesi di Acqui dall’istitutione del ghetto del alle violenze del e del , Turin , Kapitel : Il pogrom del e aprile , S. -, S. ff.
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hang der Unruhen mit der Emanzipation der Juden. Die Juden Acquis hatten das entsprechende Statut von König Carlo Alberto mit einer Festbeleuchtung und zahlreichen Schenkungen an die Bürgermiliz und fünfzig Sack Mehl an die Armen der Stadt gefeiert. Dies fand am . April den Beifall des Stadtrates, der dem lebhaften Wunsch und der Hoffnung Ausdruck gab, dass eine völlige Einigkeit aller Bürger in der Gemeinde ohne Unterschiede der Religion entstehen und man sich gemeinsam um die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes bemühen werde.215 Diese Versprechen von Brüderlichkeit und die nunmehr erreichte Gleichstellung der Juden lösten aber auch Widerspruch aus, zumal die Beziehungen zwischen der christlichen Bevölkerung Acquis und den Juden nach Dolermi seit Jahrzehnten sehr angespannt waren, so auch gegen Ende der er Jahre. Dabei ging es vor allem um Vorwürfe des Wuchers bei der Kreditvergabe und um angebliche finanzielle Unregelmäßigkeiten bei jüdischen Kaufleuten.216 Während der drei Jahre seit , in deren Verlauf nichts auf einen Rückgang dieser Beschwerden gegen das Ghetto hindeutete, kam es schließlich zum Gewaltausbruch zu Ostern .217 Zu den Unruhen in Acqui liegen zwei Berichte vor. Einmal der des jüdischen Rechtsanwalts Rafaele Ottolenghi, einem Sohn der von den Unruhen besonders betroffenen Familie Ottolenghi, zum anderen ein Bericht offizieller Berichterstatter (Autori principali della Sommossa).218 Dem ersten Bericht Rafaele Ottolenghis zufolge lösten die revolutionären Entwicklungen vom Frühjahr , die nach der neuen Verfassung auch den Juden in Acqui gleiche Rechte bringen sollten, im klerikal-konservativen Acqui eine dumpfe Unzufriedenheit aus. In der Stadt war ein klerikal inspiriertes Grummeln (brontolarono) zu hören, das danach fragte, was die Juden eigentlich wollten. Es wurden Befürchtungen laut, sie würden sich zu Herrschern von morgen aufschwingen.219 Auch hier waren es also der drohende Statusgewinn der Juden und die komplementären Abstiegsängste, die Teile der Bevölkerung in den Ostertagen des Jahres zu dem Versuch gewalttätiger »Abhilfe« motivierten. Es war dann die Proklamation der Emanzipation der Juden durch König Carlo Alberto im April , der in Acqui »Tage exzessiver antijüdischer Gewalt folgten«.220 In der Datierung des Ausbruchs der Unruhen gehen die beiden vorhandenen Berichte auseinander: einer setzt den Ausgangspunkt auf den Karfreitag (Venerdi santo – . April), der andere auf den Ostersonntag (. April).
Edd., S. . Ebd., S. -. Bei der Rekonstruktion der Ereignisse selbst druckt Dolermi in seinem Buch nur die beiden im Folgenden ausgewerteten, bereits im Il Vessilo Israelitico veröffentlichten Berichte ab, ohne auf die Unterschiede in den beiden Darstellungen einzugehen. Beide abgedruckt in: Salvatore Fua, Il ’ gli Ebrei d’Acqui, in: Il Vessilo Israelitico , , S. -. Dazu und zum Folgenden: ebd., S. . Wyrwa, Juden in der Toskana, S. .
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Nach dem Bericht Ottolenghis wurde dieser Aufruhr an einem Karfreitagnachmittag durch einen ganz banalen Vorfall ausgelöst, als der älteste Sohn eines gewissen Bartolomeo Timossi, der Lehrjunge in der Werkstatt eines gewissen Vasari war, mit dem Kind seines Lehrherrn an der Hand das Ghetto passierte. Dabei stieß ein ihnen entgegenkommender alter Jude anscheinend unabsichtlich mit dem Kind zusammen, was genügte, dass Timossi laut ausrief: »wollt ihr Juden mir das Kind meines Herrn stehlen, es töten und sein Blut für ungesäuertes Brot verwenden?«221 Es wurde also hier im Kontext der Osterzeit auf die Ritualmordlegende rekurriert, die im Zuge der revolutionären Unruhen von auch in Italien wieder aufgelebt war.222 Ein solcher Alarmruf stellt einen typischen Auslöser für antijüdische Gewalt dar, doch kam es zunächst nur zu kleineren Streitereien und auch der Vater des Kindes, der mit einer großen Eisenstange bewaffnet ins Ghetto eindrang und drohte, alle Juden auszurotten, die sein Kind geraubt hätten, konnte durch einige christliche Bürger beruhigt werden. So schien die Sache beigelegt zu sein, als plötzlich die Alarmglocke der Stadt geläutet wurde. Und in der kommenden Nacht ergoss sich eine wütende Menge von Bauern aus der Umgebung ins Ghetto, die mit Pfählen und Prügeln bewaffnet und mit Säcken für die erhoffte Beute ausgerüstet waren. Bei ihrer Ankunft in der Stadt beriefen sie sich auf das Gerücht, die zivile Verwaltung der Stadt habe angeordnet, ins Ghetto einzufallen, und habe die Häuser zur Plünderung freigegeben.223 Wir stoßen also auch hier – wie in vielen anderen Fällen – auf das Gerücht, mit dem sich die Tumultuanten der Rechtmäßigkeit ihres kriminellen Tuns vergewissern wollen bzw. durch das sie, wie vielleicht in diesem Fall, angelockt worden waren. Die Menge schätzte der Autor auf tausend Männer. In diesem gefährlichen Moment gelang es aber dem Bürgermeister (sindaco) der Stadt, Graf Blesi, mit einigen Männern der Nationalgarde den Gewaltausbruch zu stoppen. Der Zugang zum Ghetto war nun untersagt, als »Kompensation« schenkten die Gemeinde und die Juden alkoholische Getränke aus, um so die Menge zu besänftigen. Die Hoffnung, der um ein Eingreifen gebetene Bischof Modesto Contratto würde die Gemüter beschwichtigen, wurde enttäuscht, da dieser sich verweigerte.224 Da die Gefahr zunahm und die Menge der Bauern sich ständig vergrößerte, die auf Beute aus waren und die aus dem weiter entfernten Umland hereinkamen, entschärfte Graf Blesi die Situation, indem er den Vater des Juden, der sich eingemischt hatte, überzeugte, dass es besser wäre, der aufgebrachten Menge Genugtuung zu leisten und den Sohn, gegen den sich der Zorn der Menge richtete, ins Gefängnis zu bringen. Er versprach, dessen Leben zu schützen und ihn zum Kastell zu begleiten. Dieser Schutz war auch nötig, da die beutegierige Menge diese Lösung zwar begrüßte, doch den jungen Mann unter Beschimpfungen durch »… Voi, altri Ebrei volere rubarmi il bambino del mio padrone, per ucciderlo, e usarne il sangue per gli Azzimi?« Zit bei: Dolermi, La costruzione dell’odio, S. . Vgl. oben die Unruhen von Neuenhoven und Umgebung im Jahre (Kap. .). Foa, Il ’ gli Ebrei d’Acqui, S. . Es handelt sich bei diesem Mann offenbar um einen hinterlistigen Ränkeschmied, der jüdische Kinder rauben und zum Christentum bekehren wollte (ebd.).
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die ganze Stadt begleitete, da sie ihn des Ritualmordes beschuldigte. Die jüdischen Familien mussten ihre Häuser und Geschäfte drei Tage lang geschlossen halten, bis schließlich ein Trupp Kavallerie aus Alessandria eintraf und die Ordnung wiederherstellte. Einige Familien verließen angesichts dieser Vorfälle die Stadt und ließen sich dauerhaft im benachbarten Alessandria nieder. Nach dieser Version der Vorfälle konnte also ein gewalttätiger Ausbruch durch das Eingreifen der Autoritäten gerade noch verhindert werden. Am . April brachte der Bürgermeister ein Manifest in Umlauf, in dem er die Menge, die am Vortag das Ghetto der Juden belagert hatte, zur Ordnung aufrief.225 Der Bericht der beiden offiziellen Berichterstatter stellt die Vorfälle in Teilen ähnlich, in Teilen aber auch gänzlich anders dar und datiert den Vorfall auch auf den Nachmittag des Ostersonntags (. April).226 Es fehlen hier vor allem der Vorwurf des Ritualmordes sowie die Passage mit der Überführung eines Juden ins Gefängnis. Auch das auslösende Moment wird etwas anders dargestellt, da hier nicht der Zusammenstoß eines Juden mit dem vom jungen Timossi begleiteten Sohn des Vasari den Auftakt bildete, sondern Timossi, der auch in dieser Version den Sohn Vasaris begleitete, begann, mit einem Klappmesser bewaffnet, Drohungen und Beleidigungen gegen die Juden auszustoßen und sich mit Empörung besonders gegen Marco zu wenden, den er mit dem Messer bedrohte. Doch freundlich ermahnt von dessen Onkel, einem gewissen Benedetto Debeneditti, der zur Hilfe kam, gab er für einen Moment seine feindselige Absicht auf. Es entwickelte sich eine teils gewalttätige Auseinandersetzung, in die sich einige weitere Juden und Christen einmischten, um Timossi zu beruhigen. Währenddessen kam Bonajut Ottolenghi in der Uniform der örtlichen Miliz vorbei, und als er sah, dass Timossi mit einem Messer bewaffnet war, trat er in aller Freundlichkeit an ihn heran und bat ihn, seine Waffe wegzulegen, und versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Dann entfernte er sich, aber nach ein paar Schritten fühlte er sich von Timossi gepackt, der ihn an die Wand drängte und sein Messer zückte, um ihn zu verletzen. In diesem Augenblick kamen zwei Juden vorbei, die Timossi sofort angriffen, um ihn an der Ausführung seines Anschlags zu hindern. Ein Soldat der Brigade Acquis, der dabei war, riss Timossi das Messer aus der Hand und nahm ihn mit sich fort. Einige Bürger brachten den Sohn Vasaris dann zur richtigen Wohnung. Nach einiger Zeit begab sich Vasari, begleitet von dem schon erwähnten Timossi und einer Zahl anderer Personen, unter dem Vorwand, seinem Sohn zu suchen, ins Ghetto. Sie begannen zu lärmen, Drohungen auszustoßen und einen gewissen Salom Debenedetti anzugreifen, auf den einer von ihnen schrecklich einschlug, bis einige Christen ihn beruhigten, indem sie ihm versicherten, sein Sohn befinde sich in Sicherheit. Die Situation schien in diesem Moment bereinigt zu sein. Aber eine Viertelstunde später erschien Vasari in Begleitung von ungefähr fünfzehn Personen, um unter Beleidigungen und Drohungen ins Ghetto einzudringen und Abgedruckt in: Dolermi, La costruzione dell’odio, S. . Dazu ebenfalls: Foa, Il ’ gli Ebrei d’Acqui, S. f.
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zu drohen, alles auf den Kopf zu stellen, die Häuser der Juden in Brand zu setzen und alle Juden hinzuschlachten. Vom Lärm und Aufruhr angelockt, bildete sich schnell ein Volksauflauf, wobei gerade in diesem Moment der Gottesdienst in der Kirche beendet war. Man warf den Juden vor, an einem Komplott schuld zu sein, und wollte sie ausplündern. Die jüdischen Familien wurden gezwungen, sich in ihren Wohnungen einzuschließen, als es große Steine hagelte, begleitet von Rufen »Tod den Juden«. Vasari war als jemand bekannt, der schon zuvor lange Zeit Juden in öffentlichen Cafés und auf den Straßen gereizt und beleidigt hatte und der sich bemühte, andere aufzustacheln und anzustiften, seinem Beispiel zu folgen. Der oben genannte Aufruhr erhitzte sich immer mehr und drohte einen gefährlichen Charakter anzunehmen, als schließlich die örtliche Wachmannschaft und die königlichen Carabinieri eingriffen und entschlossen jede Unordnung unterdrückten. Aber am selben Abend zwischen und Uhr brach in einem anderen Stadtviertel erneut ein Aufruhr aus, der aber durch den Einsatz der örtlichen Ordnungskräfte und durch wachsame und wohlgesonnene Bürger ebenfalls schnell unterdrückt werden konnte und keine weiteren Folgen hatte. Dies wiederholte sich am folgenden Morgen. Dank der Maßnahmen der städtischen Autoritäten und des Einsatzes der Bürger blieb es bis abends um Uhr ruhig, als es von Seiten einer Gruppe von Bauern aus der Umgebung zu Übergriffen gegen Juden kam. Dass sich an einem – wohl eher zufälligen – Zusammenstoß eines Christen mit einem Juden gewaltsame Ausschreitungen entzünden konnten, zeigt die durch die Ablehnung der rechtlichen Verbesserungen für Juden und kommerzielle Konflikte angespannte Situation in Acqui. Der dabei – möglicherweise – ins Spiel gebrachte und zur Osterzeit besonders virulente Vorwurf der Kindesentführung zum Zwecke eines Ritualmordes war oder wäre geeignet gewesen, die Bereitschaft der christlichen Einwohner zu erhöhen, gegen die Juden mit Gewalt vorzugehen. Dass die Menge sich durch die Nachricht, das Kind befinde sich in Sicherheit, zwischenzeitlich nur kurzfristig beruhigen ließ, spricht aber dafür, dass man in Acqui nur nach einem Anlass gesucht hatte, gegen die Juden vorzugehen. Typisch ist auch, dass sich die Bauern der Umgebung in der Hoffnung, plündern zu können, in die Stadt begaben. Beide Darstellungen belegen aber auch, dass sich christliche Bürger um die Beruhigung der Lage bemühten und auch die Ordnungskräfte schnell für Ruhe sorgten, so dass die Unruhen relativ glimpflich verliefen, aber nichtsdestotrotz die jüdische Bevölkerung so in Aufregung und Angst versetzten, dass einige sich entschlossen, die Stadt zu verlassen. Nach Dolermi spielte bei den Konflikten auch der reaktionäre Bischof von Acqui, Modesto Contratto, eine wichtige Rolle, der versucht hatte, Streitigkeiten in jüdischen Familien zu nutzen, um Mädchen oder Jungen christlich taufen zu lassen.227 Er verweist auch auf den ökonomischen Hintergrund der Unruhen, denn neben dem Antijudaismus der Diözese von Acqui, in der die Kirche seit langem gegen die Ausdehnung des Ghettos angekämpft und sich bei der Regierung in Turin Dolermi, La costruzione, S. .
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um die Durchführung gesetzlicher Beschränkungen bemüht und so die Vorurteile gegen Juden wachgehalten hatte, war sich die Bevölkerung in der Ablehnung der Juden einig, da viele in Kreditgeschäfte mit Juden verwickelt waren. Die Bevölkerung war von der ökonomischen Krise hart getroffen worden, und viele waren durch die Kreditaufnahme großer Teile ihres Landbesitzes beraubt worden. Damit war ein fruchtbarer Boden für den Ausbruch von Gewalt bereitet.228 Die Kirche hatte sogar ihr Ziel erreicht und der Landbevölkerung die alte Anschuldigung des jüdischen Ritualmordes einblasen können. Dolermi kommt zu dem Schluss, dass der ökonomische Konflikt, den man in Acqui zwischen den Juden und der übrigen Bevölkerung feststellen konnte, sich damit durch ein weiteres Motiv verschärft hatte, das untergründiger, aber ebenso gefährlich seinen Ursprung in einem weit zurückliegenden Gegensatz der katholischen Kirche zu den Juden hatte. Der Überfall auf das Ghetto war somit die Art, wie die christliche Bevölkerung die Judenemanzipation »begrüßte«.229 Die jüdische Bevölkerung Acquis musste als Folge dieses Gewaltausbruchs noch jahrzehntelang in einem Zustand latenter Gewalt leben, so dass sie in die Zentren Norditaliens abwanderte und am Vorabend des Zweiten Weltkrieges nur noch dreißig Juden dort lebten. – Der Gewaltausbruch in Acqui stieß in Italien auf große Resonanz, er wurde sogar Gegenstand eines Kapitels in dem Roman I Sanssôssì (gli spensierati): cronaca domestica piemontese dell Secolo XIX., , von Augusto Monti. Auch in Rom schlug im April die Emanzipation der Juden in Gewalt um. Zunächst gab es Forderungen nach der Emanzipation der Juden auch im Kirchenstaat, und zahlreiche Stimmen, auch aus dem Klerus, forderten unter der Begeisterung der Menge die Niederreißung der Ghettomauern.230 In der Tat gab es in den er Jahren in Teilen der katholischen Kirche Italiens einen Meinungsumschwung zugunsten der Judenemanzipation, und auch Pius IX. schien sich zunächst für die Belange der Juden des Kirchenstaates einzusetzen, weshalb er sich unter den dortigen Juden großer Beliebtheit erfreute.231 Ende Dezember wurde dem Papst bei einem großen Volksaufzug von einer Deputation eine Liste mit Postulaten des Volkes überreicht, darunter auch die nach der Emanzipation der Juden.232 Die Juden traten in dieser Zeit immer mehr in das öffentliche Leben Roms ein und wollten sich für die nationale Sache engagieren. Am . April, dem ersten Tag des Passahfestes, ordnete der Papst schließlich die Niederlegung der Ghettomauern an, Ebd., S. . Ulrich Wyrwa hebt für die benachbarte Toskana hervor, dass die Juden gerade durch Gewalttätigkeiten der gegenrevolutionären Bewegungen auf dem Lande bedroht wurden. Offenbar waren die Bauern im Namen eines radikalen Christentums leicht zu antijüdischer Gewalt zu motivieren (Juden in der Toskana, S. ). Dolermi, La costruzione, S. . Vgl. dazu und zum Folgenden: Paul Rieger, Geschichte der Juden Roms, Zweiter Bd. -, Berlin , S. -. Wyrwa, Juden in der Toskana, S. . Zur Beteiligung von katholischen Geistlichen an der Diskussion über die Judenemanzipation siehe S. f. AZJ, Jg. , Heft , .., S. .
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und bereits am . April war »ein gut Teil der Mauern verschwunden«.233 In der Allgemeinen Zeitung des Judenthums wurde dieser Vorgang begrüßt, allerdings wurde in dem Bericht warnend auch darauf verwiesen, dass die Ghettomauern den Juden ja auch Schutz gewährt hätten: »Auch in dem gegenwärtigen Augenblicke sehen daher die Gönner der Juden diese Schutzmauern nicht ohne Besorgnis niederreißen, indem sie von nun an jeder Invasion von Uebelwollenden und Unruhestiftern Preis gegeben sind.«234 Diese Befürchtung sollte sich sogleich bewahrheiten. Die Volksstimmung konnte nämlich schnell umschlagen, und so kam es, dass noch am Passahfest ein Jude, der sich nach dem Ave-Maria-Läuten noch außerhalb des Ghettos aufhielt, erschlagen, ein anderer attackiert wurde, weil er angeblich einen Priester angespuckt hatte. Die Menge drang auch ins Ghetto ein und demolierte Häuser von Juden, so dass die Bürgergarde große Mühe hatte, dem plünderungslustigen Mob Einhalt zu gebieten. Das Ghetto musste durch Wachposten und Ketten gesichert werden, zusätzlich schickte der Polizeiminister Kavallerie und Infanterie als Schutz. Die Juden Roms erlebten auch weitere Rückschläge, da die Hälfte der acht aufgestellten Bataillone der Bürgergarde (Guardia Civica) keine Juden aufnehmen wollte, so dass sie sich entschlossen, ein eigenes aufstellen.235 Diese Gewaltausbrüche wiederholten sich mehrfach.236 So kam es anlässlich der gesetzgebenden Versammlung am . Juni zu Übergriffen gegen Juden, und am nächsten Tag »tobte ein wilder Aufruhr durch die Straßen Roms«.237 Am . Oktober kam es zu »blutigen Exzessen zwischen den dortigen Einwohnern [des Ghettos, W. B.] und dem gegen sie aufgewiegelten Pöbel. Ein auf der Piazza Nuova handelnder jüdischer Fleischer ward zu Unrecht der Gaunerei verdächtigt: die christlichen Römer im Verein mit der Civica plünderten seinen Fleischerladen aus und stürzten sich in ihrem Raubgelüste auch auf die Juden des Ghettos, die sich indessen mit Knütteln, geworfenen Flaschen, Dachziegeln und anderen dergleichen improvisirten Waffen wacker ihrer Haut wehrten.«238 Dies ging zwei Tage lang, bevor das päpstliche Militär die Ruhe wiederherstellte. Da bei diesen Straßenkämpfen ein Jude drei Bürgergardisten schwer verletzt hatte, forderte ein Flugblatt die Menge von »im Solde fanatischer Priester stehenden Oskuranten« auf, die Waffendepots Rieger, Geschichte der Juden Roms, S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Die Aufnahme in die Bürgergarde war für die Juden auch in Italien ein wichtiger Beleg für ihre bürgerliche Gleichstellung, so dass die Verweigerung der Teilnahme an gemischten Bürgergarden als Zurücksetzung empfunden wurde. Vgl. dazu Wyrwa, Juden in der Toskana, S. ff.; die Bürgergarde beteiligte sich den Berichten zufolge häufiger selbst an den Ausschreitungen gegen Juden, anstatt diese zu schützen. Vgl. Der Orient, Heft , .., S. . Aus Rom berichtete die AZJ am . April , dass sich die »mehr oder minder ernstlichen Unordnungen im Ghetto« an den letzten drei Abenden erneuert hätten. »Das Volk hatte bereits angefangen, Häuser zu demolieren, als die Civica einschritt«. Rieger, Geschichte der Juden Roms, S. . Der Orient, Heft , .., S. .
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zu stürmen und »den Juden den Garaus zu machen«.239 Dies wurde aber von der Polizei verhindert. Tatsächlich wollten am . Oktober eine Menschenmenge, die Bürgergarde und einige Barbiere ins Judenviertel eindringen, um den Juden ihre Bärte abzuschneiden. D. h., es ging nicht allein um Plünderung, sondern auch um eine symbolische Entwürdigung. Doch verhinderten Dragoner und Gendarmen diesen Plan. Es kam zu einer gerichtlichen Untersuchung, die ergab, dass der Angriffsplan auf die »schwarze geistliche Kamarilla« zurückging und mit einem allgemeinen Angriff auf das Eigenthum und das Leben der kaum Emanzipierten enden sollte.240 Für die Hoffnung der Juden auf Gleichstellung waren diese Übergriffe eine Enttäuschung, doch gab es andererseits auch Proteste gegen diese Übergriffe von Seiten der Politik. Die Ereignisse in Rom und Acqui, aber auch der Unmut, der sich in anderen Teilen Italiens im Zuge der Revolution gegen die Emanzipation der Juden erhob,241 zeigen, dass sich auch in Italien, wenn auch in geringerem Ausmaß, verglichen mit anderen Regionen Europas, Widerstand gegen die rechtliche Besserstellung der Juden erhob, hier noch verbunden mit starken religiösen Vorbehalten gegen »Andersgläubige«, der vor allem in den städtischen Unterschichten und auch auf dem Lande in Gewaltaktionen ausufern konnte. So schrieb die AZJ zu den Motiven der Unruhen in Rom, dass »die gemeinen Leute […] den Juden ihre neuen Rechte nicht gönnen [wollen]. Hier und da will man mit den Juden auch alle Nichtkatholiken vertrieben wissen«.242 Polen, Deutsche, Juden – ethnisch-nationale Konflikte im Großherzogtum Posen Die Unruhen im Großherzogtum Posen müssen im Kontext der preußischen Polenpolitik seit dem Aufstand von 243 und der polnischen Aufstandsbewegungen seit gesehen werden, die die Wiederherstellung eines unabhängigen Polen zum Ziel hatten.244 Diese verwickelte Geschichte kann hier nur insoweit kurz Rieger, Geschichte der Juden, S. ; zur Quelle: Der Orient , .., S. . Der Orient, Heft , .., S. . Die AJZ zitiert aus einem Artikel der italienischen Zeitung Contemporaneo, wonach es in Rom einen Angriff auf das Ghetto gegeben habe, der eine Privatrache zu sein schien. Danach »fielen einige Exzesse vor, jedoch stellten die Bürgerwehr und die Dragoner bald die Ruhe her« (Jg. , Heft , .., S. ). Vgl. die entsprechenden Hinweise auf Städte wie Florenz oder Livorno, aber auch auf die ländlichen Regionen der Toskana: Wyrwa, Juden in der Toskana, S. ff. AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Siehe William W. Hagen, Germans, Poles, and Jews. The Nationality Conflict in the Prussian East, -, Chicago, London , S. ff., der nach dem polnischen Aufstand gegen die russische Herrschaft von von einer antipolnischen Wende der preußischen Polenpolitik unter dem, dann abgelösten Oberpräsidenten Eduard von Flottwell spricht, die immense Auswirkungen auf das Verhältnis von Deutschen, Juden und Polen in der Provinz Posen haben sollte. Im Großherzogtum Posen stellten Polen der Bevölkerung, die in den östlichen Kreisen eine große Mehrheit bildeten; die Deutschen stellten und hatten in den
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skizziert werden, wie sie für das Verständnis der antijüdischen Ausschreitungen im April notwendig ist.245 Den Vorgängen vom März/April vorausgegangen waren ein Aufstandsversuch in Krakau sowie ein geplanter Aufstand in der preußischen Provinz Posen, auf die der preußische Staat mit der Repression der polnischen Bevölkerung reagierte.246 wurden Akteure vor dem Berliner Kammergericht im sog. »Polenprozess« teils zum Tode (acht Personen), teils zu Gefängnisstrafen verurteilt, während die Mehrheit aber freigesprochen wurde. Seit Beginn des Jahres zeigten sich in der Provinz Posen erneut nationalpolnische Bestrebungen, die durch die Nachrichten über die Februarrevolution in Paris befeuert wurden.247 Nach Beginn der Märzrevolution in Berlin forderte die vor dem königlichen Schloss versammelte Menschenmenge am . März erfolgreich die Freilassung der Gefangenen, und es kam zu Verbrüderungsszenen zwischen den befreiten Gefangenen, und deutschen Revolutionären, unter denen ebenso wie in Deutschland generell eine polenfreundliche Haltung vorherrschte.248 In dieser frühen Phase gab es eine Verbrüderung von Polen, Deutschen und Juden auch in Posen und vielen anderen Orten der Provinz, die allerdings sehr kurzlebig war.249
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westlichen und nördliche Bezirken eine relative Mehrheit; Juden machten mit . Personen der Bevölkerung aus, stellten aber in vielen Städten der Provinz - (Krzystof Makowski, Das Großherzogtum Posen im Revolutionsjahr , in: Rudolf Jaworski/Robert Luft (Hrsg.), /. Revolutionen in Ostmitteleuropa, München , S. -, S. f.). Ich stütze mich dabei im Folgenden auf die Arbeiten von Krzysztof Makowski, Das Großherzogtum Posen S. -; ders., Between Germans and Poles: The Jews of Poznán in , in: Polin. Studies in Polish History, Vol. : Focusing on Jews in the Polish Borderlands, hrsg. von Antony Polonsky, Oxford , S. -. Makowski, Das Großherzogtum Posen, S. ; Artur Rabinbach, The Emancipation of Jews in Poland, -, Oxford , S. -. Nach einem in der AZJ abgedruckten Bericht aus der Königlich privilegierten Berlinischen Zeitung für Staats- und gelehrte Sachen hatte sich schon am . April im posenschen Rogasen nach einem Feuer am Abend und einem nächtlichen Ruf »Revolution« auf dem Markt eine große, mit Sensen und Feuerhaken bewaffnete Menge von Polen aus der Umgebung gebildet, deren Anführer mit dem Ruf »Bicie przo Jydy i Niemiecky« (Schlagt die Juden und die Deutschen) das Zeichen für gewalttätige Übergriffe gab. »Viele, namentlich Juden wurden lebensgefährlich, Andere nicht minder stark verwundet«. Christlichen und jüdischen Bürgern des Ortes »gelang es indes, »den Tumultuantenhaufen zu zerstreuen; sechs Polen wurden verhaftet« (AZJ, Jg. , Heft , , S. ). Makowski, Das Großherzogtum Posen, S. und ff. Dazu Hagen, Germans, Poles, and Jews, S. ff. Krzysztof Makowski, Poles, Germans and Jews in the Grand Duchy of Poznan in : From Cooperation to Conflict, in: East European Quarterly /, , S. -, S. . Sophia Kemlein hebt die ambivalente Reaktion der posenschen Juden hervor, die angesichts der seit zwischen Polen und Deutschen angespannten Situation einerseits Angst empfanden, zumal Gerüchte kursierten, die polnische Bevölkerung würde wieder mit Gewalt gegen Juden vorgehen, sich andererseits aber durchaus an der allgemeinen Verbrüderung der ersten Revolutionstage beteiligten (Die Posener Juden -. Entwicklungsprozesse einer polnischen Judenheit unter preußischer Herrschaft, Hamburg , S. f.). Isaak Herzberg schrieb rückblickend ironisch, dass die »polnischen
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Sobald die Nachrichten von den Vorgängen in Berlin in Posen bekannt geworden waren, nutzten die Polen die »Paralyse« der preußischen Regierung in Berlin sowie der lokalen Administration und begannen am . März dort ein Nationalkomitee mit dem Ziel der »Befreiung des Vaterlandes« zu bilden, von dem Deutsche und Juden jedoch ausgeschlossen blieben,250 obwohl das Komitee den Juden am . März volle bürgerliche Rechte zusicherte. Bereits am . März gründeten die Deutschen ein eigenes Komitee, das Juden aufnahm.251 Das polnische Nationalkomitee sandte eine Deputation zu Verhandlungen über die Unabhängigkeit der Provinz nach Berlin, die jedoch entgegen ihres Auftrags nur ihre nationale Neuordnung vorschlug. Der preußische König sicherte am . März öffentlich zu, eine Neuordnung der Provinz Posen zu akzeptieren. Diese vom preußischen König zugesicherte Neuordnung der Provinz löste nach Makowski unter Deutschen und Juden schwere Bedenken hinsichtlich ihrer Position in einem von Polen regierten Großherzogtum Posen aus.252 Diese wurden dadurch bestärkt, dass das nationale polnische Komitee für alle Kreise sogleich Kommissare einsetzte, um die sich vielerorts gebildeten Insurgentengruppen unter Kontrolle zu bringen, die sich spontan gegen die preußischen Autoritäten gewendet hatten.253 Denn mit Ausnahme der überwiegend deutschsprachigen Gebiete an der nördlichen, westlichen und südlichen Grenze wurde überall in der Provinz die preußische durch die polnische Herrschaft abgelöst, indem preußische Adler heruntergerissen, die Kassen der Finanzbehörden übernommen und Landräte und Bürgermeister abgesetzt wurden. Als Reaktion auf diese Bestrebungen entstand in der deutschen Bevölkerung der Provinz eine antipolnische Stimmung, und sie wurde in Berlin mit Forderungen
Empörer« in Posen zur Erlangung ihrer politischen Selbständigkeit »bei der Wahl und Anwendung ihrer Mittel keineswegs wählerisch« gewesen seien. »Zunächst strebte man eine Verbrüderung der verschiedenen Nationalitäten an, und man gewann es sogar über sich, selbst an die Juden, die man als einen nicht gering zu achtenden Faktor ansah, ein Manifest zu richten, in welchem man sie ›Brüder Israeliten‹ nannte. Als aber die Lockungen nicht verfingen, da ging man offener vor, und bald darauf scheute man selbst vor Mord und Raub, Schändung und Plünderung nicht zurück« (Die polnische Insurrektion des Jahres und die Juden in den Posener Landen, AZJ, Jg. , Nr. , .., S. -). Zu diesem in Paris proklamierten Manifest siehe Rabinbach, The Emancipation of Jews, S. f. Hagen, Germans, Poles, and Jews, S. . Makowski, Between Germans and Poles, S. f.; Makowski betont aber, dass es dem deutschen Komitee zunächst darum ging, die Ordnung aufrechtzuerhalten und gute Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen zu wahren, doch schlug die Stimmung bald radikal um, da die Übernahme der Macht seitens der Polen »nicht immer glimpflich ablief« und auch die Aufstellung polnischer militärischer Einheiten Bedrohungsgefühle unter den Deutschen und Juden auslöste. Am . März bildete sich ein neues deutsches Komitee, das eine antipolnische Linie verfolgte (Das Großherzogtum Posen, S. ). Makowski, Between Germans and Poles, S. . Herzberg schreibt, dass allerorten die Wut der Deutschen aufgelodert sei, die in den Juden »gar eifrige und begeisterte Bundesgenossen fanden« (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Makowski, Between Poles and Germans, S. .
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vorstellig, bestimmte, mehrheitlich deutsche Städte und Kreise von der politischen Reorganisation auszunehmen bzw. diese sogar in den Deutschen Bund aufzunehmen, während die Polen auf die Wiederherstellung ihres Staates oder zumindest auf die Autonomie des Großherzogtums pochten. Damit sei nach Makowski eine Konfrontation von Deutschen und Polen unausweichlich geworden.254 An einigen Orten trafen die polnischen Maßnahmen aber auf offenen Widerstand der deutschen und jüdischen Einwohner, die begannen Schutzwehren aufzustellen. Sie versuchten, die Bildung polnischer Komitees zu verhindern und die sich formierenden aufständischen Einheiten, zum Teil unter Beteiligung der preußischen Truppen, zu zerstreuen.255 »Infolgedessen kam es in vielen Orten des Großherzogtums Posen zu Exzessen«, an denen zumeist von der deutschen Bevölkerung aufgehetzte preußische Soldaten schuld waren. Polnische Insurgenten und die polnische Zivilbevölkerung wehrten sich, und es waren Opfer auf beiden Seiten zu beklagen.256 Umgekehrt kam es schon in den ersten Tagen »in einigen Orten zu kleineren Übergriffen auf die jüdischen Bevölkerung«, bei denen Läden demoliert und Scheiben eingeworfen wurden, ohne dass Menschen verletzt wurden,257 wie auch Deutsche verletzt und ausgeplündert wurden. Anfang April schlug das politische Klima in Berlin um, und militärische Kreise beauftragten – hinter dem Rücken der liberalen Minister – den General Friedrich August von Colomb, die bewaffneten polnischen Verbände aufzulösen258 und die Ordnung im Großherzogtum wiederherzustellen, während gleichzeitig ein anderer General, Wilhelm von Willisen, zu Verhandlungen nach Posen geschickt wurde, um mit den Polen einen Kompromiss auszuhandeln, die am . April zur Konvention von Jarosławiec führten, wonach die Provinz neu geordnet, die in fünf Lagern stationierten polnischen Einheiten teilweise aufgelöst und die militärischen Operationen eingestellt werden sollten. Der preußische König stimmte der Konvention am . April zu, doch sahen polnische Soldaten die Konvention als Verrat an und General Willisen stieß seinerseits bei den örtlichen preußischen Behörden auf Widerstand gegen eine Neuordnung der Provinz. Preußisches Militär unter General Makowski, Poles, Germans and Jews, S. . Siehe dazu die von Isaak Herzberg im Rückblick stolz berichteten Beispiele des Einsatzes von Juden auf deutscher Seite (AZJ, JG. , Heft , .., S. ). Makowski, Das Großherzogtum Posen, S. ; ders., Poles, Germans and Jews, S. . Ein Bericht aus der Stadt Krotoschin zeigt, wie sich »Judenburschen« des Ortes gegen die vom deutschen Landrat, »der es mit der Polenpartei hielt«, veranlasste Übergabe des Ortes an die Polen wehrten, indem sie die im Rathaus tagenden polnischen Adligen vertrieben und auch einen Reiter vom Pferd rissen. Sie hätten gerufen: »Wir wollen kein Polenthum, wir sind Preußen!« (Heinrich Wuttke, Städtebuch des Landes Posen, Leipzig , S. -; dazu auch Kemlein, Die Posener Juden, S. f.). Ebd., S. . Bei einer dieser frühen Ausschreitungen am . März in Milosław soll es allerdings ein Todesopfer gegeben haben (s. u.). Den Polen war die Aufstellung von Truppen erlaubt worden, die Anfang April neuntausend Mann umfasst haben sollen und in drei Lagern an der Grenze zum Königreich Polen stationiert wurden, da man einen Krieg gegen Russland plante.
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Colomb begann die polnische Verwaltung zu entfernen und kleinere polnische Einheiten aufzulösen, was den Widerstand unter den Aufständischen, aber auch in der Zivilbevölkerung anfachte, so dass es zu ersten geringfügigen Scharmützeln kam. Dieser Widerstand stellte für General Colomb den Bruch der Jarosławer Konvention dar, so dass er am . April mit Billigung der preußischen Regierung die Auflösung der polnischen Einrichtungen anordnete. In den nächsten Wochen kam es zu drei größeren Gefechten, nach denen die polnische Militärführung am . Mai kapitulierte. Die polnischen Bauern verhielten sich nach Makowski mehrheitlich neutral, doch nach der Konvention von Jarosławiec, motiviert durch das brutale Vorgehen des preußischen Militärs und die Agitation des Klerus, »griff ein immer größerer Teil der Bauern von sich aus zur Waffe. Die übrige Landbevölkerung unterstützte in großem Maße den Aufstand«. Diese »Sensenmänner« rekrutierten sich vor allem aus den von den Großgrundbesitzern bewaffneten Dienstboten, Bauern und Knechten, zu denen später noch Häusler, Einlieger und Tagelöhner traten.259 Nach Rabinbach waren es judenfeindliche Mitglieder des niederen Adels, der unteren Mittelschicht sowie Bauern, die in die Städte strömten und die Ausschreitungen begingen.260 Der Verlauf der antijüdischen Ausschreitungen in der Provinz Posen Die antijüdischen Ausschreitungen in den zentralen und östlichen Kreisen des Großherzogtums Posen in dieser Phase verdankten sich also einer spezifischen ethnisch-nationalen Konfiguration in einer durch den geschilderten Nationalitätenkonflikt aufgeheizten politischen Stimmung. Diese feindselige Stimmung und die anarchische Aufstandssituation, in welcher der preußische Staat und seine Ordnungskräfte nicht immer Herr der Lage waren, begünstigte die in einigen Fällen mit militärischen Aktionen verbundenen Ausschreitungen gegen die deutsche, aber vor allem gegen die jüdische Zivilbevölkerung, die zumeist von Insurgenten, in wenigen Fällen aber auch von der örtlichen polnischen Bevölkerung ausgingen.261 Nach Makowski existieren in der Literatur, und zwar sowohl in der deutschen, wie polnischen und jüdischen, zum »Frühling der Nationen« in der Provinz Posen im Jahre bis heute stereotype Darstellungen über die Haltung der dortigen Makowski, Das Großherzogtum Posen, S. . Diese Rolle der polnischen Geistlichkeit für die »Fanatisierung« der polnischen Bevölkerung hebt besonders Herzberg hervor: »Aus dem Nationalkampf wurde ein Religionskampf« (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Rabinbach, The Emancipation of the Jews, S. . So schreibt etwa Der Orient, . Jg., Heft , , .., S. , dass im Großherzogtum Posen »jetzt die vollständige Anarchie« herrsche: »der Kampf zwischen Deutschen und Polen ist auf fast allen Punkten ausgebrochen, Deutsche und Polen stehen sich mit den Waffen in der Hand gegenüber und die Polen […] erlauben sich besonders auf dem platten Lande unerhörte Excesse«.
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Juden, wonach diese ganz auf Seiten der Deutschen gestanden und der polnischen Seite feindlich gegenübergestanden hätten.262 Dies entspricht nach Makowski jedoch nicht der Situation von , da die große Mehrheit der ärmeren jüdischen Schichten sich aus dem deutsch-polnischen Konflikt heraushielt und sich vor allem die bürgerlich-assimilierten Juden in Posen und in den Kreisen mit deutscher Mehrheit an den deutschen Aktivitäten beteiligten, deren Forderungen unterstützten und sich »an vorderster Stelle im Kampf gegen die polnische Bewegung« engagierten.263 In den vom Aufstand erfassten östlichen und mittleren Kreisen verhielten sich die Juden loyal, wohl auch, wie Makowski vermutet, aus Angst vor Pogromen.264 Makowski mahnt an, dass man in der Diskussion des Nationalitätenkonflikts in der Provinz Posen das Ausmaß und die geographisch begrenzte Verbreitung ethnisch motivierter Gewaltausbrüche im Auge behalten sollte, denn den meisten Publikationen, vor allem den sensationalistischen Zeitungsberichten zu diesem Thema zufolge war die Provinz Schauplatz von Massakern und Pogromen, die vor Makowski, Between Germans and Poles, S. ff. Die Sicht gebildeter Posener Juden im Rückblick von findet sich exemplarisch in dem Buch von Aron Heppener und Isaak Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden in den Posener Landen nach gedruckten und ungedruckten Quellen, Koschmin, Bromberg , S. : »An den nationalen Bestrebungen des Jahres nahmen die Juden des Landes Posen lebhaften Anteil, sie fühlten sich stets und überall als Deutsche. […] Den in jenen Tagen allerorten gegründeten Bürgervereinen gehörten auch viel Juden an«. Es folgen einige Beispiele eines aktiven Einsatzes gegen die Polonisierung des Landes. Weitere Beispiele für die polenfeindliche Einstellung der deutsch-jüdischen Presse, aber auch seitens assimilierter Posenscher Juden in: Kemlein, Die Posener Juden, S. f. Polnische Autoren konstatieren ebenfalls eine pro-deutsche Haltung der Juden, doch sehen sie diese nicht in deren Assimilation an die deutsche Kultur begründet, sondern unterstellen den Juden rein materielle Interessen und eine dezidiert antipolnische Haltung. Juden werden vieler Verbrechen beschuldigt, etwa der Misshandlung polnischer Gefangener und der Anstiftung preußischer Soldaten gegen Insurgenten und die polnische Zivilbevölkerung (Makowski, Between Germans and Poles, S. ). Einige zeitgenössische Beispiele für die Unterstellung, Juden würden die deutsche Seite primär aus Handels- und Geldinteressen unterstützen und sich undankbar gegenüber den Polen zeigen, siehe in: Kemlein, Die Posener Juden, S. f. Makowski, Das Großherzogtum Posen, S. Die AZJ, Jg. , Heft , .., S. , zitiert einen Bericht der Deutschen Allgemeinen Zeitung (Leipzig), wonach der »überall jetzt sehr thätigen polnischen Insurrektion« in Posen nun »eine Reaktion von einer Seite« entgegentritt, »von welcher es die Polen wol am wenigsten vermuthet haben, von Seiten nämlich der Bauern und Juden, denen sich die deutschen Bürger anschließen. Sie wollen keine Polen sein, wenigstens nicht unter polnischer Herrschaft, sondern Preußen bleiben«. Sie verweigerten die Annahme polnischer Kokarden und kauften sich preußische. Juden hätten in Kempen sogar das Haus eines Polen gestürmt, der polnische Kokarden verteilt hatte. Makowski, Das Großherzogtum Posen, S. ; ähnlich auch Kemlein, Die Posener Juden, S. -; Hagen, Germans, Poles, and Jews, S. , schreibt, dass die Juden im polnisch dominierten Zentrum der Provinz ihre Sympathien für die deutsche Seite hinter passivem Verhalten versteckten.
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allem gegen Juden gerichtet waren. Dies entspricht seiner Auffassung nach aber nicht den Tatsachen, zumal beide Konfliktparteien das Ausmaß der Konfrontationen übertrieben. So kursierten für die Erzeugung von Pogromstimmungen typische Gerüchte, wonach Juden die Wasser, und Wodka-Versorgung vergiftet hätten, umgekehrt gab es in der Berliner Zeitung Zeitungshalle eine erfundene Meldung von der Abschlachtung von Deutschen und Juden in Gnesen.265 Juden wurden in jedem Fall nicht vom deutsch-polnischen Konflikt verschont, wobei es Juden gab, die Polen überfielen oder preußische Soldaten dazu anstifteten, wie umgekehrt polnische Aufständische Juden schlugen und ausraubten.266 Auch wenn man alle Berichte als wahr akzeptiert, die nicht explizit als unwahr erwiesen sind, war das Ausmaß der gegenseitigen Gewaltaktionen zwischen Juden und Polen nach Makowski begrenzt, so dass er nur drei schwere Ausschreitungen erkennt (Trzemeszno/ Tremessen/Tschemesno, Września/Wreschen und Buk/Buck), die zudem in direkter Weise mit militärischen Operationen verbunden waren und die deshalb auch einer anderen Handlungsdynamik folgen als von Ortsansässigen begangene zivile Ausschreitungen.267 Auch Stefan Rohrbacher betont, dass diese Ausschreitungen sich in einem »faktischen Kriegsgebiet« abspielten und deshalb, vor allem was das Ausmaß an Gewalt angeht, nur »wenig mit den Ereignissen in den Dörfern und Kleinstädten Badens und Bayerns gemein« hatten, da sie nicht aus der örtlichen Bevölkerung heraus, sondern von polnischen Aufständischen primär gegen die deutsche Bevölkerung gerichtet waren, als deren Parteigänger auch die Juden attackiert wurden. Im Unterschied zu Makowski ist Rohrbacher jedoch der Ansicht, dass die Insurgenten in einigen Fällen »mit einer gezielten Härte und Grausamkeit« gegen Juden vorgingen, die sich nicht allein aus dem Nationalitätenkonflikt, sondern aus der »in Teilen der polnischen Bevölkerung ausgeprägten Judenfeindschaft« speisten.268 Sophia Kemlein hat sicher Recht, wenn sie die Ursachen dafür in diesem Fall in einer doppelten Motivation der Täter sieht, denn einerseits existierte ihrer Makowski, Poles, Germans and Jews, S. . »From most of the publications on the subject one gets the impression that the province witnessed serious incidents of slaughter and pogroms. However, this is unconfirmed by the sources. The press of the time, the administrative reports, and even the literature, while propagating such opinions, incline one to come to completely different solutions. That such incidents did take place is unquestionable, but because of the vicious propaganda war being waged at the time, their scale was often exaggerated on both sides« (Makowski, Between Germans and Poles, S. ). Bei Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, S. f., findet sich ein anschaulicher Bericht aus dem Dorf Slupy (bei Schubin/Szubin, nahe Bromberg/ Bydgoszcz), wo eine große Volksmenge das Wiedererstehen Polens und die Entmachtung der preußischen Behörden feierte, was unter der Minderheit der Deutschen und Juden zu Gegenmaßnahmen, etwa der Aufstellung einer Bürgerwehr, führte. »Auf diese Weise teilte sich die Bevölkerung in zwei feindliche Lager«. Makowski, Between Germans and Poles, S. f.; ders., Das Großherzogtum Posen, S. f. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .
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Meinung nach »eine virulente Abneigung der polnischen Landbevölkerung« gegenüber den Juden, die in der vorliegenden Krisensituation zum Tragen kam, andererseits wurden die Juden in der Aufstandssituation zusätzlich als Feinde betrachtet.269 Die von Makowski genannten »schwere Fällen« forderten allerdings Todesopfer (einige, bis höchstes ein Dutzend) unter den Juden, und man kann vermuten, dass mehrere Dutzend in den vielen weiteren Auseinandersetzungen verletzt worden sind,270 denn neben den »schweren Ausschreitungen« gab es in mehreren Orten Angriffe auf jüdische Läden und Synagogen, die in einigen Fällen nicht von bewaffneten Insurgenten, sondern von der lokalen Bevölkerung verübt wurden. Übergriffe hat es nach Sophia Kemlein in etwa bis Orten gegeben, bei denen mehrere Juden ums Leben kamen. Einige Orte werden in einer ganzen Reihe von Quellen benannt (Grätz, Żnin, Mirosław, Buk, Wreschen, Tremessen, Strzelno, Schroda, Slupy), andere werden nur in einer Quelle genannt (Kurnik, Pinne, Xions, Neustadt a. d. Warthe).271 Die Unruhen ereigneten sich überwiegend im weiteren Umkreis der Stadt Posen an Orten mit einer polnischen Bevölkerungsmehrheit, obwohl auch hier die Juden zum Teil durchaus die polnischen Aufständischen unterstützten, etwa indem sie Geld, Kleidung oder Ausrüstung für diese spendeten.272 Die Zeitungen, die über die Konflikte in der Provinz Posen berichteten, zeichneten ein ganz unterschiedliches Bild der Vorgänge. Zunächst die dramatisierende Version, die allerdings in einer ganzen Reihe von Fällen auch von späteren Darstellungen gestützt wird: Aus den Orten Trzemeszno, Wreschen und Żnin (bei Bromberg) wurden Mitte April mehrere Fälle brutaler Morde, Verstümmelungen und Vergewaltigungen berichtet.273 Diese Ausschreitungen ereigneten sich in einer typischen, von »zivilen Pogromen« abweichenden Konstellation eines vorübergehenden Machtvakuums: Sie brachen entweder in dem Moment des Abzugs preußischer Soldaten aus einem Ort aus, oder kurz vor dem Anrücken preußischer Truppen, wodurch die polnischen Insurgenten gezwungen waren, den Ort aufzugeben. Die kurze »liminale Phase« des bevorstehenden Machtwechsels nutzten die Insurgenten, um über die »gegneri Kemlein, Die Posener Juden, S. . Siehe ähnlich auch Rabinbach: »Old prejudices and animosities came to light, while clear differences in the attitude of various parts of the Jewish population to the nationality conflict between Poles and Germans provoked a new wave of anti-Jewish violence. The situation was similar to some countries of the Austrian monarchy« (The Emancipation of the Jews, S. ). Makowski, Between Germans and Poles, S. . Kemlein, Die Posener Juden, S. . Ebd., S. . Vgl. AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Heft , .. , S. ; Heft , .., S. ; vgl. auch: Der Orient, Heft , .., S. ; Zeitungsnachrichten. Aus dem Großherzogtum Posen, in: Der treue Zions-Wächter, Jg. , Heft , .., S. . Vgl. als spätere Darstellungen: Heinrich Wuttke, Städtebuch des Landes Posen, Leipzig ; Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, die sich z. T. auf Wuttke, aber auch auf andere Quellen und Berichte stützen.
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sche« einheimische Bevölkerung, also Deutsche und Juden, herzufallen. In anderen Fällen waren die Ausschreitungen in Kampfhandlungen eingebettet, in überfallartige Besetzungen eines Ortes. In Żnin (Schnin) wurde nach Abzug der in der Stadt stationierten preußischen Soldaten das Landvolk an einem Sonntag (. April) in die Stadt gerufen, um die angeblich bedrohte Kirche und den Geistlichen zu schützen. Die Obrigkeit wurde entmachtet, und man begann in diesem Machtvakuum Häuser von Deutschen und Juden zu plündern und teilweise zu zerstören. Dabei wurden ein Jude getötet und mehrere verletzt. Im Mai rückte das preußische Militär dort ein, und drei Polen, die preußische Adler heruntergerissen hatten, wurden ausgepeitscht.274 Die Deutsche constitutionelle Zeitung schrieb von einem Scharmützel mit dreißig Toten in Trzemeszno, darunter vier Juden. Nach der Darstellung im Städtebuch von Heinrich Wuttke war die Stadt zunächst von ca. anderthalbtausend bewaffneten polnischen Insurgenten besetzt, bevor preußische Truppen am . April anrückten. Beim Angriff auf die Stadt wurden sie von Schüssen empfangen, mussten sich aber auf Befehl von General Willisen wieder zurückziehen. Genau in diesem Moment »wendete sich die Wuth der Polen gegen wehrlose Einwohner«. Vier namentlich genannte jüdische Einwohner wurden ermordet, mehrere Einwohner schwer verletzt, dreißig Juden und Deutsche eingesperrt und misshandelt, zahlreiche Häuser von Deutschen und Juden ausgeplündert. Polnische Truppen zogen Anfang Mai in die Stadt, bevor die Preußen am . Mai in die Stadt einrückten.275 Der Trigger für den Ausbruch der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung war der Angriff preußischer Truppen, der eine ganze Reihe polnischer Todesopfer gefordert hatte, so dass die Übergriffe als Racheakte an den in »Geiselhaft« genommenen deutschen und jüdischen Einwohner zu verstehen sind. Dabei fällt allerdings auf, dass nur Juden ermordet wurden. Ein ganz ähnliches Muster zeigt das Zustandekommen der Ausschreitungen in Wreschen in der Nacht vom . auf den . April . Seit dem . März wurde die Stadt von Polen beherrscht, die sie zum Sammelplatz ihrer »bewaffneten Haufen« machten. Nach einer Abmachung mit dem preußischen General Willisen zogen die polnischen Aufständischen am . April ab, doch nutzten sie die Nacht davor zur Schändung der Synagoge und begingen »Gräueltaten« an den Juden des Ortes, wobei sie extrem brutal vorgegangen sein sollen (s. u.). Es hat wohl zwei Tote und drei Verletzte gegeben. Von den am nächsten Tag einrückenden preußischen Soldaten wurden »mehrere polnische Bürger übel behandelt«.276 Die AZJ berichtete unter Berufung auf die Posener Zeitung von schweren Ausschreitungen gegen christliche und jüdische Deutsche in Buk (Buck), einer Stadt in der Nähe Posens, die alle ihre Habe verloren hätten. Das Innere der gerade erst kürzlich eingeweihten Synagoge wurde zerstört, Gesetzesrollen zerschnitten, Fens Wuttke, Städtebuch, S. f. Ebd., S. f. Bei den Kämpfen wurden preußische Soldaten und dreißig Polen verwundet, ein Soldat und Polen starben. Wuttke, Städtebuch, S. .
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ter eingeschlagen.277 Auch in diesem Fall waren nicht die Ortsbewohner, sondern Insurgenten die Gewaltakteure. Polen hatten die Stadt besetzt und den Bürgermeister abgesetzt, bevor preußische Truppen die alte Ordnung wiederherstellten. Nach Wuttke hatten die Einwohner eine Bürgerwehr gebildet, und es lagen auch Soldaten in der Stadt, dennoch überfielen am Morgen des . Mai »Sensenmänner« die Stadt, »verstümmelten eine Anzahl Soldaten und waren eine Weile Meister der Stadt«.278 Häuser von Deutschen und Juden wurden demoliert oder geplündert, polnische habe man verschont. Auch die erst vor kurzer Zeit erbaute Synagoge wurde zerstört. »Eine große Zahl Juden büßte bei diesen Metzeleien ihr Leben ein«.279 Nach Heppener und Herzberg hätten sich die Juden bis zur Ankunft der preußischen Soldaten versteckt, die dann die Häuser durchsucht und die vorgefundenen Aufständischen erschossen hätten. Im April zogen polnische Insurgentengruppen durch die Provinz Posen und überfielen die jüdischen und deutschen Einwohner kleinerer Städte, zumeist von den Adligen ausgerüstete Bauern, die sog. »Sensenmänner«. In der südlich von Posen gelegenen Stadt Kosten (Koscian) kam es laut einem Bericht vom . April zu »Exzessen« seitens einer »Räuberbande«, die eine in der Stadt liegende Garnison nicht verhindern konnte. Fünfhundert Mann Militär wurden daraufhin in den Ort in Marsch gesetzt, die allerdings zu spät eintrafen. Auch in der Stadt Grätz (Grodzisk Wielkopolski) wurden Häuser von Juden und Deutschen demoliert und deren Bewohner misshandelt.280 Heppener und Herzberg berichten auch über Exzesse polnischer Insurgenten aus Kurnik (Kornik), wo zwei jüdische Kaufleute ermordet worden sein sollen.281 In Pinne blieb es in der Nacht vom . auf den . April bei AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Heft , .., S. f. Wuttke, Städtebuch, S. . Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, S. f.; dort auch einige Namen der getöteten Juden; auf S. schreiben die beiden Autoren, die »Sensenmänner« (bewaffnete Insurgenten, s. o.) hätten in Buk fünf Juden ermordet. Diese Zahl übernimmt auch Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Ein Bittbrief des Vorstandes der jüdischen Gemeinde in Buck vom . Mai an einen nicht näher bezeichneten »Hochwürden« in Magdeburg beschreibt ausführlich die völlige Ausplünderung der jüdischen Einwohner und die Zerstörungen der gerade neu eingeweihten Synagoge und bittet um die Veröffentlichung eines Spendenaufrufs, ohne jedoch mit einem Wort zu erwähnen, dass es Todesopfer zu beklagen gab. Dies lässt gewisse Zweifel an dem vorstehenden Bericht aufkommen (AZJ, . Jg., Heft , .., S. ), zumal auch Wuttke, Städtebuch, S. , keine Todesopfer unter den Juden erwähnt hat. Der Orient, . Jg., Heft , , S. . Ein Bericht in der selben Ausgabe vom .. zitiert die Breslauer Zeitung, wonach in Kosten keine Exzesse begangen wurden und auch in Grätz seien keine Personen bedroht, wohl aber die Einrichtung von Juden gehörenden Häusern zerstört worden. Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, S. ; allerdings findet sich zu den beiden Todesopfern im Ortsartikel »Kurnik« in: Wuttke, Städtebuch, S. f., kein Hinweis. Wuttke berichtet vielmehr, dass am . April »preußisches Kriegsvolk« einrückte, das nach polnischen Angaben »arg gehaust« habe: der Schlossgarten sei zerstört, Heiligenbilder gespießt, Betten und Geräte zerschlagen, geplündert, ein paar
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Angriffen auf jüdisches Eigentum.282 In der Nähe von Buk sollen in dem Ort Stenschewo (Stęszew) die Wohnhäuser von Deutschen und Juden vollständig ausgeplündert worden sein.283 Auch Unruhen in der Stadt Strzelno zeigen ein von den üblichen lokalen Pogromen abweichendes Muster: Nach Wuttke nahm eine nicht näher bezeichnete »Schar« von Polen die Stadt in Besitz, riss die preußischen Adler ab, hisste polnische Fahnen, versiegelte die Kassen usw., wogegen sich die Ortsbürger bewaffnet wehrten und die Polen vertrieben. Eine zum Schutz erbetene preußische Besatzung kam in die Stadt. Das auslösende Moment der Ausschreitungen bestand in der Provokation seitens eines preußischen Soldaten, der am . April eine polnische Kokarde herunterriss, woraufhin Polen die Sturmglocke läuteten, was Adlige und ihre »Sensenmänner« aus der Umgebung alarmierte, die die preußischen Soldaten vertrieben und die Häuser von Deutschen und Juden plünderten, wobei zwei Deutsche ums Leben kamen. Bei der Rückeroberung der Stadt gab es unter den Polen dreißig Tote und zwanzig bis fünfundzwanzig Verwundete.284 Wir finden hier also eine Vermischung von Aufstandsaktionen, die auf die Abschüttelung der preußischen Herrschaft zielten, mit antijüdischen und antideutschen Ausschreitungen sowie blutigen militärischen Gegenreaktionen zur Niederschlagung der Insurrektion. In Kempen sollen Mitte April Bauern über die Juden hergefallen sein und mehrere ermordet haben, bevor Militär zur »Dämpfung der dort ausgebrochenen Unruhen« dorthin beordert wurde, doch findet sich bei Wuttke dazu kein Hinweis.285 Bereits am . März wurden auch in Milosław die preußischen Adler abgerissen, Akten verbrannt und auf den flüchtenden Bürgermeister geschossen, der Gendarm entwaffnet. Die Häuser der beiden Männer wurden zertrümmert, darauf ging es an die Beraubung der »Judenhäuser«. Nach Heinrich Wuttke sei die Tochter des Rabbiners, die sich gegen ihre Vergewaltigung wehrte, ermordet worden. Letzteres wird von Makowski nicht erwähnt, er schreibt die Plünderung der Läden und Bethäuser der lokalen Bevölkerung zu und nicht, wie in den meisten anderen Fällen, den Insurgenten. Viele dieser bei Wuttke sowie bei Heppener und Herzberg und in den deutschjüdischen Zeitungen geschilderten grausigen Vorfälle dürften sich so nicht ereignet haben, bedienten sie sich doch ganz offensichtlich des in der Schilderung von Erfahrungen kollektiver Gewaltakte typischen Repertoires und blieben auch von polnischer Seite nicht unwidersprochen. So wenn aus Wreschen berichtet wird,
Bürger verwundet, ein Mann getötet worden. Der ironische Nachsatz von Wuttke, »Nach dieser Befreiung verlangten die Einwohner von Kurnik Aufnahme in den Deutschen Bund«, soll diesen »Gräuelbericht« von polnischer Seite als unglaubwürdig diskreditieren AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, S. ; Herzberg. Die polnische Insurrektion (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Wuttke, Städtebuch, S. f. Der Orient, . Jg., Heft , , .., S. ; Ortsartikel zu Kempen in: Wuttke, Städtebuch, S. -.
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dort habe man einem Juden die Augen ausgestochen, einem anderen das Ohr abgeschnitten und die Finger zerhackt, und drei in ihren Betten überfallenen Mädchen habe man die Bäuche aufgeschlitzt und die Brüste abgeschnitten.286 In anderen Orten sei ein Jude gezwungen worden, neben der Leiche seines erschossenen Bruders mit den Insurgenten Brüderschaft zu trinken, »wehrlose Krüppel wurden entsetzlich mißhandelt«, »ein sechzigjähriger gelähmter Greis« erlag seinen Verletzungen; eine »Mutter sieht ihre Tochter geschändet vor sich liegen«; Eltern müssen mit ansehen, wie sich ihr »unschuldiges Kind, am Körper verstümmelt, im Blute badet«, usw.287 Diesen ihrer Meinung nach parteiischen Gräuelberichten über die Ausschreitungen seitens der Polen traten in der Zeitschrift Der Orient, die in derselben Ausgabe selbst solche Berichte enthielt, drei Männer entgegen, die sich im Auftrag des demokratischen Vereins in Breslau an Ort und Stelle ein Bild von »den Zuständen in Posen« gemacht hatten. Sie widersprachen den »übertriebenen Zeitungsberichten« und betonten den Fanatismus beider Seiten. Der Bericht hob insbesondere eine Mitschuld der Juden hervor, die, durch »Ängstlichkeit« getrieben, »alle Mittel auf boten, um Haß und Zwietracht gegen die Polen zu schüren«. Die Gräueltaten in Trzemeszno und Wreschen seien eine Reaktion auf eine preußische Militäraktion sowie auf den Fund von fünf toten, im Kampf gefallenen Polen im Haus eines Juden gewesen. Zudem dürfe man nicht kollektiv alle Polen beschuldigen. Vor allem die Berliner Zeitungen neigten zum Aufbauschen der Ereignisse in der Provinz Posen. »Jene Excesse sind übrigens auch nicht in dem Umfange und nicht in der Brutalität ausgeführt, wie sie in den Zeitungen von den Parteien einseitig erzählt werden«. So seien in Kosten und Kurnik die berichteten Gräueltaten nicht verübt worden, was durch einen Bericht der Breslauer Zeitung vom . April erhärtet wurde, die den Berliner Zeitungen vorwarf, »die von den Polen bei dieser Gelegenheit verübten Gräuelthaten an Deutschen und Juden nicht grell genug zu schildern vermögen«. Diese entstellten Nachrichten würden ihrerseits nur Öl ins
Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, S. , die diese Gräueltaten anführen, fügen diesem Bericht jedoch an, dass die Polen »jegliche Schuld an den entsetzlichen Vorfällen« abstritten, »ja sie leugneten sogar, daß den Ausschreitungen Juden zum Opfer gefallen seien. Sie behaupteten, ›das erhobene Angst- und Zetergeschrei der Wrescher Juden habe in jenen Tagen die ganze Welt in Flammen gesetzt, u. doch sei nachher durch die unverdächtigen Zeugen ermittelt worden, daß kein Mensch bei dem Aufstande umgekommen sei‹«. Die beiden Autoren widersprachen dieser Behauptung, da die Namen der schwer verletzten, unglücklichen Mädchen bekannt seien. Von polnischer Seite wurde wiederum erzählt, »die Juden hätten die poln. Verwundeten in ihre Häuser gelockt u. dort hingemordet«. Damit waren die fünf toten polnischen Soldaten gemeint, die im Haus eines Juden aufgefunden worden waren. Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, S. f. und ; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , gibt diese Berichte gänzlich unkommentiert wieder. Eine geballte Zusammenstellung solcher Szenen findet sich in einer Privatmitteilung in der AZJ, Jg. , Heft , .., S. .
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Feuer gießen.288 D. h., wir sehen hier, dass in dieser Konfliktsituation ein öffentlicher Meinungskampf über das Ausmaß an Gewalttaten der jeweils anderen Seite geführt wurde, der es erschwert, ein genaues Bild der Ereignisse zu gewinnen. So zitiert Der Orient in derselben Ausgabe die Posensche Gazeta Polska, die die Juden beschuldigt habe, durch Aufhetzen des preußischen Militärs, durch Abfassung falscher und entstellender Berichte, die in Posen herrschende Zwietracht geschürt zu haben.289 An diesem Fall zeigt sich das generelle Problem von Zeitungsberichten, aber auch späteren Darstellungen über Pogrome, die angesichts der unangekündigt auftretenden und zumeist nur kurz andauernden Gewalt keine Berichterstattung aus erster Hand liefern konnten und deshalb aus zweiter Hand berichten mussten und die zudem nur selten unparteiisch waren. In dieser Kriegssituation, in der es neben den zivilen Opfern, darunter auch Juden und Deutsche, auch eine hohe Zahl von getöteten Soldaten auf polnischer wie auf preußischer Seite gab, tobte der »Propagandakrieg besonders heftig, indem die jeweils andere Seite durch Gräuelberichte in der nationalen wie internationalen Öffentlichkeit diskreditiert werden sollte. Da keine neueren, auf offiziellen Quellen basierenden Studien über die Ausschreitungen vorliegen, muss offenbleiben, welches Ausmaß genau die antijüdische Gewalt im Großherzogtum Posen angenommen hat. Unbestritten ist jedoch, dass es bei diesen Ausschreitungen, die im Kontext einer »Kriegssituation« gewaltsamer verlaufen sind als in »zivilen Pogromen«, in einer Reihe von Orten zu Plünderungen und zu Todesopfern und Verletzten unter den Juden gekommen ist, wie auch zu einer großen Zahl von Toten unter den Aufständischen und den preußischen Soldaten in den Kämpfen um diese Orte. Antijüdische Ausschreitungen im Habsburgerreich Wir finden antijüdische Ausschreitungen auch in größeren Städten des Habsburgerreiches wie Prag, . April und . Mai; Preßburg, .-. Februar und .-. April; Budapest, . April; Olmütz,. April; Groß-Meseritsch, . April; aber auch in Orten in der Umgebung von Preßburg, im westlichen Ungarn und in Mähren. Diese Unruhen hatten ihren Ursprung zumeist im Handwerker- und Kaufmannsmilieu, d. h., die Angriffe richteten sich gegen die Ausbreitung der jüdischen Konkurrenz, vor allem also gegen deren Ladengeschäfte oder Marktstände. Die Frage, in welchen Teilen der Stadt Juden ihre Läden aufmachen durften oder nicht, betraf aber nicht nur die Konkurrenten, sondern alle Bürger, da es hier um die Anwesenheit von Juden im öffentlichen Raum ging, die als Symbol der Machtverteilung gedeutet wurde. Der Orient, Heft , .., S. -. Ebd., S. . Das Misstrauen der jeweils anderen Seite gegenüber wird in der Anmerkung der Redaktion deutlich, die die Gazeta Polska denn für eine »wohl nicht ganz lautere Quelle« hielt.
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Antijüdische Unruhen in Prag Christoph Stölzl schreibt von der spezifischen Gemengelage sozialer, politischer und nationaler Triebkräfte in Böhmen, die die Juden der Revolution gegenüber zunächst skeptisch gestimmt habe. Als die Revolution eine liberale Stoßrichtung zu nehmen schien, gaben sie jedoch ihre Besorgnis auf und beteiligten sich tatkräftig daran. Im März hatte es zunächst eine Übereinstimmung in den Forderungen nach Liberalisierung und jüdischer Emanzipation im Prager Bürgertum gegeben. Jüdische Stimmen hatten noch Ende März eine für die Juden »sehr gute Stimmung, wie sie noch nie war«, sehen wollen. Als die nationalen böhmischen Forderungen in Wien abgelehnt wurden, kam es zu einem Stimmungsumschwung vor allem im nationalen, radikalen Kleinbürgertum. Die nationale Frage in Böhmen verschärfte sich, obwohl Juden dem alle Gruppen übergreifenden Nationalausschuss beitraten. So wurde die Stimmung »gegen Deutsche und Juden eine fürchterliche«.290 In Prag setzte eine judenfeindliche Flugblattagitation ein, und Drohbriefe wurden an die jüdische Gemeinde Prags verschickt, die den Juden einen Verzicht auf Emanzipationsforderungen nahelegten.291 Am . April versammelte sich in Prag eine Menschenmenge vor einem der neu eröffneten jüdischen Läden und wollte dessen Schließung erzwingen, da diese sich entgegen den dahin geltenden Beschränkungen in der Prager Neustadt niedergelassen hatten. Als der Sohn des Inhabers, der ein Mitglied der Nationalgarde war, den Säbel zog und die Menge bedrohte, wurde er attackiert und konnte von einer Studentenkohorte nur schwer aus den Händen der aufgebrachten Menge befreit werden. Dieser Vorfall bildete das auslösende Ereignis, woraufhin es den ganzen Tag über zu kleineren Exzessen und zu mehreren Verhaftungen kam. Aufgrund der aufgeheizten Stimmung musste die Nationalgarde nachts in der Judenstadt und auf dem Tandelmarkt, auf dem Juden ihre Handelsbuden aufgeschlagen hatten, patrouillieren.292 Sehr schnell zeigte sich aber in der Nationalgarde ein Unwille, die Juden zu schützen, und Teile der Garde begannen, Juden aus der Garde auszuschließen. Deren Führer sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, zu energische Maßnahmen zum Schutz der Juden ergriffen zu haben. Am . April wurden Plakate in der Stadt angeschlagen, in denen zu einem Blutbad an den Juden aufgerufen wurde, die von der Nationalgarde aber entfernt wurden.293 Zwar gab es auch ausgleichende Stimmen, etwa den Hirtenbrief des Prager Erzbischofs, doch konstatiert Stölzl den Beginn des Zerfalls der bürgerlich-jüdischen Interessengemeinschaft in Prag.294 In der Tat munkelte man Ende April in der Stadt, in der die deutsch- und judenfeindliche Agitation nicht nachgelassen hatt