Tumulte – Excesse – Pogrome: Kollektive Gewalt gegen Juden in Europa 1789–1900 9783835344679, 9783835336452

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Tumulte – Excesse – Pogrome: Kollektive Gewalt gegen Juden in Europa 1789–1900
 9783835344679, 9783835336452

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Werner Bergmann Tumulte – Excesse – Pogrome

ST U DI EN Z U R E S SEN T I M EN TS IN GESCHICHTE UND GEGENWART

Herausgegeben vom Zentrum für Antisemitismusforschung Band 4

Werner Bergmann Tumulte – Excesse – Pogrome Kollektive Gewalt gegen Juden in Europa 1789!–!1900

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer (Basel), der Jehoshua und Hanna Bubis-Stiftung (Frankfurt am Main) und der Axel Springer Stiftung (Berlin)

In dankbarer Erinnerung an Herbert A. Strauss

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 

www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf © SG-Image unter Verwendung einer Zeichnung von Knud Gamborg, , gestochen von Hans Peter Hansen. Aus Jacob Davidson, Fra det gamle Kongens Kjobenhavn, Kopenhagen , S. - ISBN (Print) ---- ISBN (E-Book, pdf ) ----

Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 . Antisemitismus und kollektive antijüdische Gewalt in der europäischen Geschichte seit der Französischen Revolution – Zum Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 . Antisemitismus: Zum Verhältnis von Ideologie und Gewalt . . . . . 29 . Zum geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand . . . . . . . . . 34

. Pogrome als Form kollektiver interethnischer Gewalt: Einige theoretische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . 43 . Kollektive interethnische Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 . Was ist ein Pogrom? – Definitionsprobleme . . . . . . . . . . . . . 46 . Bausteine zu einer Soziologie des Pogroms Entstehungsbedingungen von Pogromen . . . Die Pogromdynamik . . . . . . . . . . . . . Ziele, Wirkungen und Kosten der Gewalt . . . Modell kollektiver Gewalt . . . . . . . . . . .

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. Antiemanzipatorische und revolutionäre Gewalt – - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 . Die Französische Revolution und antijüdische Gewalt im Elsass - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 . Ausschreitungen gegen Juden in Italien - . . . . . . . . . . . 113 . Abwehr der Konkurrenz: Antijüdische Ausschreitungen in Warschau  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

. Antijüdische Unruhen in den Schweizer Judendörfern Endingen und Lengnau  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 . Die Hep-Hep-Krawalle von  . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ausbruch der Unruhen in Würzburg . . . . . . . . . . . . . Die Ausbreitung der Gewaltwelle im Deutschen Bund . . . . . . . Das Übergreifen auf die Nachbarländer Frankreich und Dänemark . Die staatlichen Reaktionen auf die Gewaltwelle . . . . . . . . . .

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. Ausschreitungen im Gefolge der Juli-Revolution – - . . . . . 184 Gewalt gegen Juden im Kontext antirevolutionärer Unruhen im Elsass . . . 184 »Anmaaßung und Krämersinn«: antijüdische Ausschreitungen in Hamburg  und  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Antijüdische Tumulte in Kopenhagen () und Stockholm () . . . . . 192 Sozialprotest und antijüdische Unruhen in Hessen, Baden und Bayern - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

204

. Ritualmordvorwurf und antijüdische Tumulte am Niederrhein 

. Unruhen in Italien, Deutschland und Böhmen in den frühen er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Statuskonflikte – ein antijüdischer »Volksaufstand« in Mantua  . . . . . 212 Religionstumulte in Ländern des Deutschen Bundes - . . . . . . . 222 Arbeitskämpfe und antijüdische Ausschreitungen in Breslau und Prag  226 . Antijüdische Ausschreitungen im Kontext der er Revolution (-) . . . . . . . . . . . . . . Antijüdische Übergriffe im Zuge der Agrarunruhen von / . Lokale Tumulte in Baden, Württemberg und Bayern  . . . . »Lärmende Auftritte gegen die Juden« in Hessen  . . . . . . Sozialprotest und antijüdische Unruhen im Elsass  . . . . . . Antijüdische Ausschreitungen in Italien: Acqui und Rom . . . .

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Polen, Deutsche, Juden – ethnisch-nationale Konflikte im Großherzogtum Posen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Antijüdische Ausschreitungen im Habsburgerreich . . . . . . . . . . . . . 301

. Die Nachwehen der Revolutionsjahre - . . . . . . . . . . . . 321 . Resümee - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

. Nachhutgefechte gegen die Emanzipation und Nationalitätenkonflikte – antijüdische Ausschreitungen in den »ruhigen Jahren« - . . . . . . . . . . . . . . . . 331 . Nachhutgefechte um das Ortsbürgerecht für Juden - . . . . 332 Antijüdische Krawallnächte in Oberendingen im Kanton Aarau  . . . . 332 Gewalttätige Konflikte um den Gemeindenutzen in Franken / . . . . 340 . Im »Kreuzfeuer des Nationalitätenkampfes« – Ausschreitungen gegen Juden in Böhmen und Mähren  und  . . . . . . . . . 346 Die Unruhen in Prag von  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Die Welle antijüdischer Ausschreitungen in böhmischen Städten im Jahre  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Die Ausläufer der böhmischen Unruhen in Mähren und Galizien . . . . . 378

. Eine Stadt der Pogrome: Odessa - . . . . . . . . . . . . . . . 380 . Antisemitische Massenkrawalle in Stuttgart  . . . . . . . . . . . . 388 . Ausschreitungen gegen Juden im Zuge der Bildung neuer Nationalstaaten - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Antijüdische Politik und Gewalt gegen Juden in Rumänien - . . . 394 Bulgarien – Gewaltexzesse gegen Juden im Zuge des russisch-türkischen Krieges von / . . . . . . . . . . . . . . . . 406

. Resümee - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

. Antisemitismus als politisch-soziale Bewegung und Gesellschaftsstimmung – Wellen antijüdischer Gewalt - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 . Die große Pogromwelle im Zarenreich - . . . . . . . . Die russische Politik und die Lage der Juden . . . . . . . . . . . . . Strukturelle und politische Entstehungbedingungen der Pogrome . . Der Ausbruch der Pogromwelle in Elisavetgrad . . . . . . . . . . . Der Verlauf der Pogromwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wiederaufleben der Pogromwelle im Frühjahr  . . . . . . . Pogrome in den späteren Jahren - . . . . . . . . . . . . . . Antijüdische Unruhen in Litauen im Jahre  . . . . . . . . . . . Die Antwort der Politik auf die Pogrome . . . . . . . . . . . . . . .

. . . 426

. . . . . . . . Politischer Druck der internationalen Gemeinschaft auf das Zarenreich .

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. Antijüdische Ausschreitungen in Mitteleuropa . . . . . . . . . . . . 500 Antisemitische Agitation und die Welle antijüdischen Ausschreitungen in Pommern und Westpreußen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Krawalle in St. Gallen im Juni  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Ausschreitungen im Kronland Kroatien-Slawonien  . . . . . . . . . . 538

. Ritualmordbeschuldigungen und antijüdische Gewalt - . . . 544 Der »Ritualmordfall« von  in Tiszaezlár und die Welle antijüdischer Ausschreitungen in Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . Ritualmordglaube und antijüdische Ausschreitungen in Bulgarien - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tod eines jüdischen Mädchens und ein Pogrom auf Korfu  . . . Der »Fall Buschhoff« – Der Ritualmordvorwurf in Xanten (/) . . Sprachenstreit und Nationalismus: Antijüdische und antideutsche Ausschreitungen in Prag und Umgebung  . . . . . . . Die antijüdische Gewaltwelle im Zuge der »Hilsner-/Polná-Affäre«  Ritualmordgerüchte und die Welle antijüdischer Krawalle im westpreußischen Konitz und Umgebung im Jahre  . . . . . . .

. . 546 . . 566 . . 581 . . 600 . . 607 . . 615 . . 632

. Gouvernementaler Antisemitismus und antisemitische Agitation – antijüdische Ausschreitungen in Rumänien - . . . . . . . . . 659 . »À bas les juifs!« – Die Dreyfus-Affäre und die »antisemitischen Manifestationen« in Frankreich und Algerien  . . . . . . . . . . 675 Die Dreyfus-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 Der Verlauf der »manifestations antisémites« . . . . . . . . . . . . . . . . 685 Zum Charakter der Manifestationen: Dauer, Gewaltniveau, Teilnehmer und Ordnungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 Die Ausschreitungen in Algerien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 Der französische Antisemitismus nach dem Ende der Unruhen . . . . . . . 706

. Die antijüdischen Bauernunruhen in Galizien im Jahre  . . Strukturelle Ursachen und situative Eskalationsbedingungen . . . . . Die antisemitische Wahlagitation der galizischen Bauernbewegung . . Der Verlauf der antijüdischen Ausschreitungen . . . . . . . . . . . . Die Tumultuanten und die Reaktion von Polizei und Justiz . . . . . Das Verhalten der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . 709 . . . . .

. . . . . Öffentlicher Streit über die Ursachen der Unruhen in Presse und Politik . Ursachen und Folgen der Ausschreitungen . . . . . . . . . . . . . . . .

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709 711 718 732 735 736 740

. Resümee - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743

. Pogrome: Historische Kontexte, Entstehungsbedingungen, Verläufe, Akteure und staatliche Reaktionen – zusammenfassende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 745 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765 Übersicht: Tumulte – Excesse – Pogrome in Europa von - (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795 Zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . 795 Gedruckte Quellen und zeitgenössische Schriften . . . . . . . . . . . . . 796 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798

Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833

Einführung Antijüdische Pogrome waren in Europa keine seit Ende des . Jahrhunderts neu auftretende Erscheinung, entsprechend sahen viele Zeitgenossen in Gewaltwellen wie den Hep-Hep-Unruhen eine schwer zu begreifende Wiederkehr überwunden geglaubter mittelalterlicher Verhältnisse. Die Massaker an jüdischen Gemeinden zu Beginn des Ersten Kreuzzugs  und vor allem die sog. Pestpogrome der Jahre / waren und sind bis heute zusammen mit vielen weiteren gewaltsamen Vertreibungen und Ausschreitungen im kollektiven Gedächtnis Europas in Spuren präsent. Dies hat die Juden zu paradigmatischen Gewaltopfern gemacht. Insofern ist nicht auszuschließen, dass auf beiden Seiten die historische Gewalterfahrung Erwartungen und Verhalten mitgeprägt hat, sei es in Form eines Konfliktvermeidungsverhaltens auf jüdischer Seite, sei es als begünstigender und legitimierender Faktor vor allem in lokalen Erinnerungen auf Seiten der christlichen Mehrheit.1 Die seit dem letzten Jahrzehnt des . Jahrhunderts wieder aufflammenden antijüdischen Ausschreitungen kamen jedoch insofern unerwartet, als gerade das . Jahrhundert in vielen europäischen Ländern kaum noch größere kollektive Übergriffe gegen Juden gekannt hatte, während im . Jahrhundert die wiederholt erlassenen Dekrete in vielen deutschen Staaten, die Beleidigungen und Gewaltakte gegen Juden unter Strafe stellten, für anhaltende antijüdische Alltagsgewalt sprechen.2 Die vorliegende Darstellung setzt aus zwei eng miteinander verbundenen Gründen erst um die Wende zum . Jahrhundert ein. In dieser Phase beginnen sich im Zuge des Naturrechts- und säkularisierten Staatsdenkens der Aufklärung sowie mit dem Übergang zu einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft das Verhältnis von Staat und Untertan/Staatsbürger sowie die Rechtsordnung und die Ausübung des Gewaltmonopols des Staates insgesamt zu verändern. Dies betraf die gesamte Bevölkerung, doch in besonderem Maße die Juden, deren Position in den europäischen Gesellschaften sich grundlegend zu verändern begann. Die rechtliche wie soziale Außenseiterposition der Juden, die bis dahin als Nicht-Christen eine  Manche nehmen die Existenz langfristig wirksamer lokaler Traditionen an: Nico Voigtlaender/Hans-Joachim Voth, Persecution Perpetuated: The Medieval Origins of AntiSemitic Violence in Nazi Germany, in: Quarterly Journal of Economics /, , S. .  Vgl. dazu Stefan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (-/), Frankfurt a. M., New York , S.  f.  hatte es noch einen Bauernaufstand gegen Juden in Bamberg gegeben: Rudolf Endres, Ein antijüdischer Bauernaufstand im Hochstift Bamberg im Jahre , in: Historischer Verein für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg , , S. -. Es kam aber im . Jahrhundert mancherorts durchaus hin und wieder zu »Judentumulten«, so etwa in Hamburg beim sog. »Geserother Henkelpöttchen« in der Hamburger Neustadt () und in Altona zu Plünderungen jüdischer Häuser und eingeworfenen Fenstern der Synagoge (). Stefan Rohrbacher, Ausschreitungen, jüdische in: http://www.das juedischehamburg.de/inhalt/ausschreitungen-antijüdische (eingesehen am ..).

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EINFÜHRUNG

rechtlich autonome Korporation und eine in Berufsstruktur, Sprache, Kleidung und religiösen Gebräuchen deutlich abgegrenzte Gruppe am Rande der Ständegesellschaft gebildet hatten, verlor ihre Legitimation, und es erhob sich in allen europäischen Staaten früher oder später die Forderung nach der Neubestimmung ihrer gesellschaftlichen Stellung.3 Mit der Abschaffung der feudalen Privilegien und der Öffnung des Wirtschaftssystems für freien Kapitalverkehr, Gewerbefreiheit und Freizügigkeit der Arbeitskräfte fielen sukzessive auch für Juden die Einschränkungen fort und sie wurden zu politischen und wirtschaftlichen Mitspielern in einer Gesellschaft, in der die soziale Position zunehmend nicht mehr ererbt, sondern über persönliche Verdienste definiert wurde. Diese neuen Freiheiten wurden in vielen europäischen Ländern gerade von der jüdischen Minderheit erfolgreich für den sozialen Aufstieg genutzt, während sie andererseits traditionell privilegierte Gruppen unter Konkurrenzdruck setzten und damit soziale Spannungen schufen, die Widerstand gegen die Modernisierung und damit auch gegen die Judenemanzipation hervorriefen, der sich nun vermehrt auch in der Form kollektiver Gewalt äußerte. David Engel hat kürzlich das Vorkommen der Gewaltform des »antijüdischen Pogroms« dahingehend historisiert, dass er diese als typisch für die Jahre von der Französischen Revolution bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ansieht, während zuvor und danach diese Form nur selten anzutreffen war und ist.4 Er sieht dies als eine Folge der veränderten staatlichen Rechtsauffassung, da die Staatsbürger nun einem systematisierten und universalen Prinzipen folgenden Recht unterworfen wurden, während zuvor die Gesetze nur zum Ausgleich widerstreitender Rechte und Vorrechte dienten. Eine gerechte Ordnung wurde primär als Folge der Einhaltung von Sitten und Traditionen verstanden, die in erster Linie nicht durch Befolgung abstrakter Regeln bzw. durch formale Organisationen wie Polizei oder Gerichte, sondern durch individuelles oder kollektives Handeln erzwungen wurde. Engel spricht von »extrajuducial and infrajudicial vehicles for resolving conflicts – vehicles recognized as entirely legitimate by the societies that employed them.«5 Er nennt als Bespiele eine ganze Reihe von Gewaltformen wie Fehde, Duelle, Lynchen usw. Mit der Durchsetzung des Gewaltmonopols des Rechtsstaates werden diese gewalttätigen Formen der Selbsthilfe illegitim. Der Staat muss allerdings sicherstellen, dass er Recht und Gerechtigkeit auch durchsetzt. Solange dies gelingt, werden sich die Bürger ruhig verhalten, scheint der Staat aber die geltende moralische Ordnung zu zerrütten, werden diese auf die Barrikaden gehen, um die gestörte  Vgl. Rainer Erb/Werner Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland -, Berlin ; Jan Weyand, Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensform am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses, Göttingen .  David Engel, What’s in a Pogrom? European Jews in the Age of Violence, in: Anti-Jewish Violence. Rethinking the Pogrom in East European History, hrsg. von Jonathan DekelChen/David Gaunt/Natan M. Meir/Israel Bartal, Bloomington, Indiana, , S. -, hier S. -.  Ebd., S. .

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EINFÜHRUNG

Ordnung selbst wiederherzustellen. Da der Staat im . Jahrhundert noch kaum über ausreichende Ordnungskräfte verfügte und dieses Jahrhundert Phasen eines radikalen sozialen Wandels durchlebte, war es durch ein hohes Maß an kollektiver Gewalt gekennzeichnet. »In different parts of Europe, different parts of the eighteenth, nineteenth and even early twentieth centuries constituted what might well be called the heyday of the aggressive crowd«.6 Moderne Gesellschaften unterscheiden sich also in für das Gewaltgeschehen zentralen Punkten von ihren vormodernen Vorgängern: im Gewaltmonopol des Staates, womit sich auch die Grenzen zwischen der legitimen Selbsthilfe und dem Verbrechen verschieben, und in dem Gebot der Inklusion aller Einwohner als gleichberechtigte »Staatsbürger«, womit ständische und religiöse Sonderrechte zunehmend an Legitimation verlieren. Im Verlauf des  Jahrhunderts treten als weiteres Element die Verfasstheit in Nationalstaaten bzw. nationale Einheits- oder Abspaltungsbestrebungen hinzu. Im Zuge der Nationalstaatsbildung kommt es zu einer Politisierung des Ethnischen, da nun die Frage auftaucht, wer zum Staatsvolk zählt, d. h., wessen Sprache gesprochen werden soll, wessen Religion dominieren soll, wer führende Stellungen einnahmen darf usw.7 Dabei nehme ich mit Rudolf Stichweh an, dass in Gesellschaften weniger eine kontinuierliche Neigung zu Konflikten mit ethnischen Minderheiten besteht als vielmehr eine Labilität der Beziehungen, die aufgrund geringfügiger Veränderungen aus der Balance geraten können.8 So entstehen ethnische Konflikte gehäuft in Staatenbildungs- oder krisenhaften Reorganisationsphasen, in denen ethnische Unterscheidungen so mit Bedeutung aufgeladen werden, dass ein Kampf darüber entbrennt, welcher Anteil am Staat und seinen Leistungen welcher Ethnie zukommt.9  Ebd., S. .  David Mason, Nationalism and the Process of Group Formation: The Case of »Loyalism« in Northern Ireland Reconsidered, in: Ethnic and Racial Studies , , S. -, hier S. .  Rudolf Stichweh, Der Fremde – Zur Evolution der Weltgesellschaft, in: Rechtshistorisches Journal , , S. -, hier S. .  Andreas Wimmer, Interethnische Konflikte. Ein Beitrag zur Integration aktueller Forschungsansätze, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie , , S. -, S. . Jakob Rösel hebt ebenfalls die Bedeutung der »Politisierung ethnischer Antagonismen«, d. h. die Weiterführung und Steigerung ethnischer Konkurrenz in Wirtschaft und Gesellschaft mit politischen Mitteln für den Einsatz von Gewalt hervor (Vom ethnischen Antagonismus zum ethnischen Bürgerkrieg. Antagonismus, Erinnerung und Gewalt in ethnischen Konflikten, in: Trutz von Trotha (Hrsg.), Soziologie der Gewalt, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie , , S. -, hier S. ). David C. Rapoport betont, dass das »massive redrawing of political boundaries«, wie wir es nach dem Zerfall von Vielvölkerstaaten bzw. Kolonialreichen in zahlreiche Nachfolgestaaten bzw. in separatistische Bewegungen erleben, für »violent ethno-religious struggles« von großer Bedeutung ist (The Importance of Space in Violent Ethno-Religious Strife, in: Institute on Global Conflict and Cooperation (IGCC), Policy Paper , , S. -, hier S. ).

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EINFÜHRUNG

Dieser sozialhistorische Prozess, in dem Christen und Juden zu formal gleichberechtigten Staatsbürgern mit individuellen Freiheitsrechten wurden, ist nach Jan Weyand dafür verantwortlich, dass es zu einer grundlegenden Veränderung dessen kommt, was über Juden gesagt und gedacht wird – in ihrem negativen Aspekt also zu einer Veränderung des Charakters der Judenfeindschaft. Wenn Juden und Christen in einem Staat gleiche Rechte haben sollen, dann stellt sich die Frage nach der Zugehörigkeit der Juden zur Nation. Weyand sieht im ausgehenden . Jahrhundert eine dreifache Transformation des antisemitischen Wissens: Die Differenz von Christen und Juden wird in eine ethnische Differenz von Deutschen/Franzosen/Russen usw. und Juden transformiert, die eben durch Taufe nicht mehr aufzuheben ist. Es kommt damit zu einem Wandel der kollektiven Selbst- und Fremdbilder, d. h., religiöse Selbstbilder (Christenheit) werden von nationalen abgelöst. Zweitens muss damit die Frage der Zugehörigkeit bei prinzipieller Rechtsgleichheit neu gestellt werden: An die Stelle der Taufe tritt eine strikte Assimilationsforderung (Verschmelzung) an die Juden, die in allem vorbehaltlos Deutsche/Franzosen/Russen usw. werden sollen, da nun das »Volk« die neue Grundlage für die entstehenden Nationalstaaten bildet. Drittens muss den Juden ein neuer sozialer Ort zugewiesen werden, da sie nun nicht mehr neben, sondern »unter uns« leben. Durch diese Verortung wird die punktuelle Bedrohung der Christen, etwa im Bereich des Handels, durch die Juden nun zu einer permanenten Bedrohung der als Gemeinschaft vorgestellten Nation, nämlich deren Zersetzung oder Unterjochung durch diese Minderheit.10 Gegen diese neue Verortung der Juden, die man als »kulturelle Einwanderung« beschreiben kann, regte sich trotz der Rücksichtnahme des Staates auf die Interessen der christlichen Mehrheit Widerstand, der sich vom traditionellen Antijudaismus dadurch unterschied, dass er neben den weiterhin dominierenden religiösen und ökonomischen Vorbehalten bereits kulturelle, nationalistische und protorassistische Argumente benutzte. Er war also eine moderne Erscheinung, insofern er sich gegen die Modernisierung von Staat, Recht und Gesellschaft (freie Wirtschaft, Religionsfreiheit, Rechtsgleichheit) wandte. Diese antiemanzipatorische Judenfeindschaft bildete im Unterschied zum späteren Antisemitismus noch keine soziale und politische Bewegung und hatte noch nicht die Form einer geschlossenen Ideologie, welche die Modernisierung der Gesellschaft grundsätzlich als Resultat der »Judenherrschaft« ablehnte. Dennoch entwickelten Gegner der Judenemanzipation bereits im frühen . Jahrhundert in ihren Schriften Szenarien der Exklusion von Juden, die von der Forderung nach Beibehaltung rechtlicher Einschränkungen über mehr oder weniger detailliert ausgearbeitete Pläne zu ihrer Ansiedlung in Kolonien innerhalb und außerhalb des eigenen Landes bis hin zu Vertreibungs-, Gewaltund Vernichtungsphantasien reichten.11 Das Aufkommen des Antisemitismus als  Weyand, Historische Wissenssoziologie, S.  ff.; ähnlich dazu schon Erb/Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation, Kap. .  Ebd., Kap. II-V.

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EINFÜHRUNG

politisch-soziale Bewegung in den letzten Jahrzehnten des . Jahrhunderts setzte Bemühungen, die Juden auszuschließen, fort und gab entsprechenden Forderungen und Anschuldigungen organisatorischen und politischen Rückhalt sowie eine weite massenmediale Verbreitung. Die im Laufe des . Jahrhunderts sich in vielen europäischen Ländern hin und wieder ereignenden Ausschreitungen gegen Juden können in vielen Fällen als ein Ausdruck des Bestreitens der tatsächlichen Zugehörigkeit der Juden zur Eigengruppe (sei es Ortsgemeinde, Nation oder Christenheit) gelesen werden, also als eine Form von »exclusionary violence«.12 In der vorliegenden Arbeit wird nun der Versuch unternommen, die in zahlreichen Fallstudien zu antijüdischen Ausschreitungen in den europäischen Ländern erarbeiteten Ergebnisse, die nur selten den regionalen oder nationalen Rahmen überschreiten, in einer Gesamtdarstellung zu bündeln, um so das Ausmaß, die geographische Verteilung sowie Wandlungsprozesse und typische Verlaufsformen dieser kollektiven Gewalt sichtbar zu machen. Die antijüdische Gewalt trat im Zeitraum der letzten zweihundert Jahre nicht gleichmäßig bzw. zufällig verteilt auf, sondern es lassen sich Phasen ihrer zeitlichen wie regionalen Häufung erkennen, denen jeweils auch spezifische Ursachenbündel zugrunde lagen.13 Dennoch konnte es auch in »ruhigen« Zeiten hin und wieder zu einzelnen Gewaltausbrüchen kommen, die dann zumeist auf bestimmte lokale Konstellationen oder Ereignisse zurückgingen und keine größere Gewaltwelle auslösten. Nimmt man ganz Europa in den Blick, dann ergibt sich natürlich das Problem, dass die europäischen Gesellschaften auf dem Weg in die Moderne ein unterschiedliches Entwicklungstempo aufwiesen, das auch Rückwirkungen auf das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zu den Juden im Lande hatte. So fand eine rechtliche Gleichstellung der Juden in einigen westeuropäischen Ländern, wie Frankreich und den Niederlanden, bereits im ausgehenden . Jahrhundert statt, während sie in den deutschen Staaten und im Habsburgerreich später einsetzte und erst  endgültig abgeschlossen war. Im Zarenreich wurde die Gleichstellung sogar erst mit der Revolution von  erreicht. Entsprechend finden wir zeitlich versetzt z. T. ähnliche Konstellationen, die judenfeindliche Gewalt begünstigten, wir finden ganz spezifische Entwicklungen in bestimmten Regionen Europas, etwa in der Phase der Gründung neuer Staaten in Ostmitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg,  Vgl. den entsprechenden Buchtitel: Christhard Hoffmann/Werner Bergmann/Helmut W. Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History, Ann Arbor .  Zu neueren Versuchen einer Periodisierung vgl. Helmut W. Smith, The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge , Kap : From Play to Act: Anti-Jewish Violence in German and European History during the Long Nineteenth Century; Werner Bergmann, Ethnic Riots in Situations of Loss of Control: Revolution, Civil War, and Regime Change as Opportunity Structures for Anti-Jewish Violence in Nineteenth and Twentieth Century Europe, in: Wilhelm Heitmeyer/Heinz-Gerhard Haupt/Stefan Malthaner/Andrea Kirschner (Hrsg.), Control of Violence. Historical and International Perspectives on Violence in Modern Societies, New York, Heidelberg , S. -.

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andererseits aber auch parallele Entwicklungen in vielen europäischen Ländern, etwa das Entstehen antisemitischer und nationalistischer Bewegungen gegen Ende des . Jahrhunderts. Dies macht eine stringente Phaseneinteilung schwierig. Die folgende Darstellung geht im Kern chronologisch vor, wohl wissend, dass etwa die Pogromwelle der Jahre - im Zarenreich zwar parallel zu Ausschreitungen im Deutschen Reich und in einigen Gebieten des Habsburgerreiches verlief, dass aber die verursachenden Konstellationen verschieden waren, auch wenn es durchaus gegenseitige Beeinflussungen gab. Als Untersuchungszeitraum für die Analyse der kollektiven antijüdischen Gewalt wurde die Zeit von der Französischen Revolution bis zum Ende des . Jahrhunderts gewählt. Diese Zäsur am Ende des . Jahrhunderts zu setzen und nicht – wie sonst oft üblich – das »lange . Jahrhundert« als Einheit zu behandeln, geschieht nicht willkürlich, sondern ist darin begründet, dass mit dem Pogrom in Kishinev von , das bereits  Todesopfer allein unter den Juden forderte, und insbesondere mit der Pogromwelle der Jahre - im Zarenreich die antijüdische Gewalt einen schon von den Zeitgenossen registrierten dramatischen Wandel erlebte.14 Folgten die Ausschreitungen bis Konitz im Jahre  noch gewissen rituellen Begrenzungen und richteten sich primär gegen die Häuser und Läden der Juden, so stieg nun das Gewaltniveau stark an und die Ausschreitungen forderten zahlreiche Todesopfer sowohl unter den angegriffenen Juden wie auch unter den Pogromisten. Gewalt und Zerstörung nahmen seit der Pogromwelle von - im Zarenreich einen systematischen Charakter an und zeigten schließlich sogar Züge einer ethnischen Säuberung ganzer Gebiete.15 Die Ursache dürfte in der nun einsetzenden Politisierung der Gewalt gelegen haben, die auch zu einer Schwächung des staatlichen Schutzwillens führte.16 Für Jonathan Dekel-Chen et al. ist es entscheidend, dass Juden bis Ende des . Jahrhunderts auch in Krisenzeiten zwar als »Ausbeuter« und soziale Aufsteiger, aber niemals als Bedrohung des Staates angegriffen wurden. Dies änderte sich seit den opferreichen Pogromen der ersten russischen Revolution von /. Die Pogromwellen von - im Zuge des Bürgerkrieges zwischen Weißen und Roten Truppen nach der Oktoberrevolution und der Grenzkriege im Prozess der Nationalstaatsgründungen in den Jahren - sowie die blutigen Pogrome im Sommer , die in den beginnenden Krieg des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion eingebettet waren, zielten nun nicht mehr nur auf materielle Zerstörungen  Ein jüdischer Korrespondent schrieb im Oktober  angesichts der nun ausbrechenden Welle von  Pogromen im Zarenreich mit ca. . getöteten und . verletzten Juden: »Let them plunder. We’re used to that. But why do they shot, why do the blow us apart« (Michael F. Hamm, Kiev. A Portrait, -, Princeton, NJ , S. ).  Jonathan Dekel-Chen/David Gaunt/Natan M. Meir/Israel Bartal, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Anti-Jewish Violence. Rethinking the Pogrom in East European History, Bloomington, Indiana, , S. -, hier S. .  Vgl. dazu Smith, The Continuities of German History, Kap. , S.  ff.; Bergmann, Ethnic Riots.

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und Erniedrigungen, sondern auf die Ermordung von Juden. »At these moments Jews were targeted as disloyal tools of foreign powers or as subversive revolutionaries plotting to topple the regime. By the time the pogroms had subsided in the s, Jews were perceived as a major threat to the state (whether ›Red‹ or ›White‹) and had become a vulnerable civilian population«.17 Diese Entwicklung schließt jedoch nicht aus, dass es auch kurz nach  fallweise Ausschreitungen gab, die eher dem alten, rituell eingehegten Muster folgten und die in einigen Fällen in diese Darstellung aufgenommen wurden. Die folgende Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf die inzwischen in weit größerer Fülle als beim Beginn der Arbeit an diesem Buch vor über zehn Jahren vorliegenden Forschungsarbeiten zu antijüdischen Ausschreitungen in Europa. Der Forschungsstand für die einzelnen europäischen Länder, Regionen und Orte fällt recht unterschiedlich aus. So finden wir für einzelne Pogrome bzw. Pogromwellen eine Fülle von Untersuchungen, während sich für andere nur wenige oder gar nur eine einzelne Darstellungen finden ließen. Vermutlich sind einige Fälle antijüdischer Ausschreitungen noch gar nicht bekannt bzw. untersucht worden. In einigen Fälle gibt es widersprüchliche Angaben dazu, ob an einem Ort Unruhen stattgefunden haben oder nicht. Am häufigsten sind detaillierte Fallanalysen eines einzelnen Pogroms, wobei weitere Fälle, die sich häufig in der Umgegend ereigneten, nur summarisch einbezogen werden, wenn dieses Pogrom zum Auslöser einer regionalen oder landesweiten Pogromwelle wurde. Andere Arbeiten widmen sich einem Ort, wie z. B. Odessa oder Preßburg, und untersuchen die dort über einen längeren Zeitraum wiederholt vorgefallenen Ausschreitungen in diachroner Perspektive. Analysen antijüdischer Gewalt finden sich zudem eingestreut oder in einem Kapitel zusammengefasst in Arbeiten zur Geschichte des Antisemitismus oder der jüdischen Geschichte eines Landes oder einer Region. Nur selten gibt es bisher Arbeiten, die sich der detaillierten Untersuchung antisemitischer Unruhen in einem Land über einen längeren historischen Zeitraum widmen, international vergleichende Studien dieser Art fehlen bisher ganz. Es fehlen auch übergreifende Studien zu den materiellen Verlusten und emotionalen Folgen, die Juden als Pogromopfer erlitten haben. Sowohl was die untersuchten Fälle antijüdischer Ausschreitungen als auch die dazu publizierte Literatur angeht, habe ich mich bemüht, diese umfassend zu repräsentieren bzw. auszuwerten, was natürlich nicht vollständig gelingen konnte, da für mich nicht alle in den einzelnen »europäischen Dialekten« verfassten Publikationen erreichbar bzw. lesbar waren. So beschränkt sich die Literaturauswahl notgedrungen auf Arbeiten in deutscher, englischer, französischer, italienischer und dänischer Sprache. Daher ergibt sich eine gewisse, in der Darstellung sicherlich auch spürbare Asymmetrie zwischen den hier präsentierten Analysen der westeuropäischen und der ost- und südosteuropäischen Fälle, da ich im Fall der Letzteren weder die in der Landessprache publizierten noch die von der Forschern verwendeten Quellen  Dekel-Chen/David Gaunt/Natan M. Meir/Israel Bartal, Introduction, S. .

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(etwa die Zeitungen) im Original lesen konnte. Die herangezogene Forschungsliteratur ist zudem von unterschiedlicher Qualität, die u. a. davon abhängt, wann sie publiziert wurde, welche Quellen verfügbar waren und welche Annahmen über den Charakter kollektiver Gewalt den Analysen jeweils zugrunde lagen. Zum Beispiel haben sich die Deutungen, aber auch die konkreten Beschreibungen des Pogromgeschehens der russischen Pogromwelle von - in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt. Vor allem die seit den er Jahren aufkommende Gewaltforschung hat hier erheblichen Einfluss auf die historischen Analysen ausgeübt. Entsprechend sind neben den Forschungen zu antijüdischer Gewalt eine Fülle von sozialwissenschaftlichen Arbeiten zu Formen kollektiver Gewalt und zu Ausschreitungen gegen andere ethnische Minderheiten einbezogen worden. Soweit vorhanden und zugänglich wurden auch publizierte archivalische Quellen ausgewertet sowie zeitgenössische Darstellungen einzelner Fälle in Büchern oder Broschüren herangezogen. Neben der Forschungsliteratur stützt sich die Darstellung, sofern verfügbar, ergänzend auf die Auswertung der zeitgenössischen Presse, die überwiegend aus dem deutschen Sprachraum stammt, aber zumeist über Ereignisse in allen europäischen Ländern berichtet hat. D. h., auch hier konnte die fremdsprachige Presse nur zum Teil berücksichtigt werden (französische, englischsprachige und Übersetzungen aus anderen Sprachen), was natürlich für die Analyse der ost- und südosteuropäischen Pogrome ein Manko darstellt. Es sind insbesondere jüdische Zeitungen, die dem Thema verständlicherweise größeren Raum gegeben haben und die häufig eine Tendenz zur Überzeichnung der Gewalttätigkeiten erkennen lassen. In nicht wenigen Fällen verfügen wir heute über keine anderen erhaltenen Quellen mehr als diese zeitgenössischen Zeitungsberichte. Diese bilden, wie die widersprüchlichen Schilderungen der Ausschreitungen zeigen, allerdings eine nur sehr bedingt verlässliche Quelle, zumal die Berichte je nach politischer (bisweilen auch ethnischer) Position der Zeitung das Geschehen ganz unterschiedlich darstellen. Man muss nicht so weit gehen wie Artur Markowski, der den Darstellungen in der jüdischen wie nichtjüdischen Presse nur insofern einen Wert zuschreibt, als sie zeigen, wie Legenden und Mythen geschaffen werden, eine Diagnose von Emotionen erlauben und eine Untersuchung darüber ermöglichen, wie Pogrome zu einem Element in der politischen Debatte werden, doch sind Presseberichte, was den Sachgehalt angeht, mit Vorsicht zu genießen. Dies gilt seiner Ansicht nach auch für Erlebnisberichte von Zeitzeugen: »Memoirs display emotion and subjective opinions contributing little to attempts to discover what happened. Often they are written years later and are based on secondary knowledge«.18 Die Problematik der Presseberichte gilt aber z. T. auch für die Berichte von Polizei, Gendarmerie und Administration insbesondere auf der lokalen Ebene (d. h.

 Artur Markowski, Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, in: Polin , , S. -, hier S.  f.

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damit letztlich auch für die wissenschaftlichen Analysen, die sich darauf stützen),19 da auch hier einerseits ein Interesse vorliegt, ein Pogrom in bestimmter Weise darzustellen, zum anderen bestehen generell besondere Schwierigkeiten, Phänomene wie kollektive Gewaltaktionen adäquat zu beschreiben, da deren oft zufällige Entstehungssituationen gewöhnlich nicht beobachtet worden sind, sie nur kurz andauern und auch vom weiteren Verlauf des Pogroms je nach Beobachterposition ganz Unterschiedliches nur ausschnitthaft wahrgenommen wird. Trotz deutlich besserer Dokumentationsmöglichkeiten gehen bis heute die Darstellungen und Deutungen von Demonstrationen und Unruhen, was deren Ursache, die Teilnehmerzahl, das Verhalten der beteiligten Gruppen usw. angeht, weit auseinander. Mark Harrison hat in seiner Untersuchung von Massenverhalten in englischen Städten um die Wende vom . zum . Jahrhundert auf die methodologischen Probleme der Definition und der Perzeption von Massen hingewiesen: »In practise it is the perceptions made by the crowds’ non-participants that survive. The anonymity of crowds is almost total. Documentary evidence regarding attitudes and beliefs of crowd participants is difficult to locate: crowd members rarely leave records.«20 Ohne die Berichte externer Beobachter, die allerdings das Verhalten der Menge nutzen, um ihre eigene Sichtweise darauf mitzuteilen, würden Pogrome als Ereignisse in historischer Sicht nicht existieren: »The historical event is effectively the creation of its chronicler«.21 D. h., der Beobachter, dies gilt auch für den Wissenschaftler, wird den Kontext des Ereignisses zur Interpretation heranziehen müssen, um ihm jeweils gewisse Bedeutungen zuzuschreiben, die, wie man sehen wird, durchaus differieren können, da sie die Überzeugungen des Beobachters reflektieren. Schriftliche Zeugnisse von Tumultuanten existieren zumeist nur in rückblickenden Aussagen, die verhaftete Täter vor Gericht zu Protokoll gegeben haben. Vielen, vor allem älteren Darstellungen von Pogromen mangelt es an einer klaren, soziologisch untermauerten Vorstellung vom Charakter kollektiven Handelns. Seit einiger Zeit ist hier infolge des Aufschwungs der Gewaltforschung ein Wandel hin zu einer stärkeren theoretischen Fundierung der Pogromhandelns zu konsta Markowki, ebd., S. , ist zuzustimmen, dass die besten Quellen die der mittleren Ebenen der Administration und der Polizei sind, da diese nicht direkt in die lokalen Angelegenheiten verwickelt waren, ein Interesse an der Aufklärung von Motiven und Ursachen haben und kein Motiv für Geheimhaltung oder Täuschung besitzen, auch wenn man den Einfluss antisemitischer Einstellungen bei ihnen nicht völlig ausschließen kann.  Mark Harrison, Crowds and History. Mass Phenomena in English Towns, -, Cambridge, New York , Kap. , S. . Harrison definiert »crowd« als »a large group of people assembled outdoors in sufficient proximity to be able to influence each other’s behavior and to be identified as an assembly by contemporaries« (S. ). Diese Gruppe besitzt dann die Fähigkeit als kollektive Einheit zu handeln bzw. als solche behandelt zu werden (S. ).  Ebd. »The newspaper report (often the only documentary source for a crowd occurrence) typifies this, for it provides both the supposed ›facts‹ relating to the crowd, and the opinion of the reporter« (S. ).

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tieren.22 Entsprechend wird in dieser Arbeit, gestützt auf langjährige eigene Vorarbeiten, ein soziologisch fundiertes Modell der Dynamik kollektiven Handeln in Pogromen entwickelt, indem ausgehend von einer soziologischen Präzisierung des Pogrombegriffs die Entstehungsbedingungen von Pogromen, die kommunikative Konstruktion einer Bedrohungssituation, die Bedeutung auslösender Ereignisse ebenso wie die Konfliktrelationen von Mehrheit, Minderheit und Staatsorganen und schließlich die Frage der Ziele, Auswirkungen und Kosten dieser Form kollektiven Handelns theoretisch gefasst werden. Die Entwicklung dieses »Modells« erfolgt auf der Basis der Forschungsliteratur zu kollektiver Gewalt und zu ethnischen Konflikten in Rückkoppelung mit der Kenntnis über den Verlauf historischer Fälle antijüdischer Gewalt und soll die folgenden historischen Darstellungen fundieren. Meine Beschäftigung mit Ausschreitungen gegen Juden geht auf die späten er Jahre zurück, als ich zusammen mit Christhard Hoffmann für die Festschrift von Herbert A. Strauss, dem damaligen Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, einen Beitrag zu den judenfeindlichen Ausschreitungen im antiken Alexandria geschrieben und einen Vortrag zu den »Sozialen und kulturellen Bedingungen kollektiver Gewalt in Pogromen« auf einem Lerntag des Zentrums für Antisemitismusforschung im Jahre  zum . Jahrestag der »Novemberpogrome von « gehalten habe.23 Der Ansatz des letztgenannten Vortrags wurde dann für meinen  an der Freien Universität Berlin gehaltenen Habilitationsvortrag zu einem umfassenderen Versuch ausgearbeitet, Pogrome als eine spezifische Form kollektiver Gewalt theoretisch näher zu bestimmen.24 Unter dem Titel »Exclusionary Violence«, eine Begriffsprägung, die andere Autoren inzwischen aufgegriffen haben, wurde dieser Ansatz in einem Sammelband zu antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland zwischen  und  weiterverfolgt und hat inzwischen auch enzyklopädischen Niederschlag gefunden.25  Vgl. etwa Engel, What’s in a Pogrom?; John D. Klier, Russians, Jews, and the Pogroms -, Cambridge, New York , Kap. : What was a pogrom? S. -; Stefan Wiese, Pogrome im Zarenreich. Dynamiken kollektiver Gewalt, Hamburg , Was ist ein Pogrom?, S. -.  Werner Bergmann/Christhard Hoffmann, Kalkül oder »Massenwahn«? Eine soziologische Interpretation der antijüdischen Unruhen in Alexandria  n. Chr., in: Rainer Erb/ Michael Schmidt (Hrsg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin , S. -; Werner Bergmann, Soziale und kulturelle Bedingungen kollektiver Gewalt in Pogromen, in: Gewalt gegen Juden. Die Novemberpogrome von  in historischer Perspektive, Protokolle des VI. Lerntags des Zentrums für Antisemitismusforschung, hrsg. von Herbert A. Strauss/Werner Bergmann/Christhard Hoffmann, Berlin , S. -; diese Überlegungen flossen in die Darstellung der Hep-Hep-Unruhen von  in dem  von Rainer Erb und mir publizierten Buch Die Nachtseite der Judenemanzipation ein (Kap. VI).  Siehe die ausgearbeitete Fassung dieses Vortrags: Werner Bergmann, Pogrome: Eine spezifische Form kollektiver Gewalt, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie /, , S. -.  Hoffmann/Bergmann/Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence; vgl. auch Werner Bergmann, Pogrome, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der

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EINFÜHRUNG

Bereits in den er Jahren hatte ich geplant, eine Gesamtdarstellung wie diese zu schreiben, die bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reichen sollte. Dies wäre damals einerseits sehr viel schneller und leichter zu realisieren gewesen, da zu dieser Zeit sehr viel weniger Forschungsarbeiten zu diesem Thema vorlagen, andererseits hätte die Darstellung doch erhebliche Lücken aufgewiesen, die heute durch die seit dem Boom der in den er Jahren einsetzenden Gewaltforschung immer weiter geschlossen worden sind. So war dieser Boom Segen und Fluch zugleich, da die Arbeit an diesem Buch zu einer mich nun über zwei Jahrzehnte lang beschäftigenden Aufgabe wurde und dessen Umfang immer weiter anschwellen ließ, obwohl es nur den ersten Teil einer Studie bildet, die diesen Gegenstand bis in die frühen Nachkriegsjahre des Zweiten Weltkriegs umfassen sollte. Ob die ursprünglich als zweiter Band geplante Fortsetzung bis in die späten er Jahre realisiert werden kann, muss derzeit offenbleiben, da hier der Umfang der Forschungen noch weit stärker angewachsen ist als für das . Jahrhundert und die Pogrome zudem eingebettet waren in die komplexen Vorgänge des Russischen Bürgerkrieges und des Zweiten Weltkriegs.

Gewaltforschung, Opladen , S. - (englische Ausgabe: Pogroms, in: The International Handbook of Violence Research, Dordrecht , S. -); Werner Bergmann, Hep-Hep-Krawalle, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd.  He-Lu, hrsg. von Dan Diner, Stuttgart, Weimar , S. -; Werner Bergmann, Rassismus/Antisemitismus, in: Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. von Christian Gudehus/Michaela Christ, Stuttgart, Weimar , S. -.

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. Antisemitismus und kollektive antijüdische Gewalt in der europäischen Geschichte seit der Französischen Revolution – Zum Stand der Forschung Gewalt gegen Juden ist in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit wie in den Wissenschaften heute unlösbar mit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden im deutschen Herrschaftsbereich in den Jahren  bis  verknüpft. Darin mitgedacht ist auch die sog. Reichskristallnacht von , die als »Katastrophe vor der Katastrophe«1 verstanden werden kann. Die Erinnerung an diese Gewalttaten wird durch Gedenktage am . Januar und am . November im kollektiven Gedächtnis präsent gehalten. Gegenüber diesen staatlichen Massenverbrechen verblassen historische Vorkommnisse, in denen Juden in vielen Ländern Europas zum Ziel kollektiver Angriffe wurden. Dennoch waren und sind einige der historischen antijüdischen Gewaltwellen im kollektiven Gedächtnis, insbesondere in der jüdischen Überlieferung, präsent: die Gewaltwellen des Mittelalters, vor allem die Kreuzzugsmassaker von  und die sog. Pestpogrome von /,2 die »im Osten« lokalisierten Kosakenaufstände von  (Chmielnicki-Aufstand)3 sowie die Pogromwellen im Zarenreich in den Jahren - und -. Diese Ereignisse hat man lange Zeit im »finsteren« Mittelalter bzw. im zivilisatorisch rückständigen Russland des . Jahrhunderts verortet, so dass die antijüdischen Ausschreitungen in den anderen Regionen Europas im . und frühen . Jahrhundert weitgehend aus dem Blick gerieten. Dies steht im Einklang mit dem zivilisatorischen Selbstbild, das die europäische Aufklärung durch eine doppelte Grenzziehung (zeitlich von der »Barbarei«  Vgl. die jüngste zusammenfassende Darstellung von Raphael Gross, November . Die Katastrophe vor der Katastrophe, München . Siehe zu meiner Definition von »Pogrom« in Kap. , S. . Zur Frage, ob die »Reichskristallnacht« als Pogrom richtig bezeichnet ist, siehe Kap. , Fußnote .  Vgl. die Schulbuchanalyse, wonach zwischen der Erwähnung der mittelalterlichen Pogrome und der NS-Zeit eine große Lücke bestand: Christel Hopf/Knut Nevermann/Ingrid Schmidt, Wie kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Eine empirische Analyse von Deutungen im Unterricht, Frankfurt a. M. . Trotz des seit langem geforderten Perspektivenwechsels wird nach den Befunden der neuesten Schulbuchstudie jüdische Geschichte weiterhin vorrangig als Verfolgungs- und Opfergeschichte dargestellt: Martin Liepach/ Dirk Sadowski (Hrsg.), Jüdische Geschichte im deutschen Schulbuch. Eine Bestandsaufnahme aktueller Lehrwerke, Göttingen , S. .  Robert A. Friedl, Polen und sein Osten am Vorabend der Katastrophe. Der große Kosaken- und Bauernaufstand von , phil. Diss., Universität Düsseldorf  (Onlinepublikation: http://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-/ DissFriedl_Polen-Ab.pdf ). Siehe auch Frank Golczewski, Chmielnicki-Pogrome, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S.  f.

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des Mittelalters, räumlich von der »Barbarei« des Ostens)4 von sich selbst entworfen hatte. Im Selbstverständnis der Moderne waren Religionsverfolgungen und Intoleranz, Judenhetzen und Scheiterhaufen Signaturen eines »vergangenen Zeitalters«, die sich in einem modernen, aufgeklärten Verfassungs- und Rechtsstaat mit durchgesetztem Gewaltmonopol nicht wiederholen konnten. Kam es dennoch zu gewaltsamen antijüdischen Ausschreitungen, wie z. B. den Hep-Hep-Unruhen des Jahres  oder in Hinterpommern und Westpreußen im Jahre  –, so wurden diese von den aufgeklärten Zeitgenossen als bloße »Reste« vergangener Intoleranz und Zeichen mangelnder Bildung und Aufklärung – also als etwas Altbekanntes – klassifiziert, nicht aber in ihren »modernen« Entstehungsbedingungen ernst genommen.5 So spottete eine liberale deutsche Zeitung angesichts der Ausschreitungen in Hinterpommern und Westpreußen in einem Gedicht: »Uns wird so mittelalterlich, So raubmordlustentfalterlich, So judenblutdursterlich, So ganz Henrici-Stoeckerlich, So Synagog’ ansteckerlich, So albern und so lächerlich«.6 Man kann Spuren dieses Deutungsmusters noch in jenen (allerdings eher marginalen) historischen Erklärungsversuchen ausmachen, die den Holocaust als »Wiederkehr eines mittelalterlichen Wahns«, als »Rückfall in die Barbarei« oder als »asiatische Tat« interpretieren, ihm damit einen fremden Ursprung zuschreiben und so die Tatsache verschleiern, dass es sich um ein genuin modernes Geschehen handelte.7 Der systematisch betriebene, millionenfache Judenmord im Holocaust  Johannes Heil, »Boten der Vergangenheit«? Antiquierte Barbarei: Mittelalterliche Pogrome im neuzeitlichen Gedächtnis, in: Aschkenas. Zeitschrift für die Geschichte und Kultur der Juden , , S. -; Otto G. Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: Peter Segl (Hrsg.), Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongressakten des . Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth , Sigmaringen , hier S.  ff.; Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization in the Mind of the Enlightenment, Stanford .  Christhard Hoffmann, Geschichte und Ideologie: Der Berliner Antisemitismusstreit /, in: Wolfgang Benz/Werner Bergmann (Hrsg.), Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Bonn , S. -, hier S. .  Die Reform Nr. , vom .., zit. nach Hoffmann, Geschichte und Ideologie, S. .  Zum Begriff der »asiatischen Tat« für die Verbrechen des Nationalsozialismus vgl. Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, . Juni  – diese Rede bildete den Anlass für den »Historikerstreit«; siehe Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Stuttgart ; Detlev Peukert, The Genesis of the ›Final Solution‹ from the Spirit of Science, in: David F. Crew (Hrsg.), Nazism and German Society, -, London, New York , S. -; Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg .

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ist eben nicht als Wiederaufleben »mittelalterlicher« Verfolgungswut zu verstehen. Sicherlich hat das liberale Selbstverständnis, Judenhass und moderne Zivilisation seien unvereinbar, entscheidend zur Delegitimierung und Überwindung der traditionellen religiös geprägten Judenfeindschaft und Anwendung offener Gewalt beigetragen. Der relative Erfolg dieses Wertungsmusters hat aber auch dazu geführt, dass die Formen antijüdischer Ausgrenzung und Gewalt ihrerseits transformiert und »modernisiert« wurden.8 Diese Konstellation, die Klassifikation von Pogromen als überlebte Form »mittelalterlichen« Religionsfanatismus und die Erkenntnis, dass der Holocaust im Wesentlichen auf anderen, modernen Voraussetzungen beruhte, hat vermutlich dazu beigetragen, dass das Phänomen der kollektiven Gewalt gegen Juden in der Periode zwischen der Französischen Revolution und dem Holocaust (ca. -) erst spät die wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden hat, die es verdient. Die Assoziation mit einer archaischen, unorganisierten und brutalen Gewalt gegen Juden wird auch durch das russische Wort »Pogrom« geweckt, das Zerstörung und Unwetter bedeutet. Moderne Historiker haben diesen Begriff primär für die Pogromwellen des Zarenreichs (- und -) verwendet, von denen insbesondere die zweite Welle sehr gewaltsam verlief. Von dort ist der Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Diese Fixierung auf die Ereignisse im Zarenreich hat lange Zeit den Blick darauf verstellt, dass es auch in anderen Regionen Europas im . Jahrhundert und frühen . Jahrhundert zu einzelnen Fällen oder gar zu größeren Wellen antijüdischer Ausschreitungen kam, auch wenn es dort zumeist weniger gewalttätig zuging.9 Die Fälle antijüdischer Gewalt, wie sie von der Zeit der Emanzipation bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Zuge politischer und ökonomischer Krisen und Konflikte in vielen europäischen Regionen auftraten,10 waren moderne Phänomene, die als Reaktionen auf die sich verändernden sozialen und politischen Beziehungen zwischen der christlichen Mehrheit und der jüdischen Minderheit zu verstehen sind. Zwar hat es seit den er Jahren keine antijüdischen Pogrome mehr gegeben, doch sind Pogrome keine historisch überholte Erscheinung, sondern treten im Kontext religiöser und ethnischer Gegensätze auch gegenwärtig noch auf, etwa in Fällen von religiöser Gewalt zwischen Muslimen und Christen in Nigeria, Zentralafrika und Indonesien, zwischen Sunniten und Schiiten im Irak oder zwischen Hindus und Muslimen in Indien,11 oder als ethnische Gewalt gegen Roma in Ost Hoffmann, Geschichte und Ideologie, S. ; Werner Bergmann, »Nicht aus den Niederungen des Hasses und des Aberglaubens«. Die Negation von Emotionen im Antisemitismus des deutschen Kaiserreichs, in: Geschichte und Gesellschaft /, , S. -.  Eine Verbindung sieht hier auch David Vital: »In sum the pogroms in southern Russia in the early s were the Hep! Hep! riots of Germany in  writ very large.« (A People Apart: The Jews of Europe, -, New York , S. ).  Vgl. die Liste der Pogrome im Anhang.  Eine weltweite Übersicht bietet Donald L. Horowitz, The Deadly Ethnic Riot, Oxford ; John T. Sidel, Riots, Pogroms, Jihad. Religious Violence in Indonesia, Ithaca .

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und Südosteuropa oder gegen Asylbewerber wie  in Deutschland (RostockLichtenhagen).12 Die geringe wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Ausschreitungen gegen Juden mag erstaunen, waren doch Formen kollektiver Gewalt und populären Protests gerade in der sich in den er Jahren entwickelnden sozialhistorischen Protestforschung wichtige Forschungsthemen. Diese Forschung konzentrierte sich jedoch primär auf Fälle von gewaltsamem Sozialprotest wie Subsistenzunruhen, Maschinensturm, politische Proteste und Revolutionen,13 während die Dimension interethnischer Gewalt nur am Rande Berücksichtigung fand bzw. als eine Ausprägung von Sozialprotest behandelt wurde, was nur zum Teil zutraf; d. h., die genuin antijüdische Dimension wurde in diesen Formen antijüdischer Gewalt nicht gesehen.14 Die Soziologie kollektiven Handelns wiederum hat zwar in den er Jahren mit den US-Rassenunruhen interethnische Gewalt sehr genau untersucht, doch hat sie diese ebenfalls – in diesem Fall aber zu Recht – als eine Form von Sozialprotest behandelt.15 Diesem Paradigma folgte anschließend auch die Ana Roger Karapin, Antiminority Riots in Unified Germany. Cultural Conflicts and Mischanneled Political Participation, in: Comparative Politics, January , S. -.  Charles Tilly/Louise Tilly/Richard Tilly, The Rebellious Century -, Cambridge, Mass. ; Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class, London ; George Rudé, The Crowd in History. A Study of Popular Disturbances in France and England -, New York ; John Stevenson, Social Control and the Prevention of Riots in England, -, in: A. P. Donaijgrodzki (Hrsg.), Social Control in Nineteenth Century Britain, London , S. -; John Bohstedt, Riots and Community Politics in England and Wales -, Cambridge, Mass. ; ders./Dale E. Williams, The Diffusion of Riots: The Pattern of , , and  in Devonshire, in: Journal of Interdisciplinary History , , S. -. In Deutschland vor allem: Heinrich Volkmann/Jürgen Bergmann (Hrsg.), Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichsgründung, Opladen ; Manfred Gailus/Heinrich Volkmann (Hrsg.), Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest -, Opladen ; Helmut Berding (Hrsg.), Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution, Göttingen ; Arno Herzig, Unterschichtenprotest in Deutschland -, Göttingen ; Wolfgang J. Mommsen/Gerhard Hirschfeld (Hrsg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im . und . Jahrhundert, Stuttgart ; in der Rückschau: Manfred Gailus, Was macht eigentlich die historische Protestforschung? Rückblicke, Resümee, Perspektiven, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen , , S. -.  So behandelt Rainer Wirtz auch Fälle antijüdischer Gewalt: »Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle, Tumulte und Skandale«. Soziale Bewegung und gewalthafter sozialer Protest in Baden -, Frankfurt a. M., Berlin, Wien . Auch Eleonore Sterling hat die Hep-Hep-Unruhen von  als Ausdruck eines auf die Juden abgeleiteten Sozialprotests interpretiert: Anti-Jewish Riots in Germany : A Displacement of Social Protest, in: Historia Judaica , , S. -.  Seymour Spilerman, The Causes of Racial Disturbances: A Comparison of Alternative Explanations, in: American Sociological Review , , S. -; Gregg Lee Carter, Black Attitudes and the s Black Riots: An Aggregate-Level Analysis of the Kerner Commission’s » Cities« Data, in: Sociological Quarterly , , S. -.

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lyse der »neuen sozialen Bewegungen« (Frauenbewegung, Bürgerrechtsbewegung), die ideologisch eng mit den Rassenunruhen zusammenhingen, wie etwa die Civil Rights-Bewegung und die Ghettoaufstände der mittsechziger Jahre in den USA.16 Eine Ursache für die bis in die er Jahre reichende Vernachlässigung interethnischer Gewalt ist in der modernisierungstheoretischen Annahme der Sozialwissenschaften zu suchen, dass askriptiv bedingte Differenzierungen, wie Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit, in modernen Gesellschaften an Bedeutung verlieren würden und Klassenkampf sowie ethnische Konflikte Resultate von schließbaren Modernisierungslücken seien. Mit dem Modernisierungsoptimismus war die Überschätzung der zivilisatorischen Befriedung moderner Gesellschaften verbunden, wie sie sich in den Theorien von Max Weber und Norbert Elias ausdrückt.17 Von den er bis in die er Jahre war also das Interesse der Geschichtswissenschaft wie der Soziologie mit ihrer modernisierungsoptimistischen Ausrichtung ganz auf die »fortschrittlichen« Protestbewegungen gerichtet, die sich für die Inklusion benachteiligter Schichten und Bevölkerungsgruppen einsetzten. Es wurde kaum gesehen, dass es auch Formen gewaltsamen Protests geben kann, die auf die Abwehr von Inklusion zielten.18 Die Soziologie kollektiver Gewalt hatte die instrumentelle und eher eingehegte Gewaltanwendung der von ihr analysierten jugendlichen oder linksgerichteten Protestbewegungen vor Augen, die sie mit einem gewissen Verständnis betrachtet hat, das sie für die rechtsextreme und genozidale Gewalt der er Jahre dann verständlicherweise nicht mehr aufbringen konnte. In der Tat hatte die Soziologie bis Ende der er Jahre – worauf in Deutschland Birgitta Nedelmann hingewiesen hat19 – analytische Probleme mit dem ambivalenten  Dazu James A. Geschwender, Civil Rights Protest and Riots: A Disappearing Distinction, in: Social Science Quarterly , , S. -.  Dabei sind nicht nur das . und ., sondern auch das . und . Jahrhundert »weltweit geradezu mit Gewalt durchsetzt und durchtränkt« (Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hrsg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. M. , S. ). Zur Kritik an dieser Sichtweise Peter Imbusch, Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das . Jahrhundert, Wiesbaden ; Christian Scheller, Die Gewaltproblematik als differenzierungstheoretischer Aspekt im Prozess der Zivilisation. Ursachenforschung nach möglichen Zusammenhängen zwischen Zivilisation und Gewalt am Beispiel der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen des . Jahrhunderts, e-book, ; vgl. Abram de Swaan, Zivilisierung, Massenvernichtung und der Staat, in: Leviathan /, , S. -, der auf die Gegenläufigkeiten im Prozess der Zivilisation hinweist, in dem Phasen von Zivilisierung durch solche der Dezivilisation oder des »Zusammenbruchs von Zivilisation« unterbrochen werden, was zumeist mit Begriffen wie »Regression in die Barbarei« oder »Verwundbarkeit der Zivilisation« ausgedrückt wird (S.  f.).  Wir haben deshalb zur Kennzeichnung der Ausrichtung dieser Gewaltform den Begriff »exclusionary violence« eingeführt: siehe Hoffmann/Bergmann/Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence.  Birgitta Nedelmann, Schwierigkeiten soziologischer Gewaltanalyse, in: Mittelweg , , S. -; dies., Gewaltsoziologie am Scheideweg. Die Auseinandersetzungen in der gegenwärtigen und Wege der künftigen Gewaltforschung, in: Trutz von Trotha (Hrsg.),

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Phänomen von extremer Gewalt, wobei vor allem die gewaltsame Handlung selbst mit ihrer Faszination für Täter und Beobachter und ihrem Körperbezug ausgespart wurde. So hat die sozialwissenschaftliche Forschung zu politischer Gewalt erst in den späten er Jahren begonnen, sich systematisch mit kollektiver Gewalt gegen Leib, Leben und Eigentum ethnischer Gruppen zu befassen, wie umgekehrt die Forschung zu ethnischen Konflikten die Gewaltdynamik lange Zeit wenig berücksichtigt hat.20 Craig J. Jenkins und Kurt Schock beklagten noch , dass eine große empirische Lücke unser Verständnis für die ethnischen Antagonismen begrenze.21 Dass diese Differenz in der Zielrichtung wie in den Erscheinungsformen kollektiver Gewalt häufig übersehen wurde, mag auch der verwendeten Begrifflichkeit geschuldet sein. Im Deutschen wie im Englischen verdecken die Begriffe Unruhe, Protest, Tumult, Krawall, Exzess, Ausschreitung oder »riot« oder »unrest« die angesprochene Differenz. Race oder ethnic riots können demnach einmal für eine Form des Sozialprotests stehen, in der eine benachteiligte ethnische Gruppe um ihre Rechte und die Verbesserung ihrer sozialen Lage kämpft, im anderen Fall für Konflikte, in denen es um kollektive Konfrontationen zwischen ethnischen Gruppen geht22 (dazu mehr in Kap. ). Mit der letztgenannten Form kollektiver Gewalt gegen das Eigentum, manchmal auch gegen Leib und Leben ethnischer, religiöser oder kultureller Minderheiten hat sich die Soziologie bisher wenig befasst, und auch die Geschichtswissenschaft hat Pogrome bis vor einigen Jahren fast ausschließlich in Form von Fallanalysen im Kontext von Minderheiten- oder Nationalgeschichten behandelt, wobei Versuche einer komparativen und diachronen Betrachtung die Ausnahme blieben.23

   

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Soziologie der Gewalt, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. , , S. -. Die in Reaktion auf die drastische Schilderung der Judenmorde durch deutsche Einsatzgruppen und Polizeieinheiten in Daniel J. Goldhagens Buch, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin , geführte Diskussion, ob die übliche distanzierte Darstellung oder eine emotionalere Perspektive dem Geschehen angemessener sei, zeigt, dass dieses Problem auch in der Geschichtswissenschaft besteht. Rogers Brubaker/David D. Laitin, Ethnic and Nationalist Violence, in: Annual Review of Sociology , , S. -, hier S. . Craig J. Jenkins/Kurt Schock, Global Structures and Political Processes in the Study of Domestic Political Conflict, in: Annual Review of Sociology , , S. -, hier S. . Susan Olzak, The Political Context of Competition: Lynching and Urban Racial Violence, -, in: Social Forces , , S. -, hier S. . Ausnahmen: Otto H. Dahlke: Race and Minority Riots. A Study in the Typology of Violence, in: Social Forces, , /, S. -; Harvey E. Goldberg, Rites and Riots. The Tripolitanian Pogrom of , in: Plural Societies , , S. -.

. Antisemitismus: Zum Verhältnis von Ideologie und Gewalt Dass sich auch die Antisemitismusforschung nach  mit den antijüdischen Ausschreitungen des . und frühen . Jahrhunderts lange Zeit kaum befasst hat, liegt in ihrer überwiegend ideologie- und politikgeschichtlichen Ausrichtung, in der die soziale Praxis der Judenfeindschaft wenig Beachtung fand. Ihr ging es um die Aufdeckung der ideologischen, politischen und ökonomischen Voraussetzungen des Antisemitismus und der Judenverfolgung im Nationalsozialismus,1 man suchte sozusagen nach den »Wurzeln des Bösen«2 und fragte nach den spezifisch modernen Voraussetzungen des Antisemitismus, etwa in der Dialektik der Aufklärung Max Horkheimers und Theodor W. Adornos.3 Auch die sich seit den er Jahren entwickelnde (sozial-)psychologische und soziologische Antisemitismusforschung konzentrierte sich auf die Genese persönlicher Charakter- und Einstellungsstrukturen, während die Handlungsdimension ausgeblendet blieb.4 In der Forschung kamen die Episoden kollektiver Gewalt gegen Juden im Europa des . und frühen . Jahrhunderts also selten in den Blick oder waren, wie zum Beispiel die Ausschreitungen in Frankreich während der Dreyfus-Affäre oder die Unruhen in Pommern und Westpreußen in den Jahren  und , sogar fast völlig vergessen. Dabei zeigen Analysen der antisemitischen Semantik, dass die Erörterungen der »Judenfrage« bereits seit den Emanzipationsdebatten häufig auch gewaltsame Lösungen wie Vertreibung, Ghettoisierung und physische Gewalt in den Horizont möglicher, wenn auch zumeist verworfener »Lösungen« rückten.5 Dennoch war die tatsächliche »antisemitische Praxis« ein Stiefkind der Antisemitismusforschung. Dabei kommt diesen Ereignissen, die in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts vor allem in Mittel- und Osteuropa ein verbreitetes Phänomen gewesen sind, durchaus eine Bedeutung in der Entwicklung des Antisemitismus in Europa zu, da die  Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Frankfurt a. M.  (amerik. Ausgabe ); Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany ; Eva G. Reichmann, Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, Frankfurt a. M.  (engl.: Hostages of Civilization, London ); Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus -, München .  Massimo Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler, Frankfurt a. M. .  Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam ; JeanPaul Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des Antisemitismus, Zürich ; eine Übersicht zur Geschichte der internationalen Forschung in: Werner Bergmann (Hrsg.), Error without Trial. Psychological Research on Antisemitism Current Research on Antisemitism, Vol. II, hrsg. von Herbert A. Strauss/Werner Bergmann, Berlin, New York ; und der deutschen Forschung in: Werner Bergmann/Mona Körte (Hrsg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin .  Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswik/Daniel J. Levinson/Richard N. Sanford, The Authoritarian Personality, New York .  Vgl. Erb/Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation; Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg .

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potentiell labilen Beziehungen in diesen Gewaltereignissen ihren direktesten Ausdruck fanden und jeweils für die Antisemiten einen Anlass für besonders intensive Agitation boten. Die Forschung hat zweierlei lange unterschätzt: die Bedeutung der antijüdischen Gewalt für den Aufstieg des modernen Antisemitismus wie auch den Platz, den diese Gewalt – im Unterschied zur antisemitischen Ideologie – in der Vorgeschichte, aber auch im Zuge des Holocaust einnimmt.6 Die Beziehungen von antisemitischer Ideologie und antijüdischer Gewaltpraxis sind jedoch keineswegs monokausal zu denken, in dem Sinne, dass ein virulenter Antisemitismus notwendig in Gewalt mündete oder dass er gar generell auf die Eliminierung der Juden abzielte und nur eine Gelegenheit zum Handeln suchte, wie Daniel Goldhagen es in seinem Buch Hitlers willige Vollstrecker mit dem Konzept des »eliminatorischen Antisemitismus« suggeriert hat. Nach Goldhagen existierte, zumindest in Deutschland, ein in allen Gesellschaftsschichten verbreitetes »kognitives Modell«, das die Eliminierung des jüdischen Einflusses oder gar die Eliminierung der Juden selbst forderte.7 Diese Vorstellung habe die Deutschen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus zu »willigen Vollstreckern« des Judenmordes gemacht. Die »antisemitische Weltanschauung« sei demnach eine Ideologie mit »tödlichen Konsequenzen.«8 In dieser Sichtweise würden in antijüdischen Ausschreitungen lediglich konstante, immer vorhandene antisemitische Überzeugungen manifest; d. h., sie unterstellt in jedem Fall antisemitische Motivationen der Akteure.9 Damit wird der Antisemitismus gleichsam systematisch zu einem historischen Subjekt essentialisiert, das unabhängig vom Denken, Sprechen und Handeln existiert und Einfluss nimmt, so dass die Akteure dabei als bloße Ausführende einer überzeitlichen Ideologie erscheinen. Die Ereignisse selbst und die Absichten der verantwortlichen Akteure müssen jedoch ernst genommen werden. Dann wird sichtbar, dass die Bedeutung antisemitischer Überzeugungen historisch und geographisch variiert und dass für den Ausbruch von Gewalt neben den ideologischen Überzeugungen der Handelnden auch die jeweiligen Handlungskontexte und -ziele eine zentrale Rolle spielen. So war die Phase am Vorabend der er Revolution keineswegs von einer virulenten judenfeindlichen Stimmung geprägt, dennoch kam es im Zuge der revolutionären Gewalt vielerorts auch zu Übergriffen gegen Juden, wie umgekehrt Ursachen für kollektive Gewalt wie Hunger- und Wirtschaftskrisen, Revolutionen, »Ritualmorde« oder Kriegsniederlagen in man Dazu Werner Bergmann/Christhard Hoffmann/Helmut W. Smith, Introduction, in: Hoffmann/Bergmann/Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence, S. ; es gibt aber auch Ausnahmen wie Erb/Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation; Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt: Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn .  Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Kap. : Eine neue Sichtweise des Antisemitismus: Ein Rahmen für die Analyse; zum Begriff des Antisemitismus als »kognitives Modell« S. ; zum Begriff des »eliminatorischen Antisemitismus« Kap.  (S.  ff.).  Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. . Siehe zur Kritik an diesem Konzept Bergmann/Hoffmann/Smith, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Exclusionary Violence, S.  f.  Zur Kritik an Goldhagens Konzept: Dieter Pohl, Die Holocaust-Forschung und Goldhagens Thesen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte /, , S. -.

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chen Fällen zu antijüdischer Gewalt führen, in anderen aber nicht. D. h., das analytische Problem besteht ja gerade darin, zu erklären, warum Teile der Gesellschaft auf die genannten Problemlagen, die oft gar nicht die Beziehungen zwischen Juden und Christen betrafen, mit Gewalt gegen Juden und nicht gegen die Herrschenden oder eine andere Gruppe reagierten. Der Rückgriff auf einen »ewigen Antisemitismus« kann dies nicht leisten.10 Auch David Nirenberg hat diesem Ansatz zu Recht vorgeworfen, dass der Bezug zu einer seit dem Mittelalter immer gleichen antisemitischen Ideologie Intoleranz und Gewalt als eine Frage der bloßen Umsetzung von Ideologien verstehe, ohne die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Kontexte zu beachten.11 Die Existenz eines antisemitischen Diskurses ist zwar eine wichtige Voraussetzung dafür, Juden und nicht eine andere ethnische oder soziale Gruppe als Ziel von Gewaltaktionen auszuwählen, doch führen antisemitische Überzeugungen nicht notwendig dorthin, denn Ausbrüche kollektiver Gewalt sind, wie John D. Klier für Osteuropa konstatiert hat, außergewöhnliche Ereignisse und keineswegs die Regel im Zusammenleben von Juden und Nichtjuden gewesen.12 Diese Diskurse bilden vielmehr eine Ressource, auf die Akteure zur Interpretation ihrer Beziehungen und Konflikte mit einer Outgroup zurückgreifen, wenn sie sie als sinnvoll und nützlich für die Begründung ihrer Aktionen ansehen, wobei zugleich die antijüdischen Vorstellungen durch die Konflikte und Handlungsziele modifiziert und intensiviert werden können. Die Gewalt gegen Juden enthält als eine Form der Kommunikation immer auch eine Botschaft an die Adresse der Opfer, aber auch an die des Staates. Je genauer die Besonderheiten der einzelnen Ausschreitungen untersucht werden, desto weniger genügen sie unseren Vorstellungen von Homogenität und Zielgerichtetheit und desto stärker treten ihre Kontingenz und Verschiedenheit hervor.13 Die Eigengesetzlichkeit kollektiver Gewalt darf also nicht aus dem Blick geraten. Gewalt ist auch in ihrer kollektiven Form eine »Möglichkeit des Ausdrucks […], der sich jedermann jederzeit bedienen kann« und nicht notwendig ein abweichendes Verhalten, d. h., Gewalttäter müssen nicht unbedingt aus ideologischen Überzeugungen oder fehlender Triebhemmung handeln.14 Dirk Baecker hat Gewalt als eine Form der Kommunikation beschrieben, mit der sich Handelnde Gehör verschaffen können. Wer etwa machtlos oder isoliert ist, macht mit der Gewalt ein »nicht negierbares Kommunikationsangebot«.15 Paul Duchoumel hat im Anschluss an die Theorie René Girards die kausale Wirksam Bergmann/Hoffmann/Smith, Introduction, S. .  David Nirenberg, Communities of Violence: Persecution of Minorities in the Middle Ages, Princeton, , S.  f. Nirenberg hat den Zusammenhang zwischen Ideologie und Handeln ganz knapp so bestimmt: »Briefly, discourse and agency gain meaning only in relation to each other« (S. ).  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .  Nirenberg, Communities of Violence, S. .  Jörg Baberowski, Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen /, , S. -, hier S.  f.  Dirk Baecker, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt a. M. , S.  f.

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keit von Ideen auf Gewalt sogar gänzlich bestritten, denn diese Annahme würde voraussetzen, dass die Ideen/Überzeugungen der Gewalt äußerlich seien und ihr vorausgegangen sein müssen. Da Ideen aber nicht immer zu Gewalt führen, muss es zusätzliche Ursachen geben. Es scheint also vielmehr so zu sein, dass Ideen und Gewalt auf eine gemeinsame Ursache zurückgehen, nämlich auf konflikthafte Interaktionen, und sich im Verlaufe der Eskalation eines Konflikts beide steigern. Gewalt ist die Folge der (Intensivierung) der Rivalität als solcher.16 Dies gilt entsprechend auch für die Intensivierung negativer Überzeugungen über die rivalisierende Gruppe, in unserem Fall für die Ausprägung antisemitischer Überzeugungen. Im Anschluss an die neuere Nationalismus-Forschung17 und an Überlegungen Tim Buchens soll Antisemitismus hier als ein sozialer Prozess verstanden werden, »in dem Sprechen und Handeln aufeinander Bezug nehmen und die Ausgrenzung von Juden gerechtfertigt erscheint, weil das Zusammenleben von Nichtjuden und Juden als grundsätzlich konflikthaft und zum Nachteil der eigenen Gemeinschaft verläuft, der ein höheres Recht auf Wohlergehen zugesprochen wird«.18 D. h., das Reden über Antisemitismus ist in den regionalen oder lokalen Kontexten nicht als ein selbständiger, »abgehobener Diskurs« zu sehen, in dem antisemitische Akteure ihre Texte und Programme losgelöst von den existierenden Beziehungen von Juden und Nichtjuden entwerfen, sondern »erfolgt in ständiger Wechselwirkung mit der Deutung gesellschaftlicher Entwicklungen und Ereignisse«.19 In dieser Arbeit wird im Sinne dieses Verständnisses von Antisemitismus als einem sozialen Prozess, in dem natürlich auch antisemitische Einstellungen und Diskurse eine wesentliche Rolle spielen, in der historischen Analyse der antijüdischen Ausschreitungen des . Jahrhunderts eine handlungstheoretische Analyse auf der Mikroebene der Gewaltphänomene vorgenommen, die in ihren jeweiligen Begründungen und dynamischen Verläufen betrachtet werden. Im Zuge des cultural turn in der Sozialwissenschaften ist gerade das Moment der Bedeutung von Gewalthandeln in den Mittelpunkt gerückt worden, wobei dieser Handlungssinn als kulturell konstruiert, diskursiv vermittelt, symbolisch aufgeladen und rituell

 Paul Duchoumel, Massengewalt und konstitutive Gewalt, in: Axel T. Paul/Benjamin Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen. Über die Selbstorganisation kollektiver Gewalt, Hamburg , S. -, hier S. . Die gemeinsame Ursache wird von Girard als »Mimesis« bezeichnet, die sich der Tatsache verdankt, dass wir uns aneinander orientieren, einander schätzen oder verachten (S. ). Vgl. dazu die klassische Studie von Muzafer Sherif/O. J. Harvey/B. Jack White/William R. Hood/Carolyn W. Sherif, Intergroup Conflict and Cooperation: The Robbers Cave Experiment, Norman (Oklahoma) .  Dazu vor allem die Arbeiten von Rogers Brubaker: Rethinking Nationhood: Nation as an Institutionalized Form, Practical Category, Contingent Event, in: Contention /, , S. -; ders., Nationalism Refrained: Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge .  Tim Buchen, Antisemitismus in Galizien. Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um , Berlin , S. .  Ebd.

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reguliert angesehen wird.20 Damit erscheinen Pogrome nicht als wüste, regellose Ausbrüche sinnloser Zerstörungswut – wie sie zweifellos von den Betroffenen oft erlebt werden –, sondern werden in ihrer Eigendynamik und »Sinnhaftigkeit« für die Akteure im Kontext der sozialen Beziehungen zwischen den Konfliktparteien rekonstruiert, folgen also einer »sozialen Logik«.21 Mit dieser mikrohistorischen Betrachtungsweise unterläuft man die fruchtlose reduktionistische Alternative, entweder einen kontinuierlich und gleichbleibend bestehenden Antisemitismus ohne Bezug zu realen Konflikten als Ursache der Gewalt anzunehmen oder aber sich allein auf das Vorliegen sozialer Ursachen als Erklärung zu konzentrieren.22 Indem man von dem jeweiligen kollektiven Gewaltereignis ausgeht, erschließen sich sowohl die jeweiligen Bedeutungszuschreibungen von Seiten der beteiligten Akteure wie auch dessen Bedeutung für den größeren sozialen und historischen Kontext.23 Die folgende Analyse kollektiver Gewaltereignisse kombiniert eine ethnologisch angeleitete Mikrohistorie, in der es um die Aufdeckung des rituellen und symbolischen Gehalts der Gewaltaktionen und ihrer Handlungsdynamiken geht, mit der Soziologie kollektiver Gewalt, die sowohl die Frage der sozialen Ursachen wie die in den Aktionen selbst ablaufenden Kommunikationsprozesse zu beantworten sucht, und der Geschichtswissenschaft, die den historischen Kontext der Ereignisse analysiert und sie in ihrem Wandel periodisiert. Die vorliegende Arbeit verknüpft also die Perspektiven von Soziologie und Geschichtswissenschaft.

 Vgl. Brubaker/Laitin, Ethnic and Nationalist Violence, S. .  Edward P. Thompson hat dafür schon früh in die Sozialprotestforschung den Begriff der »sozialen Logik« eingeführt: Die ›sittliche Ökonomie‹ der englischen Unterschichten im . Jahrhundert, in: Detlev Puls (Hrsg.), Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im . und . Jahrhundert, Frankfurt a. M. , S. - (engl. ), hier S. ; siehe auch: Rolf Peter Sieferle/Helga Breuninger (Hrsg.), Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, Frankfurt a. M. .  Jacques Revel, Microanalysis and the Construction of the Social, in: Jacques Revel/Lynn Hunt (Hrsg.), Histories: French Constructions of the Past, New York , S. -; vgl. auch Jörg Hüttemann, Review Essay: »Dichte Beschreibung« oder Ursachenforschung der Gewalt? Anmerkungen zu einer falschen Alternative im Lichte der Problematik funktionaler Erklärungen, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung , , S. -.  Bergmann/Hoffmann/Smith, Introduction, S. ; vgl. auch Jörg Baberowski, Gewalt verstehen: »Erst wenn man die Situation beschrieben hat, versteht man überhaupt, was geschehen ist, denn das Verhältnis von Täter und Opfer […] kann aus gesellschaftlichen Ursachen heraus überhaupt nicht erklärt werden. […] Und man wird auch nicht ohne den Kontext auskommen können, in dem sich die Gewalt vollzieht, und der sie ermöglicht […]. Denn die dichte Beschreibung ist nur ein Verfahren, das in überschaubaren Kontexten Ereignisse analysiert und miteinander verknüpft. Sie ist eine Ursachenforschung, deren Tatsachen überprüfbar sind« (S. ).

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. Zum geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand In der Geschichtswissenschaft sind die spezifischen Formen antijüdischer Gewalt in der Moderne erst spät zu einem Forschungsthema geworden, das sich aber in den letzten zwanzig Jahren rasant entwickelt hat. Innerhalb der jüdischen Geschichtsschreibung konzentrierte sich die Beschäftigung lange Zeit auf die Dokumentation der zeitgenössischen russischen Pogrome. Erst mit der Etablierung einer zionistisch orientierten Geschichtsschreibung in Israel kam es Ende der er Jahre zu ersten Studien über die antisemitische Gewalt im Deutschland der Emanzipationszeit.1 Da diese Untersuchungen jedoch nur auf Hebräisch vorlagen, wurden sie außerhalb Israels lange Zeit kaum rezipiert.2 Während Jacob Toury und Jacob Katz die Ursachen der antijüdischen Gewalt in den Kämpfen um die jüdische Emanzipation verorteten, also als Konflikte zwischen Juden und Nichtjuden darstellten, sollte in der Folgezeit eine Interpretation an Einfluss gewinnen, die die antijüdischen Ausschreitungen in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts als »displacement of social protest« ansah. Dieser Erklärungsansatz, der bereits  von Eleonore Sterling entwickelt wurde, versteht die Judenfeindschaft der Restaurationszeit und des Vormärz als ein Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Krise und nicht als ein eigenständiges Phänomen.3 In einer Zeit großer sozialer Spannungen wurden die Juden – so die These – zu Opfern einer »eigentlich« gegen die Herrschenden gerichteten Unzufriedenheit. Diese These ist in der seit den -er Jahren florierenden sozialen Protestforschung auf fruchtbaren Boden gefallen, die der für die Soziologie vorherrschenden Vorliebe für die Modernisierungstheorie folgend von der Annahme ausging, dass im . Jahrhundert Klassenkonflikte als primär, religiöse oder ethnische Konflikte hingegen als abgeleitet anzusehen seien.4 Erst in den er Jahren haben Studien die Bedeutung des Antisemitismus als eigenständigen Faktor – eventuell wiederum etwas zu einseitig – hervorgehoben,5 da antijüdische  Jacob Toury, Turmoil and Confusion in the Revolution of . The Anti-Jewish Riots in the ›Year of Freedom‹ and their Influence on Modern Anti-Semitism (hebr.), in: Merchavia , S.  ff.; ders., Self Defense in the Days of the ›Hep-Hep‹ Riots (hebr.), in: Yalkut Moreshet , , S. -; Jacob Katz, The Hep Hep Riots in Germany of . The Historical Background (hebr.), in: Zion , , S. -. Eine frühe Ausnahme bildete der zunächst unbeachtet gebliebene Aufsatz von Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany in ; ebenfalls schon früh Herbert A. Strauss, Die preußische Bürokratie und die antijüdischen Unruhen im Jahre , in: Gegenwart im Rückblick. Festgabe für die Jüdische Gemeinde zu Berlin  Jahre nach dem Neubeginn, hrsg. von Herbert A. Strauss/Kurt R. Grossmann, Heidelberg, Berlin , S. -.  Katz’ Studie erschien erst  auf Deutsch: Jacob Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres , Berlin . Zur fehlenden Rezeption von Katz und Toury vgl. Rohrbacher, Nachwort, in: ebd., S.  ff.  Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany.  Zum Beispiel Wirtz, »Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle«; Volkmann/Bergmann (Hrsg.), Sozialer Protest; Herzig, Unterschichtenprotest in Deutschland.  Erb/Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation; Daniel Gerson, Die Ausschrei-

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ZUM GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHEN FORSCHUNGSSTAND

Ausschreitungen häufig tatsächlich mit ökonomischen oder politischen Krisensituationen wie Bürgerkrieg oder Revolution einhergingen und von diesen auch beeinflusst wurden. Die seit Mitte der er Jahre und verstärkt dann seit den er Jahren in der Antisemitismusforschung einsetzende Beschäftigung mit antijüdischer Gewalt ist im Kontext der seit den er Jahren anwachsenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit kollektiver ethnischer Gewalt generell zu sehen, die durch eine Reihe aktueller Erscheinungen mit angestoßen worden ist. Dazu gehören die Gewalt gegen Flüchtlinge und Immigranten seit Anfang der er Jahre und die gewaltsamen Proteste von zugewanderten Minderheiten in Europa6 sowie die weltweit aufflammenden Konflikte etwa zwischen Hindus und Muslimen in Indien oder Muslimen und Christen in Nigeria bis hin zu den »ethnischen Säuberungen« in Jugoslawien und dem Völkermord in Ruanda.7 Das Interesse richtete sich nun sehr stark auf das Feld ethnischer Konflikte und die dabei ausgeübte Gewalt,8 dies reicht von den Formen lokaler kollektiver Gewalt wie Lynchjustiz, Ausschreitungen gegen Einwanderer,9 Pogrome10 bis hin zu den organisierten Formen des Terrorismus, der



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tungen gegen die Juden im Elsaß , in: Bulletin des Leo Baeck Institute , , S. ; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Vgl. neuere Studien zu Riots gegen Asylbewerber im wiedervereinigten Deutschland: Karapin, Antiminority Riots in Unified Germany; Helmut Willems, Jugendunruhen und Protestbewegungen. Eine Studie zur Dynamik innergesellschaftlicher Konflikte in vier westeuropäischen Ländern, Opladen , S.  ff. Solche Gewaltaktionen gegen Immigranten sind keine neue Erscheinung: Panikos Panayi, Middlesbrough : A British Race Riot of the s? in: Social History , , S. -; Panikos Panayi, Anti-Immigrant Riots in Nineteenth and Twentieth Century Britain, in: ders. (Hrsg.), Racial Violence in Britain -, Leicester , S. -. Zur Verschiebung der Forschungsschwerpunkte von der individuellen Gewalt zur »Makrogewalt« vgl. Peter Imbusch, Gewalt – Stochern in unübersichtlichem Gelände, in: Mittelweg /, , S. -, hier S.  f. Wimmer, Interethnische Konflikte, S. -; für die deutsche Soziologie vgl. Trutz von Trotha (Hrsg.), Soziologie der Gewalt, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie , ; mit aktuellen Pogrom-Beispielen aus Südostasien Rösel, Vom ethnischen Antagonismus, S. -. In dieser Forschung ist die Frage nach den Ursachen kommunaler Gewalt ganz verschieden beantwortet worden: vgl. Walter Korpi, Conflict, Power and Relative Deprivation, in: American Political Science Review , , S. -; John Bohstedt, The Dynamics of Riots: Escalation and Diffusion/Contagion, in: The Dynamics of Aggression. Biological and Social Processes in Dyads and Groups, hrsg. von Michael Potegal/John F. Knutson, Hillsdale, N. J. , S. -; David T. Mason, Individual Participation in Collective Violent Action: A Rational Choice Synthesis, in: American Political Science Review , , S. -; Clark McPhail, The Myth of the Madding Crowd, New York ; ders./Ronald T. Wohlstein, Individual and Collective Behaviors within Gatherings, Demonstrations, and Riots, in: Annual Review of Sociology , , S. -. Paul R. Brass (Hrsg.), Riots and Pogroms, Hampshire ; Brubaker/Laitin, Ethnic and Nationalist Violence; Horowitz, Deadly Ethnic Riot.

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»ethnischen Säuberung«,11 des Massakers12 und letztlich des Völkermords.13 Zu allen diesen Erscheinungsformen von kollektiver Gewalt liegt inzwischen eine kaum noch überschaubare Fülle von Literatur vor. Man kann sagen, dass das Thema Gewalt seit Mitte der er Jahre geradezu ins Zentrum soziologischen, politikwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Interesses gerückt ist.14 Dieses hat sich inzwischen in einem ersten großen Handbuch der Gewaltforschung und weiteren Handbüchern sowie in der Gründung spezialisierter wissenschaftlicher Zeitschriften niedergeschlagen – was immer ein Zeichen für die Institutionalisierung eines Forschungsfeldes ist.15 Eine Fülle geschichtswissenschaftlicher Publikationen mit z. T. großem öffentlichem Widerhall hat sich der Gewaltgeschichte zugewandt. Allein / erschienen eine Beschreibung der Stalinschen Säuberungspolitik von Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt (),16 Timothy Snyders Bloodlands und Felix Schnells Räume des Schreckens: Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine -, die den osteuropäischen Raum in den Blick nehmen und schon im Titel dramatische Szenarien entwerfen. Ähnliches gilt auch in der Soziologie etwa für die Arbeiten von Wolfgang Sofsky, Zeiten des Schreckens,  Norman Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im . Jahrhundert, München ; Mann, Die dunkle Seite der Demokratie; Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des . Jahrhunderts, hrsg. von Detlef Brandes/Holm Sundhaussen/Stefan Troebst, Wien ; Donald Bloxham/A. Dirk Moses, Genocide and Ethnic Cleansing, in: Donald Bloxham/Robert Gerwarth (Hrsg.), Political Violence in Twentieth-Century Europe, Cambridge , S. -; A. Bell-Fialkoff, Ethnic Cleansing, New York .  Mark Levene/Penny Roberts (Hrsg.), The Massacre in History, Oxford, New York ; Eric Carlton, Massacres. Historical Perspectives, Aldershot .  Seit  entstand dazu eine Fülle neuer Fachzeitschriften: Holocaust and Genocide Studies, Journal of Genocide Research, Genocide, Zeitschrift für Genozidforschung, Comparative Genocide Studies u. a. Eine gute Übersicht zum Forschungsstand bieten Boris Barth, Genozid. Völkermord im . Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen, München ; Jacques Sémelin, Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde, Hamburg .  Für die Soziologie vgl. das von v. Trotha herausgegebene Sonderheft: Soziologie der Gewalt; für die Geschichtswissenschaft: Dirk Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im . und . Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte , , S. -; eine gewisse Popularität erreichten die Arbeiten von Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a. M. ; ders., Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. ; Christian Gerlach, Extrem gewalttägige Gesellschaften. Massengewalt im . Jahrhundert, München .  Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden ; vgl. auch Christian Gudehus/Michaela Christ (Hrsg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar ; entsprechende Zeitschriften sind: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, Journal of Interpersonal Violence, Contagion: Journal of Violence, Journal of Religion and Violence; sowie zahlreiche Zeitschriften zur Holocaust- und Genozidforschung.  Vgl. auch Jörg Baberowski/Gabriele Metzler (Hrsg.), Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. .

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Amok, Terror, Krieg (), oder von Randall Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie (). Auch in der Holocaustforschung ist seit den er Jahren eine zunehmende Konzentration auf die kollektive Gewaltpraxis erkennbar, indem man im Anschluss an die Pionierarbeit Christopher Brownings die Pogrome, Massaker und Massenerschießungen in den Blick nimmt, während man zuvor fast ausschließlich die quasi industrielle Massentötung in den Vernichtungslagern im Blick gehabt hatte.17 Dieses neue Interesse an Gewalt hat auch in den Forschungen zum Antisemitismus die kollektive Gewalt gegen Juden vor dem Holocaust ins Blickfeld gerückt.18 In Arbeiten zur Geschichte der Juden und in der Antisemitismusforschung sind in den letzten drei Jahrzehnten zahlreiche Fallstudien über Vorkommnisse antijüdischer Gewalt erschienen, so dass man von einem regelrechten »Boom« sprechen kann. Dies gilt einmal für die neuerliche intensive Beschäftigung mit den Ereignissen des Ersten Kreuzzuges,19 mit den antijüdischen Armleder- und RintfleischVerfolgungen des . Jahrhunderts,20 mit den kommunalen Gewaltbeziehungen im Frankreich und Spanien des . Jahrhunderts21 sowie für die zahlreichen Studien zu den Pogromen im Mitteleuropa der Jahre -, die häufig als Pestpogrome  Hier hat sich unter dem Begriff NS-Täterforschung ein eigenes Forschungsgebiet entwickelt. Wegweisend waren hier Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon  und die »Endlösung« in Polen, Reinbek ; Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker; Peter Gleichmann/Thomas Kühne (Hrsg.), Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im . Jahrhundert, Essen .  Till van Rahden, Ideologie und Gewalt. Neuerscheinungen über den Antisemitismus in der deutschen Geschichte des . und frühen . Jahrhunderts, in: Neue Politische Literatur , , S. -.  Robert Chazan, European Jewry and the First Crusade, Berkeley ; ders., In the Year . The First Crusade and the Jews, Philadelphia ; Jeremy Cohen, Sanctifying the Name of God: Jewish Martyrs and Jewish Memories of the First Crusade, Philadelphia . Den neueren Forschungsstand fasst zusammen Hans-Jörg Gilomen, Die Judenverfolgungen von  in der neueren Literatur, in: Judaica /, , S. -.  Friedrich Lotter, Die Judenverfolgung des »König Rintfleisch« in Franken um , in: Zeitschrift für Historische Forschung, /, , S. -; ders., Hostienfrevelvorwurf und Blutwunderfälschung bei den Judenverfolgungen von  (»Rintfleisch«) und  (»Armleder«), in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongress der Monumenta Germaniae Historica, München , Teil V, Hannover , S. -; Miri Rubin, Gentile Tales: The Narrative Assault on Late Medieval Jews, Philadelphia ; Rainer Erb, Rintfleisch-Verfolgung, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. , München , Sp. ; Christoph Cluse, Blut ist im Schuh. Ein Exempel zur Judenverfolgung des »Rex Armleder«, in: Friedhelm Burgard u. a. (Hrsg.), Liber Amicorum necnon et amicarum für Alfred Haverkamp, Trier , S. -; Klaus Arnold, Armledererhebung, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. , München, Zürich , Sp. ; Georges Weill: Armleder, in: Encyclopaedia Judaica, . Auflage, Bd. , Detroit, New York u. a. , S. -, Jörg R. Müller, Eretz geserah – »Land der Verfolgung«: Judenpogrome im regnum Teutonicum in der Zeit von etwa -, in: Christoph Cluse (Hrsg.), Europas Juden im Mittelalter. Beiträge zu einem internationalen Symposium in Speyer vom . bis . Oktober , Trier , S. -.  Nirenberg, Communities of Violence.

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bezeichnet werden.22 Auch die antijüdischen Pogrome des . und . Jahrhunderts sind nun verstärkt zum Gegenstand der Forschung geworden. Dies gilt zunächst einmal für die intensive Beschäftigung mit den antijüdischen Pogromwellen der Jahre / und / im Zarenreich, durch die der Begriff des Pogroms zur Bezeichnung kollektiver antijüdischer Gewalt international verbreitetet wurde.23 Auch die Massaker und Pogrome im Zuge des Bürgerkriegs nach der Russischen Revolution sind neuerdings (wieder) zum Gegenstand der Forschung geworden.24 In den letzten Jahren publizierte Fallstudien zu weiteren europäischen Ländern zeigen, dass in Zeiten politischer Konflikte und Krisen, wie im Frankreich zur Zeit der Revolution(en) sowie der Dreyfus-Affäre,25 in den italienischen Staaten im Zuge  Frantisek Graus, Pest – Geissler – Judenmorde. Das . Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen ; Alfred Haverkamp, Die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte, in: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hrsg. von Alfred Haverkamp, Stuttgart , S. -; Franz-Josef Ziwes, Studien zur Geschichte der Juden im mittleren Rheingebiet während des hohen und späten Mittelalters, Hannover , Kap. D.  John D. Klier, The Russian Press and the Anti-Jewish Pogroms of , in: CanadianAmerican Slavic Studies, , , S. -; I. Michael Aronson, Troubled Waters. The Origins of the  Anti-Jewish Pogroms in Russia, Pittsburgh ; Charters Wynn, Workers, Strikes, and Pogroms. The Donbass-Dnepr Bend in Late Imperial Russia -, Princeton ; John D. Klier/Shlomo Lambroza (Hrsg.), Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge, New York ; Stephen M. Berk, Year of Crisis, Year of Hope. Russian Jewry and the Pogroms of -, Westport, London ; Judge, Edward H., Easter in Kishinev: Anatomy of a Pogrom, New York ; als neueste Übersicht: Iris Boysen, Die revisionistische Historiographie zu den russischen Judenpogromen von  bis , in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung /, S. -; schon früh Heinz-Dietrich Löwe, Antisemitismus und reaktionäre Utopie. Russischer Konservatismus im Kampf gegen den Wandel und Staat und Gesellschaft, Hamburg , S.  ff.; neuerdings: Klier, Russians, Jews, and the Pogroms; Stefan Wiese, Die Große Angst in Žitomir. Zur Geschichte eines Judenpogroms und einer Selbstwehrgruppe im Zarenreich, in: Transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien /, , S. -; ders., Pogrome im Zarenreich; Steven J. Zipperstein, Pogrom: Kishinev and the Tilt of History, New York .  N. Gergel, The Pogroms in the Ukraine in -, in: YIVO Annual of Jewish Social Science, Vol. VI, hrsg. von Koppel S. Pinson, New York ; Elias Heifetz, The Slaughter of the Jews in the Ukraine in , New York ; Henry Abramson, A Prayer for the Government. Ukrainians and Jews in Revolutionary Times -, Cambridge, Mass. ; Matthias Vetter, Antisemiten und Bolschewiki. Zum Verhältnis von Sowjetsystem und Judenfeindschaft -, Berlin ; Oleg Budnitskii, Russian Jews between the Reds and the Whites, -, Philadelphia ; Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine -, Hamburg ; ders., Der Sinn der Gewalt. Der Ataman Volynec und der Dauerpogrom von Gajsin im Russischen Bürgerkrieg , in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, onlineAusgabe  () Heft ; Christopher Gilley, The Ukrainian Anti-Bolshevik Risings of Spring and Summer : Intellectual History in a Space of Violence, in: Revolutionary Russia /, , S. -.  Daniel Gerson, Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass  bis , Essen ; Stephen Wilson, The Antisemitic Riots of  in France, in:

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der Judenemanzipation und der er Revolution,26 in den deutschen Staaten und im Habsburgerreich des . Jahrhunderts, im Großbritannien des . Jahrhunderts27 und im Polen von der Zwischenkriegs- bis zur Nachkriegszeit (z. B. in Lemberg , Jedwabne  und , in Kielce ), die jüdische Minderheit zum Ziel kollektiver Gewalt wurde.28 Während wir für die USA keinen Fall pogromistischer Gewalt gegen Juden kennen,29 wohl aber gegen andere Minderheiten,30 zeigen neuere Studien, dass kollektive antijüdische Gewalt nicht auf das christliche Europa beschränkt geblieben ist, sondern sich Pogrome während des . und . Jahrhunderts auch im muslimischen Nordafrika, im Irak, in Aden und anderen Orten ereigneten.31

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 







Historical Journal , , S. -; Pierre Birnbaum, Le moment antisémitique, Paris . Lionella Neppi Modona Viterbo/Sonia Oberdorfer, : Un Pogrom in Toscana, in: La Rassegna Mensile di Israel, Vol. /, : -; Jean-Pierre Filippini, Difesa della Patria e odio degli ebrei. Il Tumulto del  Luglio  a Livorno, in: Ricerce Storico , S. ; Salvatore Foa, Il ’ e gli Ebrei d’Acqui, in: Il Vessillo Israelitico , , S. -; Ulrich Wyrwa, Sozialer Protest und antijüdische Gewalt. Die Unruhen in der Toskana, in: Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus, Festgabe für Arno Herzig zum . Geburtstag, hrsg. von Jörg Deventer u. a., Münster , S. -. Zu Wales: Geoffrey Alderman, The Anti-Jewish Riots of August  in South Wales, in Welsh History Review , , S. -; Kushner, Anti-Semitism and Austerity. Antony Polonsky, A Failed Pogrom: The Demonstration in Lwów, June , in: The Jews of Poland between Two World Wars, hrsg. von Israel Gutman et al., Hanover, London , S. -; Joanna Michlic-Coren, Anti-Jewish Violence in Poland - and -, in: Polin , , S. -; Stanislaw Meducki, The Pogrom in Kielce on  July , in: Polin , , S. -; Joanna Tokarska-Bakir, Cries of the Mob in the Pogroms of Rzeszów (June ), Cracow (August ) and Kielce (July ) as a Source for the State of Mind of the Participants, in: East European Politics and Societies /, , S. -; Eva Reder, Im Schatten des polnischen Staates: Pogrome - und / – Auslöser, Bezugspunkte, Verlauf, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa /, , S. -. Vgl. Leonard Dinnerstein, Anti-Semitism in America, Oxford . Antijüdische Gewaltaktionen deutschstämmiger Nationalsozialisten in den USA am . und . November  sind wohl kaum von größerer Bedeutung gewesen. Vgl. Cornelia Wilhelm, Bewegung oder Verein? Nationalsozialistische Volkstumspolitik in den USA, Stuttgart . Zu den Riots gegen Chinesen in den USA: Roger Daniels (Hrsg.), Anti-Chinese Violence in North America: An Original Anthology, New York ; Craig Storti, Incident at Bitter Creek: The Story of the Rock Springs Chinese Massacre, Ames ; gegen African-Americans siehe: Charles Crowe, Racial Massacre in Atlanta September , , in: Journal of Negro History , , S. -; Elliott Rudwick, Race Riot at East St. Louis, July , , Urbana ; Dominic J. Capeci/Martha Wilkerson, Layered Violence. The Detroit Riot of , Jackson und London ; Roberta Senechal de la Roche, The Sociogenesis of a Race Riot: Springfield, Illinois, in , Urbana . Goldberg, Rites and Riots, ; Richard Ayoun, A propos du pogrom de Constantine (Aout ), in: Revue des Etudes juives , , S. -; ders., Les Juifs d’Algerie. De la dhimma a la naturalisation française, in: Les Temps Modernes, No. , , S. ; zum Pogrom (Farhud) in Bagdad : Hayyim Cohen, The Anti-Jewish Farhud in

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Was die deutsch-jüdische Geschichte angeht, so hat sich die Forschung schon seit den frühen er Jahren mit der nationalsozialistischen Gewalt gegen Juden im Jahre , der »Reichskristallnacht«, befasst, zu der inzwischen eine unübersehbare Zahl an lokalhistorischen, regionalen und landesweiten Studien vorliegt.32 Doch erst in den letzten dreißig Jahren finden wir eine wachsende Zahl von Arbeiten, die sich entweder mit einzelnen antijüdischen Gewaltaktionen im . oder . Jahrhundert befassen oder die Ereignisse einer bestimmten Periode untersuchen. Forschungsschwerpunkte bilden einmal die frühe Phase der Judenemanzipation in Deutschland in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts, die von Wellen antijüdischer Gewalt begleitet war,33 sowie Arbeiten zu Fällen kollektiver antijüdischer Gewalt im Kaiserreich,34 in der Weimarer Republik35 und im »Dritten Reich« vor .36



 





40

Baghdad , in: Middle Eastern Studies , , S. -; Elie Kedouri, The Sack of Basra and the Farhud in Baghdad, London , S. -; Zvi Yehuda/Shmuel Moreh (Hrsg.), Al-Farhud: the  Pogrom in Iraq, The Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism,  (hebr. ); zu Aden Tudor Parfitt, The Road to Redemption: The Jews of the Yemen -, Leiden . Hermann Graml, Reichskristallnacht, Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich, München  (zuerst ); in den letzten Jahren sind neben zahlreichen Lokalstudien auch noch eine ganze Reihe von übergreifenden Darstellungen erschienen: Wolfgang Benz, Der Novemberpogrom , in: ders. (Hrsg.), Die Juden in Deutschland -. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, München , S. -; Dieter Obst, »Reichskristallnacht«. Ursachen und Verlauf des antisemitischen Pogroms vom November , Frankfurt a. M., Bern ; Arno Kropat, Kristallnacht in Hessen. Der Judenpogrom vom November . Eine Dokumentation, Wiesbaden: Schriftenreihe der Kommission für die Geschichte der Juden, Bd. : . Den Forschungsstand kurz zusammenfassend: Gross, November . Erb/Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier; Gerson, Die Ausschreitungen gegen die Juden im Elsaß. Vgl. die von den Hep-Hep-Ausschreitungen von  bis zu den Novemberpogromen reichende Zusammenstellung in Hoffmann/Bergmann/Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence; Christoph Nonn, Zwischenfall in Konitz. Antisemitismus und Nationalismus im preußischen Osten um , in: Historische Zeitschrift , , S. -; ders., Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen ; Helmut W. Smith, Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen ; Martin Ulmer, Antisemitische Massenkrawalle in Stuttgart – Anlass, Verlauf, Diskurse und Ursachen, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, , , S. -. Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland -, Hamburg ,  f.; Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt; Cornelia Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn ; hier bringen Lokal- und Regionalstudien immer wieder neue Fälle antijüdischer Übergriffe ans Licht, z. B. Jon Gunnar Mølstre Simonsen, Perfect Targets – Antisemitism and Eastern Jews in Leipzig, -, in: Leo Baeck Institute Year Book , , S. -. Michael Wildt, Gewalt gegen Juden in Deutschland  bis , in: WerkstattGeschichte , , S. -; dazu frühere Arbeiten zusammenfassend: ders., Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz  bis , Hamburg . Als eine frühe Studie zu den »Kudamm-Krawallen« siehe Moshe Gottlieb, The

ZUM GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHEN FORSCHUNGSSTAND

Auch wenn es sich bei den NS-Gewaltverbrechen seit Beginn des Zweiten Weltkrieges primär um organisierten Massenmord handelt, in den Fälle von Pogromgewalt eingelagert waren, so hat doch die Diskussion über die näheren Umstände der Mordaktionen der SS-Einsatzgruppen und der Polizeibataillone an der jüdischen Bevölkerung in Polen und in der Sowjetunion sowie über die Beteiligung der deutschen Wehrmacht an diesem Geschehen, die von Christopher Browning, Daniel J. Goldhagen und anderen ausgelöst wurde, eine wichtige Rolle für die Hinwendung der Wissenschaft zur Geschichte der antijüdischen Gewalt vor  gespielt.37 Die in die Frühphase des Feldzuges gegen die Sowjetunion eingebetteten Pogrome, die unter Mitwirkung der einheimischen Bevölkerung im Zuge der deutschen Besetzung der osteuropäischen Staaten geschahen,38 und diejenigen, die sich kurz vor dem Krieg in autoritär regierten Staaten wie Rumänien abspielten, sind erst seit kurzem Gegenstand intensiverer Forschungen.39 Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete jedoch nicht das Ende kollektiver antijüdischer Gewalt in Europa. War das Pogrom von Kielce im Jahre  noch recht gut bekannt, so werden erst in den letzten Jahren die Ausschreitungen gegen die kurz vor oder nach Kriegsende in ihre Heimatländer zurückkehrenden Juden in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei näher erforscht,40 dies gilt

 

 

Berlin Riots of  and Their Repercussions in America, in: American Jewish Historical Quarterly , , S. -. Browning, Ganz normale Männer; Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Vgl. die heftige Diskussion und weiteren Forschungen, die das Buch von Jan T. Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München , in Polen ausgelöst hat. Auch Andrzej Zbikowski, Local Anti-Jewish Pogroms in the Occupied Territories of Eastern Poland, June-July , in: Lucjan Dobroszycki/Jeffrey S. Gurock (Hrsg.), The Holocaust in the Soviet Union. Studies and Sources on the Destruction of Jews in the Nazi Occupied Territories of the UdSSR, -, New York , S. -. Die Befunde gehen hinsichtlich der Frage des Anteils der einheimischen Bevölkerung und der deutschen Seite für Litauen und für Galizien bis heute auseinander, vgl. Yitzhak Arad, The Murder of the Jews in German-Occupied Lithuania (-), in: Alvydas Nikžentaitis/Stefan Schreiner/Darius Staliūnas (Hrsg.), The Vanished World of Lithuanian Jews, Amsterdam, New York , S. -; Arūnas Bubnys, The Holocaust in Lithuania: An Outline of the Major Stages and their Results, in: ebd., S. -; Christoph Dieckmann, Pogrome in Litauen im Sommer , in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung , , S. ; Miroslaw Tryczyk, Miasta Smierci. Sasiedzkie pogromy Zydów, Warschau ; Jeffrey S. Kopstein/Jason Wittenberg, Intimate Violence. Anti-Jewish Pogroms on the Eve of the Holocaust, Ithaca ; Grzegorz Rossoliński-Liebe, Der Verlauf und die Täter des Lemberger Pogroms vom Sommer . Zum aktuellen Stand der Forschung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung , , S. -. Zum Letzteren vgl. Radu Ioanid, The Pogrom of Bucharest - January , in: Holocaust and Genocide Studies /, , S. -; Markus Bauer, Zur Geschichte eines »Pogroms« – Iaşi, Juni , in: Aschkenas, /, , S. -. Marc Hillel, Le Massacre des Survivantes en Pologne -, Paris ; David Engel, Patterns of Anti-Jewish Violence in Poland, -, in: Yad Vashem Studies , , S. -; Juliane Wetzel, Der Pogrom von Kielce und der jüdische Massenexodus aus Polen, in: Beate Kosmala (Hrsg.), Die Vertreibung der Juden aus Polen . Antisemitis-

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ANTISEMITISMUS UND KOLLEKTIVE ANTIJÜDISCHE GEWALT

auch für Vorfälle in Westeuropa, etwa in Großbritannien in den späten er Jahren.41 Insgesamt ist nach  für die europäischen Länder aufgrund der staatlichen Kontrollpolitik ein Formwandel der antijüdischen Gewalt zu beobachten, die sich nun zumeist gegen Objekte des Gedenkens an die Verfolgung der Juden, gegen jüdische Friedhöfe oder andere jüdische Einrichtungen (Gemeindehäuser, Synagogen) richtet, die beschmiert oder beschädigt werden, und seltener gegen einzelne Juden bzw. die Juden als Kollektiv. Fälle terroristischer Anschläge auf Juden bzw. jüdische oder israelische Einrichtungen gingen vor allem in den -er Jahren auf das Konto palästinensischer Terrorkommandos. In den letzten Jahren erleben wir Terroranschläge durch Anhänger des radikalen Islamismus in westeuropäischen Ländern, die sich in mehreren Fällen auch oder aber allein gegen Juden richteten. Seltener gingen Anschläge auf das Konto einheimischer rechtsextremer oder linksextremer Gruppen, deren Identifikation mit der PLO bei einigen Terrorgruppen in den er Jahren in Anschläge auf jüdische Einrichtungen und in der Zusammenarbeit mit dem arabischen Terrorismus mündeten.42 Gewalt gegen einzelne Juden oder jüdische Einrichtungen, die in den letzten zehn Jahren wieder deutlich häufiger als zuvor auftritt, wird in vielen europäischen Ländern (mehr oder weniger genau) dokumentiert und polizeilich verfolgt.43

mus und politisches Kalkül, Berlin , S. -; zu Kielce auch Klaus-Peter Friedrich, Antijüdische Gewalt nach dem Holocaust. Zu einigen Aspekten des Judenpogroms von Kielce, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung , , S. -; Tokarska-Bakir, Pogrom Cries; antijüdische Tumulte gab es in der frühen Nachkriegszeit auch in der Slowakei und Ungarn sowie vor allem gegenüber den Displaced Persons in Deutschland und Österreich: Helga Embacher, Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach , Wien . Zu Fällen in Polen, Ungarn, Rumänien und der Slowakei siehe Wolfgang Benz/Brigitte Mihok (Hrsg.), »Juden unerwünscht«. Anfeindungen und Ausschreitungen nach dem Holocaust, Berlin .  Tony Kushner: Anti-Semitism and Austerity: the August  Riots in Britain, in: Panikos Panayi (Hrsg.), Racial Violence in Britain -, Leicester , S. -.  Zum linksextremen Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg .  Zur Statistik der Straf- und Gewalttaten heute vgl. die European Union Federal Agency for Fundamental Rights, Antisemitism. Summary Overview of the Situation in the European Union -, November ; aktuell für Deutschland: Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen. Bericht im Auftrag des Deutschen Bundestages, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Berlin , Kap. .

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. Pogrome als Form kollektiver interethnischer Gewalt: Einige theoretische Überlegungen . Kollektive interethnische Gewalt Gegen die im vorstehenden Kapitel geschilderte Dominanz des modernisierungstheoretischen Paradigmas hat sich seit den er Jahren eine neue Sichtweise zu entwickeln begonnen, die ethnische Gruppen nicht mehr als Ausläufer vormoderner Gesellschaften betrachtet, sondern als wichtiges Vehikel der Interessenvertretung und Konfliktaustragung in modernen, pluralistischen Gesellschaften, deren Bedeutung gerade in den letzten Jahrzehnten wieder deutlich gewachsen ist.1 Gesellschaftliche Konflikte entlang nationaler und ethnischer Differenzierung werden nun geradezu als ein Produkt der sich demokratisierenden und nationalisierenden Gesellschaften seit dem ausgehenden . Jahrhundert verstanden2 und nicht mehr als bloße Epiphänomene ökonomischer Interessen und Widersprüche.3 Man nimmt an, dass in einer Gesellschaft Konflikte sowohl vertikal zwischen den verschiedenen Schichten oder Klassen als auch horizontal zwischen ethnischen Gruppen auftreten können, so dass ein zweidimensionaler Ansatz zur Analyse pluraler Gesellschaften nötig ist. Entsprechend werden Interessenkonflikte von kulturellen oder ethnischen Konflikten unterschieden, wobei die Grenzen zwischen diesen Typen in der gesellschaftlichen Realität fließend sind, da sich Spannungen zwischen ethnischen Gruppen sowohl aus Differenzen von Status und Machtposi-

 Micheal W. Giles/Arthur Evans, The Power Approach to Intergroup Hostility, in: Journal of Conflict Resolution , , S. -; dies., External Threat, Perceived Threat, and Group Identity, in: Social Science Quarterly , , S. -; Susan Olzak, Causes of Ethnic Conflict and Protest in Urban America, -, in: Social Science Research , , S. -; kritisch zu dieser Theorie Stewart E. Tolnay et al., Black Lynchings: The Power Threat Hypothesis Revisited, in: Social Forces , , S. -; klassisch dazu: Frederick Barth (Hrsg.), Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Cultural Differences, Boston ; G. P. Ghai (Hrsg.), Autonomy and Ethnicity. Negotiating Claims in Multi-Ethnic States, Cambridge .  Zu Ansätzen, die gerade moderne Plural Societes als anfällig für ethnische Konflikte einschätzen, vgl. Mann, Die dunkle Seite der Demokratie; Christian P. Scherer, Ethno-Nationalismus im Zeitalter der Globalisierung, Münster . Engel, What’s in a Pogrom? S. , weist auf die Rolle von Ethnizität und Religion als Statusmerkmale in »divided societies« hin, da in Konflikten die Handlungen in diesen Gesellschaften nicht individuell zugerechnet werden, sondern das Verhalten der untergeordneten Opfergruppe entlang bestehender Vorurteile interpretiert wird.  Der Bezug auf kulturelle Differenzen wurde als »falsches Bewusstsein« abgetan. Dazu Theodor Hanf, The Prospects of Accomodation in Communal Conflicts: A Comparative Study, in: Bildung in sozioökonomischer Sicht, Festschrift für Hasso von Reccum, hrsg. von Peter A. Döring et al., Köln , S. -, S. .

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tionen wie aus unterschiedlichen Wertsystemen, kulturellen Praxen und Ideologien ergeben können. Als ethnische Gruppe bezeichnet man Gruppen von Menschen, die auf der Basis von gemeinsamer Sprache, Abstammung, Wirtschaftsweise, Geschichte, Kultur, Religion oder Verbindung zu einem bestimmten Gebiet eine eigenständige Identität als Wir-Gruppen entwickelt haben.4 Gegenüber einem essentialistischen oder primordialen Verständnis von Ethnizität, das eine exklusive und zeitlose Identität auf der Grundlage eines klar abgegrenzten Territoriums und einer geteilten »Kultur, verbunden mit klaren Merkmalen wie Sprache, Kunst, Religion aller Angehörigen annimmt, hat sich heute eine konstruktivistische Sichtweise durchgesetzt, die betont, dass die Angehörigen solcher Gruppen sich als Wir-Gruppe – allerdings nicht isoliert, sondern in Interaktion mit anderen Gruppen – in einem historischen diskursiven Prozess konstituiert haben, womit zugleich die Wandelbarkeit von Ethnien betont wird. »Contrary to the common-sense reifications of people’s own discourses, and the rhetoric of ethnic activists as well as anthropology textbooks, ethnic identity is determined not by massive facts of shared culture and shared history, but instead in each case by a more limited set of criteria«.5 Die Zugehörigkeit zur Gruppe, die für Gruppenmitglieder wie für die Umwelt erkennbar sein muss, entsteht durch geteilte kulturelle Werte, die sich in einem gemeinsamen Feld der Kommunikation und der Interaktion konstituieren und sich in kulturellen Zeichen manifestieren. Sowohl für Klassen- wie für ethnische Konflikte gilt die Voraussetzung, dass die Existenz von Schichtung und kulturellen Differenzen allein nicht ausreicht, sondern dass diese Gruppen ein Bewusstsein ihrer Eigenart als Klassen oder ethnische Gruppen entwickelt haben und sich so von anderen abgrenzen. Doch nicht nur das Modernisierungs- und Zivilisierungsparadigma hat die Beschäftigung mit ethnischer Gewalt in Form von Pogromen lange Zeit behindert, sondern auch die Tatsache, dass unter dem Begriff »ethnische Gewalt« ganz heterogene Phänomene zusammengefasst werden und es bis heute auf diesem Gebiet vielfach noch an gesicherten theoretischen und begrifflichen Differenzierungen fehlt, zumal der Begriff von »Ethnizität« selbst alles andere als klar definiert ist.6 Kollektive ethnische Gewalt kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, die von lokaler Gewalt in Form von Lynchaktionen über Ausschreitungen der dominanten Gruppe gegen eine Minderheit (Pogrome) und der Minderheit gegen die Mehrheitsgesellschaft (Rassenunruhen, religiös motivierte Unruhen) bis hin zu  Georg Elwert, Ethnie, in: Christian F. Feest/Hans Fischer/Thomas Schweizer (Hrsg.), Lexikon der Völkerkunde, Stuttgart , S.  f.  Frederik Barth, Overview: Sixty Years in Anthropology /, , S. -, hier S. .  Peter Waldmann, Gesellschaften im Bürgerkrieg. Zur Eigendynamik entfesselter Gewalt, in: Zeitschrift für Politik , , S. -, hier S. ; vgl. auch Edward W. Walker, Ethnic War, Holy War, War O’ War: Does the Adjective Matter in Explaining Collective Political Violence? Berkeley Program in Soviet an Post-Soviet Studies, University of California, Berkeley  (https://pdfs.semanticscholar.org/e/ffccdcc eaff bf.pdf (eingesehen am ..).

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KOLLEKTIVE INTERETHNISCHE GEWALT

organisierten Formen wie Vigilantismus, Terrorismus, Massakern, Bürgerkriegen und schließlich Genoziden reichen. Es ist deshalb wichtig, genauer zwischen den zu erklärenden Gewaltformen zu unterscheiden. Brubaker und Laitin plädieren denn auch ebenso wie Robin W. Williams für eine Disaggregierung der zu erklärenden Gewaltformen.7 Die Variationen zwischen diesen Gewaltformen ergeben sich m. E. in folgenden Dimensionen:8 ) im Gewaltobjekt: die Adressaten kollektiver Gewalt können entweder einzelne Mitglieder einer anderen Gruppe oder die Gruppe als Ganze bzw. deren materieller Besitz sein; ) in der Richtung der Gewalt: sie kann von Mitgliedern der Mehrheit gegen eine Minderheit oder umgekehrt von einer Minderheit gegen die Mehrheit bzw. die Staatsorgane ausgeübt werden oder in einem Kampf zweier ungefähr gleichstarker Gruppen miteinander bestehen; ) im Organisationsgrad auf Seiten der Gewalttäter wie der Opfer: kollektive Gewalt kann auf beiden Seiten mehr oder weniger hoch organisiert bzw. nicht-organisiert/»emergent« sein; ) in der Rolle dritter Parteien: Der Staat und seine Kontrollorgane (»Ordnungspartei«) können sich ganz unterschiedlich verhalten: sie können die Gewalt selbst ausüben (Massaker, Genozid), sie anstiften oder sie geschehen lassen oder – am anderen Ende des Kontinuums – sie mit allen Mitteln unterdrücken. ) Auch die Rolle der Zuschauer (bystanders) nimmt Einfluss auf den Verlauf der Gewaltaktionen.

 Brubaker/Laitin, Ethnic and Nationalist Violence, S. ; Robin W. Williams Jr., The Sociology of Ethnic Conflicts: Comparative International Perspectives, in: Annual Review of Sociology , , S. -, S. .  Vgl. die Entwicklung von ähnlichen Kategorien für die Formen des sozialen Protests in der Protestforschung: Dauer, Grad der Beteiligung, die verwendeten Mittel, Grad der Gewaltsamkeit, Organisationsgrad des Protests, Konfliktparteien (Protestpartei und Ordnungspartei) und Protestobjekt, d. h. die Adressaten von Gewalt. Siehe dazu: Heinrich Volkmann, Kategorien des Protests im Vormärz, in: Geschichte und Gesellschaft , , S. -, hier S. -.

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. Was ist ein Pogrom? – Definitionsprobleme Wie man Pogromgewalt hinsichtlich dieser fünf Dimensionen zu definieren hat, wird in der Wissenschaft bis heute unterschiedlich beantwortet. Der Begriff Pogrom bezeichnet eine umfassende Zerstörung, die sowohl von der Natur wie vom Menschen ausgehen kann.1 Erst in der Welle antijüdischer Pogrome der er Jahre setzte sich der Begriff, wohl wegen seines archaischen Klangs, zunächst in der Publizistik des Zarenreiches durch, während die Behörden weiterhin den üblichen Terminus »besporjadki« (беспорядки/Unruhe) für die Ausschreitungen benutzten, um damit die Störung der öffentlichen Ordnung hervorzuheben.2 Die Verwendung des Begriffs Pogrom ist historisch relativ jung und setzte sich international erst nach dem Pogrom von Kishinev im Jahre  für die Bezeichnung der antijüdischen Gewalt in Russland durch.3 Von seinem zeitgenössischen Verständnis her verband sich, wie John D. Klier in seinem grundlegenden Artikel »The Pogrom Paradigm in Russian History«4 ausführt hat, der Begriff Pogrom mit der Vorstellung von staatlich gelenkten Ausschreitungen gegen Juden im Zarenreich, denen zudem ein hohes Gewaltniveau zugeschrieben wurde. Die Begriffsentwicklung ging im . Jahrhundert dann in zwei Richtungen: In der Sowjetunion verlor der Begriff Pogrom seine Verknüpfung mit antijüdischen Ausschreitungen und wurde für politische Unruhen mit reaktionärem Charakter sowie ab  für Episoden interethnischer Gewalt benutzt, während im Westen die gedankliche Verbindung zu antijüdischer Gewalt erhalten blieb und die staatliche Planung oder Billigung sowie das hohe Gewaltniveau betont wurden.5 Nach Wiese haben sich im Pogrom Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  f.  Von Zeitgenossen wurden die Pogrome auch als Demonstrationen, Verfolgung oder Kampf bezeichnet. Siehe Hans Rogger, Conclusion and Overview, in: John D. Klier/Shlomo Lambroza (Hrsg.), Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge, New York , S. -.  Die AZJ verwendet für die Pogromwelle der er Jahre den Pogrombegriff nicht, sondern spricht von Judenverfolgungen, Unordnung, Krawallen, Exzessen usw. Dies bestätigt für die deutsche Presse auch Sonja Weinberg: »The term ›pogrom‹ was not yet used in the German press in the s – neither for collective anti-Jewish violence in Germany nor for similar occurrences in Russia« (Germania and the Anti-Jewish Riots in Germany and Russia, -, in: Leo Baeck Institute Year Book , , S. -, hier S. ). Vgl. dazu auch ihr Buch: Pogroms and Riots. German Press Responses to Anti-Jewish Violence in Germany and Russia (-), Frankfurt a. M. .  John D. Klier, The Pogrom Paradigm in Russian History, in: Klier/Lambroza (Hrsg.), Pogroms, S. -.  In Webster’s Third New International Dictionary (Springfield, IL ) wird Pogrom definiert als »an organized massacre and looting of helpless people, usually with the connivance of officials, specifically, such a massacre of Jews«, während das Oxford English Dictionary () ebenfalls von einem »organisierten Massaker« in Russland spricht, das sich allerdings nicht allein gegen Juden richten muss, sondern die »destruction or annihilation of any body or class« meint. Das Kennzeichen von Riots sieht das Dictionary in der Gewaltanwendung und der aktiven Verletzung der staatlichen Rechtsordnung seitens der Bevölkerung.

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begriff bis heute drei Elemente erhalten: die Fokussierung auf Juden, Steuerung oder zumindest Duldung von oben sowie eine Exotisierung. Impliziert ist damit die Zuschreibung einer spezifischen Qualität durch die Verbindung zur skrupellosen »Petersburger Despotie« und ihren »zu allen Grausamkeiten fähigen Untertanen« sowie die Verbindung zum damals als rückständig, unzivilisiert und grausam geltenden Russischen Reich.6 Das Definitionsmerkmal »staatliche Lenkung« geht jedoch auf ein historisch unzutreffendes Urteil über die russischen Pogrome der frühen er Jahre zurück, die tatsächlich als spontane Unruhen anzusehen sind. Klier hat als gemeinsames Kennzeichen der russischen Pogromwellen deren spontanen und konfusen Charakter, das Fehlen langfristiger Ziele, ihren städtischen Ursprung herausgearbeitet und, wie generell in der neueren Forschung, ihre staatliche Lenkung verneint.7 Während einige Autoren (wie Paul R. Brass) dem älteren Begriffsverständnis anhängen und mit dem Kriterium der staatlichen Lenkung und Beteiligung ein Pogrom von einem spontanen Riot unterscheiden wollen,8 liegt Donald L. Horowitz in seinem bahnbrechenden Buch über »The Deadly Ethnic Riot« auf der Linie Kliers und rechnet zu den wesentlichen Kennzeichen von »deadly ethnic riots« ihre sehr unregelmäßige Zusammenballung in Raum und Zeit, ihren relativ spontanen Charakter (obwohl Elemente von Organisation und Planung nicht fehlen müssen), die Auswahl der Opfer auf Grund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie und die Äußerung einer leidenschaftlichen Ablehnung der anderen Gruppe.9 Er unterscheidet diese Form einer »mass civilian inter-group violence in which victims are chosen by their group membership« von anderen Formen wie Genozid, Lynchen, gewaltsamem Protest, Fehden und Bürgerkrieg.10 Die frühere Einengung des Begriffs auf antijüdische Gewalt ist heute aufgegeben worden. Demnach können Menschen, die entweder einer abgrenzbaren gesellschaftlichen Gruppe angehören oder aber von den Tätern einer realen bzw. vermeintlichen gesellschaftlichen Gruppe zugeordnet werden, zu Opfern eines

  

 

In deutschen Lexika wird Pogrom sehr allgemein als »Hetze mit Gewalttaten gegen eine Gruppe der Bevölkerung« definiert, im Nachsatz wird dann auf die Pogrome gegen Juden verwiesen (Brockhaus ). Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . Klier, The Pogrom Paradigm, S. . »When it can be proved that the police and the state authorities more broadly are directly implicated in a ›riot‹, in which one community provides the principal or sole victims, then, of course, one is confronted with a pogrom, in which the victims were targeted by the state itself or its agents« (Paul R. Brass, Introduction: Discourses of Ethnicity, Communalism, and Violence, in: ders. (Hrsg.), Riots and Pogroms, Hampshire , S. -, hier S. ). In seiner Erörterung über die Abgrenzung von »Riot or Pogrom« nimmt er seinen eigenen Definitionsvorschlag aber partiell wieder zurück, da weder der Begriff Riot noch der des Pogroms die Dynamik von Massengewalt erfassen könne, die immer Elemente von Spontaneität sowie von Planung und Organisation enthielten. Er kommt zu dem Schluss, dass »it is quite fruitless in such situations to seek to define a situation precisely as either a riot or a pogrom« (ebd., S. ). Horowitz, Deadly Ethnic Riot, S. . Ebd., S.  ff.

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Pogroms werden. Stefan Wiese weist zu Recht die Engführung auf ethnische Gruppen zurück, da auch soziale und politische Gruppen, wie die »Intelligenzija« oder aber Ärzte in Cholera-Ausschreitungen, zu Opfergruppen werden können,11 doch dürften ethnisch-religiöse Gruppen das primäre Ziel dieser Gewaltform darstellen. Für unseren Fall der antijüdischen Pogrome richtet sich die Gewalt jedenfalls gegen eine ethnische Minderheit. Die deutschen Begriffe Unruhe, Ausschreitung, Krawall, Tumult und Exzess lassen ebenso wie die englischen »riot«, »disturbance« oder »turmoil« die spezifische Konfliktkonstellation nicht erkennen. Gary T. Marx hat bereits  beklagt, dass man zwar Riots von Revolutionen und Revolten abgegrenzt habe, dass es aber wenig Versuche gebe, sich systematisch mit verschiedenen Typen von Riots zu beschäftigen.12 Häufig wird unter dem Begriff »riot« oder »race riot« sowohl die kollektive Gewalt seitens einer sich benachteiligt fühlenden ethnischen Gruppe verstanden, die sich gegen den Staat oder die Mehrheitsbevölkerung auflehnt, als auch der gewaltsame Übergriff seitens der Mehrheit gegen eine ethnische Minderheit. Morris Janowitz hat deshalb vorgeschlagen, entsprechend zwischen »commodity riots«, in denen die Bevölkerung gegen die Staatsmacht und gegen andere »Unterdrücker« vorgeht, brennt und plündert, von »communal riots« zu unterscheiden, in denen eine ethnische Gruppe eine andere angreift (»interracial clash«). In den »property« oder »commodity riots« wird Gewalt gegen Personen mehrheitlich gegen die bzw. von der Polizei verübt, während in den »communal riots« die Angehörigen einer anderen ethnischen Gruppe und ihr Besitz angegriffen werden.13 Pogrome gehören zum Typ der »communal riots«, von Janowitz auch »contested area riots« genannt, da es um Konflikte im lokalen Raum geht.14 Damit ist allerdings noch nichts über das Zahlen- und Machtverhältnis zwischen den involvierten ethnischen Gruppen ausgesagt. Susan Olzak unterscheidet in diesem Sinne ebenfalls zwischen ethnischen Konflikten, in denen Teile der Majorität eine minoritäre Ethnie angreifen, und solchen zwischen zwei ethnischen Minderheiten, ohne allerdings eine begriffliche Differenzierung vorzuschlagen.15 Pogrome setzen offenbar eine Quantitäts-, Macht- oder aber unterstellte Statusdifferenz, also eine Asymmetrie zwischen Angreifer und angegriffener Gruppe (Gewaltobjekt)  Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. .  Gary T. Marx, Issueless Riots, in: James F. Short Jr./Marvin E. Wolfgang (Hrsg.), Collective Violence, Chicago, New York , S. -, hier S. .  Morris Janowitz, Social Control of Escalated Riots, Chicago ; für Clark McPhail, der noch die Typen »Police Riots«, »Celebration Riots« und »Protest Riots« hinzufügt, unterscheiden sich diese Riots nach ihren Akteuren, Zielen, Aktionsformen und Ursachen (Presidential Address. The Dark Side of Purpose: Individual and Collective Violence in Riots, in: Sociological Quarterly , , S. -, S. ).  Morris Janowitz, Patterns of Collective Racial Violence, in: Hugh Davies Graham/Ted R. Gurr (Hrsg.), The History of Violence in America. Historical and Comparative Perspectives, New York , S. -, S. .  Susan Olzak, The Dynamics of Ethnic Competition and Conflict, Stanford , S. .

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voraus.16 Anders sieht dies Jakob Rösel, der auch gewaltsame Ausschreitungen bei ungefähr gleicher Gruppenstärke als Pogrome bezeichnet.17 Hier besteht in der Forschung noch kein begrifflicher Konsens. Die Begriffsverwendung ist in der Literatur also uneinheitlich, doch besteht insoweit Einigkeit, Pogrome als eine spezifische Art von Ausschreitungen zu definieren und deshalb einerseits gegen die Form des Massakers sowie gegen andere Formen von Unruhen abzugrenzen. Allerdings werden Pogrom und Massaker häufig – wie etwa in den oben angeführten lexikalischen Definitionen – nicht unterschieden und als »mass murder, often implicating the state (or allowed to be killed) some members of a collectivity or category, usually a communal group, class, or political faction« definiert.18 Tatsächlich sind Massaker und Pogrome nicht immer leicht abzugrenzen: In beiden Fällen handelt es sich um einseitige, kollektive Angriffe auf eine unterlegene Opfergruppe. Die Differenzen liegen im höheren Organisations- und Bewaffnungsgrad der Angreifer (häufig Armee- oder Polizeieinheiten) im Fall des Massakers und in ihrer Absicht, die Angehörigen der angegriffenen Gruppe (oder zumindest die männlichen Mitglieder) zu töten,19 wohingegen die pogromtypischen Momente einer kurzfristig im lokalen Rahmen handelnden Menschenmenge und der sich zumeist auf Zerstörung und Plünderung von Besitz beschränkenden Gewalt keine wesentliche Rolle spielen. In dieser Arbeit steht der Begriff Pogrom als Bezeichnung für eine bestimmte Gewaltkonstellation (zur Definition s. u., S. ). Zwar werden in den folgenden historischen Fallanalysen häufig Begriffe wie Ausschreitung, Unruhe, Exzess, Tumult oder Krawall verwendet, doch sind sie typologisch alle als Pogrome anzusehen. Der Pogrombegriff wird aus zwei Gründen nicht durchgängig verwendet. Einmal weil er in gewisser Weise für das . Jahrhundert anachronistisch ist, denn als Begriff findet er erst für die antijüdischen Ausschreitungen im Zarenreich in den frühen er Jahren Anwendung und wird international sogar erst im frühen . Jahrhundert gebräuchlich. Entsprechend werden kollektive Gewaltaktionen gegen Juden in den zeitgenössischen Quellen auch nicht als Pogrome, sondern mit den in dieser Arbeit verwendeten Begriffen (Judenverfolgung, Unruhen, Exzesse, Tumulte oder  Diese Differenz betont neuerdings auch David Engel in seinem Versuch, ein Pogrom zu definieren: »Moreover, all involved collective violent applications of force by members of what perpetrators believed to be the higher-ranking ethnic or religious group against members of what they considered a low-ranking or subaltern group« (What’s in a Pogrom? S. ).  Rösel, Vom ethnischen Antagonismus zum ethnischen Bürgerkrieg, S.  ff.  Robert Melson, Revolution and Genocide. On the Origins of the Armenian Genocide and the Holocaust, Chicago , S. ; L. Alex Swan spricht im Fall der Übergriffe von Weißen gegen Schwarze in St. Louis () ebenfalls von Massaker (The Politics of Riot Behavior, Washington D. C. , S. ); Brass plädiert im Fall der Ausschreitungen gegen Sikhs in Neu Delhi im November  dafür, nicht von Riot, sondern von Massaker zu sprechen, da die Aktionen angestiftet, geplant und dirigiert worden seien (Brass, Riots and Pogroms, S. ).  Mark Levene, Introduction, in: Levene/Roberts (Hrsg.), Massacres in History, S. .

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Krawalle) bezeichnet. Zum anderen haftet dem Pogrombegriff noch immer die Bedeutung einer besonders gewalttätigen, zahlreiche Todesopfer fordernden und große materielle Zerstörungen anrichtenden Form kollektiver Gewalt an. Da dies für die ganz überwiegende Zahl der hier untersuchten Fälle nicht zutrifft, werden wahlweise Begriffe verwendet, die dem jeweiligen Geschehen entsprechen. Deshalb wurde mit der Klimax »Tumulte – Excesse – Pogrome« ein Buchtitel gewählt, der der Differenzierung der kollektiven Gewaltaktionen in Zeit, Raum und Ausmaß Rechnung trägt.20

 Darius Staliūnas hat kürzlich eine Ergänzung meiner Pogromdefinition um die Dimensionen Zeit, Ausmaß und Raum vorgeschlagen, um eher alltägliche »small scall domestic conflicts« von Pogromen als außergewöhnlichen Ereignissen zu unterscheiden, wobei Erstere leicht in Letztere münden können. Ein Pogrom im vollen Sinne würde also durch eine Dauer von wenigstens einigen Stunden, mit der Teilnahme von einigen Dutzend Personen und der Lokalisierung an einem öffentlichen Ort wie einem Marktplatz oder der Ausbreitung über eine gewisse Wohngegend definiert sein (Introduction, in: ders., Enemies for a Day. Antisemitism and Anti-Jewish Violence in Lithuania under the Tsars, Budapest, New York , S. -, hier S.  f.).

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. Bausteine zu einer Soziologie des Pogroms In der Soziologie sind Ansätze vorhanden, die Erklärungen für ethnische Konflikte und Ausschreitungen des Pogromtyps liefern und an die das hier von mir entwickelte Pogrom-Modell anschließt, in dem eine Reihe sonst getrennter Ansätze kombiniert werden. Da Pogrome eine kollektiver Gewaltaktion darstellen, soll hier kurz der von mir verwendete Gewaltbegriff skizziert werden. Da in den Sozialwissenschaften kein Konsens über den Gewaltbegriff besteht,1 folge ich dem Rat von Felix Schnell, den Begriff aus forschungspragmatischen Überlegungen heraus selbst festzulegen.2 Ich folge hier einem engen Gewaltbegriff und definiere die Ausübung von Gewalt im Anschluss an Ronald Hitzler handlungstheoretisch als eine intentional ausgeübte sinnhafte Tätigkeit, die dem handelnden Subjekt dazu dient, »durch wie auch immer gearteten Einsatz von wie immer auch gearteten Zwangsmitteln ein bestimmtes Verhalten [des Gewaltobjekts, W. B.] zu begrenzen, zu verändern, zu unterdrücken oder hervorzurufen«.3 In unserem Fall ist das Zwangsmittel physische Gewalt, die im Sinne von Heinrich Popitz’ Gewaltdefinition zu einer »absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt«4 und/oder aber zu deren Einschüchterung oder zur Beschädigung oder Zerstörung von deren materiellen Besitz. D. h., das gewalttätige Handeln (Machtaktion) erfolgt nicht »besinnungslos«, sondern basiert auf »Weil-Motiven«, d. h., es hat bestimmte Ursachen, und es basiert auf »Um-zu-Motiven«, d. h. es verfolgt bestimmte Ziele, auch wenn diese Sinnhaftigkeit des Handelns vom Handelnden in der Handlungssituation zumeist nicht als solche reflektiert wird.5 Gewalt wird zumeist mit Unordnung und außer Kontrolle geratenen Emotionen verbunden, doch stellt sie letztlich auch ein wichtiges Medium sozialer Ordnung  Friedhelm Neidhardt hat in seiner Durchsicht der Definitionen und Konnotationen des Gewaltbegriffs in der einschlägigen Forschungsliteratur gezeigt, dass in den Sozialwissenschaften ein auch nur minimaler Konsens in der Bestimmung des Phänomens »Gewalt« nicht besteht (Gewalt. Soziale Bedeutungen und sozialwissenschaftliche Bestimmungen des Begriffs, in: ders., Gewalt und Terrorismus, Wissenschaftszentrum Berlin , S. -).  Schnell, Gewalt und Gewaltforschung, Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, .. , http://docupedia.de/zg/schnell_gewalt_gewaltforschung_v_de_ DOI: http:// dx.doi.org/./zzf.dok...v  Ronald Hitzler, Gewalt als Tätigkeit. Vorschläge zu einer handlungstheoretischen Begriffsklärung, in: Sieghard Neckel/Michael Schwab-Trapp (Hrsg.), Ordnungen der Gewalt. Beiträge zu einer politischen Soziologie der Gewalt und des Krieges, Opladen , S. -, hier S. . Hitzler verweist darauf, dass aus der Opfer- oder Zuschauerperspektive Handeln, das vom Handelnden selbst nicht so intendiert war, als Gewalt interpretiert werden kann, wie umgekehrt ein Täter sein Handeln als Gewalt intendiert haben kann, das aber vom Opfer nicht als »Gewalt« erfahren wird (S. ). Er spricht deshalb vom dualen Charakter der Gewalt, wobei die Aspekte der Gewalterfahrung und die intendierte Gewalthandlung nicht aufeinander reduzierbar sind (ebd.).  Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen  (. Aufl.), S. .  Hitzler, Gewalt als Tätigkeit, S. .

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in jeder Gesellschaft dar, muss die Ausübung von staatlicher Macht sich im Fall des Widerstrebens der Adressaten doch auf das Mittel der Gewalt stützen können.6 Insofern ist Gewalt (auch) als ein Mittel sozialer Kontrolle zu betrachten, so wie sie selbst etwa über Rituale eingehegt werden kann. Setzt der Staat sein Macht- und Gewaltmonopol bei Normverstößen oder deviantem Verhalten nicht ein, können Personen oder Kollektive sich ihrerseits physischer Gewalt bedienen, da Gewalt nach Popitz eine »Jedermann-Ressource« ist, denn jeder Mensch könne jederzeit und überall Gewalt ausüben, und gewalttätiges Handeln bietet zudem aufgrund der Verletzlichkeit des menschlichen Körpers immer die Chance, Macht auszuüben und seine Interessen durchzusetzen.7 Einen Erklärungsansatz für kollektive Gewalt im Rahmen der von Donald Black entwickelten Theorie sozialer Kontrolle hat Roberta Senechal de la Roche vorgelegt, der bestimmte Gewaltformen als Ausübung sozialer Kontrolle seitens einer sozialen Gruppe versteht.8 Die gewaltsame Selbsthilfe einer Gruppe setzt demnach ein, wenn sie ein Verhalten als deviant, d. h. als Grenzverletzung und Normverstoß definiert, und wenn von Seiten des Staates keine Abhilfe geschaffen wird.9 Dies liegt häufig auch daran, dass es keine funktionierenden Kommunikationsverbindungen zu staatlichen Instanzen gibt, um die eignen Belange zu artikulieren und durchzusetzen. Senechal de la Roche hat die Formen einseitiger, nicht-staatlicher kollektiver Gewalt analysiert, zu denen auch Riots gehören. Sie unterscheidet vier Typen, je nach dem Organisationsgrad und der Zurechnung des abweichenden Verhaltens auf ein Individuum oder eine Gruppe: Lynchen ist gering organisiert und auf eine Person bezogen; Riot (Pogrom) ist gering organisiert und gruppenbezogen; Vigilantismus ist hoch organisiert und personenbezogen; Terrorismus ist hoch organisiert und gruppenbezogen.10  Vgl. dazu Niklas Luhmanns Konzept von Gewalt als einem »symbiotischen Mechanismus«, auf den das soziale Kommunikationsmedium des politischen Systems, nämlich Macht, im Notfall zurückgreifen können muss. Niklas Luhmann, Symbiotische Mechanismen, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. , Opladen , S. -; ders., Macht, Stuttgart , S.  ff.; vgl. dazu klassisch: Popitz, Phänomene der Macht.  Popitz, Phänomene der Macht, S.  ff.  Roberta Senechal de la Roche, Collective Violence as Social Control, in: Sociological Forum , , S. -.  Thomas Klatetzki, »Hang ’em high«. Der Lynchmob als temporäre Organisation, in: Axel T. Paul/Benjamin Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen. Über die Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt, Hamburg , S. -, charakterisiert an einem anderen Typ dieser Selbsthilfeformen, dem Lynchen, diese »extralegale« Form der Bestrafung, die im »Spannungsfeld zweier Ordnungsformen der Gewalt angesiedelt wird, nämlich der Ordnung der gewalttätigen Selbsthilfe auf der einen und einer Sozialordnung, in der der Staat den Anspruch auf das Gewaltmonopol erhebt, auf der anderen Seite«. Der Begriff Spannungsfeld soll dabei darauf hinweisen, dass extralegale Formen der Bestrafung dann und dort auftreten, wo der Staat entweder noch kein Gewaltmonopol besitzt oder unfähig ist, es durchzusetzen. Kommunale Akteure greifen dann zu Selbsthilfe im Grenzbereich von Legalität und Illegalität (S.  f.).  Senechal de la Roche, Collective Violence, S.  ff.

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BAUSTEINE ZU EINER SOZIOLOGIE DES POGROMS

Organisationsgrad

Zurechnung des Normverstoßes

hoch

niedrig

personenbezogen

Vigilantismus

Lynchen

gruppenbezogen

Terrorismus

Riot (Pogrom)

Die Wahl des Gewalttyps beruht nach dieser Theorie auf dem Grad sozialer Polarisierung und der Kontinuität des abweichenden Verhaltens. Kollektive Zurechnung tritt eher bei großer sozialer Polarisierung auf (Pogrome, Terrorismus), und gering organisierte Gewalt antwortet eher auf sporadische Devianz. Von diesem Ausgangspunkt her definiere ich Pogrome als: eine nicht oder nur gering organisierte, einseitige und nicht-staatliche Form kollektiver sozialer Kontrolle, als extralegale gewaltsame Selbsthilfe seitens einer im Namen der Mehrheit handelnden Gruppe, die dann einsetzt, wenn diese von Seiten des Staates keine Abhilfe gegen eine als Bedrohung empfundene Normverletzung durch eine andere Gruppe erwartet.11 Von den anderen Formen der Kontrolle, wie dem Lynchen12 und dem Vigilantismus,13 unterscheidet sich das Pogrom dadurch, dass eine Gruppe von Tätern, verstärkt von einer Menge an Bystandern, von einer Verantwortlichkeit der gesamten Out-Group ausgeht (kollektive Zurechnung)14 und sich deshalb gegen diese als Ganze richtet und nicht gegen einen einzelnen Normverletzer aus der  Auch andere Formen von »Riots« lassen sich als nicht oder nur gering organisierte, einseitige und nicht-staatliche Form kollektiver sozialer Kontrolle, als extralegale Selbsthilfe bestimmen, doch gehen sie anders als bei Pogromen nicht von einer dominanten Gruppe (gegen eine Minderheit) aus, sondern von einer sich benachteiligt fühlenden Minderheit gegen staatliche Organe und die Mehrheitsgesellschaft (z. B. in den sog. Rassenunruhen, den Brotunruhen usw.). Siehe unten.  Klatetzki, »Hang ’em high«, S.  ff., stuft hingegen das Lynchen als eine Form des Vigilantismus (»vigilantes Gewalthandeln«) ein, da es zur Ausbildung temporärer Organisation kommen kann und sich handlungsleitende Lynchskripte herausbilden, während Senechal de la Roche den geringen Organisationsgrad betont, was im Vergleich zu hochorganisierten Terrorgruppen und vigilantischen Gruppen wie z. B. Todesschwadronen sicherlich auch berechtigt ist.  Mit Vigilantismus »bezeichnet man Aktivitäten zur Unterdrückung abweichenden Verhaltens (Devianz) anderer Bürger seitens Privatpersonen oder auch seitens Beamter außerhalb ihrer Dienstzeit«. Wenn Personen sich in einer Weise verhalten, die von den etablierten Normen einer Gemeinschaft abweicht, dann können andere Personen dagegen individuell oder kollektiv gewaltsam vorgehen (David Kowalewski, Vigilantismus, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden , S. -, hier S. ).  Die Definitionsmacht in der Frage der Zugehörigkeit liegt bei den Tätern, ganz gleich, ob sich einzelne Opfer dem Kollektiv zurechnen oder nicht.

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Gruppe;15 und von Terrorismus und Vigilantismus dadurch, dass das Pogrom gewöhnlich einen geringen Organisationsgrad besitzt bzw. in den meisten Fällen eine nicht organisierte (emergente) Form kollektiver Gewalt ist.16 Dies und die Nicht-Beteiligung des Staates unterscheiden das Pogrom von anderen gewaltsamen ethnischen Konflikten, wie Massaker, Bürgerkriege und Genozide.17 Durch das Machtgefälle, also eine asymmetrische Akteurskonstellation zugunsten der Angreifer, unterscheidet sich das Pogrom von anderen Formen von Unruhen (Brotunruhen, Rassenunruhen), in denen es ebenfalls um das »Einklagen« von Normen geht (um die moral economy im Sinne von E. P. Thompson), die aber einen anderen Adressaten als Pogrome haben: In Letzteren werden der Staat bzw. bestimmte Berufsgruppen von Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung (Bäcker, Getreidehändler, Fabrikbesitzer) selbst zum Ziel der gewaltsamen Protests. Im Unterschied zu diesen Sozialprotesten, Rassenunruhen und sozialen Bewegungen, die zu kollektiver Gewalt greifen, um für eine benachteiligte Minderheit Inklusion zu fordern, handelt es sich bei Pogromen um kollektive Exklusionsaktionen, zu denen sich Teile der dominanten Gruppe durch »illegitime« Ansprüche, Bedrohungen oder angebliche Übergriffe einer Minderheit aufgerufen fühlen. Pogromgewalt ist dann aus der Sicht der Pogromisten eine Form der gerechten Bestrafung.18 Dennoch bewegt  Diese kollektive Zurechnung hängt ab vom Grad der sozialen Polarisierung zwischen Gruppen, die wiederum resultiert aus dem Grad der sozialen und kulturellen Distanz, der Ungleichheit und dem Grad funktionaler Abhängigkeiten (Senechal de la Roche, Collective Violence, S. ). Klier beschreibt dies für die Pogromwelle im Zarenreich - so: »An important facet of the growing antipathy toward the Jews was the tendency to view them as a collective, attributing the deviant behavior of individual Jews to all Jews. This can be seen in the propaganda of the Judeophobes, exemplified by the concept of the ›Jewish kahal‹, which joined all Jews together in an anti-gentile conspiracy« (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ).  »Während Organisation in dem Versuch besteht, einen auf bewussten Entscheidungen basierenden Ordnungsentwurf durchzusetzen, etwa indem Mitgliedschaftsregeln und Vorschriften erlassen und Kontrollmechanismen eingerichtet werden, entstehen emergente Ordnungen ›einfach so‹, ohne dass ihre Struktur im Voraus reflektiert worden wäre« (Benjamin Schwalb/Axel T. Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, in: dies. (Hrsg.), Gewaltmassen, S. -, hier S. . Zum Verhältnis von Emergenz und Organisation vgl. Göran Ahrne/Nils Brunsson, Organization Outside Organization. The Significance of Partial Organization, in: Organization /, , S. -.  Die Theorie der sozialen Kontrolle von Donald Black ist auch zur Analyse der Gewaltform des Genozids angewendet worden. Siehe: Bradley Campbell, Genocide as Social Control, in: Sociological Theory /, , S. -.  »Many official reports observed that the pogromshchiki had no sense that they were committing a crime and were angered and mystified when brought to trial« (Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. ). Die aus der Darstellung von Pogromen bekannten Gewaltformen, die in modernen Gesellschaften als Verbrechen gelten, beschreibt Donald Black als Formen von Konfliktmanagement, sozialer Kontrolle und sogar als Recht in traditionalen Gesellschaften: Totschlag, Verstümmelungen, Prügel, Konfiszierung oder Zerstörung von Besitz und Formen der Beraubung und Degradierung (Crime as Social Control, in: American Sociological Review, , , S. -, hier S. S. ).

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sich die kollektive »Kontrollgewalt«, worauf John Bohstedt hingewiesen hat, immer an »frontiers of legitimacy« zwischen Politik und Verbrechen.19 Pogrome gehören also zu den von Charles Tilly und Sidney Tarrow als »contentious collective action« beschriebenen Handlungsformen. »Collective action becomes contentious when it is used by people who lack regular access to representative institutions, who act in the name of new or unaccepted claims and who behave in ways that fundamentally challenge others or authorities«.20 Aus dieser Grundkonstellation ergeben sich weitere Differenzen zu Inklusionsbewegungen: im Verhältnis zum Staat, in der Wertorientierung, in der Beziehung zur Gewalt und in den Zielen und Wirkungen. Aus der Theorie sozialer Kontrolle von Black lassen sich Hypothesen darüber ableiten, wann welche Gruppe zu kollektiver Gewalt als Mittel sozialer Kontrolle greift.21 Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Gewalttypen sowie die Schwere der Gewalt variiert mit der Struktur der Gruppenbeziehungen: kollektive Gewalt korreliert positiv mit großer sozialer Distanz, mit kultureller Distanz/ Fremdheit, geringer funktionaler Verflechtung der Gruppen (ökonomische und politische Kooperation) sowie mit hohen Statusdifferenzen (Gruppengröße, Ressourcen, Klassen).22 Diese Konstellation finden wir historisch häufig gegenüber Gruppen von Zuwanderern, Flüchtlingen oder sog. »middleman minorities«,23 die in der Aufnahmegesellschaft kulturell Fremde sind, aufgrund ihrer Situation einen niedrigen Status aufweisen und mit der Gesellschaft funktional nur gering oder gar nicht verflochten sind.24 Diese Annahme wird auch durch die Studien zu den russischen Pogromen der er Jahre bestätigt. Michael Aronson und auch John D. Klier betonen, dass die osteuropäischen Juden eine distinkte »ethno Bohstedt, The Dynamics of Riots, S. ; siehe oben dazu ähnlich Klatetzki, »Hang ’em high«, Fußnote .  Sidney Tarrow, Power in Movement. Social Movements and Contentious Politics, Cambridge , S. . Siehe dazu umfassend auch Charles Tilly, The Politics of Collective Violence, Cambridge .  Black identifiziert einige typische Muster, weist aber darauf hin, dass es eine umfassende Theorie der Selbsthilfe noch nicht gibt (Crime, S. ).  Senechal de la Roche, Collective Violence, S.  ff.  Minderheiten spielten in vielen vormodernen, aber auch in modernen Gesellschaft oft die Rolle von Middleman-Minorities, die von den dominanten Eliten genutzt werden, um bestimmte Vermittlerpositionen als Kaufleute, Bankiers oder Verwalter zu besetzen, da sie einerseits über bestimmte Fähigkeiten und Verbindungen verfügen, andererseits aber als stigmatisierte Außenseiter – trotz eines eventuell erworbenen Reichtums (weak money) – nicht über Macht zu verfügen. Diese Mittlerrolle ließ diese Minderheiten häufig zum Sündenbock in Konflikten etwa zwischen Bauern und Gutsbesitzern und wegen ihres Wohlstandes zum lohnenden Ziel für Raub und Plünderung werden. Siehe dazu: Walter P. Zenner, Middleman Minority Theories: a Critical Review, in: Helen Fein (Hrsg.), The Persisting Question. Sociological Perspectives and Social Contexts of Modern Antisemitism, Berlin, New York , S. -.  Panayi, Anti-Immigrant Riots; Karapin, Antiminority Riots in Unified Germany; Willems, Jugendunruhen und Protestbewegungen, S.  ff.

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religiöse Kultur« entwickelt hätten und für ihre Nachbarn so »ethnic strangers« geblieben seien, die durch ihre Religion mit ihren anderen Festtagen und Ritualen, ihre Kleidung, Berufsstruktur, ihren Bildungsstand, ihre Sprache sowie durch das endogame Heiratsverhalten eine ausgesprochen große soziale und kulturelle Distanz zu den Christen aufwiesen, so dass sie nicht als Teil der örtlichen Gemeinschaft galten und außerhalb des »universe of oligation« standen.25 Dies galt im Zarenreich ähnlich auch für Muslime, die ebenfalls zum Ziel von Pogromen wurden. Die diskriminierende zaristische Politik markierte diese Differenzen zusätzlich. D. h., die Haltung des Staates gegenüber der Minderheit spielt eine wichtige Rolle in der Positionszuschreibung der Minderheit. »Perhaps the most significant facilitator of rioting is authoritative social support for group violence.«26 Die Anwendung von Gewalt durch die sich als dominant verstehende Gruppe kann zudem das letzte Mittel sein, wenn die legalen Mittel zur Abwendung der externen Bedrohung ausgeschöpft sind (in manchen Fällen geht den Ausschreitungen eine Phase voraus, in der die Behörden durch Petitionen oder Klagen auf einen »Missstand« aufmerksam gemacht wurden) oder wenn es sich um »Bedrohungen« handelt, die nur in den Augen der Ingroup als illegitim angesehen werden und zu deren Behebung es keine rechtlichen Mittel gibt bzw. der Staat dazu keine Veranlassung sieht. Pogromgewalt wäre damit die Form gewaltsamer sozialer Kontrolle, auf die zurückgegriffen wird, wenn die soziale Polarisierung groß ist und gleichzeitig die Normverstöße der anderen Gruppe nicht permanent auftreten. In einer Situation, in der zwischen sozialen oder ethnischen Gruppen eine große soziale und kulturelle Distanz und Polarisierung besteht, sind also drei Bedingungsbündel für das Entstehen von Pogromen zentral: ) eine Veränderung in den Gruppenbeziehungen oder ein Ereignis werden von der dominanten Gruppe als bedrohliche Normverletzung wahrgenommen; ) die Haltung des Staates und seiner

 Aronson, Troubled Waters, S.  f.; auch Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff. Diese Distanz und Bipolarität drückt sich sehr genau in dem bei Ausbruch von Pogromen aus Anlass einer Wirtshausschlägerei häufig zu hörenden Ruf »die Juden schlagen unsere Leute« aus. Vgl. auf theoretischer Ebene zur Bedeutung funktionaler und sozialer Distanz zwischen Gruppen für die Ausübung von Kontrollgewalt Senechal de la Roche, Collective Violence. Der Begriff »circle of obligation« ist von Helen Fein eingeführt worden. Er bezeichnet die moralische und rechtliche Ausgrenzung von Gruppen, die eine Voraussetzung für die Anwendung (genozidaler) Gewalt darstellt (Genocide. A Sociological Perspective, London , S. ).  Horowitz, Deadly Ethnic Riot, S. . Horowitz meint mit autoritativ das Verhalten der politischen Autoritäten oder der höheren sozialen Schichten, wobei mit sozialer Unterstützung ein Verhalten gemeint ist, das die Gewalttäter als Zustimmung zu ihrem Vorgehen auffassen. Dies können Worte oder Handlungen, Unterlassungen oder Beauftragungen sein, wobei diese nicht objektiv als Zustimmung gemeint sein müssen, aber so interpretiert werden können (S.  f.). Manche halten diese autoritative Unterstützung gar für den entscheidenden Faktor, der den Unterschied zwischen einzelnen Übergriffen und größeren Ausschreitungen ausmacht. Dies gilt jedoch so generell nicht.

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Kontrollorgane – d. h. die politische Gelegenheitsstruktur für kollektive Gewalt; und ) die ideologische Deutung und Verschärfung des Konflikts. Entstehungsbedingungen von Pogromen Veränderungen der Machtbalance Eine explizit auf Pogrome bezogene Theoriebildung, die die allgemeinen Erklärungsansätze zur Entstehung kollektiver ethnischer Gewalt spezifizieren würde, fehlt bisher weitgehend.27 Als ethnischer Exklusionskonflikt hat das Pogrom andere Voraussetzungen als kollektive Gewalt vom Typ Rassenunruhen, Hungerrevolten oder Protestaktionen sozialer Bewegungen, denen Erfahrungen relativer Deprivation zugrunde liegen und die entlang von Klassengrenzen und Interessengegensätzen ausgefochten werden. Ethnische Minderheiten und Protestbewegungen greifen zur Ressource der kollektiven Aktion, um Forderungen zur Lösung sozialer Probleme oder zur Bereitstellung öffentlicher Güter an zumeist genau definierte Adressaten Nachdruck zu verleihen. Gewaltanwendung richtet sich dabei gegen ressourcenstärkere Instanzen, zumeist wird in den lokalen Aufständen, wie wir sie in der Gegenwart in den Émeutes  in den Banlieues von Paris und in den englischen Riots wie in Brixton  erlebt haben, gezielt gegen öffentliches Eigentum und die Polizei vorgegangen, um gegen die Diskriminierung seitens der Polizei und das Vorenthalten von Bürgerrechten und Lebenschancen zu protestieren.28 Ein ethnischer Intergruppenkonflikt vom Pogromtyp ist dagegen durch ein deutliches Machtgefälle zugunsten einer Gruppe gekennzeichnet.29 Unter welchen Bedingungen entsteht ein solcher Mehrheits-/Minderheitskonflikt? Historiker haben auf der Basis ihrer Fallstudien zu Ausbrüchen antijüdischer Gewalt im . und . Jahrhundert Faktoren identifiziert, die man zu den verallgemeinerbaren Entstehungsbedingungen von Pogromen rechnen kann.30 ) Hans Rogger nimmt an, dass Pogrome wahrscheinlicher werden, wenn sich über eine lange Zeit etablierte Über- und Unterordnungsverhältnisse zwischen Gruppen ändern bzw. strittig werden, wenn die etablierte Exklusion bestimmter Gruppen  Vgl. zur Übersicht über die unterschiedlichen Erklärungsansätze: Bergmann, Pogrome, in: Heitmeyer/Kagan (Hrsg.), Internationales Handbuch, S. -.  Ferdinand Sutterlüty, Kollektive Gewalt und urbane Riots. Was erklärt die Situation, in: Paul/Schwalb, Gewaltmassen, S. -.  Stefan Wiese hat aber zu Recht darauf verwiesen, dass Pogrome nicht automatisch Taten der Mehrheit gegen eine Minderheit sind, sondern dass die Täter zwar beanspruchen, im Namen der Mehrheit zu handeln, sie jedoch auf der Handlungsebene eine Minderheit von Akteuren gegen zahlreiche Angehörige der »Opfergruppe« darstellen können, denen gegenüber sie nur situativ Dominanz herstellen können (Pogrome im Zarenreich, S. ).  Siehe dazu die Arbeiten von: Rogger, Conclusions and Overview; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier; Löwe, Pogroms in Russia; Aronson, Troubled Waters; Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, Kap. : What’s in a pogrom?

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durchbrochen oder gelockert wird oder wenn Individuen der subordinierten Gruppe einen dramatischen sozialen Aufstieg erleben und damit sozial sichtbar und erfolgreicher werden als Angehörige der dominanten Gruppe. In solchen Situationen, in denen sich die Machtbalance verändert, kommt es zu Spannungen zwischen den Gruppen. Es sind also Pogrome eher dort zu erwarten, wo Mitglieder der als inferior angesehenen Gruppe rechtlich, sozial und ökonomisch erfolgreich sind und entsprechende Barrieren überwinden. Allgemein werden Fragen bezüglich des »kommunalen Status« der Minderheit zum Auslöser von Konflikten. Klier betont, dass dabei die Auffassung zentral ist, die Minderheit sei in irgendeiner Weise inferior, ganz gleich, wie wohlhabend, angesehen oder mächtig einzelne Mitglieder der Minderheit real sein mögen.31 Aus diesem Grunde verletzt die Zurschaustellung von Reichtum und sozialem Status seitens einer inferioren Gruppe diese Auffassung und kann zum Auslöser kollektiver Gewalt werden, um so die bestehenden Grenzen zu markieren. ) Ein spezifischer Fall der Veränderung der Größen- und Machtverhältnisse zwischen den Gruppen ist die Zuwanderung. Generell scheint eine größere Zahl von Zuwanderern (»outsiders«) zu Stress in lokalen Situationen zu führen, so dass ein gewaltsames Auf begehren der einheimischen Bevölkerung wahrscheinlicher wird. Überdies besteht eine positive Korrelation zwischen der Größe der Minderheit an einem Ort und der Wahrscheinlichkeit von Pogromen. ) Sozioökonomische Spannungen und Wirtschaftskrisen erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Pogromen,32 vor allem wenn es sich um plötzliche und dramatische Umschwünge handelt. Dies erklärt auch, warum Pogrome häufig in größeren Wellen, zeitlich und räumlich konzentriert auftreten. Diese Wellen deuten für Löwe darauf hin, dass es nicht so sehr die üblichen konjunkturellen Krisen sind, die Pogromwellen auslösen, sondern Phasen, in denen die alte soziale, ökonomische oder politische Ordnung durch ein neue ersetzt wird, etwa durch die Industrialisierung, die Einbindung in den Weltmarkt oder die Entstehung neuer Staaten.33 Gewalt gegen eine ethnische Minderheit erscheint in diesen Fällen als eine Form von »displaced social protest«, d. h., diese wird als »Sündenbock« für eine allgemeine Krise attackiert.34 Die Anfälligkeit erhöht sich, wenn eine Min   

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Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . Berk, Year of Crisis, S. -. Löwe, Pogroms in Russia, S. . Hierbei spielt die von Juden häufig eingenommene Position einer »middleman minority« eine wichtige Rolle. Juden waren in einer Reihe osteuropäischer Länder keine Gutsherren, sondern nur deren Verwalter, keine Großhändler, sondern kleine Ladeninhaber, die als greif bare Repräsentanten der Gutsherren und Großhändler vor Ort für Teuerungen oder Knappheiten verantwortlich gemacht und für die depravierten Unterschichten zum Ziel von Gewalt wurden. Auch andere middleman minorities, wie die Chinesen in Indonesien oder Inder in Ostafrika, wurden Opfer von Pogromen. Vgl. Zenner, Middleman-Minority Theories; Keely Stauter-Halsted, Jews as Middleman Minorities in Rural Poland. Understanding the Galician Pogroms of , in: Robert Blobaum (Hrsg.), Antisemitism and Its Opponents in Modern Poland, Ithaca, London , S. -; Pal Kolsto, Competing with

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derheit ursächlich mit Krisen in Verbindung gebracht werden kann, etwa im Fall jüdischer Getreidehändler in Situationen von Agrar- und Hungerkrisen, oder wenn die Minderheit als »Krisengewinnler« erscheint, d. h. ihr ökonomischer und sozialer Status sich im Vergleich zur Mehrheit verbessert, die dann eine relative Deprivation erfährt.35 ) Allgemeine Phasen öffentlicher Unruhe bei gleichzeitigem Verlust von Macht und Autorität auf Seiten des Staates, etwa in revolutionären Situationen oder nach einem verlorenen Krieg, bilden eine günstige Gelegenheitsstruktur für Pogrome, da der Schutz des Staates für die Minderheiten geschwächt ist oder ganz ausfällt. Pogrome können in solchen Phasen revolutionärer Gewalt, Bürgerkriegskämpfe, Streikaktionen, nationalistischer Umzüge oder Übergriffe aus einer Verschiebung von Gewaltaktionen entstehen, die ursprünglich ein anderes Ziel verfolgten. Die Gewalt kann auf eine Minderheit umgelenkt werden bzw. diese wird zu einer Zielgruppe unter anderen.36 ) Zum Ausbruch von Pogromen können auch Akteure wie Journalisten aber auch Träger der Staatsmacht beitragen, die bestehende sozioökonomische Konflikte schüren.37 Wenn auch nicht als unmittelbare Ursache, so wird doch der organisierten Agitation und der Presseberichterstattung gegen eine Gruppe eine wichtige Rolle bei der Erzeugung einer konfliktgeladenen Atmosphäre zugeschrieben. Klier hat überdies betont, dass durch die Massenkommunikationsmittel die konkrete Möglichkeit eines (antijüdischen) Pogroms im allgemeinen Bewusstsein etabliert wurde und als ein Handlungsmodell für zukünftige Ausschreitungen fungierte.38 Dies erklärt u. a. auch den Wellencharakter von Pogromen, da ein Ereignis an einem Ort Modellcharakter für andere Orte gewinnt. ) Die allgemeine Tendenz der staatlichen Politik gegenüber einer Minderheit spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Die rechtliche Benachteiligung sowie eine feindselige, auf Einschränkung der Minderheit zielende Politik bei gleichzeitigem Assimilationsdruck erhöht die Wahrscheinlichkeit von Übergriffen, die als legitim, wenn nicht gar als vom Staat erwünscht erscheinen.39 Dies gilt natürlich

    

Entrepreneurial Diasporians. Origins of Anti-Semitism in Nineteenth-Century Russia, in: Nationality Papers /, , S. -. James M. Olson/C. Peter Herman/Mark P. Zanna (Hrsg.), Relative Deprivation and Social Comparison, Hillsdale, NJ . Wynn, Workers, Strikes, and Pogroms; Eric Lohr, Nationalizing the Russian Empire: The Campaign against Enemy Aliens during World War I, Cambridge, Mass., London , eine lange Reihe von Beispielen bei Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff., S. . Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . Auch wenn Politiker, Verwaltungsbeamte oder Militärs durch Äußerungen oder Maßnahmen Judenfeindlichkeit befördern mögen, so handelt es sich bei Pogromen dennoch nicht um staatlich organisierte Gewaltaktionen. Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . Aronson, Troubled Waters, S.  und ; Klier betont, dass sich in Russland der unterschiedliche Status der Juden in der speziellen rechtlichen Kategorie »inorodtsky« oder »aliens« ausdrückte, was sie in den Augen der Bauern außerhalb des gesetzlichen Schutzes stellte (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ).

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vor allem dann, wenn Teile der politischen Elite, etwa einzelne Parteien, offen gegen die Minderheit Partei ergreifen oder im Extremfall sogar die Regierung stellen.40 Diese aus historischen Fallanalysen gewonnenen Annahmen entsprechen den theoretischen, empirisch gestützten Arbeiten von Soziologen. In der amerikanischen Soziologie haben Herbert Blumer und Hubert Blalock die Frage der Machtbeziehungen und Gruppenpositionen zum Ausgangspunkt des »power approach to intergroup hostility«, auch als »conflict« oder »competitive ethnicity«-Modell bezeichnet, genommen.41 »The power model views racial and ethnic groups as participants in ongoing competition for control of economic, political and social structures and suggests that intergroup hostility and antagonism are natural products of that competition«.42 Die Feindseligkeit resultiert demnach aus zwei Bedingungen: ) aus der realen oder befürchteten Bedrohung oder Benachteiligung durch eine Out-Group, wobei empirische Studien in den USA vor allem zwei Faktoren für die Bedrohungswahrnehmung identifiziert haben: Die numerische Größe der untergeordneten im Vergleich zur dominanten Gruppe und die ökonomische Lage, deren Zusammentreffen (z. B. bei Zuwanderung und ökonomischer Krise) einen ethnischen Konflikt noch wahrscheinlicher machen.43 Neuere international vergleichende Studien in Europa haben ebenfalls gezeigt, dass das Ausmaß an Vorurteilen gegen eine Minderheit mit deren Größe korreliert. So nahmen Vorurteile mit dem Anteil von Nicht-EU-Ausländern oder Zuwanderern und Asylsuchenden zu,44  Vgl. die Entwicklung in Indien, wo zwischen - die nationalistischen Hinduparteien (BJP, VHP) zu Ausschreitungen gegen Muslime aufriefen, um auf diese Weise Wähler zu gewinnen. Durch die politische Unterstützung, vor allem nachdem diese Parteien an die Regierung gelangt waren, erhöhte sich auch das Gewaltniveau deutlich, so dass C. Jaffrelot vom Übergang »from riot to pogrom: state-sponsered violence« spricht: Christophe Jaffrelot, Communal Riots in Gujarat: The State at Risk? Heidelberg Papers in South Asian and Comparative Politics, Working Paper No. , Juli .  Hubert M. Blalock, Toward a Theory of Minority-Group Relations, New York ; Herbert Blumer, Race Prejudice as a Sense of Group Position, in: Pacific Sociological Review , , S. -.  Robert A. LeVine/Donald T. Campbell, Ethnocentrism: Theories of Conflict, Ethnic Attitudes, and Group Behavior, New York, London , S. .  Lincoln Quillian, Prejudice as a Response to Perceived Threat: Population Composition and Anti-Immigrant and Racial Prejudice in Europe, in: American Sociological Review , , S. -, hier S. ; Micheal W. Giles/Melanie A. Bruckner, David Duke and Black Threat: An Old Hypothesis Revisited, in: Journal of Politics , , S. -.  Marcel Coenders, Nationalism and Ethnic Exclusionism in a Comparative Perspective. An Empirical Study of Attitudes towards the Nation and Ethnic Immigrants in  Countries, Nijmegen ; Lauren M. McLaren, Anti-Immigrant Prejudice in Europe: Contact, Threat Perception, and Preferences for the Exclusion of Migrants, in: Social Forces , , S. -; Peer Scheepers/Mérove Gijsberts/Marcel Coenders, Ethnic Exclusionism in European Countries. Public Opposition to Civil Rights for Legal Immigrants, in: European Sociological Review , , S. -; Moshe Semyonov et al., The Rise of Anti-Foreigner Sentiment in European Societies, -, in: American Sociological

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doch hängen diese auch von der Form und dem Ausmaß der Kontakte zwischen Mehrheitsbevölkerung und Zuwanderern ab.45 ) Die zweite Bedingung ist die Identifikation mit einer In-Group,46 denn ohne diese würde der Einzelne nur auf Konkurrenzverhältnisse und Bedrohungen reagieren, die ihn persönlich betreffen.47 Zentral für den Ansatz ist die Gruppenbedrohung. Es geht also um kollektive Güter, d. h., Interessengegensätze und Einzelkonflikte werden zu einem ethnischen Antagonismus »kollektiviert«.48 Dies geschieht auf Seiten dominanter ethnischer Gruppen wesentlich durch die Definition einer Situation als kollektive Bedrohung (sei es wirtschaftlicher Interessen, der kulturellen oder politischen Autonomie, der kulturellen Identität oder Existenz) durch eine Out-Group, die der Gewalt vorausgeht.49 Man sieht sich in einem Freund-FeindSchema als Opfer von Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Aggression, auf die man mit, unter Umständen gewaltsamer, sozialer Kontrolle reagiert.50 Der »Power

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Review , , S. -; Moshe Semyonov et al., Population Size, Perceived Threat, and Exclusion: A Multiple Indicator Analysis of Attitudes toward Foreigners in Germany, in: Social Science Research , , S. -. Vertreter der Kontakthypothese stellen die Gruppenbedrohungsthese in Frage, da empirische Studien zeigen, dass der Kontakt zwischen Mitgliedern ethnischer Gruppen unter bestimmten Bedingungen zu einer Reduktion von Vorurteilen führt (dazu Ulrich Wagner/ Rolf van Dick/Thomas F. Pettigrew/Oliver Christ, Prejudice and Minority Proportion: Contact Instead of Threat Effects, in: Social Psychology Quarterly , , S. -; Mikael Hjerm, Do Numbers Really Count? Group Threat Theory Revisited, in: Journal of Ethnic and Migration Studies , , -). Allerdings zeigen auch diese Studien, dass zwar unter günstigen Kontaktbedingungen (freiwilliger, regelmäßiger persönlicher Kontakt bei gleichem Status) die Vorurteile mit steigendem Anteil der zuwandernden ethnischen Gruppe zunächst abnehmen, aber ab einem hohen Niveau der Zuwanderung wieder ansteigen (Cornelia Weins, Gruppenbedrohung oder Kontakt? Ausländeranteile, Arbeitslosigkeit und Vorurteile in Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie , , S. -, S.  f.). Giles/Evans, Power Approach. Studien zu Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit stoßen immer auf einen ausgeprägten Nationalstolz als einen wesentlichen Faktor für eine feindselige Haltung gegenüber Out-Groups (Andrea Herrmann/Peter Schmidt, Autoritarismus, Anomie und Ethnozentrismus, in: Gerda Lederer/Peter Schmidt (Hrsg.), Autoritarismus und Gesellschaft, Opladen , S. -; Klaus Ahlheim/Bardo Heger, Nation und Exklusion. Der Stolz der Deutschen und seine Nebenwirklungen, Schwalbach a. T. ; vgl. auch Aribert Heyder/ Peter Schmidt, Deutscher Stolz. Patriotismus wäre besser, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge , Frankfurt a. M. , S. -. Rösel Vom ethnischen Antagonismus, S. . Veena Das, Official Narratives, Rumour, and the Social Production of Hate, in: Social Identities /, , S. -, hier S. , nennt diesen Vorgang, in dem die gesamte Gruppe für die Handlung oder Verfehlung einer Person verantwortlich gemacht wird, »Totalisierung«, die er als typische Erscheinung in Situationen kollektiver Gewalt ansieht. Diese »Totalisierung« gilt aber auch für die In-Group (die »endangered collectivity«), die nun insgesamt zum Handeln aufgerufen ist. Zur Bedeutung der Verletzung von Gerechtigkeitsnormen und zur Funktion von Gerechtigkeitsrhetoriken für die Genese sozialer Konflikte vgl. Michael Wenzel et al., Funktionen

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approach to intergroup hostility« sieht demnach in Unruhen eine extreme Form, ethnische Konflikte auszutragen: »We may say therefore, that race riots are extreme forms of racial conflict in which two racial groups struggle in a particular kind of political, social, economic and legal conflict setting, using riots as an alternative and ultimate technique to establish, maintain or change power relations in society«.51 Dieser Ansatz ist bisher vor allem zur Erklärung rassistischer Vorurteile, aber nicht zur Erklärung kollektiver Gewalt in Form von Pogromen angewandt worden.52 Da Pogrome von der dominanten Gruppe ausgehen, will diese gewöhnlich nicht eine Änderung, sondern den Erhalt bzw. die Wiederherstellung einer bestimmten sozialen, ökonomischen oder politischen Machtposition bzw. die Verhinderung eines Vorteils oder Aufstiegs der Minderheit.53 Walter Korpi hat deshalb vorgeschlagen, den »political process approach«, in dem der Kampf um Ressourcen und die Mobilisierung von Machtressourcen zur Erklärung von kollektiver Gewalt im Mittelpunkt stehen, um den »expectation achievement approach«, in dem es um motivationale Aspekte geht, zu erweitern.54 Sein Modell der Machtbalance kann zur Erklärung des Auftretens von Pogromen insofern beitragen, als sie annimmt, dass die Wahrscheinlichkeit von manifesten Konflikten zunimmt, wenn sich die Macht- oder Statusrelationen zwischen Gruppen zu Ungunsten der dominanten Gruppe verschieben. Bei extrem ungleicher (etwa im indischen Kastenwesen) wie bei stabiler gleicher Machtverteilung sind Konflikte selten. Nimmt jedoch eine große Machtdifferenz zwischen zwei Gruppen ab, dann erlebt die dominante Gruppe eine Form »progressiver Deprivation«, wodurch sich die Konfliktwahrscheinlichkeit erhöht, zumal wenn die dominante Gruppe erwarten kann, dass ein Konflikt Erfolg versprechend für sie sein wird.55 Diese Theorie macht jedoch keine Aussage, wann und warum ein solcher Konflikt mit Gewalt ausgetragen wird.56

     

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von Gerechtigkeitsauffassungen und Gerechtigkeitsrhetoriken für Genese, Verlauf und Management von Konflikten, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie, , S. -. L. Alex Swan, The Politics of Riot Behavior, S. . Susan Olzak hat mit ihm die Häufigkeit des Auftretens von Lynchgewalt zu erklären versucht (The Political Context of Competition). Gemäß der von George Rudé vorgeschlagenen Unterscheidung von »backward-looking« und »forward-looking« riots fallen Pogrome also unter den ersten Typus (The Crowd in History, S.  ff.). Korpi, Conflict, Power. Ebd., S. . Mit diesem Ansatz wendet sich Korpi einmal gegen ältere Ansätze, die eine generelle positive Korrelation zwischen relativer Deprivation und Konflikt annehmen, zum anderen gegen das »political process modell«, das neben dem Verlust von Machtressourcen auch deren Gewinn als Konfliktursache ansieht, wie es von David Snyder/Charles Tilly, Hardship and Collective Violence in France,  to , in: American Sociological Review , , S. -, vertreten wird. Verliert eine schwache Gruppe an Ressourcen oder gewinnt die dominante weitere hinzu, so nimmt nach Korpi die Konfliktwahrscheinlichkeit eher ab als zu.

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Susan Olzak und ihre Mitarbeiter haben in ihrer Theorie betont, dass es weniger um einfache ökonomische Konflikte geht als um Grenzen und Identitäten von Gruppen. Dabei nimmt diese Theorie an, dass gerade die ethnische Desegregation, insbesondere auch die auf dem Arbeitsmarkt, ethnische Konkurrenz verstärkt, die dann wiederum die Rate ethnischer Konflikte bis hin zu Ausschreitungen erhöht, da die dominante ethnische Gruppe versucht, die Zuwanderer auszuschließen.57 D. h., die zentrale Hypothese der »ethnic competition theory« ist, dass dominante ethnische Gruppen auf das Eindringen von Minderheiten mit Vorurteilen und eventuell auch ausschließender Gewalt reagieren.58 Albert Bergesen und Max Herman haben dieses Modell auf eine neue Situation in den amerikanischen Städten des Südwestens angewendet und interpretieren den Aufruhr in Los Angeles  als »backlash violence in response to recent Latino and Asian immigration into African American neighborhoods«.59 Sie fanden einen signifikanten Zusammenhang zwischen Zuwanderung von Latinos und Asiaten in einen Stadtteil bei gleichzeitiger Abwanderung der afroamerikanischen Bevölkerung und der Gewalt in dem Los Angeles Riot von .60 Für sie besteht ein Zusammenhang zwischen der ethnischen Sukzession, wobei deren Tempo eine wichtige Rolle spielt (»hyperethnic succession«), und dem Vorkommen von »riot violence«.61 Neben Veränderungen der quantitativen Gruppenrelationen durch Zuwanderung bergen auch Grenzverschiebungen etwa durch den Zerfall imperialer  Olzak, The Dynamic of Ethnic Competition, S. ; dies./Suzanne Shanahan/Elizabeth H. McEneaney, Poverty, Segregation and Race Riots, -, in: American Sociological Review , , S. -.  Albert Bergesen/Max Herman, Immigration, Race, and Riot: The  Los Angeles Uprising, in: American Sociological Review , , S. -, hier S. . Für den amerikanischen Kontext gab es diesen »backlash« von Weißen gegenüber den vor allem aus den Südstaaten in ihre Nachbarschaft zuwandernden Schwarzen im frühen zwanzigsten Jahrhundert, während die Rassenunruhen der er Jahre und spätere Unruhen (Miami ) nicht auf einen solchen Zuwanderungskonflikt zurückzuführen sind, da hier die schwarze Ghettobevölkerung revoltierte und nicht die weiße Mehrheitsbevölkerung. Vgl. Janowitz, Patterns; Capeci/Wilkerson, Layered Violence; Crowe, Racial Massacre in Atlanta; Cheryl Greenberg, The Politics of Disorder: Reexamining Harlem’s Riots of  and , in: Journal of Urban History , , S. -; Rudwick, Race Riot at East St. Louis; Senechal de la Roche, The Sociogenesis of a Race Riot: Springfield, Illinois; Stanley Lieberson, A Piece of the Pie: Blacks and White Immigration since , Berkeley ; Douglas S. Massey/Nancy A. Denton, American Apartheid. Segregation and the Making of an Underclass, Cambridge, Mass. .  Bergesen/Herman, Immigration, hier S. .  Bergesen/Herman fanden den größten Anteil von Getöteten in der »Kontaktzone« entlang der Grenze zwischen den stärker von Schwarzen und den stärker von Latinos bewohnten Stadtteilen. Diese gemischte Zone mit jeweils starken Anteilen beiden ethnischen Gruppen wurde zu einer »contested area« (Immigration, S. ).  Dabei spielt die »interracial competition« auf dem Arbeitsmarkt oder um Wohnungen nicht die zentrale Rolle (wie noch in der Theorie Susan Olzaks), sondern »the arrival of new racial/ethnic immigrants into residential areas with a different racial/ethnic majority already established« (Bergesen/Herman, Immigration, S. ).

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Reiche in mehrere Nachfolgestaaten oder durch Gebietsabtretungen nach einem verlorenen Krieg Ansatzpunkte für ethnische Konflikte: »New boundaries seriously disturb pre-existing ethno-religious relations, reversing majority-minority relationships, eliminating traditional mediating elements, fragmenting peoples, and suddenly casting some vulnerable border areas«.62 Durch diese Veränderungen der Machtbalance werden die Unsicherheiten für die Zukunft vergrößert und als Bedrohung wahrgenommen, was wiederum den Rückgriff auf Gewalt wahrscheinlicher macht. Aus weiteren soziologischen Untersuchungen und aus der historischen Forschung ist bekannt, dass auch andere Veränderungen der Gruppenpositionen, etwa durch die Verbesserung der Rechtsstellung einer Minderheit (z. B. in der Judenemanzipation des . Jahrhunderts, in der Sklavenbefreiung in den USA), in Kriegszeiten,63 durch Status- und Prestigeverluste der Eigengruppe, etwa in Folge schnellen sozialen Wandels, eines verlorenen Krieges oder durch tatsächliche oder vermeintliche Übergriffe seitens der Out-Group zu Bedrohungsgefühlen und entsprechenden »Abwehrreaktionen« der dominanten Gruppe führen können.64 Das heißt, die Ethnisierung sozialer Beziehungen ist nicht naturwüchsig gegeben, sondern erst unter solchen Bedrohungsbedingungen wird ethnische Zugehörigkeit zur einzigen übergreifenden Kategorie verabsolutiert.65 Das kollektive Selbstbewusstsein ist herausgefordert und reagiert mit Bedrohungs- und Überlegenheitsphantasien oder aber mit realen Verfolgungen gegenüber als nicht zugehörig definierten Gruppen. Die Konfliktdynamik entsteht also aus Veränderungen in der Machtbalance zwischen Gruppen, wobei allerdings objektive Veränderungen allein, z. B. eine verstärkte Zuwanderung, nicht ausreichen, vielmehr müssen diese in ein Bedrohungsszenario (perceived threat) übersetzt werden.66 Wie bekannt, können  Rapoport, The Importance of Space, S. .  Panayi, Dominant Societies and Minorities, S. -.  Charles Tilly, Collective Violence in European Perspective, in: Hugh D. Graham/Ted Gurr (Hrsg.), Violence in America, New York , S. -; Erb/Bergmann, Die Nachtseite; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier; Lawrence Bobo/Vincent L. Hutchings, Perceptions of Racial Group Competition: Extending Blumer’s Theory of Group Position to a Multiracial Social Context, in: American Sociological Review , , S. -; vgl. für die Hindu-Moslem-Riots: Jaffrelot, Communal Riots.  Theodor Hanf sieht eine allgemeine Tendenz, Gruppenkonflikte eher als kommunale ethnische Konflikte auszutragen denn als Klassenkonflikte. Er nennt dafür drei Gründe: einmal erleichtern vertraute und leicht verstehbare Merkmale (ethnische, religiöse, sprachliche Differenzen) die Mobilisierung im Unterschied zu den komplizierteren ökonomischen Beziehungen, zum anderen gibt es häufig eine Überlappung von Klassen- und ethnischen Zugehörigkeiten. Hinzu kommt eine andere Form der Deprivation, nämlich die symbolische. Auf die Verachtung der eigenen Religion oder Sprache, ungeachtet des eigenen ökonomischen Status, reagiert die Gruppe mit besonderer Bitterkeit (The Prospects of Accomodation, S.  f.).  Vgl. zu den kognitiven und affektiven Ursachen für eine Fehleinschätzung von Bedrohungen, z. B. in bereits vorhandenen Überzeugungssystemen, in einem Mangel an Einfühlungsvermögen in kontrastierende kognitive Kontexte, im »fundamental attribution

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dieselben Ereignisse je nach Situation sehr unterschiedlich gedeutet werden, und insbesondere in Konfliktsituationen dürfte die »Gefahrenwahrnehmung« stark ansteigen. Wir haben es also immer mit Interpretationsprozessen (Framing) zu tun, in denen dann bereits vorhandene Vorurteile, Erinnerungen an frühere Konflikte und Ethnizitäts- und Nationalitätssemantiken eine wichtige Rolle spielen.67 Als Verbindungsglied zwischen dem »Power Approach« und der Wahl kollektiver Gewalt (Theorie sozialer Kontrolle) sind weitere Überlegungen zwischenzuschalten, die erklären, wie soziale Beziehungen in eine Bedrohungssituation transformiert werden, die den Einsatz kollektiver gewalttätiger Selbsthilfe legitimiert. Es geht also um die Frage, wie gemeinsame Handlungsabsichten entstehen können, ohne dass die Koordination über Organisation sichergestellt werden kann. Dies geschieht m. E. über Prozesse des »Framing«, in denen gemeinsames Wissen, Erwartungen und Gefühle, d. h. geteilte Situationsdefinitionen erzeugt werden, die eine »begrenzte situative Selbstorganisation« in Gang setzen können.68 Framing: Die Konstruktion einer Bedrohungssituation Machtbeziehungen umfassen als einen Aspekt ihrer Reproduktion symbolische Formen, in denen sie begriffen und interpretiert werden. Ein kollektiver Angriff auf eine ethnische Minderheit innerhalb eines Gemeinwesens muss deshalb in besonderer Weise kulturell legitimiert und vorbereitet werden, da er grundlegende Normen des Zusammenlebens und das staatliche Gewaltmonopol verletzt.69 Es müssen also innerhalb der In-Group kommunikativ bestimmte Interpretationsrahmen (»injustice frames«) eingeführt und öffentlich durchgesetzt werden, die das Handeln der Out-Group als »Unrecht« und Bedrohung definieren, und sie müssen entsprechende »action frames« zur Abwehr vorschlagen.70 Mitglieder einer

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error«, in bestimmten psychischen Ängsten oder Bedürfnissen usw., Janice Gross Stein, Building Politics into Psychology: The Misperception of Threat, in: Political Psychology , , S. -. Jaffrelot betont die zentrale Bedeutung der Konfliktgeschichte zwischen Hindus und Muslimen, vor allem natürlich die Gewalt in der Phase des Übergangs in die Unabhängigkeit und der Teilung des Landes, die dazu führt, dass sich viele Hindus trotz ihrer Mehrheitsposition in Indien bedroht fühlen (Communal Riots, S. ). Vgl. ähnlich Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S.  f. Randall Collins spricht davon, dass Menschen auf Solidarität gepolt sind, weshalb ihnen Gewalt sehr schwerfällt. Um Gewalt ausüben zu können, muss man die konfrontative Furcht überwinden. Dies geschieht im Fall der Pogrome dadurch, dass der Angriff hier Schwächeren gilt und man im Namen der gesamten Eigengruppe zu handeln meint (Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg , S. ). Ist die Hemmschwelle einmal überwunden, kann es zu situationsspezifischen Gewalteskalationen kommen. Gewalt hemmende Normen werden temporär suspendiert (Ralph H. Turner, Race Riots Past and Present: A Cultural-Collective Behavior Approach, in: Symbolic Interaction /, , S. -, hier S. ). Mit »injustice frames« können Probleme dramatisiert, die Ursachen definiert und die Schuldigen angeklagt werden; »identity frames« erlauben es, im Rückgriff auf In-Group/

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Out-Group haben gegen zentrale, als unverletzlich angesehene moralische Werte verstoßen (Tötung oder Verletzung von Mitgliedern der In-Group, Eigentumsrechte, Ehre, religiöse Überzeugungen, Gerechtigkeitsvorstellungen, z. B. einer moral economy, Bedrohung einer Machthierarchie usw.), die in der In-Group kollektiv Wut und Empörung sowie den Wunsch nach Bestrafung der Täter auslösen, um so die verletzte Ordnung wiederherzustellen.71 Wie die Einstellungsforschung zeigt, ist die Ausbildung von negativen Überzeugungen gegenüber Out-Groups weniger von individuellen Erfahrungen abhängig, sondern ein kollektiver Prozess, der im Wesentlichen auf der Wahrnehmung von externer Bedrohung (perceived threat) basiert, die die Bereitschaft erhöht, sich bedingungslos mit der Eigengruppe zu identifizieren.72 Insofern bedingen die genannten Statusverschiebungen die Ausbildung einer extrem negativen Sicht der Out-Group, die allerdings häufig bereits traditionell vorgeformt ist. Rösel unterscheidet hier drei Formen der Radikalisierung des Freund-Feind-Schemas: die Dekontextualisierung von Ereignissen, d. h., den Handlungen der anderen Gruppe werden selektiv Schädigungsabsichten unterstellt; die Reinterpretation, d. h., jeder neue Zwischenfall wird auf dem Hintergrund der historischen Konfliktgeschichte »gelesen«,73 was möglicherweise auch erklärt, warum es in bestimmten Regionen oder Städten wiederholt zu Pogromen

Out-Group-Unterscheidungen den Gegensatz zwischen den Werten und Interessen der In- und Out-Group zu markieren usw. Vgl. zum Konzept des »Framing«: ders., News as Framing, in: American Behavioral Scientist , , S. -; ders., Talking Politics, Cambridge ; David A. Snow et al., Frame Alignment Processes. Micromobilization and Participant Mobilization, in: American Sociological Review , , S. -; David A. Snow/Richard D. Benford, Ideology, Frame Resonance and Participant Mobililization, in: Bert Klandermans et al. (Hrsg.), From Structure to Action: Social Movement Research Across Cultures, Greenwich, CT , S. -. Als Beispiel vgl. Jaffrelot, der für die anti-muslimischen Ausschreitungen in Indien resümiert: »Indeed, research on communal riots in India after  suggests that these riots largely originate from a distorted idea – ideology – of the Other; the Hindu though representing an overwhelming majority, often perceive of the Muslims as a ›fifth column‹ threatening them from within Indian society« (Communal Riots, S. ).  Klatetzki, »Hang ’em high«, S. , spricht in diesem Kontext im Rückgriff auf Emile Durkheim von »sakralen Kernwerten« (Freiheit, Ehre, Eigentum u. a.), die ebenso emotional besetzt sind wie »der sie schützende moralische Rahmen«. Deren Verletzung löst das Verlangen nach Strafe aus.  A. Wade Smith, Racial Tolerance as a Function of Group Position, in: American Sociological Review , , S. -; Quillian, Prejudice as a Response.  Als ein wichtiger Faktor wird in der Pogromforschung deshalb auch die Erinnerung an frühere Gewaltereignisse angesehen, die über einzelne Personen, über Volkslieder und Erzählungen tradiert werden und zu Anlässen (an Jahrestagen) eigener Art werden. Vgl. Klier: »The role of popular memory should not be underestimated« (Russians, Jews and the Pogroms, S.  f.). Die Bedeutung der kollektiven Erinnerung an frühere Ausschreitungen für den Ausbruch neuer Pogrome hebt auch Rösel hervor (Vom ethnischen Antagonismus, S. ).

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kommt,74 sowie die Solidarisierung und Identifizierung mit der eigenen Gruppe.75 In ethnischen Konflikten muss zur Legitimation von Gewalt mit Hilfe von »identity frames« eine dichotome Ordnung nach fraglos Zugehörigen und Außenseitern etabliert und zu einem Freund-Feind-Verhältnis radikalisiert werden. Es bildet sich sozusagen eine Diskursgemeinschaft, in der zwei »vorgestellte Gemeinschaften« entworfen werden, die zwar unsichtbar sind, aber homogene, solidarische und vergeltungsbereite Massen darstellen.76 Im Gegensatz zu Rassenunruhen und sozialen Bewegungen, die ihre Forderungen mit universalistischen Wertorientierungen begründen müssen, basieren Pogrome auf partikularistischen Normen (»Deutsche zuerst!«), die der Out-Group bestimmte allgemeine Rechte (auf Arbeit, Wohnen, eigene Sprache und Kultur, religiöse Betätigung) absprechen. Deshalb müssen entlang physischer, kultureller oder religiöser Differenzen sich ausschließende Werte- und Loyalitätsgemeinschaften konstruiert werden, die die Exklusion als notwendige Abwehrmaßnahme begründen. Gerüchte über Angriffe seitens der Minderheit (Entführungen, Vergewaltigungen, Vorwurf der Beteiligung an Attentaten, Ausnutzung des Sozialstaates, symbolische Übergriffe) bilden eine typische, »soziale Kontrollgewalt« legitimierende Kommunikationsform unmittelbar vor Ausbruch von Pogromen. Gerüchtekommunikation In den Studien zu einzelnen Pogromen, aber vor allem in Analysen von Pogromwellen ist deshalb immer wieder die zentrale Rolle dieser Gerüchtekommunikation im Vorfeld, aber auch in der Ausbreitung von Pogromen (Ansteckungseffekt) betont worden.77 Letzteres ist darauf zurückzuführen, dass Gerüchte durch die Aktualität ihrer Information gekennzeichnet sind.78 Da ihre Botschaft schnell veraltet und damit an Wert verliert, müssen sie gewöhnlich rasch weitererzählt werden, wobei feindselige Gerüchte immer weiter zunehmen, positive dagegen schnell wieder ver-

 Aronson weist auf die lebendige und aktive Tradition der gewaltsamen Übergriffe gegen Juden im Süden und Südwesten Russlands hin, auf Chmielnicki und die Pogrome in Odessa von ,  und  (Troubled Waters, S. ).  Rösel, Vom ethnischen Antagonismus, S.  ff.  Ebd., S. .  Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. -, widmet in seiner Analyse der Vorgänge im Jahre  in Konitz ein ganzes Kapitel dem Thema Gerüchte; Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  ff.; Horowitz, Deadly Ethnic Riot, Kap. : Before the Riot: The Critical Role of Rumor, S. -.  Nach Klaus Merten (Zur Theorie des Gerüchts, in: Publizistik , , S. -, hier S. ) beschreibt der journalistische Begriff der Aktualität den Kommunikationsdruck, der aus der Interaktion von Relevanz (importance) und Informationsdefizit (ambiguity) entsteht, den beiden Elementen, aus denen das »basic law of rumor« von Gordon W. Allport/ Leo J. Postman (The Psychology of Rumor, New York ) besteht.

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ebben.79 So reisen sie schnell auch über größere Entfernungen, wobei ihre Reichweite im Wesentlichen von der Übereinstimmung der Interessen und Problemlagen der jeweiligen Bevölkerungsgruppe abhängt.80 Terry Ann Knopf hat in ihrem Buch Rumors, Race and Riots von  anknüpfend an die Theorie kollektiven Verhaltens von Neil J. Smelser81 ein Prozessmodell der Gerüchtekommunikation entwickelt, in dem Gerüchte funktional mit basalen Konflikten verbunden sind und eine Form darstellen, durch das Medium negativer Vorstellungen mit diesen Konflikten umzugehen.82 Man kann deshalb sagen, dass Gerüchte als eine Form »kommunikativer Selbsthilfe« bei Normverletzungen die Selbsthilfe mittels Gewalt, die wir als Pogrom definieren, vorbereiten bzw. an dessen Ausbreitung mitwirken. Die das Handeln organisierende Funktion ist es, die nach Donald Horowitz ein offizielles Dementi so wirkungslos macht. Gerüchte haben im »Riot-Prozess« also eine wichtige Funktion, da sie die Gewalt legitimieren, die gerade ausbricht.83 Neben strukturellen Problemlagen (»structural strain« im Sozialsystem) hebt Knopf vor allem die Bedeutung der Existenz eines feindseligen Vorstellungs Vgl. dazu auch das Sprichwort »Bös Gerücht nimmt immer zu, gut Gerücht kommt bald zur Ruh« (Manfred Bruhn, Gerüchte als Gegenstand der theoretischen und empirischen Forschung, in: Manfred Bruhn/Werner Wunderlich (Hrsg.), Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform, Bern, Stuttgart , S. -, S. .  Merten definiert Gerüchte unter Bezug auf Luhmanns Theorie sozialer Systeme »als vernetzte Kommunikationsprozesse«, die eine systemische Struktur besitzen, indem sie nach ihrer Entstehung (Katalyse) ein Eigenleben gewinnen und bestrebt sind, sich selbst durch weitere Kommunikation aufrechtzuerhalten. Gerüchte bezeichnen zugleich den Prozess der Verbreitung von Informationen wie auch das Resultat dieses Prozesses (Zur Theorie des Gerüchts, S.  und  f.).  Neil J. Smelser, Theorie des kollektiven Verhaltens, Köln , S. -, der Gerüchte als generalisierte Vorstellungen ansieht, die zu kollektivem Verhalten wie Ausschreitungen, Paniken oder Manien führen können. In seiner Strukturanalyse eines »feindseligen Ausbruchs«, unter den man auch die Form des Pogroms subsumieren kann, unterscheidet Smelser vier Phasen in der Wechselbeziehung zwischen Gerücht und feindseligem Gewaltausbruch: unruhiges negatives Geraune; Gerüchte nehmen eine spezifisch bedrohliche Form an; Hetzparole, die die Gewalt entzündet; schnelle, fanatische Gerüchtekommunikation während des Aufruhrs (S.  f.).  Terry A. Knopf, Rumors, Race and Riots, New Brunswick, NJ . Auch Merten definiert die Entstehung und Verbreitung von Gerüchten »als einen Prozess kollektiver sozialer Selbsthilfe, der stets dann als fortgesetzte Kommunikation aktualisiert wird, wenn in einer Gruppe, einer Population oder in der Gesellschaft Defekte an den grundlegenden sozialen Strukturen (Normen, Werte, Kommunikationsbarrieren, unterdefinierte Situationen) auftreten oder aufzutreten scheinen« und wenn es einen Mangel an Information und Informationskanälen gibt (Zur Theorie des Gerüchts, S. ). Auch andere, wie Jean-Noël Kapferer, schreiben Gerüchten eine Warn- und Entlastungsfunktion zu und verstehen sie als eine kommunikative Abwehrreaktion oder ein Instrument sozialer Kontrolle (Gerüchte. Das älteste Medium der Welt, Leipzig , S. ).  »Rumor prevails because it orders and organizes action-in-process« (Horowitz, Deadly Ethnic Riot, S. ).

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Systems (»hostile belief system«) für die Ausbreitung von Gerüchten hervor: »By this term we mean a negative set of generalized views, perceptions and convictions held by one race with respect to another«.84 Zu den negativen Überzeugungen zählt sie vor allem auch eine große Unwissenheit (»ignorance«) über die jeweils andere Gruppe. Diese feindseligen Vorstellungen, in denen Fakten und Fiktionen miteinander verwoben sind, dienen dazu, die Ursachen der sozialen Spannungen zu identifizieren und der feindlichen Gruppe die Verantwortung dafür zuzuschreiben. Damit stärken Gerüchte wiederum auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Eigengruppe. In ihrem Prozessmodell betont Knopf, dass Gerüchte erst in Situationen von sozialer Spannung (Stress) und bei Vorhandensein eines entsprechenden feindseligen Überzeugungssystems ins Spiel kommen und ein Pogrom auslösen oder über die Ausbreitung von Gerüchten eine Pogromwelle in Gang setzen können.85 Das Gerücht ist in mehrfacher Hinsicht funktional mit dem feindseligen Vorstellungssystem verbunden: »Crystallizing, confirming, intensifying beliefs, while linking them to actual events«.86 Die negativen Erwartungen gegenüber dem Handeln und den Absichten der anderen Gruppe bilden den wichtigsten Nährboden für die Akzeptanz von Gerüchten über diese Gruppe, deren Inhalt sehr stark von den negativen Überzeugungen geprägt ist. Das Gerücht leistet also quasi eine Bündelung negativer Überzeugungen und schließt die Lücke zwischen einer emotional verankerten Überzeugung und deren kognitiver Bewahrheitung in einem, die Überzeugung bestätigenden »Faktum« (»confirming function«).87 Bei diesen »Fakten« handelt es sich häufig, worauf Horowitz hingewiesen hat, um behauptete verborgene Drohungen oder Übergriffe, die schwer zu verifizieren sind, wie drohende Invasionen, geplante Massaker, etwa Brunnen- oder Lebensmittelvergiftungen, entführte Kinder, »Ritualmorde«.88 Gerüchte leisten also die Verknüpfung eines häufig deutungsoffenen Ereignisses (z. B. Auffinden eines toten Kindes) mit den negativen Überzeugungen, wie in diesem Fall mit der Ritualmordlegende (»linkage function«), was dann das Ereignis viel bedeutsamer und provozierender erscheinen lässt. Gerüchte beglaubigen jedoch die feindseligen Vorstellungen über die andere Gruppe nicht nur, sondern sie intensivieren sie auch, indem sie tatsächliche Geschehnisse dramatisieren, also aus einer Handgreiflichkeit einen schwerwiegenden Übergriff der anderen Gruppe, aus einem leicht Verletzten mehrere Todesopfer machen (»intensification function«).89 Gerüchte zeichnen  Knopf, Rumors, S. .  Ebd., S. . Knopf betont, dass ein Gerücht allein keine Unruhen auslöst, wenn nicht die anderen Vorbedingungen erfüllt sind.  Ebd., S. .  »Each confirms the other: the rumor […] proves the belief […], while the belief explains the rumor« (ebd., S. ). Gerüchte leisten also nicht nur eine Konkretisierung und Kristallisierung feindseliger Vorstellungen, sondern auch als deren Realisierung eine Bestätigung durch die »Realität« (S. ).  Horowitz, Deadly Ethnic Riot, S. .  Dass bei der Weitergabe die aktuelle und negativere, spektakuläre Version des Gerüchts gewählt wird, hängt mit dessen systemischen Charakter zusammen, d. h. der Selbsterhal-

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sich bisweilen durch bizarre Übertreibungen und Entstellungen der Wirklichkeit aus, sie nivellieren aber zugleich auch die Information, indem Einzelheiten im Prozess der Weitergabe verloren gehen, während andere Elemente hervorgehoben werden, doch wird die zentrale Botschaft des Gerüchts – bei allen Variationen, die der situative Kontext verlangt – relativ konstant gehalten.90 Knopf leitet aus diesen Überlegungen eine Zahl von Annahmen über das Auftreten von Gerüchten in Rassenunruhen ab, die sie nachfolgend auch durch empirische Studien bestätigen kann: Die meisten Unruhen sind durch die Formierung von Gerüchten gekennzeichnet, die mehrdeutige, unklare Situationen strukturieren, indem sie Ereignisse erklären oder voraussagen.91 Wenn der Ausbruch von Unruhen droht, nimmt die Zahl darauf bezogener Gerüchte zu, die sich zudem auf gerade aktuelle Konfliktpunkte beziehen, ihnen Ausdruck verleihen, sie aber auch ausweiten.92 Gerüchte sind mit dem auslösenden Ereignis verbunden. Da sich im Laufe der tungstendenz des Gerüchts. Dies erklärt auch die oft beobachtete Negativität von Gerüchten (Merten, Zur Theorie des Gerüchts, S. ).  Merten, Zur Theorie des Gerüchts, S. . Nach Allport/Postman geschieht bei der Verbreitung von Gerüchten einerseits eine Verkürzung durch Weglassen von Einzelheiten (levelling), andererseits aber auch eine Verschärfung durch das Hervorheben anderer Aspekte (sharpening). Dies rührt daher, dass der jeweilige Erzähler das Gerücht dem entsprechenden Kontext (der Sprache und Vorstellungswelt der Rezipienten) anpasst, in dem er es weitergibt (Psychology of Rumor, S.  ff.).  Vgl. Bruhn, Gerüchte als Gegenstand der theoretischen und empirischen Forschung, S. . Dabei ist schwer zu eruieren, ob diese Gerüchte als Strategie einer Gruppe, etwa von Seiten von Agitatoren, bewusst in Umlauf gebracht werden oder spontan entstehen, zumal in Bevölkerungsgruppen, deren Informationsbedürfnis nicht über die offiziellen Kanäle befriedigt wird oder werden kann (im Fall von Analphabetentum). Im Unterschied zur Nachricht haben Gerüchte keinen sicher identifizierbaren Urheber, sie sind als »prozessuale und multiautoritative Form der ungesicherten und ungeprüften Informationsweitergabe zu verstehen« (Kay Kirchmann, Gerüchte und die Medien. Medientheoretische Annäherungen an einen Sondertypus der informellen Kommunikation, in: Bruhn/Wunderlich, Medium Gerücht, S. -, S. ); d. h. die Quelle des Gerüchts bleibt vage (vom »Hörensagen«), sein Wahrheitsgehalt ungesichert. Eine interessante Variante des Schutzes eines Gerüchts berichtete die AZJ: In Odessa seien bei verhafteten Pogromisten in Goldbuchstaben gedruckte Proklamationen mit der Unterschrift des Zaren Alexander III. gefunden worden, in denen dieser seinen Willen erklärt, die Juden zu massakrieren. Da jedoch seine Minister dagegen seien, dürften die Behörden nichts von diesem Ukas erfahren, weshalb er niemandem gezeigt werden dürfe (Jg. , Heft , .., S. ).  Tim Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. , beschreibt, wie Menschen versuchen, die unbestätigten Gerüchte über einen Vorfall, wonach die Juden angeblich ein Attentat auf einen Priester planten, zu überprüfen. »In diesem Klima wurden alle möglichen Handlungen als Hinweise auf erneute Gewalt oder tatsächliche Attentate gedeutet. Da Juden und Christen in einem täglichen Austausch standen, dynamisierte sich das Gerede.« In der Forschung werden denn auch vier Faktoren genannt, die für die Verbreitung von Gerüchten sorgen: allgemeine Unsicherheit (Ambiguität), individuelle Ängstlichkeit (Spannung, Besorgnis, verbunden mit der Erwartung eines bevorstehenden negativen Ereignisses), Wichtigkeit und Glaubwürdigkeit des Gerüchts (Bruhn, Gerüchte als Gegenstand der theoretischen und empirischen Forschung, S.  ff.).

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Unruhen der Konflikt zuspitzt, nimmt auch die Zahl der Gerüchte zu, deren Gehalt sich in den verschiedenen Phasen der Unruhen verändern kann.93 Der hier von Knopf entwickelte Typus des Gerüchts, der sich auf das tatsächliche oder nur vermutete Fehlverhalten der Out-Group bezieht und eine emotionale Konfliktdynamik auslöst, gehört zu den von Robert Knapp zum Typ der »feindseligen oder Aggressionsgerüchte« (wedge-driving oder aggression rumor) zählenden Gerüchten, die aus Motiven des Hasses und der Aggression entstehen, die kollektiven Hass aber auch selbst erzeugen. Knapp wertet neben der Feindseligkeit auch Wünsche oder Furcht als emotionale Bedürfnisse, die durch Gerüchte befriedigt werden können. Entsprechend identifiziert er noch einen aus Angst oder Unruhe entspringenden Gerüchtetyp »bogy rumors« sowie die aus einem Wunsch hervorgehenden »pipe dream« oder »wish rumors«.94 In Pogromen finden wir neben den feindseligen Gerüchten auch diese aus Furcht (z. B. vor einem Attentat auf ein Mitglied der InGroup oder vor Angriffen seitens der Selbstwehr der Out-Group) oder aus Wünschen entspringenden Gerüchte. Bei fast allen Pogromwellen taucht das Gerücht auf, gewaltsame Übergriffe gegen diese Gruppe seien von der höchsten staatlichen Autorität (wie dem Zaren, dem Reichskanzler Bismarck usw.) für einen gewissen Zeitraum erlaubt worden. Diese Gerüchte erleichtern die Mobilisierung zögernder Mitglieder der Eigengruppe, da sie die Furcht vor einer möglichen Bestrafung als gegenstandslos erscheinen lassen, auch wenn bei allen Beteiligten gewisse Zweifel an der Wahrheit des Gerüchts bestehen.95 Diese »Ungewissheit bzw. die Unklarheit über den Wahrheitsgehalt des Gerüchts« ist nun gerade ein konstitutives Merkmal dieser informellen Kommunikationsform. D. h. auch, Gerüchte sind ihrem Inhalt nach nicht immer verfälscht oder unwahr, sondern können einen Sachverhalt auch richtig wiedergeben. Die angebliche Freigabe der Gewalt kann sich zur Erwartung eines bevorstehenden »Schlages gegen die Juden« verdichten, die auf Seiten der InGroup eine gewisse (freudige) Erwartungshaltung erzeugt (Wunschgerüchte), bei  Knopf, Rumors, S.  f.; Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  f., schildert einen solchen Fall einer »Verwandlung des Gerüchts«. Da das Gerücht, der Kaiser habe die Erlaubnis zum »Schlagen der Juden« gegeben, durch einen harten Polizeieinsatz eigentlich widerlegt worden war, schützte man seine Geltung durch ein neues Gerücht, wonach die Polizei von den Juden bestochen worden sei. Auf diese Weise überlebte das Narrativ einer Freigabe der Juden auch »seine deutlichste Widerlegung«. Merten betont, dass Aussagen eines Gerüchts Existenzaussagen darstellen, die nicht falsifizierbar sind. Das Gerücht immunisiert sich gegen die Versuche seiner Widerlegung, z. B. indem es sich an die jeweilige Situation anpasst (Zur Theorie des Gerüchts, S. ).  Robert H. Knapp, A Psychology of Rumor, in: Public Opinion Quarterly /, , S. , hier S.  ff., hier zit. nach Bruhn, S. ; Merten weist aber zu Recht auf die Schwächen dieser nicht theoretisch abgeleiteten Typologien hin (Zur Theorie des Gerüchts, S. ).  Nach Ralph H. Turner definieren Gerüchte eine sich entwickelnde Situation, indem sie Menschen ermöglichen, mit einer Zuversicht und Entschiedenheit zu handeln, die vorher nicht gegeben war. Gerüchte entstehen, wenn »there is a strong incentive to engage in a form of collective activity against which norms are ordinarily operative« (Collective Behavior, in: Robert E. L. Farris (Hrsg.), Handbook of Modern Sociology, Chicago , S. -).

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der Zielgruppe der Gewalt dagegen ängstliche Befürchtungen wecken, zumal es in dieser Phase häufig zu expliziten Drohungen mit Gewalt kommt. Ist so ein Gerücht über bevorstehende Unruhen in der Welt, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass es in geeigneten Situationen, einem Fest, einem Markttag, einer Versammlung, dann tatsächlich zum Ausbruch von Gewalt kommt.96 Es eröffnet auf der anderen Seite aber auch präventive Möglichkeiten von Seiten der Opfergruppe und des Staates. Im Fall von Pogromen stellt diese Art von »vorhersagenden Gerüchten« für die potentiellen Aggressoren ein optimistisches, für die bedrohte Gruppe ein pessimistisches Gerücht dar mit entsprechend gegensätzlichen Handlungstendenzen (Angriff vs. Schutz). Gerüchtekommunikation ist nicht auf die Weitergabe in Form interpersonaler Kommunikation (Gerede) begrenzt, sondern auch Massenmedien können zu Erfindern oder Multiplikatoren von Gerüchten werden und so zur Auslösung von Pogromen bzw. ihrer Ausbreitung beitragen.97 Gerüchte haben häufig einen längeren, oft massenmedial vermittelten Vorlauf, in dem sich Vorurteile und nationalistische Semantiken verdichten und radikalisieren. Fallanalysen zeigen, dass die kollektive Gewalt oft durch Flugblatt-Kampagnen, Hetzartikel in Zeitschriften oder politische Debatten vorbereitet wurde.98 Hierbei kommt »ethnischen Ideologen« eine wichtige Rolle zu, die öffentlich eine Sicht der Realität entwickeln, in der die Out-Group als Bedrohung und als Urheber der gegenwärtig ungünstigen Situation der Eigengruppe hingestellt wird.99 Gewaltanwendung setzt einen Kommunikationsprozess voraus, in dem Werte und Normen verändert werden und die Zielgruppe schrittweise »exkommuniziert« wird, so dass die kollektive Gewalt den Endpunkt in einem Prozess der Ausgrenzung darstellt. Die Balance zwischen Anreiz und Blockierung, die Aggression reguliert, gerät zudem dann aus dem Gleichgewicht, wenn man sich positiv auf »höhere Prinzipien« und auf die Selbstinterpretation des Handelns als bloße Gegenwehr berufen kann.100 Auch wenn sich an den Gewaltaktionen zumeist nur ein Bruchteil der überwiegend jungen, männlichen Bevölkerung beteiligt, können die Gewalttäter mit einem großen Kreis an Sympathisanten rechnen, von denen viele zwar die Wahl der Mittel und eine aktive Beteiligung ablehnen mögen, nicht aber das Ziel der Bestrafung, Degradierung und Exklusion. Kollektive Gewalt ist, auch wenn nicht alle Akteure, die die Gewaltintention teilen, sich in gleicher Weise an der Schädigung der Opfer beteiligen, dennoch »Gewalt im Wir-Modus«, denn entscheidend für die  Hier ist auf die perlokutionäre Macht von Worten hinzuweisen, nämlich ihre Fähigkeit, etwas zu tun, indem man etwas sagt: »In this way, words come to be transformed from a medium of communication to an instrument of force« (Vas, Official Narratives, S. ).  Dazu Kirchmann, Das Gerücht und die Medien.  Vgl. exemplarisch für die antisemitischen Ausschreitungen in Pommern und Westpreußen : Hoffmann, Politische Kultur, S.  ff.; klassisch auch die Rolle der antisemitisch hetzenden Zeitung Bessarabets des aktiven Antisemiten Pavel Krushevan in der Vorbereitung des Pogroms in Kishinev , vgl. Judge, Easter in Kischinev.  Rösel, Vom ethnischen Antagonismus, S.  f.  Bohstedt, The Dynamics.

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Kollektivität ist die geteilte Intention von Tätern und Zuschauern.101 So gesehen, ist der Angriff auf eine seit längerem diskriminierte Gruppe im Verständnis der für die Täter relevanten Bezugsgruppen kein abweichendes, sondern normgerechtes Verhalten, die Täter sind also Konformisten, die nur einen Schritt weiter gehen als ihre Umgebung. Die Anwendung illegaler politischer Gewalt wird damit letztlich ebenso von sozialen Normen und Gratifikationen gesteuert wie die Anwendung legaler und gewaltloser Mittel. Wie schon von Pogrom-Historikern beobachtet (s. o.), spielt für die Ermutigung der Selbstjustiz die allgemeine Tendenz der staatlichen Politik gegenüber einer Minderheit ebenfalls eine wichtige Rolle. Eine feindselige, auf Einschränkung und Benachteiligung der Minderheit zielende Politik bei gleichzeitigem Assimilationsdruck erhöht die Wahrscheinlichkeit von Übergriffen, die für die Mehrheitsbevölkerung als legitim bzw. sogar als vom Staat erwünscht erscheinen. – Dem Staat kommt also in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselrolle für das Ausbrechen von Pogromen zu. Zur triadischen Konfliktrelation von Mehrheit, Minderheit und Staat Rassenunruhen oder soziale Bewegungen richten ihren Protest fast immer auch oder sogar primär an staatliche Instanzen, sei es, dass der Staat selbst Angriffsziel ist, sei es, dass er zum Handeln im Sinne des eigenen Anliegens gebracht werden soll, wenn andere Kommunikationsformen (Petitionen) vergeblich waren oder Kommunikationskanäle zur etablierten Politik fehlen. Bei Pogromen haben wir es mit einer anderen, einer dreistelligen Beziehungsrelation zu tun: Angriffsziel ist eine andere ethnische Gruppe, wobei die Rolle des Staates als dritter Partei ambivalent wahrgenommen wird, denn einerseits sehen die Akteure ihre Selbsthilfe als legitim an, andererseits »wissen« sie aber, dass sie das Gewaltmonopol des Staates durchbrechen und ihrer Aktionen strafbar sind. Die Tatsache, dass der Staat die »Bedrohung« der In-Group nicht abwehrt oder sie sogar – etwas durch Gleichstellungsmaßnahmen oder starke Zuwanderung – befördert, kann der gewalttätigen Selbsthilfe einmal der Charakter einer loyalen Ersatzhandlung geben, zum anderen aber auch einen staatskritischen Zug. Im ersten Fall sehen sich die Pogromisten als legitime Vertreter der Mehrheit an, wähnen sich gleichsam in Kooperation mit dem – allerdings aus welchen Gründen auch immer inaktiven – Staat. In vielen der untersuchten Pogromwellen gingen Gerüchte um, dass die Gewalt gegen Juden vom jeweiligen Machthaber für einen gewissen Zeitraum erlaubt worden sei.102 Es  Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. .  Schwierig ist die Beurteilung der »Reichskristallnacht«, da die Nationalsozialisten hier die Form des Pogroms (die »Volkswut« als Deckmantel) benutzten, obwohl es sich von den Entstehungsbedingungen her, nämlich der zentralen Anordnung von oben und der Ausführung des Befehls durch lokale NS-Organisationen, nicht um Pogrome gehandelt hat, wie auch der NS-interne Sprachgebrauch als »Judenaktion« belegt. Was den Fall schwierig macht, ist einerseits die »dual state«-Struktur des »Dritten Reiches«, die eine klare Scheidung zwischen Partei und Staatsmacht erschwert, zum anderen die Tatsache, dass

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gibt in der Tat Fälle der Duldung durch Teile der politischen Elite und der Polizei, die sich in manchen Fällen sogar an den Gewaltaktionen beteiligt.103 Vor allem lassen sich häufig Differenzen in der Haltung der lokalen staatlichen Organe und der Zentralgewalt erkennen, die die Pogromisten als Legitimierung ihres Vorgehens empfinden.104 Es gibt am anderen Pol auch schnelle und massive staatliche Intervention. Greift der Staat jedoch zugunsten der angegriffenen Minderheit ein bzw. wendet sich gegen Mitglieder der Mehrheitsbevölkerung, dann kann der Konflikt seinen »loyalen« Charakter verlieren, indem nun etwa auch Repräsentanten der staatlichen Gewalt angegriffen und als »Schutztruppe« der Minderheit in die Kritik geraten.105 Stephen Reicher hat auf das Problem der Ordnungskräfte hingewiesen, deren Behandlung aller Anwesenden als »Gegenseite« aus einer völlig disparaten Menge eine einheitliche Gewaltmasse macht, die sich im Widerstand gegen die Polizei vereint fühlt, die nun zum »Feind« wird, was zugleich Ziele und Handlungsoptionen der Menge verändert.106 Greifen die Kontrollorgane massiv durch, so werden sie gewöhnlich von den Pogromisten nicht attackiert, sondern

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sich auch Teile der Bevölkerung spontan beteiligt haben, als die Aktion lief. D. h., es ist möglich, dass wir es an bestimmten Orten tatsächlich mit Pogromen im hier definierten Sinne zu tun haben. Vgl. dazu Uli Baumann/François Guesnet, Kristallnacht – Pogrom – State Terror: A Terminological Reflection, in: New Perspectives on Kristallnacht: After  Years, the Nazi Pogrom in Global Comparison, in: The Jewish Role in American Life. An Annual Review of the Casden Institute for the Study of the Jewish Role in America, Vol. , edited by Steven J. Ross, Wolf Gruner, Lisa Ansell, S.-. Vgl. als ein aktuelles Beispiel die fünftägigen anti-muslimischen Pogrome in der indischen Provinz Gujarat im Jahre , die seitens der hindunationalistischen Regierungspartei BJP angestiftet und organisiert wurden. Durch ihre Kontrolle der Sicherheitsorgane konnte sie diese auch vom Eingreifen abhalten, entsprechend brutal waren die Aktionen und entsprechend hoch die Zahl der Opfer. Die offiziellen Zahlen lagen bei  getöteten Muslimen und  getöteten Hindus (dazu jeweils . bzw.  Verletzte), Jaffrelot rechnet mit mehr als . Toten (Communal Riots, S. ). Dieser Punkt muss noch weiter differenziert werden. Da neben den verschiedenen lokalen, regionalen und nationalen Staatsorganen auch die Differenzierung von Staat und Gesellschaft eine Rolle spielen kann, wenn die Pogromisten den Staat als illegitim betrachten und sich auf den »Volkswillen« berufen oder wenn Staat und Minderheit in einer engen Beziehung gesehen werden (im Begriff der »Judenrepublik« haben die Nationalsozialisten beides kombiniert). Vgl. dazu den von Amrita Basu beschriebenen Fall in Bijnor (Indien), wo Ausschreitungen von Hindus gegen die muslimische Minderheit sich mit einem Angriff auf den Staat vermischten (Why Local Riots Are not Simply Local: Collective Violence and the State in Bijnor, India -, in: Theory and Society /, S. ). Die Staatsorgane, in denen ja fast ausschließlich Mitglieder der Mehrheitsbevölkerung vertreten sind, fühlen sich in dieser Rolle in vielen Fällen unwohl: »Russian officials themselves were uncomfortable in the guise of defenders of the Jews, and repeatedly complained that the Jews were taking advantage of this protection«. Diese Konstellation erkärt auch das z. T. zögernde Eingreifen der Polizei: »Governor-General Drenteln, before the Kiev pogrom, famously complained his reluctance to ›trouble himself for a pack of Jews‹« (Klier, Russians, Jews and the Pogroms, S. ). Stephen Reicher, »Tanz in den Flammen«. Das Handeln der Menge und der Quell ihrer Freude, in: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen, S. -, hier S. .

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diese weichen vor ihnen zurück bzw. weichen aus und setzen ihre Angriffe an anderer Stelle fort.107 Ein massiver Einsatz mit Todesopfern sowie auch Verhaftungen können aber auch im Fall von Pogromen zur Gegengewalt der Pogromisten gegen Polizei und Militär führen und damit den Handlungsspielraum auf beiden Seiten einengen.108 Zwar kann es in diesen Konfrontationen von Pogrommenge und staatlichen Sicherheitskräften temporär zu einer Gewalteskalation kommen, in der die Gewalt der einen Seite die der anderen rechtfertigt und steigert, doch anders als im Fall höher organisierter Gruppen, z. B. bei Demonstrationen sozialer Bewegungen, kommt es nicht zu einer Institutionalisierung von Gewaltkollektiven und der damit verbundenen Reproduktion »legitimer« Anlässe für die Fortsetzung des gewaltsamen Konflikts. Pogrommengen zerstreuen sich nach dem Ereignis wieder und es findet hier keine Bildung radikaler Gewaltkollektive und auch keine Herausbildung einer sozialen Identität als Gewalttäter statt.109 Die ambivalenten Wirkungen des Eingreifens der Staatsmacht zeigen sich auch darin, dass etwa die vorsorgliche Stationierung von Truppen auf Wunsch der örtlichen Minderheit gerade zum Auslöser eines Pogroms werden kann, da diese Initiative von der Mehrheit als eine Beleidigung aufgefasst wird. Pogrome benötigen also in besonderem Maße eine günstige »politische Gelegenheitsstruktur«, da dem Verhalten von Regierung, Polizei, öffentlicher Meinung und den Bystanders eine Schlüsselstellung zukommt. So können eine staatliche Politik der Benachteiligung und Ausgrenzung einer Minderheit und ein signalisiertes Verständnis für die Nöte der Pogromisten zur Anwendung von Gewalt ermutigen. Die pogromspezifische Dreieckskonstellation hat Rückwirkungen auf die Rolle der staatlichen Kontrollorgane, da diese anders als bei Rassenunruhen und sozialen Bewegungen als Vertreter der Mehrheitsgesellschaft bis zu einem gewissen Grad parteiisch sind und überdies nicht das primäre Angriffsziel darstellen. Hinzu kommt, dass Verbrechen, die den Charakter von »kollektiver Selbsthilfe« haben, gewöhnlich vergleichsweise milde bestraft werden.110 Dies erklärt, warum Gerüchte  Vgl. dazu Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . In Elisavetgrad »›verschwanden‹ die Menschenmengen ›wie Rauch‹, sobald sich ein Trupp Husaren mit Entschiedenheit näherte, wenig später setzten sie das Plündern und Zerstören an anderer Stelle fort.« (ebd.).  Pogromisten reagieren auf die Parteinahme der Staatsorgane für die Minderheit mit Wut, Bestürzung und Abscheu, insbesondere natürlich, wenn Mitglieder der In-Group von der Polizei oder der Armee in Verteidigung der Out-Group getötet werden. Klier berichtet von einem Pogrom in Smela im Jahre  (Zarenreich), bei dem die Menge auf die Eröffnung des Feuers seitens der Truppen ausrief »They’re shedding Christian blood for the Jews« (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ).  Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. .  Vgl. Black, Crime, S. . So sind im amerikanischen Süden Lynchmorde an Schwarzen, denen man Übergriffe gegen einen Weißen vorwarf, kaum geahndet worden, obwohl man die Täter kannte und hätte leicht verhaften können. Dies gilt grundsätzlich auch für die Verfolgung von Pogromisten. Es kommt nach Pogromen zwar zu Prozessen, doch fallen die Strafen zumeist milde aus.

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über eine staatliche Lenkung von Pogromen so weit verbreitet sind und wieso die Kontrollorgane häufig zögern, massiv gegen die Pogromisten vorzugehen.111 Selbst die als nicht zimperlich bekannten Kosaken haben in den russischen Pogromwellen nur in Ausnahmefällen auf die Pogromisten geschossen, während sie umgekehrt die sich wehrenden Pogromopfer angriffen und verhafteten. Stefan Wiese hat in seinen Fallstudien nicht nur bei der örtlichen Polizei, sondern auch beim Einsatz von Militär eine geringe Bereitschaft zur Gewaltanwendung festgestellt, tödliche Gewalt kam nur als Ultima Ratio zum Einsatz.112 Andererseits stellen kollektive Gewaltaktionen immer auch Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols dar, so dass der Staat sie auf Dauer nicht tolerieren kann, selbst wenn die Eliten die Ablehnung der Minderheit teilen.113 Aufgrund dieser dreistelligen Relation können folgende Veränderungen der Machtbalance zu Gewaltaktionen führen: ) Reale oder vermeintliche Positionsansprüche oder -gewinne der Minderheit in rechtlicher, politischer, ökonomischer oder symbolischer Hinsicht bzw. eine quantitative Verschiebung zugunsten der Minderheit führen zu einer Abwehrreaktion der von Statusverlust oder in ihrer Sicherheit bedrohten Gruppen (z. B. in den Hep-Hep-Unruhen  als Reaktion auf die Judenemanzipation; in AntiImmigranten-Pogromen zur Abwehr weiterer Einwanderung;114 in antijüdischen Ausschreitungen aufgrund vermeintlicher Ritualmorde an christlichen Kindern). Dabei gibt es offenbar sehr stabile Vorstellungen von einer ethnischen Hierarchie, gegen deren Veränderung man sich von Seiten der dominanten Gruppe sträubt.115 

In der neueren Forschung zu der russischen Pogromwelle von - wird dagegen vor allem der Mangel an polizeilichen Ressourcen und Inkompetenz für das häufig zu späte staatliche Eingreifen verantwortlich gemacht (Aronson, Troubled Waters). Ähnlich sieht auch Nonn in Konitz eher »banale Inkompetenz« und »Feigheit, eigene Fehler einzugestehen« als die Existenz antijüdischer Einstellungen als Ursache für die ungenügende Ausübung der staatlichen Schutzfunktion (Zwischenfall, S. ).  Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . Da die Vorschriften hohe Hürden für den Einsatz von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung enthielten, scheuten viele Offiziere die Verantwortung für einen entsprechenden Einsatzbefehl. Auch konnten sie der Loyalität ihrer Soldaten in so einem Fall nicht sicher sein.  Dies war das primäre Motiv der Politik der preußischen Regierung in Pommern und Westpreußen  und  Vgl. Christhard Hoffmann, Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten. Die antisemitischen Ausschreitungen in Pommern und Westpreußen , in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung , , S. -; Nonn, Zwischenfall, S. .  Panayi, Anti-Immigrant Riots.  Klier hält die allgemeine Vorstellung unter der nicht-jüdischen Bevölkerung, dass Juden, ungeachtet ihres tatsächlichen Reichtums, ihres sozialen Status oder ihrer Macht über Nicht-Juden, in irgendeiner Weise dennoch eine inferiore Stellung einnehmen, für den Schlüssel zur Psychologie von Pogromen. Entsprechend sperrt sie sich gegen die Anerkennung einer Statusveränderung. Er zitiert den Grafen Kutaisov mit der Bemerkung: »The people […] could not get used to the idea of having to acknowledge the Jews as their ›masters‹« (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ).

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Als zentraler Instanz bei der Regulierung sozialer Konflikte und bei der Gewährung von kollektiven Gütern kommt dem Staat dabei eine Schlüsselrolle zu. ) Situationen von Machtverschiebungen oder allgemeinem Machtverfall auf Staatsebene. Hier lassen sich verschiedene Konstellationen unterscheiden: a) Machtvakanz (durch politischen Mord, Systemwechsel, einen verlorenen Krieg, Abzug von Besatzungstruppen) oder b) innerstaatliche Machtkämpfe in Revolution und Bürgerkrieg, in denen es einmal wegen des Ausfalls staatlichen Schutzes zu einem Übergreifen der Gewalt auf Minderheiten kommt, die als Parteigänger der inneren oder äußeren Feinde betrachtet werden, in denen zum anderen kollektive »gewalttätige Selbsthilfe« naheliegt, da der Staat als nur eingeschränkt handlungsfähig gesehen wird.116 ) Ist eine ethnische oder religiöse Minderheit aus einem anderen Nationalstaat zugewandert und bleibt also solche identifizierbar, kann sie in Phasen eines Konflikts zwischen dem Herkunftsland und dem Aufnahmeland zum Ziel von Pogromgewalt werden, da sie als ein Vertreter des Feindes im Inneren (»fünfte Kolonne«) gilt.117 ) Das Machtmodell muss jedoch um jene Fälle erweitert werden, in denen der Minderheit Bedrohungsursachen attribuiert werden, die in gesamtgesellschaftlichen Konstellationen begründet sind. Modernisierungskrisen mit ihrer Destabilisierung von Lebenslagen, Kriege, Hunger oder Seuchen, für die Urheber schwer auszumachen bzw. nicht angreif bar sind, werden – häufig verschwörungstheoretisch »gerahmt« – als absichtsvolle Schädigung seitens einer Minderheit gedeutet, die man als Nutznießer imaginiert. Robert A. LeVine und Donald T. Campbell sprechen hier von der für den Ethnozentrismus typischen Tendenz, »to blame the outgroup for the troubles and deprivations of ingroup members«.118 Die Wahl des Gegners hängt von Determinanten ab, die nicht in direktem Zusammenhang mit einem Streitpunkt stehen, sondern in bestehenden Vorurteilstraditionen  Felix Schnell hat am Bespiel des Russischen Bürgerkrieges und des dort stattfindenden Dauerpogroms auf die Bedeutung »staatsferner Räume« für die Ausübung physischer Gewalthandlungen hingewiesen, wobei er unter Staatsferne »eine Situation in einem sozialen Raum« versteht, »in dem keine über ein Gewaltmonopol gebietende Staatsgewalt existiert«. Damit sei aber nicht deren völliges Fehlen gemeint, sondern ihre Schwäche, »aus der heraus Vertreter des Staates nur Konkurrenten um die Macht, aber keine Machthaber sind« (Der Sinn der Gewalt, Textabschnitt ).  Auch hier ist das Pogrom eine Form der »Selbsthilfe«, wenn der Staat nicht selbst handelt, indem er »enemy aliens« von sich aus interniert, eine übliche Praxis in Kriegssituationen. Vgl. zum »Deutschenpogrom« in Moskau im Zuge des Ersten Weltkriegs im Mai : Eric Lohr,  and the War Pogrom Paradigm in the Russian Empire, In: J. DekelChen et al. (Hrsg.), Anti-Jewish Violence, S. -; auch Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  ff.  LeVine/Campbell, Ethnocentrism, S. . Hier haben wir es mit der von Lewis A. Coser so genannten Form des »unechten Konflikts« zu tun, in dem eine Konfliktsituation mit einem Ersatzobjekt (Sündenbock) geschaffen wird (Theorie sozialer Konflikte, Neuwied , S.  ff.).

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und in der Schwäche oder der Verfügbarkeit der angegriffenen Gruppe zu finden sind (deshalb bestehen funktionale Alternativen in den Objekten). Diese Form des Konflikts hat die Funktion der Aggressionsabfuhr und dient der Integration der destabilisierten Gemeinschaft mittels des Kampfes gegen eine Minderheit.119 Haben wir uns bisher mit den Voraussetzungen befasst, unter denen es zu Gruppenspannungen kommt, die, ausgelöst durch ein bestimmtes Ereignis, zu kollektiver Gewalt führen können, so hat sich die Gewaltforschung in den letzten zwanzig Jahren zunehmend mit dem in Gewaltsituationen ablaufenden Interaktionsgeschehen befasst. In der Sozialpsychologie und der Mikrosoziologie sind Theorien entwickelt worden, die man als »situationistische Erklärungsansätze« zusammenfassen kann. Diese betonen nach Ferdinand Sutterlüty die Eigendynamik von Gewaltsituationen, so dass die Analyse ohne Rekurs auf die Persönlichkeitsmerkmale der Akteure auskommen und zudem zeigen muss, wie sich die vorausgehenden strukturellen Spannungen und kulturellen Orientierungsmuster in der konkreten Situation manifestieren. D. h., im Vordergrund steht der Verlauf des physischen Gewalthandelns selbst.120 Die Pogromdynamik Wie bereits die sozialhistorische Protestforschung herausgearbeitet hat, folgen Unruhen einerseits bestimmten Regeln oder Skripts (protocols of riots) und besitzen ähnliche Verlaufsformen, zumal wenn es eine präfigurierende Pogromtradition im eigenen Land gibt. Wie im Framing-Kapitel dargestellt, steuern die der Out-Group vorgeworfenen Verletzungen normativer Standards bis zu einem gewissen Grad die Handlungsmotive und Verhaltensweisen der Pogromisten im Verlauf der Gewaltaktionen, gilt es doch, die verletzte Ordnung wiederherzustellen. Doch folgen sie, wie interaktionistisch angelegte Situationsanalysen zeigen, dabei keineswegs nur vorab feststehenden Regeln, sondern im Zusammenwirken aller Akteure kommt es zu neuen Situationsdeutungen und Veränderungen der Handlungsziele.121 So hat Donald Horowitz in seiner international vergleichenden Studie zwar einerseits  Vgl. dazu die Hypothese der Realistic Group Conflict Theory: »False perceptions of threat from outgroups cause increased ingroup solidarity and outgroup hostility« (LeVine/ Campbell, Ethnocentrism, S. ).  Vgl. dazu Sutterlüty, Kollektive Gewalt und urbane Riots, in: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen, S. -, hier S. -; mit einem solchen Ansatz arbeitet auch Wiese, Pogrome im Zarenreich, in seinen empirischen Analysen.  Sutterlüty hat dieses Verhältnis von kulturell übermittelten Skripten und normativen Vorgaben und interaktionistischen Situationsanalysen zu bestimmen gesucht (Kollektive Gewalt und urbane Riots, S. -). Auch Schwalb/Paul (Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S.  f.) betonen, dass die Handlungsfähigkeit einer Menschenmenge auf einem geteilten Wissen basiert, das teils von den Anwesenden in die Situation mitgebracht, teils in der Situation selbst neu hervorgebracht wird, indem das mitgebrachte Wissen erweitert oder angepasst und seltener wohl »aus dem Nichts« heraus neu entwickelt wird.

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betont, dass ein »ethnic riot« ein gewisses Grundmuster besitzt, jeder konkrete Fall aber anders verläuft: Ein »ethnic riot« ist ein »event with a structure, a process and a character. It has overall rhythms … There is no single course taken by every riot as it develops, but there is a rough sequence in many riots that characterizes the transition from peace to mass violence and back. The riot is preceded by a chain of identifiable precipitants, events that persuade people that violence is necessary and appropriate«.122 Pogrome stellen eigendynamisch verlaufende Prozesse dar, wobei »die Akteure die sie antreibenden Motivationen im Prozessverlauf selbst hervorbringen und verstärken«.123 D. h., wir haben es mit rekursiven Prozessen zu tun, bei denen die Wirkung eines Ereignisses oder Handelns (etwa eine Schlägerei, ein Gerücht) als Ursache auf dieses Handeln zurückwirkt und so einen eigendynamisch verlaufenden Prozess in Gang setzt. Wichtige Bedingung für diesen Typ sozialer Prozesse ist, »dass alle Beteiligten sich fortlaufend gegenseitig stimulieren, im Feld zu bleiben und weiterzumachen«, womit Motive seiner Fortsetzung erzeugt werden.124 D. h. im Fall nicht-organisierter kollektiver Gewalt, dass diese auf fortgesetzte Interaktionen unter Anwesenden angewiesen ist, da es ein Kennzeichen eigendynamischer Prozesse ist, dass alle Beteiligten sowohl agieren als auch auf das Handeln der anderen Akteure im Handlungssystem reagieren.125 Auch wenn kollektive Gewalt nicht oder kaum organisiert ist, verläuft sie im konkreten Ablauf doch nicht unkoordiniert. Diese Prozesse können sich über unterschiedlich lange Zeiträume erstrecken, wobei für Pogrome eine relativ kurze Dauer typisch ist. Es gibt zwar situative Mechanismen der Verstetigung bzw. Eskalation, die aber gewöhnlich nicht mehr als zwei bis drei Tage tragen, da Eskalationsprozesse nicht unendlich gesteigert werden können. Es kommt nicht zu einer längerfristigen Institutionalisierung oder Formalisierung der Gewalt etwa in Form von Riten oder in mitgliedschaftsbasierten sozialen Gebilden (Gruppen, Organisationen), die wie im Vigilantismus oder in Genoziden zu einer Verstetigung des Gewalthandelns führen, und es kommt auch nicht zu einer motivationalen Verselbständigung des Gewalt Horowitz, Deadly Ethnic Riot, S. .  Grundlegend dazu: Renate Mayntz/Birgitta Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie /, , S. -, hier S. . Das Besondere der eigendynamischen Prozesse sind nicht ihre Folgen, sondern die Art ihres Zustandekommens, ihrer Fortsetzung und Verlaufsform (S. ).  Friedhelm Neidhardt, Über Zufall, Eigendynamik und Institutionalisierbarkeit absurder Prozesse. Notizen am Beispiel einer terroristischen Gruppe, in: Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. Festschrift für René König zum . Geburtstag, hrsg. von Heine von Alemann/Hans Peter Thurn, Opladen , S. -, hier S.  f.  Mayntz/Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse, S. ; Collins, Dynamik der Gewalt, S. , hat betont, dass Riots/Pogrome, um am Laufen zu bleiben, Akteure zur Teilnahme motivieren müssen. Diese müssen etwas zu tun haben, sonst drohen sie die Szene zu verlassen. Er sieht dabei Plünderungen als besonders effektive Form der Aufrechterhaltung und »Personalrekrutierung« an, die allerdings auch viele Trittbrettfahrer anlockt.

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handelns über einen längeren Zeitraum, da das Risiko der Teilnahme aufgrund der zunehmenden Gegenreaktion der Ordnungsmacht ansteigt.126 Schwalb und Paul betonen zu Recht, dass es sich bei Gewalt um ein relationales Phänomen handelt, das sich nicht so sehr aus den Motiven und Prägungen der teilnehmenden Akteure ergibt, sondern vor allem aus ihren Beziehungen untereinander,127 d. h. bei Pogromen aus der Interaktion von Opfern, Tätern/Zuschauern und Ordnungskräften.128 Selbst wenn Akteure bereits mit einer Gewaltabsicht in eine bestimmten Situation eintreten, so ist dies »weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung dafür, dass es zur Gewalttat kommt«: Zum einen kann sich die Gewaltintention erst in einer konkreten Situation ergeben, wie es bei Pogromen zumeist der Fall ist, zum anderen sorgen die eigendynamischen Prozesse im Fall nicht-organisierter Gewalt dazu, dass sich die Handlungsbedingungen und -ziele in der Interaktion mit den anderen Akteuren auf nicht vorhersehbare Weise verändern können.129 Da Pogrommengen nur zum Teil aus Mitgliedern bestehen, deren Wir-Bewusstsein sich aus konkreten Interaktionen speist (Nachbarn, Freundesgruppen, Familienangehörige), sich – je nach Ortsgröße natürlich – vielmehr vor allem aus einander fremden Personen zusammensetzen, ergibt sich die Frage, wie sie dennoch koordiniert handeln. Stephen Reicher hat zur Erklärung auf die sozialpsychologische Theorie der sozialen Identität zurückgegriffen, wonach ein Wir-Bewusstsein auch ohne Interaktion entstehen kann, allein dadurch, dass Menschen sich einer sozialen Kategorie zurechnen, also über die Ausbildung einer stereotypen Selbstund Fremdwahrnehmung.130 Nehmen sich die in einer Situation Anwesenden als Mitglieder derselben sozialen Kategorie wahr, erhöht sich damit ihre Fähigkeit, koordiniert zu handeln. Nach Reicher entsteht die gemeinsame Identität der Menge durch kognitive, relationale und affektive Transformationen, in denen das Handeln steuernde, wenn auch nicht völlig determinierende Gruppenüberzeugungen und Ziele, die Kooperationsbereitschaft aufgrund des der eigenen Gruppe entgegengebrachten Vertrauens und Respekts, sowie des Gefühls der kollektiven Selbstverwirklichung in der Ausübung gemeinsamen Handels entstehen.131 Die ja gerade Pogromen vorausgehenden Aktualisierungen negativer Wissensbestände  Mayntz/Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse, S. ; Schwalb/Paul, Nichtorganisierte kollektive Gewalt, S.  f.  Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. .  Auch wenn hier vier beteiligte Gruppen als Akteure genannt werden, besteht grundsätzlich eine dreistellige Konstellation, da die Täter/Zuschauer-Rollen situativ gewechselt werden können und Täter und Zuschauer gewöhnlich die gleiche Handlungsintention haben.  Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. , unterscheiden also zwischen der normativen Billigung von Gewalt, der Gewaltintention und der Gewalthandlung.  Stephen D. Reicher, The St-Pauls’ Riot: An Explanation of the Limits of Crowd Action in Terms of a Social Identity Model, in: European Journal of Social Psychology , , S. -.  Reicher, »Tanz in den Flammen«, S. -. Reicher wendet sich damit gegen die alte Auffassung vom Kontrollverlust und der Irrationalität der Menge.

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und Emotionen gegenüber der Out-Group verstärken dieses Wir-Bewusstsein oder Zusammengehörigkeitsgefühl, das nach Schwalb und Paul die »Sympathie, die Kooperations- und Interaktionsbereitschaft der zugehörigen Anwesenden sowie deren Konformität mit den Gruppenerwartungen« erhöht.132 Beginn, Verlauf und Gewaltniveau von Pogromen unterscheiden sich je nachdem, ob wir es mit emergenten oder stärker organisierten Aktionen zu tun haben. Man muss hier ein Kontinuum annehmen zwischen dem Pol einer stärker organisierten Form, die bis hin zur staatlichen Beihilfe und Anstiftung reichen kann und zumeist sehr gewaltsam verläuft,133 und dem Pol eines spontanen Krawalls auf niedrigem Gewaltniveau. Werden angesichts der beschriebenen Krisenerscheinungen in Phasen sozialen Wandels, in denen Statusunsicherheit herrscht und Statusverluste drohen, die ethnischen Grenzen betont, so setzt ein Prozess sich verstärkender sozialer Polarisierung zwischen der In- und der Out-Group ein, den wir im Kapitel »Framing« als Entwicklung konfligierender »identity frames« beschrieben haben, und es entsteht eine »Konfliktstruktur«. Konfliktparteien tendieren dazu, von der Gegenseite ausschließlich Negatives zu erwarten und zu glauben, dass diese sie zu schädigen versucht. Daraus ziehen sie die Konsequenz, sozusagen in »Notwehr« ebenso destruktiv zu handeln. Insofern ist in Konfliktkommunikation immer eine Tendenz zur Eskalation eingebaut. Vor allem Gerüchte über angeblich bereits ausgebrochene oder aber kurz bevorstehende Gewalt führen dazu, dass alternative Möglichkeiten einer friedlichen Verständigung versperrt werden. Denn was nützen Verhandlungen, wenn die andere Seite bereits zur Gewalt gegriffen hat?134 Wie gestalten sich nun die Entwicklung hin zu einem Zustand ansteigender Intergruppenspannung und der Übergang zum offenen Pogrom? ) In Pogromen fehlen tragfähige horizontale Netzwerke zur anderen Konfliktpartei bzw. diese sind schwächer ausgeprägt. Im Unterschied etwa zu lokalen Subsistenzunruhen des frühen . Jahrhunderts, wo solche Netzwerke innerhalb einer christlichen Dorf- oder Stadtgemeinde bestanden und Gewalt durch Verhandlungen und Brauchtum (»protocols of riots«) eingegrenzt war, bestehen zwischen ethnischen Gruppen, insbesondere wenn es zwischen ihnen eine große soziale und kulturelle Distanz gibt, weniger überlappende Beziehungen und sie verringern  Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. .  Wenn die Minderheit ihrerseits Selbstwehrgruppen aufgebaut hat, kann die Gewalt zu einer Art Bürgerkrieg eskalieren, Eine solche Eskalation gab es in Russland, wo Juden in Reaktion auf die antijüdischen Pogrome der er Jahre solche Gruppen gründeten. Shlomo Lambroza, Jewish Self-Defense during the Russian Pogroms of -, in: Herbert A. Strauss (Hrsg.), Hostages of Modernization. Studies in Modern Antisemitism -/, Vol. /, Berlin , S. -; Leonard Rowe, Jewish Self-Defense: A Response to Violence, in: Studies on Polish Jewry -, hrsg. von Joshua A. Fishman, New York, , S. -; neuerdings Stefan Wiese, »Spit Back with Bullets«. Emotions in Russia’s Jewish Pogroms, -, in: Geschichte und Gesellschaft , , S. -.  Horowitz, Deadly Ethnic Riot, S. .

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sich im Zuge eines eskalierenden Konflikts immer mehr.135 Das niedrige Informationsniveau (»information asymmetry«) zwischen ethnischen Gruppen führt dazu, dass man über die Verhaltensweisen und Mitglieder der anderen Gruppe schlechter informiert ist, so dass bei einem Zwischenfall der konkrete Schuldige nicht identifiziert werden kann, sondern nun die Out-Group kollektiv haftbar gemacht wird. Damit wird eine Entwicklung hin zur Anwendung gewalttätiger Selbsthilfe in Gang gesetzt, die nur dadurch gestoppt werden kann, dass die Kontrollorgane der Out-Group bei der Suche und Bestrafung des konkreten Anstifters helfen (ingroup policing). Der Störung der Kommunikation mit der Out-Group steht eine intensive lokale In-Group-Kommunikation gegenüber, die man gemeinhin als »Pogromstimmung« beschreibt, d. h. eine durch vorherige Agitation, Medienberichte, Gerüchte,136 dass ein Pogrom drohe, und gewalttätiges Probehandeln (eine Testphase von Drohungen, Sachbeschädigung) verdichtete und emotional aufgeladene Situation.137 Diese ist gewöhnlich durch Unsicherheit und eine fehlende Struktur gekennzeichnet, so dass eine klare Ausrichtung des Handelns schwierig ist. Dennoch besteht in diesen Massensituationen gewöhnlich nicht eine Situation der »doppelten Kontingenz«, in der kollektives Handlungswissen ohne jede Vorgabe neu erzeugt werden muss.138 Nach Tamotsu Shibutani entwickeln Personen in solchen unterdefinierten Situationen Anstrengungen, um diese für sich zu 

Zum Abbruch der Kommunikation zwischen Sikhs und Hindus nach der Ermordung der indischen Ministerpräsidentin Indira Gandhi und den anschließenden Pogromen gegen die Sikhs in Delhi  vgl. Das (Official Narratives, S. ): »The key characteristics of the crisis were as follows: a mounting panic which signaled the breakdown of social communication; the animation of a societal memory composed of incomplete or interrupted stories; and the appearance of a panic-laden rumor.«  Zu deren Kennzeichen gehören neben der interaktiven, lokalen und situativen Produktion auch ihr kollektiver Charakter und die kettenförmige Weitergabe, wonach jeder Weitererzähler zugleich Vermittler und Mitproduzent ist: man »mischt in der Gerüchteküche mit«. Vgl. Thomas S. Eberle, Gerücht oder Faktizität? Zur kommunikativen Aushandlung von Geltungsansprüchen, in: Bruhn/Wunderlich (Hrsg.), Medium Gerücht, S. -, hier S. -.  Schwalb/Paul betonen ebenfalls die zentrale Rolle von »emotionalen Zuständen und Dynamiken« bei der Entstehung einer gemeinsamen Absicht zur Anwendung konkreter körperlicher Gewalt (Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S.  und ).  Schwalb/Paul diskutieren im Anschluss an Niklas Luhmanns Überlegungen (Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. , S. -) dieses Problem der doppelten Kontingenz, wonach es zwei füreinander undurchsichtige Akteure, die ihr Handeln jeweils von dem des Anderen abhängig machen wollen, unmöglich ist, ihr Handeln zu bestimmen. Aus dieser Unsicherheitserfahrung heraus unterstellen die Akteure sich wechselseitig, dass bestimmte Aktivitäten vom anderen intendiert, also als Kommunikation gemeint sind, woraufhin reagiert werden kann, so dass ein Handlungssystem entsteht (Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S.  f.). Derartige völlig unbestimmte Situationen existieren jedoch vor Ausbruch von Pogromgewalt nur in Ausnahmefällen, vielmehr sind bereits zuvor Deutungsmuster und Verhaltenserwartungen (auf beiden Seiten) ausgebildet worden. Zudem »wandert« in Pogromwellen das Wissen darüber, wie ein Pogrom verläuft.

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deuten.139 Die Entstehung von Gerüchten leistet eine solche – für Gewaltaktionen essentielle – Handlungskoordination, da diese Orientierung bieten, wenn Informationen fehlen oder nicht als glaubwürdig erscheinen, wenn Informationskanäle fehlen oder blockiert sind (Zensur) und wenn Normen und Werte verletzt sind.140 In solch einer Situation formulieren Gerüchte Deutungsangebote (»improvised news«), die für andere plausibel erscheinen, also Gegenargumente überlebt haben müssen, um weiter kommuniziert zu werden. Gerüchte besitzen also eine kollektive Struktur, indem mehrere Personen ein Deutungsangebot übernehmen und weitertragen.141 Diese Übernahme wird zumeist dadurch erleichtert, dass Gerüchte an Vorerfahrungen, Vorurteile und Interessen anschlussfähig, also mithin selten völlig aus der Luft gegriffen sind.142 Gerüchte sind demnach wichtig für die Klärung einer unsicheren Situation und konstitutiv für eine lokale Gegenöffentlichkeit unterhalb der Schwelle formeller Kommunikation.143 ) In dieser Spannungssituation steht die Minderheit also unter scharfer Beobachtung, ob von ihr nicht schädigende Aktionen ausgehen oder sie ihre sozialen Grenzen überschreitet. Ob ein Pogrom ausbricht oder nicht, hängt von kontingenten Ereignissen ab, wie die Schwierigkeiten zeigen, für die US-Rassenunruhen der er Jahre strukturelle Unterschiede zwischen »riot« und »nonriot cities« zu finden.144 Einigkeit besteht aber in der Forschung darüber, dass der Ausbruch pogromistischer Gewalt ein auslösendes Ereignis benötigt, in dem sich der Gruppenkonflikt manifestiert und an dem kollektives Handeln ansetzen kann:145 So wie »Rassenunruhen« häufig durch die Verhaftung eines Ghettobewohners und dem erfolgreichen Vorgehen dagegen ausgelöst werden, sind für Pogrome Ereignisse  Tamotsu Shibutani, Improvised News: A Sociological Study of Rumor, New York .  Merten, Zur Theorie des Gerüchts, S. .  Ebd., S. , nennt als Beispiel für eine solche Situation, dass die Behörden eine Straftat nicht aufklären können, so dass Gerüchte entstehen, die eine entsprechende Aufklärung bieten. Genau dieses Szenario finden wir typischerweise in den Pogromen, die sich an nicht aufgeklärte Morde knüpfen, in denen der Ritualmordvermutung Glauben geschenkt wird und die Juden als Täter definiert werden (siehe Kap. : Tiszaezlár, Polná, Xanten, Konitz).  Joachim Eibach, Gerüchte im Vormärz und März  in Baden, in: Historische Anthropologie , , S. -, hier S.  f.  Für die Frage der späteren Bestrafung von Agitatoren und Aufhetzern ist es wichtig, wie Joachim Eibach angemerkt hat, dass die Quelle des Gerüchts fast immer unbekannt bleibt, d. h., wegen dieser geringen Zurechenbarkeit stellen Gerüchte eine Form risikoloser Kommunikation dar, die andere Inhalte erlauben als etwa Petitionen oder Zeitungsartikel ebd., S.  f.).  Spilerman, The Causes of Racial Disturbances; McPhail, Presidential Address, S.  ff.; Bryan T. Downes, Social and Political Characteristics of Riot Cities: A Comparative Study, in: Social Science Quarterly , , S. -.  Nach Schwab/Paul sind Situationen kollektiven Handelns durch einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus (trigger event) und eine geteilte emotionale Stimmung gekennzeichnet (Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. ).

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auslösend, in denen sich eine Bedrohung der Mehrheit und ihrer »heiligen Werte« symbolisiert. Um Ostern verschwundene christliche Kinder ließen sehr schnell den Ritualmordverdacht gegen Juden aufkommen, der seinerseits dann Anlass für die Forderung nach Bestrafung mittels kollektiver Gewalt war.146 Dabei ist wichtig, wie Rösel hervorgehoben hat, dass die Interpretation solcher auslösenden Ereignisse nicht vom Einzelnen selbst zu leisten ist, sondern dass bereits kollektive Interpretationsmuster bereitstehen, etwa Annahmen über die Interessen und Gebräuche der anderen Gruppe.147 Der »empörende Anlass« löst Gefühle von Wut und Rache aus,148 verdichtet die Kommunikation und führt zum faktischen Zusammenkommen einer »kritischen Masse« an Personen, die bereit sind, sich an kollektiven Aktionen zu beteiligen.149 Eine Menschenmenge, die zur selben Zeit am selben Ort ist und in der sich die Menschen als getrennte Individuen wahrnehmen, verwandelt sich in eine Gruppe, in der sich die Menschen als zur selben sozialen Kategorie gehörig empfinden, d. h. zu einer psychologischen Menge werden.150  Schon Émile Durkheim hat bereits  auf die hohe emotionale Besetzung »sakraler Kernwerte« und der sie schützenden Normen hingewiesen, deren Verletzung im betroffenen Kollektiv eine leidenschaftliche Reaktion auslöst, Wut und den Wunsch nach Vergeltung. Diese gemeinsame Erregung initiiert und begleitet die folgende Bestrafung, die die Fortgeltung der verletzten moralischen Ordnung sichert (Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (), Frankfurt a. M. , S. .  Rösel, Vom ethnischen Antagonismus, S.  ff.  Zur Bedeutung von Gefühlen wie Wut und Rache vgl. Charles D. Brockett, A ProtestCycle Resolution of the Repression/Popular-Protest Paradox, in: Social Science History , , S. -, hier S. . Roger D. Petersen hat ein Buch über die Bedeutung von Emotionen in ethnischen Konflikten geschrieben: Understanding Ethnic Violence. Fear, Hatred, and Resentment in Twentieth-Century Eastern Europe, Cambridge . Zwar können längerfristige strukturelle Verschiebungen in den Intergruppenbeziehungen, aufkommender Nationalismus oder Antisemitismus eine Rolle spielen, doch müssen sich diese in einem Ereignis, einer »direct irritation« manifestieren, um ein Pogrom auszulösen. Ein gutes Beispiel dazu bietet die kleinere Pogromwelle in Litauen im Jahre . Vgl. Darius Staliūnas, How Insulted Religious Feelings Turned into Pogroms: Lithuania in , in: East European Jewish Affairs /, , S. -, hier S. .  Pamela Oliver/Gerald Marwell/Ruy Teixera, A Theory of Critical Mass. I. Interdependence, Group Heterogeneity, and the Production of Collective Action, in: American Journal of Sociology , , S. -. Pamela Oliver/Gerald Marwell, The Paradox of Group Size in Collective Action: A Theory of the Critical Mass. II., in: American Sociological Review , , S. -. Dies bestätigen auch die Aufsätze in Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen. Eine wahrgenommene Konfliktsituation verstärkt einerseits die Identifikation mit den zur Eigengruppe gezählten Anwesenden und die Abgrenzung zu der als Konfliktgegner wahrgenommenen Gruppe, »sie verändert und verschiebt andererseits auch das Repertoire von Handlungen, das von den Teilnehmern in Erwägung gezogen und akzeptiert wird«, z. B. in Richtung Gewalt (Schwalb/Paul, Nicht-organisierte Gewalt, S. ).  Reicher, »Tanz in den Flammen«, S. , terminologisch unterscheidet Reicher bei Menschenmengen/Massen entsprechend zwischen »aggregate« und »crowd«. Den Übergang von einer Form zur anderen haben Reicher und Kollegen in einem »Elaborated Social Identity Model of Crowd Psychologie« theoretisch zu erfassen versucht. Vgl. schon

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Diese Emotionen haben motivierende Funktion nicht nur für die Ausbildung der Intention zu »gerechter Gewalt«, sondern sie überbrücken dabei auch die Kluft zwischen dieser Absicht und der tatsächlichen Gewaltanwendung.151 Wichtig ist dabei der Hinweis von Schwalb und Paul, dass die Vergemeinschaftung durch gemeinsames Fühlen und Handeln gewöhnlich nicht alle in einer Situation Anwesenden umfasst, da Menschenmengen psychologisch heterogen sind. Vielmehr bilden die miteinander Handelnden ein besonderes Interaktionssystem, dessen Grenzen durch die notwendige gegenseitige Wahrnehmbarkeit der Akteure bestimmt ist. D. h., die Masse (»der Mob«) als Ganze handelt nicht gemeinsam, sondern nur die temporär entstehenden Interaktionssysteme (»ephemere Vergemeinschaftungen«), während andere Anwesende das Publikum bilden, wobei die Rollen durchaus wechseln können, indem Handelnde das Feld verlassen, Zuschauer zu Gewaltakteuren werden oder es zu einer Arbeitsteilung zwischen Plünderern und Personen (nicht selten Frauen und Kinder) kommt, die die Beute dann wegschaffen.152 Das Publikum signalisiert aber durch sein Zuschauen Billigung, und in vielen Fällen behindert die Menschenmenge das Eingreifen der Kontrollorgane.153 Wiese hat in seiner Analyse des Pogroms von Elisavetgrad auf diese besondere Rolle der Zuschauermenge hingewiesen, deren Anwesenheit den Haupttätern Schutz bot und zudem den Einsatz von Waffengewalt seitens der Staatsorgane verhinderte, da diese nicht auf Frauen und Kinder schießen wollten. »Das Zusammenspiel von Tätern und Zuschauern trug also maßgeblich dazu bei, die Polizei und insbesondere das Militär handlungsunfähig zu machen.«154 Generell kann man sagen, dass sich Aktionen kollektiver Gewalt aus ganz unterschiedlichen Handlungen von Einzelnen oder kleinen Gruppen zusammensetzen (eben keine »Mobgewalt« sind), dass sich nicht alle anwesenden Personen beteiligen, dass auch die Beteiligten dies nicht kontinuierlich tun. McPhail spricht in Bezug auf Ausschreitungen von »patchworks and kaleidoscopes of individual and collective, nonviolent and violent, alternating and varied actions«.155

Jean-Paul Sartre, der in seinem Buch: Kritik der dialektischen Vernunft, Bd. : Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Reinbek , S.  und , das von außen und passiv vereinigte Kollektiv von der gemeinsam handelnden Gruppe unterscheidet, in der das Individuum nicht mehr allgemein und abstraktes Individuum ist, sondern »gemeinsames Individuum«. Jeder ist gleich, und alle haben das gleiche Recht aufeinander.  Dazu Collins, Dynamik der Gewalt, S.  f.  Schwalb/Paul sprechen von einem »passiv aktiven Täterkern«, um den herum es einen größeren oder auch sehr großen Zuschauerkreis gibt, der von Beobachtern als »Masse« oder pejorativ als »Mob« wahrgenommen wird (Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S.  f. und ).  So etwa das »bessere Publikum« in Konitz, Nonn, Zwischenfall, S. ; vgl. zur Rolle des Publikums auch Wolfgang Benz, The November Pogrom of : Participation, Applause, Disapproval, in: Hoffmann/Bergmann/Smith, Exclusionary Violence, S. -.  Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  f.  McPhail, Presidential Address, S. .

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) Anders als dauerhafte soziale Bewegungen, die ihre oft national verzweigten Netzwerke für Aktionen gezielt mobilisieren können, benötigen Pogrome wie auch Rassenunruhen als lokal bestimmte Aktionsformen eine vor Ort mobilisierbare Masse.156 Die Anwesenheit einer genügend großen Zahl Anderer ist in mehrfacher Hinsicht entscheidend: »In einem Gruppenkonflikt wird die Gewaltoption […] für viele erst dann attraktiv, wenn sie nicht nur legitim, sondern in Anbetracht der Stärke der Gegenseite auch erfolgversprechend ist. Auf der individuellen Ebene beeinflusst die Anonymität der großen Zahl zudem das wahrgenommene Risiko, für Normverstöße verantwortlich gemacht zu werden.«157 Für Jack Katz steht im Mittelpunkt kollektiven anarchischen Verhaltens das »Gewahrwerden einer großen Zahl von Individuen, dass derartig viele Einzelne strafbare Handlungen begehen, dass jeder von ihnen als Einzelner für die Staatsgewalt unsichtbar wird«. Katz nennt dies die »Epiphanie der Unsichtbarkeit«.158 Heinrich Volkmann hat für die Analyse von Sozialprotesten im Vormärz drei Kategorien von Menschenmengen nach ihrem Grad der Strukturiertheit unterschieden: Im Fall der »diffusen Menge« setzt sich diese aus ganz unterschiedlichen Akteuren zusammen ohne signifikante Konzentration von Status- oder Berufsgruppen; in einer »strukturierten Menge« ist diese ebenfalls unterschiedlich zusammengesetzt, besitzt aber eine signifikante Konzentration von Status- oder Berufsgruppen; und im Fall einer Menge aus »spezifischen Gruppen« sind Status- oder Berufsgruppen der bestimmende oder ausschließliche Träger der Aktion.159 Im Fall von Pogromen dominieren der erste und zweite Typ, doch gibt es auch Fälle, in denen etwa die Belegschaft einer Fabrik (umgelenkte Streikaktionen), Studenten oder Bauern die dominierenden Akteure bilden. Eine handlungsbereite Menschenmenge kann auf verschiedene Weise zusammenkommen: a) Bereits konstituierte Menschenansammlungen bei Umzügen, Streiks, auf Märkten usw. richten sich bzw. werden durch ein auslösendes Ereignis oder durch Agitatoren auf das neue Ziel hingelenkt; nicht zufällig wählen die Kontrollorgane zur Prävention Ausgangssperren, Verbote von Jahrmärkten, Schließung von Lokalen etc. McPhail hat in einem Forschungsüberblick die Bedeutung  Für diese nicht organisierten, aber dennoch nicht regellos handelnden Menschenmengen ist der Begriff »Gewaltmassen« vorgeschlagen worden. Siehe: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen.  Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S.  f.  Jack Katz, Epiphanie der Unsichtbarkeit. Wendepunkte bei Unruhen: Los Angeles , in: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen, S. -, S. . Wenn es keinen Unterschied macht, ob Ordnungskräfte an- oder abwesend sind, dann kann es nach Katz für den Einzelnen sinnvoll sein, auf eine Art und Weise zu handeln, die sonst undenkbar wäre. Katz interpretiert auch die materiellen Zeichen der Zerstörung, wie zerbrochene Fensterscheiben, ausgebrannte Autos usw., als Ausdruck der Unordnung, die ebenso wie gewaltausübende Personen zu einem Gefühl der Anarchie und damit zur Unsichtbarkeit der Handelnden beitrügen, was den Einstieg in das gewaltsame Mitmachen erleichtere (S.  und ).  Volkmann, Kategorien des sozialen Protests im Vormärz, S. .

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struktureller Verfügbarkeit für den Versammlungs- und Mobilisierungsprozess hervorgehoben: die zeitliche Verfügbarkeit von Personen (nach Dienstschluss, an Wochenenden oder Feiertagen),160 die soziale Dichte, die Häufigkeit der Interaktion zwischen Angehörigen der Konfliktgruppen, die Schnelligkeit, mit der sich die Information über ein Pogrom verbreitet u. a.161 Dabei muss nicht von vornherein ein gewaltsamer Konflikt intendiert sein, er kann das Resultat eines Eskalationsprozesses aus normalen Alltagskonflikten zwischen Angehörigen der betreffenden ethnischen Gruppen sein,162 oder er kann auch aus der Verschiebung eines anderen Konflikts, gleichsam als Ersatzhandlung entstehen.163 b) Es existieren auf lokaler oder regionaler Ebene Gruppen, z. B. Fabrikbelegschaften, Studentengruppen, Hooligans oder nationalistische Organisationen, die ad hoc eine handlungsfähige Pogrommenge bilden, die organisierend wirken können und die von vornherein Gewalt intendieren.164 c) Die Mobilisierung kann aber auch von einer kleinen, sich ad hoc bildenden Gruppe ausgehen, die sukzessive weitere Mitstreiter, häufig Bekannte oder Nachbarn, zum Mitmachen aufruft oder gar nötigt, oder der sich spontan weitere Personen anschließen. Diese Form dürfte eher für kleinere, nur kurze Zeit andauernde Ausschreitungen gelten.165 Es ist vor allem die Form der Gerüchtekommunikation, die auf lokaler Ebene für die Mobilisierung zur Handlung ausschlaggebend ist. Dies liegt einmal daran, dass in den Gerüchten ein Unrecht oder ein Übergriff der Out-Group vom »Hörensagen« kommuniziert wird, was starke Emotionen wie Empörung und Wut auslöst, zum anderen weil in dieser face  Cristian Lüdemann/Christian Erzberger, Fremdenfeindliche Gewalt in Deutschland. Zur zeitlichen Entwicklung und Erklärung von Eskalationsprozessen, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, , , S. -, hier S. , haben für die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Deutschland - eine systematische Bevorzugung der Wochenenden ermittelt:   fanden in der Zeit von Freitag bis Sonntag statt, also zu Zeiten, in denen sich Freizeitcliquen zum Feiern, zum Besuch von Gaststätten etc. treffen konnten.  McPhail, Presidential Address, S.  ff.  Vgl. mit Bezug auf die historischen Analysen von Charles Tilly: McPhail, Presidential Address, S.  f.  Charters Wynn hat in seiner Untersuchung über das zaristische Russland zahlreiche Beispiele gefunden, in denen Arbeiterunruhen und Streikaktionen in antijüdische Pogrome umschlugen, zumal wenn die Arbeiter ihre eigentlichen Ziele nicht attackieren konnten. Wynn spricht von einer »mixture of causes« (Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen, Hunger, eine Cholera-Epidemie und Antisemitismus) und einer »mixture of targets« (Workers, Strikes, and Pogroms).  Bohstedt/Williams, The Diffusion of Riots, S. , betonen, dass eine Krisensituation (hardship), Wut (outrage) und die Nachrichten über Ausschreitungen an anderen Orten nicht ausreichten, um eine Menge aus einzelnen, unverbundenen Individuen zu schaffen: »Rather, these factors were more likely to bring about riots by galvanizing networks of people already used to cooperating«. Vgl. empirische Belege für Kischinev: Dahlke, Race and Minority Riots. Als ein Beispiel für den Grenzfall eines detailliert vorbereiteten und organisierten Ablaufs eines Pogroms mit entsprechenden Zielvorgaben, Transportmitteln und Bewaffnung siehe Jaffrelot, Communal Riots in Gujarat, S.  ff.  Vgl. die Schilderung einer solchen Mobilisierung in einem kleinen Ort in Galizien  (Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  ff.).

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to face-Kommunikation schon rudimentär kleine Aktionskerne für das Handeln entstehen (anders als bei privater Lektüre einer Zeitungsmeldung).166 Die Menge muss zudem ein räumlich identifizierbares Zielgebiet besitzen, d. h., die Minderheit muss in einer ethnischen Kolonie oder im Flüchtlingsheim konzentriert wohnen, identifizierbare Geschäftslokale besitzen oder sich gerade an einem Ort versammelt haben. Eine Reihe weiterer Faktoren begünstigt den Übergang von einem Spannungszustand hin zum konkreten Ausbruch von Gewalt: a) Es besteht bereits ein bekanntes Gewaltprogramm, wie wir es etwa von den Rügebräuchen (»Katzenmusiken«) her kennen, das in einer Ansammlung von Menschen aktiviert werden kann. Ein solches Modell, das sich in den Pogromwellen etwa im Zarenreich herausgebildet hatte, hat das sog. »Pogromparadigma« abgegeben.167 b) Auch »Führung« kann eine aktivierende Rolle spielen. Häufig sind es proaktive, gewaltbereite »ethnische Ideologen« und »Unternehmer«,168 die ein auslösendes Ereignis zur Eskalation nutzen und dem gemeinsamen Handeln Richtung und Modell vorgeben und die im Sinne von »extremities shifts« entweder eskalierend oder deeskalierend auf die Menge einwirken können.169 Eine versammelte Menge bedarf also einer oder mehrerer, manchmal abwechselnd agierender Personen, um  Die verschiedenen Kommunikationswege erfüllen unterschiedliche Funktionen. Die Kommunikationsprozesse in Fall von Ausschreitungen bestehen bei der Teilnahme an der örtlichen Gewalt vor allem in interpersonaler Kommunikation, die präziser über Anlass, Ort und Zeit informiert. Massenmedien spielen eine größere Rolle bei Informationen über vorhergegangene Ausschreitungen an anderen Orten (vgl. dazu die empirische Studie von Benjamin S. Singer, Mass Media and the Communication Process in the Detroit Riot of , in: Public Opinion Quarterly , , S. -).  Schwalb/Paul sprechen hier von »geteilten Skripten« (Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S. ). Zum Aufbau des Lynchskripts als Basis für den ritualhaften Charakter von Lynchmorden siehe: Klatetzki, »Hang ’em high«, S. .  Collins, Dynamik der Gewalt, S.  und , unterscheidet zwischen wenigen Gewalttätigen, die er auch als »Herr der Lage« bzw. »Action-Sucher« bezeichnet, die in Konfliktsituationen konfrontativ agieren, und der engeren Unterstützergruppe, die für die Gewalttäter als emotionale Unterstützung fungieren, fallweise sogar selbst zur Gewalt greifen. Als weitere Gruppen nennt Collins noch die »Masse in der Mitte«, die zwar die Ziele der Aktivisten teilt, ihnen ein späteres Mitmachen signalisiert, aber weniger mutig und selbstbewusst ist, um die Initiative zu ergreifen, und die eher als bloße Zuschauer fungierenden hinteren Reihen, die aber insofern eine Funktion erfüllen, als sie den aktiv Handelnden Beachtung schenken.  Zur Bedeutung von Führung vgl. Bohstedt, Dynamics, S.  f. Lüdemann und Erzberger unterscheiden in ihrem Schwellenwertmodell kollektiver Gewalt zwischen den Anreizen von Initiatoren, als Erste zu handeln und damit Mut und Risikobereitschaft zu demonstrieren, und denen der späteren »Einsteiger«. Sie nehmen an, dass bei den Initiatoren mit dem Schwellenwert null negative Einstellungen und Gefühle gegenüber der angegriffenen Gruppe und der Wunsch, diese auch auszudrücken, die Grundlage für ihre Entscheidung bilden (Fremdenfeindliche Gewalt, S.  f.).

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den Übergang zum aktiven Handeln zu schaffen, doch ist offenbar umgekehrt auch eine gewisse kritische Masse an Personen nötig, damit diese Vorreiter das Risiko der Offensive eingehen. Es gibt Fälle, in denen sich eine bereits konstituierte Menschenmenge wieder zerstreut oder weiterzieht.170 Während die Täter ihr Gewalthandeln positiv als Selbstermächtigung und als vergemeinschaftend empfinden, wobei sich die Ausübung von Gewalt und das Gefühl der Gemeinschaftlichkeit gegenseitig steigern können, erleben die Gewalt billigenden Zuschauer diese als »Belohnung« mit dem ekstatischen Gefühl der »kollektiven Selbstrealisierung« (Stephen Reicher), etwa in der Umkehrung der sozialen Ordnung (vgl. den karnevalesken Zug bei Pogromen) oder dem Ausleben von Gefühlen, was wiederum gemeinschaftsstiftend wirkt. D. h., die Gewalt einiger weniger beflügelt auch die Masse der Zuschauer, was wiederum die Gewalttäter zur Fortsetzung ihres Handelns motiviert.171 Wichtig ist dabei auch, dass Personen, die die Gewalt missbilligen oder die in Gefahr sind, selbst Opfer zu werden, sich aus der Szene entfernen, so dass potentielle Gegenkräfte ausfallen und sich durch diese Vermeidungsstrategie die Handlungsfreiheit und Anonymität der Täter erhöhen.172 c) Im Anschluss an Stephen Reicher diskutieren Schwalb/Paul eine dritte Möglichkeit, wonach es in bestimmten, zumeist konfrontativen Situationen, etwa mit der Staatsgewalt oder einer Fremdgruppe, zu spontanen Veränderungen von Vorstellungen und Handlungsweisen von Personen kommt, die sie zuvor als illegitim und unvereinbar mit ihrem Selbstverständnis wahrgenommen haben.173 Kontextabhängig kann also aus heterogenen Menschenansammlungen ein gemeinsam handelndes Kollektiv werden. Diese Form tritt im Fall von Pogromen selten auf. Sie kommt dort zumeist erst dann vor, wenn Polizei oder Militär oder die attackierte Minderheit Gewaltmittel einsetzen, die auch »unschuldige« Zuschauer treffen, so dass ein Solidarisierungseffekt eintritt, wobei sich der Fokus dann z. T. vom ursprünglichen Ziel (die Minderheit) auf die staatlichen Organe verschieben kann. d) Auslöser von Pogromen sind sehr häufig vorausgegangene Pogrome in benachbarten Orten. Ausschreitungen sind keine isolierten Ereignisse, sondern treten zumeist wellenförmig als eine Serie interdependenter Ereignisse auf, darauf deuten die geographischen wie zeitlichen Verdichtungen (cluster) ihres Auftretens hin.174 Über diese Eskalationsdynamik wissen wir bisher noch wenig,175 doch scheint hier  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  ff.  Dazu Stephen Reicher, »Tanz in den Flammen«, S. -; ders., The St. Pauls’ Riot.  Katz, Epiphanie der Unsichtbarkeit, in: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen, S. , hat auf diesen Effekt hingewiesen, der den Rioters freie Hand lässt und ihre »Unsichtbarkeit« erhöht.  Schwalb/Paul, Nicht-organisierte kollektive Gewalt, S.  f.  Daniel J. Myers, The Diffusion of Collective Violence: Infectiousness, Susceptibility, and Mass Media Networks, in: American Journal of Sociology , , S. -, hier S.  f.  Willems, Jugendunruhen und Protestbewegungen, S.  ff. Vgl. das Schwellenwertmodell von Lüdemann/Erzberger, Fremdenfeindliche Gewalt. Auch andere Studien weisen darauf hin, dass »positive Ergebnisse« von kollektiver Gewalt an einem Ort die Bereit-

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ein kommunikativ induziertes Nachahmungsverhalten (copycat riots) im Spiel zu sein, das wir auch bei anderen veröffentlichten Ereignissen wie Terroranschlägen und Selbstmorden beobachten. Pogromgewalt an einem Ort wird dann selbst zu dem wichtigsten auslösenden Ereignis für Folgeaktionen. Dies gilt für Aktionen am Ursprungsort selbst, wo sich Eskalationen oft über mehrere Tage erkennen lassen176– also größere Teilnehmerzahl, z. B. durch Trittbrettfahrer, höheres Gewaltniveau –, aber auch für eine größere, wellenförmige geographische und zeitliche Ausbreitung.177 Klier nimmt an, dass Pogrome wiederum ein Modell für weitere Pogrome abgeben, so dass jeder Ausbruch von Gewalt die sozialen Schranken und Tabus gegenüber dieser Form der Gewaltanwendung in der Zukunft verringert.178 Dieses Phänomen hat viele Beobachter zu der Annahme geführt, solche Häufungen seien nur durch eine staatliche Lenkung möglich gewesen.179 Für die Diffusion spielen die soziale Dichte, d. h. die Möglichkeit der en bloc-Rekrutierung von Teilnehmern, und die Kommunikationsdichte und -wege eine wichtige Rolle.180 In vielen Fällen reisen nicht nur die Gerüchte, sondern Teilnehmer eines Pogroms werden zu Initiatoren von Gewaltaktionen in benachbarten Orten. Heute haben die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, wie in Rostock-Lichtenhagen  zu beobachten, z. T. unfreiwillig diese Verbreitungsfunktion (electronic contagion) übernommen. Ein erfolgreiches Pogrom verändert als Handlungsmodell die Kosten/Nutzen-Relation zugunsten einer Teilnahme, da sich mit der Größe der Pogrommenge und bei einer Unterreaktion des Staates das Sanktionsrisiko verringert, sich diffuse Gewaltbereitschaft konkretisiert und Plünderungsgewinne winken. Kollektive Gewalt ist anfällig für Trittbrettfahrerverhalten. Was den Ausbreitungseffekt von Pogromen angeht, so deuten zahlreiche Studien darauf hin, dass bestimmte Orte oder Regionen wiederholt zum Schauplatz solcher Ereignisse geworden sind (z. B. Odessa, Elisavetgrad, Lemberg, Hinterpommern, das Elsass), während benachbarte Orte davon nicht betroffen waren. Bohstedt

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schaft an anderen Orten erhöhen, ebenfalls zu diesem Mittel zu greifen (»reinforcement effects«, vgl. Myers, Diffusion, S. ). Margaret J. Abudu Stark et al., Some Empirical Patterns in a Riot Process, in: American Sociological Review , , S. -. Vgl. zum »Ansteckungseffekt« M. Midlarsky, Analyzing Diffusion and Contagion Effects, in: American Political Science Review , , S. -; Rodger M. Govea/ Gerald T. West, Riot Contagion in Latin America, -, in: Journal of Conflict Resolution , , S. -. Govea und West definieren diesen Ansteckungseffekt (contagion) wie folgt: »Thus, we would define contagion as the unplanned spread of a particular type of behavior as the result of one actor’s performing the behaviour and facilitating that behaviour in the observer« (S. ). »Earlier incidents also provide a model for future outbreaks and produce remarkably similar phenomena« (Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. ). Für die Pogromwelle von - in Russland kann dies heute als widerlegt gelten. Allerdings kennen wir Fälle, wie die »Reichskristallnacht« oder die »Pogrome« im indischen Bundesstaat Gujarat im Jahre , in denen das gleichzeitige Auftreten von Gewalt an vielen Orten auf eine dahinterstehende Organisierung zurückzuführen ist. Bohstedt/Williams, Diffusion, S. ; Aronson, Troubled Waters.

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und Williams haben bei ihrer Untersuchung der Diffusion von Unruhen Ende des . Jahrhunderts in Devonshire neben strukturellen Ursachen und dem Einfluss von Unruhen an anderen Orten festgestellt, dass die geographische Verteilung der Unruhen dem Muster früherer Wellen von Unruhen folgte: »These recurrences suggest that a tradition of rioting existed in particular places. The experience of successful rioting in the past could have been part of a collective mentality of a given community and increased its proclivity to riot when threats or opportunities appeared.«181 Soziologische Studien zu den »Rassenunruhen« der er Jahre in den USA haben ähnliche Einflussfaktoren identifiziert.182 Bei der Diffusion spielen die Kommunikationsverbindungen, vor allem auch die Massenmedien eine wichtige Rolle, denn die Nachrichten über kollektive Gewalt bieten für mögliche Akteure an anderen Orten die »Möglichkeit, sich zu entscheiden«.183 Wie kommt es zum Erlahmen der Pogromdynamik und zum Ende von Pogromen? Zunächst besitzen Pogrome wie andere Unruhen grundsätzlich einen episodischen Charakter, da eine »kritische Masse« nicht langfristig mobilisierbar ist und nur selten auf Netzwerken oder Organisationen aufruht, weil die Akteure ihr Zerstörungs-, Plünderungs- und Vertreibungswerk oft in kurzer Zeit vollbracht haben und weil der Staat den Zustand öffentlicher Unordnung nicht allzu lange andauern lassen kann, auch wenn Teile der Kontrollorgane mit den Zielen der Ausschreitungen sympathisieren.184 Neben dem massiven Einsatz von Ordnungskräften können auch weitere Faktoren zu einem Ende eines Pogroms führen: wenn keine weiteren Häuser mehr zu plündern und Mitglieder der Out-Group zu attackieren sind, fehlt der »Treibstoff« für dessen Fortsetzung. Aber auch ganz banale Gründe, wie das Einsetzen der Dunkelheit, heftiger Regen oder die Tatsache, dass sich die strukturelle Verfügbarkeit ändert (der nächste Tag ein Arbeitstag ist), können das Zustandekommen einer genügend großen Menge verhindern, so dass das Pogrom 

Bohstedt/Williams identifizieren eine Reihe von Bedingungen, z. B. muss die Einwohnerschaft eines Ortes stabil bleiben, der Ort darf nicht zu groß sein, da sich sonst soziale Netzwerke nicht herausbilden können usw. (Diffusion, S.  f.).  Hier spielt die Ortsgröße eine Rolle: größere Städte reagieren weniger auf externe Ereignisse als kleinere Orte. Zwar brechen Unruhen zunächst häufiger in größeren Städten aus, von denen sie sich dann aber vor allem in die kleineren Städte ihrer Umgebung ausbreiten und weniger in andere größere Städte. Umgekehrt lösen Unruhen in kleineren Orten selten Unruhen in größeren aus (Myers, Diffusion, S.  f.;  f.).  Unruhen andernorts bieten Anlass zu überlegen bzw. zu diskutieren, was dort die Unruhen ausgelöst hat, ob diese berechtigt waren, was die Ziele waren, ob man die Akteure unterstützen bzw. selbst handeln sollte usw. (Myers, Diffusion, S. ). Myers betont, dass dieser »occasion-creating effect« nur eine kurze Dauer besitzt.  Ein instruktives Beispiel dafür, dass eine politische Partei in regionaler Regierungsverantwortung Pogrome angestiftet und organisiert hat, aber mit Übernahme der Zentralregierung und mit Rücksicht auf Koalitionspartner nun die Politik ändert und die öffentliche Ordnung aufrechterhalten muss, ist die hindunationalistische Partei BJP, die  die Regierungsverantwortung in Neu Delhi übernahm (Jaffrelot, Communal Riots, S. ). Selbst das NS-Regime hat im November  schnell wieder auf die – nicht sofort durchsetzbare – Eindämmung der Gewalt hingewirkt.

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erlischt. Nur in seltenen Fällen kann die Gegenwehr der angegriffenen Gruppe die Gewalt beenden. Ziele, Wirkungen und Kosten der Gewalt Protest- und Bewegungsforschung haben militanten Aktionen sozialer Bewegungen und »Rassenunruhen« ein hohes Maß an Rationalität zugesprochen und emotionale Aspekte weitgehend ausgeblendet. Für sie entstehen Akte ziviler Gewalt aus gewaltlosen Formen, so dass Gewalt nur als ein unter Umständen rationales Mittel der Zielerreichung erscheint.185 Es sind die zumeist langfristigen, organisatorisch verfestigten Handlungsperspektiven sozialer Bewegungen, die ein kurzfristig wirksames Gewaltinteresse begrenzen, d. h., soziale Bewegungen sind »repeat players«, Pogromisten dagegen »one shotters« ohne ausgedehnte Zukunftsperspektive.186 Pogrome und Lynchaktionen setzen in vielen Fällen sogleich als Gewalthandeln ein, und die Anwendung von Gewalt bedeutet hier nur selten einfach nur eine Konfliktsteigerung zur Durchsetzung bestimmter Ziele, nachdem man es vorher mit anderen Formen der Interessenvertretung (wie Petitionen oder Protesten) versucht hatte, was in einigen Fällen aber durchaus vorkommt, sondern Gewalt ist ein eigenständiger Modus der Konfliktaustragung,187 eine Form der Kommunikation, die ohne Sprache funktioniert, selten Widerrede zulässt, dem Täter ein Gefühl von Macht und Überlegenheit verschafft und damit seinen Sinn partiell schon in sich selbst trägt.188 Gerade für episodische Gewalt im lokalen Rahmen kann deshalb rationale Interessenverfolgung zweitrangig sein.189 Die Pogromisten stellen keinerlei konkrete, begrenzte Forderungen, vielmehr sind Gewaltaktion und mögliche Effekte untrennbar verbunden, so dass die Akteure bei größerer Gewaltanwendung die Vertreibung, Depravierung, Demütigung oder materielle Schädigung der Opfer umso vollständiger erreichen. Das Handeln der Akteure in Pogromen vereinigt zweckgerichtete, symbolisch-kommunikative und affektive Elemente. Wie Volkmann es schon für soziale Protestaktionen festgestellt hat, sind die genauen Ziele und Resultate von Pogromaktionen aber selten überliefert und daher in ihrem Ausmaß und ihrer Dauerhaftigkeit schwer einzuschätzen, zumal ein Erfolg auch im Gewalterlebnis selbst und in der Erfahrung der Stärkung der  Michael Bantons (Racial and Ethnic Competition, Cambridge ) Versuch, die Rational Choice-Theorie auf die Situation ethnischer Konkurrenz anzuwenden, hat ihm von T. S. Chivers den Vorwurf eingetragen, andere Rationalitätsformen, z. B. Wertrationalität, zu vernachlässigen, die gerade bei ethnischen Konflikten zentral sind (Is Expulsion rational? Dealing with Unwanted Minorities as Issues of Rationality, in: Ethnic and Racial Studies , , S. -).  Senechal de la Roche, Collective Violence, S. .  Brubacker/Laitin, Ethnic and Nationalist Violence, S. .  Jörg Baberowski, Einleitung: Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt, in: ders./Gabriele Metzler (Hrsg.), Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt a. M., New York , S. -, hier S. .  James Rule, Theories of Civil Violence. Berkeley , S. .

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Solidarität der In-Group bestehen kann.190 Unterscheiden lässt sich allenfalls zwischen Misserfolg, d. h. dem Ausbleiben jeglicher Resultate, und dem Erreichen von Teilerfolgen. Zudem muss man bei der Frage des Erfolgs auch die Kosten des Pogromhandelns gegenrechnen, die sich aus den Ordnungsmaßnahmen des Staates und (seltener) aus der Gegenwehr der attackierten Gruppe ergeben.191 So kann ein Pogrom durchaus sein Ziel erreichen und etwa (zumindest für einen gewissen Zeitraum) zur Verhinderung einer gesetzlichen Besserstellung der Opfergruppe führen, doch kann gleichzeitig das Eingreifen der Ordnungsmacht Tote und Verletzte kosten und zur Bestrafung von Gewalttätern führen. Kollektive Kosten für die lokale Gemeinde können durch die Auf bürdung von Stationierungskosten für die zur Unterdrückung der Gewalt einquartierten Soldaten sowie durch Entschädigungszahlungen an die Opfer entstehen. Volkmann hat auf die ambivalenten Funktionen von Sozialprotest hingewiesen, die zwar immer auf eine Veränderung zielen, jedoch einerseits ein innovatives, die gesellschaftliche Entwicklung vorantreibendes Potential haben, zum anderen aber auch entwicklungshemmende und zerstörerische Effekte.192 Für Pogrome dürfte nur das Letztere gelten, da sie letztlich immer rückwärtsgewandte Ziele verfolgen, indem sie den Status quo bzw. eigene Vorrechte durch die Ausübung normverletzender Gewalt verteidigen und auf die Exklusion bzw. Benachteiligung der angegriffenen Gruppe zielen. Kulturalistische Ansätze heben für diesen Pogromtyp des . Jahrhunderts die kulturelle und symbolische Logik des kollektiven Handelns hervor, das Parallelen zum rituellen Handeln aufweist.193 Gruppenkonflikte folgen einem kulturellen Handlungsmuster, das den Verlauf des Pogroms bestimmt und das Angreifer wie Angegriffene kennen, ein Muster, das zugleich auch Grenzen der Gewalt wie auch das Maß der Gegenwehr seitens der Opfer regelt.194 Man kann das Pogromhandeln als eine Form von Passage-Ritus ansehen, der die Funktion hat, sowohl das  Volkmann, Kategorien des sozialen Protests, S. .  Ist das Kostenrisiko zu hoch, da das verfügbare Ordnungspotential des Staates zu groß ist und man mit dessen massivem Einsatz rechnen muss, kann dies den Ausbruch der Pogromgewalt verhindern, wie umkehrt ein Autoritätsverlust das Risiko minimiert und eine Teilnahme an den Aktionen befördert. Dazu auch Volkmann, Kategorien des sozialen Protests, S. .  Volkmann, Kategorien des sozialen Protests, S.  f.  Goldberg (Rites and Riots) greift für seine Analyse am Fallbeispiel eines antijüdischen Pogroms in Tripolis im Jahre  auf ethnologische Theorien symbolischen Handelns zurück, wie sie Claude Lévy-Strauss und Victor Turner entwickelt haben, insbesondere auf das Konzept der Passage-Riten in Übergangssituationen (liminal states). Vgl. zum Letzteren Victor Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, Chicago .  »The process was to a significant degree a ritual process. From the gathering in the streets, to the occupation of the market place, to the aspersions cast at Jews, to the rocks thrown, to the threats to beat the last Jew to death, to the smashing of windows, and the beating of walls and doors of Jewish houses with sticks, the drama and serious play of antisemitic violence revealed a great many characteristics of ritual«. Dabei übernehmen die Einzelnen in der Menge in dem Drama verschiedene Rollen: es gibt die aktiven Täter (Hauptrol-

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Erlangen eines neuen wie die Wiedergewinnung eines früheren Status zu regeln, also einen als Normverletzung verstandenen Zustand zu korrigieren. Demnach sollte das destruktive Handeln in Pogromen: a) nicht als unstrukturiert beschrieben werden, da kulturelle Erwartungen über den Handlungsverlauf bei den Akteuren bestehen, und b) nicht einfach als zufälliger Ausdruck von Aggression gesehen werden, da es kondensierten symbolischen Formen folgt, die aus den vorhandenen kulturellen Traditionen stammen, die oft die Polarität sozialer Kategorien betonen. c) Die symbolischen Formen können gleichzeitig auf die Herstellung einer neuen oder die Wiederherstellung der alten Ordnung abzielen, und d) diese symbolische Dimension stellt die Pogrome in einen historischen Kontext und verleiht ihnen damit Bedeutung über die individuellen Motive der Handelnden hinaus.195 In diesem Sinne sind religiöse Unruhen häufig eine Ausweitung religiöser Rituale und laufen z. T. auch ritualisiert ab. Beide Handlungsformen werden als rationales und sinnhaftes Handeln betrachtet, dem eine wichtige Rolle in der Konstitution sozialer Identitäten zukommt. Pogrome und Rituale sind demnach verbunden in der Herstellung von gemeinschaftlicher Identität im öffentlichen Raum.196 Die kollektive öffentliche Gewalt in Form von Pogromen und Ritualen dient als Mechanismus der Grenzziehung zwischen Gruppen, indem sie die Gemeinschaft von inneren und äußeren Bedrohungen »reinigt«. Pogrome sind im Verständnis von Natalie Zemon Davis kulturelle Phänomene, genauer eine Form rituellen Handelns, in denen es im Kern um »Ordnung« und »die Reinheit der Gemeinschaft« geht.197 Pogrome, verstanden als Rituale der Gewalt, kann man im Sinne von Victor Turner als außeralltägliche Übergangsphasen (liminal states) definieren.198 Diese Übergangsphasen beschreibt Turner als eine »anti-structure«, d. h. als Zeiten oder Zustände zwischen zwei Ordnungen oder Strukturen, in denen die sonst geltenden Regeln und Hierarchien zeitlich begrenzt außer Kraft gesetzt oder gar auf den Kopf gestellt werden. Die soziale Ordnung wird also für einen Moment verflüssigt.199 Durch die Teilnahme an diesem Gewaltritual in der liminalen Phase wird die Zugehörigkeit zu einer Gruppe gestärkt (communitas) und zugleich die Grenze

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len), die direkten Komplizen (Chor) und die Zuschauer (Bergmann/Hoffmann/Smith, Introduction, Exclusionary violence, S.  f.). Goldberg, Rites and Riots, S. . Einen ähnlichen Untersuchungsansatz hat Peter Loewenberg gewählt, indem er die »Reichskristallnacht« als »degradation ritual« analysiert hat (The Kristallnacht as a Public Degradation Ritual, in: Leo Baeck Institute Year Book , , S. -). Peter van der Veer, Riots and Rituals: The Construction of Violence and Public Space in Hindu Nationalism, in: Brass (Hrsg.), Riots and Pogroms, S. -, S. . Natalie Zemon Davis, The Rites of Violence: Religious Riot in Sixteenth Century France, in: Past and Present , , S. -. Auch Goldberg nimmt an, dass »during the ›liminal‹ states of political transition, cultural elements which are not salient in daily life are given symbolic emphasis and influence the course of collective outbursts« (Rites and Riots, S. ). Turner, The Ritual Process.

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gegenüber einer anderen stärker gezogen.200 Ziel der Pogromgewalt ist also, die Dominanz der Eigengruppe wiederherzustellen bzw. zu bekräftigen, die soziale Zugehörigkeit der Minderheit zumindest temporär zu bestreiten und so die lokalen Grenzen neu zu ziehen. Der angegriffenen Gruppe soll so ihre unsichere Situation vor Augen geführt werden, indem man sie zwingt, sich verspottende und demütigende Slogans anzuhören, sich in ihren Häusern zu verbarrikadieren, Schläge einzustecken und den Ort zeitweise oder ganz zu verlassen.201 Zugleich enthält das Gewalthandeln eine Botschaft an die staatlichen Organe, die Rechte der Eigengruppe zu schützen bzw. wiederherzustellen. Diese rituelle Einhegung von Gewalt kann allerdings misslingen, wenn eine Seite die Regeln bricht.202 Dies kann der Fall sein, wenn die Minderheit ihre Selbstwehr über den zulässigen Punkt hinaus ausübt, etwa einen Pogromisten tötet; wenn die Ordnungskräfte zu massiv gegen die Pogromisten vorgehen oder wenn auf Seiten Letzterer eine durch Agitation oder Gerüchte besonders aufgehetzte Menge agiert. In solchen Fällen kann es zu exzessiver Pogromgewalt kommen, die mit den Kategorien zweckgerichteten oder symbolischen Handelns schwer zu fassen ist, sondern starke Momente von Expressivität, der Entlastung von emotionaler Spannung und feindseliger Aggression, der Demonstration von Macht und Stärke, der Lust an Gewalt aufweist.203 In der jüngeren Gewaltforschung ist für die Handlungsdimension Instrumentalität/Expressivität diese unmittelbar expressive und konsumatorische Seite bzw. eine Vermischung der Aspekte betont worden, insbesondere bei Aktionen episodischen Charakters.204 Dabei wird darauf verwiesen, dass Pogromisten häufig aus einem subkulturellen Milieu oder aus kriminellen Banden stammen,205  Victor Turner, Dramas, Fields and Metaphors: Symbolic Action in Human Society, Ithaca , S. . Dieser Gedanke liegt auch dem Buch von Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung, zugrunde. An das »communitas-Konzept« Turners schließt sich auch Tokarska-Bakir (Pogrom Cries) in ihrer Analyse des Pogroms von Kielce an.  Zum rituellen Charakter des Lynchens in den amerikanischen Südstaaten, das den Charakter von »communal acts of human sacrifice« besitzt, vgl. Orlando Patterson, Rituals of Blood: Consequences of Slavery in Two American Centuries, New York , S. .  Die Zähmungskapazitäten von Kultur können sich durchaus auch als begrenzt erweisen. Vgl. dazu E. Valentine Daniel, The Limits of Culture, in: Near the Ruins: Cultural Theory at the End of the Century, Minneapolis .  Klier weist auf den Umstand hin, dass die Pogrome in der Welle von - im Zarenreich zunehmend gewalttätiger wurden. Er erklärt dies als Antwort auf die zunehmende Repression seitens der Kontrollorgane. Diese griffen nun schneller zum Einsatz tödlicher Gewalt, bei der es mehr Tote unter den Pogromshciki gab, was von diesen mit brutaler Gegengewalt beantwortet wurde. Allerdings fügt er einschränkend hinzu, dass einige vereinzelte Pogrome der Jahre  und  besonders gewalttätig verliefen, obwohl sie nicht Teil einer Pogromwelle waren (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ).  Wolfgang Sofsky, Die Gewalt in der Meute, in: Gewalt in der Kultur. Vorträge des . Deutschen Volkskundekongresses, Teilband II, hrsg. von Rolf W. Brednich/Walter Hartinger, Passau , S. -; Kai-Uwe Hellmann, Systemtheorie und neue soziale Bewegungen. Identitätsprobleme in der Risikogesellschaft, Opladen .  Für die russischen Pogrome von - nennt Klier als ein Motiv die Gelegenheit für

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in denen Gewalt viel weniger instrumentellen Ausnahmecharakter besitzt.206 Kriminalitätsraten und Phasen uneingehegter kollektiver Gewalt korrelieren miteinander, ebenso »rioting« und jugendliches Alter und Männlichkeit.207 Ferdinand Sutterlüty hat aber zu Recht die Position von Wolfgang Sofsky kritisiert, wonach das »Gewaltgeschehen […] sich durch sich selbst und durch die von ihm entfesselten Leidenschaften [erkläre]«, so als sei die Gewalt selbst ein »Kollektivsubjekt, welches das Handeln der Akteure steuert«.208 Zwar können seiner Meinung nach Gewalthandlungen körperliche und normative Ausnahmezustände erzeugen, doch selbst da, wo die Gewalt zum Selbstzweck wird, handelt der Täter auf der Grundlage eines bestimmten Handlungssinns, den er der Gewalt in einer Situation zuschreibt. Auch sadistische Lust an Gewalt ist demnach kein »kontextfreies Motiv«,209 d. h., bei Analysen von Gewaltaktionen sind immer historische Kontexte und sozialisatorische wie gesellschaftliche Erfahrungen der Täter zu berücksichtigen. Neben der zumeist dominierenden symbolischen besitzt das Handeln der Pogromisten jedoch auch eine utilitaristische Komponente. Die Pogromisten versprechen sich neben der Verbesserung oder Wiederherstellung bzw. Sicherung ihres Gruppenstatus auch eine Statusverschlechterung der angegriffenen Minderheit. Wie die Beschädigung, ja bisweilen völlige Zerstörung von Wohnungen und Arbeitsstätten (z. B. durch Brandstiftung und die Plünderung des beweglichen Besitzes) zeigen, spielen auch direkte materielle Interessen eine Rolle. Insbesondere die »zweite Welle« der Pogromisten, die zu einer bereits laufenden Ausschreitung hinzukommt, wird von Plünderungsgewinnen angelockt. Für diese »Trittbrettfahrer« ist der ursprüngliche Konfliktanlass oft kaum noch handlungsleitend, vielmehr bietet die Pogromsituation, in der sich die Grenzen zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem, moralischem und unmoralischem Handeln aufgelöst haben, nun die Möglichkeit, ganz offen zu stehlen, ohne sich selbst als Dieb zu betrachten,210 was noch durch die Inaktivität von Ordnungskräften unterstützt werden kann.

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Bauern, die sich ansonsten nur schwer artikulieren konnten, und neidische Stadtbewohner zur Rache für die Beleidigungen des täglichen Lebens (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ). »They act to make their perceptions match their goal of violating – intimidating, assaulting, injuring or killing – another human being« (McPhail, Presidential Address, S. ); für das Hooligan-Milieu hat Bill Buford in verdeckter teilnehmender Beobachtung Ähnliches beobachtet (Geil auf Gewalt, Unter Hooligans, München ). Vgl. Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . In der Pogromwelle von  im Zarenreich waren unter den . Personen, bei denen das Geschlecht vermerkt war, nur  Frauen; Bert Useem, Breakdown Theories of Collective Action, in: Annual Review of Sociology , , S. -, S. . Sutterlüty, Kollektive Gewalt und urbane Riots, S.  f. Ebenso auch Hitzler, Gewalt als Tätigkeit, S. , dass Gewalt für den Täter einen subjektiven, die Handlung transzendierenden Sinn besitzt, auch wenn er sich nur Lustgefühle verschaffen und Spaß haben will. Katz, Epiphanie der Unsichtbarkeit, S.  und . Zu den möglichen Selbstrechtfertigungen für die Gründe des Plünderns siehe S. . Katz berichtet von den Riots in Los Angeles im Jahre , dass hier Plünderer ihre gerade aus einem Geschäft gestohlene

BAUSTEINE ZU EINER SOZIOLOGIE DES POGROMS

Wenn eine Masse von Fremden plündert, erscheint das Stehlen nicht mehr als abweichendes, kriminelles Verhalten, obwohl die Plünderer wissen, dass sie sich fremdes Eigentum aneignen.211 Die Übergriffe fordern indirekt auch staatliche Maßnahmen gegen die Minderheit zugunsten der Eigengruppe, was sehr häufig auch Erfolg hat, da sich als Folge von Pogromen Zuzugsbeschränkungen, der Erlass diskriminierender Gesetze oder die Verzögerung der Verbesserung des rechtlichen Status der Juden beobachten lassen. Die Chancen für die Pogromisten, ihre Ziele partiell zu erreichen, stehen deshalb recht gut, weil der Staat die Minderheit zwar schützen kann (was er nicht immer schnell genug und in ausreichendem Maße tut), jedoch nicht auf Dauer gegen Teile der Mehrheitsbevölkerung handeln wird. Nimmt der Staat aber auf sie keine Rücksicht, riskiert er, dass sich Unmut und Gewalt gegen ihn selbst richten und er als »Parteigänger« der Minderheit gilt. Die beabsichtigten Wirkungen auf die Minderheit sind Verunsicherung, Angst und eine Verschlechterung der sozialen Lage bis hin zur Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz, die im Extremfall zu Selbstmorden oder Ab- oder gar Auswanderung führen. Die vom zionistischen Hilfsfonds  eingesetzte Kommission zur Erforschung der Pogrome im Russland betont die weitreichenden Wirkungen auf das Lebens- und Sicherheitsgefühl der jüdischen Bevölkerung in Reaktion auf die Pogromwelle von . Die Juden hätten bis zum Frühjahr  das »Bewusstsein der Sicherheit« besessen. »Seitdem ist im Leben und in der Psyche der russischen Juden eine neue Periode angebrochen. Es gibt keine Zeit mehr, in der sie sich völlig sicher fühlen. Das Bewusstsein, dass sie vogelfrei sind, dass jeden Augenblick ganze Horden von Menschen, auch von solchen, denen sie es nie zutrauen möchten, über sie herfallen können, verlässt sie niemals …«212 Zu den Wirkungen gehört jedoch auch der Aufbau von Selbsthilfeorganisationen auf Seiten der attackierten Minderheit. Pogrome stellen also (zusammen mit Lynchaktionen und Massakern) einen spezifischen Phänomenbereich kollektiver Gewalt dar. Dies betrifft einmal die Form des ethnischen Mehrheits-/Minderheitskonflikts selbst, in dem der Staat in anderer Weise als bei Rassenunruhen, Terrorismus oder sozialen Bewegungen involviert ist bzw. werden soll. Es betrifft die Dimension der Wertorientierung, die denen der Emanzipationsbewegungen und der Tendenz zur sozialen, kulturellen und politischen Inklusion zuwiderläuft, und es betrifft die Rolle von Expressivität, Emotion und Gewalt. Ware im nächsten Moment, unter Wiedereinsetzung von Eigentumsrechten, an die Umstehenden verkauften (S. ).  Ebd., S. . Vgl. dazu am Beispiel von race riots auch: E. L. Quarantelli/Russell R. Dynes, Property Norms and Looting: Their Pattern in Community Crisis, in: Phylon , , S. -.  A. Linden, Prototyp des Pogroms in den achtziger Jahren, in: Die Judenpogrome in Russland, hrsg. im Auftrag des Zionistischen Hilfsfonds in London von der zur Erforschung der Pogrome eingesetzten Kommission, I. Allgemeiner Teil, Köln, Leipzig , S. -, hier S. .

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POGROME ALS FORM KOLLEKTIVER INTERETHNISCHER GEWALT

Schematisch lassen sich diese Zusammenhänge abschließend so darstellen: Modell kollektiver Gewalt 213

Bedingungen für kollektive Gewalt

intervenierende Variablen Politische Gelegenheitsstruktur | Ausbruch der Gewalt

Bedingungen für kollektive Gewalt

Intervenierende Variablen

Ausbruch der Gewalt

– quantitative Veränderungen im Mehrheits-Minderheits-Verhältnis – Zu- oder Abwanderung – Bevölkerungswachstum

politische Gelegenheitsstruktur: Spaltung der Eliten – Gewaltsituation (Krieg, Okkupation, Bürgerkrieg, Revolution) – Ausfall der Kontrollorgane

auslösende Ereignisse als Symbol für den Intergruppenkonflikt (trigger events): – Streit zwischen Angehörigen der Mehrheit und Minderheit – Maßnahmen seitens des Staates zugunsten der Minderheit – Übergreifen eines anderen Konflikts

ökonomische Konkurrenz: – Arbeit – Wohnen – Ausbildung

Organisationsgrad der Mehrheit: – minderheitsfeindliche Organisationen – verfügbare »Massen« – Agitatoren – Medien

Verschiebung der Gewalt von einem anderen Ziel auf die Minderheit: – Ausweitung auf andere Zielgruppen – Ansteckungseffekte

kulturelle Spannungen: – konfessionelle Unterschiede. – ethnische U. – sprachliche U. – Lebensweise

In-Group–Kommunikation: – Gerüchte – Medienkampagnen

politische Konkurrenten: – ethnische Parteien – rechtlicher Status

externe Mobilisierungsbedingungen: – Jahreszeit – Wetter – Wochentage – Feste – Krieg/Mobilisierung

Existenz einer feindseligen Ideologie

 Basiert auf einem Grundmodell von Govea/West, Riot Contagion, S. . Vgl. einen ähnlichen Schematisierungsversuch zur Kategorisierung des sozialen Protests im Vormärz bei Volkmann, Kategorien des sozialen Protests, S. -. Das »Schema der Protestkategorien«

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. Antiemanzipatorische und revolutionäre Gewalt – - Die Forderung nach einer Emanzipation der Juden wurde im späten . Jahrhundert von einer kleinen bürgerlichen und adligen Schicht von Aufklärern und aufgeklärten Staatsbeamten erhoben, die mit ihren Schriften die europäische Reformdiskussion auf den Weg brachten. Diese Reformbestrebungen stießen aber beim Gros der christlichen Bevölkerung, insbesondere in Institutionen wie den Kirchen, bei bestimmten Berufsgruppen, etwa Kaufleuten, und bei der Landbevölkerung auf Ablehnung, da sie jede Verbesserung der rechtlichen und sozialen Position als eine Stärkung des als schädlich angesehenen Judentums ablehnten, das von ihnen als eine religiös, politisch und ökonomisch von der christlichen Gesellschaft abgesonderte und gesellschaftlich nicht zugehörige Gruppe betrachtet wurde.1 Als Integrationshindernis galt vor allem die jüdische Religion, welche die Juden zu kulturell Fremden machte und ihnen den Vorwurf des Separatismus eintrug. Da die jüdischen Gemeinden als autonome Korporationen zahlreiche nicht-religiöse Aufgaben erfüllten, sah man in ihnen eine ihrerseits exklusive und eng vernetzte Solidargemeinschaft, als einen »Staat im Staate«, bzw. sogar als so etwas wie eine »jüdische Internationale«.2 Und noch in einer weiteren Dimension wichen die Juden von der Feudalgesellschaft ab: in ihrer sozialen und beruflichen Schichtung. Es gab weder Adel noch Klerus noch abhängige Bauern, sondern es herrschte eine Schicht von kleinen, zum Teil verarmten Selbständigen vor (Händler, Pfandleiher, Pächter, Schankwirte), über die eine kleine Spitze überregional oder sogar international tätiger Finanziers und Kaufleute herausragte. Diese abweichende Schichtung und die (erzwungene) berufliche Spezialisierung brachten Juden in der entstehenden kapitalistischen Gesellschaft Startvorteile, doch wurden gerade diese Berufe von der christlichen Bevölkerung als besonders »gemeinschädlich« betrachtet. Mit Rücksicht auf diese ablehnende Haltung der Bevölkerung setzte man in Mittel- und später auch in Osteuropa auf schrittweise, staatlich gelenkte Reformen, die zwei, allerdings oft widerstreitende Ziele verfolgten: Sie sollten dem Staat nützliche Bürger schaffen und die christliche Bevölkerung vor der »schädlichen Handelstätigkeit« der Juden bewahren, und sie sollten die Lage der Juden

 Vgl. dazu und zum folgenden Victor Karady, Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Frankfurt a. M. ; Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München , Kap. II.  Jacob Katz, A State within a State. The History of an Anti-Semitic Slogan, in: ders., Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften, Darmstadt , S. -; vgl. zusammenfassend Werner Bergmann, Staat im Staate, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart Bd. : Begriffe, Theorien, Ideologien. hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin, New York , S. -.

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verbessern und ihre Sozialstruktur der Mehrheitsgesellschaft angleichen.3 Ersteres gelang, da Juden in vielen europäischen Ländern die neuen sozialen Freiheiten zum sozialen Aufstieg nutzten, während dieselben traditionell privilegierte Gruppen unter Konkurrenzdruck setzten, was soziale Spannungen auslöste und diese Gruppen zum Widerstand gegen die Modernisierung und damit auch gegen die Judenemanzipation movierte. Dies führte in vielen europäischen Staaten zu einem Zickzackkurs von rechtlichen Reformschritten und ihren fallweisen Rücknahmen über fast ein Jahrhundert hin. Der Emanzipationsprozess nahm in West-, Mittelund Osteuropa aus einer Reihe von Gründen einen unterschiedlichen Verlauf.4 Ein Grund lag in der Größe und Beschaffenheit der jüdischen Minderheit. Anders als in den westeuropäischen Ländern mit sehr kleinen und z. T. bereits verbürgerlichten Judenheiten, deren gesellschaftliche Integration auf vergleichsweise geringeren Widerstand stieß, ergab sich für Preußen, das Habsburgerreich und das Zarenreich ein Reformbedarf allein schon aus dem großen Zuwachs an einer weitgehend verarmten jüdischer Bevölkerung durch die polnischen Teilungen ab . Hatten um die Mitte des . Jahrhunderts auf dem Gebiet des späteren deutschen Kaiserreichs ungefähr . Juden gelebt, die gleiche Zahl kann man für die habsburgischen Länder annehmen, so stieg sie am Ende der napoleonischen Kriege im mitteleuropäischen Raum auf ca. -. an, was für Deutschland einem Bevölkerungsanteil von einem Prozent entsprach. Zum Russischen Reich, in dem es auf Grund eines Ansiedlungsverbots bis dahin praktisch keine Juden gegeben hatte, gehörten nach dem Erwerb von Weißrussland, Litauen und der Ukraine ungefähr . Juden und andere Minderheiten. Die Juden, die sich in Polen relativer religiöser und gesellschaftlicher Freiheit erfreut hatten, gerieten unfreiwillig ins rückständige Zarenreich, und ihre Geringschätzung der russischen Kultur war ein Grund für ihre geringe Integrationsbereitschaft, was sie in den Augen vieler Russen zu einem fremden und unassimilierbaren Bevölkerungsteil machte. Die Integration wurde zusätzlich durch ein rasantes jüdisches Bevölkerungswachstum erschwert, so wuchs die Zahl der Juden von , Millionen im Jahre  auf , Millionen  an. Da   von ihnen im Ansiedlungsrayon lebten, einem Gebietsstreifen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, betrug ihr Bevölkerungsanteil hier oft  , örtlich bildeten Juden manchmal sogar die Mehrheit. Mit einem Anteil von   am Ende des . Jahrhunderts (  im Jahre ) gestaltete sich die Integration im Zarenreich wesentlich komplizierter als in Deutschland oder Frankreich, wo zur Zeit der Französischen Revolution nur rund . Juden lebten, deren Zahl sich bis zum Ende  Die Erwartung auch von Fürsprechern der Emanzipation, die als »gemeinschädlich« betrachtete berufliche Schichtung der Juden würde sich bei freier Berufswahl im Laufe der Zeit an die der Christen angleichen, erfüllte sich begreiflicherweise nicht, da dies für die Juden die Wahl überbesetzter und zudem rückläufiger Berufszweige (Bauern, Handwerker) bedeutet hätte.  Siehe dazu den Sammelband von Pierre Birnbaum/Ira Katznelson (Hrsg.), Paths of Emancipation. Jews, States, and Citizenship, Princeton ,

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des . Jahrhunderts lediglich verdoppelte (in den anderen west- und nordeuropäischen Ländern stellten die Juden im . Jahrhundert nie mehr als zwei Promille). Allein dieser Abriss über die Größe, Siedlungsstruktur, soziale Lage und Assimilationsbereitschaft der jeweiligen jüdischen Minderheit zeigt die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Judenemanzipation. Diese von West nach Ost ungünstigere Lage ging natürlich keineswegs überwiegend auf das Konto der jüdischen Minderheit, sondern wurde wesentlich durch andere Faktoren bedingt: den bereits erreichten Grad an gesellschaftlicher Modernisierung, vor allem die Stärke einer bürgerlich-liberalen Gesellschaftsschicht, der voremanzipatorischen Rechtsstellung der Juden, und die Form und Probleme der Nationalstaatsbildung. In allen Fällen bestand ebenfalls ein West-Ost-Gefälle: Frankreich war bereits eine relativ stärker verbürgerlichte und homogene Staatsnation, die neben den Juden keine größere ethnische Minderheit zu integrieren hatte und in der die Judenemanzipation den neuen republikanischen Prinzipien entsprach. Die ca. . portugiesischen Juden Südwestfrankreichs waren zudem rechtlich bereits weitgehend integriert. Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, das in eine Vielzahl von Staaten zerfiel, entstand eine nationale Einheitsbewegung erst mit den napoleonischen Kriegen, und das liberale Bürgertum blieb gegenüber den fortbestehenden ständischen Strukturen schwach. Die Juden wurden über »Judengesetze« und »Schutzbriefe« im Grunde wie Ausländer behandelt und besaßen jeweils nur einen temporären Aufenthaltsstatus. Das Habsburger- wie das Zarenreich waren Vielvölkerstaaten, in denen die Juden nur eine ethnische Gruppe unter vielen waren, die sich von der christlichen Umwelt gleich mehrfach durch ihre Religion, Sprache, Kleidung und politischen Rechte unterschied. Russland war wirtschaftlich und politisch am rückständigsten, so dass erste gesellschaftliche Reformen (wie z. B. die Bauernbefreiung) erst in der zweiten Hälfte des . Jahrhundert einsetzten. Entsprechend hinkte hier auch die Emanzipation der Juden hinterher und zog sich bis ins . Jahrhundert hin. Aus den theoretischen Annahmen des zweiten Kapitels und dem gerade geschilderten zeitlichen Verlauf des Emanzipationsprozesses, der den Juden eine neue Stellung in den christlichen Gesellschaften einräumte, was wiederum von Teilen der christlichen Gesellschaft nicht ohne Widerstand hingenommen wurde, ergibt sich auch die Chronologie gewalttätiger Auseinandersetzungen. Es beginnt mit Konflikten im Anschluss an die Judenemanzipation in Frankreich, dort vor allem im Elsass, gefolgt von einigen italienischen Staaten und ab  dann auch in deutschen Staaten, während im Habsburgerreich antijüdische Ausschreitungen erst um die Jahrhundertmitte beginnen und im Zarenreich, vom multiethnischen Odessa einmal abgesehen, in den neu entstandenen Nationalstaaten Rumänien und Bulgarien antijüdische Ausschreitungen erst im letzten Viertel des . Jahrhunderts einsetzen.

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. Die Französische Revolution und antijüdische Gewalt im Elsass - Während sich in vielen europäischen Staaten der Prozess der rechtlichen Gleichstellung der Juden bis ins letzte Drittel des . Jahrhunderts, im Zarenreich sogar bis  hinzog und immer wieder von Rückschlägen gekennzeichnet war, brachte die Französische Revolution für Frankreichs ca. . Juden die sofortige Gleichstellung als Staatsbürger. Allerdings ist es bezeichnend, dass auch hier in den Entscheidungen der Konstituante am . und . Dezember  den Juden gleiche bürgerliche Rechte noch mit knapper Mehrheit verweigert worden waren, während man sie der protestantischen Minderheit und den unehrenhaften Berufen zuerkannt hatte.1 Dies ging auf den Widerstand der katholischen Geistlichkeit und adliger wie bürgerlicher Abgeordneter aus dem Osten Frankreichs zurück, welche die Gefahr einer Finanzherrschaft der Juden einerseits, die eines Volksaufstandes gegen die Juden in ihren Regionen andererseits befürchteten. Für viele Kleriker hatte die französische Nation grundsätzlich christlichen Charakter, so dass Juden in ihr keine Führungspositionen übernehmen konnten. Auch sahen die Gegner in den Juden eine eigene Nation, der man keine aktiven Bürgerrechte verleihen könne.2 Betrachtet man die Petitionen (»Cahiers de doléances«), die am Vorabend der Revolution seit Anfang  an die Generalversammlung gerichtet wurden, dann wird deutlich, dass von dieser Seite vor allem Klagen gegen die Juden und ihr schädliches Wirken vorgebracht wurden, während diese ihrerseits in ihren »Cahiers de doléances« Beschwerden anmeldeten, Rechtsgleichheit forderten, aber zugleich auf der Beibehaltung ihrer Gemeindestrukturen mit eigenen Rechten als »jüdische Nation« beharrten, womit sich die elsässischen Juden in klarem Widerspruch zu den kulturellen Einigungsbestrebungen der Revolutionäre befanden.3 Weniger Probleme sah man darin, den . stark assimilierten, in Südwestfrankreich ansäs Die Einschränkung betraf aber nur die Rechte als aktive Bürger, d. h. das Wahlrecht und das Recht, gewählt zu werden. Die bürgerlichen Grundrechte und Menschenrechte, darunter auch Religionsfreiheit, galten auch für die französischen Juden. Vgl. Gary Kates, Jews into Frenchmen: Nationality and Representation in Revolutionary France, in: Ferenc Fehér (Hrsg.), The French Revolution and the Birth of Modernity, Berkeley , S.  f. Vgl. zu den unterschiedlichen Positionen zur »Judenfrage« im Vorfeld und während der Französischen Revolution neuerdings Maurice Samuels, The Right to Difference. French Universalism and the Jews, Chicago, London , S. -.  Der radikale judenfeindliche elsässische Abgeordnete Jean-Francois Reubell formulierte dies so: »The Jews collectively are a corps de nation separate from the French. They have a distinct role. Thus they can never acquire the status of an active citizen« (Archives parlamentaires de  a , Vol. , S. , zit. nach Kates, Jews into Frenchmen, S. ).  Vgl. Pierre Birnbaum, Between Social and Political Assimilation: Remarks on the History of Jews in France, in: ders./Katznelson (Hrsg.), Paths of Emancipation, S. -, hier S. ; Jean Daltroff, Le Juifs de Durmenach entre histoire et mémoire, Conference du  octobre  au Foyer Saint-George, S.  f. http://tzundel.chez.com/durmenqach/histoire/ durmenach_se_souvient/confJD.html (zuletzt eingesehen am ..).

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DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION UND ANTIJÜDISCHE GEWALT IM ELSASS

1778-1795

sigen sephardischen Juden bereits im Januar  die volle Gleichberechtigung zu gewähren, während es noch bis zum September  dauern sollte, bis sie für alle Juden beschlossen wurde. Zu dieser Verzögerung hat sicher beigetragen, dass es schon  antijüdische Unruhen im Elsass gegeben hatte, da man sich damit nicht noch einen zusätzlichen Konflikt mit den christlichen Bürgern einhandeln wollte, die eine rechtliche Gleichstellung der Juden vehement ablehnten. Die starke Autonomie und geringe Verflechtung der elsässischen Juden mit ihrer christlichen Umgebung sind Faktoren, die ihre Diskriminierung und das Ausbrechen kollektiver Gewalt begünstigt haben. Von Ausschreitungen gegen sephardische Juden im Südwesten des Landes und in Paris, die ihre Loyalität auf die neue offene Gesellschaft übertrugen und zu französischen Bürgern werden wollten, ist nichts bekannt. Wir finden im Elsass Ende des . Jahrhunderts eine Reihe von Umständen vor, die den ethnisch-religiösen Konflikt begünstigten. Nach dem Anschluss der größten Teile des Elsass an Frankreich nach dem Westfälischen Frieden behielt der Adel, wie im Heiligen Römischen Reich üblich, das Recht, über die Ansiedlung von Juden auf seinem Besitz zu entscheiden, die entsprechend ihre Steuern an ihren Feudalherren zahlten. Damit war bereits eine Konfliktstruktur etabliert, da die Juden nicht »zum allgemeinen Steueraufkommen des Ortes« beitrugen und (fälschlich) zudem als privilegierte Steuerzahler angesehen wurden.4 Ihre Integration in die Gemeinde blieb deshalb gering und wurde auch durch ihre orthodoxe, auf Autonomie beharrende Lebensweise behindert. Zu dieser latenten Konfliktlage trugen außerdem die starke Zuwanderung und die höhere Geburtenrate der Juden bei, deren Zahl von Mitte des . Jahrhunderts bis  von . auf . anwuchs (ca.   der Bevölkerung), so dass hier ungefähr die Hälfte der französischen Juden lebte. Gerade die beiden Regionen, in denen die Zunahme besonders hoch ausfiel, im südelsässischen Sundgau sowie im Gebiet L’Outre-Forêt, lagen zwischen  und  Hochburgen der antijüdischen Agitation und Gewalt. Hinzu kam, dass diese Zunahme der jüdischen Bevölkerung, die ihren Unterhalt als Hausierer und Geldverleiher (»Wucherer«) verdiente, mit einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage für die Landbevölkerung zusammenfiel, so dass sich Spannungen und Rechtsstreitigkeiten zwischen Schuldnern und Gläubigern entwickelten. Da die Provinzbehörden Juden nicht als Staats- und Ortsbürger anerkannten, blieb ihr rechtlicher Status ungesichert. Lokale Behörden haben deshalb im Laufe des . Jahrhunderts immer wieder versucht, die Juden aus ihrem Gebiet zu vertreiben, konnten sich damit aber gegenüber der Regierung in Paris nicht durchsetzen, so dass es nur zu örtlichen Ausweisungen armer Familien und Erschwernissen des Aufenthalts kam. Bereits  hatte es im südlichen Elsass Proteste gegen die Obrigkeit gegeben, und im Jahre  sorgte die »l’affaire des fausses quittances« (Affäre der gefälschten Quittungen) für judenfeindliche Ausschreitungen im Sundgau, vor allem in den Orten Durmenach, Hagenau und Thann, nachdem der Landvogt von Blotzheim, Jean-François Hell, zusammen mit Komplizen tausende gefälschter Quittungen in  Dazu und zum Folgenden Gerson, Kehrseite, S.  ff.

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Umlauf gebracht hatte, die die christlichen Schuldner der Juden von ihren Schulden befreiten und zugleich die Juden ruinieren und zum Verlassen des Landes zwingen sollten.5 Als die jüdischen Gläubiger gegen die Fälschungen vor Gericht zogen, löste dies antijüdische Unruhen aus. Dass Hell zwar leicht, seine Komplizen z. T. schwer bestraft wurden, änderte nichts daran, dass seine Kritik an dem »ausbeuterischen Treiben der Juden« allgemeinen Beifall fand – sogar unter »Judenfreunden« wie dem Abbé Grégoire oder dem österreichischen Kaiser Joseph II. – und dass er nach seiner Rückkehr aus der Verbannung im Elsass freudig empfangen und wieder in seine Ämter eingesetzt wurde. Dies zeigt den Grad der Spannungen und den breiten gesellschaftlichen Konsens über den schädlichen jüdischen »Wucher« an.6 Die antijüdischen Aktionen im Elsass und in Lothringen waren richtungsweisend auch für Zunftunruhen in Trier und in anderen Gebieten des Rheinlandes, denen jahrzehntelange Streitigkeiten zwischen den Zünften, insbesondere den Metzgern, und den ansässigen unzünftigen jüdischen Handwerkern und Händlern vorausgegangen waren, die sich angesichts der sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen für die Zünfte immer weiter verschärften, zumal die Landesherrn den Klagen ihrer christlichen Untertanen nur wenig Beachtung schenkten, um ihre Einkünfte aus den Steuern der Juden nicht zu verlieren. Die unablässigen Angriffe und Klagen der Bürgerschaft und der Zünfte im Saar-Mosel-Raum zielten nach Cilli Kaspar-Holtkotte »offenbar auf die Verdrängung und Vertreibung der Juden ab«.7 Zwar hatte es in den Jahren vor der Revolution auch im Elsass eine ganze Reihe von Bestrebungen und Ereignissen, wie etwa die »Lettres patentes du Roi, pourtant Réglement concernant les Juifs« von ,8 die Abschaffung des Leibzolls (péage corporel) , das Preisausschreiben zur »Judenfrage« in der Metzer Akademie (-) und die zahlreichen Memoranden, Bücher und Pamphlete gegeben, die  Gerson, Kehrseite, S.  ff. Zu seiner Rechtfertigung publizierte Hell  in Frankfurt a. M. eine antijüdische Schmähschrift »L’Observation d’un Alsacien sur l’affaire présente des Juifs d’Alsace«, die nach Gerson die Emanzipationsdebatte im Vorfeld der Französischen Revolution beeinflusste (S. ). Für unser Thema interessant ist es, dass Hell zur Illustrierung seiner These, die Juden hätten schon immer ihre christlichen Mitbürger betrogen und seien deshalb verfolgt worden, auf die Verbrennung der Juden Basels im Zuge der Pestpogrome im Jahre  rekurrierte, die er als gerechte Bestrafung hinstellte. Dies zeigt, wie lebendig und aktualisierbar die Gewaltgeschichte der Region für die damalige Zeit war.  Gerson, Kehrseite, S. -; die Diskussionen um die Emanzipation der Juden in Frankreich zeigen deutlich, dass auch die Befürworter der völligen staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden auf die Probleme hinwiesen, die durch deren Rolle im Geldverleih (»Wucher«) entstünden. Siehe dazu: Samuels, The Right to Difference, S.  ff.  Vgl. Cilli Kaspar-Holtkotte, Juden im Auf bruch. Zur Sozialgeschichte einer Minderheit im Saar-Mosel-Raum um , Hannover , S. -, hier S.  f.  Der französische König erließ am . Juli  eine neue Ordnung für die Juden des Elsass (deutsch: Offener königlicher Brief betreffend die Juden Verordnung im Elsass), die wegen ihrer zahlreichen Restriktionen bis hin zu Ausweisungen den Protest der elsässischen Juden hervorrief und die man nicht als proto-emanzipatorisch, sondern eher als Ausdruck einer judenfeindlichen Entwicklung verstanden hat.

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wichtige Wegmarken hin zu einer Verbesserung des jüdischen Status darstellten, doch betont Zosa Szajkowski, dass die einflussreichen, die Revolution von  mit vorbereitenden Assemblées provinciales im Elsass bei ihrer judenfeindlichen Einstellung blieben, was auch für andere lokale und zentrale Regierungsbehörden galt.9 Diese Differenzen zwischen der Rechte gewährenden Zentralregierung und regionalen wie örtlichen Behörden, die dies nicht akzeptieren wollten, ist ein häufig wiederkehrendes Muster, das sich auf die Bereitschaft ausgewirkt hat, in Fällen kollektiver Gewalt gegen Juden auf lokaler Ebene so energisch vorzugehen, wie es die Regierung forderte (siehe oben Kap. .). Dies zeigte sich etwa im Konflikt Herz Cerfbeers, eines der Führer der elsässischen Juden, mit der Stadt Straßburg, die sich noch  auf das Ansiedlungsverbot von  berief und auf der Notwendigkeit des Schutzes der Christen vor jüdischem Wucher bestand. Obwohl Cerfbeer, ausgestattet mit einem Patentbrief des französischen Königs, das Ansiedlungsrecht zustand, weigerte sich Straßburg, dies anzuerkennen, was zu einem erbitterten Konflikt führte, zumal die Gegner der Juden befürchteten, Cerfbeer ginge es darum, einen Präzedenzfall zu schaffen und so die Verhältnisse der Juden generell zu »revolutionieren«.10 Der Konflikt zog sich bis  hin. Straßburg forderte von der Nationalversammlung die Respektierung seiner alten Rechte und verwies auf den noch offenen Rechtsstreit mit Cerfbeer. Erst das Gesetz vom . September  machte diesem Konflikt ein Ende, so wie die Revolution auch die Umsetzung der in den Lettres patentes angeordneten Ausweisung nicht registrierter Juden aus dem Elsass verhinderte.11 Zosa Szajkowski kommt für den Stand der Judenemanzipation am Vorabend der Revolution zu einem negativen Fazit: »Until the very last days preceding the outbreak of the Revolution, the Jews were an oppressed, barely tolerated group. All liberal voices favouring the Jews did not achieve any practical improvement in their status. It took a far more important event to accomplish that – the Revolution«.12 Schon die Forderungen der Juden nach Beteiligung an den Wahlen zu den Generalständen stießen – sogar in Südwestfrankreich – auf heftige Ablehnung, und man sah gar die öffentliche Ordnung gefährdet. Tatsächlich tat in der unruhigen Phase der »grand peur« vor der Revolution der Vierte Stand im Juli  seine Meinung in Plünderungen und Pogromen im Elsass kund, so dass diese die Konstituante um Schutz baten und auch ein entsprechendes Dekret erwirkten. Die antifeudale Gewalt, die sich primär gegen Schlösser und Amtssitze des Adels richtete, hatte im Elsass und hier wiederum besonders im Sundgau die Juden als weiteres Ziel im  Zosa Szajkowski, Jews and the French Revolutions of ,  and , New York , S. . Mitglieder in diesem Gremium waren Männer, wie J. B. Reubell, die später in der Nationalversammlung gegen die Emanzipation der Juden kämpften. Vorsitzender der Commission Intermediaire, die ein neues Judenstatut für das Elsass ausarbeiten sollte, war niemand anders als F. Hell (s. o.) (vgl. ebd., S.  ff. zu dem erarbeiteten Entwurf des Statuts).  Ebd., S. .  Ebd., S. .  Ebd.

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Visier. Das Wunschgerücht, der König habe auch die Vernichtung von Schuldscheinen erlaubt, zeigt, wie hier konkrete wirtschaftliche Interessen der christlichen Schuldner bei der antijüdischen Gewalt mitspielten. Tagelang zogen marodierende Banden, von der Obrigkeit nicht gehindert, durch die Dörfer, bedrohten die jüdischen Einwohner, vernichteten Schuldscheine, demolierten oder plünderten den Hausrat, bisweilen wurden auch die Häuser völlig zerstört. Nur in wenigen Fällen kam es zu Übergriffen auf die Synagoge.13 Häufig waren es jedoch auch die ortsansässigen Christen, die z. T. unter Beteiligung des Bürgermeisters über ihre jüdischen Nachbarn herfielen, die zu Hunderten in die größeren Städte, vor allem nach Basel und Mühlhausen (Mulhouse), flüchteten und einige Zeit dort blieben. Erst in den letzten Julitagen gelang es, unter Einsatz des Militärs die Unruhen zu beenden, und im August wurde zahlreichen Plünderern der Prozess gemacht, der mit kurzen Gefängnisstrafen für geringfügigere Plünderungen bis zu mehrjährigen Verurteilungen, z. B. auf die Galeeren, für die Haupttäter endete.14 Die Rückkehr der vertrieben Juden gestaltete sich mancherorts schwierig. Nicht nur, weil ihre Häuser z. T. zerstört und ausgeplündert waren, sondern weil sich die christlichen Dorf bewohner ihrer Rückkehr widersetzten. Nur mit der Rückendeckung einer offiziellen Verordnung fanden Juden wieder Aufnahme, waren aber immer wieder Zerstörungen ihrer Häuser und Bedrohungen ausgesetzt, wie etwa Gewehrsalven, als sie am jüdischen Neujahrsfest in den Synagogen beteten.15 Dies ist ein Hinweis auf den hohen Grad an sozialer Distanz und Feindseligkeit zwischen Christen und Juden in den Dörfern des Elsass, die bis  immer wieder zu Ausschreitungen führen sollten. Daniel Gerson, der die judenfeindliche Gewalt im Elsass untersucht hat, spricht davon, dass sich mit »dem Vorwurf des wucherischen Geldverleihs im Zentrum« in den Dörfern dort vom Ende des . bis Mitte des . Jahrhunderts eine »potentiell gewalttätige Judenfeindschaft« gehalten hat. Die revolutionären Veränderungen von  trafen im Elsass also auf eine bereits durch Unruhen, Proteste und Gewalt aufgeheizte Situation.16  Betroffen von den Ausschreitungen waren die Juden in Durmenach, Hagenthal, Hégenheim, Rixheim und Sierentz (Daltroff, Les Juifs de Durmenach, S. ; Gerson, Kehrseite, S.  ff.). Es ist bezeichnend, dass – wie auch sonst zwischen  und  – Gewalt sich nur selten gegen Personen richtete und Todesfälle selten waren. Zwar wird aus Basel von der Versorgung von  verletzten Flüchtlingen berichtet, doch ist dies bei  Geflüchteten eine vergleichsweise geringe Zahl. Todesfälle wurden nicht bekannt. Ich stimme hier mit Gerson (S. ) überein, dass es offenbar, wie auch in den food riots, so etwas wie »protocols of riots« gab, die den Verlauf solcher Aktionen regelten und massive physische Gewalt gegen Personen aus dem Handlungsrepertoire ausschlossen.  Gerson, Kehrseite, S.  f.,  f.  Szajkowski (Jews and the French Revolutions, S.  ff.) spricht von Tausenden von Misshandlungen, Arretierungen, Anschuldigungen, Forderungen nach Ausweisung usw. z. T. auch von revolutionärer Seite, die sich in den Quellen finden.  Gerson, Kehrseite, S. . So wurde nur einen Tag nach der gesetzlichen Gleichstellung vom .. vom Parlament ein Sondergesetz verabschiedet, das Geldgeschäfte zwischen Juden und Christen im Elsass regeln sollte (ebd., S. ).

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Größere Städte Antijüdische Ausschreitungen im Elsass: /

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Als am . September  den Juden schließlich die Gleichberechtigung zuerkannt wurde, führte dies kaum zu antijüdischen Aktionen, die von elsässischen Parlamentariern vorausgesagt worden waren, um die Nationalversammlung gegen die Judenemanzipation einzunehmen. Zwar herrschte eine aufgeladene antijüdische Stimmung17 und es gab einige Protestpetitionen gegen die Gewährung der Bürgerrechte, z. B. aus Straßburg, doch lösten die zunächst relativ abstrakt bleibenden neuen Rechte keine größeren Gewaltaktionen aus, zumal die christliche Bevölkerung und sogar die Jakobiner an den Restriktionen für Juden (höhere Steuern, keine freie Wahl des Wohnortes usw.) festhalten wollten.18 Bedrohliche Situationen entstanden primär aus lokalen Vorkommnissen, zumeist durch Regelungen, die das Zusammenleben an einem Ort veränderten. Entsprechend kam es bei der Ablegung des Bürgereides (le serment civique) von Juden an einigen Orten zu judenfeindlichen Äußerungen, die aber nicht in offene Gewalt umschlugen, zumal die revolutionären Regierungsbeamten für die Gleichberechtigung der Juden auch gegen den Willen der lokalen Bevölkerung eintraten.19 Die Vorgänge in Bischheim-au-Saume, einem Dorf in der Nähe von Straßburg, belegen diese konfliktgeladene Stimmung. Bei der öffentlichen Ablegung des Bürgereides weigerten sich fünf prominente Juden des Ortes, sich zu bekreuzigen. Der Streit wurde schließlich vom Direktorium des Departments zugunsten der Juden entschieden. Die Eidesleistung sollte dann am . April  vom Regierungskommissar selbst unter dem Schutz von dreißig Nationalgardisten abgenommen werden. Dies scheiterte jedoch wiederum, da die Menge und auch Angehörige der Nationalgarde von den Juden forderten, den Hut abzunehmen. Die Stimmung wurde so bedrohlich, dass sich der Regierungskommissar entschloss, die Zeremonie zum Schutz der Juden abzubrechen. Schließlich konnten die fünf Bischheimer Juden am . April den Eid doch noch schwören, nachdem das Direktorium darauf insistiert und sogar Truppen in den Ort verlegt hatte, die allerdings allein bei den jüdischen Einwohnern einquartiert wurden.20 Das Beispiel zeigt, dass ein energi In Lixheim (Lothringen) sollen die antijüdischen Gefühle so heftig gewesen sein, dass jüdische Kreditgeber sich fürchteten, ihre Schulden bei den christlichen Gläubigern einzufordern. Dort kam es bei Wahlen im November  zu Tätlichkeiten, als man Juden aus der Kirche, die als Wahllokal diente, hinaustrieb, da sie sich aus religiösen Gründen weigerten, die Hüte abzunehmen (Szajkowski, Jews and the French Revolutions, S. ). Vgl. zu diesem Widerstand vieler Kommunen gegen die Judenemanzipation das Kapitel »The discussion and struggle over Jewish emancipation in Alsace in the early years of the revolution«, ebd., S.  ff.).  Von den  antijüdischen Aktionen im Department Bas-Rhin zwischen  und  richteten sich allein  gegen eine neue jüdische Ansiedlung oder Handelstätigkeit am Ort. Vgl. Rodolphe Reuss, L’ Antisémitisme dans le Bas Rhin pendant la Révolution, in: Revue des Etudes Juives , , S.  (zit. nach Szajkowski, Jews and the French Revolutions, S. ). Allerdings richteten sich ähnliche Vorbehalte auch gegen andere Gruppen, etwa die Protestanten (ebd., S. ).  Gerson, Kehrseite, S. .  Vgl. dazu den ausführlichen Bericht in David Feuerwerker, L’émancipation des Juifs en

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DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION UND ANTIJÜDISCHE GEWALT IM ELSASS

1778-1795

sches Eintreten des Staates den drohenden Gewaltausbruch verhindern konnte. – Dieser Kampf um die Durchsetzung der Gleichberechtigung der Juden im lokalen Rahmen sollte im Elsass noch bis weit ins . Jahrhundert andauern und in Krisensituationen immer wieder zu judenfeindlichen Ausbrüchen führen. Gefahr für die Juden drohte aber nach Gerson auch noch aus einer anderen Richtung. Der antiklerikale Geist der Revolutionäre begünstigte einerseits die Emanzipation der Juden, doch richtete sich die antireligiöse Politik der Jakobiner in den Jahren / auch gegen das Judentum, das als abergläubische Sekte Religion über die Vernunft setze. Es wurden Synagogen geschlossen, die Sabbatruhe verboten, Rabbiner entlassen. Vor allem im Osten Frankreichs gab es Aufrufe zur Konfiszierung und Verbrennung des Talmuds, die aber weitgehend nicht befolgt wurden, sowie Anträge von Volksvereinen, etwa von den Jakobiner-Clubs von Colmar, Nancy und Toul (), die Juden auszuweisen. Gerade von Seiten der Revolutionäre war die Gleichberechtigung immer mit der Vorstellung verbunden gewesen, die Juden müssten damit ihre eigenen Gemeindestrukturen und religiösen Gesetze aufgeben, so dass von ihnen ein starker Assimilierungsdruck auf die Juden ausging, der nach Gerson ein beträchtliches antisemitisches Konfliktpotential barg.21 Szajkowski weist zu Recht darauf hin, dass die Verfolgung der jüdischen Religion seitens der Jakobiner nicht als ideologischer Kampf um die Abschaffung des jüdischen Glaubens per se oder als Aktionen mit antijüdischem Charakter anzusehen seien, sondern als Teil der Maßnahmen, die sich in diesen Jahren gegen viele Gruppen richteten, die aufgrund ihres Festhaltens an religiösen Riten als Gegner der Revolution galten.22 Der judenfeindliche Druck vor allem in den östlichen Departements, in denen um / die judenfeindliche Gewaltbereitschaft aufgrund von Wuchervorwürfen und des Vorwurfs der Finanzherrschaft durch den Aufkauf von Kirchengut stark angewachsen war, hatte Erfolg, denn er bewog Napoleon , die Freizügigkeit und Handelstätigkeit der Juden durch ein Gesetz wieder einzuschränken (»Infames Dekret«), das bis  in Geltung blieb.23 Die sofortige rechtliche Gleichstellung der Juden führte zunächst kaum zu ihrer politischen und sozialen Integration, da in der Restaurationsperiode der Katholizismus bis  Staatsreligion blieb, was den Zugang von Juden zu höheren Staatsämtern und in die Verwaltung erschwerte. Eine Ausnahme bildete nur das Militär. Die France, Paris , S. -. Vgl. Kates, Jews into Frenchmen, S.  f. Vgl. auch den ähnlichen Konflikt in Lixheim, s. o. Fußnote .  Gerson, Kehrseite, S. .  Szajkowski, Jews and the French Revolutions, S. . So wurden in der Zeit der Terreur (Juli  bis Juli ) zahlreiche Synagogen und kommunale jüdische Einrichtungen geschlossen und nationalisiert, in einigen Fällen auch zerstört, doch insgesamt in geringerem Umfang als das Eigentum der katholischen Kirche (ebd., S.  f.).  Vgl. dazu Daniel Gerson, Décret Infame, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. ; Jacques-Olivier Boudon, Napoleón et les cultes: les religions en Europe à l’aube di XIXe siècle, -, Paris .

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Juden blieben auf Handel und Industrie als Auswegkarrieren verwiesen. Allerdings gab es in der Integration große Unterschiede zwischen den sephardischen und aschkenasischen Juden. Erstere und einige aus Deutschland zugewanderte Familien, wie die Rothschilds, Erbachs und Hirschmanns, spielten in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts eine wichtige Rolle im Auf bau des französischen Bankwesens, besaßen großen politischen Einfluss und wurden so zum Ziel einer antikapitalistischen Judenfeindschaft.24

 Frühsozialistische Denker sahen in dieser Zeit in jüdischen Bankiers die Hauptträger des kritisierten Finanzkapitalismus wie der Titel des Buches Les Juifs, rois de l époque. Histoire de la féodalite financière von Alphonse Toussenel von  zeigt. Vgl. Jean-Yves Camus, Alphonse Toussenel, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. /, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -.

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. Ausschreitungen gegen Juden in Italien - Während es in den deutschen Ländern und in Frankreich bis gegen Ende des . Jahrhunderts keine größeren Übergriffe gegen Juden gab, finden wir in den stadtgeschichtlichen Darstellungen und Arbeiten zur jüdischen Geschichte Italiens für diese Zeit immer wieder Berichte über gewalttätige Krawalle und Ausschreitungen gegen Juden in der Toskana.1 Diese Darstellungen deuten auf eine Labilität der Beziehungen zwischen den städtischen Unterschichten und den Juden hin, die bei kleinen Anlässen in Gewalt münden konnten. Ulrich Wyrwa hebt in seiner Preußen und die Toskana vergleichenden Arbeit hervor, dass in den toskanischen Unterschichten im . Jahrhundert im Unterschied zu den preußischen »starke antijüdische Vorurteile und Aversionen« vorherrschten und es neben Spottumzügen und -liedern auch zu gewalttätigen Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung und zu Plünderungen ihrer Wohnungen kam.2 So führte  eine angeblich durch eine Explosion gestörte Konversion zweier Juden zum Christentum in Livorno zu Gewaltaktionen christlicher Unterschichten.3 In Pisa kam es am . April  zu einem xenophoben und judenfeindlichen Tumult, als ein Mann mit Namen Lorenzo Mengozzi drei junge Juden und zwei aus Algerien bzw. Marokko stammende, orientalisch gekleidete muslimische Kaufleute mit Wohnsitz in Livorno, die sich angesichts des verschlossenen Doms die Skulpturen an den Außenwänden aus der Nähe anschauten, lauthals beschuldigte, die Figuren an der Dompforte angespuckt und Steine aus einem Kruzifix auf dem Campo Santo herausgebrochen zu haben.4 Daraufhin versammelte sich eine bedrohliche Menschenmenge, vor der die Angeschuldigten sich durch Flucht in Sicherheit brachten. Sie wurden am nächsten Morgen, bewacht von einer militärischen Eskorte, unbeschadet nach Livorno zurückgebracht. Dieser angebliche Angriff auf die christliche Religion wirkte als empörendes auslösendes Ereignis, da sich am Abend der Tumult ausweitete und nun gegen die Häuser der einheimischen Juden richtete. Dabei wurde ein unbeteiligter, aus Algerien stammender, in Pisa wohnhafter Jude getötet, dem sein »türkisches Aussehen« zum Verhängnis wurde. Ihn traf der Säbelhieb eines jungen Soldaten, der durch Mengozzi aufgehetzt worden sein soll und den Getöteten für einen der geflüchteten »Täter« gehalten hatte. Nach diesem Vorfall wandte sich die aufgeregte Menge zur nahen Synagoge und bewarf diese mit Steinen. An diesem Punkt griffen die Ordnungskräfte ein und beendeten den Tumult ohne weitere Zwischenfälle.  Dazu und zum Folgenden Wyrwa, Sozialer Protest, S. .  Ulrich Wyrwa, Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg i. Pr., Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. , Tübingen , S. .  Wyrwa verweist auf die von  bis  wiederholte Verkündigung der Erlasse »Bando per il quale si proibisce usare mali trattamenti, ingiurie, e violenza alla Nazione Ebrea«, die Belästigungen und Tätlichkeiten gegen Juden verboten (Sozialer Protest, S. ).  Siehe zu diesem Vorfall: Roberto G. Salvadori, Un tumulto xenofobo a Pisa nel , in: Bolletino storico Pisano , , S. -.

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Er hatte vor allem auch wegen der energischen Intervention des Großherzogs der Toskana ein Nachspiel für die Tumultuanten wie auch für den Magistrat der Stadt Pisa, denn der Auslöser des Tumults, L. Mengozzi, wurde als Hauptverantwortlicher angeklagt, und der Täter wurde zu fünf Jahren öffentlicher Arbeit verurteilt und ihm wurde am Ort seiner Tat der Kopf kahlgeschoren. Die weiteren etwa dreißig angeklagten Tumultuanten wurden in die Verbannung geschickt, mussten einige Tage Gefängnis verbüßen oder wurden öffentlich ausgepeitscht. Der Großherzog intervenierte mit einem Schreiben an den Magistrat von Pisa, in dem er den befremdlichen und skandalösen Tumult verurteilte, aber auch scharf das zögernde Eingreifen der Behörden kritisierte, die nicht rechtzeitig gegen die Zusammenrottung der Tumultuanten vorgegangen seien und so die folgenden Ausschreitungen zu lange zugelassen hätten. Er entsandte einen Kommissar des höchsten Gerichts zur Untersuchung nach Pisa, der ihm Ende des Monats einen Bericht vorlegte.5  kam es dann in der Toskana jedoch zu Unruhen, die weit über das in den genannten Fällen sichtbar gewordene Ausmaß an Gewalt hinausgingen. Der Ausgangspunkt der Unruhen lag in diesem Fall nicht in einem spezifisch christlichjüdischen Konflikt begründet, sondern es handelte sich zunächst um einen Protest der Unterschichten gegen die jansenistische katholische Reformbewegung und die Kirchenpolitik des Großherzogs Peter Leopold, vor allem gegen die Auflösung der christlichen Bruderschaften, die Profanierung von deren Kapellen zu Warenlagern sowie die Veränderungen kirchlicher Zeremonien.6 Ein weiteres Ärgernis für die Unterschichten waren die wegen der Einführung des freien Getreidehandels steigenden Lebensmittelpreise, die vor allem in Florenz den Anlass für die Unruhen bildeten. Die Unruhen brachen zuerst Ende April in Pistoia aus, wo der jansenistische Bischof seinen Sitz hatte, und richteten sich nicht gegen Juden.7 In Livorno brachen Unruhen am . Mai aus. Auch wenn vor den Unruhen in Livorno, das eigentlich als »Paradies der Juden« galt, und Florenz eine gewisse Missstimmung gegenüber den Juden geherrscht hatte, so haben wir es im Kern mit einer Verschränkung von Normen- und Subsistenzprotesten zu tun, in denen die Wiederherstellung der herkömmlichen religiösen Traditionen und »gerechte Preise« gefordert wurden, während typische antijüdische Konfliktanlässe wie Ritualmordvorwürfe, Hostienfrevel, Wucher etc. fehlten. In Livorno kam das Judenviertel als Ziel der Ausschreitungen erst ins Spiel, als das Gerücht auftauchte, dass Teile des Marmors, die in einer der geschlossenen und nun von der Menge wiedereröffneten Kapelle fehlten, in der Synagoge verbaut worden seien.8 Die Menge zog zur Synagoge,  Salvadori, Un tumulto xenofobo a Pisa, S. . Dazu auch Wyrwa, Juden in der Toskana, S. .  Wyrwa, Sozialer Protest, S. . Die Unruhen griffen auch auf Prato über, wo keine Juden lebten. Dies belegt den abgeleiteten Charakter der antijüdischen Unruhen.  Wyrwa, Juden in der Toskana, S.  f.  Die Tatsache, dass man auch die griechisch-orthodoxe Kirche angriff, in der man ebenfalls Marmor aus der aufgelösten eigenen Kirche vermutete, belegt den abgeleiteten Charakter der antijüdischen Krawalle (Wyrwa Sozialer Protest, S. ). Diese Ausschreitungen am

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um die Marmorplatten herauszubrechen. Das Angebot der jüdischen Gemeinde, durch Spenden die Ruhe wiederherzustellen, war vergebens, so dass sie Soldaten zur Hilfe rief, durch deren Einsatz vier Tumultuanten getötet, weitere verletzt wurden. Daraufhin attackierte ein Teil der Menge die Soldaten, während ein anderer Teil plündernd durch das Judenviertel zog und die Fenster der Häuser einwarf, wobei Personen nicht zu Schaden kamen. Die Menge plünderte aber die Kanzlei der jüdischen Gemeinde, drang in die Synagoge ein, in der man einen Kultgegenstand aus dem Oratorium einer der aufgelösten Bruderschaften vermutete, und nahm einen großen silbernen Leuchter mit. Nachdem der Streit zwischen den Tumultuanten und der jüdischen Gemeinde durch einen Offizier geschlichtet worden war, entstand wiederum durch ein Gerücht, es sei in der Via degl’ebrei zu einem Massaker gekommen, erneut eine bedrohliche Situation, da nun die Menge nochmals ins Judenviertel eindrang. Erneut konnte der genannte Offizier die Menge beruhigen.9 Nachdem die Ruhe wiederhergestellt worden war und die Protestierer sich mit ihren Forderungen nach der Restitution der Bruderschaften durchgesetzt hatten, gaben sie die Marmorplatten und andere geraubte Gegenstände an die jüdische Gemeinde bzw. deren Besitzer zurück, auch dies ein Zeichen dafür, dass die Juden nicht als Juden das Ziel des Protests waren. Der Erfolg dieser Aktionen ließ die Unterschichten nach Ulrich Wyrwa eine neue Forderung erheben, nämlich erneut eine Behörde zur Kontrolle der Lebensmittelpreise und -qualität einzuführen. Da die Regierung entsprechende Maßnahmen traf, konnten in Livorno weitere Unruhen vermieden werden, während es nun in Florenz aufgrund jener Konflikte um Lebensmittelpreise zu Unruhen kam. Auch wenn wiederum die Juden nicht das primäre Ziel darstellten, so kamen doch auch hier Gerüchte auf, das Ghetto solle geplündert werden. Tatsächlich griffen die Tumulte, die zunächst anderen Ladenbesitzern gegolten hatten, auf das Ghetto über und es kam zu Plünderungen und Diebstählen, obwohl der Florentiner Bischof die Aufständischen davon abzuhalten suchte. Die Bürgerwehr der christlichen Händler sowie herbeigerufene Wachbataillone der Stadt konnten am Abend des . Juni  die Ruhe wiederherstellen.10 Es ist bemerkenswert und bildet einen deutlichen Unterschied zur Situation im Elsass und in den deutschen Staaten, dass den bedrängten Juden sowohl von kirchlicher Seite wie von den christlichen »Konkurrenten« Schutz und Hilfe gewährt wurden. Ulrich Wyrwa betont zu Recht, dass diese Unruhen keine Reaktion auf die aufgeklärte Judenpolitik des Großherzogs waren, also keine explizit politische Ursache hatten. Sie waren weder ein Protest gegen die Emanzipation der Juden in der Toskana noch finden sich Hinweise, dass es einen Zusammenhang mit der Französischen Revolution gab. Auf der anderen Seite machen sie aber deutlich, . Mai  wurden nach Jean-Pierre Filippini auch als »rivolta di Santa Guilia« bezeichnet (Difesa della patria e odio degli Ebrei). Il tumulto del  Iuglio  a Livorno, in: Ricerce storico , S. -.  Wyrwa, Juden in der Toskana, S. .  Wyrwa, Sozialer Protest, S.  f.

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wie schnell sozialer Protest sein Ziel in den Juden finden konnte.11 Die Unruhen in der Toskana entsprechen also einem Typ antijüdischer Unruhen, den wir im frühen . Jahrhundert auch anderswo in Europa finden, in dem sich ein gegen die Verletzung religiöser Traditionen oder von Standards der »moral economy« der Unterschichten gerichteter Protest in Ausschreitungen gegen die Kirche und den Adel oder gegen Maßnahmen des Herrschers auch gegen Juden wenden konnte. Einen politischen Hintergrund hatten die Unruhen in der Toskana im Jahre .12 Nach der »Befreiung Italiens« durch Napoleon im Jahre  war dieser mit dem habsburgischen Großherzog Ferdinand III. zu einem stabilen Kompromiss gekommen, da er sich auf die zeitweilige Besetzung des Hafens von Livorno beschränkte. Es blieb zwei Jahre lang ruhig, auch wenn die französischen Truppen sich Übergriffe auf die Religion erlaubten und den Klerus finanziell auspressten. Die Stadtbevölkerung litt aber zunehmend unter Versorgungsproblemen, was zur Unzufriedenheit auch auf dem Lande führte. Die Ausbeutung seitens der Franzosen ließ die religiösen Gefühle wachsen, in Opposition zu den französischen »Jakobinern« ließ man den katholischen Großherzog ostentativ hochleben. Dies hatte zur Folge, dass man sich auch gegen die »Nazione ebrea« wandte, die man als Sympathisanten der Franzosen ansah, zumal Napoleon ein Bündnis mit führenden Juden in Livorno und Florenz anstrebte, was diese in einen Loyalitätskonflikt zwischen den Franzosen und dem Großherzog brachte. Die Rechtsstellung der Juden änderte sich in dieser Zeit zwar nicht, aber Napoleon gewährte ihnen nun Zugang zur Nationalgarde, was eine enorme symbolische Aufwertung bedeutete und einen ausgesprochen negativen Effekt hatte, da nun zu der traditionell-religiösen Ablehnung von Juden ein neues Motiv hinzutrat: »das Bild des bewaffneten Juden«.13 Als sich die französischen Truppen nach der Niederlage Napoleons in der Schlacht von Abukir  kurzzeitig aus Italien zurückziehen mussten, fanden im April  überall in der Toskana konterrevolutionäre Feste statt, auf denen man die gerade von den Franzosen und ihren jakobinischen Parteigängern gepflanzten Freiheitsbäume fällte und Häuser von Jakobinern bedrohte. Am . Mai kam es schließlich zu einem Aufstand in Arezzo, wo man den Freiheitsbaum fällte, Embleme der französischen Herrschaft zerstörte und Jakobiner festnahm, darunter auch eine ganze Reihe von Juden, gegen die man bereits gezielt vorging. Arezzo, wo sich mit kirchlichem Segen eine »Art Unterschichten-Miliz« gebildet hatte, wurde zum Ausgangspunkt der »Viva Maria-Bewegung«.14 Aus dem einfachen Volk gebildete  Ebd., S. . Wyrwa zitiert eine zeitgenössische Stimme (Francesco Maria Gianni, Memoria sul tumulto accaduto in Firenze del  Giugno , in: ders., Scritti di pubblica economica storico-economici e storico-politici, Bd. , Firenze , S. -), die auf die antijüdischen Dispositionen der Bevölkerung hinwies, die schon beim kleinsten Anzeichen von Judenfeindschaft durch die Regierung in Aversion und Gewalt gegen die Juden umschlagen könnten.  Dazu im Folgenden: Viterbo/Oberdorfer, : Un Pogrom in Toscana.  Wyrwa, Juden in der Toskana, S. .  Ebd.

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Scharen, die ihre Anführer in gewaltbereiten Stadtbewohnern fanden, bildeten unter dem Kriegsruf »Viva Maria« eine Volksbewegung gegen die Franzosen, die in und um Arezzo für einige Monate auch Florenz und weite Teile der Toskana unter ihre Kontrolle brachte. Im Zuge dieser Bewegung wurden die Juden Opfer extrem judenfeindlicher Gewaltausbrüche, wie man sie vorher dort nicht gekannt hatte.15 Eine antijüdische Stimmung in der Landbevölkerung hatte es, wie der Dichter Salomone Fiorentino aus Monte San Savino bereits im Dezember  schrieb, schon vorher gegeben, und es war in der Umgebung von Arezzo zu Bedrohungen und Misshandlungen von Juden gekommen.16 In Monte San Savino brachen in der Nacht vom . auf den . Juni antijüdische Unruhen aus, als Bauern das Ghetto stürmten und die Türen der Häuser einschlugen, Silber aus der Synagoge stahlen und Jüdinnen bedrohten. Dies schuf für die dortigen Juden eine gefährliche Situation, zumal es keinen Schutz seitens des Staates gab,17 im Gegenteil wurden nicht die Tumultuanten, sondern mehrere Juden festgenommen. Als die Angriffe gegen die Juden fortdauerten, verhängte die provisorische Regierung eine Ausgangssperre für Juden, ja verfügte Ende Juni  sogar die Ausweisung der gesamten jüdischen Bevölkerung des Ortes.18 Einige Juden waren nach Florenz und Siena geflüchtet in der Hoffnung, dort Schutz zu finden. In Siena kamen sie jedoch vom Regen in die Traufe und erlebten noch gewalttätigere Ausschreitungen als in Arezzo und Monte San Savino. Es waren Aufständische aus Arezzo, die bei ihrem Einrücken in Siena am . Juni , unterstützt durch Teile der einheimischen Unterschicht, in das Ghetto eindrangen, Häuser und Geschäfte zerstörten und Juden misshandelten. Danach drangen sie in die Synagoge ein und raubten bzw. zerstörten deren Inneneinrichtung. Sie erschlugen dort mehrere Juden. Auch auf der Straße wurden weitere Juden ermordet. Man geht von einer Zahl von  Toten aus. Anschließend hätten sie die Körper der Getöteten, möglicherweise zusammen mit einem Freiheitsbaum, auf einem Scheiterhaufen auf dem Campo Santo verbrannt.19 Eine zeitgenössische Darstellung der Unruhen durch dem Geistlichen Giovanni Battista Crisolino20 gab eine sehr verständnisvolle Lesart der Vorgänge in Siena: Das Volk sei unter »Viva Maria«-Rufen zusammengeströmt und habe sich von der Last, die  Vgl. dazu das Kapitel Viva Maria oder »Die Jagd auf die Juden«, in: Wyrwa, Juden in der Toskana, S. -.  Viterbo/Oberdorfer zitieren den Brief von Salomone Fiorentino, einem Juden aus Monte San Savino, einem Ort in der Nähe Arezzos, der die schwierige Situation der Juden schilderte (Un Pogrom, S.  f.)  Ebd., S.  f.  Wyrwa, Juden in der Toskana, S. . In einer anderen zeitgenössischen Darstellung ist aber davon die Rede, dass die Juden den Ort aus Furcht verlassen hätten (ebd.).  Wyrwa, Juden in der Toskana, S. ; für die Verbrennung dieser ermordeten Juden ist nach Wyrwa in einer Schrift von E. A. Brigidi (Giacobini e realisti, aus dem Jahre , zum ersten Mal der Begriff »Holocaust« benutzt worden (»Holocaust«. Notizen zur Begriffsgeschichte, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung , , S. -).  Insurrezione dell inclita a valorosa città di Arezzo mirabilmente seguita il die  maggio , Bd. , Città di Castello , S.  f.

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ihm auf dem Herzen lag, erlöst. Es habe den »närrischen Freiheitsbaum« ins Feuer geworfen. Danach habe man die Juden als »Widersacher der katholischen Religion« angegriffen und ihre Häuser und Geschäfte geplündert, wobei auch einige Juden erschlagen worden seien, deren »verabscheute Kadaver« man in das noch vom Freiheitsbaum brennende Feuer geworfen habe.21 Auch in Florenz war die Lage für die Juden in dieser Zeit äußerst bedrohlich. Dies belegt ein überliefertes Flugblatt, in dem den »bösartigen und verfluchten Juden« (ebrei maligne et maledetti) vorgeworfen wird, die kaiserliche Armee verraten und Partei für die Franzosen ergriffen zu haben. Man warnte sie (»wehe euch«), wenn sie nicht die bald einrückenden aretinischen Aufständischen unterstützten. Ansonsten drohte das Flugblatt die Plünderung des Ghettos und die Vertreibung der Juden aus der Stadt an.22 Besonders bedrohlich wurde die Lage, als sich die französischen Truppen aus der Stadt zurückziehen mussten und es zu konterrevolutionären Akten kam, die in den anderen Städten ja oft den Auftakt zu antijüdischen Übergriffen gebildet hatten. Die jüdische Gemeinde hatte aber, gewarnt von den Ereignissen in San Savino und Siena, Vorsorge getroffen und Wachen im Ghetto postiert. Dies und die Unterstützung des Florentiner Bischofs verhinderten das Übergreifen der Aktionen auf das Ghetto.23 Als die Franzosen schließlich am . Juli  auch Livorno aufgeben mussten, drohte sich dort das Szenario zu wiederholen. Viele der aktiven Jakobiner, darunter auch einige Juden, flohen aus der Stadt. Sogleich begannen Aufständische in Livorno den Freiheitsbaum im jüdischen Viertel zu fällen, und man schreckte die Juden mit Drohungen, schlug ihre Fenster ein und riss die an den Häusern angebrachten Symbole der französischen Herrschaft herunter. Dem Beispiel der anderen Tumulte folgend, begann das Volk auch hier Marmorplatten von den Wänden der Synagoge abzuschlagen. Als am . Juli der Freiheitsbaum auf dem Hauptplatz von Livorno gefällt wurde, drohten weitere Angriffe auf das Ghetto, sie konnten aber von Truppen abgewehrt werden. »Tod den Juden!«-Rufe hallten an den folgenden Tagen durch die Straßen, und man nahm als Jakobiner bekannte Personen fest, darunter auch Juden, die im Unterschied zu den Christen länger in Haft bleiben mussten und auch schwerer bestraft wurden.24 Aber damit waren die antijüdischen Unruhen in Livorno noch nicht zu Ende. Bevor die französischen Truppen im Juli  wieder in Livorno einrückten, folgten die Livorner Unterschichten, die den Franzosen wenig Sympathie entgegenbrachten, einem Befehl zur Massenaushebung von Wehrfähigen und begannen am . Juli  das Waffendepot der Stadt zu plündern und sich zur Verteidigung ihrer Stadt zu bewaffnen.25 Ein Teil drang ins nahe gelegene jüdischen Viertel ein, weil     

Wyrwa, Juden in der Toskana, S. . Der Text des Flugblattes ist abgedruckt in: Viterbo/Oberdorfer, Un Pogrom, S. . Wyrwa, Juden in der Toskana, S. . Ebd., S.  f. Filippini, Difesa della patria, S. . Verschärfend hatte sich auch ausgewirkt, dass die Königin von Neapel die Stadt wegen der herannahenden Franzosen vorzeitig verlassen musste, was die antifranzösische Stimmung noch mehr anfachte (ebd., S. ).

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sie annahmen, Juden hätten Waffen versteckt, da sie neuerdings in der Nationalgarde dienen durften.26 Bei dieser Suche wurden Mobiliar zerstört und Wertsachen geraubt, wobei die Eindringlinge mit großer Brutalität (»i’atroci attentati«) vorgegangen sein sollen, wie der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in zahlreichen Eingaben schilderte,27 wobei allerdings trotz der verbalen Drohungen kein Jude getötet wurde.28 Die Juden besaßen keine Waffen und leisteten auch keine Gegenwehr, sondern suchten sich in ihren Häusern zu verschanzen, zum Teil allerdings vergeblich.29 Dass dieser Tumult nicht so blutig verlief wie einige der anderen zuvor, lag nach Filippini daran, dass die Autoritäten der Stadt dieses Vorgehen nicht billigten, die Unterschichten ihnen eine gewisse Loyalität entgegenbrachten und dass die Ordnung durch den schnellen Einsatz von Soldaten und Freiwilligen aus der Livorner Bürgerschaft bald wieder hergestellt wurde.30 Dieser Einsatz und das Verhalten der Autoritäten sieht Filippini als Beleg dafür, dass Antijudaismus nicht in der gesamten, ja vielleicht nicht einmal bei der Mehrheit der Livorner Bevölkerung verbreitet war.31 Auch die Tumultuanten gaben an, im Judenviertel nur nach Waffen gesucht und aus Neugier gehandelt zu haben.32 Deshalb verzichtete die Justiz auch auf die Bestrafung der angezeigten Täter, zumal ihre Beteiligung nur schwer nachweisbar war und man keine Unschuldigen bestrafen wollte. Es bleibt aber die Tatsache, dass die »Nazione ebrea« Stunden der Angst durch diese Manifestation des toskanischen Patriotismus und des Hasses seitens der städtischen Unterschichten erlebte (die man als »Veneziani« bezeichnete) – so das Resümee von Jean-Pierre Filippini.33 Die beraubten Juden bekamen nur einen kleinen Teil des Geraubten wieder zurück, so dass der Tumult sie auch materiell erheblich schädigte.34  Nach Filippini war das Eindringen von Livornern in das jüdische Ghetto eine »Expedition in ein unbekanntes Land«, das viele vorher noch nie betreten hatten (ebd., S. ).  Ebd., S. , zum Vorgehen der Tumultuanten im Einzelnen S.  f.  »Insomma ci sono numerossissimi esempi di parole e atti violenti che gli ebrei hanno dovuto subire durante l’invasione del loro quartiere. Però, malgrado di violenza delle parole, nessuno dei rivoltosi ha mai tentato di uccidere un ebreo« (ebd., S. ).  Ebd., S.  f. Juden, die ihre Häuser freiwillig öffneten und sich der Suche nach Waffen nicht widersetzten, erlebten keine Gewalt. Bei denjenigen, die ihre Türen verschlossen hielten, drangen die Tumultuanten mit Gewalt ein, und es kam zu Übergriffen und verbalen Drohungen, da die Eindringlinge durch deren Widerstand irritiert waren (S. ).  Filippini resümiert dazu: »In quanto alle forze dell’ordine, sono intervenute il più presto possibile e non hanno dimostrato nessuna compiacenza verso i tumultuanti«. So konnten die Freiwilligen und die Soldaten zwar nicht alles Hab und Gut der Juden beschützen, doch befreiten sie diese von der Bedrohung durch die Tumultuanten und retteten so vielleicht deren Leben (Difesa della patria, S. , ).  Ebd., S. . Der Gouverneur soll die Juden immer als eine Bevölkerungsgruppe angesehen haben, die für das Prosperieren der Hafenstadt unverzichtbar sei (»elemento dispensabile alla prosperità del porto labronico«).  Ebd., S. .  Ebd., S. .  Die Täter waren meist von nicht beteiligten Livornern angezeigt worden, während die betroffenen Juden Täter nur in Ausnahmefällen identifizieren konnten oder wollten (ebd., S. ).

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In den antijüdischen Ausschreitungen der bäuerlichen und städtischen Unterschichten verband sich der traditionelle religiöse Hass auf die »Feinde der katholischen Religion« mit der gegen die Französische Revolution und die französische Besatzung gerichteten Feindschaft. Ein Hauptziel bildeten dabei die Jakobiner, zu denen auch nicht wenige Juden zählten. Filippini hält Antisemitismus oder besser Antijudaismus vor allem unter den weniger Besitzenden für eine seit langem verbreitete Einstellung. Juden erschienen ihnen als Parteigänger der Franzosen und somit als Verräter am Großherzog. Schon der Ablauf der Unruhen, die ihren Ausgangspunkt meist mit dem Fällen eines Freiheitsbaumes nahmen, weist auf diesen engen Zusammenhang hin. Hinzu kam nach Ulrich Wyrwa auch das neue und herausfordernde Bild des »bewaffneten Juden«, das dem gängigen Klischeebild vom wehr- und waffenlosen Juden widersprach.35

 Wyrwa, Juden in der Toskana, S.  f. Wyrwa weist hier noch auf eine interessante sprachliche Formulierung hin, da nach dem Vorbild der »perfiden Juden« (»pro perfidis Judaeis«) im Karfreitagsgebet nun die Verbindung »giacobini perfidi« aufgetaucht sei. Es habe auch die Formulierung von den Juden als den »doppelten Jakobinern« gegeben (ebd.).

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. Abwehr der Konkurrenz: Antijüdische Ausschreitungen in Warschau  Die Warschauer Ausschreitungen des Jahres , die ein isoliertes Vorkommnis waren, richteten sich ebenfalls gegen Statusverbesserungen der polnischen Juden und waren eng mit der polnischen Debatte der »Judenfrage« verbunden. Auch in Polen war die Diskussion um die Modernisierung des Landes, die von Beamten und Publizisten verfochten wurde, eng mit der Frage der »bürgerlichen Verbesserung« der Juden verknüpft, die von den Reformanhängern wegen der »ethischen Entartung der Juden« als dringend erforderlich angesehen, jedoch verschieden interpretiert wurde.1 Piotr Kendziorek weist auf die im Vergleich zu Westeuropa abweichenden demographischen, wirtschaftlichen und ideologischen Kontexte hin, in denen diese Debatten geführt wurden. Der polnische Staat wurde durch seine beiden Nachbarn in seiner Existenz bedroht (polnische Teilungen), und die feudale Wirtschaft und das besondere politische System des adligen Republikanismus mit einer schwachen Position des Königs steckten in einer tiefen Krise. Die Juden, die mit -  der Bevölkerung im täglichen Leben sehr viel präsenter waren als in Westeuropa, nahmen als typische »middleman minority« wichtige Funktionen sowohl in der adligen Verwaltung (als Pächter, Schankwirte, Käufer) wie als Geldund Warenvermittler in den Marktbeziehungen einer feudalen Wirtschaft ein. Der Adel war also auf die Juden angewiesen, die er aufgrund ihrer kommerziellen Tätigkeiten zugleich aber auch verachtete. Das schwach entwickelte polnische Bürgertum war kein Träger liberaler Ideen, sondern fürchtete die wirtschaftliche Konkurrenz der Juden.2 In der Phase des Vierjährigen Sejm von - wurde die »Judenfrage« erstmals öffentlich diskutiert, dabei ging es nicht nur um die konfessionelle Differenz, sondern auch um wirtschaftliche und politische Aspekte. Für bürgerliche Aufklärer, wie den katholischen Priester Stanisław Staszic, die sich für die Rechte der Stadtbürger einsetzten, spielten die Juden bei der Entwicklung der Städte eine negative Rolle. Ihre wirtschaftliche Tätigkeit hatte ihrer Meinung nach katastrophale Folgen für die soziale Situation der Bauern und des städtischen Standes, wobei der Adel als deren Verbündeter galt, da er die jüdischen Ausbeutungspraktiken im eigenen Interesse zulasse und die Juden privilegiere.3 Der Konflikt in Warschau bildete ein Glied in einer Kette von Auseinandersetzungen zwischen der Szlachta, dem herrschenden polnischen Adel, und den mit ihnen eng verbundenen Juden auf der einen und der christlichen Stadtbevölkerung auf der anderen Seite, deren Privilegien als Einwohner königlicher Städte den poli Dazu und zum Folgenden: Piotr Kendziorek, Auf der Suche nach der nationalen Identität: Polnische Debatten um die »Judenfrage«, in: Andreas Reinke et al., Die »Judenfrage« in Ostmitteleuropa. Historische Pfade und politisch-soziale Konstellationen, Berlin , S. -, hier S.  ff.  Ebd., S. .  Ebd., S. . Staszic hatte sich in seinem Buch Przestrogi dla Polski (Warnungen für Polen) gerade  in dieser Weise geäußert.

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tischen und ökonomischen Interessen der Szlachta entgegenstanden.4 Von Mitgliedern der Szlachta und von jüdischer Seite bestanden Interessen, den Einfluss auf die Städte auszuweiten, in denen die Wirtschaft immer noch von den christlichen Gilden monopolisiert wurde. Diese Fragen standen u. a. auf der Tagesordnung des sog. Vierjährigen Sejms, der von  bis  in Warschau tagte. Im Dezember  ergriffen polnische Bürger unter Führung Warschaus die politische Initiative. In der sog. Schwarzen Prozession fuhren die Deputierten der Städte, allesamt in schwarze Röcke gekleidet, in einer Kolonne von fünfzig Kutschen zum königlichen Schloss und übergaben dem König Stanislaus August das »Memorandum über die Vereinigung der Städte«, in dem sie die politische Partizipation der Bürger Polens forderten. Der antibürgerliche Flügel des Adels wollte diese Partizipation jedoch mit allen Mitteln verhindern, indem er sie gegen die Gleichstellung der Juden ausspielte, die wiederum von den Stadtbürgern abgelehnt wurde.5 So hatte Michał Swinarski  in seinem Buch Darstellung der Rechte der Stadt Warschau gegenüber den Juden und der von ihnen geforderten Lokalisierung in dieser Stadt6 die Niederlassungsbeschränkungen verteidigt und dabei die »Rolle der Juden in der Gesellschaft in apokalyptischen Bildern beschrieben«.7 Er wandte sich mit seinem Buch gegen eine Schrift, in der sich die Warschauer Juden an den König und das Parlament gewandt und um die freie Zulassung zu den Städten gebeten hatten, wobei sie ihre wirtschaftliche Nützlichkeit betont hatten.8 Die antijüdischen Ressentiments der Bürger waren eng mit den politischen und ökonomischen Interessen verbunden, sie stellten nach Ekaterina Emiliantseva einen  Dazu und zum Folgenden Krystyna Zienkowska, ›The Jews Have Killed a Tailor‹. The Socio-Political Background of a Riot in Warsaw in , in: Polin , , S. -, hier S.  f.  Ekateria Emiliantseva, Der fremde Nachbar. Warschauer Frankisten in der Pamphletliteratur des polnischen Vierjährigen Sejm (-), in: Alexandra Binnenkade/Ekaterina Emiliantseva/Svjatoslav Pacholvic, Vertraut und fremd zugleich. Jüdisch-christliche Nachbarschaften in Warschau – Lengnau – Lemberg, Köln, Wien , S. -, hier S. .  Kendziorek, Auf der Suche, S. . Der polnische Buchtitel lautet: Ekspozycja praw miasta Warszawy względem Żydów oraz odpowiedź na źadąną przez nich w tymże mieście lokacją.  Swinarski schrieb: »Die in die Städte und Kleinstädte eingedrungenen Juden haben – wegen ihres natürlichen Hasses den Christen gegenüber – die einen mithilfe von tausendfachen Tücken zugrunde gerichtet, die anderen trunksüchtig gemacht, und die Städte von allem beraubt, auch der Bevölkerung« (Kendziorek, Auf der Suche, S. ). Selbst in aufgeklärteren und toleranteren Schriften aus der Sicht des Bürgertums wurde  aber die Befürchtung geäußert, dass »die Zulassung von Juden in Warschau unweigerlich zum Ruin der Stadt führen werde, was die Juden auch beabsichtigten« (ebd., S. ). Eine positive Sichtweise, die die jüdische Vermittlerfunktion als notwendige Form der Arbeit und als wichtig für die Modernisierung der Wirtschaft betonte, war nach Kendziorek auf polnischer Seite selten anzutreffen (ebd., S. ). Auch Markowski vertritt die Ansicht, dass in den ersten Warschauer Pogromen von  (?),  und  die Wahrnehmung der Juden als ökonomisch schädlich und antichristlich eingestellte Gruppe eine enorme Rolle gespielt habe (Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, S. ).  Kendziorek, Auf der Suche, S.  f.

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starken Mobilisierungsfaktor in der Auseinandersetzung mit dem Adel dar.9 Was Warschau betrifft, so galt formal immer noch das alte Ansiedlungsverbot für Juden (das Privileg de non tolerandis Judaeis), doch wurde dies durch eine ganze Reihe von Konzessionen unterlaufen, wie dem Ansiedlungsrecht in der Provinz Masowien, dem Recht, sich vor den Toren Warschaus anzusiedeln, dort Handel zu treiben, was während der Sitzungen des Sejm auch Warschau selbst einschloss. Auch wenn das Ansiedlungsverbot de jure weiterhin galt und der Status der Juden in Warschau unsicher blieb, so siedelten sich faktisch immer mehr Juden in der Stadt an. Ging es also im Kern um einen Konflikt zwischen den widerstreitenden Interessen der Szlachta und der Stadtbürger, die ihr Handels- und Handwerksmonopol verteidigten, so waren die Juden eng in den Konflikt eingebunden.10 Krystyna Zienkowska sieht neben dem wachsenden Zuzug von Juden in der Stadt noch eine Reihe weiterer Gründe, die in den er Jahren zur Verschärfung des Konflikts bis hin zu seiner gewaltsamen Austragung beitrugen: die Untätigkeit des Polizeidepartments, die Apathie der städtischen Obrigkeit sowie die Hungerkrise von - aufgrund einer Folge von Missernten.11 Der beständige Zuzug von Juden, auch wenn die Zahl der bereits ansässigen von den Warschauern überschätzt wurde, das fremdartige Aussehen und Benehmen der z. T. aus Galizien zuwandernden Juden, ihr abweichendes Geschäftsgebaren, nämlich die Waren aktiv an den Kunden zu bringen und nicht im eigenen Laden oder Werkstatt auf Kundschaft zu warten, sowie der beständige Druck seitens der einflussreicheren Juden hin auf eine Legalisierung der Anwesenheit in der Stadt führten zur Gegenreaktion der sich bedroht fühlenden christlichen Händler und Handwerker, deren Eingaben an die Obrigkeiten erfolglos blieben. Zwar wurden in einem neuen Dekret  die alten restriktiven Ansiedlungsbedingungen für Juden bestätigt, doch blieb dies faktisch wirkungslos. In einem Memorandum der Gilden an den König Stanislaw August () bat man um Gnade und Gerechtigkeit und sah den Grund für die eigene Misere in der wachsenden jüdischen Konkurrenz auf allen wirtschaftlichen Gebieten. »From the content of the memorandum it emerges quite clearly that a situation of increasing conflict was developing in Warsaw. The city’s population felt seriously threatened: by fear of loss of income, work, even one’s whole fortune; an increasing sense of legal impotence within the existing situation – these were attitudes which generated hostility, and led to open conflict.«12 – Wir haben damit eine typische Situation vorliegen, in der sozialer Protest in einen Angriff auf die  Emiliantseva, Der fremde Nachbar, S. .  »The fact that the privileges of Warsaw burghers were being infringed de facto at the time and increasingly threatened de jure, had a more than passing significance in the growth of anti-Jewish hostility« (Zienkowska, The Jews, S. ). So teilte der Magistrat von AltWarschau den Handwerkern der Stadt mit, dass man ihre Gilden auflösen wollte und verfügte zugleich, dass sie eine Gebühr zu entrichten hätten, wenn sie gegen jüdische Kaufleute vor einem Warschauer Stadtgericht Klage erhoben (ebd., S. ).  Ebd., S. .  Ebd., S. .

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Minderheit münden kann, die als Bedrohung des eigenen Status und der ökonomischen Existenz betrachtet wird. Gewalt erscheint als letztes legitimes Mittel, um eine als illegitim angesehene Konkurrenz und Bedrohung abzuwehren, zumal wenn zwischen den Gruppen eine so große kulturelle Distanz bestand wie zwischen den katholischen Polen und den Juden. Nachdem sich  in der Stadt die Vertreter der Stadt gegen den Starosten mit ihrer Forderung durchgesetzt hatten, den bisherigen Präsidenten Jan Dekert ohne Wiederwahl zu bestätigen, fühlten sich Vertreter der Handwerker im März  ermutigt, ihre Feindseligkeit gegenüber den Juden lautstärker vorzubringen. Einige Rädelsführer, die in Kneipen und bei privaten Treffen mit andern Gildenmitgliedern drohten, die Juden aus der Stadt zu treiben, fanden dafür Widerhall in den Gilden, so dass sie sogar offiziell damit beauftragt wurden, mit dem Magistrat über diese Frage zu verhandeln. Am . März kam es dann, während die Warschauer Deputation des Sejm im Rathaus tagte, zu einer Demonstration von mehren hundert Menschen, vor allem aus den Gilden der Schneider, Kürschner und Kupferschmiede. Die Lage war so bedrohlich, dass Soldaten zum Schutz aufgeboten werden mussten. Es kam zu Verhandlungen, in denen die Vertreter der Gilden die Ausweisung der jüdischen Kleinhändler und Handwerker forderten, eine Forderung, der die Deputation der Stadt Warschau und ein Vertreter des Polizeidepartments feierlich versprachen, in naher Zukunft nachzukommen. Ausgenommen werden sollten nur die Kaufleute und diejenigen mit einem Aufenthaltsrecht in der Stadt. Tatsächlich verfügte eine öffentliche »Akklamation« des Vertreters der Krone (Marszałek wielki koronny), dass neben den jüdischen Kleinhändlern und Handwerkern auch Christen, die ihren Handel und ihre Handwerke ohne Zustimmung der Gilden betrieben, sowie Bettler und andere Personen ohne ausreichenden Lebensunterhalt die Stadt verlassen müssten. Dennoch war allen klar, dass diese Maßnahme sich primär gegen die Juden richtete und dass das Polizeidepartment dem Druck der Warschauer Bevölkerung nachgegeben hatte. Die Akklamation wurde mehrfach wiederholt, es gab Hausdurchsuchungen nach illegalen Zuwanderern und die Wachen eskortierten Juden hinaus aus der Stadt, dabei unterstützt von den Unterschichten. Dennoch wurde diese Ausweisungspolitik wenig energisch verfolgt, vor allem wollte man angesichts der bevorstehenden Sitzungen des Sejm, in dem die Juden starke Fürsprecher besaßen, nicht zu hart vorgehen. Angesichts dieser Politik fühlte sich die Warschauer Bevölkerung getäuscht, und die Bürgerelite der Stadt verlor ihren mäßigenden Einfluss: »The authorities played the wrong card and lost control over events«.13 Am . April kam es anlässlich einer Sitzung des Magistrates wiederum zu Demonstrationen und der Forderung, die Juden innerhalb von drei Tagen auszuweisen. Der Magistrat verfolgte eine Hinhaltetaktik, indem er die Handwerker aufforderte, ihre Forderungen schriftlich einzureichen. Dies geschah, und in dem Brief forderten die Gilden von der städtischen Obrigkeit, sie solle den Marszałek  Zienkowska, The Jews, S. .

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wielki koronny dazu bringen, die Akklamation, auch konsequent umzusetzen, dies wurde mit der Forderung verbunden, bei den Hausdurchsuchungen mitzuwirken und Posten an den Toren aufzustellen, die eine Rückkehr der ausgewiesenen Juden verhindern sollten. Der Brief war ein klarer Ausdruck des Misstrauens der Bevölkerung in die staatlichen Autoritäten. Nach Auffassung von Zienkowska deutet dieses Dokument darauf hin, dass sich hier aus der spontanen Bewegung einer Pressuregroup heraus eine soziale Gruppe zu konstituieren begann, die Kontrolle über die Obrigkeit zu gewinnen suchte und über einen klaren Feind verfügte. »Thus the conspiracy of interest, hatred and fear was strengthened«.14 In der ersten Maihälfte gab es mehrere inoffizielle Treffen der Gilden, bei denen die Obrigkeiten wegen ihrer Untätigkeit heftig angegriffen wurden und sogar mit Streik gedroht wurde. Diese Treffen zeigten Wirkung. Das Polizeidepartment wies kurz darauf am . Mai eine Anzahl von Juden aus. Das Nachgeben nahm in diesem Fall jedoch nicht den Druck aus der Situation, im Gegenteil wurde dies offenbar als Aufforderung zum eigenen Eingreifen aufgefasst. Am . Mai, als sich an dem Sonntagnachmittag viele Menschen versammelt hatten, um einer Vorführung des Ballonfahrers Jean-Pierre Blanchard beizuwohnen, lockte der lautstarke Streit eines christlichen Schneiders mit jüdischen Schneidern und zwei Handelsleuten eine Menschenmenge an, als plötzlich das Gerücht aufkam, die Juden hätten einen Schneider getötet.15 Dieses Gerücht lief durch Warschau, und eine große Menschenmenge, bewaffnet mit Stöcken und Keulen, begann unter dem Vorwand, den Schneider zu suchen, in Häuser von Juden einzubrechen und diese zu verprügeln. Gleichzeitig tagte im Rathaus eine Versammlung der Gildemeister, die ein Memorandum an die Deputation der Stadt Warschau richteten, die Ausweisungsverfügung vom . März nun endlich durchzusetzen. Als die Nachricht vom Aufruhr diese Versammlung erreichte, begaben sich die Gildemeister direkt zum Ort des Aufruhrs, und die Obrigkeit bot Soldaten auf. Als der Ratsälteste schließlich den tot geglaubten Schneider auffand und der Menge präsentierte, bekam man den Aufruhr an seinem Ausgangspunkt unter Kontrolle, doch breitete er sich umso gewalttätiger in anderen Straßen aus, nun vor allem von Handwerkslehrlingen, Arbeitern und Dienern getragen, die sich auch gegen die eingesetzten städtischen Wachen wandten. Abends gegen  Uhr waren die Ausschreitungen beendet. Zienkowska betont zu Recht, dass vor allem im letzten Fall die Menge die Wohnungen der Juden nicht nur plünderte, sondern das Eigentum zerstörte, was sie als symbolisches Handeln einstuft, das darauf abzielte, die Position des Feindes zu untergraben. Wie auch in anderen Ausschreitungen dieser Jahre wa Ebd., S. . Die folgende Schilderung folgt ebd., S.  f.  Nach Zienkowska stellte sich hier – auch für die Obrigkeit – die Frage nach der bewussten Anstiftung zum Aufruhr. Doch selbst wenn dies die Intention gewesen sein sollte, so betont sie zu Recht, dass »it is after all the state of social tensions and conflicts, and the readiness to commit specific (in this case aggressive) collective actions which must be a condition of the success of any provocation and constitute the terms by which it must be defined« (The Jews, S. ).

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ren keine Todesopfer zu beklagen.16 Da die jüdischen Niederlassungen auf einem exterritorialen Gebiet lagen, das der Szlachta und nicht der Stadt gehörte, muss man dies zugleich als Aggression gegenüber der Szlachta als Beschützerin der Juden ansehen, wofür auch spricht, dass man gegen die Soldaten des »Marschalls« vorging, sie also nicht länger als Autoritäten anerkannte.17 Dies zeigte sich auch kurz darauf, als der Magistrat zwei der mutmaßliche Anstifter aus dem Arrest entlassen musste, weil die drohende Menge vor und im Rathaus dies forderte. Obwohl der Sejm den Aufruhr als Straftat einstufte, womit die Gerichte zuständig wurden, und auch sonst versuchte, das Ausmaß der Unruhen zu übertreiben, um der Bürgerbewegung der Stadt zu schaden, wurden schließlich nur zehn Personen verurteilt und erhielten relativ milde Strafen (zwei Jahre Festungshaft für die beiden »Rädelsführer« waren die höchste Strafe), was das Gericht vor allem mit der schwierigen Identifikation von Tätern während eines Pogroms begründete. Ein wichtiger Grund dürfte aber gewesen sein, dass sich in der Bevölkerung kaum Zeugen fanden, da die Solidarität mit den Tumultuanten groß war. Dafür spricht auch, dass von Seiten der Gilden in Briefen an den Magistrat zugunsten der Beklagten interveniert wurde. Da die Zuwanderung von Juden als Verletzung verbriefter Rechte empfunden wurde, fiel die Bewertung der Ausschreitungen ambivalent aus: sie mussten als gewaltsamer Übergriff verurteilt werden, zugleich gab es jedoch Verständnis für die als Gegenwehr gegen die Verletzung der eigenen Rechte gedeuteten Gewalt als »Selbsthilfe«,18 zumal ja von Seiten der Obrigkeiten keine Abhilfe geschaffen worden war, so dass diese ebenfalls zum Ziel des Unmuts wurden. Nicht völlig zu Unrecht sah die Szlachta die Ausschreitungen auch als Rebellion gegen sie selbst, auch wenn die Juden keineswegs nur das Ersatzobjekt gebildet hatten. Die Neuigkeiten über die Ausschreitungen in Warschau verbreiteten sich schnell in den Provinzen, doch blieb eine Pogromwelle aus, was für die Spezifik der Konfliktlage in Warschau spricht. Nur in Łęczyca, einer Kreisstadt in Mittelpolen,  Kilometer nördlich von Łódź, kam es im August  zu schwereren antijüdischen Unruhen, als mehrere jüdische Gastwirte verprügelt wurden. Hintergrund war ein Konflikt über die städtischen Gastwirtschaften, die der Landrat (Starost) an die jüdische Gemeinde verpachtet hatte. Die Bürger drohten dort an, Ausschreitungen »wie in Warschau« auszulösen.19

 Ob neben der ökonomischen Konkurrenz auch religiöse Feindschaft – die Gilden waren schließlich christliche Bruderschaften – und Ablehnung des fremden Lebensstils für die Ausschreitungen eine Rolle gespielt haben, ist schwer zu sagen. Möglicherweise haben Letztere zur Eskalation beigetragen.  Zienkowska, The Jews, S. .  Ein Verteidiger der Beklagten formulierte dies ganz explizit, wenn er einerseits die Juden als Opfer der Angriffe auf ihre Person und ihr Eigentum bezeichnete, andererseits aber auch feststellte: »The Christian populace suffered violence perpetrated against their privileges, which also harms their fortunes and way of life« (ebd., S. ).  Ebd., S. .

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Trotz der Ausschreitungen setzte der Sejm eine Kommission ein, die über die Möglichkeit debattierte, den Juden den Bürgerstatus zu verleihen.20 Im Herbst  führten »jüdische Vertreter, die mit der Frage nach der rechtlichen Stellung der Juden vom Sejm beauftragte Kommission, einzelnen Deputierte und der König« eine intensive Diskussion über die Frage, ob man den Juden den Status als Bürger einräumen könne. Die antibürgerliche Opposition im Sejm unterstützte diese Reformpläne, lehnte aber zugleich die »volle Beteiligung der Bürger an den gesetzgebenden Organen des Sejm ab«.21 Der Burgherr von Lokow, Jacek Jeziersky, nutzte die antijüdischen Ausschreitungen der Bürger, die er verurteilte, um damit die Verhandlungen über die Rechte der Städte noch einmal negativ zu beeinflussen.22 Auf diese Verhandlungen reagierten im Herbst  einige Bürger mit antijüdischen Schriften, die sich gegen eine Emanzipation der Juden wandten, indem sie die »Defekte« der Juden und aller sonstigen »Schädlinge«, worunter Frankisten, Wucherer und Bankiers fielen, anprangerten.23 Nach Emiliantseva waren die antijüdischen Ressentiments, die mit diesen Schriften angestachelt werden sollten, eng mit den politischen und ökonomischen Interessen der Bürgerschaft verbunden und stellten einen »starken Mobilisierungsfaktor in der Auseinandersetzung mit dem Adel dar«, denn Stadtbürgerechte sollten nur Christen zustehen.24 Dass die Beziehungen zwischen Stadtbürgern und Juden angespannt blieben, zeigen die erneuten antijüdischen Ausschreitungen im Jahre , die ausbrachen, als während einer Prozession ein Dachziegel auf einen Baldachin fiel, der über das Heilige Sakrament ausgebreitet war. Sogleich beschuldigte man die Juden dieses antichristlichen Angriffs und begann sie zu attackieren.25 Am . Mai  sollte Warschau erneut zum Schauplatz antijüdischer Ausschreitungen werden, die Artur Markowski als die definitiv am schlechtesten dokumentierten im Königreich Polen bezeichnet hat.26 Es war wohl ein spontaner Gewaltausbruch christlicher Handwerksgesellen, die Juden auf der Straße angriffen, so dass Gendarmen eingreifen

 Emeliantseva, Der fremde Nachbar, S. . Zu der Kommission gehörten Deputierte des Sejm, jüdische Vertreter und der König.  Ebd., S. .  Ebd.  Im Zuge dieser Debatten richteten sich heftige Angriffe auch gegen die »Frankisten«. Die Anhänger Jacob Franks bildeten eine religiöse Gruppe von zum Katholizismus konvertierten Juden, die aber als »heimliche Juden« oder »Juden im Kontusch« (d. h. als Polen verkleidete Juden), die Wucherer, Mörder, Intriganten, Meineidige usw. seien, beschimpft wurden (ebd., S. -).  Ebd., S.  f.  Markowski, Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, S.  f. und FN  zu den archivalischen Quellen. Eine detaillierte Studie über den Verlauf dieser Ausschreitungen liegt nicht vor.  Ebd S. . Sowohl die Akten der Polizei wie der lokalen Regierung sind während des Warschauer Aufstandes von  verbrannt.

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mussten. Juden seien verprügelt und es sei ein Christ, den man aufgrund seiner Kleidung für einen Juden gehalten hatte, schwer verletzt worden.27 In den Warschauer Konflikten mischen sich vormoderne Konfliktlagen mit denen der Emanzipationszeit. Wie im Mittelalter und der Frühen Neuzeit ging es um Machtkämpfe in den Städten, in denen die Stadtbürger ihre Autonomie gegen die Interessen des Königs oder des Adels verteidigten. Aus finanzpolitischen Erwägungen war der Adel an der Ansiedlung von Juden interessiert, während die Ortsbürger dies zu verhindern suchten. Damit gerieten die ansässigen bzw. zuwandernden Juden zwischen die Fronten, was in gewaltsame Übergriffe münden konnte. Dies war eine für die Emanzipationszeit typische Konfliktkonstellation, wenn die neuen Emanzipationsedikte der Landesherren den Juden den Zuzug in bis dato verschlossene Städte erlaubten, ihnen politische Mitwirkungsrechte gewährten und auch freie wirtschaftliche Betätigung erlaubten. Der – bisweilen auch gewaltsame – Protest dagegen sollte in Deutschland bis zur Mitte des . Jahrhunderts andauern.

 Ebd., Markowski bezieht sich auf eine Studie von Małgorzata Karpińska, Złodzieje, agenci, policyjni, strażnicy …: Przestepstwa pospolite Warszawie -, Warschau , S.  f., die sich wiederum auf Aufzeichnungen eines in Warschau eingesetzten Polizeibeamten stützt.

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. Antijüdische Unruhen in den Schweizer Judendörfern Endingen und Lengnau  Der Export der Französischen Revolution führte auch außerhalb Frankreichs zu Debatten über die Rechtsstellung der Juden, die vielerorts in Gewalt mündeten. Obwohl die Schweiz früh zu einem republikanischen und demokratischen Staat wurde, verzögerte sich dort die Emanzipation der Juden länger als in vielen anderen europäischen Staaten. Zwar gab es auch in der Schweiz eine Bewegung von Emanzipationsbefürwortern, doch war es vor allem der Druck von Seiten Frankreichs, der die rechtliche Gleichstellung der Juden vorantrieb. Die Judenemanzipation bekam so auch eine außenpolitische Dimension. Im Jahre  führte das Eingreifen französischer Revolutionstruppen in die innerschweizerische Entwicklung zur Gründung der Helvetischen Republik.1 Die neue Helvetische Verfassung beschloss die Gleichstellung aller Bürger und beseitigte zudem alle Untertanenverhältnisse der alten Eidgenossenschaft. Zunftprivilegien, Standesunterschiede und die Feudalherrschaft wurden abgeschafft. Damit kam auch die Frage der Gleichstellung der Juden erstmals auf die politische Tagesordnung. Beide Kammern des Parlaments, der Große Rat und der Senat, wurden wiederholt Schauplatz leidenschaftlicher Auseinandersetzungen über die Stellung der Juden, wobei eine den Juden wenig freundliche Gesinnung nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch bei den Mitgliedern des Großen Rates vorherrschte, obwohl sie überwiegend keinerlei Kontakt zu Juden hatten. Seit der Ausweisung der Juden aus der Eidgenossenschaft im Jahre  durften Juden nur in den eidgenössischen Untertanenländern Thurgau und im Rheintal wohnen. In der Grafschaft Baden, die ebenfalls ein Untertanengebiet war, wurden Juden bis über das . Jahrhundert hinaus geduldet, ihre Ansiedlung im sog. Judenmandat  aber auf die Orte Endingen und Lengnau begrenzt.2 Die dort ansässigen Juden unterstanden dem Landvogt in Baden und besaßen nur den Status von »Schutzjuden«, den sie alle  Jahre gegen Geldzahlungen erneuern lassen mussten. Ihr äußeres Leben war stark eingeschränkt, da sie keinen Grundbesitz erwerben und nicht in der Landwirtschaft tätig sein konnten und auch kein Handwerk oder Gewerbe

 Zu den verwickelten und konfliktträchtigen Vorgängen im Aargau vgl. Bruno Meyer/Dominier Sauerländer/Hans Rudolf Stauffacher/Andreas Steigmeier (Hrsg.), Revolution im Aargau. Umsturz – Aufbruch – Widerstand -, Aarau .  Sabine Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky. Jüdisches Leben in St. Gallen -, Zürich , S. ; Augusta Weldler-Steinberg (bearbeitet und ergänzt durch Florence Guggenheim-Grünberg), Geschichte der Juden in der Schweiz vom . Jahrhundert bis nach der Emanzipation, Goldach , S.  (zuerst in zwei Bänden /). Bis  gehörte dieses Gebiet zur Grafschaft Baden. Vgl. zur Emanzipationsdebatte auch: Holger Böning, Die Emanzipationsdebatte in der Helvetischen Republik, in: Aram Mattioli (Hrsg.), Antisemitismus in der Schweiz -, Zürich , S. -; dort auch eine Auflistung der in den Debatten gegenüber den Juden vorgebrachten Einwände (S.  ff.).

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ausüben durften. Sie hatten zudem Kopf- und Sondersteuern zu zahlen.3 So waren die meisten Juden im Surbtal arm, da ihre Tätigkeit auf Vieh- und Markthandel, Hausiererei und Geldverleih beschränkt war.4 Es handelte sich in Endingen und Lengnau alles in allem um etwas über neunhundert Juden, denen ungefähr . christliche Dorfbewohner gegenüberstanden,5 d. h., Juden bildeten dort eine große Minderheit. Die christlichen Untertanen der Grafschaft Baden, die  in die beiden Kantone Baden und Aargau aufgeteilt wurde, hatten seit Mitte des . Jahrhunderts mehrfach die Vertreibung der Juden aus den beiden Dörfern gefordert, zuletzt sogar noch im Jahre , als »sämtliche Untervögte in einer Klageschrift unter Hinweis auf angeblich wucherische Handelspraktiken für diese Maßnahme plädierten«.6 Diese wurde aber von der Obrigkeit aus finanziellem Interesse an den Abgaben der Juden abgelehnt. Immer wieder kam es auch zu gewalttätigen Übergriffen, so  zur Zerstörung und Plünderung von Judenhäusern, d. h., wir haben es also mit einer langen Vorgeschichte von Gewalt zu tun. Aram Mattioli betont die soziokulturelle Segregation von Juden und Christen in diesen Dörfern, in denen die Juden ein geschlossenes Sondermilieu gebildet hätten, an deren Assimilationsbereitschaft man mit Verweis auf ihre Absonderung und ihre eigenen Gesetze stark zweifelte und deren »angeborene Gemeinschädlichkeit« und ketzerische »Verstocktheit« für viele außer Frage stand.7 Große soziokulturelle Distanz und geringe funktionale Verflechtung boten eine gewaltsame Konflikte begünstigende Konstellation. Angesichts dieser Vorgeschichte verwundert es nicht, dass beide Kammern des Parlaments  deutliche Vorbehalte gegen die Verleihung der Bürgerrechte an Juden äußerten, obwohl diese nach Artikel  der Verfassung alle Bedingungen für die Staatsbürgerschaft (zwanzig Jahre Ansässigkeit, Unbescholtenheit, Nützlichkeit) erfüllten. In den parlamentarischen Debatten wurde darüber gestritten, ob sie als »Fremde« und als eine eigene religiöse oder politische Korporation anzusehen seien  Ralph Weingarten, Freiheit, Gleichheit – auch für die Juden? in: Meyer et al. (Hrsg.), Revolution im Aargau, S.  f.  Edith Hunziker/Ralph Weingarten, Die Synagogen von Lengnau und Endigen und der jüdische Friedhof, Berlin , S.  f.  Erika Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu !« Das Pogrom von  gegen die jüdischen Gemeinden im Surbtal, in: Badener Neujahrsblätter , , S. -, hier S. ; die Zahl der jüdischen Haushalte hatte sich seit Mitte des . Jahrhunderts mehr als verdoppelt (Böning nennt für  die Zahl von  Familien mit  Personen), obwohl die Aufnahme fremder Juden verboten war. Eine Heirat mit einer fremden Jüdin war nur unter Zahlung einer hohen Geldsumme möglich (Böning, Die Emanzipationsdebatte, S. ). Einwohnerzahlen von  bis  finden sich auch bei Alexandra Binnenkade, KontaktZonen. Jüdisch-christlicher Alltag in Lengnau, Köln, Weimar, Wien , S. :  habe es demnach in Lengnau  Juden und  Christen, in Endingen  Juden und  Christen gegeben.  Aram Mattioli, Die Schweiz und die jüdische Emanzipation -, in: ders. (Hrsg.), Antisemitismus in der Schweiz, S. -, hier S. .  Ebd., S.  f. Binnenkade, KontaktZonen, hat in ihrer Arbeit aber ein anderes Bild der dörflichen Beziehungen von Juden und Christen gezeichnet.

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oder nicht.8 Selbst unter den Befürwortern der Emanzipation waren antijüdische Vorurteile zu finden, doch setzte man auf eine moralische Verbesserung der Juden durch Erziehung.9 Es wurde eine »Commission der Reformation helvetischer Judengesetze« eingesetzt, in der die Meinungen darüber auseinandergingen, ob die Juden alle bürgerlichen Rechte erhalten sollten oder nicht. Der reformierte Pfarrer von Endingen und Tegerfelden, Konrad Fischer, intervenierte mit einer Flugschrift, in der er zwar den Juden aus allgemeinen Gesichtspunkten das Bürgerecht nicht verwehren wollte, zugleich aber ein Übergewicht der jüdischen Stimmen bei den Wahlen in seiner Gemeinde befürchtete, obwohl Juden in den Dörfern in der Minderheit waren.10 Auf eine Petition der Juden hin befreite man sie im Mai  zwar von der herabwürdigenden Kopfsteuer und vom Leibzoll, doch scheiterte der Versuch, ihnen per Akklamation alle Bürgerrechte zuzusprechen. Über die Frage des Bürgereides entbrannte im Großen Rat ein heftiger Streit.11 Obwohl es zahlreiche Befürworter eines Bürgerrechts für Juden gab, schlossen Großer Rat und Senat nach hitzig geführten Debatten im August  Juden zunächst vom Bürgereid aus, doch gewährte man ihnen nach einer erneuten Debatte im Februar  schließlich am . Mai des Jahres vor allem aus wirtschaftlichem Eigennutz das Recht von niedergelassenen Fremden, das ein Niederlassungsrecht, das Recht auf den Erwerb von Liegenschaften und die Handels- und Gewerbefreiheit einschloss.12 Eine grundsätzliche Regelung der Bürgerrechte für Juden kam aber nicht zustande. Das Verhalten der Bevölkerung, aber auch vieler Behörden und Verwaltungen gegenüber den Juden blieb so weiter feindselig, und die Weigerung, den Juden das Bürgerrecht zu verleihen, kam einer obrigkeitlichen Absegnung dieser Haltung gleich und ermutigte manche zu

 Zentral war dabei für viele nicht die religiöse Differenz, sondern der Vorwurf, Juden würden eher eine politische als eine religiöse Korporation darstellen. Zudem würden sie an ein kommendes messianisches Reich glauben und verstießen damit gegen die Forderung der Verfassung, auf jedes andere Bürgerrecht zu verzichten. Siehe: Florence GuggenheimGrünberg, Vom Scheiterhaufen zur Emanzipation, Die Juden in der Schweiz vom . bis . Jahrhundert, in: Willy Guggenheim (Hrsg.), Juden in der Schweiz. Glaube – Geschichte – Gegenwart, Küsnacht, Zürich  (. Auflage), S. -, hier S. .  Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. .  Das Ortsbürgerrecht war denn auch immer besonders umstritten, da es vor Ort durchaus ökonomische Konsequenzen hatte. So wies der Pfarrer darauf hin, dass die Juden dann in den Genuss der Bürgernutzens kämmen (Holz, Weiden des Viehs auf der Almende) und der Armenkasse des Ortes zur Last fallen könnten (Mattioli, Die Schweiz, S. ). Vgl. die Schrift von Conrad Fischer, Ein Wort über das Aktivbürgerrecht der Juden in Helvetien, in Hinsicht auf die beyden Gemeinden, in denen sie izt wohnen, Aarau .  Ebd., S.  ff.; vgl. auch Böning, Die Emanzipationsdebatte, S.  ff.  Böning, Die Emanzipationsdebatte, S.  ff.; vgl. auch Weingarten, Freiheit, Gleichheit – auch für die Juden? S.  f. Da sich nach der Französischen Revolution Juden aus dem Elsass, die das französische Bürgerrecht besaßen, in einigen Städten der Schweiz (Basel, Genf, Bern) ansiedelten, wurde diesen aufgrund eines Vertrages zwischen Frankreich und der Schweiz ein Niederlassungsrecht eingeräumt, das man altansässigen Juden aber weiterhin verweigerte.

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einem gewaltsamen Vorgehen gegen die Juden.13 Es kam jedoch unter dem Schutz französischer Truppen zunächst nicht zu Übergriffen. Als die Truppen aber im Juli  vorübergehend aus Schweizer Gebiet abzogen wurden, begann angesichts des Machtvakuums eine Phase der Auflösung der Helvetischen Republik und es »kam allerorten zu kleinen Insurrektionen«. Konservativ-reaktionäre Föderalisten und Aristokraten hatten in Baden und Aarau schon länger einen Aufstand vorbereitet, und im September  besetzten bewaffnete Scharen, die zum größten Teil aus mit Stöcken bewaffneten Bauern bestanden, Aarau (verharmlosend als »Stecklikrieg«, auch wegen der Erntezeit als »Zwetschgen-« oder wegen der gestohlenen Bänder als »BändeliKrieg« bezeichnet).14 Erika Hebeisen betont das Zusammengehen der entmachteten aristokratischen Elite und der katholischen Landbevölkerung des Voralpengebietes gegen die im Wesentlichen von der bürgerlichen Elite vorangetriebene Modernisierung der Gesellschaftsordnung und gegen die französische »Schutzmacht«.15 Die Landbevölkerung habe sich gegen diesen Bruch mit »ihren tiefverankerten religiösen, wirtschaftlichen und politischen Traditionen« gewehrt. Manifester Widerstand richtete sich gegen die neue Verfassung, den Bürgereid und die Aushebung von Hilfstruppen für die französische Armee. Die Landbevölkerung rebellierte zum Teil mit Gewalt gehen die sozialen und ökonomischen Belastungen von Krieg und Besatzung sowie die wiedereingeführte Zehntpflicht. D. h., die Wochen vor den antijüdischen Ausschreitungen waren in den Kantonen Aargau und Baden von vereitelten Aufständen, militärischer Mobilisierung und schließlich vom Bürgerkrieg um Baden, in dem der mobilisierte Landsturm gegen helvetische Truppen vorging und so die helvetische Regierung zur Kapitulation zwang, bestimmt gewesen.16 Auch in der Hauptstadt Bern gelang der politisch reaktionäre Umsturz, und der Kanton Aargau, der sich  in revolutionärem Geiste von der Berner Herrschaft losgesagt hatte, wurde erneut unter Berner Vorherrschaft gestellt. Am . September wurde die Rückkehr der aristokratischen Herrschaft im Aargau gefeiert. Damit wurde auch eine Wiederaufhebung der den Juden gewährten neuen Rechte denkbar, was möglicherweise zusammen mit der antihelvetischen Stimmungsmache dieser Tage ebenfalls einen Anreiz für die Gewalt gegen die Juden geboten hat.17 Im Kanton Baden entstand hingegen nach dem Sturz der Zentralregierung ein Machtvakuum, und die Föderalisten setzten eigenmächtig eine provisorische Regierung ein.18 In dieser Situation zogen am . September  »Christen und Christinnen aus sämtlichen Dörfern nördlich von Baden«19 in die beiden Judendörfer Endingen  Ebd., S. .  Böning, Die Emanzipationsdebatte, S.  f.  Erika Hebeisen, Vom Widerstand zum Bürgerkrieg, in: Meyer et al. (Hrsg.), Revolution im Aargau, S. -, hier S.  f.  Ebd., S. -.  Ebd., S. .  Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. .  Ebd., S. . Nach Hebeisen schwanken die Zahlen in den Quellen zwischen  und  Tumultuanten (ebd., S. ).

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und Lengnau »mit mehr Körben als Waffen versehen« und plünderten dort die Häuser und Geschäfte der Juden.20 Nach Erika Hebeisen fühlten sie sich dazu aus mehreren Gründen berechtigt: Ihre Legitimation hätten die Bauern einerseits aus dem christlich-religiösen Selbstverständnis einer Überordnung der Christen gegenüber den Juden bezogen, andererseits aus einem traditionalistischen Wirtschaftsverständnis (»moral economy«), wobei die neue helvetische Rechtsordnung durch die Gewährung der vollen Handels- und Gewerbefreiheit für Juden die ohnehin konfliktträchtigen Beziehungen zwischen Bauern und Händlern zuungunsten der Letzteren verändert hatte. Entscheidend war aber, dass man die Juden einerseits als scheinbare Nutznießer und Unterstützer der gescheiterten helvetischen Republik ansah,21 man andererseits die Verweigerung der vollen Bürgerrechte an die Juden auch als antijüdisches Signal seitens der Obrigkeit verstand, wonach Juden nicht den vollen staatlichen Schutz genossen. So wollten die Bauern der Region, die sich nicht ganz zu Unrecht als Verlierer der Helvetik betrachteten,22 den Juden als den angeblichen Gewinnern einen Denkzettel verpassen und zudem die alte Über- und Unterordnung wiederherstellen, wozu sie sich durch die die Juden zurücksetzende Regierungspolitik auch legitimiert fühlten. Erika Hebeisen fasst die Motive unter der Überschrift »Enttäuschte suchen Sündenböcke« so zusammen: »Vorurteile, politisch widersprüchliche Signale und das Selbstverständnis als Verlierer machten der Landbevölkerung das Plündern in den jüdischen Gemeinden möglich«.23 Nach dem bisherigen Forschungsstand gibt es zwei Lesarten für den Ausbruch der Ausschreitungen. Einer älteren Deutung zufolge nahmen sie in dieser Situation eines Machtvakuums und allgemeiner Anarchie ihren Ausgang in einer katholischen Prozession, die eine größere Anzahl von Wallfahrern als handlungsfähige Menge zusammenführte. So sollen die Bauern aus den Dörfern des Sigithals und an der Aare in einer Kreuzes-Prozession nach Zurzach gewandert sein. Während dieser Prozession habe sich das Gerücht verbreitet, Endinger Juden hätten einem Christen den Unterkiefer abgeschnitten, was die Gemüter der »ohnedies raublustigen Waller [erhitzt] und ihnen den zum Frevel nötigen Muth« gegeben habe.24 Hier erscheint  Böning, Die Emanzipationsdebatte, S. .  Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. ; zu den zahlreichen Reformen, die einen Umsturz im Wirtschaftsalltag bedeuteten und für Verwirrung. Ratlosigkeit und Widerstand führten, vgl. Dieter Kuhn/Dominik Sauerländer, »Schade, dass wir die goldenen Ähren mit Thränen befeuchten!« Die helvetische Wirtschaftspolitik zwischen Kontinuität und Aufbruch, in: Meyer et al. (Hrsg.), Revolution im Aargau, S. -.  Hebeisen verweist dazu auf die Tatsache, dass die von der helvetischen Republik in Aussicht gestellte Ablösung der Feudallasten nicht zustande kam, sondern dass das zeitweise nicht entrichtete Geld  rückwirkend wieder eingetrieben wurde. Zudem hatten die Bauern unter Kriegszerstörungen und der französischen Besatzung zu leiden gehabt (»Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. ).  Hebeisen, Vom Widerstand zum Bürgerkrieg, S. .  Zit. bei Böning, Die Emanzipationsdebatte, S.  (Quelle: Markus Goetsch Dreyfus, der Zwetschgen- oder Büntelkrieg im Jahre , in: Jüdisches Volksblatt zur Belehrung und Unterhaltung auf jüdischem Gebiet, Jg. , Leipzig , Nr. ). Hebeisen referiert dabei,

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es demnach so, als habe sich die Prozession spontan zu einem Feldzug gegen die Judendörfer umformiert und dabei das bestehende Machtvakuum ausgenutzt. Neuere Forschungen von Erika Hebeisen stellen die Vorfälle eher als einen von konterrevolutionären Kräften geplanten und vorbereiteten Überfall dar.25 Sie stützt sich dabei primär auf die Darstellung der frühen jüdischen Geschichtsschreibung zu diesem Ereignis, wonach die Juden in den beiden Dörfern sich bereits Tage vorher auf den »Empfang der Rebellen« vorbereitet hätten. Man habe untereinander beratschlagt, was zu tun sei.26 Laut den jüdischen Gemeinden sollen Briefe herumgeschickt worden sein, in denen der . September als Tag benannt worden sei, an dem sich die Bauern und Bäuerinnen der umgebenden Gemeinden zwischen Limmat, Aare und Rhein bewaffnet in Endingen und Lengnau einfinden sollten. Zudem seien in der Nacht vor dem . September bewaffnete Männer nach Lengnau gekommen, um im Auftrag des Jakob von Steiner die jüdische Gemeinde aufzufordern, eine Klage vor dem Obersten Gerichtshof zurückzuziehen, was diese auch tat. Daraufhin seien einige Alte, Frauen und Kinder über den Rhein zu jüdischen Familien der Grenzgemeinden Tiengen und Kadelburg geflohen.27 Auch seien Reiterstafetten am Morgen des Pogroms zur Koordination des Aufmarsches der Plünderer unterwegs gewesen. Die Initiative zu den Ausschreitungen sei nicht von den Bauern selbst, sondern vom ehemaligen Zürcher Landvogt Hans Jakob von Steiner ausgegangen, der im September als Zivilkommissar in der nahegelegenen Residenz der Berner Landvögte im Kloster Königsfelden (Gemeinde Windisch) tätig war. Er stand in Kontakt zu weiteren Konterrevolutionären, zwei Brüdern der Schultheiss-Familie Frey aus Brugg. Johannes Jakob Frey sowie dessen Bruder Friedrich und ein weiterer, nicht verwandter Namensvetter Anton Frey waren aktiv an der Vorbereitung sowie an den Ausschreitungen beteiligt, Letzterer hoch zu Ross als »Bauernführer«. Nach dieser Darstellung hätten die Bauern der Umgebung von Endingen und Lengnau also nicht aus eigener Initiative gehandelt, sondern die Ausschreitungen hätten ihren Ausgang von Planungen konterrevolutionärer Kräfte genommen. So wurde Jakob von Steiner später in den Verhören von den Plünderern, aber auch von seinem Mitstreiter Anton Frey als Auftraggeber dass die »jüdische Erinnerung« der Prozession die treibende Kraft für das Pogrom zugeschrieben habe (»Hier geht es schrecklich unmenschlich zu !«, S. ), damit widerspricht sie aber der eigenen Darstellung, es habe sich um ein von oben organisiertes und verabredetes Geschehen gehandelt.  Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu !«; dies., Der Bändelikrieg: manifester Widerstand auf Abwegen – ein Werkstattbericht, in: Akten des . Helvetik-Kolloquiums, Flüelen , S. -. Juden nahmen die bedrohliche Stimmung sehr genau wahr. Sie schrieben bereits vor Ausbruch der Unruhen, dass ihre »Lage […] von Tag zu Tag gefährlicher« würde (Hebeisen, Vom Widerstand zum Bürgerkrieg, S. ).  Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. . Der Lehrer und Schriftsteller Markus Goetsch Dreyfus aus Endingen habe dies anhand mündlicher Überlieferung  aufgezeichnet (Der Zwetschgen- und Büntelkrieg).  Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. .

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angegeben.28 Anton Frey galt aber der Untersuchungskommission selbst als der Haupturheber des Pogroms und der Plünderungen vor Ort, an denen er sich auch selbst beteiligt hatte. Die Brüder Frey aus Brugg gaben zu, am Tage der Ausschreitungen an den beiden Orten präsent gewesen zu sein, bestritten aber eine Teilnahme an den Plünderungen, ja behaupteten sogar, Beschützer der Juden gewesen zu sein.29 Aus der Verwicklung dieser Vertreter der alten Eliten in die Planung und Durchführung der Ausschreitungen wird deutlich, dass die alte Elite das Pogrom billigte, da es zur Wiederaufrichtung ihrer Macht der Unterstützung der Landbevölkerung gegen die Helvetische Republik bedurfte. Während der Ausschreitungen am Morgen des . September  kam es zu Misshandlungen von Juden und zu Plünderungen ihrer Häuser zunächst in Lengnau. Gegen Mittag zogen die Plünderer, darunter auch Frauen und Kinder, dann nach Endingen weiter, wo die Ausschreitungen heftiger ausfielen. Nach Angaben der betroffenen Juden, die den »Tod über ihrem Haupte« schweben sahen, drängten sich »mehr als  bewaffnete Bauern […] in unser Dorf, es fing auf die hartherzigste, wildeste Art die Plünderung an, und bis zum Einbruch der Nacht waren wir fast ohne Ausnahme ausgeplündert. Alles, was ihnen unter die Hände kam, wurde zerschmettert, Kisten und Beschläge zerschlagen, Kaffee, Zucker und Spezereien zerstreut, der Wein ausgetrunken, und das übrige in die Keller auslaufen lassen, oder die Gasse floss es herum«.30 Sie zerrissen zudem auch mit »großer Wuth« Schriftstücke, die sie für Schuldscheine hielten bzw. erpressten deren Herausgabe, da sie häufig bei jüdischen Händlern verschuldet waren.31 Nach Wendler-Steinberg retteten die Juden kaum mehr als ihr nacktes Leben und mussten es durch Lösegeld erkaufen. Der Schaden soll in Lengnau rund . Franken, im besonders stark durch Plünderungen betroffenen Endingen sogar . Franken betragen haben. Die Übergriffe blieben ungesühnt, obwohl eine Untersuchungskommission eingesetzt wurde, die ihre Aufklärungsarbeit aber erst intensiviert haben soll,  Nach Anton Frei sei »die Ordre die Juden zu brandschätzen [sey] von Herrn General Steiner« ausgegangen. Zit. in: ebd., S. .  Wie unsicher sich die jüdischen Gemeinden nach diesem Pogrom fühlten, zeigt die Tatsache, dass sie sich mit klaren Hinweisen auf die verantwortlichen Täter sehr zurückhielten. Sie belasteten zwar die Brugger Frey-Brüder, doch ließen sie den ehemaligen Landvogt von Steiner unerwähnt und auch beschuldigten sie Anton Frey nicht der direkten Beteiligung an den Unruhen, doch sei dieser an der »Spitze der Räuberhorde hergeritten«. (ebd., S. , und Hebeisen, Vom Widerstand zum Bürgerkrieg, S. ).  Hebeisen, Vom Widerstand zum Bürgerkrieg, S. ; vgl. dazu auch: Franz-Xaver Bronners Darstellung von : »Man fiel mit Wuth die Häuser an, schlug Thüren und Fenster ein, und raubte, was Jedem anstand. Männer, Weiber und Kinder […] schleppten davon, was sie tragen konnten, und in weniger als drei Stunden standen fast alle Wohnungen ausgeräumt, ja einige völlig leer«. Der Kanton Aargau, historisch, geographisch, statistisch geschildert (= Historisch-geographisch-statistisches Gemälde der Schweiz, Bd. .), St. Gallen, Bern , S.  f. – Hier zitiert nach Mattioli, Die Schweiz, S. .  Hebeisen, »Hier geht es schrecklich unmenschlich zu!«, S. . Das Pogrom machte also die Juden, den Vorstellungen einer »moral economy« folgend, im Grunde zu Opfern einer »gewaltsamen Marktregulierung« seitens der christlichen Landbevölkerung (ebd.).

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nachdem französische Truppen wieder einmarschiert waren und General Ney um einen Bericht über die Unruhen gebeten hatte. Doch erhielten die Juden weder eine Entschädigung für die erlittenen materiellen Verluste, noch wurden die Täter zur Verantwortung gezogen.32 Im Gegenteil wurde Juden  im Aargau Hausierverbot erteilt. Dies führte dazu, dass jüdische Wanderhändler von Landleuten auf den Straßen durchsucht und misshandelt wurden, so dass der Einsatz obrigkeitlichen Schutzes nötig wurde.33 Im aargauischen »Judengesetz« von , das bis zur Emanzipation in Kraft blieb, wurden die aargauischen Juden direkt dem Schutz der Kantonsregierung unterstellt, womit sie nach Sabine Schreiber in den Status von »Schutzjuden« zurückversetzt wurden. Sie hatten demnach zwar die gleichen Pflichten wie die Kantonsbürger, aber nicht die gleichen Rechte.34 Obwohl in der Schweiz Juden fast ausschließlich in den beiden genannten Dörfern geduldet waren, führte die durch die französische Besetzung des Landes und die Etablierung der helvetischen Republik ausgelöste Emanzipationsdebatte zu ähnlichen, sogar in Gewalt umschlagenden Gegenreaktionen, wie wir sie in dieser Phase auch in anderen europäischen Ländern finden. Den Bauern der Umgebung der beiden Judendörfer35 ging bereits die Unterstellung der Juden unter das Fremdengesetz und die damit erreichte Besserstellung zu weit, zumal die Wiedereinführung der Feudalabgaben die Hoffnungen der Bauern enttäuscht und diese zu Verlierern der neuen Zeit gemacht hatte, während ihnen die Juden als deren Nutznießer erschienen, gegen die sie nun ihre Wut richteten.36 Der Prozess der schrittweisen Besserstellung der Juden schritt nur sehr langsam voran und verlief nicht ohne Rückschläge.37 Noch  kam es in Reaktion auf die geplante Verleihung des Ortsbürgerrechts an die Juden zu antijüdischen Krawallnächten in Oberendingen (siehe Kap. ). Erst mit der Bundesverfassung von  sollten Juden als gleichberechtigte Bürger anerkannt werden.  Böning, Die Emanzipationsdebatte, S. ; auch Wendler-Steinberg, Geschichte der Juden, S. . In einer Eingabe vom . Juni , in der sie die politische und bürgerlichen Gleichstellung der Juden forderten, verwiesen sie zugleich darauf hin, dass sie »noch im Lauf des letztverflossenen Jahres durch Plünderung einen sehr beachtlichen Teil ihrer Habe unter Schrecken und Angst« eingebüßt hätten (ebd., S. ). Wie schlecht sie die Aussichten für eine Realisierung ihrer Forderung einschätzten, zeigt die Tatsache, dass sie schon wenige Wochen später, am . August , eine Verzichtserklärung auf diese Rechte unterzeichneten (S.  f.).  Dazu Bronner, Kanton Aargau, S.  f., zit. nach Binnenkade, KontaktZonen, S. , FN .  Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky, S. .  Der Begriff »Judendörfer« bezeichnet Orte, in denen Landjuden einen sichtbaren Bevölkerungsanteil bildeten. Dazu siehe die Pionierstudie von Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg, Tübingen  (. Aufl. ); auch Monika Richarz/Reinhard Rürup (Hrsg.), Jüdisches Leben auf dem Lande: Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. , Tübingen .  Böning, Die Emanzipationsdebatte, S. .  Ebd.

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. Die Hep-Hep-Krawalle von  Die bedeutendste Welle antijüdischer Ausschreitungen im frühen . Jahrhundert stellen die sog. Hep-Hep-Krawalle dar.1 Diese kamen für viele Zeitgenossen völlig überraschend und wurden nicht nur von Seiten der Juden als Rückfall ins »finstere Mittelalter« empfunden. Dennoch geschahen sie keineswegs zufällig, und es war auch kein Zufall, dass sie vom neu zu Bayern gekommenen Würzburg ausgingen. Sie stellten auch keinen Rückfall ins Mittelalter dar, sondern waren durchaus Ausdruck einer aktuellen gesellschaftlichen Konfliktkonstellation. Die Französische Revolution, die napoleonische Ära und die Zeit der Befreiungskriege hatten einen politischen Reformprozess in Gang gesetzt, in dem viele deutsche Staaten auch die staatsbürgerliche Stellung der Juden neu zu regeln begannen. Auf dem Wiener Kongress konnten sich jedoch die Verfechter einer weitgehenden Emanzipation der Juden nicht durchsetzen, und es kam entweder zur Festschreibung des mehr oder weniger fortschrittlichen Status quo oder, wie in einigen Städten und Staaten, sogar zur Rückkehr zu den Bestimmungen der vornapoleonischen Zeit. Dieser abgebremste Emanzipationsprozess beließ die Juden in vielen Staaten in einer konfliktträchtigen Zwischenposition zwischen ihren neuen wirtschaftlichen Freiheiten sowie Niederlassungsrechten und den nach wie vor bestehenden politischen Benachteiligungen. Dies galt auch für Bayern, dessen Edikt vom . Juni  nach Auffassung von Adolf Eckstein »an der Grenzscheide zweier Zeiten steht«: »Zwei Seelen wohnen in seiner Brust, eine mittelalterliche und eine neuzeitliche Seele. Kein Wunder, dass es niemanden befriedigte, weder die Anhänger des Alten, denen es zu viel genommen, noch die Anhänger des Neuen, denen es zu wenig gegeben. Kein Wunder, dass es einen Kampf entfesselte«.2 Dieser Kampf richtete sich seitens der Juden vor allem gegen den §  (Matrikel), wonach die Zahl der Judenfamilien an einem Ort nicht vermehrt werden durfte, sondern nach Möglichkeit verringert werden sollte. Eine Neuansiedlung an Orten, wo bisher keine Juden wohnten, sollte nur Handwerkern, Fabrikanten und Ackerbautreibenden erlaubt werden, schloss also Kaufleute und Händler und damit das Gros der Juden aus. Damit waren lokale Konflikte über den Zuzug von Juden vorprogrammiert, ein typischer Anlass für die Anwendung kollektiver Gewalt. Nachdem auch die Verfassung des Königreichs Bayern vom . Mai  die Juden weiterhin als gleichberechtigte Bürger ausschloss, verfassten im April   Die Schreibweise des nicht gänzlich aufgeklärten Begriffs variiert zwischen Hepp-Hepp und Hep-Hep, bereits zeitgenössisch finden sich beide Schreibweisen. Dieser Spott- und Hetzruf ist auch nicht erst für die Krawalle neu geprägt worden, sondern fand bereits vorher in Würzburg und an anderen Orten Verwendung (Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ). Wie häufig im Fall von revoltierenden Protestbewegungen seit dem Mittelalter zu beobachten, rekurrierten deren Benennungen auf die Rufe der Protestierenden. Vgl. dazu Daniel Gerson, Hepp-Hepp, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -.  Adolf Eckstein, Der Kampf der Juden um ihre Emanzipation in Bayern, Fürth , S. .

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Vertreter mehrerer jüdischer Gemeinden des Landes eine im Druck verbreitete Denkschrift3 für die Ständeversammlung, mit der sie »die Frage der Judenemanzipation auf die Tagesordnung der öffentlichen Meinung« setzten.4 Auch christliche Autoren publizierten Broschüren zur Unterstützung der jüdischen Ansprüche,5 so dass der erste Landtag am . Mai  eine Revision des Edikts von  beantragte und der König diesem Antrag mit dem im Landtagsabschied vom . Juni gegebenen Versprechen zustimmte, das Ministerium des Innern werde sich mit dieser Revision unverzüglich beschäftigen und der nächsten Ständeversammlung einen umfassenden Gesetzentwurf vorlegen.6 Eleonore Sterling hat zu Recht betont, dass in Deutschland die Menschenrechte eben nicht von unten eingeklagt wurden, sondern sich obrigkeitlichem Zwang, z. T. auch durch Napoleon, verdankten. D. h., die rechtlichen Reformen im Geiste der Menschenrechte standen nicht im Einklang mit dem Willen der Bevölkerung. Dies führte bei den deutschen Nationalisten und Liberalen zu dem Eindruck, die Juden würden mit den ihnen gewogenen reaktionären und partikularistischen Gewalten kooperieren.7 Die Ausschreitungen in Würzburg und mehreren anderen fränkischen Städten kann man als Antwort auf diese angekündigten Veränderungen verstehen, die manche christliche Einwohner als Bedrohung ihres Status wahrnahmen.8 Mit dieser schon von Eckstein nahegelegten Interpretation folgen wir den neueren Darstellungen der Hep-Hep-Krawalle,9 die ihre genuin antijüdische Stoßrichtung betonen und sich weder den zeitgenössischen Annahmen, es handle sich um ein Ergebnis revolutionärer Umtriebe, noch der Auffassung von Eleonore Sterling anschließen, der Angriff auf die Juden sei eine bloße dislozierte Form von Sozialprotest gewesen,  Denkschrift an die hohe Ständeversammlung, die Lage der Israeliten und ihre bürgerliche Verfassung betreffend, München, . April .  Eckstein, Der Kampf, S. .  Z. B. der katholische Geistliche Xaver von Schmid, Patriotische Wünsche und Vorschläge zur bürgerlichen Verbesserung der Israeliten, ; der protestantische Professor Alexander Lips, Ueber die künftige Stellung der Juden in den deutschen Bundesstaaten, Erlangen  (zit. nach Eckstein, Der Kampf, S. ).  Ebd., S. .  Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany in , S.  und .  Eckstein sah hier einen ganz direkten Zusammenhang: »Diese Verheissung des Königs wurde von den Studenten in Würzburg mit einem pöbelhaften Hep-Hep Geschrei beantwortet, mit wüsten Straßenszenen, welche in mehreren Städten Frankens sich wiederholten und die Verkündigung des Standrechts notwendig machten« (ebd., S. ). Dass diese Gewalt durchaus Erfolg hatte, zeigten die Reaktionen der Juden in Bayern. Nach Eckstein saß ihnen der Schrecken der »erlebten Exzesse des Straßenantisemitismus« so in den Gliedern, dass sie erst wieder im November  zu einer Notabelnversammlung in München zusammenkamen (ebd.). In der Tat unterblieb die versprochene Revision, und die Regierung erklärte im Mai  auf eine Anfrage des Präsidiums der Abgeordnetenkammer hin, die Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Revision des Judenedikts sei noch nicht zeitgemäss (ebd., S.  f.)  Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen, mit Quellenanhang; Erb/Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation, S.  ff.; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, Kap. .

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deren Ursachen primär in einer akuten Wirtschaftskrise sowie im tiefgreifenden sozioökonomischen Strukturwandel zu suchen seien.10 Allerdings werden Kontextfaktoren, wie die Hungerkrise von /11 und die Überflutung des deutschen Marktes mit englischen Manufakturwaren nach Aufhebung der Kontinentalsperre, durchaus den Grad politischer Spannungen erhöht und die Reaktionen des Staates beeinflusst haben, der rigoroser vorgeht, wenn er sich selbst durch »revolutionäre Umtriebe« bedroht sieht.12 Stefan Rohrbacher hat zu Recht hervorgehoben, dass die nähere Untersuchung lokaler Fälle zeigt, dass die Unruhen lokal und regional ganz unterschiedliche Ursachen und Charakterzüge aufweisen konnten.13 Die Hep-Hep-Unruhen, die von Würzburg ihren Ausgang nahmen und ihren Schwerpunkt im Raum Bayern, Württemberg, Baden und Hessen hatten, strahlten aber auch ins Rheinland, nach Hamburg bis hinauf nach Dänemark, sowie nach Danzig und Sachsen aus. In den verschiedenen Darstellungen der Hep-HepUnruhen gibt es allerdings teils Übereinstimmungen über die betroffenen Orte, teils finden sich in manchen aber auch Orte, die in anderen nicht aufgeführt sind, sowie Orte, die offenbar fälschlich benannt werden, da es dort zwar Spottgesänge, »Hep-Hep«-Geschrei, Drohbriefe und Aufrufe und Plakatierungen gab, die dazu  Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany in .  Die Bedeutung der Hungerjahre / betont Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , da die jüdischen Händler beschuldigt wurden, alles Getreide aufgekauft zu haben. Der Vulkanausbruch des Tambora führte zu einer kurzfristen Abkühlung des Klimas auch in Mitteleuropa, die katastrophale Folgen für die Ernten hatte. Vgl. dazu Wolfgang Behringer, Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München ; Gillen D’Arcy Wood, Vulkanwinter , die Welt im Schatten des Tambora, Darmstadt .  Stefan Rohrbacher erwähnt, dass die politischen Morde bzw. Mordversuche an August von Kotzebue und an dem nassauischen Staatsrat von Ibell bei den restaurativen Kräften die Furcht vor Verschwörungen und revolutionären Umtrieben schürten, so dass für sie auch bei den Hep-Hep-Krawallen eine solche Interpretation nahelag. Der Angriff auf die Juden wurde dabei als bloßer Vorwand für weitergehende Ziele verstanden (Gewalt im Biedermeier, S.  f.). Vgl. zum politischen Kontext des Wartburg-Festes und der Ermordung Kotzebues usw. Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany in , S.  ff. Bei Jacob Katz ist die Anfrage »Der durchlauchtigsten deutschen Bundes C. U. Commission« vom . März  abgedruckt, die in einer Anfrage an den »Wohlleoblichen Senat der Freyen Stadt Hamburg« um die Untersuchungsakten zu den Krawallen bittet, um der Frage nachzugehen, ob diese mit den »demagogischen Umtrieben« in Zusammenhang standen. Die Stadt Hamburg antwortete im April und sah die Ursachen allein im »Geschaefts- und Erwerbs-Neide« und als Nachahmung der andernorts stattgefundenen »Auftritte wider die Israeliten« und verweigerte entsprechend die Übersendung von Akten (Hep-HepVerfolgungen, Beilage D und E, S.  f.).  Stefan Rohrbacher, Die »Hep-Hep-Krawalle« und der »Ritualmord« des Jahres  in Dormagen, in: Rainer Erb/Michael Schmidt (Hrsg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin , S. -, hier S. ; auch Henry Wasserman nennt die Ursachen der Unruhen »highly complex« und »rooted in the social and economic condition of Germany« (HEP!HEP!, in: Encylopedia Judaica, Vol. , Detroit , S. -).

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aufriefen, Juden zu vertreiben oder zu verprügeln, wobei es jedoch nicht zu nennenswerten Krawallen kam (z. B. in Koblenz, Köln, Düsseldorf, Hamm, Breslau, Berlin, Güstrow, Meiningen, Grünberg/Schlesien, Halle/Saale, Regensburg, Lissa/ Posen, Elbing und Königsberg,14 Riga, Helsingfors, Amsterdam, Prag, Wien und Graz).15 Wie Rohrbacher für den rheinischen Raum zeigen konnte, kam es in vielen kleinen Orten zu Schmähungen oder Drohbriefen gegen Juden und es gab vereinzelte Steinwürfe auf jüdische Häuser, ohne dass sich daraus mit Ausnahme des kleinen Ortes Hülchrath eine kollektive Gewaltaktion gegen die Juden des Ortes entwickelte.16 Die Grenzen zwischen solchen kleineren Vorfällen und ausgewachsenen Krawallen lasen sich kaum trennscharf ziehen. Das Ortsregister der Studie von Rohrbacher führt fast fünfhundert Orte auf, doch handelt es sich in der großen Mehrzahl um Orte, in denen es allenfalls zu kleineren Konflikten (»HepHep«-Geschrei, Plakatanschläge, Drohbriefe, Hetzschriften, Schlägereien, verein Zu Königsberg gibt es in den Lebenserinnerungen von Fanny Lewald, die  aber erst acht Jahre alt war, eine kurze Darstellung der Hep-Hep-Ereignisse: »In Königsberg aber ging die Epidemie der Judenverfolgung ziemlich gelind vorüber. Es blieb bei den spottenden Nachrufen, und als man sich damit genug getan hatte, fand man sich von beiden Seiten äußerlich wieder zurecht« (Meine Lebensgeschichte,  Bände, hrsg. von Ulrike Helmer, Königstein/Taunus , Bd. ., S.  f.). Auch Stefanie Schüler-Springorum (Die jüdische Minderheit in Königsberg/Preußen -, Göttingen , S.  f.) schreibt von »verhältnismäßig glimpflich verlaufenen Unruhen zur ›Hep-Hep‹-Zeit.«  Vgl. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  ff., . Diese Städte werden etwa in der Landkarte zum Artikel HEP!HEP! der Encyclopedia Judaica (S. -) als »Sites of major Hep !Hep! riots in « genannt, während im Artikel Henry Wassermans dazu Orte wie Elbing oder Königsberg nicht genannt werden, allein Danzig wird als Ort in Preußen erwähnt. Auch der Artikel zu den Hep-Hep-Krawallen in Mecklenburg nennt mit Meiningen, Breslau und Preßburg Orte, in denen es nicht zu nennenswerten Übergriffen kam. Auch in Schwerin blieb es bei verbalen Ausfällen und einem tätlichen Angriff eines christlichen Kaufmanns auf einen jüdischen Kaufmann (www.juden-in-mecklenburg. de/Geschichte/Hep_Hep_Krawalle_). Auch Erb/Bergmann, Die Nachtseite, S. , sprechen für einige Orte wie Breslau, Grünberg, Königsberg, Lissa, Koblenz, Hamm, Kleve und Kreuznach von Tumulten, obwohl die antijüdischen Aktionen sich auf verbalen Radikalismus beschränkten. Der HEP!HEP!-Beitrag der Encyclopedia Judaica führt auf der Landkarte irrtümlich auch den Ort Worringen auf, doch waren Einwohner Worringens nach Dormagen zur Beerdigung des angeblichen Ritualmordopfers gezogen und hatten dort gedroht, das Haus eines Juden zu stürmen (vgl. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  ff.).  Vgl. Rohrbacher, Die »Hep-Hep-Krawalle«, S. -. Von Dormagen, wo ein Ritualmordgerücht zu einer bedrohlichen Situation führte, die aber von den Behörden unter Kontrolle gehalten wurde, führte das Gerücht zu vereinzelten Übergriffen etwa in einigen Nachbarorten wie Rommerskirchen, Wevelingshoven und Grimlingshausen, wobei es nur in Hülchrath zu Angriffen einer Menge von - zumeist jungen Burschen kam, die große Steine auf die jüdische Schule warfen und drei jüdische Gottesdienstbesucher blutig misshandelt haben sollen. Aber auch in großen Städten dieser Region wie Köln und Düsseldorf gab es »Hep-Hep«-Rufe und Plakatanschläge, die mit der Vertreibung der Juden oder gar mit einem Blutbad drohten, wobei es durch ein entschiedenes Handeln der Behörden bei bloßen Drohungen blieb (ebd., S. -).

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zelte Steinwürfe gegen Häuser und Fensterscheiben) kam, was für die eine große Handlungsbereitschaft in der Bevölkerung und die weitere Ausbreitung der HepHep-Welle spricht. Die Dorfzeitung schrieb am . August : »der Judenlärm greift um sich wie die Ruhr und die Mode, jeder Dummkopf und Gassenjunge will nach der Mode seyn und ruf sein albernes: Hepp, Hepp!«. Nach Rohrbacher lässt sich die Ausbreitung der Hep-Hep-Unruhen in vier Phasen gliedern: ) In der ersten Augusthälfte breiteten sich die Unruhen von Würzburg aus in einem Radius von mehr als  km westlich, östlich und nördlich in zumeist größere Städte aus. ) In der zweiten Augusthälfte griffen die Unruhen dann auf das nördliche Württemberg und Baden über, erreichten das ferne Hamburg und erfassen kleinere Orte Ober- und Unterfrankens. ) Im September gab es antijüdische Unruhen in Dänemark, vereinzelt auch in Preußen. In Kurhessen kam es bis Mitte Oktober zu Ausschreitungen in ländlichen Gemeinden. ) In der preußischen Rheinprovinz kam es im Zusammenhang mit der Ritualmordbeschuldigung in Dormagen im Oktober zu Ausschreitungen in ländlichen Gemeinden.17 Der Ausbruch der Unruhen in Würzburg Es stellt sich die Frage, warum die Unruhen ihren Ausgang gerade in Würzburg nahmen.18 Hier kamen mehrere begünstigende Faktoren zusammen. Zunächst spielt es eine Rolle, dass Juden erst nach dem Ende der geistlichen Herrschaft der Fürstbischöfe () ab  wieder ein Niederlassungsrecht in der Stadt bekamen und ihre Zahl bis  auf , dann bis  auf ca.  Personen anwuchs.19 Ab  galt auch für Würzburg das bayerische Judenedikt von . Diese Entwicklung hatte, so beginnt jedenfalls der Bericht des Frankfurter Journals über die HepHep-Unruhen, zu Unmut in der Bevölkerung geführt: »Schon lange herrschte hier eine dumpfe Unzufriedenheit über die bedeutende Vermehrung der hiesigen Juden, von welchen in der Vorzeit gar keine hier geduldet waren, die endlich, wie  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .  Die soziologischen Forschungen zu den Race Riots Mitte der er Jahre in den USA haben gezeigt, dass sich keine Faktoren ausmachen ließen, die erklären, warum in einer Stadt Unruhen ausbrachen, in anderen aber nicht. D. h., wir haben es hier mit einem kontingenten Zusammenhang zwischen Handlungsabsicht und Ereignis zu tun. Ähnlich für die russischen Pogrome Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  ff.  StAW Reg. Abg. : »Betreff: Jüdische Glaubensgenossen, deren Verhältnisse«; Generalia. No. : »Verzeichnis über die im Großherzogtum Würzburg befindlichen Juden«, . Nov. . Reg. Abg. : »Übersicht der Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Untermainkreis «, Würzburg Stadt  Seelen. In der Würzburger Chronik. Personen und Ereignisse von - von Leo Günther, findet sich für / eine etwas niedrigere Angabe von  Juden (S. ).

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der Ausbruch eines Vulkans, in eine volle Empörung gegen dieselben ausbrach.«20 Diese Unzufriedenheit deuten Leo Günther und auch Jacob Katz als Reaktion auf die wirtschaftliche Konkurrenz und den Einfluss der vermögenden Juden bei der Regierung, die anders als die Einheimischen in der jüdischen Wirtschaftstätigkeit einen Vorteil für die Stadt sah.21 Ursula Gehring-Münzel weist auf einige weitere Faktoren hin: Die Emanzipation der Juden war von der in Franken vor allem im Adel und unter den Bürgern ungeliebten neuen bayrischen Regierung über die Köpfe der Bevölkerung hinweg oktroyiert worden, der man nun die Verletzung alter, herkömmlicher Rechte vorwarf. Neben dem Aspekt der Konkurrenz wurden insbesondere das »schnelle Emporkommen« der Juden und ihre angebliche Begünstigung durch die Regierung kritisiert, der man den Vorwurf der Bestechlichkeit machte.22 Die Chancen, die Juden wieder aus Würzburg vertreiben zu können, standen demnach schlecht. Dieser generelle Unmut fand einen Fokus in den Verhandlungen des bayrischen Landtages seit dem Frühjahr , in dem es auch um die Rechtsstellung der Juden ging. Hier standen sich Teile der christlichen Bevölkerung, so auch die Würzburger Bürger, als Beschwerdeführer, die eine Begrenzung der jüdischen Handelstätigkeit verlangten, jüdischen Petenten, wie etwa dem einflussreichen Würzburger Bankier Salomon Hirsch, gegenüber, die um eine Erweiterung der Rechte der Juden bis hin zum vollen Bürgerrecht baten, was auch durch Schriften christlicher Autoren unterstützt wurde.23 Dieser zum Teil auch öffentlich geführte Meinungskampf erfuhr in Würzburg im Sommer  noch eine besondere Zuspitzung.24 Nicht nur die gegen die Juden gerichtete Eingabe des Würzburger Handelsstandes25 sorgte für eine Erregung der Gemüter, sondern auch  Frankfurter Journal, . August . Katz zitiert Quellen, die eine Atmosphäre von Judenfeindschaft für Würzburg belegen, etwa die diplomatischen Vertreter Österreichs und Preußens in München, die vom tiefen Judenhass der Würzburger berichten (Hep-HepVerfolgungen, S. ). Dazu beigetragen haben mag die Tatsache, dass die Zuwanderung von Juden parallel lief mit dem Verkauf säkularisieren Kirchengutes, wobei sich unter den Käufern auch Juden befanden, denen ein missbräuchlicher Umgang mit diesen religiösen Gegenständen unterstellt wurde. Vgl. Erb/Bergmann, Nachtseite der Judenemanzipation, S.  f.  Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S.  f.  Ursula Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden zum Staatsbürger. Die gesellschaftliche Integration der Würzburger Juden -, Würzburg , S. . Es vermischen sich in diesen Unruhen also antijüdische mit antibayrischen und regierungskritischen Tendenzen, wobei Letztere sich vor allem gegen die neue konstitutionelle Form richteten und somit konservativ-antiaufklärerische Züge besaßen.  Vgl. zu diesen Eingaben und den Landtagsdebatten (vom . März bis . Juli ) ausführlicher Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S.  ff.  Vgl. Erb/Bergmann, Nachtseite der Judenemanzipation, S. . Vgl. zum Nachweis dieser Schriften Volkmar Eichstadt, Bibliographie zur Geschichte der Judenfrage, Bd. , , Hamburg , die Nummern -.  Vorstellung des Handelsstands zu Würzburg die Handelsverhältnisse und deren Beeinträchtigung durch Juden und Musterreiter betreffend, , zit. bei Günther, Würzburger Chronik, S. .

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das auf die Bittschrift von Salomon Hirsch, als deren Verfasser den Zeitgenossen der Würzburger Jura-Professor Sebald Brendel galt,26 reagierende Buch Theodor Scheurings, der diese scharf angriff und in seiner Schrift alle gängigen antijüdischen Argumente vorbrachte und an den Würzburger Verhältnissen verdeutlichte.27 Der Inhalt dieser Schrift wurde einem größeren Leserkreis bekannt, als Scheuring Teile davon in einer Voranzeige im Intelligenzblatt für den Unter-Mainkreis des Königreichs Baiern (vom . Juli ) veröffentlichte. Das gleiche Blatt veröffentlichte in derselben Ausgabe (noch einmal wiederabgedruckt am . Juli) eine scharfe Kritik an Scheurings Publikation von Seiten Brendels, in der dieser die »Verbesserung des bisherigen politischen Zustandes der Juden« als »dringend nothwendig« hinstellte und die Veröffentlichung eines Buches über das Staatbürgerrecht der Juden ankündigte, das mit dieser Stoßrichtung argumentieren würde.28 Diesen Verriss beantwortete der Angegriffene am . Juli im gleichen Blatt mit einer wütend-ironischen Antwort, indem er Brendels Schrift »Arroganz, Schwindel und Leidenschaft« vorwarf. Nach Katz lösten die Veröffentlichung von Scheurings Buch sowie die anschließende Polemik zwischen ihm und Brendel einen »Sturm der Gemüter« aus, wobei die Personalisierung die Situation noch dramatisierte, in der nach Meinung zeitgenössischer Beobachter die Mehrzahl der Würzburger auf Scheurings Seite stand.29 Es überrascht nicht, dass bereits vor Ausbruch der Unruhen Juden auf den Straßen Würzburgs mit »Hep«-Rufen angepöbelt wurden. Wie genau die Unruhen am Abend des . August ausbrachen, ist nicht mehr zu rekonstruieren.30 Die Zahl der Tumultuanten war schnell so groß, dass die Polizei die Situation nicht mehr in den Griff bekam und Militär in die Stadt gerufen wurde, wobei es zu Übergriffen gegen die Ordnungskräfte kam (Steinwürfe, Misshandlung eines Polizeidieners); auch Juden, die sich wehrten, wurden verprügelt.  Vgl. Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S.  ff.  Theodor A. Scheuring, Das Staatsbürgerrecht der Juden. Eine unpartheiische Würdigung in Beziehung auf die von Salomon Hirsch in Würzburg an die Ständeversammlung in Baiern eingereichte Vorstellung, Würzburg , die Schrift ist wohl im Mai erschienen; vgl. Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. ; zum Inhalt dieser Schrift ausführlich: GehringMünzel, Vom Schutzjuden, S.  ff.  Dieser Artikel sowie die Antwort darauf von Scheuring vier Nummern später sind abgedruckt in Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, Beilagen A und B; Gehring-Münzel bezweifelt die Quellenangabe, die Kontroverse habe nicht im Würzburger Intelligenzblatt stattgefunden (S. ).  Mit Bezug auf die Zeitung Hesperus. Ein Nationalblatt für gebildete Leser, Jg. , Bd. , Beilage  vom Oktober , S. : Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. ; Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. . Die Schrift Scheurings hat wohl unter den Juden Würzburgs schwere Besorgnisse ausgelöst, wie die Aufzeichnungen von Le(i)ser Kraft bezeugen (ebd., S. ). Die Augenzeugenberichte von Leser Kraft aus Heidingsfeld finden sich abgedruckt in: Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. -.  Zur zeitgenössischen Darstellung über den Verlauf der Unruhen siehe den »Bericht (Zirkular) des kgl. Bayrischen Staatsrats und Generalkommissärs des Untermainkreises, Freiherrn von Asbeck zu Würzburg, . August «, abgedruckt in: Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  f.

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 Personen wurden festgenommen. Die Aufrufe des Stadtrates und der Regierung des Untermainkreises an die Bevölkerung, Ruhe zu bewahren, sowie die Aufforderungen an die Vorsteher der Handwerker- und Kaufmannsgilden, wie auch an Universitäts- und Schulleitungen, ihre Zöglinge in Schach zu halten, verstärkte Wachen und Patrouillen sowie die Aufforderung an die Juden, sich abends möglichst nicht auf der Straße zu zeigen und »alles zu meiden, was zu unangenehmen Auftritten führen könnte«, konnten nicht verhindern, dass sich am Abend des . August die Unruhen mit einer noch größeren Teilnehmerzahl und einem höheren Gewaltniveau erneuerten, wofür die Misshandlungen von Juden und auch der nun überall zu hörende Ruf »Schlagt die Juden todt!« sprechen. Hier spielt sicher eine Rolle, dass der beliebte liberale Abgeordnete Professor Behr bei seiner Rückkehr von den Landtagsverhandlungen, die einen Antrag auf Revision des Edikts von  erbracht hatten, von einer großen Volksmenge empfangen wurde, wobei hier möglicherweise die Anwesenheit Professor Brendels konfliktverschärfend gewirkt haben mag.31 Die Ordnungskräfte und auch der persönliche Einsatz von Stadtkommissar, zweitem Bürgermeister und Magistratsmitgliedern erwiesen sich als untauglich, die Menge zu beruhigen und die Wohnungen und Geschäfte der Juden gegen die Steinwürfe, Demolierungen und Plünderungen zu schützen, zumal sich auch Soldaten der Garnison an den Ausschreitungen beteiligten.32 Polizei und Militär sahen sich Angriffen der Menge ausgesetzt, und beim Widerstand der Menge gegen die Arretierung eines Tumultuanten wurde ein Würzburger Bürger durch den Schuss eines Polizeidieners getötet. Am kommenden Tag erschoss ein Schuhmachermeister einen Soldaten. Zwar trat am . August abends um elf Ruhe ein, doch kam es trotz einer weiteren Verstärkung des Militärs bereits am Morgen des . August erneut zu Zusammenrottungen und die Menge tobte den ganzen Tag weiter, obwohl das  Zur Anwesenheit Brendels vgl. Die Dorfzeitung vom . August , S. , und Confluentia , S.  f., Bericht aus Würzburg, die sonst keine Erwähnung findet. Der Stadtchronist Günther schreibt, dass die Rückkehr des Liberalen Behr »von den Würzburgern merkwürdigerweise durch eine reaktionäre Orgie, durch einen regelrechten Pogrom gefeiert« worden sei (Würzburger Chronik, S. ). Schon dem zeitgenössischen Beobachter in der Zeitschrift Hesperus ist diese Verwunderung anzumerken: »Ich wage nicht zu behaupten, dass der zufällige Einzug des Universitäts-Landstandes, Hofraths Behr, den man, freilich sonderbar genug, wie im Triumph durch die ganze Stadt führte, die Unruhe vergrößert habe« (zit. bei Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. ). Wie sehr Brendel das Objekt des Hasses war, zeigen die zahlreichen aufgefundenen Drohbriefe, die seine Entlassung aus der Universität ankündigten, ihn als »Judenrex« oder »Judenprofessor« schmähten, mit seiner Ermordung drohten und seine Verlobte vor dem Verlöbnis warnten (ebd., S.  f.).  Günther, Würzburger Chronik, S.  f. Bei einer Sitzung der Kreisregierung am Morgen des . August wurden von Seiten des Regierungsdirektors schwere Vorwürfe gegen den Würzburger Stadtkommandanten erhoben, da der General das königliche Stadtkommando trotz des Hilfeersuchens des Magistrats nicht eingesetzt hatte. Als dieses schließlich tätig wurde, war der Tumult schnell niedergeschlagen (Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S.  f.).

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Militär immer weiter verstärkt wurde.33 Es wurden die Schilder von jüdischen Läden heruntergerissen, die Fenster eingeworfen und Häuser geplündert; Juden, die sich wehrten, wurden verprügelt; wie üblich aus den umliegenden Dörfern in die Stadt kommende Juden wurden nach dem Augenzeugenbericht von Leser Kraft von einer wilden Menge verfolgt.34 Die Regierung ließ den Auszug über »Aufstand und Tumult« öffentlich proklamieren, doch blieb die Menge den ganzen Tag über unruhig und musste auseinandergetrieben werden, wobei es – wie erwähnt – unter den Soldaten zu einem Todesopfer kam. Am . August war das Militär dann Herr der Lage, blieb in der Stadt aber noch bis zum . August massiv präsent. Am . August wurden  Haupttumultanten verhaftet.35 Unter den Festgenommenen waren durch Versteigerung ihrer Habe verarmte Bürger, verabschiedete Soldaten, Tagelöhner und Gassenjungen sowie ein Regierungsbeamter. Doch darf man von den tatsächlich Festgenommenen nicht – wie Jacob Katz es tut36 – auf die soziale Zusammensetzung der Menge schließen, da ja offensichtlich auch mehrere Bürger auffällig wurden. Die Tatsache, dass ein angesehener Kaufmann und Würzburger Bürger im Tumult erschossen wurde und dass ein von mehreren Offizieren festgenommener Mann sich als Regierungssekretär entpuppte und ein Schumachermeister auf die Soldaten schoss, macht deutlich, dass es sich bei den Tumultuanten keineswegs nur um Ortsfremde, Jugendliche oder »Pöbel« gehandelt hat, sondern dass sich respektable Würzburger Bürger an der Gewalt gegen die Juden beteiligten.37 Regierung und Zeitungen, wie die Allgemeine Zeitung vom . August ,  Die gesamte Würzburger Garnison rückte aus, verstärkt durch zahlreiche Detachements der Landwehr unter Führung angesehener Bürger (ebd., S. .) Die größte Stärke erreichte das Militär am . August mit  Mann – bei . Einwohnern Würzburgs.  Vgl. Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. .  Ebd., S.  f.  Ebd., S. ; der allerdings den Bürgern die historische und ideologische Verantwortung zuweist und den engen Kontakt zwischen den sozialen Schichten betont. »Im Bericht des kgl. bayerischen Fiskalats Würzburg über die Untersuchungssache gegen Ludwig Schleicher und Konsorten wegen Erpressung, Landfriedensbruch und Störung des häuslichen Friedens« wird in der »Thatgeschichte« ausgesagt, dass sich »viele Leute von verschiedener Classe« in Würzburg am Abend des . August an dem Auflauf der Menge und den HepRufen beteiligt hätten (Dokument ist abgedruckt in Katz, S.  ff.). Die Liste der dort genannten Angeschuldigten umfasst durchaus angesehene Berufe: Bürger und Heckenwirt, Webermeister, Kaminfeger, Tüncher, zwei Schuhmachergesellen, Bürger und Maekler, Hutmacher, Kreis-Kassen-Kontrolleur, Tagelöhner (einmalige Nennung), Zimmerlehrjunge (einmal) und ein zwölfjähriger Junge. Regierungsdirektor Stumpf meldete an das Innenministerium, dass Bürger wie Pöbel das gemeinsame Ziel hätten, »sich aller dahier wohnenden Juden zu entledigen und den hieher handelnden ferneren Zugang zur Stadt zu wehren« (zit. nach Gehring-Münzel, Von Schutzjuden, S. ).  Sterling weist zu Recht auf die soziale Zusammensetzung der Judenfeinde hin: »The most dangerous enemies of the Jews came from the educated rather than from the uneducated classes, from urban populations rather than from the superstitious peasantry« (Anti-Jewish Riots in Germany , S. ). Zudem breitete sich die Gewalt eher in den konstitutionell regierten Ländern Süddeutschlands aus als in den ländlichen, von der Landaristokratie dominierten Teilen Preußens.

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versuchten die Beteiligung der Würzburger Bürger herunterzuspielen und machten »zugelaufenes Gesindel« sowie Handwerksburschen, also den »rauflustigen Pöbel« für die Gewalt verantwortlich, doch waren nach Meinung Gehring-Münzels die Ausschreitungen eine genuin Würzburger Angelegenheit.38 Die bedrohliche Lage hatte die meisten Juden der Stadt am . August zur Flucht – zum Teil unter militärischem Schutz – in die Umgebung Würzburgs veranlasst, wobei einige kein Quartier fanden und unter freiem Himmel übernachten mussten.39 Die Juden konnten unter Polizei- und Militärschutz am . August wieder in die Stadt zurückkehren. Die beträchtliche Dauer der Unruhen, die Massivität des militärischen Einsatzes (allein  Soldaten versahen zwischen dem . und . August Wachdienst in der Stadt) und die beiden Todesopfer machen deutlich, dass wir es hier nicht mit dem verbreiteten Typus eines kurzfristigen Krawalls auf niedrigem Gewaltniveau zu tun haben, sondern, wie das Frankfurter Journal es formulierte, mit einem »allgemeinen Aufstand gegen die Juden«.40 Wie tiefgreifend die Spannungen waren, zeigt auch die Tatsache, dass in Würzburg »der Geist der Unordnung und Unruhe fort(wirke), welcher durch falsche Gerüchte, freche Schmähungen, Ausstreuung drohender Briefe sowie durch andere boshafte Mittel öffentlich wie heimlich genährt und aufgeregt« würde, so dass man von Regierungsseite weitere Übergriffe fürchtete.41 Nicht zu Unrecht, kam es doch in der letzten Augustwoche zu einem Einbruch in die Synagoge, deren Inneres verwüstet wurde, und zu Anschlägen auf Professor Brendels Wohnung.42 Tatsächlich kam es in Würzburg und Umgebung in den Sommermonaten bis ins Jahr  immer wieder zu Demonstrationen, Hetzreden in Kaffee- und Wirtshäusern, Steinwürfen, Schlägereien und Schmierereien an jüdischen Läden und Häusern. Eine andere Methode bestand darin, Hausbesitzer durch die Ankündigung einer Brandstiftung dazu zu bewegen, jüdischen Kaufleuten ihre Läden und Wohnungen zu kündigen. Im Juni  kam es wieder zu Übergriffen, als in der Nacht vom . auf den . Juni Türen dreier jüdischer Häuser beschmiert wurden und eine einen Juden darstellende Puppe an einem Dachfenster

 Vom Schutzjuden, S. ; dort auch eine Liste der verhafteten Personen.  Vgl. Frankfurter Journal vom ..: »Sämmtliche Juden haben sich entweder verborgen oder sind entflohen«.  Ebd.  Schreiben des Staats-Ministeriums des Innern an die Regierung des Regenkreises vom . September . StAA, Nr.  (abgedruckt in Erb/Bergmann, Nachseite, S. ). Günther berichtet ebenfalls von heimlichen Umtrieben und Drohbriefen, u. a. wird die angebliche Entlassung Brendels durch den Senat der Universität verkündet (Würzburger Chronik, S. ).  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  f.; aufgrund eines Drohbriefes waren von der Frau des Hauswirts ein Mordkomplott und ein Brandanschlag auf ihr eigenes Haus fingiert worden, um Brendel aus dem Haus zu bekommen (Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. ).

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aufgehängt wurde, wobei die Täter sich den Spottruf »Achhie« zuriefen. Drei der fünf Täter, Schumachergesellen, wurden der Stadt verwiesen.43 In weiteren Gewalt androhenden Briefen, in denen den Juden »strafbarer Wucher« vorgeworfen und auf die »altherkömmlich, ehrenwerten, fränkischen Gesetze« verwiesen wurde, die »keinem Juden einen öffentlichen Laden gestatten«, richteten sich Vorwürfe und Drohungen aber auch gegen die Regierung. So wird in einem Brief (»Zur Nachricht«) die Regierung als »ungerecht und höchst saumselig« beschrieben, in einem anderen (»Euer Wohlgeboren«) wird behauptet, dass »Schurken und Juden verschwistert den Zügel der Regierung führen«, und es wird angedroht, dass der »niedergedrückte Franke seine Fesseln lösen wird, weder Militär- noch Zivilgewalt wird man achten«.44 Die Königliche Regierung war so besorgt, dass sie den Würzburger Magistrat aufforderte, eine hohe Belohung für die Entdeckung der Urheber der Drohbriefe auszusetzen, und den Gastwirten Strafen androhte, wenn in ihren Etablissements Schmäh- und Drohreden gehalten würden oder Ruhe störende Auftritte vorkämen. Magistrat und die Vorsteher der Gilden reagierten auf diese massive Kritik mit einer Loyalitätserklärung an den König und der Versicherung, nur »sehr wenige« Bürger hätten an den Unruhen teilgenommen. Sie gaben zudem dem Wunsch Ausdruck, künftig »jede Verletzung des Rechtszustandes einer Klasse von Einwohnern, welchen religiösen Glaubens sie seyn mögen« zu verhindern.45 Dahinter stand natürlich auch das Bestreben, die kostenpflichtige Anwesenheit von Militär in der Stadt abzukürzen. Doch erst nachdem die politisch Verantwortlichen der Stadt dem König zugesichert hatten, künftig an der Verhinderung solcher Vorfälle mitzuwirken, wurde die Garnison am . August abgezogen. In der Entschließung des Königs vom . August wird deutlich, dass er mit dem ausgebliebenen Widerstand der Bürger gegen die Gewalt in ihrer Stadt unzufrieden war.46 Die Tatsache, dass Hep-Hep-Unruhen wenig später auch in einer ganzen Reihe anderer Städte ausbrachen, führte die Behörden zu der Annahme, dass die »Judenexzesse« organisiert worden sein müssten (»von geheimer Hand«), dabei konnte man die Drahtzieher als von außerhalb zugewandert ansehen (wandernde Hand Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. .  Beide Briefe sind abgedruckt bei Günther, Würzburger Chronik, S.  f. Diese Drohbriefe gegen die Regierung trugen dem Würzburger Magistrat heftige Vorhaltungen seitens der Königlichen Regierung ein, die die öffentliche Ordnung und den Ruf der Stadt gefährdet sah (ebd., S. ).  Augsburger Allgemeine Zeitung vom . August , zit. nach Katz, S. .  »Seine königliche Majestät haben […] ausdrücklich erklärt, dass Allerhöchst dieselben Attentate solcher Art, wie sie dahier vorgefallen sind, nimmermehr dulden zu können und wollen, und dass, wenn ein zügelloser Haufe in der patriotischen Gegenwirkung des größern Theiles der Bürgerschaft kein hinlängliches Gegengewicht fände, die Gesamtgemeinde sich die Folgen der sodann unabwendbaren […] Maaßregeln selbst zuzuschreiben habe.« Königliche Entschließung vom . August , mitgeteilt durch Regierungsentschließung der Regierung des Untermainkreises vom . August , zit. nach GehringMünzel, Vom Schutzjuden, S. .

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werksburschen) oder aber hinter den »planmäßig angelegten Umtrieben« eine langjährig geplante Verschwörung vermuten, oder aber die Anstifter in den Reihen der Würzburger Kaufleute selbst suchen.47 Bei der Kreisregierung und beim Stadtkommissär, der Mitglied der Regierung und nicht des Magistrats war, kam sogar der Verdacht auf, dass es zwischen den Verschwörern und Angehörigen des Magistrats eine Verbindung gäbe. Diese Verbindung erscheint insofern sehr plausibel, als Würzburger Kaufleute im Magistrat und im Gemeindekollegium die Mehrheit hatten.48 Die Regierung verwarnte den Magistrat, rügte ihn in scharfem Ton für sein nachlässiges Vorgehen, forderte alle Amtspersonen zur Mithilfe »bei der Entdeckung aller verdächtigen Umtriebe« auf und setzte sogar eine hohe Belohung für Hinweise auf die Identität der Verfasser der entdeckten Drohbriefe aus.49 Wie ernst es der Regierung war, ist daraus zu ersehen, dass der Stadtkommissär bei Fortdauer der Exzesse mit dem Entzug der der Stadt gerade zuerkannten Selbstverwaltung drohte, zum anderen, dass sie Anfang September der Stadt drohte, im Bedarfsfalle wieder eine starke Garnison zu stationieren oder sogar das Standrecht zu verhängen. Als diese Entschließung der Regierung bekannt wurde, hörten ab Mitte September auch die Drohbriefe und bösartigen Lieder auf, die zur Vertreibung der Juden aufriefen.50 Es gab aber in der öffentlichen Berichterstattung über die Ereignisse auch die umgekehrte Tendenz, nämlich ihr Ausmaß und ihre Bedeutung als bloße Episode herunterzuspielen, insbesondere alles Regierungskritische abzustreiten. Die Gerichte kamen nach ihren Untersuchungen zu dem Schluss, dass es zwar strafrechtliche Vergehen gegeben habe, dass sich aber in Bezug auf die Unruhen keine Verbrechen des Landfriedensbruchs und des Tumults ereignet hätten, während das Würzburger Regierungsfiskalat eine Anklage wegen Landfriedensbruchs zu erreichen suchte, da es von der Organisation der Unruhen überzeugt war.51  Vgl. Günther, Würzburger Chronik, S.  f. Günther stellt diese Vermutungen recht ironisch dar, zumal in den wilden Spekulationen liberale Oppositionsblätter mit ihrer Kritik am wachsenden Einfluss der Juden die reaktionären Deutschtümler zu der Idee veranlasst hätten, den Pöbel zu diesen Aktionen anzureizen. »In der Tat eine ganz merkwürdige Kombination, der Liberalismus im Bunde mit der Reaktion !«, kommentiert Günther. Dabei hatte derselbe Autor, der Stadtkommissar Gessert, in seinem Bericht an die Regierung am . September  die Urheber und ihre wirtschaftlichen Motive klar benannt: »Die vielen Wahrnehmungen, die ich selber gemacht habe, überzeugen mich lebhaft, daß diese Umtriebe nur von eigennützigen, unruhigen Kaufleuten dahier ausgehen. Welcher hiesige christliche Bewohner, der nicht Tuch- und Warenkrämer ist, hat ein Interesse in dem Umstande zu suchen, daß man die Warenlager der Juden sperrt …?« (ebd., S. ). Zu dieser Auffassung neigt auch Gehring-Münzel, die zahlreiche Aussagen von Augenzeugen und aus Drohbriefen zitiert (Vom Schutzjuden, S.  ff.).  Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S.  f.  Ebd., S.  f.  Ebd., S.  f.: dort ist auch das Lied »Aufmarsch der Juden« abgedruckt.  Bericht des kgl. bayerischen Fiskalats,  (Katz, S. ), siehe auch Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S.  f.: »Die vorherige Zusammenkunft dieser Leute, die nachherigen Versammlungen derselben an denselben Plätzen und zu derselben Zeit, die gemeinschaftliche

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Der Magistrat, eingeklemmt zwischen den Forderungen der Königlichen Regierung und der judenfeindlichen Stimmung unter ihren Bürgern und in seinen eigenen Reihen, sorgte zwar einerseits für die Sicherheit der Juden in der Stadt, begann andererseits aber, deren Aufenthaltsrecht in der Stadt genauer zu prüfen und sie bei fehlenden Nachweisen auch auszuweisen.52 Der Magistrat ging dabei offenbar sehr schikanös und unnachgiebig vor, so dass der bayrische Innenminister Friedrich Karl Graf von Thürheim gegenüber dem amtierenden Regierungsdirektor die Befürchtung äußerte, dass diese Praxis »von dem Pöbel sehr leicht als Belohnung seiner verübten Frevel angesehen werden dürfte«.53 Durch die Intervention der Regierung des Untermainkreises wurde die rigide Politik des Magistrats dann abgeschwächt, so dass statt sieben nur zwei Juden ausgewiesen wurden. Nach Meinung des jüdischen Augenzeugen Leser Kraft bewahrheitete sich aber dennoch die Befürchtung des Innenministers, denn die Untersuchung wurde von christlichen wie jüdischen Zeitgenossen als »Erfolg« der Ausschreitungen verstanden.54 Für den Bankier Jakob von Hirsch bildeten die Unruhen jedenfalls den letzten Anstoß, Würzburg noch im selben Jahr in Richtung München zu verlassen. Die Würzburger Juden mussten in der Folgezeit mit deutlichen Zurücksetzungen leben, so wurden ihre Mitglieder etwa von einer feierlichen Parade der Landwehr am . August  ausgeschlossen, und es kam schon am nächsten Tag wieder zu einzelnen Angriffen auf Juden in der Stadt. Die Ausbreitung der Gewaltwelle im Deutschen Bund Die Würzburger Ereignisse erregten in zahlreichen Ländern des Deutschen Bundes und in den europäischen Nachbarländern großes Aufsehen und wirkten als Auslöser für weitere Unruhen. Die Tatsache, dass die antijüdische Gewalt an vielen anderen Orten in Deutschland und bis ins dänische Kopenhagen Nachahmung fand, ist ein Beleg dafür, dass ihr nicht allein lokale Würzburger Umstände zugrunde lagen, sondern dass sie Ausdruck einer verbreiteten Problemlage war. Jacob Katz spricht von einer »ideologischen antijüdischen Gärung«, die durch die auf dem Wiener Kongress auf die politische Tagesordnung geratene Diskussion um die Stellung der Juden, insbesondere was die vollen bürgerlichen Rechte an ihrem Wohnsitz betraf, ausgelöst worden war und in der sich Emanzipationsbefürworter

Bewegung zu den Bestimmungs Orten, die Art der Leitung des Zuges und die Aneiferung, die gewählten Mittel, welche zur Ausführung derselben That dienlich waren, und die Gemeinschaft des Zweckes selbst, lassen keinen andern vernünftigen Entstehungs-Grund zu, als entweder vorherige Verabredung der Theilnahme, oder die Veranstaltung durch einen Dritten«.  Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. .  StAW, RA , Ministerialanfrage vom . August , zit. nach Gehring-Münzel, Vom Schutzjuden, S. .  Ebd.

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und -gegner scharf bekämpften und dabei die »Gewaltfrage« ins Spiel brachten.55 Die antijüdische Agitation war nicht auf den lokalen Rahmen begrenzt, wie im Fall der Schrift Scheurings, sondern es gab prominente Autoren wie den Heidelberger Philosophen Jakob Friedrich Fries,56 den Jenenser Historiker Friedrich Rühs oder den Hamburger Ludolf Holst, deren Schriften, in denen sie Gewaltreaktionen der Bevölkerung an die Wand malten, wenn man den Juden größere Rechte einräumte, statt sie zu beschränken, reichsweit gelesen wurden. Jacob Katz hat hervorgehoben, dass eine antijüdische Propaganda in allen deutschen Städten verbreitet war, in denen beklagt wurde, dass »diese unwillkommenen Fremden schon mehr, als ihnen zukam, erreicht hatten, und es die Pflicht der Regierungen sei, diese Errungenschaft zu beschränken und gewiß nicht zu erweitern«. Manche Autoren hätten auch gewarnt, »wenn die Regierung nicht die entsprechenden Maßnahmen ergreife, es dazu kommen könnte, daß die Volksmenge zur Selbsthilfe schreiten werde, wie es schon in vorigen Generationen geschehen sei …«.57 Nach Katz hallten »Gedanken an Mord und Vertreibung von Juden […] selbst in den Äußerungen Wohlgesinnter wider«, wobei die Verteidiger der Juden sehr wohl sahen, dass die Gewaltdrohungen und -phantasien der Judenfeinde die Gefahr tatsächlicher Gewaltausbrüche erhöhten.58 Als noch stärkerer Gewaltanreiz wirkten allerdings die antijüdischen Ausschreitungen selbst; die Würzburger Ereignisse wurden zum Fanal für eine ganze Kette von weiteren Unruhen. Die Allgemeine Zeitung aus Frankfurt schrieb bereits am . August: »Wer die gegen die Juden fast überall herrschende allgemeine Stimmung kennt, der sagte schon bei der ersten Nachricht von den Auftritten in Würzburg eine Wiederholung derselben an anderen Orten voraus«.59 Die Ereignisse griffen pogromtypisch zunächst auf die unmittelbare Nachbarschaft Würzburgs nach Heidingsfeld über, wohin sich viele Würzburger Juden geflüchtet hatten. Dort begannen bereits am . August  Ausschreitungen und »Hep-Hep«-Rufe. In Brandbriefen wurde mit Feuer gedroht, und als am . August ein Feuer in dem Städtchen ausbrach, wurde den jüdischen Mietern von ihren christlichen Vermietern gekündigt. Trotzdem kam es zu weiteren Brandstiftungen und zu antijüdischen Schikanen der aus Würzburg angerückten Feuerwehr.60 Die Regierung des Untermainkreises reagierte schnell und verurteilte nicht nur die vorgefallenen Exzesse, sondern übertrug den Land- und Herrschaftsgerichten und den  Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen, S.  f. Vgl. dazu auch Erb/Bergmann, Nachtseite der Judenemanzipation, zu den zahlreichen Schriften der Jahre -.  Jakob Friedrich Fries, Über die Gefährdung des Wohlstandes und des Charakters der Deutschen durch die Juden, Heidelberg ; Ludolf Holst, Über das Verhältnis der Juden zu den Christen in den deutschen Handelstädten, Leipzig ; Friedrich Rühs, Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht. Mit einem Anhang über die Geschichte der Juden in Spanien, Berlin .  Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen, S.  f.  Ebd., S.  f.; vgl. zu diesen Diskussionen und Gewaltvorstellungen auch Erb/Bergmann, Nachtseite der Judenemanzipation, Kap. III und V.  Allgemeine Zeitung, . August , S.  (zit. nach Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. ).  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .

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städtischen Magistraten die »schärfste Aufsicht unter eigener Verantwortlichkeit« und machte die Gemeinden kollektiv für die bei den Juden angerichteten Schäden haftbar.61 Es folgten ab dem . August mehrtägige Ausschreitungen in Bamberg, in denen die Fensterscheiben von Juden bewohnter Häuser eingeworfen wurden, obwohl Patrouillen der Bürgerwehr eingerichtet worden waren. Erst ab dem . Juli kehrte wieder Ruhe ein. Ein ähnliches Muster zeigen die Krawalle am . und . August in Bayreuth, wo es bereits seit dem . August Drohbriefe und »Hep-Hep«-Rufe gegeben hatte. Die Unruhen blieben aber nicht auf die Städte begrenzt, sondern es kam in Ober- und Unterfranken auch in kleineren Orten und auf dem Lande zu »Hep-Hep«-Rufen und Übergriffen. So wurden am . August in Sommerach (Unterfranken) und in Rimpar und Leinach bei Würzburg die Synagogen verwüstet, und in der gleichen Nacht zogen die christlichen Einwohner Burgkunstadts mit »Hep-Hep«-Rufen durch die vor allem von Juden bewohnte Unterstadt.62 Außerhalb Ober- und Unterfrankens blieb es in Bayern weitgehend ruhig, es kam nur zu kleineren Vorfällen und Drohbriefen etwa in Regensburg, wo die sofort ergriffenen militärischen Schutzmaßnahmen weitere Eskalationen verhinderten, sowie in Fürth und Zirndorf. Frankfurt am Main Die Vorgänge in Würzburg fanden schnell in Frankfurt und im Großherzogtum Hessen Nachahmung. In Frankfurt gab es dafür begünstigende lokale Bedingungen. Zunächst gehörte Frankfurt zu den Reichsstädten, die an den alten restriktiven Regelungen die Juden betreffend festgehalten hatten, bis sie, wie in Frankfurt durch Karl Theodor von Dalberg, von  bis  Großherzog von Frankfurt, im Zuge der napoleonischen Besatzung zur Einführung von Emanzipationsgesetzen gezwungen worden waren. Diese versuchte Frankfurt auf dem Wiener Kongress wieder rückgängig zu machen, und es kam zwischen  und  zu einem Kampf um das Judenregulativ zwischen dem Senat der Stadt Frankfurt und der Israelitischen Gemeinde.63 Der Rat, der Senat und die Bürger, vor allem die Vorsteher  Entschließung der Regierung des Untermainkreises, Kammer des Innern, an den Stadtmagistrat zu Aschaffenburg und Schweinfurt und an sämtliche Land- und Herrschaftsgerichte, Würzburg, . August  [Staatsarchiv Würzburg: Gericht Schweinfurt ), abgedruckt in Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  f.  Ebd., S.  ff. Vgl. dazu »Verfügung des Landgerichts Weismain an den Magistrat zu Burgkunstadt, . August «, abgedruckt bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , in der der Magistrat aufgefordert wird, Anzeige über die gemeldeten Vorfälle zu erstatten und eine Landwehr-Compagnie von  Mann zu bewaffnen.  Vgl. dazu ausführlich: Siegfried Scheuermann, Der Kampf der Frankfurter Juden um ihre Gleichberechtigung (-), phil. Diss. Universität Würzburg, Kallmünz , S. - und -; Dietmar Preissler, Frühantisemitismus in der Freien Stadt Frankfurt und im Großherzogtum Hessen ( bis ), Heidelberg , S.  f. Auch Katz betont, dass sich durch die jahrlange Auseinandersetzung über die künftige Rechtsstellung der Juden

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der Gilden und die Kaufleute wachten eifersüchtig über die rechtlichen Beschränkungen und fürchteten, bei der Gewährung aller Rechte für die Juden in wenigen Jahren zu deren Dienern herabzusinken und auf eine »Christengasse« beschränkt zu werden.64 Im Sommer  stand die Frage der Verhältnisse der Juden in Frankfurt wieder ganz oben auf der Tagesordnung, da Senat und gesetzgebender Ausschuss von der Kommission des Bundestages aufgefordert worden waren, endlich eine verbindliche Regelung zu verabschieden. Neben dem Streit um das Judenregulativ tobte auch eine Auseinandersetzung um die aufgrund der Missernten von / hohen Getreidepreise, wobei sich die Verwürfe des Kornwuchers vor allem gegen Juden richteten. Der Kampf wurde in einem öffentlichen Flugschriftenstreit ausgefochten.65 Jüdische wie christliche Kaufleute und Bankiers hatten gleichermaßen von den napoleonischen Kriegen profitiert, die wiederum die heimische Industrie ruiniert und viele Menschen arbeitslos gemacht hatten. Deren zunehmende Verarmung kontrastierte mit dem wahrnehmbaren Aufstieg der Juden, die für diese Verschlechterung der Verhältnisse verantwortlich gemacht wurden.66 Am . Juli  legten die Deputierten des Frankfurter Senats einen »Entwurf eines Gesetzes der freien Stadt Frankfurt zur Festlegung der privatbürgerlichen Rechte der Juden« vor, der bei der Bundestagskommission keinen Beifall fand, die vielmehr zahlreiche Änderungen zugunsten der Juden forderte. Noch bevor der Vorstand der jüdischen Gemeinde auf den geänderten Entwurf reagieren konnte, brachen in Frankfurt die Hep-Hep-Unruhen aus.67 Als die ersten Nachrichten über die Würzburger Ereignisse in Frankfurt einliefen, die in einer Frankfurter Zeitung (am . August) mit einem aufhetzenden

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

 

in Frankfurt die Gegensätze zwischen Juden und der Stadt verschärft hätten (Hep-HepVerfolgungen, S. ). Vgl. die ausführliche Darstellung der Verhandlungen in den gesetzgebenden Körperschaften Frankfurts sowie in der Bundesversammlung in: Paul Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. : Der Gang der Ereignisse, hrsg. vom Kuratorium für jüdische Geschichte e. V. Frankfurt a. M. Bearbeitet und vollendet durch Hans-Otto Schemps, Darmstadt , IV., S.  ff. Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. . Es war vor allem die gesetzgebende Bürgerversammlung, in der Vertreter der Kaufleute, Handwerker und Kleinbürger saßen, die nach Katz an den alten Vorurteilen festhielten und in den Juden vor allem Konkurrenten erblickten, aber auch ideologisch mit dem gefährdeten christlichen Charakter der Stadt argumentierten. Nach Katz herrschte in der Stadt eine Atmosphäre der Judenfeindschaft (Hep-Hep-Verfolgungen, S.  f.). Nach Arnsberg verfolgte der Frankfurter Senat jedoch keine judenfeindliche Politik, sondern eine ausgesprochen prochristliche, eine, die diesem Bevölkerungsteil nicht abträglich sein sollte. Innerjüdische Angelegenheiten wurden »huldreich« behandelt (Die Geschichte der Frankfurter Juden, S. ). Dazu Preissler, Frühantisemitismus, S. . Scheuermann, Der Kampf der Frankfurter Juden, widmet der literarischen Fehde über den sog. Frankfurter Prozess, die Frankfurter Juden hatten nämlich als letztes Mittel in ihrer Sache den Bundestag als Richter in diesem Streit angerufen, ein eigenes Kapitel (), S. -. Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. . Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden, S. .

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Kommentierung versehen wurden,68 kam es in den Straßen schon am . August zu »Hep-Hep«- und »Jude verreck«-Rufen, allerdings, wie die Allgemeine Zeitung zu berichten wusste, in einer »freundlichen Art«, und eine Menschenmenge trieb sich im jüdischen Viertel herum.69 Am . August gab es in Frankfurt eine erste Reiberei zwischen christlichen Handelslehrlingen und Juden vor der Briefpost, wobei Letztere auf die Verteilung der Post wartend von Ersteren hinausgeworfen wurden. Es kam dabei zu ersten Tätlichkeiten. Obwohl die Kirche am . und auch am Sonntag, den . August von den Kanzeln die Krawalle verurteilen ließ, gingen die Reibereien vor der Post weiter und zwei Tage später sollten die Unruhen größere Ausmaße annehmen, ohne jedoch das Gewaltniveau der Würzburger Ausschreitungen zu erreichen, da es bei Reibereien, Belästigungen und Steinwürfen blieb. Auslöser dafür war das pogromtypische Gerücht, »dass Juden einen Christen geschlagen hätten«.70 Am Sonntag (. August) ließ man Polizeistreifen in der Judengasse patrouillieren, dennoch kam es am Nachmittag dazu, dass Juden von der öffentlichen Promenade der Stadt vertrieben wurden. Am Abend drangen zunächst Dutzende, dann »einige Hundert Menschen«,71 die mit Knüppeln, Steinen und Messern bewaffnet waren, in die Judengasse und die angrenzenden Straßen ein, um die Fenster einzuwerfen, wodurch etliche Juden verletzt wurden, Schüsse abzufeuern, die Wohnungen reicherer Juden zu verwüsten72 und Juden zu attackieren, die sich auf die Straße wagten. Von den auf beiden Seiten abgefeuerten Schüssen sollen auf beiden Seiten    

Vgl. Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S.  f. Sterling, Anti-Jewish-Riots in Germany , S.  f. Preissler, Frühantisemitismus, S.  f. Ebd., S. . Zum Verlauf der Unruhen in Frankfurt siehe: Bericht des bayrischen Gesandten von Aretin an die Regierung in München. Frankfurt, . August , abgedruckt in Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , wo von einem »Volkshaufe« von »ungefähr  Menschen, großentheils aus Straßenjungen, Studenten, Handwerksburschen und Handlungs-Commis, dann Einwohnern aus Sachsenhausen bestehend«, die Rede ist. Katz erwähnt diese zeitgenössische Schätzung ebenfalls, wonach . Menschen zur Judengasse und in die Nachbarstraßen gezogen seien (Hep-Hep-Verfolgungen, S. ), während Rohrbacher von einer »offenbar nach Tausenden zählenden Menge« vor dem Geschäftshaus Rothschilds (Gewalt im Biedermeier, S. ) spricht. Nach Arnsberg wuchs die Menge vor der Konstablerwache »gefährlich auf Tausende an« (Geschichte der Frankfurter Juden, S. ). Dies zeigt einmal mehr, wie unsicher solche Angaben über die Größe einer Menschenmenge sind.  Auch das Geschäftshaus der Familie Rothschild wurde angegriffen, was große Besorgnis im Rat des Bundestages auslöste, der in der Stadt versammelt war, da dessen Gelder dort deponiert waren. Die Gesandten der deutschen Staaten nahmen daraufhin ihre Einlagen in ihre Wohnungen mit. Der Präsident des Rates schlug dem Senat der Stadt vor, Truppen aus Mainz zur Hilfe holen zu lassen, was für diesen sehr demütigend war und entsprechend abgelehnt wurde (in: Allgemeine Zeitung, . August ). Die Gesandten übten erheblichen Druck auf den Frankfurter Senat aus, indem sie ihre Regierungen von den Vorfällen in Kenntnis setzten, was am . August sogar zu einer Ministerkonferenz in Karlsbad führte. Auch James Rothschild wandte sich an Metternich um Hilfe, dieser schickte per Kurier entsprechende Mitteilungen nach Frankfurt (Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. -).

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Personen verletzt worden sein. Erst zwei Stunden nach Beginn der Unruhen setzte der Senat die Landwehr ein, die »mit gefälltem Bajonett und Kolbenstößen eingriff und die Judengasse von Tumultuanten säuberte«. Es kam auch zu Verhaftungen, doch musste der jüngere Bürgermeister die Inhaftierten wieder freilassen, um die bedrohlich angewachsene Menge vor der Konstablerwache zu beruhigen.73 Die in Frankfurt ansässigen Gesandten der Mächte des Deutschen Bundes ließen keinen Zweifel aufkommen, dass im Falle, dass die Stadt Frankfurt sie nicht beschützte, man Militär aus der Mainzer Garnison in die Stadt rufen würde.74 Der Senat ließ deshalb spät am Abend noch das städtische Militär und die bürgerliche Kavallerie eingreifen, die bis ein Uhr nachts auf den gefährdeten Straßen die Ruhe wiederherstellten.75 Trotz der Gegenmaßnahmen des Senats, der alle verfügbaren Ordnungskräfte der Stadt auf bot und überall Wachen postierte, die Loyalität der Frankfurter Bürger proklamierte und am nächsten Tag »fremdes Gesindel« aus der Stadt wies, hielten die Unruhen bis zum . August an.76 Die Frankfurter Juden blieben zu Recht skeptisch, zumal der Senat am Nachmittag des . August  eine Bekanntmachung an die Bevölkerung anschlagen ließ, in der die Unruhen als jugendlicher Mutwille und als Nachahmung der Vorgänge an anderen Orten verharmlost wurden und der Senat zudem den Juden selbst eine Mitverantwortung zuwies, indem er diese aufforderte, jede Veranlassung zur Beunruhigung der Stadt zu vermeiden und den christlichen Einwohnern durch »unbescheidenes Benehmen und durch Anmaßung« keinen Grund zur Beschwerde zu geben.77 Am . August wurden am Dom Plakate angeschlagen, in denen zu Judenverfolgungen und zum Ungehorsam und zur Ablehnung des Dienstes in der Landwehr aufgerufen wurde. Es mussten Truppen aufgeboten werden, um die Unruhen zu beenden, da sich bei Einbruch der Dunkelheit erneut viele Menschen sammelten und vor der Konstablerwache und in den angrenzenden Straßen wieder Fensterscheiben einschlugen. Es waren in diesen Tagen weiterhin »Hep-Hep«-Rufe zu hören, und einzelne Juden, die sich auf die Straße wagten, wurden misshandelt, doch kam es nicht mehr zu größeren Störungen.78 Erst der Einsatz von Militär ermöglichte den nach Darmstadt, Hanau, Offenbach und anderen umliegenden Orten geflohenen Juden die Rückkehr nach Frankfurt. Die Truppen und die Polizei sicherten das Ghettogebiet

 Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden, S. . Preissler interpretiert dieses Verhalten des Bürgermeisters als Ausdruck einer »unverhohlenen Sympathie für die Randalierer« (Frühantisemitismus, S.  f.). Vgl. auch Scheuermann, Der Kampf der Frankfurter Juden, S. , der den »Druck der Straße« betont.  Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S.  f.; Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden, S. .  Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden, S. .  Preissler, Frühantisemitismus, S. .  Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. ; Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden, S. .  Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden, S. .

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für acht weitere Tage ab.79 Nach Preissler handelte es sich bei den Akteuren vor allem um jüngere Leute aus den unterbürgerlichen Schichten, die sich allerdings, wie schon in Würzburg deutlich wurde, der unverhohlenen Sympathie der Bürger sicher sein konnten.80 Die Frankfurter Bürger versuchten den Gewaltausbruch durch Schweigen vergessen zu machen und strengten auch keine Untersuchung an, um die möglichen Anstifter oder eventuelle Verbindungen zu den Würzburger Unruhen zu finden. Katz betont jedoch, dass der Senat Frankfurts die Ruhestörungen ernst nahm und für Ruhe und Ordnung zu sorgen versuchte, da die Stadt nun, nachdem sie es auf dem Wiener Kongress geschafft hatte, der drohenden Einverleibung in den bayrischen Staat zu entgehen, beweisen musste, die öffentliche Ordnung selbst garantieren zu können.81 Entsprechend wurden in den Proklamationen des Senats auch scharfe Strafverfolgungen angekündigt und die Hausväter verwarnt, ihre Untergebenen zu überwachen. Man verzichtete jedoch darauf, die möglichen Drahtzieher der Unruhen zu ermitteln.82 – Die Unruhen hinderten die Frankfurter Kaufleute nicht, wenige Tage später über die Einschränkung des jüdischen Hausierhandels in Frankfurt zu beraten, wobei sie auf die Unterstützung des Senats zählen konnten. Daran wird erkennbar, dass die Bürger zwar die Gewalttätigkeiten nicht guthießen, aber die Ziele der Tumultuanten durchaus teilten. Auch in den meisten anderen Orten hielt die antijüdische »Gärung« nach Wiederherstellung der Ordnung an.83 Die Unruhen bewogen den Frankfurter Senat zunächst jedoch nicht, den Juden bei der Gewährung privatbürgerlicher Rechte entgegenzukommen, so dass eine Entscheidung über den bürgerlichen Status der Juden in Frankfurt trotz des Drucks von Seiten der Bundesversammlung und insbesondere Metternichs die politischen Gremien noch lange beschäftigen sollte.84

 Die jüdische Gemeinde bedankte sich bei den Bürgermeistern für die Bekämpfung der Unruhen und zahlte sogar eine Gratifikation an die Bürgerwehr (Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. ).  Preissler, Frühantisemitismus, S.  f. Als Täter werden »Gehilfen, Commis, Lehrlinge, Gesellen und Arbeiter« genannt. Arnsberg spricht von Handlungsdienern und stadtfremdem Volk (Geschichte der Frankfurter Juden, S. ). Man hatte offenbar auch Handlungsgehilfen festgenommen, die auf öffentlichen Plätzen Hetzparolen anschlugen (S. ).  Um dieser Aufgabe nachzukommen, bewilligte die Gesetzgebende Versammlung des Deutschen Bundes dem Frankfurter Senat auf dessen Antrag hin einen Kredit von . Gulden zur vorübergehenden Verstärkung der Polizei. Vgl. Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden, S. .  Ebd.  Ebd., S. .  Ebd., S.  ff.

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Großherzogtum und Kurfürstentum Hessen Als die Frankfurter Unruhen wieder unter Kontrolle waren, begannen am . August die Exzesse in Darmstadt, wo sich »eine nicht unbeträchtliche Menge« in zwei Gassen versammelte, in denen mehrere Juden wohnten. Bis Mitternacht wurden durch Steinwürfe Fenster und Läden der jüdischen Häuser zerstört, Vorgänge, die sich am nächsten Tag unter noch größerer Beteiligung von »unerwachsenen Menschen, Lehrlingen und Handwerksgesellen« wiederholten.85 Erst am . August gelang es der Landwehr mit Mühe, weitere Gewalttaten zu verhindern. Im Großherzogtum Hessen gab es Unruhen in weiteren Orten, und sie erreichten auch Mainz. Das Darmstädter Staatsministerium ging energisch gegen die Tumultuanten vor, da die »polizeiwidrigen Angriffe gegen Israeliten« nicht in ein Zeitalter passen wollten, »in welchem man mit Aufklärung und liberalen Gesinnungen so gern zu prunken pflegt«. Dem sollten »kräftige Maßregeln entgegengesetzt werden«.86 Durch die am . September  ergangene Ankündigung, die Gemeinden für weitere Schäden haftbar zu machen (allerdings »vorbehältlich ihres Rückgriffs gegen die Schuldigen«), sollten die Verantwortlichen vor Ort zum Durchgreifen gezwungen werden.87 Anlass für diese gewalttätige »Gegenreaktion« wird nach Eckart G. Franz die von Regierungsseite »geförderte Einbeziehung der Juden in den neuen Staat und seine bürgerliche Gesellschaft gewesen sein«.88 In Kurhessen gab es Unruhen vor allem in Fulda und Kassel, aber auch in kleineren Orten. Nachdem in Fulda bereits am . August erste Drohungen, Steinwürfe und »Hep-Hep«-Rufe seitens kleinerer Gruppen junger Leute und Handwerksburschen registriert worden waren, blieb es in der Stadt unruhig, und am . wurde am Morgen in einem »Circular an die Bürger der Stadt Fulda« dazu aufgerufen, die Juden wie in Würzburg und Frankfurt aus der Stadt hinauszuprügeln, was in den Abendstunden dann zu erneuten Zusammenrottungen junger Leute führte. Doch konnte ein Ausbruch der Gewalt durch Militärpatrouillen verhindert werden.89 Die Nachrichten über die Unruhen in Fulda und die Vorgänge in Würzburg und Frankfurt sorgten auch auf dem Lande rings um Fulda für entsprechende Gerüchte  Preissler, Frühantisemitismus, S.  f. Der preußische Gesandte von Otterstedt berichtete am . August nach Berlin, dass sich »in der Großen und Kleinen Ochsengasse eine ungewöhnliche Menge Menschen versammelt« hatte. In der folgenden Nacht hatten sich »noch mehr Menschen zusammengerottet, alle gütlichen Aufforderungen, sich zu entfernen, nicht geachtet und Exzesse mancherlei Art begangen. Es wurden mehreren Juden die Fenster eingeworfen« (Eckhart G. Franz (Hrsg.), Juden als Darmstädter Bürger, Darmstadt , S. ).  Franz, Juden als Darmstädter Bürger, S. . Beruhigend fügte das Staatsministerium jedoch hinzu, dass an »den Unordnungen kein solider rechtlicher Bürger und kein achtbarer Familienvater Anteil genommen habe«.  Franz, Juden als Darmstädter Bürger, S. .  Ebd.  waren nach einer längeren Phase einer restriktiven Ansiedlungspolitik gleich zehn prominente Mitglieder der jüdischen Kaufmannschaft als Darmstädter Bürger aufgenommen worden (S. ).  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .

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und Befürchtungen, doch kam es nicht zu Übergriffen. Bis in den Oktober hinein waren aber an vielen Orten Kurhessens antijüdische Umtriebe zu verzeichnen, die sich abgesehen von gelegentlichen Steinwürfen zumeist in Drohungen, Gerüchten und Flugschriften sowie Anschlägen mit entsprechenden Gewaltaufrufen manifestierten, die Gegenmaßnahmen der Behörden auslösten. Diese Art von Vorkommnissen fand sich nach Rohrbacher auch im württembergischen Franken, wo vielerorts »Hep-Hep«-Rufe und ähnliche »Neckereien« sowie Drohbriefe und Steinwürfe berichtet wurden, während es in den übrigen Gebieten des Königreichs Württemberg ruhig blieb.90 Großherzogtum Baden Dies galt nicht für das angrenzende Großherzogtum Baden, wo es in der zweiten Augusthälfte sowohl in den Handelsstädten wie auch auf dem Lande zu erheblichen Ausschreitungen kam. In dem Bericht eines Heidelberger Regierungskommissars wurden die Ursachen der Hep-Hep-Unruhen benannt: »Als Motiv der Judenmißhandlungen gibt man allgemein derselben schnelles Emporkommen in allen Bereichen, deren angebliche Begünstigungen durch die Regierung, sodann den Handwerksneid an, weil einigen Juden verstattet wurde, mit Meubles zu handeln«.91 Ähnlich äußerte sich der Minister des Innern, Ernst Philipp Freiherr von Sensburg,92 über die Ursachen der Unruhen, indem er zugleich auf die Widersprüchlichkeit der christlichen Forderungen verwies. »Ackerbau und zünftige Profession habe der Christ voraus und will sie dem Juden nicht zulassen. Auf der anderen Seite wolle man den Juden Handel abgewöhnen, auf der anderen Seite sie von Ackerbau und Gewerbe fernhalten«.93 Verhandelt wurde also der Status  Ebd., S.  f. Über Vorfälle in Württemberg, hier in den Oberämtern Mergentheim, Künzelsau und Crailsheim, berichtet Jeggle (Judendörfer in Württemberg, S. -). Es handelte sich dabei um vielerorts vorkommende »Neckereien« und Zettel mit Drohungen gegen die Juden, die in einigen Orten, wie Berlichingen, auch zu Steinwürfen einiger junger Burschen gegen einige jüdische Häuser oder zu physischer Gewalt eines betrunkenen Soldaten gegen einen einzelnen Juden ausarten konnten. Deutlich werden bei diesen Vorfällen einerseits die geringe Einsatzbereitschaft bzw. die Hilfslosigkeit von örtlichen Amtspersonen (Polizeidiener, Gemeindevorsteher), das Zusammenhalten der christlichen Dorfgemeinschaften, die nichts gesehen haben wollten, aber auch die Versuche von höheren Stellen, die Vorfälle zu untersuchen, auch wenn diese Untersuchungen meist nichts erbrachten und nur selten zur Bestrafung von Tätern führten. Jeggle berichtet von einem Fall in Künzelsau, wo »Hep-Hep«-Rufe von Erwachsenen mit einer Geldstrafe, von Kindern mit »Rutenstreichen« zur Erlernung von Toleranz geahndet wurden (S. ).  Jürgen Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, hrsg. vom Landratsamt Karlsruhe, Karlsruhe o. J., S. .  Ernst Philipp Freiherr von Sensburg (-) war ein badischer Minister und Diplomat. Er stammte aus einer jüdischen Familie. Sein Vater war zusammen mit seinen Kindern konvertiert.  Jürgen Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal – mit einem Beitrag von Thomas Adam, Ubstadt-Weiher , S. .

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des jüdischen Bürgers in der ländlichen wie der städtischen Gemeinschaft, womit zugleich deren eigener Status tangiert war. Die Begünstigung seitens der Regierung betraf ja vor allem die Fragen des Ortsbürgerrechts und der Aufhebung von Handelsbeschränkungen. Aber auch auf andere Maßnahmen, die Juden zu bevorzugen schienen, wurde schnell mit Gewalt reagiert. Während sich am ./. August in Karlsruhe und auch in Mannheim die judenfeindlichen Aktionen auf den Anschlag von Drohplakaten, Kaffeehausdiskussionen, »Hep-Hep«-Rufen und vereinzelten Übergriffen beschränkten, brachen zwischen dem . und . August  die ersten größeren Ausschreitungen in kleineren Städten, wie Pforzheim, Bühl sowie Heidelsheim94 und Untergrombach,95 beide zwischen Bruchsal und Karlsruhe gelegen, aus, die in einigen Fällen erst durch herbeigerufenes Militär unterdrückt werden konnten.96 Die badischen Autoritäten gingen gegen die Unruhen energisch vor. So drohte das badische Innenministerium in einem Erlass vom . August  ein hartes Vorgehen an.97 In Heidelsheim sollten auf Anordnung des Ministeriums alle Heidelsheimer Bürger einbestellt und ihnen eine Frist von  Stunden eingeräumt werden, um die Täter zu benennen, die dann für den angerichteten Schaden aufkommen müssten. Sollte dies erfolglos sein, so sollte der betreffende Geldbetrag ohne Verzug von der gesamten Gemeinde eingetrieben werden. Die Heidelsheimer beugten sich diesem Druck nicht und behielten die Namen der Täter für sich.98 Zu großen Ausschreitungen kam es dann in den beiden größeren Städten Heidelberg und Karlsruhe. In Heidelberg waren schon einige Tage »Hep-Hep«-Rufe zu hören gewesen, aber von den Behörden als nicht gefährlich eingestuft worden, bis dann am . August der sog. »Heidelberger Judensturm« losbrach.99 Über die erste zur Eskalation führende Entwicklung gibt es widerstreitende Berichte von  Nach einem Bericht der Weimarischen Zeitung vom .. konnte man der Ausschreitungen in Heidelsheim nur durch den Einsatz von Militär Herr werden (Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ). Knapp zwei Wochen später wurde der Weinberg des Vorstehers der jüdischen Gemeinde und weiterer Juden verwüstet. Als Auslöser für diese neuerlichen Übergriffe nannte das Bruchsaler Oberamt die angebliche Bevorzugung von zwei »Judensöhnen« bei einer Musterung (Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal, S.  f.).  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Ebenfalls  wurde die jüdische Leichenhalle auf dem Friedhof in Obergrombach angezündet, und es kam dort zu weiteren Akten des Vandalismus (Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal, S. ).  Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. ; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .  Reinhard Rürup, Die Judenemanzipation in Baden, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins , , S. -, hier S. .  Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal, S. . In Heidelsheim kam es  und  wiederum zu »kleinen Ausschreitungen und Sachbeschädigungen« gegen die jüdischen Einwohner (Otto Härdle, Heidelsheim. Geschichte und Bild einer ehemaligen Reichsstadt, Heidelsheim , S. ).  gab es in Heidelsheim erneut Ausschreitungen gegen die ansässigen Juden (s. u.). Heidelsheim ist heute ein Ortsteil von Bruchsal.  Nach Michael Anthony Riff gibt es widerstreitende Berichte über einen allerdings isoliert bleibenden Vorfall (»Erdmann-Affäre«) in Heidelberg im März  (The Anti-Jewish

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Seiten des Stadtdirektors und in der Darstellung der Neuen Speyerer Zeitung.100 Ob nun, wie die Zeitung behauptet, ein jüdisches Mädchen durch einen Bürger beleidigt und dieser dann verhaftet und durch die Bürgermiliz eigenmächtig befreit wurde,101 oder ob ein Müllermeister am . August wegen seiner »Hep«-Rufe und Morddrohungen vor der Wohnung eines Juden arretiert, am nächsten Morgen aus dem Arrest geflohen war und von einigen Grenadieren oder Bürgern gegen eine Wiederverhaftung durch den Polizeidiener geschützt worden war, in jedem Fall scheinen Ereignisse dieser Art, die typische Trigger-Ereignisse darstellen, den Anlass für die Zuspitzung der antijüdischen Erregung an diesem Tage gegeben zu haben.102 Der Ausbruch von Gewalt wurde dadurch begünstigt, dass der Großherzog an diesem Tage Namenstag hatte und so eine größere Menschenmenge in Volksfeststimmung auf den Straßen unterwegs war und den ganzen Tag Gerüchte kursierten, es sei für die Nacht ein »Juden-Lärm« verabredet. Nachdem zunächst nur Neckereien und grobe Scherze zu hören gewesen waren, sammelten sich am Abend des . August »Schaaren von Heppmännern«, wohl vor allem Handwerksburschen und Straßenjungen, und zogen mit Äxten und Brecheisen bewaffnet in die Judengasse, wo sie im Laufe der Aktion von einer größeren Menschenmenge unterstützt in die Häuser wohlhabender Juden eindrangen, sie plünderten und den Hausrat zerstörten, wobei erheblicher Sachschaden entstand.103 Die Neue Speyerer Zeitung hebt besonders hervor, dass die Plünderer drei Stunden lang ungestört agieren konnten und weder Polizei noch die an dem Tag in der Stadt paradierende und unter Waffen stehende Bürgergarde eingegriffen hätten.104 Hilfe kam denn auch

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Aspect of the Revolutionary Unrest of  in Baden and its Impact on Emancipation, in: Leo Baeck Institute Year Book , , S. -, S. ). Die Darstellung der Zeitung ist abgedruckt in Wirtz, »Widersetzlichkeiten«, S.  f.; Rohrbacher folgt der Darstellung des Stadtdirektors, Gewalt im Biedermeier, S.  ff. Diese Version zitiert auch Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , der sich auf einen Bericht der Schwäbischen Kronik vom .. bezieht. Nach Mumm seien die Juden schon am . August durch »Hep-Hep«-Rufe und Drohungen über eine bevorstehende Abrechnung angegriffen worden, so dass schließlich ein Müllermeister festgenommen wurde, der aber im Schutz der Volksmenge aus dem Rathaus wieder hatte flüchten können (Hans-Martin Mumm, »Denket nicht: ›Wir wollen’s beim Alten lassen.‹« Die Jahre der Emanzipation -, in: Norbert Giovannini, Jo-Hannes Bauer, Hans-Martin Mumm (Hrsg.), Jüdisches Leben in Heidelberg. Studien zu einer unterbrochenen Geschichte, Heidelberg , S. -, hier S. ). Nach Mumm betonten Zeitgenossen wie üblich die niedere soziale Herkunft der Tumultuanten (»Pöbel aus der Vorstadt«, eine »Menge großer und kleiner Kinder« usw.), doch sieht Mumm in den Ausschreitungen eher eine Aktion von Handwerkern, denen sich nichtzünftige Armut und Gassenjugend angeschlossen hätten. Von den Verhafteten, von denen der Stadtdirektor nur neun als Beteiligte identifizierte, waren vier nichtbadische Handwerksgesellen sowie fünf Söhne Heidelberger Bürger (darunter ein Maurer- und ein Schreinergeselle und wohl auch ein Schlosser), die zu Geldstrafen verurteilt wurden (Mumm (Hrsg.), Jüdisches Leben in Heidelberg, S.  f.). Neue Speyerer Zeitung, Nr. , vom . August , zit. nach Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. .

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nicht von dieser Seite, sondern von zweihundert Heidelberger Studenten, die die Juden vor weiteren Misshandlungen und Plünderungen bewahrten und die auch in den nächsten Tagen zusammen mit (wenigen) anderen Bürgern durch Patrouillegehen für Ruhe in der Stadt sorgten.105 Dennoch flammten am . August, einem Sonntag, noch einmal »Hep-Hep«-Rufe auf, und es gab Konflikte mit den Patrouillen. Ähnlich wie schon in Würzburg lässt sich eine sehr unterschiedliche Haltung seitens der Regierung des Neckarkreises und der Lokalbehörden bzw. der Einwohnerschaft feststellen, die anschließend auch in den Fragen der Zurechnung von Verantwortung und der Zusammensetzung der Tumultuanten zu beobachten ist. Während die Regierung den Studenten am . August ihren Dank aussprach und der Kreisdirektor sogleich Militär in die Stadt holte, hatten sich die Studenten bei den Heidelbergern, insbesondere bei den Handwerkern, mit ihrer Hilfsaktion und den vorgenommenen Verhaftungen verhasst gemacht, so dass am . August Gerüchte umliefen, man werde am Abend erneut gegen die Juden und »die hiesigen Akademiker zu Feld ziehen.«106 Es scheint so, dass sich der Unmut nun stärker gegen die Studenten richtete, und so war der militärische Schutz auch für diese gedacht. Die Neue Speyerer Zeitung erhob deshalb gegenüber den Bürgern der Stadt den Vorwurf, das Treiben der Gassenjungen mit verursacht und gebilligt zu haben.107 Für die Triftigkeit dieses Vorwurfs spricht der ausbleibende Einsatz der lokalen Ordnungskräfte wie auch die Tatsache, dass sich eine größere Menschenmenge beteiligte, in der sich auch Bürger befunden haben dürften – der am Vortag arretierte »Hep«-Rufer war ein Müllermeister, und unter den wenigen festgenommenen Tumultuanten befanden sich immerhin fünf Heidelberger Bürgersöhne. Wie Rainer Wirtz zeigt, findet sich auch in Heidelberg die Tendenz, die Unruhen in ihrer Bedeutung herunterzuspielen und auf den Pöbel zu schieben,  Nach einem zeitgenössischen Bericht wären alle jüdischen Häuser geplündert und zerstört worden, wäre nicht »plötzlich eine ungewöhnliche Hilfe gekommen […] Blitzschnell bewaffnete sich die studirende Jugend, Schläger und Hieber wurden geschwungen. Zwei unser hochgeachtetsten Lehrer, der eine Jurist, der andere Theolog, dieser versehen mit einen Rapier, jener mit einem Degen, führten ihre Zuhörer an. Ein Sieg ohne Kampf; der Feind nahm Reißaus beim Anblick der akademischen Rüstschar« (Mumm, »Denket nicht: ›Wir wollen’s beim Alten lassen‹«, S. ).  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , zitiert hier eine Quelle aus dem Universitätsarchiv. Die Anforderung von Militär wurde flankiert durch weitere Maßnahmen, so rief der Stadtdirektor die Viertel- und Zunftmeister sowie die Offiziere der Bürgergarde zusammen, um mit ihnen das weitere Vorgehen und einen Aufruf an die Bürger zu beraten (Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. ).  »Diesen edlen Sinn [der Studenten, W. B.] noch durch lobenden Commentar hervorzuheben, wäre überflüssig, zumal da es diejenigen nicht daran fehlen lassen werden, die diesen Exzessen mit stiller Freude zusahen, oder sie durch jahrelange Machination hervorgebracht haben. ›Nur Pöbel und Straßenjungen‹ waren die Thäter, wird man hier und anderwärts sagen. Aber es bleibt doch immer rätselhaft, was in so vielen Städten gerade die Gassenjungen allarmirte !!?« (Neue Speyerer Zeitung, . August ).

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während die Bürgerschaft der Stadt als friedliebend dargestellt wird.108 So zitiert er Leserbriefe aus der zuvor so kritischen Neuen Speyerer Zeitung, deren Schreiber behaupten, mehrere Heidelberger Bürger und Magistratspersonen hätten versucht, sich gegen die Gewalt zu stellen, und sogar weitere jüdische Häuser vor Plünderung bewahrt.109 Dieser Tendenz folgte auch der offizielle Untersuchungsbericht, und auch die von Bürgern und den »Herren Akademikern«, nach Beilegung ihres Streits, verfassten Kommuniqués über das Geschehen, in denen der Gewaltausbruch zu einem »Unfug« verharmlost und der Konflikt zwischen Bürgerschaft und Studenten bis zur Unkenntlichkeit abgemildert wird.110 Zeigten die lokalen Stellungnahmen wie fast immer auch hier eine Tendenz zur Verharmlosung der Vorfälle, reagierten die übergeordneten Behörden weniger nachsichtig. So sahen auch die vorgesetzten Behörden des Neckarkreises die Vorfälle kritischer, insbesondere die mangelnden Vorkehrungen bzw. »absichtsvolle Nachlässigkeit« seitens des Stadtdirektors (dessen berufliches Schicksal zur Disposition stand), die Passivität der lokalen Ordnungskräfte, die Beteiligung auch von Bürgern sowie die als gering eingeschätzte Bereitschaft der Lokalbehörden, an der Aufklärung des Geschehens mitzuwirken, die diese vielmehr blockierte.111 Auch dem von der Regierung des Neckarkreises eingesetzten »Special Commissaire« gelang es nicht, die Namen möglicher Tatbeteiligter herauszubekommen – die Heidelberger Bürger schwiegen, so dass dieser zu dem Schluss kam, dass »die Urheber der Unordnung weit ausgedehnt sind, und große Bemühungen gemacht werden, um verborgen zu bleiben«.112 Auch was die Motive angeht, kommt der Special Commissaire zu klaren Aussagen. Er verneint jegliche Verbindung zu revolutionären Umtrieben und sieht die Ursachen in dem Neid auf das schnelle Emporkommen der Juden, das durch die Regierung begünstigt würde, und in der Konkurrenz zu einheimischen Handwerkern. Dennoch ist gerade für Heidelberg der Einfluss der antisemitischen Schriften der einheimischen Professoren Jakob Friedrich Fries und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus113 von großer Bedeutung,  Mumm, »Denket nicht: ›Wir wollen’s beim Alten lassen‹«, S.  (FN ), wirft Wirtz vor, dass dieser versuche, die Bürger Heidelbergs als Haupttätergruppe hinzustellen, womit er die »Judenfeindlichkeit der Unterschichten aus dem Blickfeld« schiebe.  Neue Speyerer Zeitung, Nr. , vom . September , zit. nach Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. .  Ebd., S. . Es waren demnach nur ein paar Unverständige, die in der Einmischung der Studenten eine Anteilnahme am Judentum zu sehen glaubten, während es diesen doch nur um die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung gegangen sei. Die Bürgerschaft habe deshalb auch keinen Anteil an den »Unbilden«, die einzelne Studenten erfahren mussten. Dieses Kommuniqué übt im Übrigen auch Kritik an dem ersten Bericht der Neuen Speyerer Zeitung, der die Untätigkeit und Mitverantwortung der Heidelberger Bürger herausgestrichen hatte.  Vgl. »Aus dem Bericht des Kreisdirektors Siegel über die in Heidelberg ergriffenen Maßnahmen« (. August , abgedruckt in Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S.  f.).  Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. .  Vgl. die von Paulus herausgegebene Schrift Beiträge von jüdischen und christlichen Ge-

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da diese die Debatten um die Rechtsstellung der Juden, um die es  sowohl in der badischen Verfassung wie in der Bundesakte (Artikel ) ging, weiter anheizten und ihnen eine antijüdische Richtung gaben.114 Die Judenemanzipation war ein heißes öffentliches Thema, und die große Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere auch der gebildeten Schichten, lehnte sie ab. Umso erstaunlicher war der Einsatz der Studenten zum Schutz der Juden. Die geschädigten jüdischen Hausbesitzer klagten auf Schadensersatz, zumal der entstandene Schaden nicht unbeträchtlich war. Nach Mumm waren aber die Häuser nicht unterschiedslos angegriffen worden, sondern offenbar vor allem solche mit Geschäften, die in Beziehung zum Handwerk standen (z. B. Möbel verkauften), während benachbarte Häuser reicher Juden nicht betroffen waren. So war ein sehr hoher Schaden im Haus von Samuel Hirsch entstanden, dessen Sohn das Schreinerhandwerk erlernt und einen Möbelhandel eröffnet hatte. Der Tumult beschränkte sich aber nicht auf eine Zunft, sondern hatte das gesamte handwerkliche Milieu erfasst. Insofern scheint die These von Handwerkerprotesten gegen jüdische Geschäftstätigkeit als plausibel, doch kann man das hohe Gewaltniveau und die Judenfeindschaft als Indikatoren dafür ansehen, dass die Motive für die Tumulte über die üblichen Handwerkerproteste hinausgingen.115 Die Hemmschwelle für die gewalthaften Proteste war nach Mumm nicht einfach dadurch herabgesetzt, dass die Angegriffenen Juden waren, sondern weil die Reformen von  den Juden gegen »alles Herkommen« nun die Möglichkeit eröffneten, ihre Erwerbstätigkeit in die handwerkliche Sphäre auszudehnen. Auch für Karlsruhe gab der Minister des Innern eine ähnliche Motivlage an, nämlich den Widerwillen der christlichen Ortsbürger und Handwerker gegen die Teilhabe der Juden an Ackerbau und zünftigem Gewerbe, auch hier vor allem gegen den konzessionierten Handel mit Möbeln, doch verliefen die Ereignisse in der Residenzstadt glimpflicher, wo eine Plakatierungsaktion an jüdischen Häusern und der Synagoge den Juden »Tod und Verderben« ankündigte und es zu »Hep-Hep«Rufen auf den Straßen und zu heftigen Wirtshausdebatten und sogar zu Angriffen auf Juden durch Einzelpersonen kam. Zwei Tage nach dem »Heidelberger Judensturm« schien sich am . August in Karlsruhe etwas Ähnliches zu entwickeln, als sich am Abend eine Menschenmenge unter »Hep-Hep«-Rufen versammelte, lehrten zur Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens, Frankfurt a. M. . Zu Paulus siehe auch Werner Bergmann, Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. /, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S.  f.  Vgl. den Brief Rahel Varnhagens aus Karlsruhe, die Professoren wie Fries und Rühs, aber auch Literaten wie Achim von Arnim und Clemens Brentano vorwarf, das Volk negativ zu beeinflussen (Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eignen Lebens. Die Karlsruher Jahre -, hrsg. von H. Haering, Karlsruhe , S. ).  Mumm (Hrsg.), Jüdisches Leben in Heidelberg, S. . Sechs Juden hatten Schadensersatz angemeldet, dessen Summe sich insgesamt auf über . Gulden belief, wobei der Schaden für die einzelnen Häuser eine erhebliche Spannbreite aufwies: zwischen . und  Gulden.

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wobei die Stimmung nach Aussagen des Augenzeugen Ludwig Robert, des Bruders Rahel Varnhagens, eher karnevalesk als wirklich fanatisch-bedrohlich gewesen sein soll.116 Anders als in Heidelberg wurden hier von den vorgewarnten Behörden jedoch sofort Kavalleriepatrouillen eingesetzt, Unruhestifter verhaftet und Ausgangssperren verhängt, so dass die Lage nicht eskalierte. Bis Mitternacht war die Ruhe wiederhergestellt.117 Wirtz erklärt dies damit, dass Karlsruhe als politisches Zentrum stärker auf Ruhe und Ordnung bedacht und zudem besser mit Polizei und Militär ausgestattet war. Zudem konnte man dort die Autorität des Großherzogs zum Judenschutz nutzen.118 Nach diesen Vorfällen sind in Baden keine weiteren Vorfälle mehr registriert worden. Nach Sterling reagierten viele jüdische Familien mit einer Flucht aus Baden, um im nahen Frankreich Schutz zu suchen. Die Regierung habe sogar Wachposten an den Landstraßen aufstellen müssen, um die Flüchtenden vor Übergriffen der Bauern zu schützen. Wie in anderen Staaten des Deutschen Bundes geriet nach  der Emanzipationsprozess auch in Baden ins Stocken, zumal sich auch im badischen Parlament eine judenfeindliche Stimmung zeigte. Die Neufassung der Gemeindeordnung von  nahm einige Errungenschaften der früheren Edikte wieder zurück bzw. schränkte sie ein.119 In anderen deutschen Staaten, wie in Sachsen und Mecklenburg, beschränkten sich die Übergriffe, etwa in Leipzig, Dresden und Güstrow, auf Steinwürfe gegen die Fenster jüdischer Häuser oder auf das Auslegen von Brandschriften, auf Plakatanschläge mit Drohungen, auf »Hep«-Rufe und auf das »Anklopfen« an die Häuser jüdischer Einwohner, zumal die Behörden entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatten120 Preußen Nachdem man in der historiographischen Literatur lange angenommen hatte, dass die Hep-Hep-Bewegung sich nicht nach Preußen ausgedehnt hätte, so hat man inzwischen doch ihre Ausläufer in preußischen Orten nachgewiesen, auch wenn die Wachsamkeit der Behörden, etwa auch durch Publikationskontrolle, indem kleinere Zwischenfälle nicht öffentlich gemacht wurden, eine Eskalation verhindern konnte.121  Zit. nach Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .  Wirtz, Widersetzlichkeiten, S.  ff. Siehe auch: Jael B. Paulus, Emanzipation und Reaktion -, in: Juden in Karlsruhe. Beiträge zu ihrer Geschichte bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung, hrsg. von Heinz Schmitt unter Mitwirkung von Ernst-Otto Bräunche und Manfred Koch, Karlsruhe , S. -.  Nach Angabe von Sterling verließ der Großherzog sein Schloss, um das Haus des jüdischen Bankiers von Haber, das Ziel von Angriffen zu werden drohte, durch seine persönliche Anwesenheit zu schützen (Anti-Jewish Riots in Germany , S. ).  Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, S. .  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. -.  Katz spricht von zehn Orten, an denen es zu kleineren Vorfällen gekommen sei, darunter

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In den preußischen Provinzen lässt sich vielerorts von der Rheinprovinz über Westfalen bis hin nach Ostpreußen und Schlesien die mobilisierende Wirkung der südwestdeutschen Hep-Hep-Unruhen erkennen, doch blieb es zumeist bei drohenden Aufrufen und Plakatanschlägen, antijüdischen Schmierereien, vereinzelten Steinwürfen gegen Synagogen oder die Häuser von Juden sowie gelegentlichen Tätlichkeiten gegen einzelne Juden. Zu kleineren Eskalationen, in denen eine zusammengelaufene Menge Steine warf und einzelne Juden verprügelte, kam es am . September in Enger (Westfalen) und in der zweiten Oktoberhälfte in Dormagen und Umgebung, wo im Gefolge der Ritualmordbeschuldigungen jüdische Gottesdienstbesucher tätlich angegriffen wurden.122 Anders war die Situation in Danzig, das nach  zu den neuen bzw. wiedereingegliederten Gebieten Preußens zählte, in denen das Emanzipationsedikt von  keine Anwendung finden sollte, wenn auch bereits als Staatsbürger anerkannte ansässige Juden ihre Rechte behalten konnten. Am Fall Danzigs, zu dem Michał Szulc eine sehr detaillierte Studie vorgelegt hat, auf die sich die folgende Darstellung stützt,123 lässt sich zeigen, wie der Einsatz kollektiver Gewalt ein Mittel in einem politischen Konflikt über die Frage der Bürgerrechte der Juden bildete, zu dem immer dann gegriffen wurde, wenn man die eigenen Rechte durch staatliche Entscheidungen als verletzt ansah. So waren in Danzig die Jahre ab  von lokalen Einschränkungsversuchen hinsichtlich der Rechte und des Zuzugs von Juden bestimmt. Dies ging zunächst von der Stadtverordnetenversammlung, später auch vom Magistrat Danzigs aus, die dafür auch die Unterstützung bei der  eingerichteten Danziger Regierung und beim Oberpräsidium von Westpreußen unter dem Oberpräsidenten Theodor von Schön fanden.124 Nach Szulc wurde die Frage der Präsenz von Juden in der Stadt in diesen Jahren auch auf den Straßen der Handelsstadt diskutiert, und es kam »regelmäßig zu verbalen Angriffen und einzelnen Exzessen zwischen christlichen und jüdischen Verkäufern auf dem St.Dominik-Jahrmarkt«.125 Im Jahre  dauerten diese Tätlichkeiten sogar über drei Tage an, bis die Polizei sie beenden konnte. Zusätzlich zu diesem Konflikt um die



  

Berlin (Hep-Hep-Verfolgungen, S.  ff.), während Rohrbacher von keinem nennenswerten Echo in Berlin spricht (Gewalt im Biedermeier, S. ). Sterling sieht vor allem sozioökonomische Ursachen für die geringere Resonanz der Hep-Hep-Welle in Preußen. Die befreiten Bauern hätten weniger in den jüdischen Geldverleihern als in den adligen Grundbesitzern ihre Gegner gesehen, und die Kaufleute und Gildenmeister hätten durch die Reform von  ihren Einfluss bereits zu weitgehend verloren, um gegen die Handelstätigkeit der Juden vorgehen zu können (Anti-Jewish Riots in Germany , S. ). Vgl. die Übersicht bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  ff.; Katz kommt deshalb zu dem Schluss, dass die Juden in Preußen, in dem immerhin ein Drittel der jüdischen Bevölkerung des Deutschen Bundes lebte, von der drohenden Gefahr verschont geblieben seien (ebd., S. ). Michał Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat. Die Judenpolitik in Danzig -, Göttingen . Ebd., S.  ff. Ebd., S. .

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Rechte der Juden in Danzig benennt Szulc noch weitere, gewalttätige Konflikte begünstigende Faktoren. Dazu zählt er die Verarmung der Bevölkerung infolge der napoleonischen Kriege, die Deklassierung der Gewerbetreibenden durch den Wandel im Stadtbürgerrecht und in der Zunftwirtschaft im Zuge der preußischen Reformen, der für viele eine objektive wie relative Verschlechterung gegenüber anderen Gruppen (etwa den Juden) mit sich brachte, die nun Zutritt zu ihnen zuvor verschlossenen Institutionen bekamen.126 Hinzu kam, insbesondere durch die Zuwanderung polnischer Juden, das Moment kultureller Fremdheit. Nach den erneuten Unruhen von  waren sich die Staats- und Stadtbehörden nach Szulc auf allen Verwaltungsebenen »über den allgemein herrschenden Judenhass unter großen Teilen der Danziger Einwohnerschaft« einig. Die Danziger Regierung sprach von einer »hier gegen die Juden herrschenden Stimmung« im »den Juden in höchstem Grade abgeneigten Publikum«.127 Zwar sollte diese Ablehnung in allen Schichten der Bevölkerung anzutreffen gewesen sein, doch konstatierte die Danziger Regierung, dass es einen »unbefangenen und gebildeten« Teil der Einwohner gebe, der sich der vorurteilsvollen Mehrheit entgegenstellte. Damit bot die allgemeine antijüdische Stimmung in der Stadt einen guten, durch Presseberichte über die antijüdischen Ausschreitungen an anderen Orten und hetzerische Aushänge, die man Tage zuvor schon in der Stadt entdeckte, weiter bereiteten Nährboden für antijüdische Übergriffe.128 Im Zuge der sich über Deutschland ausbreitenden Hep-Hep-Welle hörte man in der Zeit des Dominik-Jahrmarktes Sommer  einzelne »Hep-Hep«-Rufe, und es gab hetzerische Anschläge an jüdischen Marktständen. Dies wiederholte sich mit Plakatierungsaktionen und Angriffen auf einzelne Juden am ./. September , doch zu einem regelrechten Tumult kam es erst am . September, als sich eine große Menschenmenge, vornehmlich aus Lehrjungen, Ladendienern und Handwerkern, vor der Synagoge in der Breitengasse sammelte, aus der heraus Steine geworfen und Fensterscheiben zerschlagen wurden. Die Polizei konnte die Randalierer zerstreuen, doch wiederholten sich die Ausschreitungen am ., wo es unter »Hep-Hep«-Rufen in den der Synagoge benachbarten Straßen nun zu Übergriffen auf jüdische Häuser kam.129 Als sogar Aufrufe zu Plünderungen zu hören waren, wurden mehrere Kompanien Infanterie als Verstärkung herbeigerufen, die die Ruhe wiederherstellten. Doch blieb es auch danach für einige Wochen in der Stadt unruhig. Die Festgenommen wurden bald wieder freigelassen. Interessant ist,  Ebd., S.  f.  Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. . Der Oberpräsident Theodor von Schön formulierte es noch schärfer, der einen »tiefverwurzelten Haß gegen die Juden« feststellte, »der beym Publico bis zur höchsten Blindheit hier statt findet« (S.  f.).  Die Presseberichte über antijüdischen Unruhen sollen von den Danzigern mit Schadenfreude aufgenommen worden sein und nach Meinung des Polizeipräsidenten von Vegesack zur Mobilisierung des »Unwillens gegen die Juden« beigetragen haben.  Nach Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. , wurden an zwölf von Juden und zwei von Christen bewohnten Häusern die Fensterscheiben eingeschlagen.

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dass es über die Interpretation der Vorfälle – wie wir es ja schon in Würzburg und Heidelberg angetroffen haben – zu einem Meinungsstreit zwischen den Behörden kam, in dem es nach Michał Szulc um zwei Punkte ging: nämlich um die Frage, wer sich an den Tumulten beteiligt hat und ob es sich um einen spontanen oder geplanten Vorfall gehandelt hat.130 Der Polizeipräsident Dagobert von Vegesack sah den Tumult aufgrund eines antijüdischen Anschlags an der St. KatharinenKirche als geplantes Vorgehen an, an dem sich nicht nur der »Pöbel«, sondern auch Danziger Bürger und gebildete Menschen beteiligt hätten.131 Demgegenüber war der Oberpräsident Theodor von Schön der Auffassung, dass die Störung der öffentlichen Ordnung ohne Steuerung und Plan verlaufen und vielmehr als eine Sache »des Spotts und des Hasses der Juden« anzusehen sei. Die Tumulte seien spontan entstanden und »nur das Werk weniger Menschen aus der gemeinsten Volksklasse gewesen«. Die von Vegesack ausgemachten Bürger seien Danziger Krämer gewesen, die sich bürgerlich gekleidet hätten, aber letztlich nicht zum Bürgertum zählten. Auch die These eines religiösen Fanatismus unter Danziger Bürgern wurde zurückgewiesen.132 Die untergeordneten Danziger Behörden bemühten sich, gegenüber den vorgesetzten Behörden den Eindruck zu vermeiden, es habe sich um gegen den Staat gerichtete Unruhen gehandelt, da man in diesen Jahren politisch motivierte demagogische Umtriebe fürchtete. Deshalb betonte man, dass nun in der Stadt Ruhe und Ordnung herrschten.133 Die Danziger Regierung nutzte aber die antijüdischen Tumulte, um auf die zu hohe Zahl von Juden in der Stadt hinzuweisen, die aufgrund ihrer orientalischen und isolierten Lebensweise dem  Ebd., S.  f.  Der Bericht v. Vegesacks ist nicht mehr erhalten, kann aber aus der polemischen Antwort der Danziger Regierung dem Sinn nach rekonstruiert werden. Szulc (Emanzipation in Stadt und Staat, S. ) zitiert aus dieser Schrift das Folgende: »Die Erbitterung gegen die Juden zeigte sich unter allen Klassen der Einwohner, man sähe mit anscheinendem Vergnügen dem Tumulte zu, es fielen selbst von gebildeten Männern und Bürgern der Stadt Äußerungen, welche dem gemeinen Manne noch mehr Aufmunterung gaben und niemand aus der Bürgerschaft zeigte durch Vorstellungen oder durch die That, dass er das gesetzwidrige Benehmen missbillige, wohl aber schien er ungerne zu sehen, dass die Behörden dem Unfuge so kräftig Widerstand leisteten.« (Hervorhebung im Fettdruck seitens des Vf. der Schrift).  Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S.  f.  Szulc zitiert aus einem privaten Brief des Danziger Großkaufmanns und britischen Konsuls Alexander Gibsone an General Gneisenau, in dem dieser mit ähnlicher Stoßrichtung schreibt, es habe keine anderen Spuren von Unruhen gegeben als diejenigen, die aus Abneigung gegen die Juden resultierten. »Gegen diese ist aber der Unwille allgemein in Deutschland und anderswo, und sollte der Regierung die Überzeugung geben, daß diese Menschen gegründete Ursache dazu haben müßten«. Es habe sich zudem um einen kleinen Tumult von ein paar Abenden gehandelt (Emanzipation in Stadt und Staat, S. ). Die Skepsis vor allem gegenüber den nach Danzig zuziehenden polnischen Juden ist auch in der Stellungnahme des zuständigen Kommandierenden General Ludwig von Borstell zu spüren, der im November  auf die Gefahr der physischen und moralischen Mängel dieser Gruppe für das Wohl des Staates hinwies (S.  f.).

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christlichen Bürgertum völlig fremd blieben und denen es zudem an Patriotismus mangele. Das Ministerium des Innern wies die Danziger Regierung aber darauf hin an, dass sie dennoch auch diese Untertanen vor Unruhen zu schützen habe. Nach Szulc habe die Danziger Regierung den Ausbruch der antijüdischen Gewalt und die daraus sprechende antijüdische Stimmung der Bevölkerung mehrfach als Argument gegen die Verleihung neuer Rechte an die Juden verwendet, wenn sie auch in Einzelfällen eine Ansiedlung von Juden befürwortete, zumal das Ministerium des Innern Ausnahmen auch gegen den Willen der Stadt bewilligte.134 Wir finden hier eine typische, lokale Pogrome begünstigende Konstellation wieder, da die von den Regierungen beschlossenen Rechtsverbesserungen für Juden nicht nur von den jeweiligen Ortsbewohnern, sondern auch teilweise von lokalen Behörden abgelehnt wurden. In Danzig lagen zudem aber auch lokale Behörden im Streit miteinander. In Danzig hielt sich ähnlich wie in Würzburg eine antijüdische Stimmung über das Jahr  hinaus und sollte sich Ende Juli  erneut in mehrtägigen Unruhen manifestieren. Auslöser für den Ausbruch der Unruhen war ein Streit zwischen den Stadt- und Staatsbehörden über den Wunsch einiger jüdischer Kaufleute, ihre Marktstände von ihrem langjährigen Standort in der Breitengasse auf den Erdbeermarkt verlegen zu dürfen, um eine Doppelbesteuerung zu vermeiden. Obwohl die Danziger Regierung diese Doppelbesteuerung  für unzulässig hielt, wiesen die städtischen Behörden den Antrag der jüdischen Kaufleute auf Verlegung ihrer Stände zurück. Nach längerem Hin und Her zwischen den Behörden bewilligte die Polizei schließlich den Umzug und widerrief damit ihre ältere Entscheidung. Auf die am . Juli  öffentlich gemachte Ankündigung einiger jüdischer Kaufleute, ihre Stände zu verlegen, reagierte die Stadtgemeinde zehn Tage später mit der Nachricht, dies sei von ihr nicht genehmigt worden. Das Stadtgericht wies aber am . Juli eine entsprechende Klage der Stadtgemeinde ab.135 Daraufhin wollten Einwohner Danzigs zur gewalttätigen »Selbsthilfe« schreiten. Auf den Aufbau der jüdischen Marktstände hin tauchten noch am selben Tage die ersten antijüdischen Drohungen auf, und bereits am nächsten Abend versammelte sich eine Menschenmenge und wollte die neu errichten Buden abreißen, was aber durch das Einschreiten von Polizei und Militär verhindert wurde. Am . August versammelte sich auf dem Markt eine noch größere Menge. Zugleich wurde die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom selben Tage bekannt, dass die Bewilligung zum Auf bau der Stände auf dem Erdbeermarkt durch die Polizei außerhalb ihrer Kompetenzen lag, die allein bei der Stadtgemeinde liege. Die versammelte Menge interpretierte diese Entscheidung so, als habe das Gericht die Entfernung der Buden angeordnet, und wollte nun dem Abriss zusehen. Als dieser aber nicht erfolgte, griff die Menge zur Selbstjustiz und warf etliche Buden um und Fenster in von Juden bewohnten Häusern ein, bis das Eingreifen von Militär die Lage gegen

 Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. .  Ebd., S.  ff.

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Mitternacht beruhigte. Einen Tag später kam es zu noch größeren Tumulten,136 die durch das Eingreifen des Militärs schnell beendet werden konnten. Am . August revidierte das Stadtgericht sein erstes Urteil und gab der Stadtgemeinde Recht, so dass die Juden ihre Markstände auf dem Erdbeermarkt wieder abbauen mussten. Nach Szulc wurden bei den dreitägigen Unruhen neun Soldaten und eine wesentlich größere Zahl von Tumultuanten verletzt (ob darunter auch Juden waren, wird nicht ausgeführt), fünfzig Personen wurden festgenommen, von denen die meisten aber nach kurzer Zeit wieder freikamen. Es gab jedoch auch eine Reihe höherer Strafen: fünf Personen erhielten eine Gefängnisstrafe; ein als Händler tätiger Stadtbürger wurde als Anführer der Unruhen mit einer Zuchthausstrafe von drei Jahren am strengsten verurteilt, die anderen erhielten drei bis sechs Monate Gefängnis. Beschädigt wurden  von Juden bewohnte Häuser, wobei die Eigentümer aber Danziger Christen waren.137 Wie schon anlässlich der Unruhen von  vertraten die damaligen Protagonisten wiederum gegensätzliche Auffassungen über den Charakter und die Motive der Unruhen. Der Polizeipräsident von Vegesack ging von einer geplanten Aktion aus und wollte unter den Randalierern »einen großen Theil sehr wohl gekleideter Einwohner« erkannt haben, während der Oberpräsident v. Schön ausschließlich Lehrlinge und Gesellen gesehen haben wollte, die sich auf den Straßen herumgetrieben hätten.138 Nach Szulc geben die Polizeiakten hier Letzterem Recht. Wer für die Agitation gegen die Juden verantwortlich war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, doch gibt es Hinweise, dass diese von christlichen Kaufleuten ausging, die damit eine Einschränkung der jüdischen Konkurrenz und die Revision der Emanzipationspolitik erreichen wollten. Diese sollen ihr Vorhaben mittels antijüdischer Aushänge, die mit Bedacht an von »der gemeinen Volksclasse am meisten besuchten Orten« angeklebt worden waren, und einer Entlohnung von Randalierern befördert haben, wobei sie auf die allgemeine Ablehnung der Danziger gegenüber Juden setzen konnten.139 Die Texte der Schmähschriften von  und  drehten sich nach der Auswertung Szulcs um die Themen Brotneid, Konkurrenzangst und Religion und beziehen sich zumeist auf die konkrete Situation in Danzig. Den Juden wurde vorgeworfen, der Wirtschaft Danzigs mit ihren Betrügereien und unmoralischen Praktiken zu schaden. Die Entfernung der Juden aus der Stadt wurde als einzige Möglichkeit hingestellt, um die Erwerbsmöglichkeiten der Christen zu verbessern. Als Mittel der Wahl zur Rettung der Stadt wurde vorgeschlagen, die Juden einzuschüchtern, zu verjagen, ja sogar sie zu töten. Interessant ist, dass man  Da die Polizei an den Vortagen entschieden gegen die Randalierer vorgegangen war, war der Polizeipräsident bei den Tumultuanten unbeliebt und wurde als »Juden-König« verspottet (ebd., S. ).  Ebd., S. .  Ebd.  Ebd., S. . Die Untersuchung der Schmähschriften durch Polizeibeamte in Marienwerder ergab zahlreiche Indizien, die auf einen Stadtverordneten als Verfasser hindeuteten, gegen den aber dennoch kein Verfahren angestrengt wurde (S.  f.).

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sich dabei auf das Vorgehen gegen die Juden in anderen Städten wie Würzburg, Kopenhagen oder Odessa bezog.140 Man berief sich auf die frühere klare Trennung zwischen dem christlichen Revier innerhalb der Stadtmauern und dem jüdischen in den Vorstädten, die man wiederherstellen wollte. D. h., es ging um eine Revision des Niederlassungsrechts für Juden in Danzig selbst, also um die Wiederherstellung der alten Ordnung. Der Bezug auf antijudaistische Vorurteile wie den Christusmord und die Verortung der Juden in der Hölle kamen vereinzelt vor, bildeten aber nicht den zentralen Konfliktpunkt. Ganz klar wurde in den Anschlägen auch die Notwendigkeit der Selbstjustiz betont. Man wollte die Durchsetzung der »Gerechtigkeit« auch gegen den Widerstand der Behörden und des Militärs in die eigenen Hände nehmen. Entsprechend richteten sich spöttische Angriffe auch gegen den Danziger Polizeipräsidenten, andere Polizeibeamte und das Militär, die die Juden bei der Durchsetzung ihrer Rechte schützten. Da sich der Widerstand gegen die Umsetzung des Emanzipationsedikts seitens der Danziger Behörden als erfolglos erwiesen hatte, sahen die Bürger, aber auch die unteren Schichten ohne Bürgerrecht in der Hinwendung zu kollektiven Gewaltaktionen die einzige Chance, die Präsenz der Juden in der Stadt rückgängig zu machen. Trotz der martialischen Drohungen richteten sich die Angriffe aber – wie in anderen von den Hep-Hep-Unruhen heimgesuchten Orten, wie Stefan Rohrbacher zeigen konnte141 – primär gegen die Symbole jüdischer Anwesenheit in der Stadt (Buden und Häuser) und kaum gegen die Juden selbst.142 Wie in anderen Städten auch waren sich die politisch Verantwortlichen der Bedeutung der soziopolitischen Anliegen der Tumultuanten durchaus bewusst. So gab es in Danzig nach  eine über ein Jahr anhaltende Debatte zwischen den Stadtund Staatsbehörden über drei Fragen: ) »die Beurteilung der Behördenaktivitäten vor und während der Unruhen; ) die Geltung des Emanzipationsedikts in Danzig und ) die Frage, wer über die Organisation des Handels in Danzig zu entscheiden habe«.143 Insofern kann man sagen, dass die Unruhen insoweit ihr Ziel erreichten, dass sie die Frage der Emanzipation erneut auf die politische Tagesordnung gebracht hatten. Die Beantwortung der drei Fragen erfolgte sehr kontrovers vor dem Hintergrund schon zuvor bestehender Konfliktlinien zwischen den städtischen Behörden und dem Oberpräsidenten v. Schön einerseits und der Staatsregierung in Berlin und dem Danziger Polizeipräsidenten v. Vegesack auf der anderen Seite. Während der »Sonderermittler«, der Geheime Justiz- und Oberlandesgerichtsrat aus Marienwerder, Johann Gottlieb Hecker, im Auftrag der Ministerien des Innern und der Justiz die Stadtverordneten und die Danziger Regierung als die Hauptverantwortlichen für die Unruhen ausmachte, da deren Entscheidungen für das Standgeld der Juden und ihr Widerstand gegen die Verlegung der jüdischen Stände der Bevölkerung den Anreiz für die Gewalt gegeben hätten. Hecker wertete die    

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Ebd., S.  f. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. -. Ebd., S. .

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Unruhen letztlich als eine zwar nicht von oben autorisierte, aber doch im Interesse der städtischen Behörden durchgeführte Aktion.144 Das Verhalten des Polizeipräsidenten in dieser Frage hielt er hingegen für angemessen. Letzterer sah die Unruhen sogar als eine geplante Veranstaltung, da der Termin und der Verlauf der Unruhen genau geplant gewesen seien, so dass es sich nicht um den Ausbruch einer Massenleidenschaft gehandelt habe. Er warf wichtigen städtischen Persönlichkeiten vor, Maßnahmen unterlassen zu haben, mit denen man die Spannungen hätte abbauen können.145 Gegen die Vorwürfe des »Sonderermittlers« verfassten die städtischen Behörden ihrerseits eine Reihe von Verteidigungsschriften, in denen gänzlich andere Ursachen für den Ausbruch der Unruhen verantwortlich gemacht wurden: nämlich der starke Anstieg der jüdischen Bevölkerung seit der Zweiten Polnischen Teilung, die Grundstücke in der Stadt ankaufte; die Anwendung unlauterer Geschäftspraktiken und die Geldgier der jüdischen Kaufleute sowie die Fehlentscheidung der Polizeibehörden, den Juden die Verlegung ihrer Buden zu erlauben,146 ein Vorgehen, das der »Sonderermittler« in seinem Bericht als rechtmäßig bezeichnet hatte. Die Regierung in Danzig wiederum spielte die Bedeutung der Unruhen herunter, indem sie diese als einen in Großstädten gelegentlich vorkommenden kollektiven Protest wertete, der aufgrund der starken antijüdischen Stimmung auch nicht zu verhindern gewesen sei. Sie sah die Schuld für den Ausbruch der Unruhen ganz auf Seiten des Polizeipräsidenten, da er trotz der bestehenden Uneinigkeit der Behörden die Juden darin bestärkt hätte, mit ihren Buden umzuziehen. Die Regierung zeichnete zudem ein sehr negatives Charakterbild des Polizeipräsidenten. In die gleiche Richtung zielte die Stellungnahme des Oberpräsidenten von Schön, der den Ausbruch der Unruhen auf das Verhalten des Polizeipräsidenten und den herrschenden Hass auf die Juden zurückführte.147  Insbesondere zwei Stadtverordnete wurden als Anstifter der Unruhen, die auch gegen die Polizei agitiert hätten, in der Untersuchung Heckers genannt. Ihnen seien aber nur mehrere »Nachschreier« gefolgt, nicht aber die Mehrheit der Stadtverordneten. Polizeipräsident von Vegesack ging aber weiter und beschuldigte die Stadtverordneten insgesamt, mit kollektivem Rücktritt gedroht zu haben, sollte die Polizei die Verlegung der Buden positiv für die Juden entscheiden (Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. ).  Negativen Einfluss auf die Behörden habe insbesondere die »englische Clique« ausgeübt, eine Gruppierung von Kaufleuten und Beamten, zu denen er den Oberpräsidenten von Schön und den britischen Konsul und Geschäftsmann Alexander Gibsone zählte. Er übte auch heftige Kritik an anderen städtischen und staatlichen Behörden. Zwar gab es nach Szulc gute Kontakte zwischen dem Oberpräsidenten und Danziger Kaufleuten, doch dürfe man die politische Motivation des Polizeipräsidenten nicht vernachlässigen, der in Danzig eher unbeliebt war (Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. -).  Die Stadtverordneten argumentierten geradezu verschwörungstheoretisch, als sie den Verdacht äußerten, die Juden hätten sich den städtischen Behörden so mutig widersetzt, weil »unsichtbare Mächte« hinter ihnen stünden. Hecker sah darin aber nicht mehr als den rechtmäßigen Polizeischutz für die Juden (ebd., S. ).  Ebd., S. -.

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Die Staatsbehörden in Berlin übernahmen insgesamt die Position Heckers und von Vegesacks, wonach die Stadtverordneten die Hauptschuld an den Unruhen trügen, die nach Hardenberg »durch Haß und Verfolgungssucht gegen ihre jüdischen Mitbürger« geleitet worden seien.148 Während man den Danziger Magistrat milde beurteilte, sah man auf Seiten der Danziger Regierung und des westpreußischen Oberpräsidenten eine Mitschuld, da sie den Polizeipräsidenten nicht unterstützt, sondern sich opportunistisch auf die Seite der lokalen Bürgerschaft geschlagen hätten.149 König Friedrich Wilhelm III. äußerte sich  in zwei Ordres zu den Danziger Ereignissen und übernahm dabei die Position der Berliner Staatsbehörden und wünschte sich von der Danziger Regierung, vom Oberpräsidenten und den Gerichten in Zukunft mehr Besonnenheit.150 Die auch bei anderen Hep-Hep-Unruhen zu beobachtende Differenz zwischen der Position der örtlichen Politiker und Beamten und den staatlichen Behörden in Bezug auf die Integration der Juden in die städtische Gesellschaft und Wirtschaft ist also auch für Danzig zu konstatieren. Dies zeigte sich auch im zweiten Diskussionspunkt, nämlich in der Frage der Geltung des Emanzipationsedikts für die Stadt Danzig. Während die lokalen politischen Instanzen die Auffassung vertraten, das Edikt finde in Danzig keine volle Anwendung (so die Stadtverordnetenversammlung), seine Anwendung müsse von der Akzeptanz des Danziger Bürgertums abhängig gemacht werden (Magistrat) oder die Verteilung der Gewerbetreibenden sei nach Gewohnheitsrecht vorzunehmen (Danziger Regierung), stellte Hecker in seinem Untersuchungsbericht klar, dass das Emanzipationsedikt auch für Danzig Gültigkeit habe und alle vormaligen Regelungen damit außer Kraft gesetzt worden seien. Die Positionen der lokalen Behörden stünden damit in einem deutlichen Widerspruch zur preußischen Integrationspolitik, die auf eine Gleichstellung der jüdischen Bürger abziele und gegen jede Art von Isolation und Ghettoisierung sei. Trotz des Berichts Heckers wurde die Frage der Gültigkeit des Edikts in Danzig aber auch weiterhin fallweise in Zweifel gezogen. Die lokale Judenschaft blieb ihrerseits nicht untätig und wandte sich in zwei Briefen an den Innenminister und den Staatskanzler, in denen sie sich auf die Geltung des Emanzipationsedikts beriefen und trotzdem fortbestehende Einschränkungen kritisierten. Dass aber auch die Zentralregierung zögerte, sich allzu sehr in lokale Belange einzumischen, zeigt deren Reaktion auf das von den Juden vorgebrachte Anliegen, als preußische Bürger anerkannte Juden die Niederlassung in Danzig zu erlauben. Das Ministerium des Innern und der Staatskanzler lehnten das Gesuch ab und verwiesen auf die Order des Königs, in den neu- und wiedereroberten Provinzen keine neue Niederlassung zu erlauben.151  Zit. nach ebd., S. .  Der Danziger Regierung drohte im Zuge einer angestrebten Verwaltungsreform sogar die Auflösung, da man sie für den Ausbruch der Unruhen verantwortlich machte. Die Sache zog sich aber hin und es kam nicht zu ihrer Auflösung.  Szulc, Emanzipation in Stadt und Staat, S. .  Ebd., S.  f.

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Die politische Botschaft der Tumultuanten, die sich einem Zuzug von Juden in die Stadt und der Verleihung von Bürgerrechten widersetzten und die durchaus den Interessen von Teilen der lokalen politischen Institutionen und Personen entsprach, machte schlaglichtartig die Diskrepanz zwischen den gesamtstaatlichen Integrationsbemühungen hinsichtlich der jüdischen Minderheit und der Ablehnung gleicher Rechte für Juden in großen Teilen der lokalen Bevölkerung sichtbar, und die unterschiedliche Bewertung der Unruhen führte entsprechend zu einer Zuspitzung von bereits zuvor bestehenden Spannungen zwischen Instanzen der lokalen, der provinziellen wie der Berliner Zentralbehörden. Ein Muster, das auch in anderen Fällen antijüdischer Unruhen zu beobachten ist. Hamburg Die jüdische Gemeinde Hamburgs, die mit ca. . Personen damals größte in Deutschland (ca. -  der Gesamtbevölkerung Hamburgs), wendete sich bereits am . August um Schutz an den für die Polizei zuständigen Senator, da sie offenbar Unruhen in der Stadt befürchtete. Dieser sah keinen Grund zur Beunruhigung, sicherte der Gemeinde aber Schutz zu. Hintergrund für die Befürchtungen war, dass ähnlich wie im Fall Frankfurts die rechtliche Lage der Juden in der Stadt umkämpft war. Diese hatten  nach der Eroberung der Stadt durch napoleonische Truppen und ihrer Einverleibung in das französische Kaiserreich die völlige Gleichberechtigung erhalten. Nach dem Fall Napoleons stellt sich ab  die Frage, ob das alte oder neue Recht für die Juden gelten sollte, so dass ihr Fall – wie die Fälle Bremens und Lübecks – auf dem Wiener Kongress verhandelt, aber letztlich nicht entschieden wurde. Während die führenden Schichten Hamburgs die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden unterstützten, kamen die Gegner aus den Zünften und dem Krameramt, die die jüdische Konkurrenz in Handwerk und Handel fürchteten und am alten System festhalten wollten.152 Aufgrund dieser  Ludolf Holst (-), der sich in Hamburg seit  einen Namen als Wirtschaftsexperte gemacht hatte, veröffentlichte  (anonym) die Schrift Über das Verhältnis der Juden zu den Christen in den Handelsstädten (Leipzig ), in der er die Juden vor allem aufgrund ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit kritisierte. Holst sieht die Quellen der wirtschaftlichen Macht der Juden in den »jüdischen gewinnreichen Grundsätzen und Handelsmaximen«, die nach seiner Meinung besonders für Handelsstädte »verderblich sind« (S.  f.). Nach Moshe Zimmermann ist ein direkter Zusammenhang zwischen Holsts Ausführungen und den Hep-Hep-Ausschreitungen in Hamburg nicht nachweisbar (Die Hep-Hep-Unruhen in Hamburg. Ludolf Holsts Schrift »Über das Verhältnis der Juden zu den Christen in den Handelsstädten«, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, http://juedische-geschichte-online.net/quelle/ jgo:source- [..]). Jacob Katz betont aber, dass es sich bei Holsts Schrift in Wahrheit um eine Propagandaschrift handelte, die »wahrscheinlich von interessierter Seite in einer der mächtigen Städte in Auftrag gegeben war, vermutlich in Holsts Geburtsort Hamburg, wo die Judenfrage aktuell war« (Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus -, München , S. ). In einer weiteren, zwei Jahre nach

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Konfliktlage sahen jüdische Gemeindevertreter nicht zu Unrecht mögliche Unruhen von Seiten der Letzteren auch in Hamburg voraus.153 Sterling erwähnt als ein zusätzliches Moment, dass Hamburg im Juli  eine schwere Finanzkrise erlebte, als einige Handelshäuser in Konkurs gingen. Diese unerwartete Krise habe in der Bevölkerung für Unruhe gesorgt.154 In Hamburg begannen die Konflikte in Kaffeehäusern und Pavillons an der Binnenalster, was schon einen Hinweis auf die soziale Trägerschicht der Gewalt gibt.155 Nachdem am Abend des . August  Juden von anderen Gästen, vor allem Handlungsdienern, verhöhnt und unter Schlägen aus einem Pavillon an der Alster gedrängt worden waren, folgten ähnliche Szenen an den folgenden Tagen. Dabei leisteten Juden in einigen Fällen heftige Gegenwehr, so dass es zu regelrechten Schlägereien kam.156 Es wurden Aufrufe in der Stadt verteilt, in denen Überfälle auf Juden angedroht und ihre Vertreibung aus der Stadt verlangt wurde. Ob man daraus schließen kann, dass hinter den Unruhen ein Plan stand, wie der

den Hep-Hep-Unruhen veröffentlichten Schrift Judenthum in allen dessen Theilen aus einem staatswissenschaftlichen Standpuncte betrachtet, Mainz , rechtfertigt Holst im Vorwort im Grunde die Unruhen von , da für ihn der Grund für den Judenhass nicht im »fanatischen Geist« oder in der »barbarischen Rohheit« der Nichtjuden liege, sondern im Verhalten der Juden (S. ).  Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. -; Helga Krohn betont aber, dass zwar auch in Hamburg die Juden im Handel überpräsentiert waren, dass ihre Sonderstellung aber nicht dermaßen ausgeprägt war wie in anderen deutschen Städten (Die Juden im Hamburg -, Frankfurt a. M. , S. ). Moshe Zimmermann spricht von einer schmalen sozialen Basis für diese Unruhen, von einer Minderheit, die keine Unterstützung im Senat fand, was seines Erachtens die verhältnismäßige Marginalität der Unruhen im Hamburg erklärt (Antijüdischer Sozialprotest? Proteste von Unter- und Mittelschichten -, in: Arno Herzig/Dieter Langewiesche/Arnold Sywottek (Hrsg.), Arbeiter in Hamburg, Hamburg , S. -, S. ).  Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. .  Nach Zimmermann waren die Unterschichten zu Beginn an den Krawallen nicht beteiligt (Antijüdischer Sozialprotest? S. ). Sterling zitiert das Weimarer Oppositions-Blatt, das behauptete, Personen der höchsten Klassen hätten sich zerlumpte Kleider angezogen, um an diesem »rowdyism« teilzunehmen (Anti-Jewish Riots in Germany , S. ). Für die späteren Phasen der Unruhen ist allerdings eine Beteiligung der ärmeren Schichten belegt. Von Seiten jüdischer Autoren wurde z. T. auch die Anstiftungstheorie vertreten. So schrieb ein Autor names Philalethes (Pseudonym für Friedrich Alexander Simon): »Die Gährung der Gemüther, die Gewaltthätigkeiten der neuesten Zeiten zeugen nicht für eine Verwilderung der niederen Volksklasse, sondern für die eines Theils der höheren, gewisser Halbgebildeter, und sittlich verwahrloster, welche die Stimmung des Pöbels lenken und bearbeiten.« Der selbst getaufte Autor wendete sich mit seiner Schrift: Beleuchtung der Stimme des Volks über die Juden (Niedersachsen ) aus jüdischer Sicht gegen eine von einem Autor namens Philopatros veröffentlichte extrem judenfeindliche Schrift: »Stimme des Volcks über die Juden«, o. O. .  Vgl. dazu Erb/Bergmann, Nachtseite, S.  f.; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  ff.

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Hamburger Senat annahm, ist zu bezweifeln.157 Der Vorstand der jüdischen Gemeinde trat daraufhin zusammen und beschloss, dem Senat den Ernst der Lage zu schildern, zumal Gruppen junger Juden, die zum Teil in den Befreiungskriegen gekämpft hatten, einen Selbstschutz organisiert hatten. Obwohl die Gemeinde versuchte, diese Gruppen von einem Eingreifen abzuhalten, warfen junge Juden am . August Gäste aus einem Kaffeehaus hinaus. Mit diesem Verhalten verletzten sie die Regeln, nach denen solche Tumulte abliefen, d. h., die Grenzen des Rituals wurden durchbrochen, so dass das Risiko einer enthemmten Gegengewalt anstieg. Ein Hamburger Senator brachte in einem Gespräch mit dem Gemeindevorstand die in der Stadt herrschende Erbitterung über das Vorgehen des jüdischen Selbstschutzes zum Ausdruck. Die Gemeinde wies die Verantwortung dafür zurück, doch sorgte sie in den nächsten Tagen aktiv dafür, ihre Mitglieder zu ermahnen und zu kontrollieren, um jede weitere Eskalation zu vermeiden.158 Die Unruhen begannen sich auf andere Stadtteile auszudehnen, und nun beteiligte sich auch der »Pöbel«, d. h. Angehörige der »niederen Klassen«.159 Am . weiteten sich die Tumulte auf die Stadt aus, und es wurden Häuser wohlhabender jüdischer Bürger attackiert und die einschreitenden Polizisten beschimpft und geschlagen. Erst die Kavallerie konnte die Unruhen vorläufig beenden. Am folgenden Abend eskalierte die Situation weiter, und eine große Menschenmenge zog durch die Stadt, warf in den von Juden bewohnten Häusern die Fensterscheiben ein, misshandelte ihre Bewohner und kehrte sich mit Steinwürfen sogar gegen die Ordnungskräfte, wobei Mitglieder der Bürgerwehr offenbar die Seiten wechselten. Die Menge musste schließlich mit gefälltem Bajonett auseinandergetrieben werden.160 In einem Fall wurde sogar von einem bewaffneten Haufen ein Haus gestürmt und demoliert, in dem angeblich ein Christ gefangen gehalten wurde. Der Einsatz von Bürgermilitär konnte die jüdischen Bewohner vor Übergriffen bewahren. Einige Juden flohen daraufhin in das nahe gelegene dänische Altona. Der Hamburger Senat, der vergeblich versucht hatte, durch Aufrufe die immer wieder aufflammenden Ausschreitungen einzudämmen, griff nun zu Maßnahmen, um die Menschen von der Straße zu bringen und jegliche Konfliktanlässe zu vermeiden. Er erneuerte deshalb am . August  das Tumultmandat von , das Ausgehverbote vorsah, harte Strafen androhte und den Gebrauch der Schusswaffen  Vgl. Zimmermann, der diese Sichtweise übernimmt (Antijüdischer Sozialprotest? S. ): »Die Drahtzieher verteilten handgeschriebene Zettel mit dem Aufruf ›Hepp! Hepp Jude verreck‹ oder ›Hepp ! Hepp ! Der Jude muß im Dreck (sic !)‹. Der Senat wusste, dass die Unruhen geplant worden waren und im ›Geschäfts- und Erwerbsneide … ihren Grund hatten‹, er betrachtete die Unruhen als Gefahr für das Ansehen der Handelsstadt, und vermutete, dass die Unterschichten sich nur wegen der Hetzaufrufe der Drahtzieher angeschlossen hatten« (Zimmermann, Die Hep-Hep-Unruhen in Hamburg).  Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. .  Siehe dazu näher Fußnote .  Rapport der Hauptwache des Hamburger Bürgermilitärs über die dortigen Unruhen (. August . – Staatsarchiv Hamburg: Cl. VII Lit. Lb  vol  fasc. ), abgedruckt in: Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S.  f.

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seitens des Militärs erlaubte. Der Senat wandte sich in seinem Aufruf aber auch an die Juden und forderte sie auf, ihre Häuser nicht zu verlassen und jegliche Provokationen zu vermeiden. Patrouillen und das Schließen der Kaffeehäuser vor Einbruch der Nacht sorgten in den kommenden Tagen dafür, dass die Unruhen nicht wieder aufflammten und der Ausnahmezustand am . August wieder aufgehoben werden konnte. Dass die Stimmung aber angespannt blieb, belegen vereinzelte Übergriffe und »Hep-Hep«-Rufe bis in den November hinein. Zeitgenössische Beobachter lobten das im Vergleich zu Frankfurt energische Durchgreifen des Hamburger Senats, der auch die verhafteten Täter vor Gericht brachte und bestrafte.161 Wie für die staatliche Reaktion auf Pogrome üblich, mussten die Behörden aber den Eindruck vermeiden, die Juden zu begünstigen, sie mussten vielmehr auch den Pogromisten Zugeständnisse machen, um den Druck aus der Situation zu nehmen. Deshalb gab der Senat auch dem Drängen etwa der Kaufmannsgilde nach und verbot den Hausierhandel und sandte auch sonst einige Signale an die judenfeindlichen Kreise, um zu demonstrieren, dass man nicht einseitig für die Juden Partei ergriff, sondern die Beschwerden der Bürger ernst nahm. Moshe Zimmermann sieht durch die Unruhen weitere Reformversuche vereitelt, sogar die jüdische Armenschule, deren Ziel die Erziehung der Juden zum Handwerk war, musste ihr Curriculum so ändern, dass die Absolventen keine Chancen mehr auf Arbeitsplätze im zünftigen Handwerk hatten.162 Zwar stellte ein interner Bericht über die Unruhen fest, dass die Juden keinen direkten Anteil an ihrem Ausbruch gehabt hätten und eine friedfertige Gruppe darstellten, doch enthielt der daraufhin öffentlich verkündete Aufruf neben der Ermahnung der Bürger, Juden nicht anzugreifen oder zu beschimpfen, auch eine Mahnung an die Adresse der Juden, sich an öffentlichen Orten bescheiden und höflich zu benehmen und sich auch »aller Ansprüche zu enthalten, die mit ihren Verhältnissen gegen den Staat nicht verträglich sind«.163 Letztlich, so Jacob Katz, nutzte der Staat die Hep-Hep-Ausschreitungen, um die Gewährung der vollen Bürgerrechte an die Juden auf die lange Bank zu schieben. Die Orte der Übergriffe in Frankfurt am Main und Hamburg zeigen, dass es nicht allein um direkte wirtschaftliche Konkurrenz ging, sondern auch um die Verweigerung der Anerkennung des sozialen Aufstiegs und der kulturellen Assimilation der Juden. Mit ihrem Besuch der Kaffeehäuser überschritten Juden in den Augen ihrer christlichen Mitbürger die symbolischen Geselligkeitsgrenzen und demonstrierten zugleich ein zu ausgeprägtes »jüdisches Selbstbewusstsein«, so dass sie  Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S.  ff.; dieses härtere Durchgreifen mag auch darin begründet gewesen sein, dass der Senat die Unruhen als Gefahr für das Ansehen der Handelsstadt begriff (Moshe Zimmermann, Antijüdischer Sozialprotest? S. ).  Ebd., S. .  Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S.  f. Die jüdische Gemeinde war empört über diesen Aufruf, und eine größere Gruppe beschloss, beim Senat dagegen zu protestieren, doch ließ man auf Anraten von »höherer Stelle« dieses Vorhaben schließlich fallen.

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gewaltsam entfernt werden mussten. Die soziale Ordnung, die den Christen jahrhundertelang einen Vorrang eingeräumt hatte, wurde nicht kampflos aufgegeben. Das Übergreifen auf die Nachbarländer Frankreich und Dänemark Die Nachrichten über die antijüdischen Ausschreitungen machten nicht an den deutschen Grenzen halt, sondern fanden auch in den Nachbarregionen Widerhall. In Wien und Graz lassen sich nur geringe Spuren finden, in Krakau soll es antijüdische Übergriffe von Seiten der Studenten gegeben haben, die vom Militär unterdrückt werden mussten.164 Auch im notorisch unruhigen Elsass kam es in Straßburg zu »Hep-Hep«-Rufen und zu unruhigen Auftritten, etwa in Schlettstadt und Ribeauvillé (Rappoltsweiler), in der Umgebung von Mühlhausen sowie in Durmenach, aber es waren keine Exzesse zu verzeichnen.165 Solche »Auftritte« gab es auch in einigen kleineren Orten Lothringens (Brugny, Bionville-sur-Nied), nur in der Kleinstadt Sarrebourg kam es zu handfesten Ausschreitungen.166 Insgesamt ist die Einschätzung des französischen Innenministeriums zutreffend, dass es in Frankreich zu keinen den deutschen Ausschreitungen vergleichbaren Ereignissen gekommen sei und dass auch keinerlei Befürchtung bestehe, die Juden in Frankreich könnten ähnlichen Verfolgungen ausgesetzt sein.167 Die Übergriffe nahmen nur in Dänemark ernstere Ausmaße an, zumal man in der Bevölkerung dort befürchtete, die von Hamburg nach Altona geflüchteten Juden könnten von der Regierung in Kopenhagen angesiedelt werden. Dort deuteten Gerüchte und Plakatanschläge, die dazu aufforderten, das »Judenpack« loszuwerden, und die zu gewalttätigen Handlungen aufriefen, auf die bevorstehende Judenverfolgung hin. Therkel Stræde weist der von dem Schriftsteller Thomas Thaarup, der  mit seiner Publikation des antijüdischen Buches Moses und Jesus des deutschen Autors Friedrich Buchholz, dem er ein eigenes antijüdisches Vorwort vorangestellt hatte, ausgelösten literarischen »jødefejde« eine wichtige Rolle für den Ausbruch der Ausschreitungen in Dänemark zu. Auch wenn die Verteidiger der Juden die literarische Judenfehde gewonnen hätten, griffen die »rowdy ›kinsmen‹ of Thaarup and his supporters«, befeuert durch ihre fortgesetzten antijüdischen Publikationen, die Juden in Kopenhagen und anderen Städten verbal und physisch an.168 Trotz der sogleich verstärkten Zensur- und Sicherheitsmaßnahmen kam es  Vgl. Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. .  Gerson, Die Kehrseite, S. ; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  f. Offenbar hatten in einigen Fällen die Behörden Vorsichtsmaßnahmen getroffen, so ließ der Unterpräfekt aufgrund der Polizeiberichte und der Befürchtungen der jüdischen Gemeinde in Durmenach für die hohen jüdischen Feiertage im September Polizeipatrouillen anordnen, obwohl er selbst diese Maßnahme für übertrieben hielt.  Gerson, Die Kehrseite, S. .  Ebd., S. .  Therkel Stræde, The »Jewish Feud« in Denmark , in: Christhard Hoffmann (Hrsg.), The Exclusion of Jews in the Norwegian Constitution of . Origins – Contexts – Consequences, Berlin , S. -, hier S. .

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am . September zu ersten Ausschreitungen, in denen Seeleute die bewaffneten Bürger unterstützen. Bei diesen Übergriffen wurden jüdischen Geschäften in der Østergade die Schaufensterscheiben eingeschlagen und die Polizeikräfte von der großen Menschenmenge in die Flucht geschlagen (Husaren sollen sich geweigert haben, gegen die Tumultuanten vorzugehen), so dass erst eine Militäreinheit mit gezücktem Säbel die Tumulte beenden konnte. Trotz verstärkter Patrouillen breitete sich der Aufruhr in den nächsten Tagen aus, und Gruppen sowohl feiner Leute als auch der »Pöbel« zogen durch die Stadt und zerstörten Fenster jüdischer Wohnungen. Es wurde das Haus eines Wechslers und Pfandleihers gestürmt und geplündert, er selbst einen Tag später von einer Menschenmenge verfolgt und misshandelt. Ältere Juden, die sich auf die Straße wagten, wurden geschlagen und gejagt. Viele Juden versteckten sich in den Kellern ihrer Wohnungen. Die Angriffe auf Häuser von Juden hielten bis zum . September  an.169 Träger dieser Unruhen waren vor allem Handwerksgesellen und Lehrlinge, die von ihren Meistern ermutigt und durch Flugblätter angestachelt worden waren. Die Unruhen blieben aber nicht auf Kopenhagen begrenzt, sondern zeigten sich auch an anderen Orten Seelands und Fünens, so wurden nach Jens Christian Manniche Unruhen in Helsingør, Hillerød, Næstved, Vordingborg und Slagelse verzeichnet, und am . September kam es in Odense zu einem Tumult nach dem üblichen Muster, indem man den Abzug der Juden forderte, Häuser mit Steinen bewarf und in einzelnen Fällen auch plünderte. Auch hier konnte erst das Eingreifen des Militärs die Ruhe wiederherstellen.170 Therkel Stræde nennt diese antijüdischen Ausschreitungen in Kopenhagen und einigen Provinzstädten »events that may well be labeled pogroms and certainly were experienced as such by the Jews, even if no Danish Jew was killed, and the number of injured was low.«171 Die Tumultuanten riefen bezeichnenderweise auch Parolen gegen den König.172 Dieser politische Aufruhr in der Stadt erschreckte den Polizeichef und den König, zumal es ähnlich wie in Deutschland auch in Dänemark Leute gab, die für eine Abschaffung der Monarchie und für Demokratie waren. Der König handelte entschlossen und setzte die berittene königliche Garde ein, die mit gezogenem Säbel gegen die Randalierer vorging, und entließ den Kopenhagener Polizeichef wegen der Passivität und Hilflosigkeit der Polizei. Dennoch flammten die Unruhen immer wieder auf. So versuchte die Menge zu zwei jüdischen Bankhäusern vorzudringen,  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  f.  Jens Christian Manniche, Jødefejden i Odense , in: Historie. Jyske Samlinger , /, S. -; Bent Blüdnikow nennt noch Vordingbord als weiteren Ort, an dem Unruhen stattfanden: Jødeuroen i Køpenhavn , in: Historie/Jyske Samlinger , , S. -, S. ; Jen Rasmussen, Jødefejden og de beslægtede uroligheder, in: Kirkehistoriske Samlinger , S. -.  Stræde, The »Jewish Feud«, S. . Bent Blüdnikow hat kritisiert, dass die dänische Forschung diesen Unruhen lange Zeit nur geringe Bedeutung beigemessen habe (Jødefejden -, in: ders. (Hrsg.), Jøderne som frie borgere. Anordningen af . marts , Kopenhagen , S. -.  Stræde, The »Jewish Feud«, S. .

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wurde aber vom Militär zurückgedrängt. Die Polizei verdächtigte politische Aktivisten, Menschen aufzustacheln, konnte aber niemanden ermitteln. Sie nahm eine Menge Leute fest und versuchte die Turbulenzen durch die Ausgangssperre, Drohungen und die Verhängung schwerer Strafen zu beenden, und unterdrückte so schließlich die Ausschreitungen. Der König setzte eine Kommission zur Untersuchung der Unruhen ein, deren Ergebnisse dann zur Bestrafung einiger Tumultuanten und Anstifter führten, unter denen sich nach Stræde nicht nur Schläger und fehlgeleitete Jugendliche befanden, sondern auch »decent citizens«.173 Katz hat auf den ausgesprochen regierungsfeindlichen Charakter der Unruhen aufmerksam gemacht (»Heute die Juden, morgen der König«), was seiner Meinung nach auch das entschlossene Vorgehen der Regierung erklärt, die den Ausnahmezustand verhängte und die gefassten Täter schwer bestrafen ließ.174 Hintergrund der Kritik der Judengegner war die Tatsache, dass der dänische König Friedrich VI. den Juden am . März  das volle Bürgerrecht verliehen hatte, so dass auch hier, wie in Würzburg, Frankfurt und Hamburg, die neue und umstrittene rechtliche Position der Juden den Anlass für den Unmut in der Bevölkerung bot. Dem König, der als »Judenkönig« geschmäht wurde, warf man deshalb eine zu integrationsfreundliche Politik vor. Der weitere historische Kontext der gewalttätigen Proteste und der im Jahre  publizistisch ausgefochtenen sog. »Judenfehde« war die Krise, in die das mit Napoleon verbündete Dänemark geriet, nachdem die Engländer  die gesamte dänische Handelsflotte zerstört hatten, was das Land  in den Staatsbankrott führte.175 Die daraus resultierenden sozialen Spannungen wurden noch durch die nationale Demütigung durch die Abtretung Norwegens an Schweden im Jahre  verschärft. Im Zuge der schon erwähnten literarischen Judenfehde um die Schrift von Friedrich Buchholz Moses und Jesus () hatte der Übersetzer Thomas Thaarup wirtschaftliche und rechtliche Einschränkungen der Juden gefordert. Dies wurde von vielen anderen Autoren aufgegriffen.176 Ziel der Angriffe waren dänisch-jüdische Bankiers und Großkaufleute, denen man vorwarf, sich durch die betrügerische Ausfuhr von Edelmetallen und andere Spekulationen bereichert und die ruinöse Geldpolitik der Regierung veranlasst zu haben. Dänische Theologen sekundierten diesen Vorwürfen noch mit tradierten religiösen Anschuldigungen an die Adresse der Juden. Diese Angriffe wurden zwar sowohl von jüdischer Seite wie auch von nichtjüdischen Autoren zurückgewiesen, doch sorgten sie zusammen mit den allgemeinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen  Ebd., S. .  Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. . Dieses entschiedene Vorgehen war nach Stræde eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die  in Kopenhagen wieder aufflammenden antijüdischen Ausschreitungen nicht das Ausmaß der Gewalt von  erreichten (The »Jewish Feud«, S. ).  Blüdsnikow, Jødeuroen i Køpenhavn, S. .  Vgl. dazu Thorsten Wagner, Judenfehde und Hepp-Hepp-Unruhen in Dänemark (, ), in: Handbuch des Antisemitismus, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -; siehe auch Stræde, The »Jewish Feud« in Denmark .

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Spannungen für ein Klima, das Vertreter der jüdischen Gemeinde ein Umschlagen in Gewalt fürchten ließ, eine Sorge, die sie der Regierung auch vortrugen.177 Die »Judenfehde« von  flammte  noch einmal auf.178 Die Hep-Hep-Unruhen in Deutschland waren dann der Auslöser für dieses befürchtete Umschlagen in physische Gewalt gegen Juden in Dänemark (den korporlige jødefejde). Anders als in vielen Staaten des Deutschen Bundes setzte aber die dänische Regierung ihre Politik der Judenemanzipation fort, verband sie aber nach Thorsten Wagner nun stärker mit Forderungen nach Assimilation an die Adresse der Juden.179  kam es in Kopenhagen zu erneuten antijüdischen Ausschreitungen, die dieses Mal aber schnell unterbunden werden konnten. Die staatlichen Reaktionen auf die Gewaltwelle Insgesamt gesehen ist es aber erstaunlich, dass sich in den deutschen Staaten der Unmut über die Verbesserung der jüdischen Rechtsstellung allein gegen die Juden selbst und nicht auch gegen die verantwortlichen Regierungen richtete, während umgekehrt der bayrische König, Metternich und andere Regierungen, aber zum Teil auch die Presse einen Zusammenhang der Hep-Hep-Ausschreitungen mit den revolutionären Umtrieben der Demagogen und Studenten vermuteten, zumal nach den Attentaten auf August von Kotzebue und einen Minister der nassauischen Regierung im Frühjahr und Sommer . Es gab jedoch auch andere Stimmen, die in den Angriffen auf die Juden keine gefährliche politische Tendenz erkennen wollten. Die während der Hep-Hep-Unruhen tagende Karlsbader Konferenz setzte einen in Mainz angesiedelten Untersuchungsausschuss ein, der die Ursachen der politischen Unruhe aufdecken sollte. Katz spricht von einer »Reaktion der Angst«, denn die Trägerschichten, die sich wesentlich aus Handwerkern, Kleinbürgern und dem gewerblichen Mittelstand zusammensetzten, und die Ziele der antijüdischen Gewalt unterschieden sich deutlich von denen der gegen die politische Reaktion  Wagner, Judenfehde und Hep-Hep-Unruhen, S. . Auch in Schweden kam es  in der sog. »Grevesmöhlen-Fehde« zu einer scharfen massenhaften antijüdischen Pamphletdebatte (rund  Schriften), die allerdings nicht in Gewalt mündete. Hintergrund waren die Krise des schwedischen Staates und die prekäre finanzielle Situation durch die vorangegangenen Kriege, an denen man den wenigen Juden des Landes eine Mitschuld gab. Angesichts dieser Krise und des Zuzugs von jüdischen Kaufleuten forderten Vertreter des Bürgerstandes die Verschärfung des bestehenden Judenreglements sowie ein erneutes Einwanderungsverbot (Christoph Leiska, Grevesmöhlen-Fehde (), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Wolfgang Benz, Bd. , Berlin , S. -.  Vgl. Christhard Hoffmann, Hepp Hepp in Kopenhagen. Knud Gamborgs Darstellung () der dänischen »Judenfehde« /, in: Bilder kollektiver Gewalt. Kollektive Gewalt im Bild. Annäherungen an eine Ikonographie der Gewalt. Festschrift für Werner Bergmann zum . Geburtstag, hrsg. von Michael Kohlstruck/Stefanie Schüler-Springorum/Ulrich Wyrwa, Berlin , S. -.  Wagner, Judenfehde und Hepp-Hepp-Unruhen, S. .

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auf begehrenden nationalistischen und politischen Intellektuellen.180 Katz betont zu Recht, dass es zwar durchaus einige pro-revolutionäre und zugleich judenfeindliche Personen gab, wie Jakob Friedrich Fries und sicher auch manchen Studenten (schlossen doch einige Burschenschaften Juden aus),181 doch dass deren Nationalismus sie nicht zu tätlichen Angriffen gegen die Juden führte, auch wenn ihre antijüdische Propaganda den Boden für die Unruhen mit bereitet hatte. Im Gegenteil, wie das Heidelberger Beispiel zeigt, griffen Studenten zum Schutz der Juden ein. Gegner der Judenemanzipation mussten den Vorwurf deutlich zurückweisen, dass es sich bei den Hep-Hep-Unruhen um revolutionäre Umtriebe handele, der teils von staatlicher Seite, teils aber auch von Juden erhoben wurde, die damit ihre Gegner bei den Regierungen diskreditieren wollten, indem sie diese als Anstifter von revolutionärer Unruhe hinstellten.182 Moshe Zimmermann vertritt die Auffassung, dass die Krawalle für die Judengegner sogar kontraproduktiv gewesen seien. Er nimmt an, dass Interessenten aus dem Mittelstand die Unterschichten für ihre Sache mobilisiert bzw. als Alibi benutzt hätten, was er für einen taktischen Fehler hält, da für die Regierungen der Restaurationsperiode Revolutionäre die größte Gefahr darstellten.183 Nach Sterling nutzten die Regierungen die Unruhen als Vorwand, um noch schärfer gegen vermeintliche geheime revolutionäre Umtriebe  Katz, Hep-Hep-Verfolgungen, S. .  Bald nach der Gründung der ersten Burschenschaft ( in Jena) brach innerhalb der Burschenschaften ein Streit darüber aus, ob jüdische Studenten aufgenommen oder als Feinde der sich christlich-deutsch definierenden Burschenschaften ausgeschlossen werden müssten. An den einzelnen Universitäten kam es zu unterschiedlichen Regelungen. Siehe: Ulrich Wyrwa, Deutsche Burschenschaften, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -.  Der Hamburger Autor Ludwig Holst warf in seiner Schrift Judenthum in allen dessen Theilen aus einem staatswissenschaftlichen Standpuncte betrachtet (Mainz ) rückblickend jüdischen Autoren vor, sie dichteten den gegnerischen Autoren »durch Unterschieben von Motiven, sogar die aller niedrigsten, und was mehr als alles sagen will, selbst revolutionäre Absichten an, welche sie theils direkt, theils indirekt, ausführen« (S. ). So habe Ludwig Börne behauptet, »der Streit gegen die Juden und der Streit gegen den Adel geht (sic) aus einer und derselben Quelle hervor, nämlich: eine vermeinte Aristokratie zu bekämpfen, die in Geldvorzügen und Geburtsvorzügen liegen soll« (S. ) und Dr. Sabbatia Joseph Wolff habe in seiner Schrift Wider Juden. Sendschreiben an Herrn Julius Voss veranlasst durch die von ihm mir gewidmete Schrift die hep heps zu Verteidigung der Christen (Berlin ), behauptet: »Nicht der Jude allein war es, den man anfeindete, nein! Man war auch mit der Regierung unzufrieden, hoffte und beredete sich, daß wenn es nur erst recht drunter und drüber, recht bunt untereinander gienge, es auch schon besser werden würde« (S. ). Um jeden Verdacht zu entkräften, betonte Holst, »dass Deutschland kein Land für Revolutionäre sei« (S. ). Vgl. dazu Zimmermann, Die HepHep-Unruhen in Hamburg.  So richteten sich die Karlsbader Beschlüsse, die während der Hep-Hep-Unruhen vom . bis zum . August  diskutiert und schließlich verkündet wurden, gegen »Elemente des Bürgertums, die man für aufrührerisch hielt – Studenten, Professoren, Turner etc.« (Zimmermann, Die Hep-Hep-Unruhen in Hamburg).

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vorzugehen und zahlreiche Personen zu verhören und zu verhaften. Sie sieht auch die Karlsbader Beschlüsse vom . September  und die in Mainz eingerichtete Untersuchungskommission für die Unruhen in diesem Licht: »A Central Commission of Investigation was established at Mainz, and military force was henceforth to be used. To enforce the final choking of the freedom of the universities and of the press.«184 Jacob Katz, dem Stefan Rohrbacher, Rainer Erb, Werner Bergmann und andere hierin gefolgt sind, sieht in den Unruhen aber allein eine Konfrontation auf lokaler Ebene, in der die betroffenen Schichten der einheimischen Bevölkerung sich gegen den Zuzug bzw. den Aufstieg jüdischer Konkurrenz wehrten.185 Auch wenn bisweilen religiöse Motive, wie Ritualmord- oder Gottesmordvorwürfe, reaktiviert wurden, so verteidigte man die althergebrachte ständische und zünftige Ordnung gegen emanzipatorische Veränderungen, die man als bedrohlich wahrnahm. Inwieweit die Hep-Hep-Unruhen selbst oder aber die generelle reaktionäre Zeitstimmung und Politik den weiteren Fortgang der Judenemanzipation hemmten, lässt sich schwer sagen. Die Gegner der Emanzipation beriefen sich jedenfalls häufig auf die Unruhen, um vor weiteren Veränderungen zugunsten der Juden zu warnen. Für Hamburg ließ sich feststellen, dass der Senat in der Tat weitere Verbesserungen der Rechtsstellung der Juden nach den Unruhen auf die lange Bank schob, und auch Bayern verzichtete auf ein neues, weitergehendes Judenedikt, während sich etwa der dänische König von den Unruhen nicht beeindrucken ließ. Auf jüdischer Seite gab es, wie die Reaktion Rahel Varnhagens belegt, zunächst Schrecken und Verwirrung und eine temporäre Flucht aus den betroffenen Orten. Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen, führten die Unruhen nur selten zu einer dauerhaften Abwanderung der jüdischen Einwohner, auch wenn zunächst gerade einflussreiche und wohlhabende Juden daran dachten, nach Frankreich, in die Niederlande oder nach Wien überzusiedeln. Die meisten verließen ihre Wohnorte letztlich jedoch nicht. Sterling betont allerdings für die unmittelbare Zeit nach den Unruhen, dass es durch das Fernbleiben jüdischer Kaufleute zu einer Störung der Frankfurter Messe im September  kam und dass jüdische Bankhäuser die Wechsel christlicher Kaufleute nicht einlösten, die sie verdächtigen, an den Unruhen beteiligt gewesen zu sein. Dies habe den Handel mit England behindert.186 Wie die Wiederaufnahme des »Hep-Hep«-Rufes in den Ausschreitungen des späten . und frühen . Jahrhunderts belegt, blieben sie im kollektiven Gedächtnis soweit als paradigmatisch präsent, dass sie in antijüdischen Aktionen reaktiviert werden konnten.187 Für die unmittelbaren Reaktionen auf die Hep-Hep-Welle gilt  Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. .  Vgl. neuerdings ebenso Smith, From Play to Act, S. -: »The Hep Hep Riots thus represented the first uprising against emancipation, and especially against that part of emancipation that affronted local privilege« (S. ).  Sterling, Anti-Jewish Riots in Germany , S. .  »Hep-Hep«-Rufe sind belegt für die antijüdischen Unruhen in Neustettin (), Xanten () und Konitz (). Siehe Kap.  dieser Arbeit. Siehe dazu auch: Gerson, Hepp-

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indessen, dass man sie sowohl auf christlicher wie auf jüdischer Seite möglichst schnell ad acta legen wollte, um das Einvernehmen zwischen den Gruppen nicht weiter zu stören.

Hepp, S. -. Der Ruf »Hep-Hep« blieb vor allem auch im Gedächtnis der deutschen Juden präsent und wird häufig, etwa in Karikaturen, kritisch gegen Äußerungen von Antisemitismus gewendet.

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. Ausschreitungen im Gefolge der Juli-Revolution – - Die französische Juli-Revolution von  hatte nach Thomas Nipperdey »exemplarischen Charakter und gesamteuropäische Resonanz«, da sie der Ausdruck einer allgemeinen Krise der restaurativen Ordnung war, die auf Dauer nicht mehr zu halten schien.1 Die Revolution erfasste Belgien, die Schweiz, Teile Italiens, Russisch-Polen und brachte auch die Verhältnisse im Deutschen Bund in Bewegung, wobei sie dort, den vielen Teilstaaten entsprechend, ganz unterschiedlich verlief. Im Zuge der Julirevolution kam es zunächst im Elsass und dann ab Ende August  auch in einer ganzen Reihe von Regionen des Deutschen Bundes vor allem in Nord- und Mitteldeutschland (Braunschweig, Kassel und ganz Kurhessen, Göttingen (Südhannover), Leipzig, Dresden) zum Sturm bewaffneter Bürger, darunter, Handwerker, liberale Bürger, Bauern und Arbeiter, auf Regierungsgebäude, um die Fürsten und Minister zum Rücktritt zu zwingen und liberale Verfassungen durchzusetzen, wobei dieser politische Protest häufig mit Sozialprotest unterfüttert war, der sich gegen die hohen Steuerlasten, Feudalabgaben, die versteinerte Bürokratie, das Polizeiregiment, die Zollgrenzen, aber auch gegen Fabrikanten richtete. In den bereits konstitutionellen Staaten Süddeutschlands kam es nicht zu Unruhen, eine Ausnahme war Oberhessen, wo sich der Protest gegen Steuern, Zölle und die feudalen Verhältnisse richtete. Unberührt von den Erschütterungen der Julirevolution blieben Preußen und Österreich, wo es weder Verfassungsbewegungen noch Sozialproteste gab.2 Die Welle der Unruhen blieb nicht auf die kurze Spanne nach der Julirevolution beschränkt, sondern hielt bis  an. Heinrich Volkmann kam in seinen Untersuchungen der Unruhen von - auf insgesamt  Protestfälle, denen er konjunkturell-wirtschaftliche, strukturell-wirtschaftliche, politische sowie ethnische und konfessionelle Ursachen zuordnete.3 Bei den konfessionellen Unruhen handelt es sich zumeist um antijüdische Unruhen, die in einigen größeren Städten wie Hamburg, Breslau, Hanau und Karlsruhe sowie in kleineren Orten Hessens, Badens, Bayerns und Frankens gravierend ausfielen.4 Gewalt gegen Juden im Kontext antirevolutionärer Unruhen im Elsass Es sollte wiederum das Elsass sein, in dem – wie bereits  – zu Beginn der JuliRevolution von  antijüdische Unruhen ausbrachen, so in Wintzenheim, wo die Juden beim Präfekten um Schutz nachsuchten, und in den Gemeinden rund um Phalsbourg (Mosel).5  Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte -, München , S. .  Ebd., S.  f. u. .  Heinrich Volkmann, Die Krise von . Form, Ursache und Funktion des sozialen Protests im deutschen Vormärz. MS. Habilitationsschrift, Berlin , S. .  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  f.  Dazu und zum Folgenden Szajkowski, Jews, S.  ff.

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Antijüdische Ausschreitungen im Zuge der Juli-Revolution in Frankreich, Dänemark und im Deutschen Bund -

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Zu den schwersten Unruhen kam es aber erst zwei Jahre später. Diese müssen als Teil von breiter angelegten, konterrevolutionären Aktionen gegen die im Zuge der Juli-Revolution von  eingesetzte Regierung, die unter Juden und Protestanten breite Unterstützung fand, verstanden werden, wobei die katholische Kirche und die legitimistische Partei zusammenarbeiteten.6 Am . Juni  wurde die Einweihungsprozession für die neue Synagoge in Itterswiller gestört, als Christen ihr Vieh in die Reihen der Feiernden trieben, was ein Handgemenge auslöste. Der katholische Ortsgeistliche nahm diesen Vorfall zum Anlass für eine gezielte antijüdische Agitation.7 Am . Juni  griffen Bauern und Arbeiter der örtlichen Fabriken, darunter auch Einwohner aus dem nahe gelegenen Itterswiller, Juden in Bergheim (Department Haut-Rhin) an, wobei es neben der Zerstörung und Plünderung zahlreicher Häuser auch zwei, eventuell sogar drei Tote und ungefähr zwanzig Verletzte gegeben haben soll.8 Dies dürfte geschehen sein, weil die Angreifer auf eine Armeeeinheit schossen, die die Menge zerstreuen sollte. Die einheimischen Juden wurden zur Flucht in die umliegenden Orte wie Colmar und Sélestat gezwungen. Einige kehrten nicht wieder in ihre Heimatorte zurück. Der Auslöser für dieses Pogrom bleibt nach Daniel Gerson unklar, ein Wirtshausstreit soll den Anfang gemacht haben.9 Demnach hätten vier junge Leute einen Juden in einem Gasthaus verspottet. Als sie dieses verließen, stießen sie auf eine größere Anzahl von Juden in den Uniformen der Nationalgrade, die auch ihre Waffen trugen. Sie hatten von der Verspottung ihres Religionsgenossen gehört und versperrten den  Ebd., S. . Mit dem Begriff Legitimisten (französisch légitimistes) wird eine Partei bezeichnet, die in Frankreich nach der Revolution von  die Ansprüche der französischen Könige aus der Linie der Bourbonen unterstützen.  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Szajkowski sieht dies Unruhen deshalb auch stark von den judenfeindlichen Einstellungen der katholischen Kirche beeinflusst (Jews, S.  ff.).  Szajkowski, Jews, S.  f. Die Formulierung »peasants and workers of the local factories attacked the Jews with casualties of two dead and eighteen or twenty wounded« lässt zwar vermuten, dass es sich bei den Toten und Verletzten um Juden handelte, doch da auf eine Armeeeinheit geschossen wurde und diese möglicherweise mit Schüssen geantwortet hat, wären Tote und Verletzte auch unter den Soldaten und Tumultuanten denkbar. Auch Gerson merkt an, dass Szajkowski nicht präzisiere, ob es sich bei den Opfern um Juden oder Nichtjuden handelte (Die Kehrseite, S. ). Szajkowski kommt auf S.  noch einmal auf die Unruhen in Bergheim zurück und schreibt, dass es dort drei tote Tumultuanten (attackers) gegeben und man  von ihnen verhaftet habe. D. h., bei den Toten hat es sich offensichtlich nicht um Juden gehandelt. Über die Gründe für eine Beteiligung von Fabrikarbeitern an den antijüdischen Unruhen von  und auch später gibt es keine überzeugenden Erklärungen. Zu Recht verwirft Szajkowski die von Historikern vorgebrachten Gründe, die Juden seien als wohlhabende Bevölkerungsgruppe oder als Eigner von Pfandbriefen zum Ziel der Angriffe geworden, da beides sich empirisch nicht halten lässt (ebd., S.  f.). Möglicherweise unterscheiden sich in dieser Zeit die Arbeiter in ihrer Mentalität noch kaum von der bäuerlichen Bevölkerung, vor allem nicht in kleineren Orten, so bezweifelt Szajkowski auch die von manchen behauptete Existenz einer organisierten Arbeiterbewegung und vor allem, dass diese antijüdisch orientiert gewesen sei.  Gerson, Die Kehrseite, S. .

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vier jungen Leuten den Weg, so dass es zum Kampf kam, wobei einer der jungen Männer schwer verletzt wurde, während die übrigen in ein Geschäft flüchteten, wo sie erregt von der Verletzung ihres Kameraden und betrunken vom Wein begannen, die Fensterläden und die Einrichtung des Ladens zu zerschlagen. Die Autoritäten des Ortes reagierten schnell, verhafteten die vier jungen Leute und brachten sie auf die Polizeiwache. Als sie am folgenden Tag ins Gefängnis von Colmar überführt werden sollten, bildeten sich Gruppen von Menschen auf dem Marktplatz, so dass sich, verstärkt von Arbeitern aus den Fabriken, schließlich ungefähr achthundert Menschen versammelt hatten, die in das Gefängnis eindrangen und die Verhafteten befreiten. Sie brachen dann in den Keller eines gewissen Blum ein und verteilten die Weinvorräte. Dies begünstigte den Ausbruch der folgenden Unruhen, die von  Uhr mittags bis in die Nacht dauerten.10 Dank der Ankunft des königlichen Prokurators und von Truppen aus Ribeauville und der Nationalgarde wurde die Ordnung wiederhergestellt. Es wurden mehr als  Personen, darunter ein großer Anteil von Fabrikarbeitern, verhaftet. Der Ort wurde abgeriegelt, und es begannen Hausdurchsuchungen, um das Plünderungsgut aufzuspüren, wobei ein großer Teil der Gegenstände sichergestellt werden konnte.  Juden Bergheims forderten als Entschädigung knapp . Francs, mehr als das Doppelte des Wertes der entwendeten Gegenstände. Die Gemeinde Bergheim wehrte sich gegen diese Forderung. Dennoch wurde die Gemeinde in erster und in zweiter Instanz verurteilt, den Schaden zu ersetzen, und musste auch die Prozesskosten tragen.11 Die Berichte der Behörden über diesen Vorfall nennen den jüdischen Wucher und die damit  Szajkowski (Jews, S. ) zitiert aus einem Bericht des Unterpräfekten aus Seléstat vom . Juli : »The streets were full of broken furniture thrown out by the rioters from Jewish homes; roofs and other parts of Jewish houses were destroyed; Christians who were apprehensive that they might be subjected to a search, were returning various effects from looted Jewish houses. Jews who had tried to escape to Seléstat found the roads blocked by Christians.«  M. Ginsburger, Les Juifs à Ribeauvillé et Bergheim, Conférence faite lors de la ème assemblée générale de la Société d’histoire et d’archéologie de Ribeauvillé, le  mars . Publication de la Société pour l’Histoire des Israélites d’Alsace et de Lorraine XXV – , http://judaisme.sdv.fr/synagog/hautrhin/r-z/ribeauv/historiq.htm. Der Artikel bezieht sich auf die Strassburger israelitische Wochenschrift, IV, , No. . Vor dem Zivilgericht in Colmar kam es anschließend zum Prozess um die Zahlung von Entschädigungen für das während der Ausschreitungen in Bergheim zerstörte und entwendete jüdische Eigentum. Die Gemeinde Bergheim behauptete, alles getan zu haben, um den Aufruhr zu zerstreuen und die Plünderungen zu verhindern, und wollte keine Entschädigung zahlen. Um den Sachverhalt zu klären, ordnete das Gericht eine Expertise über den entstandenen Schaden an. Das Gericht verurteilte am . Juni  die Gemeinde zu Schadenersatz gegenüber den Klägern wegen der angerichteten Schäden und der Entwendung von Eigentum. Die Gemeinde wiederholte ihre Beweisgründe und bot an, zu beweisen, dass sie alles getan habe, um die Unordnung und Plünderungen zu stoppen. Die zweite Instanz bestätigte jedoch das Urteil der ersten Instanz (Jurisprudence Générale du Royaume. Recueil Périodique et Critique de Législation, de Doctrine de Jurisprudence, et Matière Civile, Commerciale, Criminelle, Administrative et de Droit Public, von M. Dalloz, Paris , S. ).

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verbundene Ausbeutung der Bevölkerung als Ursache, wobei sie die Gewalt als einen wenn auch nicht legalen, so doch legitimen Akt von Selbstjustiz betrachteten.12 Die Befürchtung, die Unruhen könnten auf andere Orte übergreifen, sollte sich bewahrheiten: Am . Juni bereiteten sich die Einwohner von Châtenais darauf vor, am Abend die Juden in Schervillé (Bas-Rhin) zu attackieren, so dass der gewarnte Subpräfekt eine Armeeeinheit dorthin beorderte. Ausschreitungen konnten damit verhindert werden. Eigentlich hätte die lokale Nationalgarde für solche Fälle eingesetzt werden sollen, doch galt sie für den Schutz der Juden offenbar als unzuverlässig, was für die weite Verbreitung antijüdischer Einstellungen im Elsass spricht.13 Auch in einigen anderen Orten waren öffentlich judenfeindliche Äußerungen und einzelne Tätlichkeiten zu verzeichnen, die jedoch nicht in größere Krawalle übergingen. Wir haben es in diesem Fall also nicht mit genuin antijüdischen Ausschreitungen zu tun, sondern mit politischen, anti-revolutionären Aktionen gegen das neue Regime, in die Erstere eingebettet waren. Dabei konnten fehlgeschlagene größere Aufstandspläne zu einem ersatzweisen Angriff auf Juden führen, oder umgekehrt versuchte man, antijüdische Ausschreitungen als Initialzündung für größere politische Unruhen zu nutzen.14 Waren es im Elsass konterrevolutionäre Akteure, die die Unruhen schürten, so war es in Hamburg, wie einige der Forderungen der Tumultuanten zeigen, durchaus eine in Teilen revolutionäre Stimmung, in der es zu den antijüdischen Ausschreitungen kam. »Anmaaßung und Krämersinn«: antijüdische Ausschreitungen in Hamburg  und  Die Ursachen für die antijüdischen Unruhen unterschieden sich in Hamburg  kaum von denen von . Der liberale Hamburger Chronist Johann Gustav Gallois stellte sogar einen kausalen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen her, indem er annahm, dass sich darin »die noch von  her im Volk steckende Erbitterung der Hamburger Mittelklasse gegen die Juden« entlud.15 Es waren nämlich  Gerson zitiert den für Sélestat im Pariser Parlament sitzenden Abgeordneten Longuet, der »den Hass der Katholiken gegen die Juden in den Departementen Haut-Rhin und BasRhin sowie die Ereignisse zu Bergheim dem Wucher und den betrügerischen Geschäften [zuschreibt], deren sich die Juden tagtäglich schuldig machen« (Kehrseite, S. ). Tatsächlich erreichte es Longuet, dass es zu einer kleinen Enquete bezüglich des jüdischen Wuchers im Elsass kam.  Szajkowsky, Jews, S.  f.  Gestützt auf die Berichte des Unterpräfekten von Seléstat vom Juni  bzw. Oktober , schreibt Szajkowski dazu, »that agitators had tried to foment a revolt of the people against the July regime … When this maneuver failed, the age-old incitement of the people against the Jews was resorted to.« […] »The priests were again active in the villages, where they agitated against the Jews. ›The Jews were always the excuse the agitators use for provoking uprising in Alsace‹« (Szajkowski, Jews, S. ).  Zit. nach Hans-Georg Stümke, »Wo nix is, hett de Kaiser sein Recht verlor’n oder Der

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wiederum die zünftigen Handwerker und die im Krameramt organisierten Kaufleute, die sich durch die Entwicklung der modernen Wirtschaft, etwa die Senkung der Einfuhrzölle und die reformierte Gesetzgebung (ein Ausschuss sollte die Struktur der Zünfte überprüfen) bedroht fühlten. Nach Auffassung dieser Kreise nutzten die reichen Juden die für sie günstige Gesetzgebung sowie die gute Konjunktur, um noch reicher zu werden, während sich die ärmeren jüdischen Händler durch Umgehung der Krameramtsartikel illegal Vorteile verschafften.16 So gab es zahlreiche Beschwerden gegen den »Lärm jüdischer Trödler«. Nach Moshe Zimmermann nutzten diese Kreise die durch die französische Juli-Revolution auch in Hamburg ausgelöste revolutionäre Stimmung, um gewaltsam gegen die Juden vorzugehen.17 Ob dies in organisierter Weise geschah, ist schwer zu beurteilen.18 Der erste »Tumult« begann ganz nach dem Muster von  am Abend des . August, als sich vor dem Alsterpavillon eine aufgebrachte Menge versammelte, »Hepp, Hepp, Hepp« und »Juden raus !« skandierte und schließlich die jüdischen Gäste der Kaffeehäuser an der Alster auch tätlich angriff und aus den Lokalen vertrieb. Gleichzeitig wurde aber auch die Marseillaise gesungen, und es wurden Schärpen mit den Farben der Trikolore getragen, was auf eine politisch-revolutionäre Stimmung hindeutet. Am nächsten Abend gingen die Unruhen weiter. Es kam zu »starken Zusammenrottungen«, und nun beschränkte man sich nicht mehr allein auf die Kaffeehäuser, sondern warf auch die Fenster jüdischer Häuser ein. Auch am dritten Abend versammelte sich eine große Menschenmenge am Jungfernstieg, um antisemitische Drohungen hinauszuschreien und Juden aus den Kaffeehäusern hinauszuwerfen.19 Träger dieser Übergriffe kamen zwar überwiegend aus den »geringeren Klassen«, doch gab es Hinweise von Augenzeugen auf die Teilnahme von Kaufleuten und gutsituierten Handwerkern.20 Die Tatsache, dass die Menge sich an drei Abenden hintereinander ungehindert versammeln und randalieren konnte, deutete auf eine große Zurückhaltung der Polizei und des Bürgermilitärs hin. Der Senat, obwohl

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Stein auf dem Sofa der Senatorin«. Die Hamburger Unruhen vom . August bis . September , in: Jörg Berlin (Hrsg.), Das andere Hamburg. Freiheitliche Bestrebungen in der Hansestadt seit dem Spätmittelalter, Köln, , S. -, S. . Zimmermann, Antijüdischer Sozialprotest? S.  Vgl. zur Beschreibung dieser spontanen Begeisterung in Hamburg Stümke, »Wo nix is«, S.  f. In den Quellen (in der Unpartheyischen Darstellung der Unruhen in Hamburg im September ) wird erwähnt, dass sich am Abend des .. die Gäste im Schweizerpavillon auf ein verabredetes Zeichen hin unter »Juden heraus!«-Rufen auf die jüdischen Gäste gestürzt hätten (zit. bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .). Auch Stümke erwähnt die Verteilung von Handzetteln auf dem Jungfernstieg, auf denen »Nieder mit dem Judenpack! Nieder mit Rautenberg ! [ein verhasster mystischer Pietist mit Einfluss im Rat der Stadt] Sont aux armes ! Darunter ein Schwert gezeichnet« zu lesen war, als Beleg für das bewusste Schüren der Unruhen durch interessierte Gruppen. Welche dies gewesen sein könnten, ist allerdings nicht bekannt (»Wo nix is«, S. ). Ebd., S. . Zimmermann, Antijüdischer Sozialprotest? S. .

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von den Tumulten in Kenntnis gesetzt, zögerte mit dem Einsatz dieser Kräfte, da man glaubte, es läge zu »einer Beunruhigung kein Grund« vor.21 Erst als sich am Abend des . September die Menge nach der Verhaftung von Demonstranten gegen die anwesenden Ordnungskräfte richtete und diese sich in das nahe des Jungfernstiegs liegende Stadthaus flüchten mussten, das nun zum Ziel der Angriffe wurde, wendete sich das Blatt und der Senat setzte Ulanen und weitere Polizeikräfte ein, um die Menge mit Waffengewalt zu zerstreuen. Angesichts dieser Eskalation und des direkten Angriffs auf Einrichtungen der Stadt reagierte der Senat nun mit Härte und erließ schon am nächsten Tag das »Tumultmandat von «. Die vor dem Stadthaus agierende Menschenmenge beschränkte sich aber nicht auf Steinwürfe gegen das Stadthaus, sondern erhob auch politische Forderungen wie: »Zoll wieder erhöht, Steuern abgeschafft! Weg mit den reichen (Alias: fremden) Kaufleuten, die keinen Zoll wollen! Weg mit der Mietabgabe und dem Wallgeld! Weg mit der Accise!« usw., die verbunden wurden mit Parolen gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder Personen: »Nieder mit den Juden und Hausierern ! […] Nieder mit dem Rat! Nieder mit den Aristokraten! Weg mit dem Nepotismus (wobei einzelne Namen genannt wurden) […] Nieder mit der Zensur! Nieder mit den Ulanen! […] Budget, öffentliches Budget! Rechenschaft des Rats!« u. a.22 Diese politischen und sozialen Forderungen an den Senat zeigen aber auch, dass die Juden zwar als »Sündenböcke« für eine allgemeinere Unzufriedenheit mit der Politik des Senats und gegenüber der reichen Bürgerschicht herhalten mussten, dass sie aber nicht zufällig gewählt worden waren, sondern als eine durch die Senatspolitik besonders begünstigte, sich durch Zuzug ständig vergrößernde fremde Gruppe gesehen wurden, während sich die einheimischen Kaufleute und Handwerker benachteiligt sahen.23 Trotz des verhängten Ausnahmezustandes hörten die Unruhen nicht auf, sondern am Abend des . September kam es zu heftigen Straßenschlachten zwischen den Tumultuanten und Ulanen, und die Menge zog Parolen skandierend durch die Stadt und warf bei Häusern von Christen und Juden die Fenster ein. Es gab einen regelrechten Angriff auf das Stadthaus. Man errichtete Barrikaden, und viele Ulanen und Polizeikräfte wurden übel zugerichtet, was auf eine veränderte Ausrichtung der kollektiven Gewalt hindeutet. Wie sich zeigte, war auch in Hamburg auf die Bürgergarde und Teile des Militärs nur bedingt Verlass, da diese mit den Demonstranten sympathisierten und sich zum Teil gegen die von außen herbeigeorderten Einheiten des Linienmilitärs wandten. Trotz des Militäreinsatzes gingen die Unruhen auch am . September weiter, verlagerten sich nun aber von der durch Militäreinheiten kontrollierten Innenstadt vor die Tore der Stadt ans Millerntor (heute St. Pauli) und mussten mit Hilfe des verspätet eintreffenden Militärs zerstreut werden. Am Sonntag, dem . September, fürchtete man eine weitere Zuspitzung der Lage, und tatsächlich kam es wiederum am Millerntor zu heftigen  Max Treu, Die Hamburger Unruhen im September , in: Hamburgische Geschichtsund Heimatblätter, , Heft , S. -, hier S. .  Zit. nach Stümke, »Wo nix is«, S. .  Ebd., S. .

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Auseinandersetzungen zwischen »Pöbel«, Matrosen und dem Militär, bei denen es mehrere Tote und viele Verletzte unter den Tumultuanten gab.24 Diese heftige Intervention der Staatsmacht löste Erschütterung in der Bevölkerung aus und wendete das Blatt, da die Unruhen nach dem . September nicht wieder aufflammten. Der Senat ging mit Härte gegen die  verhafteten Unruhestifter vor, die z. T. zu Gefängnisstrafen von zwei Monaten bis zu einem Jahr verurteilt wurden. Bei diesen von zwei Senatoren geführten Kriminaluntersuchungen ging es auch darum, die vermuteten geheimen revolutionären Unruhestifter zu finden.25 Da die Interessenkonflikte zwischen Juden und dem christlichen Mittelstand fortdauerten, kam es  wiederum zu antijüdischen Ausschreitungen, die nach dem gleichen Muster abliefen, die aber ein noch größeres Ausmaß annahmen.26 Wieder begannen die Krawalle in den Kaffeehäusern am Jungfernstieg. Nachdem Kaffeehausbesitzer zunächst erfolglos versucht hatten, jüdische Besucher durch überhöhte Preise fernzuhalten, wurden am . Juli  jüdische Gäste mit Gewalt aus der Alsterhalle vertrieben.27 Da sich diese sich nicht vom Besuch der Kaffeehäuser abschrecken ließen, wiederholte sich dies, zumal offenbar Flugblätter dazu aufriefen, an den folgenden Abenden, ohne dass Polizei oder Bürgerwachse eingegriffen hätten.28 Am Abend des . August weiteten sich die Tumulte aus, da nun die vor den Kaffeehäusern versammelte Menge in die Neustadt zog, um dort ungestört vor den Häusern der Juden zu randalieren. Zwar ergriff die Polizei Gegenmaßnahmen, indem Militär »zur Disposition« bereitgehalten wurde, doch erst nach einer Woche griffen die Behörden durch, um die Ausschreitungen zu beenden.29 Der verant Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .  Stümke, »Wo nix is«, S. .  Über die Ursachen war man sich in Hamburg durchaus im Klaren. Der Hamburger Advokat Patow wies die Annahme, es handele sich um Religionshass, zurück, da dafür der Hamburger zu vernünftig sei. Es handele sich um »Anmaaßung und Krämersinn. Letztere wird nur zu leicht erweckt, wenn Einzelne schreien und dadurch dem Eigenutze Nahrung und Schwingung geben. Bald strömen dann Unberufene und Unerfahrene hinzu und schreien mit, ohne zu wissen, was und wem es gilt« (zit. bei Zimmermann, Antijüdischer Sozialprotest? S ).  Wie der »Aufruf zu Ausschreitungen gegen die Juden, aufgefunden auf dem Neuen Wall, . August «, zeigt, hat es auf Flugblättern einen Aufruf an »Kammeraden = Handwerks=Gesellen = Lehrburschen = und Arbeit=lose Leute und wer sonst noch Hände hat« gegeben, die sich in der Alsterhalle versammeln und gegen die Juden vorgehen sollten. Abgedruckt in Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  [Staatsarchiv Hamburg: Polizeibehörde Kriminalwesen C Jg. /].  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ; Zimmermann, Jüdischer Sozialprotest? S.  f.  Dies motivierte Gabriel Riesser zu einer deutlichen Kritik an der Stadtregierung, indem er schrieb, die Polizei habe den »Anspruch«, die Misshandlung von Juden sei »eines der vielen bürgerlichen Privilegien« ex post facto gebilligt. Riesser kritisierte auch die populäre Presse, die die Anschuldigungen gegen die Juden publiziert und so die Unterschichten aufgewiegelt habe (Zimmermann, Antijüdischer Sozialprotest? S. ).

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wortliche Senator forderte die Juden auf, sich von den Kaffeehäusern fernzuhalten, ohne aber auf die sozialen Ursachen der Unruhen einzugehen. Hintergrund für die Eskalation swaren einmal die  erneut geführte Debatte um die Zunftfrage, die  erlassenen neuen Gesetze zur Gesindeordnung und zur Neuordnung des Bürgerrechts, zum anderen die daran anschließenden Bemühungen einer progressiven Gruppe von Juden um Gabriel Riesser, die  eine Denkschrift über die bürgerlichen Verhältnisse der Hamburgischen Israeliten eingereicht hatte, in der sie die völlige rechtliche Gleichstellung der Juden in Hamburg verlangte, zu der auch die Gewerbefreiheit gehörte. Obwohl der Senat am . Dezember  bekannt gab, dass man die Forderung nach völliger Gleichberechtigung für verfrüht halte, war er doch bereit, eine »Commission zur Erörterung der Verhältnisse der hiesigen Israeliten« einzusetzen. Dies wurde von den Gegnern der Judenemanzipation als bedrohlich empfunden,30 so dass man die Unruhen von  wiederum als den erfolgreichen Versuch werten kann, die weitere Gleichstellung der Juden in Hamburg zu verhindern. Der Senat sah sich Druck von zwei Seiten ausgesetzt: Die jüdische Gemeinde verwies auf den erheblichen wirtschaftlichen Schaden, den eine Handelsstadt wie Hamburg durch die Unruhen erleide, da ausländische Juden die Stadt meiden würden, während die Handwerker und Kaufleute sich ihrerseits allen Veränderungen des jüdischen Status entgegenstemmten und auf ihre prekäre wirtschaftliche Situation verwiesen. Der Senat ging deshalb einerseits gegen die bekannten Unruhestifter vor, sperrte sich aber gleichzeitig gegen Zugeständnisse an die Juden der Stadt.31 Antijüdische Tumulte in Kopenhagen () und Stockholm () Es waren wohl die seit Anfang September  andauernden Hamburger Unruhen, die das Vorbild für Ausschreitungen in Kopenhagen anlässlich der Grundsteinlegung für die neue Synagoge am . September  boten. Zuvor hatten die Nachrichten über die revolutionären Kämpfe in Paris und die Abdankung des französischen Königs Karl X. zwar zu einem angespannten Klima in der Stadt geführt, doch war es nicht zu Unruhen gekommen, zumal die Polizei seit dem . September mit einer verstärkten Überwachung der Wirtshäuser reagiert hatte. Die Hamburger Unruhen waren dort, wie Polizeiinformanten berichteten, zwar Gesprächsgegenstand und man glaubte, dass es auch in Kopenhagen zu Unruhen kommen könne. Es waren auch judenfeindliche Stimmen zu hören und Plakate in den Straßen aufgetaucht,32 so dass die jüdische Gemeinde in Erinnerung an die Hep-Hep-Unruhen von  in der Stadt anlässlich der Einweihung der neuen Synagoge eine Wiederholung befürchtete, doch blieb es zunächst ruhig. Drei Tage vor der Grundsteinlegung versammelte sich jedoch am Abend eine Menschen Ebd., S. .  Ebd., S. .  Blüdnikow, Jødeureon in Køpenhavn, S. . Blüdnikow stützt sich bei seiner Analyse auf überlieferte Berichte von Informanten der Polizei.

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menge, die unter Johlen und Pfiffen durch die Straßen zog, sich dann aber wieder auflöste. Gegenüber der Polizei äußerten sich die Teilnehmer ganz unterschiedlich, doch hatten einige offenbar in der Erwartung teilgenommen, es würde gegen die Juden gehen. Ähnliches ereignete sich auch an den beiden folgenden Tagen, und in der Stadt herrschte die Erwartung, dass bald »etwas« passieren würde, eine oft vor Pogromen anzutreffende Stimmungslage.33 Am . September fand sich eine »heterogene Schar von Neugierigen« offenbar in Erwartung eines Tumultes am Bauplatz der Synagoge ein. Die jüdische Gemeinde hatte aber die Zeremonie, wohl angesichts der versammelten, unruhigen Menge, abgesagt. Trotz Polizeipräsenz öffneten einige Anführer den Bauzaun, und es flogen Steine gegen das benachbarte jüdische Wohnstift »Meyers Minde«. Ein Bewohner, der Hilfe holen wollte, wurde umgestoßen und geschlagen. Das Wohnstift glich einer belagerten Festung, und die eingeschlossenen älteren Juden waren in großer Angst. Niemand konnte in das Stift gelangen oder es verlassen, ohne mit Steinen beworfen und mit dem »Hurra« des zahlreichen Pöbels empfangen zu werden.34 Der Tumult dauerte am Nachmittag drei Stunden an, wobei die Menge in den Garten gestürmt war und  Fenster eingeschlagen hatte, was der Inspektor vor Ort nicht hatte verhindern können. Dieser Vorfall war offenbar Auslöser für Tumulte an anderen Orten in der Stadt, wo man die Fenster jüdischer Geschäfte einwarf und auch einem Juden den Hut vom Kopf schlug. Ähnliche Vorfälle wiederholten sich auch am folgenden Tag.35 Danach kehrte Ruhe ein, obwohl es Gerüchte gab, die Unruhen könnten mit aller Macht weitergehen und es würden auch die Studenten einbezogen werden.36 Die Ursache für diese Ausschreitungen scheint den Beteiligten wie auch der Obrigkeit  Blüdnikow, Jødeureon in Køpenhavn, S. ; vgl. auch Christoph Leiska, Räume der Begegnung – Räume der Differenz. Jüdische Integration und Antisemitismus in Göteborg und Kopenhagen -, Berlin , S.  ff.  Blüdnikow, Jødeureon in Køpenhavn, S. , dort auch ein Brief des Inspektors des Wohnstiftes »Meyers Minde« an die jüdische Gemeinde zum Ausmaß der Schäden.  Über den Charakter und das Ausmaß der Unruhen gehen die Einschätzungen der Historiker Harald Jørgensen und Georg Nørregård (Danmark mellem Øst og West -, ) auseinander. Während Ersterer ein jugendliches Publikum mit eher spielerischem Verhalten beschreibt, sieht Letzterer Tausende von Menschen in den Straßen, d. h., Teilnehmer waren nicht nur junge, sondern auch ältere Leute. Zeitungen waren, auch wegen der Zensur, eine weniger geeignete Quelle als die Polizeiverhöre, die ein detailliertes und nuanciertes Bild der Geschehnisse liefern, was nicht heißt, dass sie notwendigerweise ein richtiges Bild zeichnen, da sie sich vor allem auf die Aussagen der später in den Prozessen verurteilten Jugendlichen stützen. Blüdnikow zeigt auf, wie sehr die Berichte in den unterschiedlichen Quellen (Zeitungen, Polizeiakten, Gesandtenberichte) differieren (Blüdnikow, Jødeureon in København, S. ).  Blüdnikow, Jødeureon in København, S.  ff. Es kam auch zur polizeirechtlichen Ahndung der Übergriffe – so eine Verhandlung gegen  Jugendliche, die Fenster eingeworfen hatten, sowie zu einer Verhandlung wegen des Angriffs auf einen alten Juden aus dem Wohnstift. Als Rädelsführer wurde durch Zeugenaussagen der Zimmermann Johan Christoper Petersen identifiziert, der zu dreißig Tagen Gefängnis bei Wasser und Brot verurteilt wurde (S.  f.).

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nicht ganz klar gewesen zu sein.37 Gegen die These von politisch motivierten revolutionären Unruhen spricht, dass die Bevölkerung gegenüber dem König loyal blieb.38 Die Unruhen waren eindeutig gegen die Juden gerichtet. In einem Klima von revolutionärer Nervosität und sozialem Protest und nach dem Vorbild der Hamburger Unruhen, die Gegenstand von Wirtshausgesprächen waren,39 hatten hier Kopenhagener Einwohner zu traditionellen Formen der Sanktionierung (Tumult am Bauplatz der geplanten Synagoge, Steinwürfe gegen jüdische Häuser, Pfiffe, das Herunterschlagen des Hutes) dessen gegriffen, was sie als Verletzung herkömmlicher Normen seitens der Juden auffassten. Der Bau einer neuen Synagoge wurde als Zeichen der Ausweitung der durch die Emanzipation gewonnenen Rechte betrachtet, mit denen sich die traditionelle räumliche Ordnung der Stadt wie die sozialen Hierarchien zuungunsten der Christen zu verschieben begannen. Die begrenzte physische Gewalt gegen die Juden und ihre Häuser, die auf eine symbolische Degradierung und Einschüchterung und nicht auf ernsthafte Verletzungen oder tatsächliche Austreibung zielte, muss also als Ausdruck des Protests vor allem der unterbürgerlichen Schichten, die noch an ständischen und christlichen Ordnungsvorstellungen festhielten, gegen den Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe der Juden am öffentlichen Raum gelesen werden.40 Die Einweihungsfeier der Synagoge verlief  dann ohne solche Zwischenfälle wie im September . Es erschien jedoch am Tag der Einweihung ein Spottgedicht in »jiddelnder Sprache« in der populären Zeitschrift Raketten, die den (allzu) schnellen ökonomischen und sozialen Aufstieg eines Juden (Moses Groscheer) vom Hausierer zum statusbewussten Börsenmakler karikierte, was man mit Christoph Leiska als Kritik an der als anmaßend angesehenen Verschiebung der hergebrachten sozialen Rolle der Juden lesen muss und was auch von den Juden selbst so verstanden wurde.41 Im Unterschied zu einigen Staaten des Kontinents war es in Dänemark und Schweden nach der Niederlage Napoleons nicht zur Rücknahme der im juderegle Der Historiker Harald Jørgensen hatte in seinem Buch Jødeuroligheder i København von  Gassenjungen für diese zufällig entstandenen Unruhen verantwortlich gemacht, doch behauptet Blüdnikow, dass dies nicht mit den Quellen übereinstimme. Er betont, dass man schon früh Unruhen am . September erwartet hatte und sich die Unruhen unter Beteiligung einer großen Menge über mehrere Tage erstreckten. Die Aktionen beschränkten sich auch nicht auf lautes Rufen, sondern es wurden Fenster eingeschlagen, ein Jude wurde misshandelt und man hinderte die Polizei, die Gassenjungen zu verhaften (S. ).  Blüdnikow, Jødeureon in København, S. .  Dass auch Deutsche an den Unruhen beteiligt gewesen sein sollen, wird zwar aufgrund von Gesandtenberichten behauptet, doch fand Blüdnikow in den Polizeiakten darauf keinen Hinweis (ebd., S. ).  Leiska, Räume der Begegnung, S. . Dass diese Form des Protests auch von jüdischer Seite so gedeutet wurde, wird an der gelassenen Reaktion des Gemeindevorstandes Lion Israel erkennbar, der die Bewohner des Wohnstiftes mit den Worten beruhigte: »Lass sie ruhig kommen, die tun nichts« (vgl. Blüdnikow, Jødeureon in Køpenhavn S. ).  Raketten, Nr.  vom ..: »Moses, som Groscheer«, S. -, zit. nach Leiska, Räume der Begegnung, S.  f.

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mentet festgelegten rechtlichen Bestimmungen gekommen.42 Es gab jedoch danach kaum weitere Fortschritte in Richtung einer vollständigen rechtlichen Gleichstellung der Juden, im Gegenteil wurden im schwedischen Ständereichstag in den Jahren , , ,  und  »Judenfragen« debattiert, in denen, wenn auch erfolglos, Verschärfungen des Judenreglements gefordert wurden, obwohl König Karl XIV. Johann seinerseits Verbesserungen anstrebte.43 Die »Judenfrage« wurde ähnlich wie in Deutschland in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts auch in Schweden in Büchern und einer Pamphletliteratur breit diskutiert, wobei rechtliche Verbesserungen mehrheitlich abgelehnt wurden.44 Die Ausschreitungen von  bildeten also einen Strang in einem politischen Diskurs, der im Reichstag, in antijüdischen Druckerzeugnissen und in der Öffentlichkeit geführt wurde. Die schwedische Staatsbürokratie sah die Bestimmungen des judereglementet von  aber zunehmend als überholt an, und der schwedische König hob es am . Juni  auf und ordnete die bürgerliche Gleichstellung jüdischer und christlicher Schweden an.45 Zunächst gab es vor allem Kritik am Gesetzgebungsverfahren, da die Neuregelung ohne Mitarbeit der Stände zustande gekommen war, die sich zwei Jahre zuvor gegen eine teilweise Emanzipation der Juden ausgesprochen hatten. Interessant ist, dass die Gegner der Neuregelung einerseits die staatlichen Akteure angriffen, die sie des »Ultraliberalismus« und einer ökonomischen und rechtlichen Bevorzugung der Juden bezichtigten, sich andererseits die Vorwürfe auch gegen die Juden selbst richteten, die nun, von Restriktionen befreit, massenhaft einwandern und Städte und kleine Orte überschwemmen würden. D. h., man akzeptierte die Emanzipation der einheimischen Juden, lehnte aber die Zulassung von Immigration und freie Ansiedlungsrechte für Juden ab und beklagte das »Ein Cordelia Hess hat in der bisher einzigen separaten Studie zu den Ereignissen von  in Stockholm darauf hingewiesen, dass man diesem Ereignis in der schwedischen Forschung lange Zeit nur wenig Bedeutung beigemessen und es nur als eine Fußnote in der Stockholmer Stadtgeschichte behandelt habe (Eine Fußnote der Emanzipation? Antijüdische Ausschreitungen in Stockholm  und ihre Bedeutung für eine Wissensgeschichte des Antisemitismus, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. , , S. -, hier S. ).  Dazu und zum Folgenden: ebd., S.  f. Nach Hess sind internationale Einflüsse als Anlass für diese Debatten nicht erkennbar, sie vermutet daher, dass die Forderung nach Wiederherstellung der religiösen Homogenität unter der Staatskirche das treibende Motiv gewesen sei. In Schweden wurden sowohl Juden wie Katholiken repressiv behandelt (ebd.). Leiska, Räume der Begegnung, S.  f.  Hess, Eine Fußnote der Emanzipation, S. .  Zum Zustandekommen des judereglementet in Zusammenarbeit mit Vertretern der jüdischen Gemeinde und mit Oberstatthaltern, Landeshauptmännern und Freiherren siehe ebd., S. -. Das Reglement sah vor, dass im Lande geborene Juden den Bürgerstatus bekommen sollten, während eingewanderte Juden Rechte wie andere Ausländer erhalten sollten. Die Beschränkung der Juden auf einige Städte wurde aufgehoben und dem König wurde eine gewisse Kontrollfunktion gegenüber der jüdischen Gemeinde eingeräumt, der verboten wurde, sich in Belange der Staatskirche einzumischen (ebd.).

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dringen der Juden in alle Wirtschaftszweige«.46 Ein weiteres typisches Argument betraf die jüdische Religion, die nicht als eine reine Sittenlehre galt, sondern die eine theokratische Gesellschaftsordnung vorsah, in der die Juden nur Pflichten gegenüber ihresgleichen, nicht aber gegenüber anderen Völkern hätten. Wir finden hier also die typischen Einwände gegen eine Statusverbesserung der Juden wieder. Große Teile der schwedischen Presse starteten eine Kampagne gegen die Regierungspolitik, und die Zeitungen veröffentlichten täglich Artikel über Juden, in denen auch in antisemitischer Weise Bezug auf Ereignisse in anderen europäischen Ländern genommen wurde. Die »Judenfrage« wurde so zum privaten wie öffentlichen Gesprächsthema.47 Auch die Abgeordneten des Ständereichstags wandten sich gegen diese Entscheidung, und der zuständige Ausschuss des Reichstages forderte eine Rückkehr zum bestehenden Reglement. In dieser Situation kam es nach drei Wochen in der Altstadt Stockholms zu Massenkrawallen, bei denen nicht nur Fenster jüdischer Häuser eingeworfen wurden, sondern in denen die Menge sich auch gegen das Eigentum derjenigen wandte, die sie für das Emanzipationsedikt verantwortlich machte.48 Nach Cordelia Hess, deren Darstellung wir hier folgen, sammelten sich am . und . August  Menschenmengen, die Krawall machten und Steine auf Privathäuser warfen, wobei die antijüdische Stoßrichtung der Unruhen nicht gleich offensichtlich war. Die Polizei konnte die Menge schnell zerstreuen. An den beiden folgenden Abenden wiederholten sich die Vorgänge an anderen Stellen der Stadt, die durch das Einschreiten von Kavallerie beendet wurden. Obwohl auch jetzt weder Parolen noch die betroffenen Häuser benannt wurden, schien nun deutlich zu werden, dass die Gewalt eine antisemitische Stoßrichtung aufwies.49 In den folgenden zwei Wochen kam es immer wieder zu Angriffen auf die Häuser der in der Altstadt (Gamla) ansässigen Juden und das Haus des Staatsrates Carl Skogman, der als Vorsitzender des Kommerzkollegiums als hauptverantwortlich für die Neuregelung galt. Hier zeigt sich somit deutlich, dass rechtliche Verbesserungen für Minderheiten für den Staat nicht ohne Risiko sind, da sich der – auch gewaltsame – Widerstand häufig sowohl gegen die Minderheit selbst wie auch die staatlichen Organe richten kann. Hess konstatiert, dass die Berichte über den genauen Ablauf und das Ziel der Unruhen sowohl in den Berichten von Polizei und Militär wie auch von Augenzeugenberichten in der Presse widersprüchlich ausgefallen seien, wobei Erstere die Störung der öffentlichen Ordnung, Letztere die Opfer der willkürlichen Polizeigewalt beklagten, sich also auf die Seite der Tumultuanten stellten. Alle Darstellungen sahen in  Ebd., S. .  Ebd. Zu dieser medialen Kampagne: »Wie ein Problem gemacht wird«, S. -.  Lars M. Andersson/Henrik Bachner, Schweden, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. : Länder und Regionen, hrsg. von Wolfgang Benz, München , S. -, hier S. .  Die Polizei befürchtete »einen Versuch, gegen die Juden in der Stadt eine starke, im Voraus geplante Verfolgung« anzuzetteln, und einige Juden hatten beim Oberstatthalter um Schutz nachgesucht (Hess, Eine Fußnote der Emanzipation, S. ).

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dem Verlauf der Ausschreitungen keinerlei antijüdische Zielrichtung, weder in den gerufenen Parolen noch in direkten Angriffen auf Juden, obwohl sich alle über den antijüdischen Charakter der Unruhen einig waren, da die Häuser und Stockwerke attackiert wurden, in denen mehrheitlich bekannte Juden oder jüdische Familien wohnten. Die Unruhen erreichten ihren Höhepunkt am . September, als eine ganze Reihe jüdischer Häuser attackiert und dabei  Scheiben eingeschlagen wurden, wobei es »aus Versehen« auch Wohnungen von Christen treffen konnte.50 In einigen Berichten wird die Beobachtung wiedergegeben, dass die Ausschreitungen durch »wohlgekleidete, mit Zigarren versehene Herren« organisiert gewesen seien, die die Gruppen schlechter gekleideter Personen instruiert und durch Pfiffe zu den Zielobjekten gesteuert hätten, aber jeweils beim Herannahen von Patrouillen geflohen seien, während sie nach einem anderen Bericht sogar die letzten Pferde der Patrouille mit Regenschirmen und Gehstöcken angegriffen hätten. Die Menge wird als mit Keulen und Stöcken bewaffnet beschrieben und ihr wird eine klar judenfeindliche Ausrichtung zugeschrieben, da sie »Wir wollen die höllischen Bauernhunde zerstören, nieder mit den schwarzen Teufeln!« gerufen habe.51 Es ist schwer zu sagen, ob diese Beobachtungen den Tatsachen entsprechen, da die Steuerung der »Pöbels« durch Agitatoren, die damit eigene Interessen verfolgten, ein Topos in Pogromberichten ist, der dem Paradigma folgt, Unruhen seien stets organisiert. Cordelia Hess sieht jedoch in der Tatsache, dass die Übergriffe trotz der Repression über drei Wochen an mehreren Abenden immer wieder an denselben Orten aufflammten, ohne sich aber zu verschärfen oder auf andere Stadtteile überzugreifen, einen Beleg dafür, dass diese keinen spontanen Charakter gehabt hätten, sondern in der beschriebenen Weise von einer »kleinen Gruppe Stockholmer der oberen Mittelklasse« initiiert und eventuell auch bezahlt worden seien.52 Stutzig stimmen muss allerdings, dass Ordnungshüter zwar »gut gekleidete Herren« beobachtet haben wollen, ja diese sogar unter den Angreifern ausmachten, dass es aber keine Festnahmen und Schuldeingeständnisse gab, so dass – wie Cordelia Hess einräumen muss – die Urheber nicht bestimmt werden konnten. Dass sich Unruhen spontan über Wochen an vielen Abenden wiederholen können, ohne organisiert worden zu sein, zeigen viele der in diesem Buch behandelten Fälle.53 Die Zerstörungen während der Ausschreitungen fanden auch in den bürgerlichen, emanzipationskritischen Zeitungen ein negatives Echo, wobei man den    

Ebd., S.  ff. Ebd., S. . Ebd., S. . Hess scheint bei der Beurteilung der Unruhen besonders gewalttätige Massenpogrome als Maßstab zu nehmen, dabei entsprechen die Stockholmer Krawalle vielen anderen Vorkommnissen im frühen . Jahrhundert, in denen gewaltsam gegen rechtliche Verbesserungen für Juden protestiert wurde. Dabei waren physische Angriffe auf Juden selten, es ging, wie auch in Stockholm, wie Hess richtig schreibt, um »ein Zeichen im öffentlichen Raum, wohl auch um eine Einschüchterung der Opfer, allerdings nicht um eine faktische Vertreibung aus der Stadt« (ebd., S. ).

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Juden, die die ihnen angebotenen Verbesserungen annähmen, keine Vorwürfe machen könne. Die Kritik richtete sich vielmehr gegen die staatlichen Organe: Die Schuld sei beim König und beim Kommerzkollegium zu suchen, die die Neuregelung durchgesetzt hätten, ohne die Stände einzubeziehen. Den Kontrollorganen wurde wiederum vorgeworfen, dass man die Situation nicht unter Kontrolle bekommen und die Juden nicht genügend geschützt, sondern stattdessen die friedlichen Bürger terrorisiert habe, was die »Allgemeinheit gegen die Autoritäten aufgebracht« habe.54 Trotz der Ausschreitungen führte die Presse die Kampagne für eine Abschaffung des judenreglementet fort, indem sie immer wieder betonte, die Eingliederung des »fremden Elements« in die schwedische Nation sei unmöglich, da die Juden eine »Nation in der Nation« darstellten.55 Hess weist dabei auf einen interessanten Zwiespalt zwischen der Betonung der Unschuld der in den Unruhen angegriffenen Juden und dem Festhalten an einer kollektiven Schuld der »Juden« hin, die nichts von dem zurückgäben, was sie durch das Reglement bekommen hätten, da sie nur der eigenen Gruppe verpflichtet seien (»Abwesenheit von jeglicher Reziprozität«).56 Diese Krawalle, der öffentliche Druck und die politische Opposition erreichten, wie in vielen anderen Fällen zu beobachten, schließlich auch hier eine teilweise Rücknahme der Aufhebung des judereglementets. Im revidierten Reglement vom . September , das aber ansonsten in Geltung blieb, wurden vom König vor allem die Paragraphen wieder zurückgenommen, in denen den Juden das freie Niederlassungsrecht und die Gewerbefreiheit zugestanden worden waren. Auch die Naturalisierung sollte nur für die im Lande lebenden Juden auf Antrag möglich sein, und die Beschränkungen der Immigration von Juden blieben in Kraft. Sie waren – wie wir es aus zahlreichen anderen Fällen dieser Jahre kennen – der Hauptanlass für den Aufruhr gewesen.57 Auch wenn sich in Schweden führende Liberale in den er Jahren um ein Emanzipationsgesetz bemühten, das den Juden die völlige Gleichstellung bringen sollte, war die liberale Bewegung im ländlich geprägten Schweden eher schwach und stieß auf Widerstand aus den Reihen der protestantischen Geistlichkeit, aber auch von Seiten der unteren, zunehmend judenfeindlicher werdenden sozialen Schichten, die sich als Verlierer und die Juden als Profiteure im fortschreitenden Liberalisierungsprozess der Wirtschaft sahen. Der Widerstand gegen die ökonomische Liberalisierung, etwa die Abschaffung des Gildensystems, mündete in Stockholm  und  erneut in antijüdische Krawalle. Lars M. Andersson und Henrik Bachner machen dafür die verbreitete »Hetzblattpresse (Vormärz-Presse)« verantwortlich, die bis in die er Jahre antisemitische Kampagnen lancierte.58     

Ebd., S. . Hess zitiert hier aus der Zeitung Dagligt Allehanda vom ... Ebd., S.  ff. Ebd., S. . Hess zitiert hier aus dem Aftonbladet vom ... Leiska, Räume der Begegnung, S. ; Andersson/Bachner, Schweden, S. . Andersson/Bachner, Schweden, S. .

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Wie im Deutschen Reich sollte das schwedische Parlament erst  die vollständige Emanzipation der Juden beschließen. Sozialprotest und antijüdische Unruhen in Hessen, Baden und Bayern - Kurhessen und das Großherzogtum Hessen-Darmstadt, aber auch Frankfurt und das Großherzogtum Baden waren  Brennpunkte der allgemeinen Unruhe, die sich in Brotrevolten, Sturm auf Steuer- und Zollämter und Bauernaufständen manifestierte.59 Judenfeindliche Ausschreitungen hatten ihren Ursprung in einem zunächst auf ein ganz anderes Ziel gerichteten Ereignis, nämlich dem »Sturm auf das Hanauer Lizentamt am . September «, bei dem es zu dessen Demolierung und zur »Vernichtung der Zoll- und Steuereinnahmen und der konfiszierten Waren« kam. Dieser Angriff fand dann allerdings seine Fortsetzung in der nahe gelegenen Judengasse, wo die Menge, unbehelligt von Polizei und Militär, vor den Häusern der Juden randalierte und schließlich ein Haus stürmte und plünderte.60 In den folgenden Tagen kam es in der Umgebung Hanaus bis zum ./. Oktober zu zahlreichen ähnlichen »Mautstürmen«, zu Angriffen auf Amtspersonen und Juden. Dabei vermischten sich an vielen Orten Angriffe auf missliebige Beamte mit antijüdischen Exzessen, bei denen man Fenster einwarf, in die Häuser einbrach, diese demolierte oder plünderte und Laubhütten zerstörte (so in Gudensberg, Felsberg, Wolfhagen, Amöneburg, Sontra), wobei in einigen Fällen Polizei und Militär untätig blieben.61 Ähnlich wie in Kurhessen kam es auch in Hessen-Darmstadt Ende September/Anfang Oktober  zu Ausschreitungen. In Viernheim waren die sich primär gegen die Juden richtenden Ausschreitungen so heftig, dass erst Militäreinheiten die Ruhe im Ort wiederherstellen konnten. Auch die Zeit danach bleibt unruhig, und es kam zu einer hohen Zahl von Übergriffen auf jüdische Händler.62 In Baden war es wiederum Karlsruhe, wo nach mehrtägigen Belästigungen von Juden seitens junger Leute am . September ein Tumult ausbrach, bei dem am  Von den  für  von Volkmann (Die Krise von ) gezählten Protesten entfielen zwanzig auf Kurhessen und Hessen-Darmstadt. Interessant ist, dass es in Sachsen, einem anderen Brennpunkt sozialer Unruhen um diese Zeit ( Protestfälle), nicht zu antijüdischen Unruhen kam, was möglicherweise der geringen Zahl von Juden in Dresden und Leipzig geschuldet war. Denkbar ist aber auch, dass sich in Sachsen trotz behördeninterner und öffentlicher Diskussionen ab  die rechtliche Lage der Juden nicht verbessert hatte. In der Diskussion um die neue Verfassung von  gab es Forderungen nach einer weiteren Beschränkung der Juden, und die neue Verfassung von  erfüllte die Forderungen der Juden nach gesetzlichen Verbesserungen nicht. Zum Mittel der Gewalt zur Abwehr jüdischer Ansprüche zu greifen, war somit nicht erforderlich. Vgl. Michael Schäbitz, Juden in Sachsen – Jüdische Sachsen? Emanzipation, Akkulturation und Integration -, Hannover , S. -.  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .  Ebd., S.  ff.; Preissler, Frühantisemitismus, S. .  Ebd.

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Abend Handwerksburschen und junge Leute der niederen Volksklassen die Fenster der Synagoge und jüdischer Häuser einwarfen. Der vom Vorstand der jüdischen Gemeinde alarmierte Stadtkommandant begab sich an den Ort des Geschehens, doch konnte er die Menge nicht zum Auseinandergehen bewegen, so dass er schließlich Kavallerie einsetzen musste. Da die Untersuchung der Vorfälle keine Schuldigen ermitteln konnte und man die Vorfälle als eine »nicht gefährliche, höchstens mutwillige Bewegung gegen die hiesigen Israeliten und nur gegen diese« klassifizierte, an denen auch keine Mitglieder der besseren Klassen teilgenommen hätten, wurde schließlich dem Stadtkommandanten der Vorwurf gemacht, er habe durch sein Verhalten die Vorfälle erst provoziert und dadurch zur »Misshandlung ruhiger Bürger« und zur Publizität der Vorgänge beigetragen.63 Nach Wirtz belegt diese »Sündenbockstrategie«, dass es die Städte in jedem Fall zu vermeiden suchten, solche Tumulte in die breitere Öffentlichkeit dringen zu lassen, um den Ruf der Stadt nicht zu schädigen. Wie in Karlsruhe gab es auch an anderen Orten judenfeindliche Übergriffe. So mussten in Mannheim am ./. Oktober Militär und Bürgergarde eingreifen, um die Juden zu schützen. Im Oktober gab es im Kraichgau Unruhen (in Eppingen, Heidelsheim und Obergimpern, wo es  erneut zu Übergriffen kam), Gewaltandrohungen in Tauberbischofsheim und Buchen, ohne dass es hier zu Ausschreitungen kam.64 Wie Rohrbacher richtig vermutet hat, drehten sich die Unruhen in Eppingen, Obergimpern und Heidelsheim um den Anteil der jüdischen Einwohner am »Bürgernutzen«, d. h. um die Teilhabe an der Allmende und anderen materiellen Vorrechten.65 Bereits in der Nacht vom . auf den . Februar  waren in Eppingen die Fenster an einigen Judenhäusern eingeworfen worden, in der Nacht vom . auf den . September  ereigneten sich erneut »ernste Auftritte«, als sich »einige Haufen Pursche« zusammenrotteten, Spottlieder sangen und begannen, einige Häuser mit Steinen zu bewerfen. Dem örtlichen Amtmann gelang es, die Ruhe wiederherzustellen, und die Nacht über sorgten Wachen dafür, dass es ruhig blieb. Hintergrund der Unruhen waren schon lange schwelende Streitigkeiten über den Bezug von »Bürgerholz«, das die Juden, nachdem sie Ortsbürger geworden waren, nun einforderten. Man schloss am . September  einen für die jüdische Seite ungünstigen Vergleich, da sich die  jüdischen Ortsbürger mit nur drei Bürgergaben Holz für ihre ärmsten Glaubensgenossen begnügen mussten.66 Auch in Obergimpern führte der Konflikt um den Bürgernutzen sowohl  wie auch  zu Übergriffen. In der Nacht vom . auf den . Oktober  soll es einen Aufruhr »lediger Leute« gegeben haben, um »die Juden zu verstören«. Zuerst sei, was eher eine Ausnahme darstellte, die Synagoge    

Wirtz, Widersetzlichkeiten, S.  ff. Ebd., S.  und  f. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Wolfram Angerbauer/Hans Georg Frank, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn. Geschichte, Schicksale, Dokumente (Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn, Bd. ), Heilbronn , S.  f. Der Streit um die Bürgerholzgaben sollte am Ort bis  andauern, obwohl die Juden in Baden seit  völlig gleichberechtigt waren.

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betroffen gewesen, deren große Fenster und ein gläserner Leuchter zerstört worden seien. Zwar hätten Wachmannschaften die Leute auseinandergetrieben, doch sei es die ganze Nacht über »unruhig« geblieben. Im Februar  kam es erneut zu Unruhen, weil die Einwohner sich weigerten, einem ansässigen jüdischen Kaufmann die ihm zustehende Bürgerholzgabe zu überlassen. Man warf dem Mann die Fenster seines Hauses ein. Die Unruhen wurden vom badischen Direktorium des Neckarkreises als »nichts weniger als unerheblich« eingestuft. Obwohl der Amtmann aus Neckarbischofsheim mit einem elfköpfigen Trupp Gendarmen anrückte, konnten die Auseinandersetzungen nicht beigelegt werden. Für die angespannte Stimmung am Ort spricht, dass der Amtmann bewusst auf Verhaftungen verzichtete, weil er befürchtete, dies könne das »Signal zu den gröbsten Exzessen« geben. Erst einem anderen Amtmann gelang es dann, die Aushändigung der Bürgerholzgabe an den jüdischen Kaufmann durchzusetzen.67 Nachdem es schon im Juli unruhig gewesen war, Flugschriften verbreitet worden waren und der Gemeinderat zu Ruhe und Ordnung hatte aufrufen müssen, kam es in der Nacht vom . auf den . August  auch in Heidelberg wieder zu einem judenfeindlichen Tumult, als man das Haus eines Juden stürmte, das bereits  Ziel von Angriffen gewesen war. Wie  wurden dabei wiederum »Hep-Hep«-Rufe laut. Die Bürgerwehr machte dem Aufruhr ein Ende. Noch drei Jahre später hatte der Geschädigte den geforderten Schadensersatz nicht erhalten.68 Neben den Konflikten um den Zugang zu materiellen Gütern konnten auch liberal-demokratische Feste, wie das Hambacher Fest von . Mai bis . Juni , in antijüdische Ausschreitungen münden. Als die Teilnehmer des Hambacher Festes aus Worms69 und den umliegenden Orten am . Mai  in ihre Stadt zurückkehrten, gab es »Pöbelunruhen«, bei denen Läden gestürmt und Juden misshandelt wurden.70 Wir haben es hier mit einem Pogromtyp zu tun, bei dem Menschenmengen, die aus einem anderen Anlass zusammengekommen waren, sich gegen neue, mit dem ursprünglichen Anlass nicht notwendig zusammengehörige Ziele wandten. Warum sich nach einem liberal-demokratischen Fest die Menge gegen Juden wandte, lässt sich wohl damit erklären, dass in diesem Zeitraum an vielen Orten Juden zum Ziel von kollektiver Gewalt wurden. Auch in anderen Teilen Bayerns machte sich ab der dritten Septemberwoche Unruhe breit. In größeren Städten, wie Würzburg, Nürnberg, Bamberg und Bayreuth waren »Hep-Hep«-Rufe zu hören oder es tauchten Drohbriefe und Anschläge an Häusern auf, auf denen »Hep-Hep«-Parolen und Drohungen mit Mord und Totschlag zu lesen waren, häufig auch verbunden mit anderen politischen    

Angerbauer/Frank, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn, S.  f. Mumm, »Denket nicht: ›Wir wollen’s beim Alten lassen‹«, S. . Die Rheinpfalz gehörte damals zu Bayern. Hoffmann, Dieter, »… wir sind doch Deutsche«. Zu Geschichte und Schicksal der Landjuden in Rheinhessen, Hrsg. Stadt Alzey, Alzey , S. . Bei Hoffmann steht wohl fälschlich das Datum . März.

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Forderungen, etwa nach Abschaffung der Steuern auf bestimmte Lebensmittel.71 Zu insgesamt eher geringfügigen Ausschreitungen kam es in der Nacht vom . auf den . September in München, wo die »Synagoge mit Gassenkoth« beworfen wurde und Drohbriefe kursierten. Betroffen waren in der ersten Oktoberhälfte  auch viele Orte in Unterfranken, wo Häuser von Juden mit Steinen beworfen und beschädigt wurden (Sommerach, Thüngen, Großmannsdorf, Veitshöchheim), während sich die Aktivitäten an anderen Orten auf »Hep-Hep«-Rufe und Zettel mit (Todes-)Drohungen beschränkten (Würzburg, Aschaffenburg). Auch in Mittelfranken fanden sich in einigen Orten drohende Plakatierungen und Zettel (Baiersdorf ), doch eskalierte die Lage hier wie auch in der Rheinpfalz nicht bis hin zu Tätlichkeiten. Erst im Juni  kam es in Deidesheim zu einem antijüdischen Tumult. In Norddeutschland blieb es mit Ausnahme der gravierenden Unruhen in Hamburg ruhig, dies galt auch für antijüdische Umtriebe. Das Gleiche gilt für Preußen, wo nur Breslau eine Ausnahme bildete, wo am Abend des . September  Schneider- und Tischlergesellen die Kleiderläden der jüdischen Konkurrenz und die großen Möbelmagazine attackierten, doch konnten diese Übergriffe durch den raschen Einsatz von Militär abgewehrt werden.72 Die antijüdischen Ausschreitungen von  bis  unterschieden sich deutlich von denen der Hep-Hep-Welle von . Wie die am . August  in Karlsbad abgehaltene geheime Konferenz der Herrscher der deutschen Königreiche und Fürstentümer, auf der diese aus Angst vor einer Revolution die repressiven Karlsbader Beschlüsse fassten, zeigt, lag es für die Herrschenden zunächst nahe, fälschlich auch die Hep-Hep-Unruhen als Ausdruck einer befürchteten revolutionären Stimmung unter den enttäuschten Liberalen zu interpretieren. Doch diese Unruhen richteten sich allein gegen Juden. Demgegenüber waren die antijüdischen Ausschreitungen von  bis  Teil einer Welle von Protesten, die überwiegend in die Anfangsphase der Revolution im September und Oktober  fielen. Für Heinrich Volkmann waren die Proteste in dieser Phase durch eine große Diffusität und die Überlagerung verschiedener Ursachenkomplexe gekennzeichnet, wobei es zur Ableitung der Spannungen auf »Sündenböcke« kam.73 Die Ereignisse in Hamburg oder in München zeigen, dass von den Protestierenden, die keine einheitliche soziale Gruppe mit gleichen Interessen bildeten, eine ganze Reihe von Missständen angeprangert wurden, von hohen Steuern und Lebensmittelpreisen über korrupte Verwaltungen, Nepotismus, fehlende politische Rechte bis hin zu Klagen über den Wucher der Juden und über die Beeinträchtigung durch mechanische Pressen. Gerade im Fall der Unruhen in Bayern und Kurhessen spricht auch Stefan Rohrbacher, der gewöhnlich die Eigenständigkeit antijüdischer Motive betont, von Subsistenzunruhen, in denen die Angriffe auf die Läden von Juden bzw. die  Vgl. hierzu und zum Folgenden Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. -.  Ebd., S. , siehe F. G. Adolf Weiß, Chronik der Stadt Breslau von der ältesten bis zur neuesten Zeit, Breslau , S. .  Volkmann, Krise von , S. .

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Klagen über »jüdischen Wucher« der Logik dieser Unruhen entsprachen, d. h., die Juden wurden aufgrund ihrer wirtschaftlichen Position ebenso angegriffen wie nichtjüdische Bäcker, Kaufleute und Zollämter. Die Angriffe auf Juden wurden in den zahlreichen Drohbriefen und Plakaten entsprechend mit wirtschaftlicher Konkurrenz, gezielter Lebensmittelverknappung und Wucher begründet.74 Doch betont Rohrbacher zu Recht, dass der Zusammenhang der antijüdischen Unruhen mit der Revolution nicht durchgängig gegeben war, sondern dass wir es in einigen Fällen wie in Sommerach (Unterfranken) und in den Dörfern und Kleinstädten Badens mit Übergriffen zu tun haben, die sich wie  gegen den Zuzug bzw. die lokalbürgerliche Gleichstellung der Juden richteten, zumal in Baden seit  hier politisch keine neue gesetzliche Regelung getroffen worden war.75

 Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  f.  Ebd., S.  f. Als Beleg für diese These kann Rohrbacher anführen, dass im September  in Eppingen die ansässigen Juden kurz nach den Exzessen auf einen Teil des ihnen zustehenden Bürgerabholzes verzichteten – wohl um des lieben Friedens willen. Auch Angerbauer/Frank, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn, S. , sprechen für Eppingen etwas abweichend von einem für die Juden freilich ungünstigen Vergleich (s. o., S. ).

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. Ritualmordvorwurf und antijüdische Tumulte am Niederrhein  Die durch einen Kindesmord ausgelösten antijüdischen Ausschreitungen in Neuenhoven und Umgebung im Jahre  gehören nicht in den Kontext revolutionärer Proteste, sondern haben ihre Ursache in der vormodernen volkskulturellen Judenfeindschaft. Dieser Fall eines Ritualmordpogroms steht in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts noch relativ isoliert da, auch wenn es in Odessa  und vor allem in Damaskus  solche Vorfälle gegeben hatte, wobei vor allem Letzterer europaweit große Resonanz erfuhr.1 Erst ab den er Jahren häuften sich nach Morden an Kindern und Jugendlichen in mehreren mittel- und osteuropäischen Ländern Ritualmordvorwürfe, die in vielen Fällen zu Strafprozessen und weit ausstrahlenden antijüdischen Unruhen führten (siehe Kap. ). Blutbeschuldigungen waren allerdings in der Rheinprovinz im frühen . Jahrhundert nicht unbekannt gewesen (z. B. in Köln , in Dormagen ). Sie wurden in Heiligenkalendern durch die Lebensbeschreibungen der angeblichen Ritualmordopfer, wie des »guten Werner« von Oberwesel () und Simon von Trient (), tradiert.2 Nach Herbert A. Strauss bewahrte vor allem der Niederrhein als Nachbar des »mystisch-pietistischen Katholizismus« der Niederlande diese europäische Volkstradition.3 Stefan Rohrbacher betont hingegen, dass die Tradition im Rheinland durch die Erinnerung an zwei »Ritualmordopfer«, nämlich an Werner von Oberwesel und Johanneken von Troisdorf wachgehalten wurde, zumal der Werner-Kult hier Mitte des . Jahrhunderts wieder aufgelebt war.4 Die Überlieferung war in den frühen er Jahren durch die Veröffentlichung des  von dem bekannten Bilker (Ort bei Düsseldorf ) katholischen Priester und Kirchenhistoriker Dr. Anton Joseph Binterim herausgegebenen Buches mit Lebensbeschreibungen von Heiligen, darunter die Geschichte von Simon von Trient, wieder aktualisiert worden. Da die Darstellung als Bestätigung für die Existenz von Ritualmorden die Vgl. zur Geschichte der Ritualmordlegende Rainer Erb (Hrsg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, Berlin ; zur DamaskusAffäre: Markus Kirchhoff, Damaskus, in: Dan Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK), Bd. , Stuttgart, Weimar , S. -; Jonathan Frankel, The Damascus Affair. »Ritual Murder«, Politics, and the Jews in , Cambridge ; Ronald Florence, Blood Libel. The Damascus Affair of , Madison .  Vgl. zu Tradition des Ritualmord-Glaubens im Rheinland Rohrbacher, Die »Hep-Hep«Krawalle; ders., Gewalt im Biedermeier, S.  ff., hier auch ausführlich zum Fall in Dormagen, S.  ff. Im Dormagen benachbarten Ort Worringen randalierte im Oktober  eine Menge mit »Hep-Hep«-Rufen vor dem Haus eines Juden und drohte, es zu stürmen. Hier mag auch die gerade über Deutschland hinweggegangene Hep-Hep-Welle einen Einfluss ausgeübt haben (ebd., S.  f.).  Herbert A. Strauss, Die preußische Bürokratie und die antijüdischen Unruhen im Jahre , in: ders./Kurt R. Grossmann (Hrsg.), Gegenwart im Rückblick. Festgabe für die Jüdische Gemeinde zu Berlin  Jahre nach dem Neubeginn, Heidelberg, Berlin , S. -, S. .  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  f.

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nen konnte, verfasste der Autor auf Drängen einer jüdischen Abordnung eine Flugschrift Über den Gebrauch des christlichen Blutes bei den Juden, die in hoher Auflage unter dem Landvolk verkauft wurde und der Ritualmordlegende entgegentreten sollte. Die Breitenwirkung war jedoch eine völlig entgegengesetzte, da Binterim sich nicht hatte entschließen können, der Legende entschieden entgegenzutreten, sondern die angeblichen Ritualmorde als Werke jüdischer Fanatiker und Sektierer hingestellt hatte,5 ein häufig geübtes Ausweichen christlicher Autoren, um die Ritualmordlegende nicht völlig aufgeben zu müssen. Auch wenn viele katholische Ortsgeistliche in ihren Predigten während der Unruhen für die Juden und gegen die Legende Partei ergriffen, so war doch die langfristige Wirkung der katholischen Erbauungsliteratur dadurch nicht aufzuheben. Die Erklärung des Kindermordes als Ritualmord war für viele einleuchtend, zumal die Obduktionsbefunde, die ein Sexualverbrechen festgestellt hatten, zunächst unter Verschluss gehalten wurden. Die verspätete Bekanntmachung, dass es sich um ein Sexualdelikt gehandelt habe und dass dem Kind keinerlei Blut abgezogen worden sei, kam am . Juli zu spät, um die Stimmung noch zu wenden, zumal der wahre Täter nicht gefasst wurde.6 War der Kindesmord der Auslöser der antijüdischen Unruhen, so lag aber die Ursache nicht einfach in dem religiösen Gegensatz, vielmehr bestanden auf dem Lande nach wie vor antagonistische Gruppenbeziehungen, die sich aus der starken wirtschaftlichen Position der Juden im Landhandel als Kleinhändler, Kleinkreditgeber und Vieh- und Produktenhändler ergaben. Die preußischen Ermittlungsbeamten schrieben von »im allgemeinen verhassten Juden« und von üblichen Spottliedern, von Übergriffen von Kindern und Jugendlichen. Die Rede von »wucherischer Bedrückung« und »scharfsinnigen Schacherkünsten« zum Nachteil der christlichen Landbewohner findet sich in den zeitgenössischen Berichten von Beamten und Zeitungen und wird als eine Ursache für die Exzesse angeführt.7 Dieser noch aus der voremanzipatorischen Zeit stammende strukturelle Grundkonflikt wurde durch die landwirtschaftliche Grundkrise und die Krise des Handwerks, ausgelöst durch die liberalisierte Marktwirtschaft, in dieser Zeit noch verschärft. Der steile Bevölkerungsanstieg nach dem Ende der napoleonischen Kriege hatte in Verbindung mit einer nur schwachen Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion zu Überbevölkerung und Arbeitslosigkeit geführt, was u. a. die damals stark zunehmende Auswanderung aus Deutschland zur Folge hatte.8 Insbesondere in  Hans Georg Kirchhoff, Der Kindesmord in Neuenhoven und das Judenpogrom von , in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Grevenbroich, Bd. , hrsg. vom Geschichtsverein für Grevenbroich und Umgebung e. V., , S. -.  Amtliche Bekanntmachungen und Anzeigen zur Aufklärung der den Juden zur Last gelegten Bluttat von Neuenhoven, Abdruck in der Kölnischen Zeitung vom . Juli . Es half auch nichts, dass der Vorstand der israelitischen Gemeinde in Düsseldorf ebenso wie der Staat eine Belohnung zur Ergreifung des Täters aussetzten (Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden im Rheinland -. Eine Dokumentation, Teil , bearb. von Dieter Kastner, Köln , S. ).  Kirchhoff, Der Kindesmord, S.  f.  Strauss, Die preußische Bürokratie, S.  ff.

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Krisenzeiten gerieten die Juden als Kleinkreditgeber der nur marginal kapitalisierten Bauern und vermeintliche Verursacher in die Kritik, wenn diese ihre Schulden nicht mehr begleichen konnten. Herbert A. Strauss zählt aus diesen Gründen die Exzesse von  sozial-ökonomisch zu den vorindustriellen Agrarrevolten, die von den wirtschaftlich marginalen und sozial frustrierten Unterschichten getragen wurden, sekundiert von der ländlichen Bevölkerung und geduldet bzw. unterstützt von dorfbürgerlichen Personen, die die Juden als Konkurrenz empfanden.9 Auslöser der Unruhen war der Mord an einem sechsjährigen Jungen aus Neuenhoven, dessen Leiche man am . Juli  in einem Roggenfeld in der Nähe des Ortes auffand. Diese Tat erregte großes Aufsehen und Erbitterung, und es kamen schnell Ritualmordgerüchte auf. In der Nacht vom . auf den . Juli rotteten sich in Neuenhoven, das damals nur ca.  Einwohner zählte, vier- bis fünfhundert Personen aus der Umgebung zusammen und begannen die Häuser und Läden zweier ansässiger Judenfamilien zu stürmen, die Möbel zu zertrümmern, Waren zu plündern und einige Hausbewohner zu misshandeln. Erst die zur Hilfe gerufenen Husaren stellten ab  Uhr die Ruhe wieder her.10 Allerdings zog ein Teil »dieses Gesindels«, wie es der Bürgermeister ausdrückte, ins benachbarte Bedburdyck weiter und erstürmte die dortige Synagoge, zertrümmerte viele Gegenstände und nahm die Thorarolle heraus, um sie außerhalb der Synagoge zu verbrennen.11 Diese »leicht entzündliche Aufregung wider die Juden«, wie es der Regierungspräsident in seinem Bericht an den preußischen Innenminister formulierte, verbreitete sich rasch in der gesamten Gegend, und am Abend des . Juli kam es zu »Hep-Hep«Rufen und Steinwürfen gegen jüdische Häuser in Gladbach, Glehn und anderen kleinen Orten des Kreises Grevenbroich. Sie sollten sich in den kommenden Wochen am Niederrhein bis in die Kreise Neuss, Geldern (Xanten), Gladbach, Jülich und Düren sowie nach Düsseldorf ausbreiten. Die preußischen Behörden reagierten schnell und stationierten ein Husarenregiment »inmitten der besagten  Ebd., S. ; auch der Bearbeiter der einschlägigen Akten (Der Rheinische Provinziallandtag, S. ) bewertet die Unruhen als eine »Revolte von ländlichen Unterschichten in einer überbevölkerten, noch nicht von der Industrialisierung berührten Region«.  Die betroffenen Juden Leon Aretz und Jakob Baumgarten schilderten später in einer Eingabe an die Regierung den Vorfall aus ihrer Sicht: »Bei dem frenetischen Rasen einer Menge von mehr als tausend Menschen, die unsere Häuser erstürmten, plünderten, unser Eigenthum, Waaren, Bücher, raubten und zerstörten, uns selbst mißhandelten, schlugen, stießen, regte sich nicht nur von Seiten unserer Mitbürger keine Hand zu unserer Vertheidigung, sondern auch die kniefällig erbetene Hilfe unserer Ortsobrigkeit ward uns verweigert, und nur einem durch Vermittlung des Bürgermeisters von Odenkirchen, Hn. von Sabienski, zu unserem Schutz herbeigeeilten Detachement Husaren verdanken wir die Rettung unseres Lebens«. Das Gesuch um Entschädigung wurde abgelehnt, wohl weil der Bürgermeister von Bedburdyck die Antragsteller in unvorteilhafter Weise schilderte (Stefan Rohrbacher, Juden in Neuss, Neuss , S. ).  Erste amtliche Berichte aus der Bürgermeisterei Bedburdyck an den Landrat des Kreises Grevenbroich über die Ausschreitungen gegen die Juden in Neuenhoven (Kreis Grevenbroich), in: Der Rheinische Provinziallandtag, S.  f. Zu den Unruhen von  gibt es eine umfangreiche Aktenüberlieferung im HStA Düsseldorf.

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Ortschaften« und richteten ein Patrouillen-System ein, das ein schnelles Eingreifen ermöglichen sollte.12 Der Regierungspräsident nahm die Vorfälle so ernst, dass er am . Juli selbst nach Neuenhoven kam, nachdem der Untersuchungsrichter und Staatsanwalt schon am Vortag angekommen waren und erste Verhaftungen veranlasst hatten. Er hielt die Lage dort für so bedrohlich, dass er weitere Truppen anforderte. Am Abend des . Juli mussten diese in Grevenbroich eine größere, mit Gewehren und Heugabeln bewaffnete Menge zerstreuen, die randalierte, Juden bedrohte und auch die Gendarmen mit Steinwürfen attackierte.13 Am folgenden Abend des . Juli kam es in Wevelingshoven zu bürgerkriegsartigen Zusammenstößen zwischen der Bürgerwache und der militärischen Besatzung des Ortes, bei denen es einige Verletzte gab.14 Der Ort bekam daraufhin als Strafmaßnahme bis zum . August  eine starke militärische Einquartierung. Der Bürgermeister von Wevelingshoven versuchte die Vorfälle zu bagatellisieren, indem er sie eher für ein Missverständnis denn für schlechte Absicht hielt und die Schuld beiden Seiten gleichermaßen zuschrieb.15 Das Patrouillen-System und die militärische Einquartierung in den Gemeinden Grevenbroich, Wevelingshoven, Hemmerden und Bedburdyck scheint dem zweiten Bericht des Regierungspräsidenten vom . Juli  zufolge zusammen mit der Unterstützung der »bessern Bürger« und von Teilen des örtlichen Klerus zu einer relativen Beruhigung der Lage beigetragen zu haben, zumal in den Städten wie Gladbach und Rheydt, während es im Kreis Grevenbroich weiter gärte und immer wieder kleinere Übergriffe und Drohungen vorkamen. Der Regierungspräsident hob aber auch hervor, dass die antijüdischen Gerüchte auch von einigen »unwürdigen katholischen Geistlichen« genährt wurden. Ortsgeistliche, die in ihrer Mehrheit nach den Vorfällen zu Toleranz und Frieden gemahnt hatten, stießen in ihren Gemeinden allerdings auf wenig Gegenliebe und wurden sogar öffentlich kritisiert.16  Berichte des Regierungspräsidenten von Düsseldorf, Graf zu Stolberg-Wernigerode, an den preußischen Minister des Innern in Berlin, v. Rochow, über die gegen die Juden gerichteten Unruhen in seinem Regierungsbezirk, . Juli – . September , in: Der Rheinische Provinziallandtag, S.  ff.  Rohrbacher datiert diese Vorgänge auf den . Juli  und schreibt, dass es die Mitglieder der Bürgerwehr waren, die mit Gewehren und Haugabeln bewaffnet und unter »HepHep«-Rufen durch die Straßen zogen und jüdische Häuser mit Steinen bewarfen (Juden in Neuss, S. ).  Hans Georg Kirchhoff, Judenhaß und Judenschutz: Das Pogrom des Jahres  in der Stadt Neuss, in: Almanach für den Kreis Neuss , Hrsg. Vereinigung der Heimatfreunde Neuss, S. -, hier S. . Kirchhoff interpretiert diesen Zusammenstoß und einen ähnlichen am ./. August dahingehend, dass einerseits die Bürger selbst nicht frei von Judenhass waren, dass sich dieser aber auch mit der Abneigung gegen die preußische (protestantische) Regierung verband (ebd., S. , Kirchhoff, Der Kindesmord, S. ). Auch von Hemmerden wird von regelrechten Kämpfen zwischen rebellierender Bürgerwehr und den Husaren berichtet (Rohrbacher, Juden in Neuss, S. ).  Kirchhoff, Der Kindesmord, S. .  Anmerkung des Bearbeiters der vorgenannten Dokumentation, in: Der Rheinische Provinziallandtag, S. .

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Bis Mitte August dauerte die öffentliche Aufregung fort, allerdings zunächst in nicht mehr gewalttätiger Form, sondern die Menge verlegte sich auf Spottlieder, »Hep-Hep«-Rufe, gelegentliche Steinwürfe, Schmierereien an jüdischen Häusern und »Neckereien«, um die Juden einzuschüchtern und ihren Geschäftsbetrieb massiv zu stören. Wie hartnäckig Teile der Bevölkerung hier sein konnten, zeigen die Unruhen in Neuss, wo sich ab Ende Juli allabendlich größere Volksaufläufe junger Burschen und der »untersten Volksklasse« ereigneten (zu denen sich aber auch andere Bürger gesellten), die auch durch das Eingreifen des Landrates und Bekanntmachungen »mittelst Trommelschlag« nicht unterbunden werden konnten.17 Auch das am . August herbeigerufene Militär schuf keine Abhilfe, da der Befehlshaber der Truppe wenig zur Unterbindung der Volksaufläufe unternahm, was allerdings schnell zu seiner Ablösung führte. Erst als man zwei Rädelsführer verhaftete und sofort zu fünf Tagen Haft verurteilte, hörten die abendlichen Tumulte auf, doch bestand die allgemeine Erregung in der Bevölkerung fort.18 Hatte der Regierungspräsident, Graf zu Stolberg-Wernigerode, in seinem Fünften Bericht an den Minister vom . August  zwar die fortdauernde Aufregung, aber die Abwesenheit von antijüdischer Gewalt konstatieren können, so musste er im Sechsten Bericht vom . August für die Zeit vom .-. August wieder von tätlichen Angriffen auf die Häuser von Juden und auf die eingreifenden Nachtwachen und Polizeidiener in den Kreisen Grevenbroich (in Hemmerden, Garzweiler, Bedburdyck) Düren (Aldenhoven) und Neuss (Rommerskirchen) Meldung machen. Ausgangspunkte waren Trinkereien im Wirtshaus und die in dieser Jahreszeit stattfindenden Kirmes- und Schützenfeste, also typische Anlässe, in der größere Menschenansammlungen die Mobilisierung zu Aktionen kollektiver Gewalt begünstigen.19 Der Regierungspräsident reagierte darauf sehr entschieden, indem er in beiden Orten eine starke militärische Besatzung einquartierte. Eine solche militärische Lösung, die die betroffenen Gemeinden finanziell sehr stark belastete und viel Militär band, bot keine dauerhafte Lösung angesichts der immer noch anhaltenden antijüdischen Stimmung, die immer wieder an vielen Orten zu Beleidigungen, Bedrohungen und Tätlichkeiten gegen Juden führte. Auch wenn die verantwortlichen Bürgermeister die Unruhen auf »fremdes Gesindel« zurückführten, wird in vielen Schilderungen erkennbar, dass eine breite Mehrheit der Ortsbewohner das Vorgehen gegen die Juden billigte und die Rädelsführer durch eine Mauer des Schweigens schützte. Landräte und Militär, die man verdächtigte, auf Seiten der Juden zu stehen, mussten sich deutliche Missfallensbekundungen anhören, wenn sie vor Ort erschienen, um dem Treiben ein Ende zu machen.20 Der  Vgl. Kirchhoff, Judenhaß.  Ausführlich zu Neuss: Rohrbacher, Juden in Neuss, S. -.  Der Rheinische Provinziallandtag, S.  f. und die entsprechenden Kommentierungen des Bearbeiters (ebd.). Vgl., die ausführliche Schilderung der Ereignisse in Rommerskirchen bei Kirchhoff, Der Kindesmord, S.  ff.  Kirchhoff, Der Kindesmord, S.  f. Strauss interpretiert die Tatsache, dass die preußischen Behörden die »bessern Bürger« erst durch Einquartierungen zur Kooperation bewegen

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Regierungspräsident suchte deshalb nach einer politischen Lösung, indem er die Bürgermeister des Kreises Grevenbroich anhielt, in allen Gemeinden Versammlungen der Notabeln oder aller Bürger einzuberufen, in denen sich diese verpflichten sollten, Ruhestörer anzuzeigen und für die Sicherheit ihrer jüdischen Mitbürger zu sorgen. Nach Kirchhoff war »die Wirkung dieser Selbstverpflichtung […] verblüffend«, denn als am . September in Bedburdyck und Hemmerden wiederum Juden tätlich angegriffen wurden, kam es erstmals zu einer Verhaftung der Täter seitens der Ortsbewohner. Diese Praxis machte den Unruhen schließlich ein Ende.21 Diese Umstellung von externem militärischen Eingreifen seitens der unbeliebten preußischen Behörden auf die Selbstverpflichtung der Gemeindebürger selbst zeigt an, dass die Judenfeindschaft über die »unterste Volksklasse« hinaus verbreitet war, so dass sich diese in ihren Aktionen einer gewissen Sympathie der besseren Kreise sicher sein und die Juden nicht auf deren Hilfe rechnen konnten.22 In seinem Siebten Bericht vom . August  spricht der Regierungspräsident diesen Umstand offen an: »Die Aufregung im Kreis Neuß und Grevenbroich ist sehr groß; bei der starken Abneigung gegen die Juden, welche durch alle Klassen der Bevölkerung herrscht und ihren Grund in dem wuchernden Verkehre jener hat, finden die Unterbehörden wenig Unterstützung bei ihren Maaßregeln zum Schutz derselben, und wenn man einzelnen Nachrichten Glauben beimessen darf, so wird ihnen sogar von der besseren und gebildeten Klasse entgegen gearbeitet. Namentlich sollen zu den Auftritten in Rommerskirchen Gutsbesitzer und Landwirte gereizt und getrieben haben.«23 Auch die Tatsache, dass die Bürgerwehren beim Judenschutz nicht viel ausrichteten und des Öfteren sogar mit dem Militär aneinandergerieten, spricht für ein nur geringes Engagement bzw. eine Komplizenschaft der Ortsbürger. Die Behörden stellten in einigen Fällen fest, dass aus diesen Kreisen Handwerksmeister, Geschäftsinhaber und Landwirte Geld an »den Pöbel« verteilt hatten, der sich betrinken und am Abend gegen die Juden ziehen sollte. Häufig bildeten entsprechend Wirtshäuser und Kirmessen den Ausgangspunkt für die Tumulte. Die eigentlichen Träger der Unruhen stammten jedoch aus den unteren Schichten. Es handelte sich um meist junge Handwerksgesellen, Lohnarbeiter, Tagelöhner. Lehrlinge und auch konnten, als eine geringe Akzeptanz der staatlichen (preußischen) Autorität spricht (Die preußische Bürokratie, S. ).  Kirchhoff, Judenhaß, S.  f.; die Erklärungen der Einwohner einiger Orte haben sich in den Akten erhalten, vgl. Der Rheinische Provinziallandtag, S.  ff. Der Regierungspräsident spricht in seinem Neunten Bericht vom . September  neben der militärischen Besetzung des Kreises Grevenbroich und dem härteren Durchgreifen auch der Mitwirkung der »besseren Klasse« eine zentrale Rolle bei der Erhaltung von Ruhe und Ordnung zu (Der Rheinische Provinziallandtag, S. ). Nur in Bedburdyck kam es noch einmal im April  zu einer antijüdischen Demonstration (ebd., S. ).  Vgl. die Aussagen der beiden Familienoberhäupter der zuerst in Neuenhoven attackierten Häuser, Jakob Baumgarten und Leon Aretz, in ihrer Eingabe an die Regierung (ebd., S. ).  Ebd., S. .

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Schüler.24 Hans Georg Kirchhoff schätzt den Judenhass im ländlichen Milieu des Niederrheins als ein Massenphänomen ein. In den Ausschreitungen entzündete sich ein »Gemisch aus religiösem Fremdenhass und wirtschaftlichem Neid, aus dumpfem Aberglauben und dem Gefühl wirtschaftlicher Ausbeutung«.25 Seiner Meinung nach hat nur das entschlossene Eingreifen der preußischen Behörden ein »gewaltiges Pogrom« verhindert. Allerdings gilt auch hier – wie für die Hep-HepWelle –, dass Juden nur selten physisch attackiert wurden und keine Todesopfer zu beklagen waren. Die Vermutung des Düsseldorfer Regierungspräsidenten, die Unruhen könnten politische Ursachen haben, erwiesen sich schnell als falsch. Auch wenn es den preußischen Beamten sichtlich schwerfiel, die von ihnen als »religiöser Wahn« klassifizierten Überzeugungen der katholischen Landbevölkerung zu begreifen,26 so sahen sie in dem allgemeinen Hass gegen die Juden zutreffenderweise die zentrale Ursache für die Unruhen. Hinzuzurechnen ist allerdings auch »eine im Rheinland weit verbreitete Einstellung gegen den preußischen Staat und seine Beamten«, die sich teils in der mangelnden Unterstützung der Behörden, zum Teil in den offenen Konfrontationen mit dem Militär äußerte.27 Die Juden wurden entsprechend stellvertretend auch als die Schützlinge der Behörden attackiert. Obwohl die preußischen Behörden auf den höheren Ebenen der Landräte und des Regierungspräsidenten schnell und angemessen reagierten, gelang das Unterbinden der Gewalt und vor allem das Eindämmen der judenfeindlichen Stimmung erst nach fast zwei Monaten. Der Grund dafür lag in der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit bzw. dem Willen der Ortsbehörden, d. h. der Bürgermeister sowie der Bürgerwehren. In diesem Fall erweist sich wie in vielen anderen Pogromfällen, dass bei lokalen Ausschreitungen die Fähigkeit und der Wille, diese schnell und wirkungsvoll zu beenden, bei den örtlichen Autoritäten geringer ausfällt als in den jeweils höheren Instanzen. Was die strafrechtliche Verfolgung der Übergriffe angeht, so konnten viele Täter durch das geringe Strafverfolgungsinteresse der örtlichen Autoritäten nicht ermittelt werden. Doch gingen die Behörden und Gerichte offenbar »scharf und korrekt« vor. Es wurden zwei Hauptunruhestifter zur Höchststrafe für schwere Sachbeschä Ebd., S. .  Kirchhoff, Judenhass, S. .  Strauss kritisiert die Verständnislosigkeit und Verachtung, die die rationalen preußischen Protestanten gegenüber dem Katholizismus des Landvolkes (Fanatismus, religiöser Aberglauben) bis hinauf zum Erzbischof an den Tag legten, die seiner Meinung nach die Landpfarrer zwangen, sich mit ihren »Schäfchen« zu solidarisieren (Die preußische Bürokratie, S. ). Manfred Gailus hebt für das . Jahrhundert »die ernorme Verschiedenheit der mentalen Landschaften, das oftmals enge Nebeneinander von Mittelalter und Neuzeit, die Schärfe der historischen Ungleichzeitigkeit«, hervor (Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens -, Göttingen , S. ).  Zu der großen Zahl gewaltsamer Konfrontationen zwischen Bürgern und preußischem Militär zwischen - vgl. James M. Brophy, Violence between Civilians and State Authorities in the Prussian Rhineland -, in: German History /, , S. -.

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digung, Nötigung und Landfriedensbruch von je sieben Jahren Zuchthaus verurteilt.28 Von Seiten der angegriffenen Juden gab es keine Gegenwehr. Aus Angst vor Repressionen zogen zwei Juden nach den Ausschreitungen in Bedburdyck am . August ihre Anzeigen gegen einige namentlich bekannte Einwohner des Ortes wieder zurück – auch dies ein weit verbreitetes Verhalten, das aus jüdischer Sicht durchaus rational war, wenn man im Ort weiter ansässig bleiben wollte.29 Die beiden zuerst in Neuenhoven attackierten Juden, Jakob Baumgarten und Leon Aretz, verließen den Ort allerdings kurz darauf, um sich im nahe gelegenen Odenkirchen niederzulassen, zumal der Bürgermeister von Neuenhoven den von ihnen in einer Petition an den König geforderten Schadensersatz als übertrieben abgewiesen hatte, was zu einer Ablehnung des Gesuchs führte.30 Im Kreis Grevenbroich kam es knapp sechzig Jahre später, , im Zusammenhang mit der Xantener Ritualmordaffäre (Fall Buschhoff ) wiederum zu Umzügen, Angriffen auf Häuser von Juden, zu Friedhofschändungen und Brandstiftungen.

 Der Rheinische Provinziallandtag, S. .  Kirchhoff, Judenhaß, S. .  Aus den Akten des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf, abgedruckt in Strauss, Die preußische Bürokratie, S. .

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. Unruhen in Italien, Deutschland und Böhmen in den frühen er Jahren Statuskonflikte – ein antijüdischer »Volksaufstand« in Mantua  In einer Chronik der Geschichte Mantuas ist für den Sommer des Jahres  ein antijüdischer Tumult beschrieben, der auf ein angespanntes Verhältnis zwischen den dort seit dem frühen . Jahrhundert im Ghetto lebenden Juden und der einheimischen christlichen Bevölkerung hindeutet, das in der Konkurrenz um den Zugang von Juden zu öffentlichen Ämtern und in einer wirtschaftlichen Dominanz begründet war.1 Während in der Chronik eher ein harmonisches Miteinander von Christen und Juden in der Stadt geschildert wird, das durch die Ausschreitungen nur kurzfristig unterbrochen worden sei, stellte ein einheimischer Jude in einer Privatmittelung aus Mantua (vom . Juli ) die christlich-jüdischen Beziehungen als schon lange gestört dar: »Schon längst hegten die christlichen Bewohner Mantua’s den bittersten Haß im Herzen gegen ihre jüdischen Mitbewohner«. Die Ursachen sah er einerseits darin, dass die Juden »durch Thätigkeit und Geist beinahe den ganzen Handel jenes bedeutenden Platzes an sich gerissen hätten«, andererseits darin, dass sie den Hass der Christen erwiderten und »sich selbst ausschließen, und einer Gleichheit nur in politischer, nicht aber gesellschaftlicher Beziehung, dieser aber umso eifriger nachstrebten«.2 Wir haben es in Mantua also mit einer wohlhabenden und selbstbewussten jüdischen Bevölkerung zu tun, die immerhin gut   der Einwohner stellte und von der – zumindest nach Darstellung der Chronik – auch Angriffe auf Christen ausgingen. Die seit  in Mantua bestehende jüdische Gemeinde erlebte nach einer Blütezeit unter der Herrschaft der Adelsfamilie Gonzaga (-) im . Jahrhundert und unter der  einsetzenden Herrschaft der Habsburger parallel zur Entwicklung der Stadt Mantua einen ökonomischen und zahlenmäßigen Rückgang. Im Jahre  erhielten die Juden von Mantua gleiche Rechte. Die Stadt war seit dem späten . Jahrhundert umkämpft, da sie zwischen  und  sowie  und , von Napoleon eingenommen, unter französische Herrschaft stand, unter der auch das Ghetto aufgelöst wurde, aber als Wohnbezirk der Juden offenbar  Guiseppe Arrivabene, Compendio Chronologico-critico della Storia di Mantova della sua Fondazione sino ai Nostri Giorni, Bd. , bearbeitet von Renato Giusti, Academia Virgiliana di Mantova, Mantua , S. -; von Bruno Di Porto wiederabgedruckt unter dem Titel: Una Sommossa Popolare Antiebraica a Mantova nel  dal Compendio della Storia di Mantova (-), von Guiseppe Arrivabene, in: Materia Giudaica /, -, S. -. Guiseppe Arrivabene (-), war ein aus Mantua stammender liberaler italienischer Nationalökonom, der von den österreichischen Behörden politisch verfolgt und  (oder ) in Abwesenheit sogar zum Tode verurteilt wurde. Er lebte und arbeitete in England und Belgien als Nationalökonom und kehrte erst  nach Italien zurück, wo er von  bis  Präsident der Accademia Nazionale Virgiliana war. Arrivabene war also kein Zeitzeuge der Ereignisse von .  AZJ, Jg. , , .., S.  f.

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fortbestand.3 Mantua gehörte seit dem Wiener Kongress von  zum Königreich Lombardo-Venetien (ital.: Regno Lombardo-Veneto) und blieb bis zum Anschluss an Italien / ein Land innerhalb des Kaisertums Österreich. König war in Personalunion der österreichische Kaiser (Ferdinand I.), als Vizekönig regierte jeweils ein Erzherzog, in den Jahren - war dies Erzherzog Rainer von Österreich. In den er Jahren dürfte die jüdische Gemeinde Mantuas ca. . Personen umfasst haben. Die Gesamtbevölkerung Mantuas betrug in dieser Zeit . Personen.4 Mit dem Ende der napoleonischen Ära, die auch für die Juden in Oberitalien wesentliche Verbesserungen ihrer rechtlichen Stellung gebracht hatte, wurden die Juden im Königreich Piemont-Sardinien und auch im habsburgischen LombardoVeneto erneut »entwürdigenden und einschränkenden Vorschriften unterworfen«. Dennoch begannen Juden in Italien (wie auch in Deutschland) sich stärker am öffentlichen Leben zu beteiligen und politisch zu engagieren, was sich nach der Julirevolution in Frankreich  noch weiter steigerte, als eine Debatte um die Gleichstellung der Juden unter dem Schlagwort der Emanzipation geführt wurde.5 Diese Frage des sozialen Status bzw. hier der Wunsch nach Zugang zu allen öffentlichen Ämtern war, wie im Fall vieler antijüdischer Unruhen in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts in anderen europäischen Ländern, auch in Mantua der Ausgangspunkt des Konflikts. Die gewalttätige »Selbsthilfe« der Mantuaner Bevölkerung stellt also den Versuch dar, eine Besserstellung der Juden der Stadt zu verhindern und sie auf den, diesen ihrer Meinung nach zukommenden niedrigeren Platz zu verweisen. Auslöser der Eskalation, deren Folgen in der Chronik als »schweres Unglück« für das »beklagenswerte Vaterland« gewertet wurden,6 war die Reise einer Abordnung von Juden aus Mantua, die am . März  zum König reiste, um ihn zu bitten, eine Orgel und eine Glocke und andere »pompöse Riten« in ihrer Synagoge einführen zu dürfen, und um die Erlaubnis zu erhalten, jedes öffentliche Amt bekleiden zu können.7 Einige in der Chronik als anmaßend und wohlhabend beschriebene  Das Ghetto war  vom mantuanischen Herrscher eingerichtet worden, wurde aber seitens der Rabbiner sehr begrüßt (Tag der Freude), da das Ghetto einerseits eine Schutzfunktion erfüllte und zudem Kontakte und auch damit einhergehende Konflikte zwischen Juden und Christen verringerte. Siehe: Gianfranco Miletto, Mantua, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd.  LY-PO, hrsg. von Dan Diner, Stuttgart, Weimar , S. -, hier S. .  Für das Jahr  gibt es eine zeitgenössische statistische Angabe von . Einwohnern Mantuas: Adolf Schmidt (Hrsg.), Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst, Geschichte, Geographie, Statistik und Naturkunde, Bd. , Wien .  Ulrich Wyrwa, Jüdische Geschichte im ›langen‹ . Jahrhundert in Deutschland und Italien im Vergleich, in: Ernst Baltrusch/Uwe Puschner (Hrsg.), Jüdische Lebenswelten von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. , S. -, hier S.  u. .  Una Sommossa Popolare, S. .  Dieses Ansuchen um politische Gleichstellung wurde aber nicht allein von den Juden Mantuas vorgebracht, sondern »im Vereine mit den übrigen Juden des Lombardisch-venetian. Reichs« (AZJ , .., S. ).

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junge Juden gaben damit an, ihre Angelegenheiten so vorbereitet zu haben, dass der König ihre Wünsche auch erfüllen werde. Die christlichen Bewohner der Stadt waren durch solche Prahlerei verstimmt und fest davon überzeugt, dass sich die Juden in der Konkurrenz um öffentliche Ämter durchsetzen würden. Dies führte zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht zu einem Ausbruch öffentlicher Erregung. Als die jüdische Abordnung am . Juni zurückkehrte, verbreitete sich die Nachricht, dass der Landesherr ihr Gesuch abgelehnt hatte.8 Dieser Fehlschlag soll nach Darstellung der AZJ den christlichen Einwohnern Mantuas die gewünschte Gelegenheit geboten haben, »ihr Gift auszulassen«, so dass »Spott und Sticheleien an der Tages Ordnung« [sic] gewesen seien. Was den Auslöser und den Verlauf der Unruhen betrifft, gehen die Darstellungen der mantuanischen Juden und die der Chronik auseinander, da Letztere eine Reihe von Vorfällen als Eskalationsstufen darstellt, für die den Juden eine auslösende Rolle zugeschrieben wurde, während der Bericht in der AZJ den Ausgangspunkt in einer Wirtshausschlägerei zwischen einem Christen und einem Juden am . Juni lokalisiert, über die in der Chronik zwar auch berichtet wird (wenn auch auf den . Juni datiert), der aber nicht die Rolle des alleinigen Auslösers zuerkannt wird. Nach der Rückkehr der erfolglosen jüdischen Abordnung am . Juni  kam es in der Folgezeit vielmehr zu einer Reihe kleinerer Vorfälle, die laut Chronik dazu führten, dass sich in der Bevölkerung eine Aversion gegen die Juden entwickelte, die man für »böswillig und feindselig« hielt.9 Eine Schlägerei am . Juni brachte dann wohl das Fass zum Überlaufen, als ein gewisser Quirino Galeazzi die Cafeteria Venezia an der Piazza Purgo (heute Piazza Marconi) betrat und mit seinem Ellenbogen Salomon Loria anstieß, was dieser sofort mit einer Ohrfeige quittierte. Galeazzi griff daraufhin nach einem Stuhl, aber Loria war kräftig genug, ihn zu Boden zu werfen und ihn wütend bei den Haaren und nehmen und mit  Es hieß als Begründung, dass der Vater des Königs (Ferdinand I.), gemeint ist wohl Leopold II., ihnen bereits ausreichende Vorteile gewährt habe.  Una Sommossa Popoplare, S.  (»per la qual cosa comincio nel populo a germogliare un’avversione agli Ebrei, considerandoli per malevoli e nemici«). Bei einem dieser Vorfälle soll ein Sohn aus der bekannten jüdischen Familie Finzi, der mit seinem Pferd durch eines der Stadttore Mantuas, die Porta Pradella (auch Porta Belfiore), zurückkehrte, mit einem armen Mann zusammengestoßen sein und ihn dabei zu Boden gestoßen haben, ohne aber anzuhalten und auch ohne sein Bedauern über diesen Vorfall zu äußern. Am Morgen des . Juni folgte nach Darstellung der Chronik die nächste »jüdische Provokation«, als junge Juden im Café del Commercio aufreizende Bemerkungen machten, die von einigen Christen zurückgewiesen wurden, die noch hinzufügten, dass die Juden ja genügend Mittel und Reichtum besäßen, um keine öffentlichen Ämter zu benötigen. In einer Fußnote wurde dazu angemerkt, es ginge das Gerücht, dass die Juden sich rühmten zu wissen, wie man mit Geld Schutz seitens des Magistrats bekommen könne, und dass viele ihrer kühnsten jungen Männer, darunter ein Finzi, zwei Norsa, ein Loria, zwei Levi und die Massarani, mit Pistolen und Messern bewaffnet wären, um von ihnen bei Gelegenheit gegen die Christen Gebrauch zu machen (Una Sommossa Popolare, S. ); in der Chronik selbst heißt es abweichend von »Correa grida«: »correa voce« – »corre voce, che«, das heißt »es geht das Gerücht, dass …«

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dem Kopf mehrere Male auf den Boden zu schlagen. Er gab ihm einige Fußtritte und kehrte schnell nach Hause zurück. Erscheint hier der Ellenbogenstoß eher als unbeabsichtigt und die Ohrfeige als überzogene Reaktion, stellt ein Bericht in der AZJ den Vorgang anders dar, der Galeazzi einen (wohl kaum unabsichtlichen) Fußtritt zuschreibt, den Loria mit einer Ohrfeige erwidert habe.10 Laut AZJ seien beide Urheber des Konflikts in Gewahrsam genommen worden, Loria habe sich sogar aus freien Stücken der Obrigkeit gestellt.11 Dies würde aber nicht erklären, warum dies den Ausgangspunkt für die Unruhen gebildet haben soll. Nach Darstellung der Chronik erregte demgegenüber dieser Zwischenfall, der zu den früheren hinzukam, noch verschärft durch die Unklugheit eines Juden, zu erklären, ein Loria habe ausreichend Geld sich zu verteidigen, und die Tatsache, dass von den Behörden nicht eingeschritten und Loria verhaftet worden war, den Unmut unter der Bevölkerung. Auch der Bericht in der AZJ spricht davon, dass die Folge dieser Schlägerei »eine allgemeine Gärung unter den Christen« gewesen sei, wobei diese zunächst vor allem die höheren Stände und den Mittelstand erfasst habe. Am Abend der . Juni versammelten sich dann viele Menschen auf der Piazza Purgo und unter den Laubengängen. Und einige begannen Juden, die ihnen begegneten, zu attackieren.12 Dann stürmten sie in das militärische Kaffeehaus von St. Carlo, wo sich mehrere Juden aufhielten, die sich nur mit Mühe verstecken konnten. Die schnell herbeieilenden Wachen beendeten die Übergriffe, und die staatlichen Kommissare schickten Trupps von Soldaten ins Ghetto, da sie dort Brandstiftungen und Plünderungen befürchteten. Nach Darstellung der Chronik wäre der sich anbahnende Tumult beendet gewesen, wenn sich nicht ein anderer widerlicher (»disgustosa«) unvorhergesehener Vorfall ereignet hätte. Demnach wurde am selben Abend der Wurst- und Käsehändler Domenico Barotti plötzlich von zwei Juden angegriffen, durch eine scharfe Waffe verletzt, zu Boden geworfen und misshandelt.13 Wiederum wird hier als Auslöser ein Angriff von Juden geschildert, während im Bericht der AZJ die am nächsten Tag, dem . Juni, folgenden Ausschreitungen nicht als durch ein solch weiteres Ereignis motiviert erscheinen. Als dieser Vorfall am nächsten Morgen bekannt wurde,  AZJ, Jg. , Heft , . August , S. , Bericht aus Mantua vom . Juli. In der nächsten Ausgabe der AZJ wird im Bericht des Mantuaner Augenzeugen offengelassen, wer den Streit angefangen und wer zuerst Gewalt angewendet hat. Er betont aber, der jüdische Teilnehmer habe sich »eher tapfer als feige« betragen (Heft , .., S. ).  AZJ, Jg. , Heft , . August , S. .  Im Bericht der AZJ ist davon die Rede, dass einige Juden sich tapfer gewehrt hätten, was der Anlass zu einem erneuten Gewaltausbruch am nächsten Tage gewesen sei (Jg. , Heft , .., S. ).  Barotti beschuldigte bei der ersten Vernehmung als Täter Mose Vivanti und Daniele Ariani, die aber von der zuständigen städtischen Präfektur freigelassen wurden; das Verfahren endete ohne Ergebnis, weil Barotti bei der zweiten Vernehmung aussagte, seine Angreifer nicht mehr genau wiedererkennen zu können. Die Bevölkerung war überzeugt, dass Barotti, durch das Gold der Juden bestochen, nun seine frühere genaue Identifizierung der Täter angezweifelt habe, um das Verfahren zu stoppen (Una Sommossa Popolare, S. ).

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begann eine aufrührerische Menge laut Chronik Juden, derer sie habhaft werden konnten, zu verfolgen und zu verprügeln. Man warnte sie, sich außerhalb des Ghettos sehen zu lassen.14 Die Justizbehörde war deshalb gezwungen, Streifen patrouillieren zu lassen, um weitere Unruhen zu verhindern. Dennoch versammelte sich am späten Abend auf der Piazza eine Menschenmenge in drohender Stimmung, weshalb sich der Königliche Gesandte Villata einmischte, um die Menge zur Ruhe zu mahnen, und er postierte zudem Gendarmen und  Soldaten am Eingang des Ghettos. Er empfahl den politisch Verantwortlichen, umsichtig vorzugehen, und den Soldaten, sich geduldig zurückzuhalten, solange von der Menge keine Gewalt angewendet würde. Diese Deeskalationsstrategie wurde aber durch das harte Vorgehen der Polizisten unter dem Kommissar Cesare Giani konterkariert, auf das die Menge mit Spott und Steinwürfen auf die Polizei antwortete. Daraufhin feuerten die Soldaten in die Menge und verletzten zwölf Personen, sieben von ihnen mussten ins Krankenhaus gebracht werden.15 Den Befehl, auf die Menge zu schießen, schrieb man dem Platzkommandanten Oberst Graf Caracsy zu, der wegen seines präpotenten Charakters unbeliebt war, aber auch Kommissar Giani wurde wegen des exzessiven Vorgehens der Soldaten kritisiert. Entsprechend wurde er vom Volk mit Pfiffen begrüßt, sobald er sich sehen ließ.16 Der Verlauf der Auseinandersetzungen zwischen Volksmenge und Militär wird in der AZJ etwas anders geschildert: Demnach habe die Menge, die starken Zulauf bekam, Steine auf die das Ghetto schützenden Soldaten geworfen und dabei sogar die Offiziere geschlagen und einige Gendarmen entwaffnet. Daraufhin habe das zahlenmäßig schwache Militär sich nur durch Schüsse in die Menge zu helfen gewusst, was diese wiederum erbittert habe. Sie berichtet dann für den nächsten Tag (. Juli), dass sich dieser Vorgang wiederholt habe und das Militär erneut auf die Tumultuanten geschossen habe.17 In jedem Fall wird deutlich, dass die staatlichen Ordnungskräfte in Pogromen im Im Bericht der AZJ werden die Ausschreitungen drastischer beschrieben: »Am folgenden Tage, dem sten, drang eine aufrührerische Menge, denn heute war auch der Pöbel mit Hoffnung auf reiche Beute und Plünderung aufgewiegelt worden, in die Judengassen, zischte, lärmte, tobte, und damit nicht zufrieden, schlug und mißhandelte auch die ruhigen Wanderer, so dass sich die Juden gezwungen sahen, die Gewölbe zu schließen und sich in die Häuser zu verkriechen« (Jg. , Heft , .., S. ).  Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts (Nr. , .., S. ) stellt die Vorfälle wiederum abweichend von den beiden anderen Quellen dar: Hier hatten sich die Unruhen gleich an die Kaffeehausschlägerei angeschlossen. Als der Platzoberst eingriff, um den Streit beizulegen, wurden ihm von einem der Tumultuanten die Orden von der Brust gerissen, und das herbeigeeilte Militär sah sich gezwungen, auf die Menge zu schießen, wobei einige Aufwiegler getötet, andere verwundet worden seien. Dies habe »zu einer völligen Emeute« geführt, da nun der »Pöbel, der sich bis dahin ruhig verhalten hatte, mit den Soldaten in ein Handgemenge geriet«. Die Juden hätten dann drei Tage ihre Wohnungen geschlossen halten müssen und konnten sich nicht auf der Straße sehen lassen.  Una Sommossa Popolare, S. . In einer Fußnote wird darauf verwiesen, dass die Juden die Soldaten den ganzen Tag über mit reichlich Essen und Trinken versorgt hätten, die sich deshalb, durch den Wein berauscht, dem Befehl gefügt hätten. (ebd.).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

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mer Gefahr laufen, selbst zum Ziel der Angriffe zu werden, wenn sie sich der als »Selbsthilfe« verstandenen kollektiven Gewalt der Tumultuanten entgegenstellen, vor allem, wenn sie dabei aus Sicht der Tumultuanten zu hart vorgehen. In der Chronik werden die Vorgänge etwas differenzierter dargestellt, wobei vor allem provokative Aktionen von jüdischer Seite für die erneute Eskalation verantwortlich gemacht wurden. Nach dem harten Eingreifen der Ordnungskräfte am Abend des . Juni fürchtete man, dass die empörte Bevölkerung sich nun bewaffnen würde, zumal die Gendarmen und die kleine Zahl an Soldaten nicht ausreichten, um sich selbst zu verteidigen. Aber die Menge verlief sich. In den Tagen danach kam es noch vereinzelt zu Übergriffen auf einzelne Juden.18 Neben der wegen des Sommers geringen Stärke des im Kastell stationierten Militärs19 verhinderte auch die zeitweise Abwesenheit des Militärgouverneurs, der in diesen Tagen seinen Landsitz bei Brescia besucht hatte, und des Oberkommissars der Polizei, Luigi Martello, der sich im nahen Roverbella20 vergnügte, entschiedene Gegenmaßnahmen. Der Militärgouverneur erschien erst am Abend des . Juli unter den Laubengängen, um die erbitterte Menge zu besänftigen, und er wurde mit Jubel begrüßt, weil er das Vorgehen der Truppen am Abend des . Juni missbilligt hatte. Wie aufgebracht die Menge wegen des harten Eingreifens der Ordnungskräfte war, zeigt die Tatsache, dass der plötzlich eintreffende Oberst Graf Carascy mit Schmähungen bedacht und tätlich angegriffen wurde; er hätte tot sein können, wenn sich nicht der Militärgouverneur, der selbst einige Schlägen, abbekam, dazwischengegangen wäre, um ihn zu verteidigen und ihm die Flucht in die Festung zu ermöglichen.21 Auch der Oberkommissar der Polizei, Luigi Martello, begab sich gegen Mittag nach Mantua, kehrte aber in sein Landhaus zurück, nachdem er den Königlichen Gesandten Villata dazu veranlasst hatte, einen Anschlag zu veröffentlichen, der die Bürger zur Ruhe aufforderte und Strafen von fünf bis zehn Jahren schweren Kerker für die Teilnehmer an einem Aufruhrs androhte. Um die Menge zu beruhigen,  Am Morgen des . Juli wollte ein Jude ein Café an der Piazza del Purgo betreten, obwohl der Kaffeehausbesitzer ihn davon abzuhalten suchte. Beim Hinausgehen wurde der Jude mehrfach geschlagen. Auch ein jüdischer Advokat wurde bei seiner Rückkehr aus seinem Büro in der königlichen Delegatur beleidigt und geschlagen; und um drei Uhr am Nachmittag wurde er auf dem Weg nach Hause verfolgt und es wäre ihm schlecht ergangen, wenn nicht einige Soldaten der Wache des Palastes des Militärgouverneurs erschienen wären, um ihn zu beschützen (Una Sommossa Populare, S. ).  Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts schrieb, dass während der heißen Jahreszeit nur eine schwache Besatzung in der Festung lag, »die zur Herstellung des Friedens nicht hinreichte, der in der That auch drei Tage lang gestört blieb« (Heft , .., S. ).  Roverbella ist ein kleiner Ort, ca.  km nördlich von Mantua gelegen. In der Textausgabe von Bruni di Porto fälschlich Riverbella geschrieben (Una Sommossa Populare, S. ).  Der Bericht in der AZJ datiert diesen Übergriff auf den Platzkommandanten auf den Samstagabend (. Juli), an dem sich Volksmenge und Militär gegenübergestanden hätten (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Damit ist möglicherweise der Angriff auf Oberst Graf Carascy gemeint, der in der Chronik auf Freitag datiert wird.

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gab Villata den Befehl, Loria und die beiden Juden zu verhaften, die Barotti angegriffen hatten. Diese Maßnahme schien auch tatsächlich den Tumult aufzulösen, doch angesichts der angespannten Situation reichte ein kleiner Vorfall aus, um die Gewalt wieder aufleben zu lassen. Als in den Nachtstunden Steine von den Häusern des Ghettos auf die Straßen geworfen wurden, in denen Passanten unterwegs waren, genügte dies, um erneut eine Volksmenge auf den Plan zurufen. Ein Trupp von Gendarmen und Soldaten, der den Grund für diese plötzliche Erregung nicht kannte, stürmte in die Menge und drängte diese auf die Piazza del Purgo ab, wo die Soldaten das Feuer eröffneten und fünf Personen verletzten, die sie dann in das Gefängnis des Kastells eskortierten. Sie hatten aber auch eine Frau getroffen, die aus einem Laden unter den Laubengängen gekommen war, und die ihren Verletzungen im Laufe der Nacht erlag. Von den Verletzten war auf der Piazza del Erbe eine Frau zurückgeblieben, die im dritten Stock des Hauses an einem offenen Fenster die Straße beobachtet hatte und durch einen Schuss schwer verletzt worden war. Weil ein solcher Schuss nur von einem erhöhten Standpunkt aus abgefeuert worden sein konnte, glaubte man, dass ein Schuss aus dem höheren Stockwerk des Ladens, der von dem Juden Masserani geführt wurde, und nicht aus einem Gewehr eines Soldaten abgefeuert worden war.22 Um die kritische Lage zu beruhigen, ließ der Militärgouverneur einen Wachposten des Königlichen Postamtes verhaften, der diesen Schuss hätte abgegeben haben können, befahl einem Teil der Soldaten, sich bis auf weiteres in die Kaserne zurückzuziehen und forderte den Oberster Carascy auf, seine Wohnung nicht zu verlassen. Die Deeskalationsstrategie ging auf, und die Menge löste sich innerhalb von zwei Stunden auf. Am Samstag, den . Juli, schien eine dumpfe Ruhe eingekehrt zu sein, die einen plötzlichen Angriff vorausahnen ließ, weil man eine allgemeine Bewaffnung der Bürger und Plünderungen im Ghetto durch einen Teil der Bauern befürchtete, die mit Forken ausgestattet auf die Piazza kamen.23 Die Juden, die seit drei Tagen im Ghetto eingesperrt waren und denen es am Nötigsten mangelte, lebten in großer Angst, obwohl es den Auftrag gab, sie durch die Einberufung neuer Truppen aus der Garnison zu schützen. In der Chronik bleibt ein Aspekt der Unruhen völlig unerwähnt, der in der Darstellung der AZJ ausführlich beschrieben wird. Demnach habe »der Pöbel« Mantuas die Bewohner der umliegenden Ortschaften zum Plündern der jüdischen Häuser in die Stadt gerufen, woraufhin die Obrigkeit die Brücken habe hochziehen und die Stadttore sperren  »Es war nicht undenkbar, dass die Juden im Ghetto auch Schüsse auf die Christen abgefeuert haben, während die Truppe zum Teil dasselbe tat; auch der Fall der getöteten Frau und die gerichtlichen Untersuchungen lieferten dafür einige Beweise.« Zudem wurde noch hinzugefügt, dass es in dem Trupp Soldaten, der im Ghetto Wache stand, zahlreiche Juden gab, denen man die Verletzung der Bürger zuschreiben wollte (Una Sommossa Populare, S. ).  Der Bericht in der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) spricht für den Samstag auch davon, dass sich die Parteien gegenübergestanden hätten und dass am Abend »einer der Platzkommandanten hart mitgenommen wurde.«

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lassen. Daraufhin hätten die Landleute die jüdischen Landhäuser rings um Mantua angegriffen und »geschleift«.24 Der königliche Gesandte übergab dem Gerichtshof sofort die Anzeigen dieses Volksaufruhrs, und seit diesem Morgen wurde einem Ratsmitglied die Befragung der Verletzten übertragen, um die Prüfung der Verstöße vorzunehmen und um die vorhandenen Spuren zu sichern, und um das Haus von Masserani aufzusuchen, weil man dort Steine, Waffen und Öl in den oberen Räumen entdeckt hatte. Am Sonntag, den . Juli, wurde die den ganzen Tag über andauernde Ruhe nach Darstellung der Chronik wiederum durch angebliche Provokationen seitens der Juden durchbrochen, als Steine aus den Fenstern des Ghettos geworfen wurden und zwei Juden, die aus dem Ghetto herauskamen, deshalb mit wütenden Schlägen zurückgetrieben wurden. Inzwischen intervenierten der Hauptmann der Gendarmerie und ein deutscher Offizier, die von Steinen getroffen worden waren, und nahmen drei dort anwesende Juden fest und eskortierten sie unter den Jubelrufen der Menge ins Kastell. Der königliche Gesandte hielt in Absprache mit dem Militärgouverneur und mit dem Bürgermeister von Bagno eine Durchsuchung des Ghettos für angebracht, um nach Waffen und anderen Angriffsobjekten zu suchen. Das löste Besorgnis unter den Juden aus, und einige jüdische Familien verließen in der Nacht mit einer von Kavallerie begleiteten Kutsche die Stadt, andere folgten in den folgenden Nächten. Auch die AZJ berichtet von der Abwanderung von »vielen der reichsten Juden«, deren Beispiel viele andere folgten.25 Die Darstellung in der AZJ, in der weder die Steinwürfe im Ghetto und die Verhaftung der »Täter« noch die Durchsuchung des Ghettos nach Waffen vorkommen, spricht von den Ereignissen am . Juli als dem Höhepunkt der Ausschreitungen, wonach die Menge (»der Pöbel«), nun von Bauern aus der Umgebung verstärkt, ins Ghetto eingebrochen sei. Sie hätten Fensterscheiben eingeworfen und »droheten, die Hausthüren aufzubrechen, die Häuser zu bestürmen und zu plündern, ein Blutbad anzurichten«.26 Nur durch das Eingreifen eines gegen Mittag aus Verona eintreffenden ungarischen Regiments, das einen Sicherheitskordon um das Ghetto zog, sei die Ruhe bald wiederhergestellt worden. Der kommandierende General sorgte auch für die Zufuhr von Lebensmitteln, die die Menge bisher blockiert hatte. Anschließend kam es nur noch zu kleineren Zwischenfällen.27 Offenbar wa AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts , .., S. .  Die AZJ betont den »unberechenbaren Verlust für Mantua«, der durch die Abwanderung der Juden entstehe, da die »dortigen Juden […] den wohlhabendsten Theil der Bevölkerung bilden« (Jg. , Heft , .., S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Laut Chronik wurde am Montag ein Jude außerhalb des Ghettos durch den Hobel eines Schreiners verletzt, der dann verhaftet wurde. Am Nachmittag desselben Tages wurden aus einem Haus neben dem königlichen Finanzamt Dachziegel auf die Straße geworfen, wo sich dann bald viele Menschen versammelten. Die Staatsmacht war aber schnell herbei-

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ren aus Verona und Brescia Truppen nach Mantua verlegt worden, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Da man ein Übergreifen der Unruhen auf benachbarte Städte befürchtete, sollen etwa auch in Verona Truppen im dortigen Ghetto patrouilliert haben.28 Eine Meldung aus Wien vom . Juli  spricht davon, dass man den Unruhen in Mantua bei den Behörden in Wien große Bedeutung zugemessen habe, zumal befürchtet wurde, dass diese sich an anderen Orten wiederholen könnten, wo »es neben der christlichen auch eine zahlreiche jüdische Bevölkerung giebt«.29 Aus Wien ergingen entsprechend Anweisungen an die Behörden in Mantua, die Unruhen energisch niederzuhalten und die Juden zu schützen. Entsprechend lobte die AZJ auch das »kräftige Einschreiten der Behörden gegen die dort stattgehabten Exzesse« sowie den Einsatz zum Schutz der Juden und äußerte die Erwartung, dass die Tumultuanten nicht ungestraft bleiben würden, um so Nachahmer abzuschrecken.30 Unter den Einwohnern Mantuas war entsprechend die Meinung tief verwurzelt, die Juden hätten während der neun Tage des Aufruhrs riesige Summen an die Truppen bezahlt, damit diese sie verteidigten. Am . Juli begannen die Juden die Läden im Ghetto wieder zu öffnen, es blieben aber Soldaten als Wache auf den Straßen zurück.31 Die öffentliche Empörung hatte sich zwar gelegt, doch noch immer mussten Juden, die es wagten, mittags über den Purgo zu gehen, damit rechnen, angepöbelt zu werden. Ermutigt durch die Ruhe der Bevölkerung und durch die zahlreichen Militärpatrouillen, begannen die Juden bald darauf, sich wieder auf dem Purgo und auf den Straßen nahe des Ghettos sehen zu lassen Der Tumult war zu Ende, und laut Chronik hatte sich die frühere Eintracht wieder eingestellt, was durch polizeiliche Maßnahmen, die in der folgenden Nacht und der danach folgenden durchgeführt wurden, befördert worden sei: nämlich die Verhaftung der vorgeladenen und anderer verdächtiger Personen. Einige von diesen wurden sogar aus der Provinz ausgewiesen.32 Der Bericht der AZJ stellt die Situation nach Ende der Ausschreitungen weniger harmonisch dar. Er spricht von einer »traurigen Stille« und von Niedergeschlagenheit unter Juden und Christen, da beide Seiten Opfer zu beklagen hatten: Mehrere Juden litten demnach unter den Folgen der erlittenen Misshandlungen und des Schreckens; unter den Christen gab es mehrere durch Schüsse des Militärs Verwundete sowie eine Tote (nach der Chronik waren es sogar zwei Tote). Zudem hatten ja vor allem

    

geeilt und brachte einen Juden ins Gefängnis, der sich im Haus aufgehalten hatte (Una Sommossa Populare, S.  f.). AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Ebd., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Laut AZJ habe die Behörde bekannt gemacht, dass die Läden unter ihrem Schutz stünden und die Inhaber nichts zu befürchten hätten (Jg. , Heft , .., S. ). Eine kritische Situation hätte noch entstehen können, als in der Nacht zum . Juli bekannt wurde, dass die Frau von Tamassia ihren Verletzungen erlegen war, was in der Bevölkerung große Trauer auslöste. Ihre Leiche war zur Sektion in das örtliche Krankenhaus gebracht worden und wurde um  Uhr morgens am . Juli heimlich auf dem Friedhof beigesetzt, wohl um erneute Tumulte zu verhindern.

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wohlhabende Juden die Stadt verlassen und zögerten, wieder zurückzukehren. Die AZJ beschreibt auch, dass die Obrigkeit über die Vorfälle erbittert sei und gerecht, aber streng verfahre.33 Dass dies ein Risiko bot, deuten aus Mantua stammende Briefe an, die davon sprechen, dass durch die strengen Untersuchungen der Behörden gegen die Ruhestörer die »Erhitzung der Gemüther unter der christlichen Bevölkerung« neue Nahrung gewinne. Man akzeptierte in der Bevölkerung zwar die Unterbindung weiterer Unruhen, doch nur unter der Bedingung, dass nicht weiter nachgefragt würde, »wer an dem Vergangenen vorzugsweise Theil genommen«.34 Zu den während des Tumults festgenommenen Christen gehörten  Personen, denen das Verbrechen der Anwendung öffentlicher Gewalt und Bedrohung vorgeworfen wurden. Nach einem umfangreichen Verfahren ergingen ein Jahr später am . Juli  die folgenden Urteile: von einem Monat bis zu einem Jahr Haft für acht Personen; die Aussetzung des Prozesses wegen fehlender Beweise für acht weitere Personen; Freisprüche für drei Personen, wegen Widerrufs aufgrund des Fehlens rechtlicher Indizien für zehn Personen; für zwei weitere Personen wurde das städtische Amtsgericht für zuständig erklärt. Es wurde weiter eine Rücknahme der Anzeigen gegen weitere siebzig nicht Festgenommene ausgesprochen. Die AZJ berichtet in einer anderen Meldung davon, dass auch viele Landleute aus der Umgebung Mantuas wegen der Zerstörung der jüdischen Landhäuser festgenommen worden seien.35 Es wurden, wie in den meisten Fällen solch unübersichtlicher kollektiver Aktionen, letztlich nur wenige Personen bestraft. Auffällig ist, dass die in der Chronik mehrfach behaupteten Verhaftungen von jüdischen Tätern bei der Aufzählung der justiziellen Bearbeitung der Unruhen nicht auftauchen. Die Unruhen in Mantua zeigen die für die Emanzipationszeit typische Konfliktkonstellation, in der zwischen christlichen und jüdischen Ortsbürgern Statuskonflikte ausgetragen wurden. Diese konnten durch das sehr selbstbewusste Auftreten zumal junger wohlhabender Juden, wie etwa auch in Hamburgs Kaffeehäusern im Jahre , in Gewalt umschlagen. Im Fall Mantuas entwerfen die Darstellung in der Chronik der Stadt und die teils auf Augenzeugenberichte aus Mantua zurückgehenden Artikel jüdischer Zeitungen in Deutschland ein recht unterschiedliches Bild der Vorgänge. Während die Chronik die Angriffe der Menge an vielen Stellen durch Übergriffe seitens der Juden motiviert sieht, die den Konflikt so immer wieder neu aufflammen ließen, findet sich in den Zeitungsberichten nur ein solcher Fall, der als Auslöser der Unruhen insgesamt angesehen wird. So fehlen in diesen Berichten auch die Hinweise auf Verhaftungen von Juden bzw. Maßnahmen der Behörden, wie etwa eine Durchsuchung einer jüdischen Wohnung oder des Ghettos insgesamt. Umgekehrt hebt die Chronik eben dies besonders hervor, schweigt aber wiederum dazu, dass etwa die Bauern jüdische Landhäuser zerstörten und dass deutliche Truppenverstärkungen von außen herbeigerufen werden mussten, was  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Ebd.  Ebd.

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für die Schwere der Unruhen spricht. Auch differiert verständlicherweise die Bewertung des Militäreinsatzes zum Schutz der Juden, der von jüdischer Seite positiv dargestellt wird, während die Chronik sehr deutlich den Unmut der Menge über das harte Vorgehen der Truppen schildert und auf deren Überzeugung verweist, die Juden hätten sich Schutz durch ihren Reichtum erkauft. Uneinigkeit herrscht zwischen beiden Quellen auch hinsichtlich der Frage nach dem christlich-jüdischen Verhältnis vor und nach den Unruhen. Während die Chronik am Ende von der Wiederherstellung der vor den Unruhen harmonischen Beziehungen zwischen Christen und Juden spricht, die allein durch eine Reihe jüdischer Provokationen unterbrochen worden sei, zeichnet die AZJ ein anderes Bild, indem sie den bestehenden Hass der Christen auf die wohlhabenden und sich wenig assimilationswillig zeigenden Juden hervorhebt und auch ein nach dem Ende der Gewalt weiterhin gestörtes Verhältnis wahrnimmt, da etwa die Verurteilung von christlichen Tumultuanten Unmut unter den Christen hervorrief, während eine strenge Bestrafung den Interessen der Juden im Sinne einer Gewaltprävention entsprach. – Da wir über keine weiteren Quellen verfügen, lässt sich nicht feststellen, welche Darstellung der Unruhen den tatsächlichen Verlauf genauer wiedergibt. In diesem Fall wird das Quellenproblem besonders evident, da die verfügbaren Quellen eindeutig parteiisch sind und entsprechend selektiv über die Vorgänge berichten, so dass die Schuld an den Ausschreitungen jeweils der Gegenseite zugeschrieben wird und die eigene Seite belastende Ereignisse nicht berichtet werden. Religionstumulte in Ländern des Deutschen Bundes - In den er Jahren kam es nach den Vorgängen am Niederrhein auch an einigen anderen Orten im Deutschen Bund, wie dem westfälischen Geseke () und dem rheinischen Blatzheim (), zu »Religionstumulten« zwischen Christen und Juden, die allerdings nicht durch Ritualmordgerüchte ausgelöst wurden.36 Die Unruhen in Geseke im Mai  wiederholten sich über Monate und dauerten bis in den November an.37 Hintergrund war, dass der Siebte Rheinische Provinziallandtag  die Gleichstellung der Juden verlangt hatte, was zwar vom preußischen König abgelehnt worden war, aber doch Emanzipationsgegner auf den Plan gerufen hatte. In Minden etwa versuchte der judenfeindliche Militärauditor Eugen Heinrich Marcard,38 der später Abgeordneter im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag wurde,  mit antisemitischen Hetzschriften und einer gemeinsam mit dem Hauptmann von Scheele initiierten Unterschriftensammlung gegen die Emanzipation der Juden kleinbäuerliche und kleinbürgerliche Kreise aufzuwie Vgl. dazu im Folgenden Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. -.  Diese Vorgänge hat Else Lasker-Schüler in dem Theaterstück Artur Anonymus, die Geschichte meines Vaters als Vorlage genommen.  Werner Bergmann, Heinrich Eugen Marcard, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. /, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -.

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geln.39 Über den in Flugblättern verbreiteten Vorwurf der Hostienschändung versuchte Marcard einen Religionstumult zu erzeugen, der zwar für Unruhe in der »ungebildeten Klasse der Bevölkerung« und zu schweren Beleidigungen von Juden führte, ohne allerdings in Gewaltaktionen zu münden.40 Im Minden benachbarten Geseke bildeten die Auseinandersetzungen um die gegen den Willen der Eltern erfolgte Konversion eines jüdischen Jungen zum Katholizismus den Kern des Konflikts, da die Eltern versuchten, ihren Sohn zurückzubekommen. Als der Junge aus Geseke verschwand, kam das Gerücht auf, er sei nach Berlin zu polnischen Juden gebracht worden, um ihn zum Judentum zurückzubringen. Dieses Gerücht zusammen mit einem anonymen antichristlichen Schmähbrief an den Pfarrer von Geseke, den man dort den Juden zuschrieb, verstärkte die Erregung weiter.41 Obwohl die Geseker Juden eine Belohnung für die Enthüllung des anonymen Briefschreibers aussetzten, kam es am . Mai  zu ersten Steinwürfen zunächst gegen das Haus des Vaters des Konvertiten und eines anderen Juden, am nächsten Abend wurden dann zunächst »Hepp, Hepp, Jude verreck !«-Rufe laut und später sämtliche jüdischen Häuser mit Ausnahme der Synagoge und des Lehrerhauses attackiert, Türen und Fenster eingeschlagen und Waren und Möbel zerstört.42 Es kam aber nicht zu Übergriffen auf Personen und nicht zu Plünderungen. Der Bericht in der Allgemeinen Preußischen Zeitung betonte, dass während des anderthalbstündigen Krawalls nur ein Gendarm und zwei Sergeanten anwesend waren, aber weder Polizei noch Mitglieder des Magistrats vor Ort gewesen seien. Als schließlich zwei Mitglieder des Letzteren erschienen, zogen sich die Tumultuanten zurück.43

 Margit Naarmann, Die Paderborner Juden -. Emanzipation, Integration, Vernichtung, Paderborn , S. . Naarmann hebt die Resonanz hervor, die Marcards Schriften bei Rittergutsbesitzern und bei der judenfeindlichen protestantischen Geistlichkeit Mindens, die in Opposition zur judenfreundlichen katholischen Geistlichkeit des Rheinlands standen, gefunden hätten (ebd.).  Hier gibt es einen Dissens in der Darstellung von Rohrbacher (Gewalt im Biedermeier, S. ) und Naarmann (Die Paderborner Juden, S. ): Während Letztere, gestützt auf Arno Herzig, von Ausschreitungen spricht, bestreitet Rohrbacher, dass es gewalthafte Übergriffe gegeben habe. Bei Naarmann ist ein antijüdisches Flugblatt abgedruckt, in dem der Vorwurf erhoben wird, die Juden verspotteten die Hostie (S. ).  Sowohl der Bericht der Magdeburger Zeitung vom . Mai  über die Geseker Vorfälle wie auch der Bericht der zuständigen Regierung in Arnsberg üben heftige Kritik an der Proselytenmacherei der katholischen Geistlichkeit, die zudem den Hass und den Fanatismus nicht besänftigt, sondern sogar angestiftet habe. Zit. nach AZJ. Jg. , Heft , vom .., S.  f., u. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Die Magdeburger Zeitung forderte sogar, dass gegen diese Geistlichen ebenfalls eingeschritten werde.  Der Orient, Nr. , .. , S. , schreibt, dass am Abend des . Mai »zwischen - Uhr Abends alle Judenhäuser bis auf eines, worin eine Wöchnerin lag, demolirt« wurden. Der Grund sei gewesen, dass man glaubte, ein Schmähbrief, den der Geistliche von Paderborn empfangen hatte, sei von den Geseker Juden geschrieben worden.  Zit nach dem Wiederabdruck in: AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.

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Einen Abend später fielen die christlichen Bewohner des Nachbardorfes Störmede, aber wohl mit tätiger Mithilfe von Gesekern, über die dort lebenden drei jüdischen Familien her, wobei es anders als in Geseke sogar zu schweren körperlichen Misshandlungen und zu Zerstörungen und Plünderungen kam. Es gab offenbar auch Gerüchte, dass an anderen Orten der Umgebung, etwa in Paderborn, Aktionen gegen die Juden geplant seien.44 Die Übergriffe hörten auch danach in Geseke nicht auf, es kam im folgenden halben Jahr immer wieder zu kleineren nächtlichen Angriffen, so dass die Behörden alle öffentlichen Festlichkeiten für  verboten. Der Vater des konvertierten Jungen ließ diesen schließlich zurückholen und willigte ein, ihn auf ein katholisches Gymnasium zu schicken. Dennoch sah sich die Familie bis Januar  immer wieder Anfeindungen ausgesetzt und übersiedelte schließlich nach Gütersloh. Die Untersuchung und Bestrafung der Täter gestaltete sich schwierig, da »an dem Exzeß Hunderte von Einwohnern Theil genommen« hatten und belastende Zeugenaussagen typischerweise kaum zu bekommen waren.45 Dies deutet auf eine große Unterstützung und judenfeindliche Haltung der Bevölkerung hin. Dennoch wurden insgesamt zwanzig Personen aus Geseke und Störmede angeklagt, neun von ihnen bekamen strenge Zuchthausstrafen von zwei bzw. drei Jahren.46 Diese antijüdischen Ausschreitungen in Westfalen führten auch zu einer Reaktion seitens des preußischen Kultusministeriums, das als Ursache dieser Vorfälle zwar auch soziale und wirtschaftliche Motive annahm, aber den religiösen Judenhass, noch geschürt durch die Geistlichkeit, als primär ansah. Entsprechend forderte der preußische Kultusminister Karl Friedrich von Eichhorn (-) alle Bischöfe und Superintendenten auf, über den Klerus auf die »gereizte Stimmung« in den Gemeinden einzuwirken, was diese offenbar auch taten.47 In der jüdischen Zeitung Der Orient wurden zwei eher als gegensätzlich einzuschätzende Motive genannt: Einerseits wurde ein religiöser Fanatismus der Katholiken gegen die protestantische preußische Regierung angenommen, andererseits wurde den Gebildeten unterstellt, die Abneigung gegen die Juden nur zu nutzen, um ihre eigentlichen, nämlich revolutionären Ziele zu verdecken. Der Verfasser will hier sogar eine Parallele zum Wartburgfest von  erkennen, wo die demagogischen Umtriebe ebenfalls mit einem »Hep-Hep«-Geschrei begonnen hätten.48  Naarmann, Die Paderborner Juden, S. . Der Bürgermeister von Geseke warnte aufgrund dieser Gerüchte Ende Mai den Paderborner Stadtdirektor, der daraufhin die Polizei zu besonderer Wachsamkeit anhielt, Patrouillen durchführen ließ und die Bürgerwehr in Bereitschaft hielt. Außer einigen »Hep-Hep«-Rufen von Gymnasiasten blieb es aber in Paderborn ruhig.  Bericht der Regierung von Arnsberg, Abt. des Innern, vom . Juni , zit. nach Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .  Naarmann, Die Paderborner Juden, S. .  Ebd., Dort wird der Minister wie folgt zitiert: In Westfalen hätten ein »eigentümliches Verhältnis des bürgerlichen Verkehrs der Juden zu der ärmeren christlichen Bevölkerung«, ein »nicht zu unterschätzender Eigennutz« der Juden und ein »übersteigertes religiöses Bewusstsein« die feindliche Stimmung hervorgerufen.  Der Orient (Nr. , ..) macht für die Übergriffe in Geseke einen »unversöhnlichen

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Für Stefan Rohrbacher weisen die Ereignisse in Blatzheim von  auf einen ähnlichen sozial-konfessionellen Hintergrund hin: Es handelt sich in beiden Fällen um ein katholisch geprägtes bäuerliches Milieu, und in beiden Fällen wird die judenfeindliche Haltung vom Klerus unterstützt, im Fall Blatzheims sogar ausgelöst.49 Ein an sich harmloser Vorgang löste über Gerüchte verstärkt eine Pogromstimmung aus. Der Sohn des jüdischen Einwohners Abraham Kaufmann lieh ein Buch von Heinrich Heine an einen christlichen Bekannten aus, in dem letzterer Schmähungen des Christentums entdecken wollte und mit dem Buch zum Priester ging. Die daraufhin einsetzenden Gerüchte, der jüdische Junge habe noch weitere antichristliche Bücher in Umlauf gebracht oder gar selbst verfasst, wurde vom katholischen Ortsgeistlichen auch noch von der Kanzel bestärkt, so dass es in der Nacht zum . März  zu Zusammenrottungen, zum Singen von »gemeinsten Schimpfliedern« und Steinwürfen junger Leute gegen das Haus der jüdischen Familie kam. Dies wiederholte sich am . April, wo die Menge zunächst vom Polizeidiener vertrieben werden konnte, aber in der Nacht wiederkam, um zu toben und Steine gegen das Haus zu werfen. Dies wiederholte sich an weiteren Tagen, konnte aber von der Polizei jeweils schnell unterbunden werden. Abraham Kaufmann versuchte diese Ereignisse herunterzuspielen und betonte vor allem, dass der katholische Pfarrer die Tumulte gerügt hätte, nachdem er über den wahren Sachverhalt aufgeklärt worden sei, dass aber einige Anstifter aus Geschäftsneid und Judenhass den Pöbel für die Tumulte »bezahlt und zu seinen Unruhen förmlich angeleitet« hätten. Er hebt auch hervor, dass die Tumultuanten zum Teil bereits abgeurteilt, teils noch in ein Untersuchungsverfahren verwickelt seien.50 Auch in diesem Fall verließ die jüdische Familie wegen der fortdauernden Anfeindungen schließlich den Ort.51 Auch wenn Abraham Kaufmann in Blatzheim die guten Beziehungen zu seinen christlichen Nachbarn herausstrich, so machen diese Vorfälle doch deutlich, dass Katholizismus« verantwortlich, der sich »gegen die evangelische Regierung in Feindschaft verbunden« habe. Die Zeitung deutet mit Blick auf weitere antijüdische Unruhen in Breslau und Prag an, dass sich »die politische Unbehaglichkeit in der Abneigung gegen die Juden ihren öffentlichen Ausdruck« suche, um so, die Schwäche der Regierung benutzend, unter falscher Maske die Gemüther besser aufzuregen; denn hier, wie allenthalben, ist es der gebildetere Theil, der die Maske des Judenhasses führt, um das revolutionäre Treiben zu verdecken.«  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  ff.; auch Gailus, Straße und Brot, S. ; beide Darstellungen folgen der Schilderung der Ereignisse durch den betroffenen Abraham Kaufmann in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums (Jg. , Heft , .., S.  f.), in der dieser den Bericht der B. Z. als irreführende und maßlose Übertreibung zurückweist.  AZJ, Jg. , Heft , .. , S. .  Vgl. die in der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) von der B. Z. übernommene Nachricht: »Der Sohn eines zu Blatzheim wohnenden Israeliten soll gegen die katholische Religion geschrieben haben, und für diesen Frevel hat sein Vater büßen müssen; ein fanatisch angeregter Volkshaufe hat sein Haus gänzlich zerstört, und die Einwohner von Blatzheim sind so erbittert, daß sie ferner die Anwesenheit des alten Israeliten in dem Orte nicht dulden wollten. Die gerichtliche Untersuchung ist eingeleitet.«

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religiöse Vorbehalte und ökonomische Konkurrenz ein leicht entflammbares Gemisch vor allem in stark religiös geprägten ländlichen Gebieten darstellten, wobei offenbar die katholische Geistlichkeit eine aktive Rolle spielte.52 Dabei ist Stefan Rohrbacher Recht zu geben, dass man nicht reduktionistisch verfahren und die religiösen Anlässe nur als Vorwand für dahinter liegende ökonomische Motive ansehen sollte. In Geseke war der religiöse Streit um den Proselyten ausschlaggebend, wobei dann, wie im benachbarten Störmede, schnell ökonomische Motive vorrangig werden konnten, wie dies offenbar in Blatzheim von Beginn an der Fall war. Man muss ja auch keineswegs, wie die recht breite Beteiligung der Bevölkerung belegt, von einer einheitlichen Motivlage unter den Tumultuanten ausgehen. Arbeitskämpfe und antijüdische Ausschreitungen in Breslau und Prag  Zu sozialen Unruhen kam es im Juni  im Zuge des schlesischen Weberaufstandes, der sich gegen die christlichen Fabrikbesitzer richtete. In Breslau ereigneten sich jedoch in der Nacht vom . auf den . Juni antijüdische Unruhen, als sich beim Auszug des Militärs gegen die rebellierenden Weber im Riesengebirge in der Unterschicht Unruhe breitmachte, die aber durch Militär und Polizei in Schach gehalten werden konnte. Der Bericht des Orient sieht die Juden nun als ein Ersatzopfer angesichts der Ohnmacht der Menge gegenüber der Polizei.53 Um ihre Aufregung loszuwerden, wendete man sich gegen die auch vom Staat weniger streng geschützten Juden, »gegen welche durch die Aktienkrise einige Erbitterung geherrscht hatte«. Eine Menschenmenge marschierte in der Nacht mit Geschrei und Steinwürfen durch das schlafende, zumeist von Juden bewohnte Viertel. Zu größeren Ausschreitungen kam es aber erst am Abend des folgenden Tages, als eine große Menschenmenge (»schwarze dichte Volksmasse«) nochmals durch die zumeist von Juden bewohnten Straßen zog und unter Hohngeschrei die Häuser von Juden mit Steinen bewarf und demolierte. Dem Militär gelang es nur mit Mühe, die Gewalt zu beenden. Für den nächsten Tag wurden Proklamationen angeschlagen, die die Bevölkerung vor weiterer Gewalt warnten, und Militär wurde in den bedrohten Straßen postiert.54 Obwohl die Menge nach der Beschreibung aus Angehörigen der Unterschichten bestand, stellte der Bericht die Exzesse als »von einer Klasse des Volkes diktiert« dar, »welche die Intelligenz und die Humanität zu vertreten und zu be Die Berichte der Magdeburger Zeitung und der Allgemeinen Preußischen Zeitung (beide in der AZJ abgedruckt: Jg. , Heft , .. , S.  ff.) über Geseke und Störmede zeigen das Unverständnis gegenüber dem religiösen Fanatismus und der Gewalt, die sie an die finstere Zeit des Mittelalters erinnern.  Der Orient, Nr. , .., S.  f. Siehe dazu den kurzen Eintrag in F. G. Adolf Weiß, Chronik der Stadt Breslau, S. .  Der Orient unterstellt hier, dass der Schutz auch deshalb so massiv ausfiel, weil in den bedrohten Straßen auch Christen wohnten, deren Häuser ebenfalls Schaden gelitten hatten. Der Verfasser des Artikels sieht in der Auflösung der Ghettos den Vorteil, dass nun auch Christen in der jüdischen Nachbarschaft zum »Mitleiden genöthigt sind, für den Schutz der Juden etwas zu tun« (ebd.).

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wahren zur Lebensaufgabe hat«. Die Rädelsführer seien Studenten gewesen, die als romantische, deutschtümelnde Schwärmer hingestellt wurden. Ihren Patriotismus hätten sie durch das Steinewerfen gegen jüdische Häuser beweisen wollen.55 Diese Interpretation scheint jedoch vor dem politischen und ökonomischen Hintergrund der Weberunruhen und angesichts der Beschreibung der Volksmenge als nicht sehr plausibel. Von jüdischer Seite wird häufig eine Drahtzieher-Theorie bemüht, die hinter den randalierenden Unterschichten Rädelsführer aus den gebildeten Schichten ausmachen möchte. Dies dürfte in diesem Fall ebenso wenig zutreffen wie bei den Hep-Hep-Unruhen, die gern als Parallele herangezogen wurden. Wir haben es hier mit einem der nicht seltenen Fälle zu tun, wo ausgebremste Gewaltaktionen einer Menschenmenge, in diesem Fall ein sozialer Protest der Weber gegen die Fabrikanten, sich in den Juden ein Ersatzobjekt gesucht hat. Ob diese Ausrichtung auf ein neues Ziel durch »nationale Studenten« oder aus der Menge heraus geschah, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Die sich im Juni  in Prag ereignenden Ausschreitungen haben ebenfalls einen Arbeitskonflikt mit anschließender Maschinenstürmerei als Ausgangspunkt.56 Hintergrund der Unzufriedenheit war eine Wirtschaftskrise im österreichischen Teil des Habsburgerreiches, die nach Auffassung Christoph Stölzls besonders Böhmen und seine Textilindustrie traf, der die Fabrikanten durch erhöhten Lohndruck begegneten, während aufgrund von Missernten / die Lebensmittelpreise in Prag um ein Drittel anstiegen.57 Diese Krise habe die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft verschlechtert und zu einer sozialrevolutionären Stimmung geführt, die sich dann gerade gegen die jüdischen Unternehmer entlud, da diese in der böhmischen Textilindustrie, vor allem in Prag, eine Monopolstellung besaßen und man deren kommerzielle und industrielle Verdienste in der die Emanzipation befürwortenden Literatur breit herausgestellt hatte. Nach Stölzl sei damit die Vorstellung entstanden, dass Industrie und Ausbeutung in Böhmen eine Angelegenheit der Juden seien, was  Ebd., S. .  Somit trifft die in der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) geäußerte Bemerkung, dass sich seit dem Damaskus-Prozess, in dem es um einen vermeintlichen Ritualmord ging und der europaweit für Aufregung gesorgt hatte, die Volksstimmung geändert habe und es deshalb vielerorts zu Ritualmordbeschuldigungen (Rhodos, Marmora, Tarnow) bzw. zu antijüdischen Ausschreitungen (Karlsruhe, Geseke, Prag) gekommen sei, für die Prager Unruhen nicht zu, da hier keinerlei religiöser Hintergrund bestand. Vielmehr ist eher ein Zusammenhang, wenn auch nicht organisatorischer Art, mit dem benachbarten schlesischen Weberaufstand gegeben. Vgl. Eberhard Wolfgramm, Der böhmische Vormärz, im Besonderen die böhmischen Arbeiterunruhen des Jahres  in ihren sozialen und politischen Zusammenhängen, in: Karl Obermann/Josef Polišenský (Hrsg.), Aus  Jahren deutsch-tschechoslowakischer Geschichte, Berlin (Ost) , S. -, hier S. . Der Orient (Nr. , .., S. ) schreibt dazu: »Unsere adligen Juden sind von der Arbeiterklasse hart mitgenommen worden. Doch hat der Aufstand mehr den Fabrikherrn, als den Juden sammt [sic] Adelsdiplom gegolten«.  Christoph Stölzl, Zur Geschichte der böhmischen Juden in der Epoche des modernen Nationalismus I, in: Bohemia, Bd. , , S. -, und Bd. , , Teil II, S. -, hier Teil , S.  ff.

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sich dann noch mit dem alten »Wucher-Stereotyp« verbunden habe. Die wesentliche Trägerschicht des Antisemitismus war in Prag jedoch nicht die Arbeiterschaft, sondern das Kleinbürgertum, da die Handwerker und kleinen Gewerbetreibenden in den jüdischen Fabrikgründungen sowie in jüdischen Kaufleuten die Ursache ihres Niedergangs sahen, zumal Letztere ihre Geschäfte in Prag zunehmend auch außerhalb der Judenstadt betrieben. Da die Bedingungen für eine klare Einsicht in die objektiven Ursachen der Wirtschaftskrise ebenso wenig vorhanden waren wie eine sozialpolitische Milderung der »manchesterlichen Praktiken der Unternehmer« seitens des Staates, richtete sich die sozialrevolutionäre Stimmung im Zusammenspiel mit der verbreiteten Judenfeindschaft, wobei Ersterer wohl die mobilisierende Rolle zukam, gegen die jüdischen Kattunfabrikanten Prags. Die Fabrikarbeiter in den Baumwollfabriken forderten höhere Löhne und lehnten sich gegen die Einführung von Druckmaschinen auf, da sie befürchteten, diese würden viele der Drucker arbeitslos machen. Die Träger des Protests, die Drucker, stellten nach Stölzl eine gewerkschaftlich-berufsständisch gut organisierte Arbeiteraristokratie dar.58 Streitigkeiten über die Höhe der Löhne und Drohungen der Arbeiter, die Druckmaschinen zu zerstören, führten dazu, dass Fabrikbesitzer die Wortführer der Drucker am . Juni  arretieren ließen, was die Fabrikarbeiter noch mehr erbitterte und ein starkes Motiv bildete, zu kollektiver Gewalt zu greifen.59 Am folgenden Tag, dem . Juni, drangen die Arbeiter mit Gewalt auf die Befreiung der Verhafteten und begannen die Maschinen der Kattunfabrik der Gebrüder Porges zu zerstören, was mit einem Einsatz von Militär beendet wurde. Die Arbeiter zogen nun aber von Fabrik zu Fabrik, wobei sich ihnen immer mehr Kollegen anschlossen, so dass die Menge schließlich bis an . Mann anwachsen sollte. Diese begann nun auch die neuen Maschinen in den Fabriken der jüdischen Inhaber Brandeis, Dormizer, Schick und Epstein zu zerstören, Personen wurden nicht angegriffen.60 Ferdinand  Stölzl, Geschichte der böhmischen Juden, S.  f. Diese Fabrikarbeiter, Drucker und Färber stellten nach Eberhard Wolfgramm »vielleicht den unruhigsten Teil der Bevölkerung dar« (Der böhmische Vormärz, S. -). In dieser marxistischen Sichtweise tritt die antijüdische Zielrichtung der Unruhen ganz hinter den politisch-sozialen Ursachen und Zielen zurück.  Nach einem Bericht der Königsberger Allgemeinen Zeitung (abgedruckt in: Der Orient, Heft , .., S. ) seien die Drucker ohne jede Veranlassung ins Büro der Fabrikherren eingedrungen, obwohl diese bereits sehr hohe Löhne zahlten und auch trotz der neuen Maschinen weitere Arbeiter eingestellt hätten. Deshalb hätten die Brüder Porges vermutet, dass hinter diesen Forderungen andere Motive steckten. Dies sei der Grund für die Anzeige gewesen, die zur Verhaftung einiger Arbeiter geführt hatte.  Ferdinand Schirnding, Das Judenthum in Oesterreich und die böhmischen Unruhen, Leipzig , S. ; Der Orient (Heft , .., S. -) druckte den in der Königsberger Allgemeinen Zeitung veröffentlichen Bericht eines Prager Korrespondenten ab, in dem dieser zwar die Ausschreitungen verurteilte, aber auch das Verhalten der jüdischen Fabrikbesitzer kritisierte. Er war der Meinung, dass gerade diese als Israeliten, die bei den unteren Schichten der Bevölkerung wenig beliebt seien, sich zu bemühen hätten, die Lage der Arbeiter zu verbessern. Die sehr detaillierte zeitgenössische Darstellung von Schirnding sah die Sache mit deutlich antijüdischer Tendenz ähnlich. Schirnding bestritt ausdrück-

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Schirnding betont, dass es sich um einen geregelten Arbeiteraufstand gehandelt habe, der überall »ohne Exzesse« und »unnötige Demolirungen« und »ohne Tätlichkeiten gegen die Person der Eigenthümer« abgelaufen sei.61 Das mobilisierte Militär sei zunächst meist zu spät eingetroffen, um die Zerstörung der Maschinen zu verhindern. Am folgenden Tag versammelten sich die Arbeiter, um ihre Klage dem Erzherzog Stephan, der als Landeschef von Böhmen im Schloss Baumgarten residierte, zu unterbreiten, was dafür spricht, dass ein ökonomisches Anliegen und nicht Judenfeindschaft das primäre Motiv bildete. Der Erzherzog zog sich aber in die Stadt zurück und ließ den Volkshaufen umzingeln. Den Arbeitern wurde mitgeteilt, sie sollten ihre Klagen durch eine Deputation vortragen, woraufhin sich die Menge friedlich auflöste.62 Am nächsten Tage wurde in Prag eine Proklamation angeschlagen, die den Urhebern der Unruhen mit Strafe drohte, ebenso allen, die sich nicht wieder an ihre Arbeit begeben würden. Diese Drohung verfehlte jedoch ihre Wirkung, da sich kein Arbeiter in die vom Militär besetzten Fabriken begab. Man versammelte sich vielmehr am . Juni und marschierte trotz eines großen Militäraufgebots in die Stadt, um sich vor dem Gefängnis, wo Kollegen inhaftiert worden waren, zu versammeln. Das Militär konnte die Zusammenrottung aber schnell auflösen. Erst am Nachmittag dieses . Juni begannen die Übergriffe auf jüdische Läden und die Belästigung von Juden vor allem, wie Schirnding schreibt, von einer Masse von »Gassenjungen, Lehrburschen und Leuten aus der untersten Klasse«.63 Es scheint also so, dass hier nicht die organisierte Arbeiterschaft ihren Protest gegen ein neues Ziel richtete, sondern dass es sich bei diesen Angriffen auf jüdische Läden um »Trittbrettfahrer« aus einer anderen, leicht mobilisierbaren Bevölkerungsschicht handelte, während die Fabrikarbeiter ihre Interessen mit ihrer Petition ohne Gewalt zu vertreten suchten.64 Trotz weiterer Proklamationen mit noch schärferen Strafandrohungen und Militärpräsenz in der Stadt wiederholten

   

lich, dass es sich um »slavische, czechische« oder »kommunistische Tendenzen« gehandelt habe, sondern behauptete, dass sie allein durch den Widerstand der Arbeiter gegen das Judentum und dem Druck, den dasselbe auf die arbeitende Klasse ausübte, motiviert gewesen seien (Das Judenthum in Oesterreich, S. ). Schirnding sah im Ausbruch der Unruhen in der Fabrik der Brüder Porges keinen Zufall, sondern diese hätten ihre Arbeiter besonders stark gedrückt, Drucker entlassen und die Löhne gesenkt (ebd., S.  – siehe die genaue gegenteilige Darstellung in FN ). Als rühmliche Ausnahme erwähnt er einen Fabrikanten (Przybram), dessen Arbeiter sich den von Fabrik zu Fabrik ziehenden Tumultuanten widersetzten. Schirnding, Das Judenthum in Oesterreich, S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Dies sah auch die AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) so, die ihren Lesern riet, nicht zu glauben, dass die Prager Arbeiterunruhen zunächst gegen die Juden gerichtet gewesen seien. Das Übel liege tiefer und man habe die allgemeinere Stoßrichtung nur unter der »Maske des alten Religionshasses« verborgen. Die Gewalt richte sich gegen jüdische Fabrikanten, weil sie in Prag viele Fabriken besäßen, und weil es Pöbelexzesse seien, würde der Pöbel seine Wut auch gegen Juden richten, die keine Fabrikanten seien, da bei Gewalt gegen Juden geringere Bestrafung unterstellt werde.

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sich diese Übergriffe, die sich vor allem gegen die Juden, aber auch gegen das Militär richteten, noch bis zum . Juni. An diesem Tag versammelten sich die Drucker erneut, um den Bescheid auf die eingereichte Klageschrift abzuwarten. Sie wurden dabei jedoch festgenommen und abgeführt, was Proteste in der Bevölkerung auslöste. In der Stadt sollte über die Bestrafung der Gefangenen entschieden werden. Nach Schirnding überzeugten jedoch die vorgebrachten Beschwerden der Drucker über die unerträglichen Arbeitsbedingungen und die zu niedrige Bezahlung die Behörden, die sie letztlich straffrei ausgehen ließen. Am . Juni nahmen die Arbeiter ihre Tätigkeit wieder auf. Ob diese Unruhen sich allein gegen Juden oder ob sie sich nur unter anderem gegen jüdische Fabrikanten richteten, darüber gingen die Meinungen in der Presse auseinander. Richteten sich die Angriffe also zunächst gegen Maschinen und »die Reichen«, so war mit der Religionszugehörigkeit der Besitzer offenbar ein Nexus gegeben, den Unmut nun gegen alle Juden zu richten.65 Zu den unzufriedenen Fabrikarbeitern hatte sich laut Orient »ein Troß der niedersten Volkshefe« gesellt und dieser hätte dann, aufgestachelt durch »geschäftige Hetzer«, vorbeigehende Juden verbal und physisch attackiert. Auch nach Stölzl war »der Widerhall des Maschinensturms in der Präger Bevölkerung gewaltig; die Sympathien der Unterschichten waren auf Seiten der Drucker«.66 Zu ihnen gesellte sich schnell das Prager Kleinbürgertum mit seinem ausgeprägten Judenhass, der sie wenig später zu einer gegen die jüdische Konkurrenz gerichteten Petition veranlasste (s. u.). Der Orient beschuldigte deshalb die Bürger, die Wut mit Verwünschungen und Schmähungen gegen Juden angestachelt zu haben. Während man der »Volksmasse« mangelnde Bildung und Gesittung vorwarf und sie als letztlich »willenlosen Volkshaufen« hinstellte, wofür man den Staat verantwortlich machte, beschuldigte die Zeitung »Gebildete und Gelehrte«, die in »der Judenhass-Tragödie Hauptrollen« übernommen hätten und die anders als der von Hunger, Not, Raublust und Habsucht getriebene Volkshaufe für ihre Handlungen verantwortlich seien.67 Ihnen wurden als Motive für ihre Handlungen Neid, Eifersucht, Missgunst und raffinierter Judenhass vorgeworfen. Man sah als letzte Ursache dafür die bisher ausgebliebene Emanzipation der Juden und Christen. Es blieb jedoch bei vereinzelten Drohungen, Übergriffen und Steinwürfen. Die Zeitung schätzte aber die Lage rückblickend so ein, dass man  Der Orient, Heft , .., S.  ff. In Deutschland sahen Beobachter die Prager Unruhen als »Seitenstück zu den schlesischen [Weber- W. B.] Aufständen«, wobei man den judenfeindlichen Ausschreitungen, wie sie ähnlich auch in anderen Gegenden Deutschlands aufgetreten waren, keine religiöse oder antisemitische Tendenz zuschrieb (vgl., Wolfgramm, Der böhmische Vormärz, S.  – er zitiert Theodor Oelckers, Politisches Rundgemälde oder kleine Chronik des Jahres  – Für Leser aus allen Ständen, welche auf die Ereignisse der Zeit achten, Leipzig ). In einem zeitgenössischen sächsischen Gendarmeriebericht heißt es dazu: »Der Krieg gegen die Juden scheint eine Nebensache zu sein, obwohl man solche benutzt, die ausgebrochenen Spuren der Unzufriedenheit dadurch zu rechtfertigen« (zit. bei Wolfgramm, ebd., S. ).  Stölzl, Geschichte der böhmischen Juden, S.  f.  Der Orient, Heft , .., S. .

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»am Vorabend einer Judenverfolgung« gestanden habe. Die Behörden schritten jedoch rechtzeitig ein, so dass eine Eskalation der Feindseligkeiten verhindert werden konnte.68 Der Orient betonte die Enttäuschung auf Seiten der Juden Prags und riet den »reichen Juden«, die Stadt zu verlassen, da es dem Staat nicht gleichgültig sein dürfte, »wenn Millionen und die mächtigsten Hebel der Industrie ihm den Rücken kehren«.69 Immer wieder findet sich in den Pogromberichten der Topos von den gebildeten Agitatoren und Drahtziehern, während den Unterschichten, die gewöhnlich das Gros der Täter stellen, kein eigener Wille zugestanden wird, sie vielmehr nur zu Ausführenden fremder Interessen gemacht werden. Zwar ist es sicher richtig, dass die Verbreitung antisemitischer Schriften durch den höher Gebildeten geschieht, doch führt kein direkter Weg von dieser Propaganda zur kollektiven Gewalt, bei der die scheinbar willenlosen Unterschichtsangehörigen durchaus eigene Interessen verfolgen, z. B. zu plündern und eine Minderheit in ihre Schranken zu weisen. Der Verweis auf Anstiftung oder sogar auf eine angebotene Belohnung wurde von verhafteten Tumultuanten immer wieder vorgebracht, da er ein probates Mittel war, den eigenen Tatwillen herunterzuspielen und sich eine mildere Bestrafung zu sichern (siehe FN ). Prag kam aber auch nach dem Ende der Fabrikunruhen nicht zur Ruhe.70 Wir haben hier den Fall, dass sozial motivierte Streikunruhen sich eng mit einer Judenfeindschaft verbanden, die auf die Rücknahme der durch die Emanzipation erreichten Statusgewinne der Juden zielte. Die Arbeiterunruhen sorgten für die Mobilisierung größerer Menschenmengen, die neben Fabriken, die oft jüdische Besitzer hatten, in den Juden leicht ein neues Ziel fanden. So sammelte sich Anfang August eine Menschenmenge am Eingang der Judenstadt, wo sich vor allem wohlhabende Juden angesiedelt hatten, und warf ihnen die Fensterscheiben ein, woraufhin die Polizei Verhaftungen vornahm.71 Am . Juli gab es in der Umgebung von Prag (Prager Vorstadt Karolinental) weitere Tumulte, als sich - Eisenbahnarbeiter  Ebd., S. . Die Zeitung hatte schon im Heft  vom .., S. , den gebildeten Tschechen vorgeworfen, ihnen sei angesichts der Auflehnung der Fabrikarbeiter gegen ihre Fabrikherren nichts Besseres eingefallen, als die Juden kollektiv des Betruges zu beschuldigen und ihren »rohen Judenhass unverhohlen an den Tag zu legen«. Die Prager Bürger hätten ihren »Separationsgeist« schon bewiesen, als sie die Juden vom Fackelzug zu Ehren des Erzherzogs Stephan ausgeschlossen hätten.  Der Orient, Heft , .., S. .  Der Orient (Heft , .., S. ) schrieb, dass die Gärung noch nicht ganz vorüber sei und »das Meer der Volksaufregung […] noch keineswegs seine Spiegelglätte wiedererlangt« habe.  Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts, Heft , .., S. . Der Orient (Heft , .., S. ) schrieb dazu, dass einige Tumultuanten, die den Laden eines jüdischen Inhabers in der Christenstadt attackiert hatten, im Verhör ausgesagt hätten, dass ihnen christliche Kaufleute Geld dafür bezahlt hätten. »Einige Juden wohnen außerhalb der Judenstadt; diese müssen für ihre Kühnheit büßen: man bestürmt ihre Wohnungen !«

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versammelten und mit Stöcken und Stangen bewaffnet Richtung Prag zogen, wo es am Stadttor zu Tätlichkeiten gegen das dort zusammengezogene Militär kam. Die Soldaten machten von der Schusswaffe Gebrauch, und es gab sieben Tote unter den Tumultuanten. Obwohl Juden nach Schirnding in diesem Fall nichts mit der Lage der Eisenbahnarbeiter zu tun hatten, waren diese Unruhen Anlass zur einer »förmlichen Judenhetze«, bei der nicht nur »gemeine Schacherjuden« attackiert wurden, sondern alle, »welche Gesicht und Sprache oder die öffentliche Meinung als Juden bezeichnete«. Auf dem Tandelmarkt in Prag wurden die jüdischen Händler angegriffen, ihre Waren verstreut, ihre Buden zertrümmert und die Fenster in den Judenquartieren eingeworfen, was dafür spricht, dass hier weniger Fabrikarbeiter als Angehörige des Gewerbestandes (meist Lehrjungen und Gesellen) am Werk waren (vgl. die Unruhen in Prag in den späteren Jahren). Erst das Militär konnte die Tumultuanten zerstreuen.72 Weitere Arbeitererhebungen gab es im nordböhmischen Textilgebiet, so in Reichenberg am . Juli, in Böhmisch-Leipa und Reichstadt am . Juli, aber auch in den deutschsprachigen Kreisen Jungbunzlau, Königgrätz und Bidžov.73 Als Ursache für die Unruhen wurde in der Agramer (politischen) Zeitung angeführt, die Arbeiter seien der irrigen Auffassung gewesen, man wolle ihnen einen Teil ihres Tageslohnes vorenthalten, so dass die Zeitung etwas »Politisches« als Ursache ausschloss. Da diese Unruhen sich aber wie auch im nordböhmischen Reichenberg (Liberece) gegen jüdische Fabrikanten richteten, sah die Zeitung keinen Zweifel, »dass überhaupt der blinde Hass gegen die Juden einen erregenden Einfluss auf die Eisenbahnarbeiter geübt habe«.74 Zur selben Zeit zirkulierte in der Stadt eine an den König gerichtete Beschwerde des Handels- und Gewerbestandes, in der harte Anschuldigungen gegen die Juden und die Behörden vorgebracht wurden. Es wurde zudem gefordert, den Juden wieder die alten Beschränkungen aufzuerlegen, Konzessionen zu widerrufen und die Juden ausschließende Bestimmungen strenger anzuwenden.75 Hier wurde der im Grunde sozial motivierte Protest der Arbeiterschaft von gewerblichen Konkurrenten der Juden geschickt genutzt, um Errungenschaften der Emanzipation wieder rückgängig zu machen. Die Fabrikunruhen in Prag fanden einige Wochen später, am . Juli , ihre Nachfolge in Reichenberg, wo Fabrikarbeiter und »arbeitslose und arbeitsscheue Menschen« vier Fabriken jüdischer Besitzer angriffen und Maschinen und Webstühle zerstörten. Weitere Übergriffe konnten durch den entschlossenen Einsatz der Reichenberger Schützencorps und auch anderer Reichenberger Bürger verhindert werden. Nachdem Militär eingetroffen war, begannen die Behörden eine Untersuchung des Falles und leiteten Strafmaßnahmen gegen Beteiligte ein.76     

Schirnding, Das Judenthum in Oesterreich, S. -. Wolfgramm, Der böhmische Vormärz, S. . Agramer (politische) Zeitung vom . Juli . Ebd. Wiener Zeitung vom . Juli .

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In der Presse gab es unterschiedliche Meinungen darüber, ob der »Judenhass zum czechischen oder deutschen Elemente unserer Stadt gehört«.77 Der Orient warf den »gebildeten und gelehrten Czechen« vor, die Juden kollektiv des Betrugs zu beschuldigen und ihren Judenhass unverhohlen zu äußern. Die Zeitung verwies auf den katholischen Fanatismus und sprach von »czechisch-katholisch-fanatischen Szenen« in Prag.78 Sie brachte dies mit den »Geburtswehen der czechischen Nationalität« in Zusammenhang. Die AZJ wiederum schrieb, dass alle deutschen Zeitungen irrigerweise behaupteten »ganz Böhmen (sei) vom Judenhass entzündet«79 und einen Ausbruch »slawischen Judenhasses« sehen wollten. Ein Artikel der Königsberger Allgemeinen Zeitung wiederum fragte sich auch in Bezug auf Unruhen in anderen Gebieten (Schlesien, Geseke in Westfalen), warum »gerade jetzt dieser seditiöse Geist unter der deutschen Bevölkerung verschiedener Gebiete hervorbricht«.80 Nach Stölzl resultierte aus den Unruhen eine judenfeindliche Bewegung im Prager Kleinbürgertum, die bis  anhielt.  gab es eine Aktion von . Prager Handwerksmeistern, die bei den Prager Behörden radikale Forderungen zur Einschränkung des jüdischen Handels vorbrachten, ansonsten würde Prag zu einer Judenstadt werden, in der die Christen den Juden Sklavendienste leisten müssten. Dies wurde mit der Gewaltandrohung verbunden, »die Juden würden vielleicht in einigen Jahren gezwungen sein, bei Nacht und Nebel aus der Christenheit zu flüchten«.81 Die Prager jüdische Oberschicht und die Presse in Deutschland interpretierten die Geschehnisse in Prag in nationaler Perspektive und sahen darin den Ausbruch eines »slawischen Judenhasses«, obwohl nationale Motive in dieser Zeit noch keine große Bedeutung besaßen.82 Nach Stölzl spielte für diese simplifizierende Interpretation die Tatsache eine Rolle, dass im Vormärz sozialkritisches Gedankengut des frühen Sozialismus mit Antisemitismus versetzt nach Böhmen gelangte – etwa durch die in Leipzig erscheinenden Broschüren des Grafen Ferdinand Schirnding –, wodurch die sozialrevolutionäre Kritik an Industrie und Handel eine antijüdische Schlagseite erhielt. Diese Interpretationslinie wurde auch in Kreisen des Prager Bürgertums, des Kleinbürgertums und der Intelligenz vertreten.83 So waren die Jahre vor der er Revolution durch einen »praktisch-ökonomischen Antisemitismus« geprägt, befeuert durch judenfeindliche Stellungnahmen von Organisatoren der nationalen tschechischen Bewegung wie František Brauner und Václav Štulc, die die Bedeutung der Einheit der Religion für die Nation sowie die des Bauernstandes hervorhoben.84     

Der Orient, Heft , .., S. . Der Orient, Heft , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Abgedruckt in: Der Orient, Heft , .., S. . Stölzl, Geschichte der böhmischen Juden, S. . »Die Petition enthielt eine komplette historische (!) Darstellung der negativen Rolle der Juden in Böhmen«.  Ebd., S.  f.  Ebd., S. .  Das Prager jüdische Großbürgertum verstand diese kritischen Hinweise und gründete einen »Verein zur Beförderung des Ackerbaus und der Handwerke unter den Israeliten Prags« (ebd., S. ).

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. Antijüdische Ausschreitungen im Kontext der er Revolution (-) Die Jahre zwischen  und  waren schwere Krisenjahre des Übergangs vieler europäischer Gesellschaften von korporativ-feudalen zu bürgerlich-kapitalistischen Strukturen. Man hat von einer »Modernisierungskrise« gesprochen, in der sich eine ganze Reihe von Krisenelementen überlagerten und gegenseitig verstärkten. Diese wurde auslöst durch die »Kommerzialisierung und Kapitalisierung der Landwirtschaft, den Übergang von der Heimindustrie und Manufaktur zur industriellen Produktion, den Ausbau der Verkehrsnetze, die Erschließung neuer Märkte und die ständig wachsende Bedeutung des Kapitals.«1 Verschärft wurde die Situation zusätzlich durch die durch Missernten der Jahre / ausgelösten Teuerungsund Hungerkrisen, so dass sich aus sozialer und wirtschaftlicher Not geborene revolutionäre Volksbewegungen bildeten. Ausgelöst durch die Februarrevolution in Paris erfasste die Revolution von  einen großen Teil der europäischen Staaten. Von Frankreich aus breitete sie sich über die Staaten des Deutschen Bundes und der Habsburgermonarchie bis in deren südosteuropäische Territorien und die osmanischen Fürstentümer Moldau und Walachei aus, ebenso nach Italien und Dänemark. Ziel dieser Revolutionsbewegung war »die Reform der politischen und auch der gesellschaftlichen Herrschaftsverfassungen« hin zu Parlamentarisierung und Demokratisierung.2 Auch wenn diese Revolutionen in den einzelnen Ländern unterschiedlich verliefen, so zeigen sie nach Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche doch ein »gemeinsames Grundmuster«: »Denn  standen alle europäischen Gesellschaften vor der Herausforderung, die politische Ordnung zu demokratisieren und die soziale Frage zu lösen«.3 Entsprechend ging es etwa für die Bauern primär um »Entfeudalisierung«, d. h. um die Ablösung herrschaftlicher Sonderechte und bäuerlicher Lasten, für die Handwerkerarbeiter ging es sozialpolitisch um das Recht auf Arbeit, für das Bürgertum vorrangig um die Liberalisierung der Verfassungen und um politische Mitwirkungsrechte. Die er Revolution war aber auch eine »Nationalrevolution«, d. h., abgesehen von Frankreich gehörte zu den Zielen der Revolutionäre auch die Begründung eigener Nationalstaaten bzw. zumindest das Erreichen des Status autonomer Nationalitäten.4  Reinhard Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen. Die Revolution von  und die europäischen Juden, in: Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hrsg.), Europa . Revolution und Reform, Bonn , S. -, hier S.  f.  Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche, Die Revolution in Europa . Reform der Herrschafts- und Gesellschaftsordnung – Nationalrevolution – Wirkungen, in: Dowe/ Haupt/Langewiesche (Hrsg.), Europa , S. -, hier S. . Schon zuvor war es  in Krakau und Galizien, zu Beginn des Jahres  in Italien sowie im Sonderbundkrieg  in der Schweiz zu Revolutionen gekommen, die aber keine europäische Kettenreaktion ausgelöst hatten (ebd., S. )  Ebd., S. .  Ebd., S.  f.

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ANTIJÜDISCHE AUSSCHREITUNGEN IM KONTEXT DER

1848ER REVOLUTION

Auch die Juden in Europa hatten spezifische Erwartungen an die Revolution von , auch wenn ihre Situation am Vorabend der Revolution sehr uneinheitlich war. Man kann nach Reinhard Rürup zwar für die Zeit seit der Französischen Revolution von »einem europäischen Zeitalter der Judenemanzipation sprechen«, doch war die Emanzipation in den einzelnen europäischen Staaten unterschiedlich weit fortgeschritten und auch in den jüdischen Lebensverhältnissen fanden sich in den er Jahren noch traditionelle Milieus neben weitgehend akkulturierten.5 Dennoch gab es seiner Auffassung nach eine Emanzipationsdiskussion über alle staatlichen Grenzen hinweg, und es war eine allgemeine, nicht nur unter Juden verbreitete Überzeugung, dass das Schicksal der Juden »an die Entwicklung der liberalen und demokratischen Bewegung gekoppelt war«.6 Entsprechend haben sich vor allem die »verbürgerlichte jüdische Jugend und die jüngeren Intelligenzler« aktiv an der Revolution beteiligt, in Deutschland taten dies einige wie Gabriel Riesser als Vizepräsident der Frankfurter Nationalversammlung und Johann Jacoby als Mitglied im Vorparlament und Fünfzigerausschuss sogar an führender Stelle.7 Für die europäischen Juden nahm die Revolution von  ebenso wie ihre Vorläufer von  und  einen widersprüchlichen Verlauf. Einerseits beförderten sie den Prozess der rechtlichen Gleichstellung und boten den Juden politische Partizipationschancen, andererseits waren die revolutionären Erschütterungen häufig mit antijüdischen Ausschreitungen verbunden (siehe oben Kap. . und .), so auch in diesem Fall. Die christlich-jüdischen Beziehungen waren durch eine gewisse Zwiespältigkeit geprägt, denn einerseits gab es starke liberale Strömungen, die auf eine vollständige Gleichberechtigung der Juden drangen, so dass man auf jüdischer Seite große Hoffnungen in die Märzrevolution setzte, und es gab andererseits eine antijüdische Wendung, die sich in Flugschriften, Gerüchten und Gewaltaktionen manifestierte.8 Für Michael Riff wurde es ab  bald offenbar, dass die Judenemanzipation weder in den Parlamenten noch in der Bevölkerung populär  Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S.  f.  Ebd., S. .  Jacob Toury, Die Revolution von  als innerjüdischer Wendepunkt, in: Hans Liebechütz/ Arnold Paucker (Hrsg.), Das Judentum in der deutschen Umwelt -. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation, Tübingen , S. -, hier S. ; dazu auch: Erik Lindner, Die Revolution von / als innerjüdische Wende, in: ders., Patriotismus deutscher Juden von der napoleonischen Herrschaft bis zum Kaiserreich, Frankfurt a. M. , S. -; auch nach Rürup (Der Fortschritt und seine Grenzen, S.  ff.) geschah  etwas grundlegend Neues, was die Stellung der Juden in den europäischen Staaten entscheidend veränderte. Erstmals und in großer Zahl traten Juden nun selbst als politisch Handelnde auf, dabei häufig sogar als Führer der allgemeinen politischen Bewegung, und beteiligten sich an den Straßenkämpfen und teils auch in den Nationalgarden. Zur Beteiligung in den einzelnen europäischen Ländern siehe: ebd., S. -.  Der Märzsturm des Jahres  kündigte positive Veränderungen der Rechtsstellung für die Juden an. Die Proklamation des bayrischen Königs vom . März stellte u. a. die Vorlage eines Gesetzentwurfs zur »Verbesserung der bürgerlichen Verhältnisse der Israeliten« in Aussicht, was unter den bayrischen Juden Freude und Hoffnung auslöste. Diese erhielt allerdings »einen Dämpfer durch die antisemitischen Ausschreitungen, mit welchen gegen

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war, insbesondere nicht in den ländlichen Gebieten, in denen die Mehrheit der Juden zu dieser Zeit lebte und ihren Lebensunterhalt als Hausierer, Vieh- und Kornhändler und Geldleiher verdiente.9 Dennoch war es nach Rürup nicht nur für die Juden, sondern auch für die liberale Öffentlichkeit in Europa ein Schock, als es vor allem in der Anfangsphase der Revolution von  in einer Reihe europäischer Staaten zu Ausschreitungen gegen Juden kam, häufig dort, wo es schon während der Hep-Hep-Unruhen und in den frühen er Jahren solche Vorfälle gegeben hatte. Jacob Toury hebt vor allem für die Juden in Deutschland hervor, dass selbst die antijüdischen Ausschreitungen an etwa achtzig Orten im Lande »zu keiner gemeinsamen jüdischen Stellungnahme« geführt hätten, sie wurden wegerklärt als Exzess der Freiheit, jener »ungezogenen Tochter, die um sich schlägt,«10 oder als »vorübergehende Pöbelstürme«11 gedeutet.12 Entsprechend hätten die deutschen Juden als Gruppe auch keine Gegenreaktion, etwa in Form einer Selbstwehr, gezeigt.13 Auch Reinhard Rürup betont, dass die liberalen und demokratischen Repräsentanten der Juden dazu geneigt hätten, die »Bedeutung der Ausschreitungen herunterzuspielen«. Man sah den Ausbruch der Leidenschaften auf die Phase der Märzumwälzung begrenzt, der endete, sobald die Revolution in die Phase der Auf bauarbeit einmündete, wie Simon Dubnow annahm.14 Kurzfristig schien diese Sicht der jüdischen Beobachter auch berechtigt, denn in den Debatten der Parlamente gab es / über die Frage der Gleichstellung der Juden keine Diskussionen mehr, die Sache schien entschieden, doch war nach Rürup der Ertrag der Revolutionszeit hinsichtlich der erreichten gesetzlichen Gleichstellung geringer als erwartet, denn die im Zuge der Revolution erreichten Fortschritte sollten sich als wenig dauerhaft und als auf Teilbereiche beschränkt erweisen.15 Denn es sollte sich

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Mitte März das Fest der jungen Volksfreiheit in Städten und Dörfern von Oberfranken gefeiert wurde« (Eckstein, Der Kampf der Juden, S.  f.). Riff, Revolutionary Unrest of , S. . Der Orient, Nr. , .., S. . So Leopold Zunz, der bereits Mitte März  meinte: »Die Pöbelstürme gegen Juden in einzelnen Gegenden werden spurlos wie anderer Unfug vorübergehen, und die Freiheit wird bleiben.«. Zit. in: Nahum N. Glatzer, Leopold Zunz and the Revolution of , in: Year Book of the Leo Baeck Institute, Bd. , , S. -, hier S. . Toury, Die Revolution von , S. . In einem Artikel »Aus dem Großherzogthum Posen«, in dem über blutige Ausschreitungen gegen Deutsche und Juden von Seiten der Polen berichtet wird, wird betont, dass »Deutschlands Juden […] in unserem Großherzogthum mit ihrem Blute ihre Anhänglichkeit für ihr jetziges Vaterland besiegelt« haben, obwohl sie »bisher kaum Ursache haben, sich Kinder des Vaterlandes nennen zu dürfen«. (Der treue Zionswächter, . Jg., Heft , .., S. ). Toury, Die Revolution von , S. . Nach Toury hatten sich Juden an  von den  Orten in Europa, an denen sie angegriffen wurden, zur Wehr gesetzt. In Deutschland sei dies möglicherweise an einem Ort in Posen und in einer oberschlesischen Stadt versucht worden. Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. . Zu einem kurzen Abriss über das uneinheitliche und widersprüchliche Bild der Entwicklung der rechtlichen Stellung in den einzelnen europäischen Staaten siehe Rürup,

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bald zeigen, dass viele Regierungen diese antijüdischen Ausbrüche des »Volkszorns« nur zu gern nutzten, um weitere Fortschritte der Judenemanzipation hinauszuzögern. In der Tat bestand ein Konnex zwischen raschen rechtlichen Verbesserungen für die Juden und dem gewalthaften »Widerstand« dagegen. Dies wurde auch von jüdischer Seite so gesehen.16 Die er Revolution war einerseits eine »institutionalisierte Revolution«, sie besaß aber auch einen ebenso wirkungsmächtigen aktionistischen und oft gewalthaften Anteil als »Politik der Straße«, in der der öffentliche Raum kollektiv in Besitz genommen wurde, um Beschwerden vorzubringen, Forderungen zu stellen, Druck auf die Regierenden auszuüben oder sich der eigenen Gruppenidentität zu vergewissern. Die revolutionäre Bewegung drückte sich in der Anfangsphase durch eine Vielzahl von spontanen Festen und Aufläufen aus, wobei sich darin häufig Elemente der traditionellen Volkskultur fanden. So rotteten sich junge Männer im Dunkeln zusammen, tranken Alkohol, veranstalten einen Zug durch die Stadt, »um missliebigen Personen eine Katzenmusik zu bringen«.17 Nach Charlotte Tacke standen sich hier eine bürgerliche und eine unterbürgerliche Kultur gegenüber, und die »Lärmenden wurden sozial und politisch ausgegrenzt«, indem man sie als »liederliches Gesindel«, »niedere Classe« oder »gemeiner Pöbel« abwertete.18 Auf diese Straßenpolitik ›von unten‹ antworteten die Obrigkeiten ihrerseits mit einer machtgestützten Straßenpolitik ›von oben‹, um ihre Interessen im öffentlichen Raum durchzusetzen.19 Da es keine legalen Möglichkeiten für eine politische Straßenöffentlichkeit gab, blieb den Untertanen »häufig nur der risikoreiche Weg der unmittelbaren Selbsthilfe, der direkten Aktion des ›Tumults‹«, auf den die Obrigkeiten ihrerseits mit unverhältnismäßigen militärischen Mitteln reagierten.20 Im Zuge der vieldiskutierten Volksbewaffnungsfrage bildeten sich / in Form der Bürgerwehren oder Nationalgarden »milizartige Formationen als Gegenspieler oder auch Komplizen des Militärs«, die bei den revolutionären Unruhen und auch bei

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  

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Der Fortschritt und seine Grenzen, S. -. Siehe auch: ders., Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. . Rürup zitiert einen Artikel aus der Deutsch-Österreichischen Zeitung vom .., in dem jüdische Autoren bereits im März  die Befürchtung geäußert hatten, dass eine rasche Emanzipation zu »dem Spektakel bereits erlebter Judenhetze« führen werde (Der Fortschritt und seine Grenzen, S. ). Charlotte Tacke, Feste der Revolution in Deutschland und Italien, in: Dowe/Haupt/Langewiesche (Hrsg.), Europa , S. -, hier S. . Ebd., S.  f. Manfred Gailus, Die Revolution von  als »Politik der Straße«, in: Dowe/Haupt/ Langewiesche (Hrsg.), Europa , S. -, hier S.  f.; siehe zur Straßenpolitik auch: Bernd Jürgen Warneken (Hrsg.), Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt a. M. ; Thomas Lindenberger, Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin  bis , Bonn . Gailus, Die Revolution von  als »Politik der Straße«, S. .

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antijüdischen Ausschreitungen eine zentrale Rolle spielten.21 Über Frage, ob Juden Mitglieder in diesen Bürgerwehren werden konnten oder ob sie eigene Formationen bilden sollten, wurde an vielen Orten heftig gestritten. Manfred Gailus spricht von einer »kaum überschaubaren Allgegenwärtigkeit von öffentlichen gewalthaften Konfrontationen um «, die man in den Kategorien von »Sozialprotest« oder »Straßenpolitik« begrifflich gefasst hat.22 So waren zu keinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte des . Jahrhunderts die Ausbrüche kollektiver Gewalt in Deutschland so weit verbreitet wie während der Jahre von  bis ,23 Gailus hat in seiner Proteststatistik für die Staaten des Deutschen Bundes »etwa anderthalbtausend Aktionen der Straßenpolitik« ermittelt, die ein sich vielfach überschneidendes Gewirr von Konfliktlinien und kollektiven Solidaritäten zeigen.24 Während die großen Städte Schauplatz politischer Massengewalt waren, in der sich große Volksmassen und Militär in bürgerkriegsähnlichen Konfrontationen gegenüberstanden, waren für die ländliche Gebiete andere Formen kollektiver Gewalt typisch, etwa tumultartige Übergriffe gegen adlige Gutsherren, Amtspersonen oder Juden, Plünderungen und Zerstörung von Eigentum, Formen von Selbstjustiz gegen (vermeintliche) Straftäter usw. Zahlenmäßig überwogen die städtischen Unruhen bei weitem, obwohl nur ein Viertel der damaligen Bevölkerung in den Städten lebte. In dieser von einer Vielzahl von Aktionen, Rebellionen und Tumulten begleiteten Desintegrationsphase bildeten sich einerseits neue Solidaritäten und es gab Gefühle einer neuen Brüderlichkeit und Zusammengehörigkeit, andererseits wurden aber die Abgrenzungen gegen andere Gruppen schärfer markiert, es entwickelten sich Feindbilder und Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen verschlechterten sich.25 Die antijüdischen Ausschreitungen, deren Zahl geringer  Ralf Pröve, Bürgerwehren in den europäischen Revolutionen , in: Dowe/Haupt/Langewiesche (Hrsg.), Europa , S. -, hier S. . Vgl. dort auch die Diskussion der ganz unterschiedlichen Auffassungen darüber, welche Funktion man den Nationalgarden zugedacht hatte: sollten sie im Sinne der konservativen Obrigkeiten für »Ruhe und Ordnung« sorgen und das Militär unterstützen, zumal sich in den Krisenjahren des Vormärz eine »Sicherheitslücke« aufgetan hatte, oder sollten sie im Sinne der revolutionären Bewegungen die Verfassung und die Reformen schützen? Umstritten war auch, wer als Mitglied in den Bürgerwehren zugelassen werden sollte, die trotz gewisser sozialer Öffnung eine Einrichtung des Besitzbürgertums blieben (ebd., S. -).  Manfred Gailus, »Hautnahe Herrschaft« in Auflösung. Über ländliche Gewaltexzesse im östlichen Preußen um , in: Magnus Eriksson/Barbara Krug-Richter (Hrsg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (.-. Jahrhundert), Köln, Wien , S. -.  Manfred Gailus, Anti-Jewish Emotion in the  Crisis of German Society, in: Hoffmann/Bergmann/Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence, S. -, hier S. ; vgl. als allgemeiner Überblick: Gailus, Straße und Brot; Richard Tilly, Unruhen und Proteste in Deutschland im . Jahrhundert: Ein erster Überblick, in: ders., Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung, Göttingen , S. -.  Gailus, Die Revolution von  als »Politik der Straße«, S. .  Gailus, Anti-Jewish Emotion, S.  f.

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war als die der übrigen gewaltsam ausgetragenen Konflikte, waren also eingebettet in eine Welle gewalttätiger Aktionen, die sich auf dem Lande vor allem in antifeudalen Bauernunruhen und sozialen Rebellionen der unteren ländlichen Schichten äußerte, während die Konflikte in den Städten in unterschiedlichen Formen auftraten, als Subsistenzunruhen, als Aktionen politischer Kontrolle, als kommunale politische Unruhen, als Arbeiterproteste oder als politische Massenaktionen, die sich auf nationale politische Ereignisse bezogen. Antijüdische Tumulte konnten Bestandteil von Aktionen sein, die sich primär gegen andere Gruppen richteten, etwa gegen den Adel, Zollstellen oder gegen Getreidehändler, sie konnten aber durchaus gebietsweise für eine gewisse Zeit zur dominanten Aktionsform werden. Mit antijüdischen Unruhen an ungefähr  Orten in Mittel- und Osteuropa war es die größte antijüdische Gewaltwelle der gesamten Emanzipationszeit, in der es zur Zerstörung und Plünderung jüdischer Häuser und Läden sowie zu Misshandlungen von Juden kam, die in Einzelfällen auch tödlich endeten.26 Die Unruhen reichten vom französischen Elsass über Süd- und Mitteldeutschland und das östliche Preußen bis in die habsburgischen Gebiete Böhmen, Mähren und Ungarn. Es gab aber auch in Rom antijüdische Unruhen im Ghetto, bei denen Häuser demoliert wurden.27 Die Schwerpunkte lagen im Elsass mit sechzig Orten und in den nicht habsburgischen Teilen des Deutschen Bundes mit achtzig bis hundert Orten,28 wobei diese hier vor allem in Süd- und Südwestdeutschland, insbesondere im Großherzogtum Baden, wo allein  antijüdische Ausschreitungen dokumentiert sind, nicht selten mit einer antifeudalen Zielrichtung verbunden waren. Neben Baden waren vor allem das angrenzende Großherzogtum Hessen und einige Teile Frankens betroffen, auch Orte in Württemberg und Rheinhessen, während in Preußen, abgesehen von Schlesien, wo es etwa in Glatz (Neisse), Hirschberg (am . März) und insbesondere in Oberschlesien in Gleiwitz (am . Mai ), Beuthen und Ratibor zu Unruhen kam,29 in Westpreußen in Löbau/Lubawa (am .-. Juni), der Provinz Westfalen, antijüdische  Jacob Toury, Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland -. Zwischen Revolution, Reaktion und Emanzipation, Düsseldorf , S.  f.; siehe auch ders., Turmoil and Confusion in the Revolution of .  Die Ereignisse fanden Ende März  statt. Vgl. AZJ, Jg. , Heft  vom .., S. .  Siehe dazu Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. -; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  FN , zählt für die einzelnen Staaten des Deutschen Bundes (ohne Österreich)  Fälle, die sich wie folgt verteilten: »Baden , Preußen (ohne Posen) , Hessen-Darmstadt , Bayern , Kurhessen , Württemberg , Nassau , Waldeck «.  Dazu eine kurze Notiz in der AZJ, Jg. , Heft , .., S. , wonach Gleiwitzer in Reaktion auf eine von einem Juden des Ortes publizierte Zeitung, durch die sie sich beleidigt gefühlt hätten, Fenster und Möbel in den meisten von Juden bewohnten Häusern zertrümmert hätten. Nach Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  f., kam es in Gleiwitz, wo es »zu einer lokalpolitischen Fehde um die Frage der Emanzipation der Juden gekommen war«, zu schweren antijüdischen Ausschreitungen. Am Abend des . Mai, als dort Wahlen stattfanden, versammelten sich größere Menschenmassen auf dem Marktplatz, schwärmten über die ganze Stadt aus und warfen die Fensterscheiben der meisten jüdischen Häuser ein, brachen Läden auf und plünderten. Gegen  Uhr abends stellte das angeforderte Militär die Ruhe wieder her.

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Vorkommnisse selten waren.30 Eine Ausnahme bildeten die Unruhen in der Provinz Posen. Nach Gailus ereigneten sich antijüdische Übergriffe am häufigsten während der Subsistenzunruhen der Jahre /,31 die sich damals in vielen europäischen Staaten ereigneten, wobei es große regionale Unterschiede gab.32 Es ist auffällig, dass sich die Ausschreitungen gegen Juden  im Unterschied zu den übrigen Protestunruhen und Demonstrationen fast gänzlich auf die ersten Monate der Revolution beschränkten, von den ersten Februartagen im Elsass und in Südwestdeutschland bis zu den Unruhen, die im Mai nur einzelne Regionen wie Ungarn, Schlesien und nochmals das Elsass betrafen. Rürup hebt besonders hervor, dass es in allen späteren revolutionären Krisen, wie den bewaffneten Kämpfen in Italien, Österreich und Ungarn, dem Juni-Aufstand in Paris und den Aufstandsbewegungen in Deutschland im Zuge der »Reichsverfassungskampagne« von , keine weiteren judenfeindlichen Unruhen mehr gab.33 Im Unterschied zu den Hep-Hep-Unruhen, die sich in den größeren Städten konzentriert hatten, ereigneten sich die Unruhen der Jahre - vor allem auf dem Lande und in kleineren Städten. An vielen Orten waren es Lebensmittelunruhen, die sich angesichts von Preissteigerungen sowohl gegen die Behörden wie auch gegen alle Gruppen richten konnten, die an der Produktion und dem Verkauf etwa von Getreide oder Kartoffeln beteiligt waren, also gegen Gutsbesitzer, wohlhabende Bauern, Kaufleute, Müller, Bäcker usw., die beschuldigt wurden, Lebensmittel aufzukaufen und zu überteuerten Preise abzugeben.34 Diese Proteste, die noch den Vorstellungen einer »moral economy« folgten, richteten sich in vielen Fällen auch gegen jüdische Getreide- oder Kartoffelhändler, z. B. wenn diese die Kartoffelernte aufkauften, um daraus Schnaps herzustellen oder um sie zu exportieren. Gailus beschreibt solche antijüdischen Lebensmittelunruhen für eine ganze Reihe von Orten, die sich von der Provinz Posen im Osten über Landsberg a. d. Warthe (Brandenburg), Glatz (an der Neiße – Schlesien) bis nach Nordhessen und Koblenz im Westen erstreckten, wobei Judenfeindschaft ein verschärfendes Moment bedeutete, z. T. noch verknüpft mit der Annahme, die Juden würden von der bestochenen Obrigkeit geschützt.35 Wie schon im Fall der Hep-Hep-Unruhen finden sich in den Darstellungen judenfeindlicher Vorkommnisse im Zuge der er-Revolution teils Übereinstimmungen über die betroffenen Orte, teils finden sich in einigen Darstellungen aber auch Orte, die in anderen nicht aufgeführt sind, sowie Orte, die offenbar fälschlich benannt werden, da es dort zwar Spottgesänge, Drohbriefe,  Gailus, Anti-Jewish Emotion, S. , .  Ebd., S.  f. Gailus hat für Deutschland zweihundert solcher Unruhen ermittelt (Food Riots in Germany in the Late s, in: Past and Present , , S. -, hier S.  f.).  Vgl. Christina Benninghaus/Michael Hecht, Gewalt in Hungerunruhen , in: Werner Freitag/Erich Pohlmann/Matthias Puhle (Hrsg.), Politische, soziale und kulturelle Konflikte in der Geschichte von Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) , S. -.  Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. .  Gailus, Anti-Jewish Emotion, S. -.  Ebd.

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Antijüdische Ausschreitungen im Zuge der er Revolution in Europa (-)

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Aufrufe und Plakate zur Vertreibung der Juden gab, jedoch keine nennenswerten Krawalle.36 Angesichts der weiten Verbreitung einer judenfeindlichen Stimmung vor allem im Frühjahr  kann hier kein vollständiger Überblick über alle Orte gegeben werden, an denen es zu geringfügigeren Übergriffen bzw. öffentlichen Drohungen usw. kam. Die behandelten Fälle stehen also exemplarisch für die Ursachen, die auslösenden Faktoren und den Verlauf solcher Unruhen. Antijüdische Übergriffe im Zuge der Agrarunruhen von / In vielen kontinentaleuropäischen Ländern kam es / zu Bauernunruhen mit antifeudaler und antikapitalistischer Zielrichtung. Die Bauern plünderten die Schlösser des Adels, steckten Archive und Zollämter in Brand, misshandelten Amtsträger und Geldverleiher,37 was auch Juden wegen ihrer besonderen Stellung im Handel und Kreditgeschäft zum Ziel bäuerlichen Zorns werden ließ. Nach Christoph Dipper haben die Zeitgenossen diese Bauernunruhen als ein einheitliches Phänomen betrachtet und ihnen große Bedeutung beigemessen, obwohl die Unruhen den lokalen, allenfalls regionalen Raum nicht überschritten. Die Forderungen der Bauern konnten unterschiedlich ausfallen, sie verfolgten kein grundsätzliches politisches oder revolutionäres Programm.38 Diese revolutionäre Bewegung der Bauern dauerte jeweils nur wenige Tage, da sie häufig ihre Ziele erreichte, oder die Stationierung von Militär die Lage recht schnell beruhigte. Gewaltsame Zusammenstöße zwischen Bauern und Militär gab es nicht. Da die Forderungen der Bauern zumeist in Teilen erfüllt wurden, schieden sie nach dem Frühjahr  Nipperdey zufolge schnell wieder aus der Revolution aus. Auch in einigen Regionen des Deutschen Bundes kam es im Zuge der agrarischen Bewegung des Jahres  zu antijüdischen Ausschreitungen seitens der Bauern.39 Ein Faktor für diese Unruhen waren die schlechten Ernten der Jahre -, die auch in den Städten zu den Hungerunruhen des Jahres  führten. Neben dem akuten  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , FN , listet eine Reihe von Orten auf, die andere Autoren (wie Sterling und Toury) fälschlich als Schauplätze antijüdischer Unruhen genannt haben.  Christoph Dipper, Revolutionäre Bewegungen auf dem Lande: Deutschland, Frankreich, Italien, in: Dowe/Haupt/Langewiesche (Hrsg.), Europa , S. -, hier S. .  Ebd., S. . Nach Dipper konnten die Ziele wie Entfeudalisierung, Steuer- und Zollreform, Wahlrecht und Abwehr der Eingriffe des modernen Staates regional unterschiedlich ausfallen, so sahen sich doch große Teile der europäischen Grundbesitzerschicht einem als einheitlich empfundenen Angriff der bäuerlichen Schichten gegenüber (ebd., S. ). Ein solches Programm hat der bayrische Agrarwissenschaftler Fraas im Juli  publiziert, in dem in einem von insgesamt zwölf Grundartikeln auch der »Schutz gegen die Landjuden« auftaucht, welcher also offenbar für Bayern ein wichtiges Anliegen war (Günther Franz, Die agrarische Bewegung im Jahre , in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie /, /, S. -, S.  f.)  Franz, Die agrarische Bewegung; Friedrich Lautenschlager, Die Agrarunruhen in den badischen Standes- und Grundherrschaften im Jahre , Heidelberg .

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Nahrungsmangel und den dadurch entstandenen extremen Preissteigerungen für Nahrungsmittel in vielen Gegenden Deutschlands, die das auslösende Moment für die Unruhen gewesen sein können,40 gab es jedoch weitere, schon länger bestehende Ursachen für den Unmut der Bauern. So waren in Süd- und Mitteldeutschland die Reformen, die zu einer Ablösung der herrschaftlichen Lasten führen sollten, stecken geblieben, dies galt vor allem in den Gebieten der Standesherren, zugleich hatte sich gerade in den Verfassungsstaaten ein politisches Selbstbewusstsein der Bauern entwickelt. So erhob sich in weiten Gebieten vor allem Südwestdeutschlands, Hessens, Thüringens und Frankens sowie in Schlesien (hier unter Beteiligung auch unterbäuerlicher Schichten) eine »große Bauernrevolution«, die sich gegen den Staat und die Herren richtete und nicht durch die dörfliche Armut und die sozialen Gegensätze bestimmt war.41 So wurden in einem Flugblatt  ein »Freistaat wie Amerika« und die Vernichtung des Adels, die Ermordung der Beamten und die Vertreibung der Juden und Fürsten aus Deutschland gefordert.42 D. h., Juden waren in dem geforderten »Freistaat« offenbar nicht erwünscht.43 Für Monate lebten der Adel, seine Verwalter und die Juden in den genannten Gegenden in Angst. Der Ausbruch der Unruhen im südwestlichen Deutschland an der württembergischen, badischen und französischen Grenze, im Kraichgau, im Taubergrund und im Odenwald im März  betraf Gebiete, die von der wirtschaftlichen Krise besonders betroffen waren, und wurde zudem von der Februarrevolution im benachbarten Frankreich befeuert.44 So legt die Tatsache, dass »beim Zertrümmern der Fenster und Läden der jüdischen Bewohner von Berwangen und Unterschüpf« die Rufe »Freiheit« zu hören waren, eine Rezeption der Februarevolution in Paris nahe, zeigt aber die bäuerliche Übersetzung in Richtung einer materiellen Reform.45 So zielten die Ausschreitungen im Südwesten Deutschlands, einem Gebiet,  Benninghaus/Hecht, Gewalt in Hungerunruhen, S. ; auch Riff, Revolutionary Unrest, S.  f.  Nipperdey, Deutsche Geschichte, S.  f. Die Träger der Gewalt sind die Bauern und nicht die unterbäuerlichen Schichten und Landarbeiter.  Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. ; Franz, Agrarbewegungen, S.  f. Nach Franz wurden Juden vor allem zu Angriffszielen, weil Bauern bei ihnen verschuldet waren. In Tauberbischofsheim kam das Gerücht auf, am nächsten Markttag (..) würde es zu einer Plünderung der Israeliten kommen. Es blieb aber ruhig (ebd., S. ).  Siehe dazu: Stefan J. Dietrich, Gegen eine Minderheit: ›Freiheit und Gleichheit soll leben; die Juden müssen sterben‹, in: »Heute ist Freiheit !«: Bauernkrieg im Odenwald, , hrsg. vom Haus der Geschichte Baden-Württembergs, Stuttgart , S. -.  Riff, Revolutionary Unrest of , S. . Bereits  hatte es in Nonnenweier (Ortenaukreis) antijüdische Ausschreitungen im Zusammenhang mit der geplanten Judenemanzipation gegeben. Dort sollte es auch später wiederholt  und  zu Vorfällen kommen (Elfie Labsch-Benz, Die jüdische Gemeinde Nonnenweier. Jüdisches Leben und Brauchtum in einer badischen Landgemeinde zu Beginn des . Jahrhunderts, Freiburg i. Br. , S. ).  Siehe auch: Wirtz, Widersetzlichkeiten, S.  f. Wirtz zitiert den Bericht eines aus Unterschüpf geflüchteten Juden, der am . März  die Übergriffe so beschrieb: »Vergangene Nacht  Uhr zog eine Bande man sagt von  Mann mit fliegendem Spiele unter dem

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für das Wirtz in seiner Fallstudie eine existenzbedrohende Verelendung, die durch Überbevölkerung, Belastung durch Feudalabgaben und Missernten hervorgerufen wurde, konstatiert,46 primär auf die Ablösung der Feudallasten, so dass Rentämter, Forstämter und die Adelssitze Ziele der Bauern waren. Die AZJ sah die Ursachen entsprechend: »Das Landvolk, von den Resten der Feudallasten niedergedrückt, hat sich gegen die ›Herren‹ und ihre Beamten erhoben, und nebenbei seine Plünderungswuth an den Juden gekühlt«.47 Die Juden waren also zwar nicht das vorrangige Ziel, doch richteten sich nach Rürup die Proteste auch gegen die »vielbeklagte ›Geldherrschaft‹«,48 die die Bauern offenbar in den Juden verkörpert sahen, insbesondere wenn sie im Verdacht des Wuchers standen.49 Die Karlsruher Zeitung vom . März  vermutete sogar, dass »hinter den Judenverfolgungen nicht bloß die Rache für vermeintliche oder wirkliche frühere Übervorteilung, sondern ein gutes Stück Kommunismus steckt, der sein Handwerk mit einer unglaublichen Frechheit betreibt«.50 Es ist nach Rürup im Einzelfall schwer zu entscheiden, ob die Juden jeweils wegen ihrer wirtschaftlichen Stellung und ihrer »wucherischen Praktiken« oder aber aufgrund ihres Status als ethnisch-religiöse Minderheit angegriffen wurden.51 Es lassen sich sowohl Fälle finden wie in Ettlingen und Richen, in denen allein die Häuser von Juden angegriffen wurden, die als schlimme »Wucherer« galten,

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Rufe es lebe die Gleichheit nach Schüpf ein, und stürmten alle Judenhäuser …« (ebd., S. ). Es waren wohl eher  als . Tumultuanten, vgl. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Wirtz, Widersetzlichkeiten, Kap. , hier S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Zu den zahlreichen Gerüchten gegen die ungeliebten Repräsentanten der Lokalverwaltung (Amtmänner) in den er Jahren, denen die Bevölkerung Bestechlichkeit vorwarf, siehe Joachim Eibach, Gerüchte im Vormärz und März  in Baden, in: Historische Anthropologie , , S. -, hier S.  f. Gerade in der Ausnahmesituation der Revolution, in der ein Informationsnotstand herrschte, kam den Gerüchten eine besondere Bedeutung zu, da sie in diesen Phasen die offiziell-formelle Kommunikation dominierten, was die Behörden und Zeitungen zu ständigen Dementis zwang (ebd., S. , ). Zu den Angriffen auf Amtssitze siehe auch: Jürgen Maciejewski, Amtmannsvertreibungen in Baden im März und April . Bürokratiekritik, bürokratiekritischer Protest und Revolution /, Frankfurt a. M. . Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. . Rürup zitiert aus einem Bericht aus dem badischen Mosbach vom März , wo es heißt: »Rings um uns her bedrohen zahlreiche Volkshaufen die Israeliten, die Standes- und Grundherren und immer mehr jeden Vermöglicheren überhaupt« (zit. aus Karlsruher Zeitung, ..). Im hessisch-darmstädtischen Reichelsheim (Odenwald) kam es Ende Februar zu Unruhen gegen die einheimischen Juden, als ein bei einem Juden verschuldeter Einwohner, der auswandern wollte, von seinem Gläubiger eingeholt und daraufhin verhaftet und in den Ort zurückgebracht worden war. Diese erzwungene Rückkehr »gab die Veranlassung zu der kleinen Emeute«, woraufhin die zahlreichen jüdischen Familien in die Umgebung flüchteten (AZJ, Heft  vom .., S.  f.). Zit. nach Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. . Der Bericht stammte aus Bad Mergentheim. Zit. nach ebd., S.  f.

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während die Mehrheit der übrigen jüdischen Familien am Ort »vom Volksgericht« verschont blieb, als auch solche, wo sich an manchen Orten »eine barbarische Wut gegen die Bekenner des mosaischen Glaubens überhaupt […] zu erkennen gab«.52 Wie die folgenden Analysen zeigen, war es vor allem die Ablehnung der mit dem Ortsbürgerrecht einhergehenden Teilhabe am Bürgernutzen seitens der Juden, die die Ortsbewohner mit der Anwendung kollektiver Gewalt durchzusetzen suchten. Zu Recht gibt Rürup auch zu bedenken, dass die antijüdische Gewalt in Baden sowie auch im Elsass keineswegs flächendeckend alle Orte mit jüdischer Einwohnerschaft in Mitleidenschaft zog, so gab es in Baden antijüdische Unruhen an  Orten, die übrigen  blieben verschont, und auch im Elsass waren etwa   der jüdischen Gemeinden betroffen.53 Wie die umlaufenden Drohungen und Gerüchte erkennen lassen, herrschte in diesen Gegenden eine gewaltbereite Stimmung, es lässt sich aber in den meisten Fällen angesichts der vorhandenen Quellen nicht angeben, warum es an einigen Orten ruhig blieb oder sich auf Gewalt gegen den Adelssitze oder Ämter beschränkte, während sie sich an anderen auf die Juden ausweitete oder von vornherein allein Juden betraf. Es kann am Fehlen eines (kontingenten) auslösenden Moments liegen, an Vorkehrungen der Ortsbewohner, der Stationierung von Militär oder daran, dass die umherziehenden Rotten den Ort nicht tangierten. Die Bauernzüge der ersten beiden Märzwochen, in denen es zu Angriffen auf die Leiningische Amtsstadt Boxberg, auf Mosbach, auf die Schlösser Adelsheim und Angeltürn und auf Leiningische Güter kam, wandten sich häufig auch gegen die Juden der benachbarten Orte.54 So zog der Haufe aus Boxberg am . März weiter nach Unterschüpf, wo ca. zweihundert Personen unter Mithilfe von Ortsansässigen gegen die Juden vorgingen, wobei sechs Häuser demoliert und ausgeraubt wurden, ohne dass die Bürgerwehr eingriff. In Unterschüpf hatte es schon mehrere Tage vorher Gerüchte und Drohrituale gegeben, die auf die bevorstehende Gewalt gegen Juden hindeuteten.55 Die Regierung entsandte umgehend Truppen in die betroffenen Bezirke des Odenwalds und des Kraichgaus.56 Dort und in der Hardt kam es etwa in Nußloch am ./. März zu »groben Excessen« durch das Einschlagen der Fenster und Türen und zur Zertrümmerung von Mobiliar. Gerüchte sprachen von weiteren bevorstehenden Übergriffen in den benachbarten Orten Walldorf, Rei Ebd., S. . Rürup zitiert Berichte aus der Mannheimer Abendzeitung, .., wo es zu dem ersten Fall in Richen hieß, dass dort mehrere Stimmen einen Gewalttäter zurückriefen, als er gegen den Laden eines Juden schlug: »Halt, dem gebührt nichts, der ist kein Schacherer«. Vgl. auch den Bericht über Baisingen (s. u.). In einem Nachbarort Baisingens, in Rexingen, sollen sich sogar »jüdische Proletarier oder Lumpenproletarier« den christlichen Bauern angeschlossen haben, die wohlhabende Juden bedrängten (Abraham Gilam, Die historische Bedeutung der Megillat Baisingen, in: Leo Baeck Institute Bulletin , , S. -, hier S. ).  Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. .  Vgl. dazu und zum Folgenden Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  ff.  Gailus, Anti-Jewish Emotion, S. ; Dietrich, Gegen eine Minderheit S. -.  Riff, Revolutionary Unrest of , S. .

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lingen und Hockenheim und in der Gegend von Sinsheim, doch blieb es bei den Drohungen. Diese Drohungen reichten aber offenbar mancherorts aus, um die Juden zu einem »freiwilligen« Verzicht auf den Bürgernutzen zu bewegen und ihnen als »Gegenleistung« den Verzicht auf Gewaltanwendung anzubieten.57 Daran zeigt sich, dass sich die kollektive Gewalt keineswegs blind und ungesteuert ereignete, sondern durchaus einem rationalen Kalkül folgte. Reichte die Gewaltandrohung aus, um das gewünschte Resultat zu erzielen, verzichtete man auf eine Anwendung von Gewalt. An anderen Orten wurden die umherziehenden Rotten jedoch von am Ort gebildeten Schutzmannschaften an Übergriffen gegen die Juden des Ortes gehindert (Hoffenheim, Rohrbach und Weiler), an anderen gefährdeten Orten wurde Militär postiert, so dass hier Überfälle unterblieben. Stefan Rohrbacher betont, dass von Seiten der Juden die Bedrohung durch oft mehrere hundert Personen umfassende, umherziehende Rotten, denen oft noch Drohungen und wilde Gerüchte vorauseilten, als extremer wahrgenommen wurde als die innerörtlichen Konfliktfälle, doch tatsächlich schätzt er das Gewaltniveau als insgesamt vergleichbar, die Zahl der örtlichen Konflikte sogar als deutlich höher ein.58 Wie im Odenwaldgebiet bekamen auch in den standes- und grundherrschaftlichen Gebieten Ober- und Unterfrankens, im nördlichen Unter- und Obermainkreis die Bauernunruhen bisweilen eine judenfeindliche Stoßrichtung.59 Dort traf es bei Angriffen auf freiherrliche Amtsgebäude und Schlösser auch »die jüdischen Glaubensgenossen, welche gleichfalls mishandelt, ihrer bewgl. Habe beraubt u. deren Häuser demolirt wurden«, so etwa in Burgpreppach, Unterlangenstadt, Redwitz und in einigen Orten des Rodachgrundes.60 Viele Juden aus diesen Orten  Im Fall Reilingens, wo mehrere Bürger aus Wirtshäusern kommend sonntagabends durch die Straßen gezogen und »hier und da Flüche gegen die Juden ausgestoßen« hatten, wobei durch polizeiliche Maßregeln die Ruhe schnell wiederhergestellt werden konnte, kam es auf Anordnung eines »hohen Ministerial-Erlasses« zu einer Einvernahme des Gemeinderates, der sich gegen den Vorwurf, es sei zu Exzessen gegen Juden gekommen, verwahrte. Der bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , abgedruckte Bericht des Amtsassessors Gärtner über die Einvernahme des Gemeinderates zu Reilingen, . März, führt dann aber weiter aus, dass es einen Tag nach dem lärmenden Vorfall zu einer stürmischen Gemeindeversammlung zur Frage der Berechtigung der Israeliten als Gemeindebürger bzw. die Bürgernützungen gekommen sei, die man einstimmig abgelehnt habe. Die auf der Versammlung erschienenen Juden hätten sich, nach einigem Widerstande, bereitgefunden, auf die »Bürgernützungen freiwillig Verzicht zu leisten«, wobei sie darauf verwiesen, dies nur unter »moralischem Zwang« getan zu haben. Diese Verzichtleistung wurde dann in einem Notariats-Akt festgehalten, wobei den Israeliten zugesichert wurde, »daß ihnen nun nichts mehr geschehe«. Die »Einvernahme« zeigt aber auch, dass die vorgesetzten Behörden auf die Anzeige, es sei zu Gewalt gegen Juden gekommen, nicht untätig blieben.  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .  Franz formuliert dies gänzlich unkritisch, indem er die Schuld dafür bei den Juden selbst ablädt: »Die Judenemanzipation wurde in Franken leidenschaftlich abgelehnt, da der Bauer unter den unemanzipierten Juden genug zu leiden hatte« (Agrarische Bewegung, S. ).  Zit. nach Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .

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flohen nach Bamberg oder Coburg, und im Rodachgrund wurden Landwehrverbände stationiert, die weitere Übergriffe verhindern konnten, auch wenn es in vielen Gegenden Unter- und Oberfrankens weiterhin unruhig blieb, Gerüchte über geplante Übergriffe die Runde machten und Juden Bedrohungen und kleineren Übergriffen ausgesetzt waren. Dass die Bauernunruhen auch Ortsansässige zu Ausschreitungen motivieren konnten, zeigt der Fall Burgkunstadt, wo es ersten Meldungen zufolge hieß, eine Rotte von  bis  Mann habe alle Judenhäuser angegriffen und demoliert. Tatsächlich handelte es sich bei den Tätern um einige Bürgersöhne, die die Bauernunruhen der Umgebung zum Anlass nahmen, den schwelenden lokalen Konflikt zwischen der zahlenmäßig starken jüdischen Gemeinde ( bis  Personen) und den ca.  christlichen Bürgern gewaltsam auszutragen. Die offenbare Untätigkeit von Magistrat, Bürgerwehr und übrigen Bürgern ließ das Landgericht vermuten, dass es sich um »ein Komplott« gehandelt habe, das mit Vorbedacht ausgeführt worden sei, zumal es eine »von jeher bestehende Feindschaft zwischen Christen und Juden« am Ort unterstellte.61 Nach Eckstein waren die »Excesse« in Burgkunstadt am heftigsten, wo die Losung lautete: Gegen Junker und Juden! Große Teile der jüdischen Bevölkerung flohen nach Bamberg, und erst der Einsatz von Militär stellte die Ruhe wieder her.62 Lokale Tumulte in Baden, Württemberg und Bayern  Stefan Rohrbacher hat herausgearbeitet, dass es – mancherorts parallel zu den Bauernzügen – eine zweite Ereigniskette antijüdischer Übergriffe in vielen kleineren und größeren Ortschaften im badischen Oberland, in Schwaben und bayrischen Franken gab, deren Ursprung in den sich durch die revolutionären Entwicklungen anbahnenden Veränderungen in der rechtlichen Position der Juden zu suchen ist, während die Unruhen im benachbarten Elsass (s. u.) kaum als Auslöser in Frage kommen, da man auf dem Lande kaum etwas von diesen Vorgängen wusste. Vielmehr bestand ein ganz enger zeitlicher Konnex mit den Entscheidungen der Zweiten Badischen Kammer zur Emanzipation der Juden.63 Diese These wird untermauert durch ein von Michael Riff zitiertes Schreiben des Bezirksamts Bretten an das badische Innenministerium vom . März , in dem die vom Landtag in  Ebd., S. .  Eckstein, Der Kampf der Juden um ihre Emanzipation in Bayern, S. .  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  ff. Ob die Ereignisse in Frankreich, insbesondere die Angriffe auf Juden im Elsass, die antijüdischen Unruhen in Baden direkt beeinflussten, ist auch nach Riff, Revolutionary Unrest of , S.  f., schwer zu entscheiden. Dies dürfte nur für die Grenzregion am Oberrhein zutreffen. Wichtiger dürften auch seiner Auffassung nach die Berichte gewesen sein, wonach der badische Landtag den Juden gleiche Rechte einräumen wollte. Vgl. auch Stefan Dietrich, Gewalt und Vorurteil: antijüdische Ausschreitungen  in Nordbaden, in: Badische Heimat, , , S. -, hier S. .

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Aussicht gestellte Judenemanzipation und die anhaltenden Leiden der bäuerlichen Bevölkerung wegen der Zwangsvollstreckungen seitens der Juden eine Atmosphäre geschaffen habe, die das Schlimmste erwarten lasse.64 Die an vielen Orten schwelenden Konflikte über die ortsbürgerliche Stellung der Juden wurden durch die nun zu erwartenden, von den Christen als Positionsverschlechterung abgelehnten Veränderungen zu Gunsten der Juden verschärft, und es kam in den ersten beiden Märzwochen  zu antijüdischen Ausschreitungen, ohne dass gleichzeitig obrigkeitliche Einrichtungen attackiert wurden, aber auch ohne ein energisches Durchgreifen der Ortsbehörden. Deshalb wurde von der Regierung Militär in die Region entsandt, und die Gemeinden sollten für die angerichteten Schäden kollektiv haften. Der unmittelbare Zusammenhang mit der Frage des Ortsbürgerrechts lässt sich für Baden gut erkennen, wo Juden zwar auf Landesebene gleichgestellt waren, wo aber am . März  die von den Demokraten eingebrachte Forderung nach der Gewährung gleicher kommunaler Rechte (wie Weide- und Jagdrecht, Waldrecht, Heiratserlaubnis und bestimmte Abgaben) für die männlichen Angehörigen aller Konfessionen, d. h. auch für Juden gebilligt wurde,65 eine Kunde, die sich schnell überall im Lande verbreitete, »großen Unwillen in allen Gemeinden« und sogleich auch erste Unruhen, wie am ./. März in Bretten und in Neckarbischofsheim auslösten, wo sie mehrere Tage andauerten. Jürgen Stude zitiert den Tagebucheintrag des achtjährigen Georg Wörner aus Bretten, der die aufgeheizte Stimmung rund um die Landtagsentscheidung, aber auch sehr genau die Motive und Forderungen der randalierenden Ortsbürger beschreibt: »Am . März,  hat in Bretten die Revolution angefangen, da sind die Leute von Morgens an auf der Straße herumgestanden, alle Wirtshäuser waren gesteckt voll, dann sind sie Haufenweise gestürmt und haben gelärmt und den Juden Angst in den Leib gejagt. Sie haben dem Rabbiner, dem Kaufmann Weil und anderen ihre Backöfen abgerießen und haben gedroht, wenn die Juden ihnen nicht versprechen, daß sie kein Holz mehr wollen, ihnen bei der Nacht alles zusammenzuschlagen und sie zu den Häusern hinauszuwerfen. […] Auf die Nachtwache wurden viele Männer bestellt; als es dunkel wurde, hat der Spektakel erst recht angefangen, es wurden Fenster eingeworfen, mit Prügeln an die Haustür geklopft, gebrüllt und mit Mord und Brand gedroht. Der Veis vom Oberthor hat Geld zum Fenster hinaus geworfen, um seine Peiniger los zu werden, auch der Raphael Reis hat dem tobenden Pöbel Schnaps und Bier bezahlt«.66  Riff, Revolutionary Unrest of , S. .  Die badische Regierung schob die Forderung dieses Gesetzentwurfs aber auf die lange Bank, so dass die Ortbürgerrechte für Juden auch über  hinaus eingeschränkt blieben.  Zit. nach Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, S. , der sich seinerseits auf die von  bis  erschienene Beilage Der Pfeiferturm der Tageszeitung Brettener Nachrichten, Nr. , , S. , bezieht. Dieser enthielt Beiträge zur Heimatgeschichte und Volkskunde Brettens und seiner Umgebung und wurde von der Ortsgruppe Bretten des Landesvereins Badische Heimat herausgebracht. Der Tagebucheintrag von Georg Wörner

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Obwohl die Brettener Juden am folgenden Tag, am . März, auf dem Rathaus unter Druck erklärten, für alle Zeiten auf die Bürgerrechte und den Bürgernutzen zu verzichten,67 flammten die Tumulte am . und in der Nacht vom . auf den . März erneut auf.68 Auch an Orten, in denen es noch nicht zu Gewaltakten gekommen war, verzichteten die Juden unter Drohungen vorauseilend auf den Bürgernutzen, etwa in Jöhlingen, Weingarten, Wiesloch, Walldorf, Friesenheim und Rappenau.69 Als Motiv nannten sie »die jetzt an manchen Orten stattfindenden Judenverfolgungen«.70 Diese erzwungenen Verzichtserklärungen wurden nach der Niederschlagung der Revolution  von den Oberämtern gegen den Widerstand

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wird auch von Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  f., zitiert, der darauf verweist, dass der Eintrag fälschlich auf den . März datiert wurde, da die Unruhen erst am . März begannen. Der oben bereits erwähnte Bericht des Bezirksamtes Bretten spricht für den Abend des . März nur von einem Lärm auf den Straßen und von einer Menschenmenge, die die Absicht hatte, Häuser von Juden anzugreifen. Dies sei aber durch die Bürgerwache verhindert worden (Riff, Revolutionary Unrest of , S. ). Die »Verzichterklärung der jüdischen Ortsbürger zu Bretten, . März « befindet sich im Stadtarchiv Bretten und ist abgedruckt bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Die Brettener Juden verzichteten »für alle Zeiten« auf die »Allmend-Genüsse«, da sie diese Frage »für den Grund der Aufregung« hielten. Bretten hatte   jüdische Einwohner (,  von . der Gesamtbevölkerung). Siehe: www.alemannia-judaica.de/bretten// synagoge.htm. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Dort ist auch die »Meldung des Brigadiers Ringholz an das Corpskommando zu Karlsruhe über neuerliche Exzesse in Bretten, . März « abgedruckt (S. ). Über diesen Vorfall, bei dem mitten in der Nacht das Haus einen Juden angegriffen und demoliert und sogar dessen Frau misshandelt und leicht verwundet worden sei, wobei der Brigadier quasi erklärend darauf verwies, dass diese »beim Anfang sich schimpfende Austrüke bedint [sic] haben soll«. Nach Riff wurde vom Bezirksamt Bretten auf Drängen der Ortsbürger ein Jude des Ortes auch aus seinem Amt in Bretten gedrängt, obwohl das Bezirksamt die gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen, er bevorzuge seine Religionsgenossen, nicht hatte erhärten können. Dieses Vorgehen und der erzwungene Verzicht auf den Bürgernutzen stießen im Innenministerium auf heftige Kritik, doch konnte es diese Maßnahmen nicht aufheben (Revolutionary Unrest of , S. ). In Friesenheim (Kreis Lahr) mussten die Juden im März  unter Gewaltandrohung auf das Ortsbürgerrecht verzichten, während es in Jöhlingen, wo »hauptsächlich junge Burschen allerlei Unfug« verübten, die Juden bedrohten und ihre Fenster einwarfen, durchaus mehr als nur Drohungen gab. Die jüdischen Einwohner hofften durch den Verzicht auf den Bürgernutzen den Zorn von sich ablenken zu können. In Rappenau hatte ein Jude vor  auf dem Prozesswege sogar schon den Status als Vollbürger erlangt, doch verlangte  die Gemeindeversammlung von ihm, sein Bürgerrecht wieder abzutreten. Zu seinem Schutz musste die Gemeinde sogar die Nachtwachen verstärken. Der Jude beugte sich dem Druck, bekam sein Bürgerrecht aber  gegen den Willen der Gemeinde wieder zurück. Dazu: Franz Hundsnurscher/Gerhard Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, Stuttgart , S. , ,  f. Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, S. , auch Riff, Revolutionary Unrest of , S.  f. In Flehingen baten Juden in einer Petition an die Zweite Kammer des badischen Landtages sogar, nicht emanzipiert zu werden (ebd., S. ).

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der Gemeinden für rechtlich wirkungslos erklärt.71 In Neckarbischofsheim nahmen die Tumulte in den Nächten vom . bis . März einen ganz ähnlichen Verlauf wie in Bretten.72 Ein Eingreifen der Polizei oder der örtlichen Amtsmänner blieb entweder fruchtlos oder aber ihr Eingreifen führte in der Folge zu Übergriffen auch gegen deren Wohnungen.73 Dies verdeutlich einmal mehr, dass vor allem ortsansässige Amtspersonen Gefahr liefen, selbst zum Ziel der als legitime Selbsthilfe gegen obrigkeitliche Entscheidungen gewerteten Gewalt zu werden, während es entfernten übergeordneten Behörden leichter fiel, auch unliebsame Entscheidungen zu fällen und durchzusetzen. Das Bezirksamt Bretten forderte die Gemeinden seines Bezirks auf, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen und Versammlungen durchzuführen, um die Menschen zu beruhigen, und es wurden auch Beamte in die Orte geschickt, um den Einwohnern die neuen Maßnahmen und Gesetze zu erklären. Den Juden wurde geraten, zu Hause zu bleiben und derzeit möglichst auf das Eintreiben fälliger Schulden zu verzichten. Das Bezirksamt bat die Regierung zudem, Vorkehrungen zu treffen, damit die Bauern ihre Schulden zu gerechteren Konditionen zurückzahlen könnten, nur so seien schwere Unruhen zu verhindern.74 Diese Empfehlung zeigt, dass die Unruhen einerseits durch die zu erwartende Teilhabe der Juden am Bürgernutzen, die wiederum wirtschaftliche Nachteile zur Folge haben konnte, wie auch durch die Verschuldung christlicher Ortsbewohner bei den Juden des Ortes motiviert waren. Die Intervention des Bezirksamtes kam nach Riff jedoch zu spät, denn bereits in der Nacht vom . auf den . März kam es in der Gegend in Münzesheim, Menzingen, Gochsheim und Bauerbach zu Unruhen, die sich aber auf Steinwürfe gegen jüdische Häuser beschränkten, verletzt wurde dabei niemand.75 Diesen Unruhen folgten in den nächsten Tagen weitere mehr oder minder schwere Unruhen in den umliegenden Orten des Kraichgaus und in ganz Nordbaden.76 In den größeren Städten wie Heidelberg am . Februar77 und Karlsruhe  Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, S. .  Vgl. die ausführliche Darstellung bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Vor allem die Häuser von fünf Juden waren das Ziel, bei denen christliche Bürger verschuldet waren bzw. die sich wegen der verweigerten Bürgerholzgabe beschwert hatten. Der Abgeordnete Friedrich Daniel Bassermann erwähnte in der Debatte des Badischen Landtages am . März , dass die Juden in Berwangen und Neckarbischoffsheim aus ihren Häusern getrieben oder genötigt wurden, mit ihren Familien in die Keller zu flüchten, während in den Häusern alles kurz und klein geschlagen und sie bedroht wurden, so dass sie mit ihrer Habe nach Mannheim flohen (Badischer Landtag, . Kammer /, Protokolle Bd. , . Sitzung am .., S. ).  So in Neckarbischofsheim (Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. ) und in Menzingen im Amtsbezirk Bretten (Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, S. ).  Riff, Revolutionary Unrest of , S. .  Ebd.; siehe dazu ausführlicher Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .  Ebd., S. , .  Auch in Heidelberg begann die Revolution von  mit einem judenfeindlichen Tumult am . Februar, als eine kleine Gruppe von Schneidern das Haus des jüdischen Kleiderhändlers Leopold Ehrmann stürmte und dessen Kleidervorräte zerstörte. Ehrmann

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(. März) und Mannheim, deren Einwohner Petitionen an den Landtag schickten, in denen sie die Judenemanzipation befürworteten,78 kam es nicht oder nur zu kleineren Vorfällen, auch wenn Der treue Zions-Wächter bereits unter dem Datum des . März  vermeldete, dass die »Judenverfolgungen […] leider eine Ausdehnung erlangt [haben], die es dringend nöthig macht, dass die Bestrebungen der guten Bürger, solche Schändlichkeiten zu verhüten oder zu unterdrücken, in einzelnen Gegenden durch die öffentliche Gewalt unterstützt werden müssen.«79 Im Süden und Südwesten Deutschlands lebte der größte Teil der Juden in ländlichen Gebieten,80 so dass sich die Unruhen primär in kleineren Orten abspielten, wo die Akkulturation der Juden schwerer fiel und langsamer vorankam, so dass hier eine große kulturelle Distanz fortbestand,81 was auch von den badischen Politikern als Problem erkannt wurde.82 Dass es einen Zusammenhang mit Konflikten um

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hielt offenbar die Zunftregeln nicht ein, so dass gegen ihn auch jüdische Kaufleute offen Stellung bezogen. Siehe: Mumm, »Denket nicht: ›Wir wollen’s beim Alten lassen‹«, S. . Vgl. auch Riff, Revolutionary Unrest of , S. , der zwar auch die Übergriffe gegen Ehrmann erwähnt, aber darauf verweist, dass weder die Akten des Innenministeriums noch die der Regierung des Unterrheins Nachrichten über Unruhen in Heidelberg enthalten. Lediglich die Oberrheinische Zeitung vom . März  berichtete darüber. Nach Hundsnurscher/Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden, S. , hätten die Schneider , als sie die Einführung der Gewerbefreiheit fürchteten, nicht nur Ehrmann angegriffen, sondern »die Läden der jüdischen Kleiderhändler« gestürmt. Riff, Revolutionary Unrest of , S. . Auch nach Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , »war das städtische Bürgertum zu jener Zeit nicht antijüdisch eingestellt, wie zuvor und nachher«. Viele badische Landjuden suchten deshalb Schutz in den Städten. Der treue Zions-Wächter, Heft , .., S. . Vgl. auch die AZJ, Jg. , Heft , , .., S. . In Karlsruhe kam es am Abend des . März zu einer Zusammenrottung vor dem Haus eines jüdischen Kaufmanns, dem man die Fenster einwarf und die Fensterläden zertrümmerte. Die entstehenden Ausschreitungen konnten durch ein frühes Eingreifen der Bürgergarde gestoppt werden. Reinhard Rürup, Die jüdische Landbevölkerung in den Emanzipationsdebatten süd- und südwestdeutscher Landtage, in: Monika Richarz/Reinhard Rürup, Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, Tübingen , S. -. Nach Rürup, Die jüdische Landbevölkerung, S. , dominierte, was auch die Herkunft der überwiegenden Zahl der Petitionen gegen eine rechtliche Verbesserung für die jüdische Bevölkerung belegt, die Ablehnung der Juden vor allem in den ländlichen Gebieten. Rürup zitiert einen Abgeordneten der Zweiten Badischen Kammer, der noch  feststellte, »daß in einem Teile unseres Volkes, namentlich auf dem Lande, eine lebhafte Ablehnung gegen die Israeliten besteht«. So argumentierte der badische Abgeordnete Gerbel im Herbst  in der Zweiten Badischen Kammer, dass er, wenn er »von der Emanzipation der Juden spreche«, nicht an die »höheren Kreise, sondern an die unteren Klassen des Volkes« denke. »Ich will dem Landvolk das Mitleben und Zusammenleben mit den Juden erträglich machen« (Rürup, Die jüdische Landbevölkerung, S. ). Man machte in den Landtagsdebatten einen deutlichen Unterschied zwischen den Juden in den größeren Städten, die den Christen bereits ebenbürtig seien, und den Juden in den kleinen Städten und Dörfern, mit denen es sich ganz anders verhalte (ebd., S.  – so argumentierte ein Abgeordneter in der Zweiten Badischen Kammer noch !).

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die rechtlichen Verbesserungen für Juden gab, zeigte sich einmal darin, dass es die christlichen Nachbarn, nicht selten auch Bürger und Bürgersöhne waren, von denen die Übergriffe ausgingen, zum anderen die Tatsache, dass an vielen Orten die Juden ihren – mehr oder minder erpressten – Verzicht auf den »Bürgernutzen« erklärten, weil sie darin offenbar den Hauptkonfliktpunkt sahen, den sie durch ihren Verzicht zu entschärfen hofften. Einen Beleg dafür kann man darin sehen, dass der Bruchsaler Bürgermeister seine Genehmigung, zu Ehren von Lorenz Brentano, einem Abgeordneten, der sich immer wieder für die Emanzipation eingesetzt hatte, von jüdischer Seite einen Fackelzug zu veranstalten, zurückzog, da er offenbar negative Reaktionen seitens der Christen befürchtete; zu Recht, denn es kam trotz des Verzichts auf den Fackelzug zu Angriffen auf die Häuser und Läden der Juden,83 und Brentano »soll ein Pereat für seine Fürsprache für die Emanzipation gebracht worden sein«.84 Noch am Abend des geplanten Fackelzuges am . März  kam es hier zu »Hep-Hep«-Rufen, am . März sollte es dann zum sog. »Bruchsaler Judensturm« kommen. Am Nachmittag versammelte sich »ein vom Wein erhitzter Haufen« mit Knüppeln und Steinen auf dem Marktplatz, der Zustrom von weiteren Bruchsalern bekam, so dass der Bürgermeister die Bürgerwehr auf bot, die allerdings nur aus fünfzehn Mann bestand und somit zu schwach war, den antijüdischen Ausschreitungen in einigen Stadtvierteln Einhalt zu gebieten, wo die Tumultuanten in »Geschäfte und Wohnungen eindrangen und Türen, Läden und Fenster zertrümmerten, Waren und Mobiliar zerstörten und Säcke mit Lebensmitteln aufschlitzten, ›so dass die Straße ganz von Mehl bedeckt war‹«.85 Die Karlsruher Zeitung berichtete am . März  über den »Bruchsaler Judensturm«, schrieb von den materiellen Zerstörungen, betonte aber, dass »jedoch keine persönliche Mißhandlung verübt« worden sei.86 Die Juden verbarrikadierten sich in ihren Wohnungen, in den Kellern oder auf den Speichern oder versteckten sich bei christlichen Nachbarn. Daraufhin alarmierten zwei jüdische Kaufleute den Kommandanten der Dragoner, Oberst Wilhelm Heinrich von Hinkeldey, und baten ihn um Hilfe gegen die angreifenden Volksmassen, da der Oberamtsvorstand nach Hause gelaufen sei und der Bürgermeister von der Menge verhöhnt werde. Obwohl der Oberst eigentlich ein offizielles Ersuchen um Hilfe für seinen Einsatz benötigt hätte, ließ er sofort eine Abteilung Dragoner zu Fuß in die Stadt marschieren und begab sich auch selbst dorthin. Der hilflose Bürgermeister bat um das Einschreiten  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .  Freiburger Zeitung, .. (»pereat«, . Person Konjunktiv Präsens von »perire« = untergehen, umkommen, hier im Sinne von »nieder«, »er soll zugrunde gehen« – das Gegenteil von »vivat« – »er lebe«).  Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal, S. . Das Zitat im Zitat stammt aus dem Mannheimer Morgen vom .., zit. nach Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .  »Auf heute sind weitere Exzesse gegen die Wohnung des Abgeordneten Brentano angedroht« – Der »Bruchsaler Judensturm«, Karlsruher Zeitung, . März . Zit. nach Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal, S. . Dort ist auch eine Planskizze abgedruckt, auf der die Behörden die Schauplätze der Unruhen eingezeichnet hatten.

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des Militärs, doch es dauerte bis Mitternacht, bis die Ruhe vollständig wiederhergestellt war. Am nächsten Vormittag seien der Bürgermeister und ein Geheimrat bei ihm erschienen und hätten um die Sicherung der Wohnung des Abgeordneten Brentano gebeten, die am Abend des . März Ziel eines Angriffs werden sollte. Daraufhin ließ er die Straße, in der die Wohnung lag, von berittenen Soldaten sperren. An allen öffentlichen Plätzen war Militär postiert, um neue Zusammenrottungen zu verhindern. Der Oberst wurde zudem am Morgen des . März von Juden gewarnt, dass an diesem Tag auch im benachbarten Heidelsheim ein Angriff auf die Judenhäuser geplant sei, so dass er eine Schwadron dorthin gesandt habe.87 Als auch persönlich von dem »Bruchsaler Judensturm« Betroffener berichtete der Abgeordnete Brentano auf einer Sitzung der Zweiten Kammer des badischen Landtages am . März  über den Verlauf der Unruhen und kritisierte insbesondere das Verhalten der Oberamtmanns von Bruchsal, der sich »später in seine Wohnung zurückgezogen [hat], während draußen die furchtbaren Zerstörungen angerichtet wurden«.88 In seiner Anklage bezog er sich auch auf die Übergriffe in Heidelsheim am . März . Brentano forderte den entschiedenen Einsatz der Behörden zum Schutz der Bürger, zumal man von der drohenden Gefahr wusste und Vorsichtsmaßnahmen hätte treffen können. Trotz der entsandten Dragoner kam es am Fastnachtsmontag, den . März , auch in Heidelsheim, das zu der Zeit ca.  Juden zählte, zu einem »Judensturm«.89 Obwohl sich der Bürgermeister mitsamt dem Gemeinderat und weiteren Bürgern bemühte, die Gewalt zu verhindern, begann mitten in der Nacht bei Schneetreiben der Angriff auf die Läden und Wohnungen der Juden, in die die Plünderer mit schwarz bemalten Gesichtern eindrangen und die Fenster und Einrichtungen von zehn Häusern demolierten oder sie ebenso wie die Waren auf die Straße oder in den Marktbrunnen warfen. Gendarm, Polizeidiener und andere Helfer, die sich der jüdischen Familien annahmen, wurden von den Tumultuanten beschimpft und geschlagen. Die aus Bruchsal eintreffenden Dragoner konnten dann die Ruhe wiederherstellen. Mehrere Nächte lang musste die auf  Mann verstärkte Bürgerwache für Ruhe sorgen, um weitere Ausschreitungen zu verhindern.90 Die Juden fühlten  Stude, Geschichte der Juden in Bruchsal, S. .  Badischer Landtag . Kammer /. Protokolle Bd. , Verhandlungen der zweiten Kammer. Fünfunddreißigste öffentliche Sitzung, vom . März , S. - (http:// digital.blb-karlsruhe.de/blbihdl/periodical/pageview/).  Nach Hundsnurscher/Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden, S. , hat es in Spannungszeiten dort mehrfach kleinere Ausschreitungen gegen Juden gegeben, so , ,  und .  Nach Riff (Revolutionary Unrest of , S.  f.) hatten die Einwohner von Heidelsheim die Vorfälle bedauert und sich aktiv daran beteiligt, weitere Unruhen zu verhindern. Sie hätten sich aber unkooperativ bei der Identifizierung der Täter gezeigt, die vom Oberamt als Bewohner umliegender Orte identifiziert werden konnten. Es gilt wohl für eine Reihe weiterer Orte, dass »the rabble of the surrounding area« für Übergriffe verantwortlich waren (so im Müllheim, Nußloch u. a.). Es gab aber auch den Fall, dass Einheimische die Einwohner von Nachbarorten zum Mitmachen aufforderten. Die AZJ (Heft , ..)

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sich trotz des militärischen Schutzes nicht mehr sicher und flohen nach Bruchsal.91 Am übernächsten Tag wurde ein Amtsassessor nach Heidelsheim geschickt, der in Begleitung des Bürgermeisters den Tathergang, den angerichteten Schaden protokollierte und auch ein Verfahren gegen einen Tatverdächtigen eröffnete.92 – Für die Juden sollte der »Judensturm« noch ein böses Nachspiel haben, da die jüdischen Familienväter zwei Tage später auf das Rathaus zitiert wurden, wo man sie zwang, per Unterschrift grundsätzlich auf den »Bürgernutzen« zu verzichten – so wie auch an vielen anderen badischen Orten – wie schon  – Verzichtserklärungen nach Ausschreitungen eingefordert wurden. Erst drei Jahre später, im April , konnten die Heidelsheimer Juden die Aufhebung ihrer Verzichtserklärung durchsetzen.93 Antijüdische Unruhen im Breisgau und am Hochrhein mögen durch die Unruhen im benachbarten Elsass, aber auch durch jüdische Flüchtlinge von dort motiviert gewesen sein, wie es die Freiburger Zeitung vom . März  anlässlich von Unruhen in Müllheim von Anfang März vermutete, da die Menschen befürchteten, die Neuankömmlinge könnten sich ebenso wie einige früher eingewanderte und besonders unbeliebte jüdische Familien im Bezirk niederlassen. Übergriffe gegen Juden soll es in dieser Gegend noch in Emmendingen und Bamlach gegeben haben.94 Das Innenministerium forderte die Bezirksämter der Gegend auf, den Grenzübertritt von jüdischen Flüchtlingen ebenso wie von Kriminellen und Bettlern zu verhindern. Auch wenn es an vielen Orten Drohungen gegen die Juden gab, so trafen die Gemeinden doch erfolgreich Vorkehrungen, um einen Ausbruch von Gewalt zu verhindern.95 Nachdem acht liberale Abgeordnete bereits in einer am . März  unterzeichneten Erklärung ihrer Erschütterung über die Gewaltausbrüche der »fehlgeleiteten Landbevölkerung« mit einem Aufruf in den großen badischen Zeitungen und

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berichtete unter Berufung auf die Mannheimer Abendzeitung, dass während der Ausschreitungen »die Stadtbehörden […] ruhig am Tarok, dicht nebenan, saßen«. Härdle, Heidelsheim, S. . Bei Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. -, ist das Protokoll über die Begehung der zu Heidelsheim in der Nacht des ./. März  beschädigten Wohnungen, angefertigt durch den Amtsassessor Haury, Heidelsheim, . März, abgedruckt [Generallandesarchiv Karlsruhe: /); siehe auch Stude, Geschichte der Bruchsaler Juden, S.  f. Stude, Geschichte der Bruchsaler Juden. S.  und . In Bretten dauerte die Aufhebung der Verzichtserklärung sogar bis . Die »Verzichtserklärung der jüdischen Ortsbürger zu Bretten, . März « ist abgedruckt in: Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Riff, Revolutionary Unrest of , S. . Der von Riff hier ebenfalls genannte Ort Kuppenheim liegt nicht im Hochrheingebiet, sondern in Mittelbaden in der Nähe von Rastatt. Nach Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , fanden die relativ schweren Unruhen in Müllheim erst am . und . März statt. Die zahlreiche jüdische Einwohnerschaft ( waren es  Personen) und die beherbergten Flüchtlinge flohen nach Basel und wurden auf dem Weg dorthin erneut ausgeplündert. Nach Rohrbacher soll es in Bamlach selbst keine Unruhen gegeben haben, vielmehr hätten sich Einwohner aus Bamlach und Rheinweiler zusammengerottet, um Flüchtlinge aus Müllheim in Hertingen anzugreifen, was aber von den dortigen Bürgern abgewehrt wurde (ebd., S. ). Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  f.

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auf Flugblättern Ausdruck gegeben hatten,96 schlossen sich ihr am . März  die anderen Mitglieder der Zweiten Kammer des Landtages einstimmig an. Die antijüdischen Unruhen wurden als »beklagenswerte Exzesse« heftig verurteilt, ein Urteil, dem sich auch die Presse Badens anschloss.97 Die Abgeordneten ermahnten ihre Mitbürger, diese Übergriffe zu verhindern, hinten denen man – in völliger Verkennung der Ursachen – »reaktionäre und jesuitische Umtriebe« und »Volksfeinde« vermutete, wohl um die angeblich »fehlgeleitete Landbevölkerung« nicht direkt verantwortlich zu machen.98 Der Bericht von Lorenz Brentano zum »Bruchsaler Judensturm« und zu den Ausschreitungen in Heidelsheim zeigt das völlige Unverständnis der bürgerlichen Liberalen für die Anliegen der unterbürgerlichen Schichten, wenn er einerseits behauptete, »daß nur die ganz niedere Volksklasse, der es freilich an Einsicht fehlt, und die nicht begreifen kann, welch’ große Dinge in der Welt vorgehen, an jenen pöbelhaften und bubenhaften Handlungen Theil hätte«,99 andererseits jedoch die These aufstellte, dass »diese Excesse nicht alle von dem Pöbel«, sondern »auch von anderer Seite, von Seiten einer volksfeindlichen und reactionären Parthei, der Parthei des im Finstern schleichenden Jesuitismus, diese Angriffe ausgingen«.100 Brentano spricht weiter davon, »wohlmeinende Bürger« hätten »die Männer genannt, die im Hintergrund standen und das Feuer schürten, das sie selbst angezündet hatten.«101 Die Menge habe sich dann auch unter dem  Mannheimer Abendzeitung, . März . Darin heißt es u. a.: »Mit tiefem Schmerz, welchen alle wahren Freunde der Volksfreiheit und des Vaterlandes theilen, vernehmen wir die Nachricht, daß die Tage, welche die Herzen aller wackeren Bürger mit hehrer Begeisterung erfüllen, […] entweiht werden wollten durch blinde Zerstörungswuth und Gefährdung der Personen und des Eigenthums unserer Mitbürger mosaischen Glaubens, daß das leuchtende Panier der Freiheit besudelt werden will durch schmähliche Excesse.«  Riff, Revolutionary Unrest of , S.  f.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Verhandlungen der zweiten Kammer, S. .  Ebd. Dieser Darstellung widersprach in der Landtagsdebatte der Abgeordnete Karl Mez, der zwar konzedierte, dass an manchen Orten die Reaktion oder der Jesuitismus die Judenverfolgung herbeigeführt hätten, doch kenne er Orte, »wo, wie ich mit großen Bedauern sagen muß, die freigesinnten Bürger derselben sich zu der schmachvollen Handlung der Judenverfolgungen hergaben«, an denen er den Juden wegen ihres Wuchers und Schachhandels eine Mitschuld zuschrieb (ebd., S. ). Der Abgeordnete Johann Georg Christian Kapp wies jedoch die Behauptung, »solche Gräueltaten seien eine Folge der Freiheit" zurück, vielmehr steckten hinter diesen und hinter der Passivitat des Bruchsaler Amtes reaktionäre Krafte, eine »Kamarilla«. Er sieht darin die Folgen des »Metternichianismus« (ebd., S. ).  Ebd., S.  f. Bei Brentano folgt dann eine heftige Kritik am Versagen der für die Sicherheit verantwortlichen örtlichen Amtsträger in Bruchsal und Heidelsheim (S. ), die aber vom Staatsrat Johann Baptist Bekk mit Verweis auf anderslautende Berichte der örtlichen Beamten etwas in Zweifel gezogen bzw. mit dem Verweis darauf, wie schwer es für die Beamten vor Ort sei, »das rechte Maß zu treffen«, relativiert wurde. Er verwies darauf, dass man in den Bezirken Sinsheim, Eppingen und Bretten, wo Exzesse vorgefallen waren, Militär stationiert und die »gutgesinnten Bürger« ermuntert habe, gegen die Frevler zusammenzuwirken (ebd., S. ).

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Ruf »jetzt wollen wir auch dem Judenkönig sein Eigenthum vernichten« gegen sein Haus gerichtet, doch sei es dann von einer Patrouille geschützt worden.102 Während Brentano hier eine Drahtzieher-Theorie entwirft und dem Bürgermeister Untätigkeit vorwirft, beschreibt ein anderer Abgeordneter, Rokk, der in Bruchsal selbst anwesend war, die Vorgänge gänzlich anders: Demnach hätten um halb sieben Uhr zunächst Kinder mit »Hepp, Hepp«-Rufen begonnen, was ein Polizeidiener dem Bürgermeister sofort gemeldet habe, so dass eine »gewisse Anzahl von Bürgermilitär in Thätigkeit gesetzt« und vor den bedrohten Häusern der Juden postiert habe. Nach Rokk habe sich dann eine größere Masse gesammelt »und im Augenblick waren die Fenster an etwa fünf Häusern eingeworfen und einige Möbel zertrümmert, ohne dass es dem Bürgermilitär möglich war, den Frevel abzuwehren«. Als sich zeigte, dass das Bürgermilitär nicht helfen konnte, ließ man Dragoner kommen. Rokk widerspricht damit der Darstellung Brentanos (der in Bruchsal nicht anwesend gewesen war), denn den Beamten treffe »kein gerechter Tadel, denn es ist nicht wahr, daß er auf die hier bezeichnete Weise sich benommen habe«, da er geglaubt habe, die Leute würden schon »auseinandergehen, ohne einen Unfug zu verüben«.103 In der Sitzung der Zweiten Kammer kam es über die einander widersprechenden Darstellungen Brentanos und Rokks zu den Vorgängen in Bruchsal zu einer weiteren kontroversen Diskussion zwischen einer Reihe von Abgeordneten,104 wobei neben Plädoyers für die Judenemanzipation etwas seitens Friedrich Heckers von anderen Abgeordneten teils auch Kritik am Schacher und Wucher der Juden geäußert und teils betont wurde, dass über die »Frage der Emancipation der Israeliten« im Lande eine Ansicht herrscht, »die sehr getheilt ist. […] Die Emancipation ist eine Frage, die in unserm Lande öffentlich verhandelt wird, wobei das Volk eine andere Stimmung an den Tag legen wird, als hier behauptet werden will. Ich erkläre offen, daß in unserem Lande die bei weitem größte Mehrheit des Volcks gegen die Emancipation ist«.105 Damit dürfte die Situation im Land und die aus den rechtlichen Verbesserungen der Rechtsstellung der Juden seitens der liberalen Politik, sowie der Ablehnung dieser Verbesserungen durch größere Teile der Bevölkerung entstandene Konfliktsituation zutreffend beschrieben sein.  Ebd., S. . Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , schreibt dazu kritisch: »Die Bourgeoisie spielt vox populi und unterschiebt die eigenen Interessen der Gesamtheit. Die Symptome dafür, dass die Unterschicht etwas anderes als das Bürgertum will, werden mit Proklamationen zugeschminkt«. Weitere Kritikpunkte siehe ebd., S.  f. Dies ist ein weiteres Beispiel für den Topos der von Angehörigen bestimmter Interessengruppen bloß angestifteten »einfachen Bevölkerung«.  Verhandlungen der Zweiten Kammer, S. . Brentano widersprach dieser Darstellung, was den ersten Abend anging, am nächsten Tag hätten sich die »Beamten dann in einer Weise benommen, daß sie alle die Anerkennung verdienen (ebd.). Der Abgeordnete Kapp warf den Bruchsaler Beamten »nicht blos einen Mangel an Fähigkeit, zu helfen, sondern auch Mangel an gutem Willen« vor (ebd.).  Ebd., S.   So die Abgeordneten Karl Mez bzw. Franz Joseph von Buß, Verhandlungen der Zweiten Kammer, S.  f.

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Die Abgeordneten Bassermann und Hecker forderten ihre Mitbürger auf, »solchen Angriffen gegen die Freiheit, das Eigenthum und die Person aus allen Kräften zu steuern und die schöne Bewegung für die Freiheit nicht durch Ausbrüche der Rohheit entweihen zu lassen«.106 In der Tat wurden in einigen Orten, genannt werden von der Zeitung beispielhaft Emmendingen107 und Mannheim, Juden durch die Bürger selbst bzw. die sich bildenden Bürgerwehren geschützt, doch versagten diese Wehren an vielen Orten oder wechselten gar selbst in die Rolle der Tumultuanten108 und es musste Militär zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt werden, was wegen der Stationierungskosten die jeweiligen Gemeinden teuer zu stehen kam und deshalb nicht gern gesehen wurde.109 Dass diese Vorgänge nicht ohne Wirkung auf die Politik blieben, zeigt sich in den Einschränkungen und Verzögerungen in der Gesetzgebung. Die AZJ konstatiert in einem Leitartikel »Wie steht es?« im April  enttäuscht, dass zwar jeder wisse und fühle, dass den Juden die Gleichstellung nicht verweigert werden könne, zumal die Opposition zuvor heftig dafür gekämpft habe, doch dass es dieser nun sehr unbequem sei, »in der Stunde des Sieges« diese Gleichstellung wirklich zu vollführen. Der Artikel geht dann die deutschen Staaten von Hamburg bis nach Süddeutschland durch und kommt zu dem negativen Ergebnis, dass die Gleichstellung nicht vorwärts rücke.110 Wie in vielen anderen Fällen hatte also auch hier die gewalttätige »Selbsthilfe« von Teilen der Bevölkerung die gewünschte Wirkung, die Gleichstellung der Juden zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Allerdings reagierte die Politik nicht nur zum Schaden der Juden, sondern der badische Innenminister ließ am . März ein Gesetz verabschieden, das die Gemeinden für alle von einer »zusammengerotteten Menge« ausgehenden Schäden verantwortlich machte, d. h., man musste die Opfer für ihren Schaden entschädigen und die Kosten für den Einsatz von Militär übernehmen.111 Es scheinen zudem im Fall der Unruhen in Heidelsheim doch viele der beteiligten Tumultuanten »mit ziemlicher Strafe« belegt worden zu sein, wie aus einem Schreiben des

 AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Der treue Zions-Wächter, Heft , .., berichtete über Emmendingen, dass sich dort Bürger ohne amtlichen Auftrag zusammengetan hätten, um Übergriffe gegen Juden zu verhindern.  In Peckelsheim (Kreis Warburg, Ostwestfalen) geschah es, dass ein Teil der zum Appell angetretenen sechshundert Landsturmmänner aus den umliegenden Ortschaften anschließend lärmend durch die Stadt zog, in jüdische Häuser eindrang, plünderte und die Einrichtung zerstörte, während die meisten Einwohner »ruhig und lachend« diesem Treiben zusahen und nur sehr wenige eingriffen (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  So berichtete die AZJ, die Stadt Bingen »büßt jetzt für den Frevel, die (sic) Einzelne aus ihrer Mitte an den dortigen Juden verübt haben«, da man dort ein Bataillon und einige höhere Staatsbeamte stationierte, die auch eine Reihe von Übeltätern verhafteten (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.  Stude, Geschichte der Bruchsaler Juden, S. ; Riff, Revolutionary Unrest of , S. .

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Rechtsanwalts der jüdischen Gemeinde hervorgeht.112 Ob die Unruhen aufgrund dieses Durchgreifens der Regierung in Baden zurückgingen oder ob es dafür andere Gründe gab, jedenfalls wurden ab April  keine weiteren Ausschreitungen mehr registriert. Von jüdischer Seite hielt man sich nicht mit Kritik an den Ausschreitungen zurück. In der Allgemeinen Zeitung des Judenthums häuften sich im März und April  kurze Artikel, in denen die Nachrichten von den »grausamen Judenverfolgungen in den verschiedenen Gegenden Deutschlands zur Schmach des neunzehnten Jahrhunderts« erklärt und beklagt wurden. Es wurde zugleich aber auch die positive Rolle der Presse hervorgehoben, die sich gegen diese Ausschreitungen gewandt habe.113 Stefan Rohrbacher resümiert für die jüdischen Landgemeinden Badens das Revolutionsjahr  als ein »Schreckensjahr«, wobei der Höhepunkt der Welle von Drohungen und Ausschreitungen im März und April lag, die aber noch länger fortwirkte.114 Am . Mai  verabschiedete die Zweite Kammer ein Emanzipationsgesetz, das den Juden als Staatsbürgern nun Zugang zu allen Zivil- und Militärstellen sicherte.115 Die Erste Kammer des Landtages nahm jedoch die Unruhen als ein deutliches politisches Warnsignal und verzögerte die Behandlung des von der Zweiten Kammer ja bereits verabschiedeten Gesetzentwurfs zur Gleichstellung der Konfessionen bis in den Februar , da man offenbar weitere Unruhen befürchtete, und so unterblieb aus demselben Grund auch weiterhin die ortsbürgerliche Gleichstellung, der eigentliche Zankapfel in Baden, die die Juden erst  erreichen sollten.116 Auch nach Wiederherstellung der Ruhe waren christliche Ortsbürger vielerorts nicht bereit, den erpressten Verzicht der Juden auf den Bürgernutzen rückgängig zu machen, so dass sich darüber langwierige Streitigkeiten entspannen. Die Regierungen der Nachbarstaaten Württemberg und Bayern waren sehr besorgt, dass die Unruhen sich auf ihre Gebiete ausbreiten könnten. Sie verlegten Truppen in diese Regionen und waren recht erfolgreich, ein Übergreifen zu verhindern.117 So waren von den vielen im Königreich Württemberg gelegenen jüdischen Gemeinden nur relativ wenige von Ausschreitungen im März und April  betroffen, so Orte im Taubergrund wie Markelsheim, Weikersheim und Wachbach,118 sowie in Oedheim nahe Heilbronn119 und Baisingen im Schwarzwaldkreis, das       

Stude, Geschichte der Bruchsaler Juden, S. . AZJ, Jg. , Heft , .. , S. ; Heft , .., S. . Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Stude, Geschichte der Bruchsaler Juden, S. . Rürup, Die Judenemanzipation in Baden, S.  ff. Riff, Revolutionary Unrest of , S. . Hier handelte es sich nicht um ein Pogrom, sondern um einen Raubüberfall von dreißig bis vierzig mit Prügeln bewaffneten Personen mit geschwärzten Gesichtern auf einen Juden, über den das Gerücht ging, er habe eine große Geldsumme im Hause (Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. ).  Angerbauer/Frank, Jüdische Gemeinden im Kreis Heilbronn, S. . Die AZJ, .., korrigierte eine frühere Darstellung vom Mai , wonach es in Mergentheim zu antijü-

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wiederholt von heftigen Ausschreitungen betroffen war. Noch im Juli  kam es in Hochberg bei Ludwigsburg im Zuge der Holzablösung zu Unruhen gegen Juden, aber auch gegen den Bürgermeister. Die Verantwortlichen hatten in einigen anderen Fällen (wie in Lehren) Militär ins Dorf verlegt und an anderen Orten (Neuhaus) hart durchgegriffen.120 Es gab in Württemberg auch Angriffe auf Amtspersonen wie Stadträte, Amtmänner und Schultheißen, so in Wildberg, Altensteig und Nagold. Für die antijüdischen Ausschreitungen in Baisingen liegt mit der Megillat Baisingen eine zeitgenössische Quelle vor, in der diese aus Sicht der betroffenen Juden detailliert beschrieben werden. Sie soll deshalb ausführlicher zur Sprache kommen:121 – Es hatte Wochen vor Ausbruch der Gewalt in Baisingen das Gerücht gegeben, dass »die christlichen Einwohner benachbarter Dörfer uns überfallen, berauben und misshandeln wollen«. Es waren dann aber in der Nacht zum . März einheimische Christen, die in zehn Häusern von Juden Scheiben einschlugen, wobei die Nachtwächter zusahen und sogar mittaten. Am nächsten Tag spazierten sieben »ledige Burschen aus dem nahen Dorfe Vollmaringen« mit Beilen und Messern in die Haushöfe der Juden und drohten, sie in der kommenden Nacht mit Verstärkung anzugreifen. Die christlichen Nachbarn schritten nicht dagegen ein. Der Vorsteher der jüdischen Gemeinde wandte sich um Schutz an den Pfarrer und den Schultheiß, die beschlossen, die gesamte christliche Gemeinde des Ortes bewaffnet zur Abwehr eines Angriffs von außen zu mobilisieren. Einige der bereits sehr verängstigten Juden flohen unter Mitnahme ihrer »Gelder, Preziosen und Wertpapiere« jedoch in benachbarte Orte, und auch diejenigen, die im Ort blieben, »flüchteten sich und ihre werteste [sic] Sachen in christliche Häuser des Ortes, denen sie vertrauten«. In dieser Nacht blieb es aber ruhig. Vom nächsten Tag an bezahlten die Juden über längere Zeit christliche Einwohner für einen Wachdienst, an dem sich immer auch einige Juden beteiligten. Da es ruhig blieb, meinte man, auf die Wachen verzichten zu können, die nur bis Ende Pessach weiterbestehen sollten. Nachdem sich die Ortsbürger für den Schutz ihrer Juden engagiert hatten, kam es über einen Monat später, am . April , zu einer erstaunlichen Wende, da nun ungefähr vierzig christliche Einwohner des Ortes, die als teils verheiratet, teils ledig beschrieben werden (d. h., es beteiligten sich dischen Unruhen gekommen sei. Dies sei unzutreffend, vielmehr habe eine rohe Odenwälder Bande die Auslieferung der aus dem badischen Unterschüpf nach Mergentheim geflohenen Juden gefordert, was die Behörden natürlich abgelehnt hätten.  Siehe Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. -; Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S.  ff.  Gilam, Die historische Bedeutung der Megillat Baisingen, hier S. -; eine andere Version findet sich bei Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , demnach hätten sich, motiviert durch Gerüchte über Judenverfolgungen im Elsass, junge Burschen in einem Lokal in Vollmaringen getroffen, um »dort auf den Gewinn über eine Judenverfolgung tüchtig zu zechen. In diesem Zustand stürmten sie die Judenhäuser. Mehrere Männer und  Burschen aus Baisingen saßen den Sommer über im Gefängnis«.

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nicht nur junge Burschen), begannen, zunächst die christlichen und jüdischen Wachen zu verjagen, um dann »in den meisten Häusern der Juden die Türen einzuschlagen und die Läden der Fenster zu erbrechen«. Die Tumultuanten werden als schwer bewaffnet beschrieben (mit schweren Steinen, Prügeln und Äxten). Sie warfen Steine durch die zerschlagenen Fenster und riefen »Geld oder Tod!« Sie drangen aber nur in ein Haus ein, in dem sie vieles zerstörten. Die Frau des Hauses und ihre Tochter flohen, die Tochter wurde aber eingeholt, »arg geschlagen und gefährlich verwundet«. Als die Menge dann in ein weiteres Haus eindringen wollte, warf dessen Bewohner, Wolf Kiefe, ihr  Gulden aus dem Fenster zu, damit sie von ihm ablassen sollte. Doch hatte dies den Effekt, dass man nun noch mehr bei ihm vermutete und schwere Steine in das Haus warf, von denen seine Frau lebensgefährlich am Kopf verletzt wurde. Auch in der Synagoge wurden die Fenster eingeschlagen und Steine ins Innere geworfen. Das Haus des jüdischen Gemeindevorstehers wurde ebenfalls attackiert, dieser konnte aber mit seiner Familie durch die Hintertür entkommen und in einen Nachbarort fliehen. Der Gemeindevorsteher hatte aber zuvor seine jüdische Magd zum Schultheiß geschickt, der auch zusammen mit einigen Bürgern erschien, woraufhin die »Krawaller« entflohen.122 Die Juden kamen nun mit Äxten, Hämmern, Beilen usw. bewaffnet aus ihren Häusern und blieben auf der Straße zusammen, um weitere Angriffe abzuwehren, doch es blieb ruhig. Die Juden blieben nun nicht untätig, sondern forderten bereits am nächsten Morgen den Schultheiß auf, in einem Schreiben an das königliche Oberamtsgericht die Vorgänge der Nacht zu schildern, was dieser auch tat. Zwei Juden wurden mit demselben Anliegen direkt zum Gericht geschickt, das drei Landjäger und einen Vertreter des Gerichts nach Baisingen entsandte. Die Juden wollten es dabei aber nicht belassen, und zwei weitere Männer begaben sich nach Stuttgart, um »möglichst durch die höchsten Männer im Staate, möglichst für künftig unsere Ruhe zu sichern«. Es wurde auch umgehend eine gerichtliche Untersuchung eingeleitet, und bereits am folgenden Tag wurden zwei Verdächtige verhaftet und ins Gefängnis nach Horb verbracht, was für Unmut im Ort sorgte. Frauen »maulten darüber, dass das Gericht wegen der Juden ihre Leute zur Verantwortung ziehen wollte«, während »christliche Männer drohende Reden hören« ließen, »daß die Haare der Unsrigen zu Berge stiegen«. In dieser Situation schickten die Juden Frauen und Kinder in die Nachbarorte und sammelten sich heimlich bewaffnet in einem ihrer Häuser, doch kam es zu keinen weiteren Ausschreitungen. Insgesamt wurden  Personen inhaftiert, von denen einige schnell wieder entlassen wurden, andere aber erst nach mehreren Monaten, nachdem die Untersuchung abgeschlossen und eine Bürgschaft geleistet worden war. Über die verhängten Strafen erfährt man in der Quelle allerdings nichts. – Wie andernorts auch wurde in Baisingen die Judenschaft auf das Rathaus bestellt, um »für alle Zeit freiwillig auf Bürgerecht und gemeindebürgerlichen  Ebd., S. -.

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Nutzen« zu verzichten. Sie sollten zudem erklären, dass es ihr Wunsch sei, die zwei Inhaftierten aus der Haft zu entlassen und »alle Untersuchung wegen der Begebenheiten in der Nacht auf den . April niederzuschlagen« – sonst seien sie ihres Lebens nicht mehr sicher. Die Baisinger Juden wussten sich auch hier zu wehren, schickten einen Rabbiner nach Horb, der von den dortigen Beamten die Auskunft erhielt, sie könnten die gewünschte Erklärung ruhig unterschreiben, da diese noch von höheren Behörden genehmigt werden müsse, was nicht geschehen werde. Das königliche Oberamtsgericht war bereits vom Ministerium angewiesen worden, »keinen Zwang gegen die Juden zu dulden, die gesamt christliche Gemeinde verbindlich zu machen für den Schutz der Juden und deren Habe«. Ansonsten werde man zum Schutz Militär einquartieren. Der Text weist zudem noch darauf hin, dass das Verhalten der christlichen Einwohner Baisingens von den Protestanten wie Katholiken der Umgebung »sehr getadelt« wurde.«123 Die Juden stellten in Baisingen (mit  Personen im Jahre ) einen hohen Bevölkerungsanteil, und die Tatsache, dass sie Geld, Edelsteine, Schuldscheine usw. besaßen und einer von ihnen  Gulden zu seinem Schutz aus dem Fenster werfen konnte, spricht für wirtschaftlichen Wohlstand, zumal man auch über Wochen die Kosten für christliche Wachmänner aufbringen konnte. Dies machte vor allem die wohlhabenden Juden für ihre weniger wohlhabenden christlichen Mitbürger, wie der Ruf »Geld oder Tod!« zeigt, zu einem lohnenden Ziel, um Geld zu erpressen.124 Ihr Vorgehen, nämlich sich sehr energisch an den Pfarrer und den Bürgermeister, das Oberamtsgericht und sogar an die höheren Behörden in Stuttgart zu wenden, spricht für ein großes Selbstbewusstsein der Baisinger jüdischen Elite, die sich zu wehren wusste. Das Beispiel zeigt wiederum aber sehr klar, dass eine solche Gegenwehr und das Hilfeersuchen bei staatlichen Organen ein zweischneidiges Verhalten waren, da dadurch einerseits Täter abgeschreckt und bestraft werden konnten, sich andererseits aber die Kluft zwischen jüdischen und christlichen Einwohnern vertiefte bis hin zu erneuten Gewaltandrohungen und sich auch eine negative Haltung gegenüber der staatlichen Politik einstellen konnte.125 Wie die Unterscheidung von »den Unsrigen« zu den christlichen Baisingern zeigt, existierte einerseits eine klare ethnisch-religiöse Differenz, andererseits waren Teile der christlichen Ortsbürger ja bereit, ihre Juden gegen Angriffe von außen zu schützen. Gilam weist auf die Am Ebd., S.  f.  Gilam, Die historische Bedeutung der Megillat Baisingen, hier S. , schreibt, dass die deutschen Landjuden als eine Art »Mittelklassensegment« anscheinend weniger stark von der wirtschaftlichen Depression der er Jahre betroffen waren als die bäuerliche Bevölkerung (S. ).  Bei Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , findet sich der Hinweis, dass der lange Gefängnisaufenthalt der verhafteten Baisinger Täter »den Keil zwischen beiden Gruppen noch tiefer getrieben habe. Auf längere Zeit hat es schlimme Feindschaften gegeben,  wurde eine Bruderschaft vom guten Tod errichtet, die versöhnend wirken sollte.« Jeggle bezieht sich dabei auf: August Hagen, Die Geschichte der Diözese Rottenburg, . Bd., Stuttgart , S. .

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bivalenz der christlich-jüdischen Beziehungen auf den Dörfern hin, da ein freundlicher Umgang im Alltagsleben – so boten christliche Nachbarn Juden Schutz vor der drohenden Gewalt – zusammengehen konnte mit einer antijüdischen Einstellung, die er als eine Folge des Neides auf die bessergestellten Juden ansieht. »Hassausbrüche wie der vom April  kamen nicht täglich vor, nicht einmal häufig«.126 Die aufgeheizte revolutionäre Situation im Frühjahr  konnte zu einem solchen Ausbruch führen. Auch in Bayern stellte die Proklamation des bayrischen Königs vom . März  die Vorlage eines Gesetzentwurfs über die »Verbesserung der bürgerlichen Verhältnisse des Israeliten« in Aussicht.127 Eckstein schildert aus jüdischer Sicht, wie sehr der Märzsturm des Jahres  und die Proklamation des bayrischen Königs unter den bayrischen Juden Freude und Hoffnung ausgelöst hätten.128 Diese erhielt jedoch einen Dämpfer durch die »antisemitischen Ausschreitungen, mit denen gegen Mitte März das Fest der jungen Volksfreiheit in Städten und Dörfern Oberfrankens gefeiert wurde. ›Staatsdienste wollt Ihr haben?‹ rief der Pöbel, ›tot müsst Ihr geschlagen werden!‹ Kein Wunder, dass die Landjuden sagten: ›Gar nichts wollen wir haben !‹«129 Im Kontext der Debatte um das neue Emanzipationsgesetz für die Juden /, das von der Kammer der Abgeordneten positiv beraten wurde, aber auf starken Widerstand in den Orten mit jüdischen Gemeinden stieß, warnte im Dezember  eine große Zahl von Berichten aus diesen Orten, die über die Stimmungslage Auskunft gaben, dass es Agitation und Gewalt gegen die Juden geben könnte, wenn das Gesetz durchkäme. Es wird von der Androhung berichtet, man werde zur Selbsthilfe greifen und mit Gewalt gegen Juden vorgehen, andere warnten vor einem »gefährlichen Aufstand des Volkes« oder sogar vor einer Austreibung oder gar Ermordung der Juden (z. B. aus Gerolsheim, Hammelburg, Karlstadt, Marktheidenfeld,  Gilam, Die historische Bedeutung der Megillat Baisingen, S.  f.; auch Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. , spricht davon, dass es »neben der Tradition des Hasses und der Verachtung« in den Judendörfern seit der »Aufklärung auch eine Tradition der Toleranz und Achtung« gab, wobei es schnell zu einem Stimmungsumschwung kommen konnte (ebd., S. ).  Eckstein, Der Kampf der Juden.  Ebd.  Eckstein berichtet von der gänzlich anders gearteten Reaktion der jüdischen Stadtbevölkerung, die die Chance des Augenblicks ergriff, um sich mit ihren Wünschen nach Emanzipation Gehör zu verschaffen, und er zitiert einen Aufruf der Kultusgemeinde Bamberg vom . März , in dem diese vom König nicht nur eine teilweise Verbesserung, sondern die volle Gleichstellung verlangte, eine Forderung, mit der sie sich einig sah mit den christlichen Mitbürgern (ebd., S.  f.). Tatsächlich hatten die Magistrate der großen bayrischen Städte mit jüdischen Gemeinden wie München, Bamberg, Nürnberg, Würzburg etc. die Wünsche der Juden mit Adressen an den König unterstützt, während der Magistrat von Fürth eine solche ablehnte mit der Begründung, dies sei der falsche Zeitpunkt. Am . März folgte die Fürther Gemeinde mit einer ähnlichen Petition (S.  ff.).

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Neustadt/Saale).130 Doch blieb die Lage / erstaunlich ruhig. Der Leiter des lokalen Büros des Innenministers in Unterfranken, der diese Berichte angefordert hatte, schrieb in seinem zusammenfassenden Bericht nach München am . Dezember , dass es »Störungen der öffentlichen Ordnung und einzelne isolierte Ausbrüche von Hass geben könne, dass aber in Richtung einer Revolution nichts zu befürchten sei«.131 Die leidenschaftlich geführten Beratungen über die unbedingte Emanzipation der Juden brachten die »Judenfrage« im Dezember  wieder auf die politische Tagesordnung Bayerns, was vor allem bei den »Ultramontanen« und in den katholischen »Piusvereinen« zu scharfen antijüdischen Reaktionen führte. Zwar stimmten Regierung und Zweite Kammer dem Emanzipationsgesetz zu, doch enthielt dieses eine wichtige Einschränkung, da zwar die staatsbürgerlichen Rechte in vollem Umfang gewährt werden sollten, nicht aber die bürgerlich-gemeindlichen Rechte (Ansässigmachung, Verehelichung), deren Vollzug derzeit noch von der Zustimmung der christlichen Gemeinden abhängig blieb (bis zu einem entsprechenden Beschluss der Kammer), doch leistete die Reichsratskammer Widerstand gegen das Gesetz.132 Die Judenemanzipation bildete »das Tagesgespräch«, und die konservativen katholischen Zeitungen, die Geistlichkeit sowie die Piusvereine kämpften gegen das Gesetz, beschimpften die Abgeordneten, die für das Gesetz gestimmt hatten, und rieten ihnen, sich in Altbayern nicht auf dem Lande sehen zu lassen. Sie drohten mit Judenverfolgungen und riefen zu einem »Adressensturm« gegen das Gesetz an die Reichsratskammer auf.133 Tatsächlich gingen mehrere hundert Protestadressen vor allem aus Nieder- und Oberbayern ein (wo kaum Juden wohnten), die aus über tausend Gemeinden stammten und von über . Personen bzw. teilweise auch nur von den Gemeindeverwaltungen unterschrieben waren.134 Diese Schreiben, die die »gröblichsten Beleidigungen gegen die Zweite Kammer wie das Ministerium« enthielten, stammten aus allen Teilen Bayerns mit Ausnahme der Pfalz, und nur wenige Zuschriften aus Franken. In München soll sogar der König Maximilian II. in einem Anschlag an der Theatinerkirche als »König der Juden« apostrophiert worden sein. Die AZJ vermutet, dass hier die »ultramontane Partei« gegen die Emanzipation mobilmachte, da aus protestantischen Gegenden sowie den größeren Städten überhaupt keine Protestschreiben eingegangen seien.135 Aus Würzburg wurde gemeldet, dass sich gegen das dort zirkulierende Protestschreiben gegen die Judenemanzipation Widerstand von Seiten liberaler Vereine (Märzverein,  James F. Harris, The People Speak! Anti-Semitism and Emancipation in Nineteenth Century Bavaria, Ann Arbor , S. .  Ebd., S.  f.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. -; die AZJ spricht wegen der Einschränkungen von einer »halben Emanzipation« (S. ).  Ebd.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; dann fortlaufend in jedem Heft mit immer höheren Zahlenangaben: AZJ, Heft , .., S. ; Heft , .., S.  f. Im Februar wird die Zahl von  gemeldet: AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

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Arbeiterbildungsverein, Turnverein und politischem Klub) regte.136 Tatsächlich beugte sich die Kammer der Reichsräte diesem öffentlichen Druck und verwarf den Gesetzentwurf über die staatsbürgerlichen und bürgerlichen Rechte der Juden mit großer Mehrheit. Somit blieb die Frage der Stellung der Juden im bayrischen Staat weiterhin offen. Die AZJ vermutet als Grund nicht nur den Druck aus der Bevölkerung, sondern auch, dass man auf diese Weise die »Märzerrungenschaften« der Revolution wieder revidieren bzw. nicht einlösen wollte.137 Viele wohlhabende jüdische Familien beschlossen deshalb, Bayern zu verlassen. Auch in diesem Fall erwiesen sich schon die Petitionen und die Androhung von Gewalt gegen Juden sowie die zahlreichen Ausschreitungen im März und April  als ein äußerst wirksames Mittel, weitere Verbesserungen der Rechtsstellung der Juden zu verhindern bzw. zu verzögern, wobei der örtliche Widerstand primär darauf abzielte, die Verleihung von Ortsbürgerrechten an die Juden zu blockieren, d. h., die Abwehr war in erster Linie durch die Konkurrenz um knappe Güter und weniger durch Judenhass oder gar durch eine in Schriften verbreitete judenfeindliche Ideologie motiviert. »Lärmende Auftritte gegen die Juden« in Hessen  Die Ausschreitungen, die im nordbadischen Raum und im hessischen Odenwald begonnen und exzessive Ausmaße angenommen hatten, breiteten sich noch im März ins Großherzogtum Hessen aus, wo es unter anderem in Alzey zu »großen Exzessen« kam, die sich vor allem, aber nicht ausschließlich gegen Juden richteten.138 Noch Mitte April gab es einen mehrere Tage andauernden Tumult in Bingen, wo es zu »schreiendsten Gewaltszenen« vor allem gegen die jüdische Bevölkerung gekommen sein soll. Als Träger der Unruhen werden »Landleute«, aber häufig auch »zusammengerottetes Gesindel« benannt.139 Doch erreichten sie im Großherzogtum Hessen nicht die Verbreitung und Intensität wie in Baden. Seit Mitte März begann in den niederhessischen Landkreisen eine Kette von Krawallen, die sich vor allem gegen missliebige Beamte, Adlige und Gutsherren  AZJ, Jg. , Heft , ... S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  ff.  Preissler, Frühantisemitismus, S. . Während Preissler die Berichte über »grobe Exzesse« in Alzey und einigen anderen Orten des Großherzogtums Hessen(-Darmstadt) dahingehend interpretiert, dass die Ziele »wohl in der Hauptsache Juden« gewesen seien, sieht Hoffmann, »… wir sind doch Deutsche«, S. , dafür keinen Beleg.  Preissler, Frühantisemitismus, S. . In Bingen sollen nach Briefen des französischen Konsuls Engelhardt Aufständische am . April Juden in ihren Häusern erpresst haben. Zwei Personen wurden verhaftet, aber auf Druck der Menge wieder freigelassen. Die Gendarmen sahen tatenlos zu. Die »Anarchie« dauerte zwei Wochen, bis die Armee am . Mai einschritt. Zit. nach Florian Ferrebeuf, Der Beginn der Revolution von  in Mainz aus der Sicht eines ausländischen Diplomaten, des französischen Konsuls Engelhardt, www.demokratiegeschichte.eu/…/Der_Beginn der_Revolution_in_Mainz_Florian_Ferrebeuf. pdf. S. .

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sowie gegen die ansässigen Juden richteten, etwa in Eschwege und Herleshausen. Das Gewaltniveau ging aber über das Einschlagen von Fensterscheiben und verbale Angriffe kaum hinaus.140 Über Unruhen gegen Beamte und Juden in hessischen Landstädten und Dörfern, etwa in Hofgeismar, Melsungen, Rotenburg und Breitenbach, berichtete die AZJ noch für Anfang Mai .141 Zu Unruhen kam es auch in Alsfeld am . März und in Gießen am . März.142 Rotenburg a. d. Fulda: Schauplatz antijüdischer Exzesse In Rotenburg begannen die Unruhen bereits Mitte März . Über mehrere Monate kam es dort zu abendlichen Angriffen auf die Wohnungen von Juden, die mit Äxten attackiert, deren Einrichtungen zerstört oder auch geplündert wurden.143 Im Folgenden soll die über Dokumente sehr gut rekonstruierbare Entwicklung in Rotenburg etwas detaillierter nachgezeichnet werden, da für diesen Fall eine detaillierte Untersuchung vorliegt.144 Der Kreis Rotenburg war gleich mehrfach durch die wirtschaftliche Misere betroffen. Sowohl die Leineweberei als auch der Bergbau der Gegend waren unrentabel geworden, und die Folge von Missernten seit  verschärfte die Lage weiter. Die Stadt hatte zudem durch den Wegzug hoher Justiz- und Hofbehörden starke Einbußen erlitten, während, durch den Hof angezogen, die Zahl der jüdischen Einwohner in und um Rotenburg besonders hoch lag.145 Es ist kein Zufall,  Heinrich Nuhn, Jiskor – Gedenke. Beiträge zur Geschichte der Rotenburger Juden, Rotenburg a. d. Fulda , S. -, S. .  AZJ, . Jg., Heft , .., S. .  Zu Alsfeld und Gießen siehe Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  f.  Der treue Zionswächter berichtete aus Rotenburg a. d. Fulda sogar noch Ende Juni  von heftigen antijüdischen Unruhen mit Misshandlungen, Plünderungen und Verwüstungen, die nur durch ein großes Aufgebot von dreihundert Schützen beendet werden konnten. Obwohl einige Tumultuanten verhaftet und nach Kassel gebracht worden waren und entsprechende polizeiliche Ermittlungen stattfanden, beruhigte sich die Lage in Rotenburg bis in den Oktober hinein nicht gänzlich. Jüdische Familien flohen mit ihren Habseligkeiten nach Kassel (Heft  vom .., S. ). Diese von  bis  erscheinende Zeitung gab ihre Ausrichtung im Untertitel zu erkennen: »Organ zur Wahrung der Interessen des orthodoxen Judenthums«.  Die folgende Darstellung stützt sich auf die sehr gute historische Auf bereitung mit entsprechenden Dokumenten: Rotenburg in der Revolution . Schauplatz antijüdischer Exzesse, Multimedia CD, AG Spurensuche der Jakob-Grimm-Schule, Rotenburg a. d. Fulda ; als Textausgabe auch publiziert in: Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. -.  Ebd. Am . Mai sandte der Rotenburger Stadtrat Hein eine »Petition der Stadt Rotenburg zum Abhelfen ihres Nothstandes gestellten Desideriums« an den Landtagsdeputierten, Herrn Oberzunftmeister Nebelthau zu Kassel, Quelle: Staatsarchiv Marburg, Bestand , Rotenburg, Nr. . In diesem Schreiben beklagt Hein einerseits den Fortzug bzw. die Verkleinerung zahlreicher Behörden am Ort und weist auf die hohe Abwanderung hin, fordert aber ferner gesetzlichen Schutz gegen das »wucherische betrügliche Treiben der Juden«, das durch das Emanzipationsgesetz von  noch begünstigt werde. Die Konkurrenz um knappe Stellen in der Justiz zeigte sich in der Ablehnung,

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dass gerade die östlichen Kreise der Landgrafschaft Hessen, zu denen auch der Kreis Rotenburg gehörte, besonders hohe Auswandererzahlen (fast ein Drittel der kurhessischen Auswanderer) stellten, von denen zwei Drittel ohne jedes Vermögen die Reise antraten. Aufgrund der wirtschaftlichen Notlage mussten sich viele Einwohner verschulden und Kredite bei einem der zahlreichen jüdischen Geldverleiher aufnehmen. Wenn eine Rückzahlung nicht möglich war, wurde so manchen ihre Habe von den Gläubigern, darunter nicht selten Juden, gepfändet. So erschienen Letztere vielen als die eigentliche Ursache ihres Unglücks, zumal es den meisten jüdischen Waren- und Geldhändlern wirtschaftlich besser ging als den Angehörigen der überbesetzten Handwerksberufe und den arbeitslos gewordenen Arbeitern der Gegend. Das soziale Elend der Einwohner Rotenburgs sowie die deutlich von der Mehrheitsbevölkerung abweichende Berufsstruktur der zahlenmäßig recht großen jüdischen Bevölkerung (  in den Handelsberufen gegenüber   unter den Christen; bei einem Anteil von   an der gesamten Erwerbsbevölkerung lag der Anteil der Juden unter den Handelsberufen bei  ),146 wird bereits von den Zeitgenossen als ein Grund für die besonders heftigen und lang anhaltenden antijüdischen Ausschreitungen in Rotenburg angeführt. In einer Petition zur Ständeversammlung vom . Juni  war die hohe Zahl der Juden in Rotenburg ein Beschwerdepunkt, auch dass sie sich trotz der Gewerbefreiheit weiterhin fast gänzlich dem Handel widmeten und damit die Erwartung auch vieler Emanzipationsbefürworter enttäuschten, Juden würden bei freier Berufswahl nun auch andere Berufe ergreifen und den Handel aufgeben. D. h., neben der Gewalt wurden, wie in vielen anderen Fällen, auch andere Formen genutzt, um vom Staat angesichts einer als Missstand angesehenen Lage Abhilfe zu fordern. In Rotenburg begannen die Unruhen am . März  und spitzten sich am . und . erstmals zu, als mehrere jüdische Geschäftshäuser und Wohnungen attackiert wurden. Diese Aktion hatte sich aus einem zunächst friedlichen Ständchen der Bürgergarde entwickelt, das sie den im örtlichen Gasthaus logierenden Deputierten einiger Nachbarorte bei ihrer Rückkehr von einer Versammlung in Kassel dargebracht hatten. Nach der Weiterreise der Deputierten suchte sich die Menge offenbar ein neues Ziel in den jüdischen Geschäften und Wohnungen. Wie der Bericht des Kreisamtes Rotenburg (»Anzeige des Israeliten Baruch Flörsheim betr.«) an die Kurfürstliche Polizeydirection der Provinz Niederhessen zu Kassel vom . März zeigt, wurde dieses Ereignis weder polizeilich noch gerichtlich verfolgt, aber die Bürgergarde wurde zum Schutz aufgeboten. Am . März berichtete der Landrat, die der jüdische Advokat Berlein durch Kollegen am Ort erfuhr, die in seiner Bestellung nach Rotenburg eine »Beeinträchtigung ihres Einkommens« sahen. Man wollte ihn vom dortigen Obergericht fernhalten. Vgl. dessen Brief an das Kurfürstl. Justizministerium vom . Mai , Quelle: Staatsarchiv Marburg, Bestand /Justizministerium, Nr. .  Ebd. zit. zwei Statistiken zu: Berufsgruppen der jüdischen Bevölkerung, Anteil der Berufsgruppen an der (männlichen) Bevölkerung in Rotenburg , Quelle: Staatsarchiv Marburg –  LA Rotenburg).

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dass Ruhe und Ordnung wiederhergestellt seien, auch wenn sich nicht jede Gewalttätigkeit gegen die Juden unterbinden lasse. Diese »Aufregung«, die sich »lediglich gegen die Juden richte«, werde sich bald wieder legen, meinte der Landrat. Damit wollte er offenbar die Befürchtungen der Regierung in Kassel zerstreuen, es könnte sich um staatsfeindliche Aktivitäten handeln. Dass es mit der Ruhe nicht so weit her gewesen sein kann, belegt ein Beschwerdebrief des Kaufmanns David Linz vom . März , laut dem sich seit  Tagen die »lärmenden Auftritte gegen die Juden« wiederholten, es wurden im Ort Plakate aufgehängt, auf denen die Juden aufgefordert wurden, Rotenburg binnen vier Wochen zu verlassen, andernfalls werde man sie ins Wasser werfen.147 Linz beklagte zudem die Passivität der Bürgergarde und die Tatsache, dass das Gericht genötigt wurde, die Ruhestörer wieder freizulassen. Diese Einschätzung wird von einer militärischen »Meldung« vom . April bestätigt.148 Demnach sei es in den Orten des Kreises Rotenburg ruhig, jedoch nicht in der Stadt selbst, wo »jedermann überzeugt sei, dass die früheren Störungen der öffentlichen Ordnung, die verübten Gewalttaten alsbald wieder beginnen würden, wenn das Militär abmarschierte.« Der Schreiber sieht eine Ursache zwar auch im »Wucher eines Teils der jüdischen Bevölkerung« begründet, doch ist für ihn der tiefere Grund die »moralische Gesunkenheit eines großen Teils des Mittelstandes der hiesigen Bürger«. Die Bürgergarde schätzte er ebenfalls als völlig unzuverlässig ein und plädierte dafür, weiterhin Militär in Kompaniestärke am Ort zu belassen. Dass es auch trotz des Militärs in Rotenburg weiter zu Übergriffen kam, belegen Beschwerden der Manufakturenhändler Leyser Linz und Geisel Birnbaum in Kassel am . Mai , wonach ihre Häuser seit sieben Wochen immer wieder angegriffen würden und sie sich kaum noch aus dem Hause wagten. Beide baten um Hilfe von außen, da die Bürgergarde nicht in der Lage sei, die Juden zu schützen.149 Darauf reagierte das Kurfürstliche Ministerium am . Mai mit einem Erlass, der offenbar für einige Wochen die Lage beruhigte, bevor es ab dem . Juni wieder zu fast täglichen Exzessen gegen das Eigentum der Juden kam, die allerdings von wenigen Personen zumeist mitten in der Nacht verübt wurden, so dass die Täter nicht gefasst werden konnten. Der Bericht des Regierungsassessors Mittler, Landratsstellvertreter in Rotenburg, belegt, dass sich die Menge mit Katzenmusiken auch an den örtlichen Justizbeamten Weber (als »Judenfreund«) und einen »sonst sehr populären Kaufmann« wendete. Als die Verhaftung einiger Täter  Ob sich eine solche Aktion gegen einen jüdischen Einwohner tatsächlich ereignet hat oder aber eine Legende ist, lässt sich nicht mehr klären, doch wird eine solche Begebenheit im Volksmund in einer Geschichte tradiert, wonach dieser aus seiner Wohnung gezerrt, durch den Ort getrieben und schließlich in einen Teich geworfen worden sei, aus dem es sich aber habe retten können.  Ebd.: »Alleruntertänigste Meldung von der mobilen Colonne im Kreis Rotenburg«, Quelle: Staatsarchiv Marburg, Bestand / Militärkabinett, Nr.  (abgedruckt in: Nuhn, Jiskor – Gedenke).  Quelle: Staatsarchiv Marburg, Bestand , Landratsamt Rotenburg, Nr.  (abgedruckt in: Nuhn, Jiskor – Gedenke).

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gelang, darunter ein angesehener Drechslermeister, sorgte dies in der Stadt für große Empörung, und die Menge versuchte am . Juni trotz der Anwesenheit von Militär, das Fortschaffen der Inhaftierten nach Kassel gewaltsam zu verhindern.150 Bei Anbruch der Nacht vom . zum . Juni  eskalierten die Ausschreitungen.  bis  Menschen, d. h. der größere Teil der männlichen Einwohnerschaft, zogen durch die Stadt und demolierten fast sämtliche Häuser der Juden, rotteten sich aber auch mit Protestgeschrei (»der Hund soll heraus !«) und Steinwürfen vor dem Haus eines Justizbeamten zusammen. Der Amtmann Weber befürchtete eine Wiederholung für die kommende Nacht.151 Daran wird erkennbar, dass die Obrigkeit sich selbst durch ihren Schutz der Juden unbeliebt machte, keinerlei Unterstützung von Seiten der Bürgerschaft erwarten konnte und sogar mit deren offenem Widerstand rechnen musste, da die Mehrheit der Bürger die »gewalttätige Selbsthilfe« offensichtlich als legitim empfand. Selbst der örtliche Bürgermeister verhielt sich passiv, und fast alle Mitglieder der Bürgergarde erschienen nicht zum Dienst, da sie sich durch den »Judenschutz« selbst den Zorn der Mitbürger zugezogen hatten.152 Dies verdeutlicht die prekäre Situation einheimischer Amtsträger, da Bürgergarde wie Bürgermeister sich gegen ihre eigenen Mitbürger stellen mussten, obwohl sie sicher oft deren Anliegen teilten und von deren Legitimität überzeugt waren. Da sie weiterhin geachteter Teil der Gemeinde bleiben wollten, wählten sie den Ausweg der Passivität, wenn sie nicht sogar, wie es in nicht wenigen Fällen geschah, die Seiten wechselten, um nicht selbst zum Ziel der Angriffe ihrer Mitbürger zu werden. Die Juden besaßen deshalb nicht zu Unrecht wenig Vertrauen in die einheimischen Ordnungskräfte und setzten auf militärischen Schutz von außen, wobei sogar das Militär bei Verhaftungen mit Gegenwehr bzw. der Befreiung der Festgenommenen rechnen musste. So gab Baruch Flörsheim, der nach Kassel geflohen war, am . Juni im Innenministerium entsprechend über die Lage in Rotenburg zu Protokoll, dass der Amtmann ihm keinen Schutz mehr gewährleisten könne und die Bürgergarde trotz Alarmschlagens nicht angetreten sei und den Einsatzbefehlen ihrer Kommandanten nicht folge.153 Der Amtmann Weber selbst musste sich bei seiner Rückkehr aus Kassel vor der Menge bei Verwandten verstecken und verließ am Abend die Stadt. Das Innenministerium ordnete bereits am . Juni die »schleunigste Entsendung« von genügend Militär an. Das genannte Protokoll Flörsheims gibt auch einen Hinweis darauf, dass es sich bei den Tätern, die ihm auch eine größere Menge an Wertsachen gestohlen hatten,  Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. .  Quelle: Bericht vom Amtmann Weber an das Kurfürstl. Ministerium des Innern, Staatsarchiv Marburg, Bestand /M. des Innern, Rep. VII, Kl. , Nr.  (abdruckt in Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. .).  Nuhn, Jiskor – Gedenke, S.  und . »Regierungs-Assessos Mittler, Landrats-Stellvertreter zu Rotenburg berichtet, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe betreffend« am . Juni  an das Kurfürstl. Ministerium des Innern, Quelle: Staatsarchiv Marburg, Bestand /M. des Innern, Rep. VII, Kl. , Nr. .  Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. .

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nicht um Außenseiter handelte, sondern um angesehene Rotenburger Bürger. So werden als Berufe Kantor, Dachdecker, Bäckermeister, Buchbinder usw. genannt. Flörsheim bat zudem noch um die Hausdurchsuchung bei zwei der genannten Täter sowie bei einem Seifensieder und einem Gastwirt, bei denen er wohl sein gestohlenes Eigentum vermutete. Er konnte dafür zahlreiche angesehene christliche (was eher selten vorkam) wie jüdische Zeugen benennen.154 Diese soziale Situierung erklärt wohl auch die große Unterstützung der Menge gegen deren Verhaftung und Abtransport und den Hass auf die ausführenden Amtspersonen, den Amtmann Weber und den Untersuchungsrichter Bernhard. Ebenso unbeliebt machten sich offenbar auch die Kommandeure der Bürgergarde, die bedroht wurden und deshalb ihre Ämter niederlegten.155 Der Regierungsassessor Mittler bat am . Juni um seine Ablösung aus Rotenburg, da er sich durch seine »Parteinahme für den attackierten Justizbeamten »den unverhohlenen Hass der Bürger« zugezogen habe.156 Dem Amtmann Weber riet er, die Stadt bis zur Ankunft des Militärs zu verlassen, das am . Juni in der Stadt eintraf. Dies beruhigte die Lage, insoweit nun keine weiteren Übergriffe stattfanden, doch schätzte Regierungsassessor Mittler die Lage weiterhin als bedrohlich ein und plädierte dafür, das Militär in der Stadt zu belassen bzw. es angesichts der gerichtlichen Untersuchung noch zu verstärken, da diese zu weiteren Spannungen führen könne.157 Der Untersuchungsrichter riet deshalb, die Verhandlungen nach Kassel zu verlegen. Er fürchtete die Rache der Verwandten und Freunde der Beschuldigten, weil man »fast allgemein die Exzesse gegen die Israeliten für eine wohlverdiente Bestrafung derselben und die Untersuchung darüber für ein unverantwortliches Unrecht halte«.158 Dieses Zitat verdeutlicht das abweichende Rechtsverständnis der Rotenburger Bürger, die die Übergriffe gegen Juden für legitim, das Vorgehen des Staates dagegen für illegitim hielten. Die Vorgänge in Rotenburg waren in ihrer Dauer und ihrer Ausrichtung auch auf Amtspersonen so ungewöhnlich, dass es darüber einen längeren, äußerst kritischen Bericht in der Kasselschen Allgemeinen Zeitung gab.159 Auf diese öffentliche Schelte reagierten »gehorsame Bürger und Einwohner« der Stadt mit einer Petition an die Hohe Ständeversammlung (datiert vom . Juni ), in der sie die Verschärfung der Missstände seit der Judenemanzipation beklagten und es für besser hielten, wenn das Emanzipationsgesetz von  ungeschrieben geblieben wäre. Da das Unglück der Gleichstellung der Juden nun einmal passiert sei, plädierten sie für  Ebd.  Kasselsche Allgemeine Zeitung, Nr. , . Juni , zit nach: Nuhn, Jiskor – Gedenke. Quelle: Landgerichtsassessor Bernhard berichtet über den ihm erteilten Auftrag zur Führung von Untersuchungen bei dem Justizamt I Rotenburg, .., Staatsarchiv Marburg, Bestand /M. des Innern, Rep. VII, Kl. , Nr. .  Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. .  Ebd.  Ebd.  Abdruckt in: ebd., S. .

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einschränkende Sondergesetze.160 Dem Geist der Zeit entsprechend traten sie für die Gleichheit aller Bürger ein, doch sahen sie bei den Juden zwar gleiche Rechte gegeben, aber nicht die gleichen Pflichten, da diese sich nicht »auf ordentliche Weise nähren und ihr Fortkommen suchten«. Man forderte deshalb strengere Gesetze gegen den »Schacher- und Wucherhandel« (jeder Schacherjude verdiene mehr als der fleißige christliche Bürger) und unterbreitete die alte Forderung nach einer beruflichen Umschichtung der Juden hin auf Handwerk, Ackerbau und Viehzucht. Die Bürger betonten ihre Toleranz, sahen die Juden als »Wölfe, die sich in unaufhörlicher Hast in die christliche Herde einschleichen und sie zu zerstören suchen«. In grotesker Umkehr der Täter- und Opferrolle begründeten sie den Ausbruch der Exzesse gar mit dem »heimlichen Groll« der Juden gegen die Christen, mit dem sie sich gegen diese abgrenzten, was wiederum auf eine große kulturelle Distanz zwischen den Gruppen verweist. Die Juden hätten »auf die Stadt Rotenburg den schädlichsten und traurigsten Einfluss ausgeübt« und die Exzesse seien eben durch dieses »unselige Treiben der jüdischen Bedrücker« hervorgerufen worden. Die Rotenburger führten diese zudem noch auf die rigorose Strafverfolgung der Täter und deren ungerechte Behandlung durch den erst seit Ende April amtierenden Amtmann Weber zurück.161 Auch die Vorwürfe des engen eigennützigen Zusammenhaltens sowie der nationalen Unzuverlässigkeit wurden gegenüber den Juden ins Feld geführt. Der Hersfelder Abgeordnete Sunkel, der dem Petitionsausschuss Bericht über die Rotenburger Petition geben sollte, wies die Vorwürfe zurück und schlug vier Maßnahmen vor: die Aufhebung der rechtlichen Unterschiede zwischen Christen und Juden, Freigebung der Ehe zwischen ihnen, Beschränkung des Notund Hausierhandels sowie die Errichtung von Kredit- und Hilfskassen zur Eindämmung des Wuchers. Er wies zudem die Kritik der Rotenburger an der wucherischen jüdischen Handelstätigkeit und Geldleihe mit dem historischen Argument der Aufklärer zurück, diesen sei ja von den Christen der Zugang zu Handwerksberufen und zum Landerwerb versperrt gewesen. Ein Wechsel in die wenig aussichtsreichen Handwerkerberufe und den Bauernstand sei zudem unrealistisch.162 Dennoch zeigen die beiden letzten der vorgeschlagenen Maßnahmen, dass man auch in der Politik die Vorwürfe und Klagen der Petenten nicht unberücksichtigt ließ, was auf eine gewisse Wirkung der Unruhen hindeutet. Das Kriegsministerium reagierte am . Juni  auf die weiterhin angespannte Lage in Rotenburg mit der Entsendung von zwei weiteren Kompanien, die sich sogleich an den Löscharbeiten eines Großbrandes in der Neustadt beteiligen konnten. Ein Brand, der nach Meinung des Kommandanten der Kompanie, Oberstleutnant Hillebrand, gelegt worden war, genauso wie ein weiteres Feuer in der Altstadt am . Juli. Entsprechend befand sich die Bevölkerung in »Angst und Schrecken«. Hillebrand gab seinerseits in einem Bericht an das »Kurfürstliche Kriegsministerium«  Resümierend in: ebd., S.  f.  Weber wurde wegen seines heftigen Vorgehens in Rotenburg übrigens erneut suspendiert und versetzt (ebd., S. ).  Ebd., S.  f. Sunkels Bericht wurde im Hersfelder Hessenboten vom .. abgedruckt.

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eine Einschätzung der Lage ab.163 Anders als der liberale Abgeordnete Sunkel gab Hillebrand den Juden eine Mitschuld daran, dass sie gehasst würden. »Reger Wucher und vielerlei Betrügereien« seien die Ursache für die Übergriffe, wohingegen einige ehrliche Judenfamilien auch nicht angegriffen worden seien. Als Gründe auf Seiten der Christen nannte er die wegen der hohen Arbeitslosigkeit entstandene »tiefe Verarmung der mittleren und unteren Klassen« sowie die dadurch und durch den Müßiggang bei den unteren Ständen hervorgerufene »Sittenlosigkeit und Demoralisierung«. Der Hass gegen die Juden ziehe sich durch alle Stände und sei die Mehrheitsmeinung. Ja, er warf den höheren Ständen sogar vor, indirekt durch »laute Billigung« an den Exzessen beteiligt gewesen zu sein. Wichtig ist dabei die Beobachtung von Hillebrand, dass die Rotenburger die Unrechtmäßigkeit ihres Handelns nicht einsähen, sondern sich als völlig im Recht wähnten. Angesichts dieser Bedrohungslage und der richtigen Annahme, dass sich die Ursachen nicht so rasch beseitigen lassen würden, riet er dazu, die Kompanien noch für ein halbes Jahr in Rotenburg zu belassen, da insbesondere die Verhaftungen und Untersuchungen gegen Angehörige der »höheren Bürgerschaft« zu Unruhen Anlass geben könnten.164 Zu einer ähnlichen Einschätzung der Lage kam auch der seit Juli  in Rotenburg amtierende Landrat Wagener in einem Bericht an die Kurfürstliche Regierung vom . August .165 Er berichtet, dass die gerichtlichen Untersuchungen der Verbrechen abgeschlossen seien und dass viele Bürger »kompromitiert« seien und eine allgemeine Besorgnis vor den Folgen vorherrsche. Auch er sieht Probleme, die Gerichtsurteile ohne militärischen Schutz zu vollstrecken, wenn man nicht Widerstand und »Versuche der Erneuerung des Aufruhrs« riskieren wollte, zumal sich viele fremde Eisenbahnarbeiter in dem Gebiet aufhielten, die sich gern daran beteiligen würden. Der Landrat ließ aber gleichzeitig auch das »Gewerbswesen der hiesigen Israeliten« überprüfen, da Beschwerden gegen diese vorlagen (Übergriffe in die Rechte zünftiger Meister, wucherlicher Handel mit Grundstücken), obwohl – wie der Landrat hervorhob – Wucher, Bereicherung und andere Verstöße auch seitens der Christen vorkämen. Im Oktober  kamen die verantwortlichen Stellen dann zu der Überzeugung, dass nun das Militär abgezogen werden könne, nachdem sich auch die Gremien der Stadt verpflichtet hatten, die Bürgergarde zum Schutz bei neuerlichem Aufruhr einzusetzen. Dass die rechtliche Aufarbeitung der Ausschreitungen und der dabei vorgefallenen Straftaten von den Gerichten halbherzig betrieben und die Täter selten hart bestraft wurden, belegt eine Notiz in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums vom April , wonach die »wegen der Verheerungs- und Raubszenen von  an vier Judenhäusern in Erdmannsrode Angeklagten« von den Geschworenen

 Nuhn, Jiskor – Gedenke, S.  f.; Quelle: Bericht von Oberstleutnant Hillebrand am . Juli , Staatsarchiv Marburg, Bestand /Kriegskabinett, Nr. .  Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. .  Ebd., S.  f. Quelle: Staatsarchiv Marburg, Bestand g, Fach , Nr. a.

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in Fulda freigesprochen wurden, obwohl, wie die Zeitung betont, »mehrere Zeugen Einzelne derselben bestimmt erkannt und die Handlungen bezeichnet hatten«.166 Die Vorgänge in Rotenburg waren in ihrem Ausmaß und ihrer Dauer gewiss eher eine Ausnahme, dennoch sind sie symptomatisch, was die Motive, Argumentations- und Handlungsweisen aller Beteiligten betrifft. Nuhn betont, dass auch hier die Unruhen keine strategische Basis hatten, sondern spontan ausbrachen. Ob der Angriff auf die Juden eher als Ventil für den Unmut über die Not und Teuerung war, also umgeleiteter sozialer Protest, oder sich gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden richtete, muss seiner Meinung nach offenbleiben. Wahrscheinlich sind beide kaum voneinander zu trennen,167 zumal ja die eigene wirtschaftliche Misere im Zusammenhang mit dem »wucherischen Treiben« der Juden gesehen wurde, das durch die Emanzipationsgesetzgebung in den Augen der Christen noch erleichtert worden war. Im Kontext der Revolution konnten solche Übergriffe gegen Juden und die Obrigkeit zudem als Ventil für aggressive Stimmungen dienen, wie Nuhn im Anschluss an Utz Jeggle annimmt. Sozialprotest und antijüdische Unruhen im Elsass  Für die französische Provinz kam die Februarrevolution nach Christoph Dipper »vollkommen unverhofft und beraubte die Repräsentanten des Staates für kurze Zeit ihrer Macht«. Im Elsass, in den Pyrenäen und in den subalpinen Gebieten brachen daraufhin Waldkonflikte aus, und Kreditgeber wurden als »Wucherer« bedroht und zum Erlassen der Schulden gedrängt, was im Elsass zu judenfeindlichen Ausschreitungen wie in Südwestdeutschland führte.168 Im Elsass begannen die antijüdischen Ausschreitungen sogleich mit dem Bekanntwerden der Ausrufung der Republik in Paris am . Februar, und sie waren zudem zahlreicher als in anderen Regionen Europas. Den Hintergrund bildete nach Eduard Stadtler und Daniel Gerson die wirtschaftliche und soziale Krise seit .169 Seitdem hatte eine Kette von Missernten, verbunden mit einer Kartoffelkrankheit, zu einer der traditionellen subsistenzwirtschaftlichen Agrarkrisen größten Ausmaßes geführt. Verstärkt wurde diese durch eine industrielle Depressionsphase mit hoher Arbeitslosigkeit, so dass steigende Preise und sinkende Löhne zu einer Verelendung der Bevölkerung und zu Übergriffen gegen Bauern und Bäcker führten. Früh schon verband sich der Sozialprotest gegen die »Reichen« mit dem gegen Juden, die zu Unterstützern    

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AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

Nuhn, Jiskor – Gedenke, S. . Dipper, Revolutionäre Bewegungen auf dem Lande, S. . Eduard Stadtler hat bereits in einem frühen Aufsatz zu den Ausschreitungen (Die Judenkrawalle von  im Elsaß, in: Elsässische Monatsschrift für Geschichte und Volkskunde, Heft , , S. -) darauf hingewiesen, dass sich hinter dem konfessionellen Gegensatz und dem politischen Kampf in diesem Fall wirtschaftliche Probleme und materielle Not (»starke wirtschaftliche Gärung«) verbargen (S. ). Vgl. dazu ebenso Gerson, Kehrseite, Kap. .

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der Monarchie gezählt wurden. Rothschild, der als der »Bankier der Könige« galt, und der ländliche »Wucher« bildeten die Angriffspunkte. Die Ausschreitungen des Frühjahrs  wurden in der ländlichen Bevölkerung als berechtigte Strafaktion gegen die »ausbeuterischen und mächtigen« Juden gerechtfertigt.170 Durch die Februarrevolution, an der die Juden ihren Anteil hatten, waren doch zwei von ihnen als Minister in die provisorische Regierung berufen und einer in das Straßburger Munizipalkomitee gewählt worden, hatte sich der Eindruck eines wachsenden Einflusses von Juden verstärkt.171 So berichtete die AZJ, dass die Berufung der beiden jüdischen Minister den »feindlichen Parteien schon Gelegenheit« gegeben habe, »sich an ihr zu reiben«. Einer der Minister, Adolphe Crémieux, wurde als »Beförderer von Juden zu Stellen« angeklagt.172 Es ging also nicht allein um wirtschaftliche Ausbeutung, sondern die christliche Bevölkerung sah in den Juden die wahren Gewinner im postrevolutionären Frankreich und fürchtete als Folge der Judenemanzipation auch, dass dadurch die christliche Prägung des Landes verloren ginge. Dies verdeutlichen Gerüchte, wonach man Juden anlässlich einer katholischen Beerdigung habe sagen hören, dass »eine solche Zeremonie […] zum letzten Mal gefeiert worden« sei, zudem sollen sie vorgeschlagen haben, einquartierte Husaren sollten die Kirche als Pferdestall nutzen.173 Zwar war der Höhepunkt der Agrarkrise  überwunden, doch blieben die sozialen Spannungen bestehen und im Elsass wurde – anders als in Paris – die Februarrevolution zum Katalysator neuer Unruhen, die sich nun vermehrt gegen Juden richteten. Dennoch sieht Stadtler keinen »fanatischen Glaubenshass« und auch keine politischen Momente in den antijüdischen Übergriffen. Die Februarrevolution ist für ihn nicht Ursache, sondern bloßer Anlass für die Gewaltaktionen, die primär wirtschaftlicher Not entsprangen.174 Er betont auch, dass nach der Februarrevolution in Paris im Elsass an vielen Orten kleine Aufstände ausbrachen, die sich nicht allein gegen Juden richteten, sondern auch andere Ziele attackierten: Es gab »Aufstände der Waldbevölkerung gegen die Förster«, Grenzbewohner erhoben sich gegen die Zöllner, Abgabepflichtige griffen

 Gerson, Kehrseite, S. ; Stadtler spricht vom Wucher der Juden und der hohen Verschuldung der Bauern, die unter diesen zu einer tiefen Unzufriedenheit geführt hätten (Judenkrawalle, S. ), wobei er aber auch weitere Ursachen benennt, wie die hohe Steuerbelastung von Grundbesitz und die hohen indirekten Lebensmittelsteuern.  AZJ, Jg. , Heft , , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , , .., S. . In dieser Ausgabe findet sich eine der wenigen, überdies sehr kurzen Bezugnahmen der AZJ auf die antijüdischen Unruhen im Elsass, in der etwas lakonisch angemerkt wird, dass, »so oft in Frankreich politische Stürme eintreten«, Teile der elsässischen Bevölkerung ihrem Hass gegen die Juden Luft machten, die sich in die benachbarte Schweiz flüchteten.  Daniel Gerson, »Juden Rebold in Dürmenach«. Die zeitgenössische bildliche Darstellung eines Pogroms im »Jerusalem des Sundgaus« während der französischen Februarrevolution von , in: Bilder kollektiver Gewalt. Kollektive Gewalt im Bild, hrsg. von Kohlstruck/Schüler-Springorum/Wyrwa, S. -, hier S. .  Stadtler, Judenkrawalle, S. .

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Steuerbeamte an.175 Stadtler betont jedoch den jeweils lokalen Charakter dieser Übergriffe und Proteste, so dass man nicht von einer übergreifenden revolutionären Bewegung im politischen Sinne sprechen könne.176 Mit dem Eintreffen der Nachricht von der Februarrevolution in Paris brach am . Februar  zunächst in der Kreishauptstadt Altkirch die Gewalt gegen die dort lebenden dreihundert Juden los. Deren Häuser wurden attackiert und geplündert und die Bewohner angegriffen.177 Ungewöhnlich war, dass am folgenden Tag sogar das Inventar der erst zehn Jahre alten Synagoge zerstört und entweiht wurde. Da die Randalierer von Bewohnern aus der Umgebung Unterstützung bekamen, konnten die lokalen Behörden und die Bürgergarde wenig ausrichten und man forderte Truppen an, die erst zwei Tage später eintrafen und die Ruhe wiederherstellen konnten.178 Viele jüdische Bewohner flohen aus der Stadt. Während in Altkirch selbst danach Ruhe einkehrte, lösten die dortigen Unruhen an vielen Orten des Unterelsass (Brumath, Marmoutier) und Sundgaus (Durmenach/ Dürmenach, Oberdorf, Seppois-le-Bas/Niedersept, Seppois-le-Haut/Obersept, Hagenthal-le-Bas/Niederhagenthal, Hagenthal-le-Haut/Oberhagenthal) weitere Ausschreitungen aus, bei denen Juden ihre Häuser fluchtartig verlassen mussten, die anschließend geplündert und deren Einrichtung zerstört wurde. Am schwersten betroffen war das elsässische Durmenach. Dies wies insofern eine Besonderheit auf, als hier Juden die Bevölkerungsmehrheit und auch den Bürgermeister stellten, was dem Ort den Beinamen »Jerusalem des Sundgaus« eingetragen hatte.179 Auch hier kam es bereits am Sonntag, dem . Februar, zu Zusammenstößen, wobei die nichtjüdischen Durmenacher wiederum noch Verstärkung aus der Umgegend bekamen (Stadtler und Gerson nennen die ungewöhnlich hohe Zahl von bis zu . Demonstranten). Die jüdische Nationalgarde versuchte die Ordnung aufrechtzuerhalten, wobei einer der Demonstranten erschossen wurde. Dieser »Meuchelmord« an einem Nichtjuden, der als Bruch der eingespielten »rituals of riots« empfunden wurde, ließ die Gewalt eskalieren, und die meisten Juden flohen in nahe gelegene Schweizer Gemeinden. Daraufhin plünderte die Menge vom . Februar bis . März die verlassenen Häuser, wobei Möbel und Wertsachen geraubt und Schuldscheine vernichtet wurden. Dies und ein dabei ausgebrochener Brand zerstörten über einhundert Häuser. Diese Verwüstung machte den Ort zum Gegenstand von Liedern und einer Serie von Stichen, auf denen die Zerstörung  Ebd. Daltroff, Les Juifs de Durmenach, S. , spricht von einer dreifachen Krise des Jahres : neben der ökonomischen Krise habe es auch eine moralische Krise gegeben, die sich in einer großen Zahl von Finanzskandalen äußerte und die herrschende Klasse schwächte, sowie auch eine politische Krise, die zu der Erhebung am . Februar  führte.  Stadtler, Judenkrawalle, S. .  Im Bezirk Altkirch hatte es bereits  größere judenfeindliche Unruhen gegeben.  Dazu und zum Folgenden Gerson, Kehrseite, S.  ff.; Stadtler, Judenkrawalle, S.  f.  Vgl. Gerson, Kehrseite, S.  ff. Zum Zahlenverhältnis von Juden und Christen in Durmenach im Jahre  siehe: Daltroff, Les Juifs de Durmenach, S. : von den  Einwohnern waren damals  Juden, was   der Einwohner ausmachte.

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und Plünderung des Dorfes dargestellt wurde.180 Es kam zu einem regelrechten »Tourismus« zu den »Ruinen Jerusalems«.181 Es gab aber auch Hilfeleistungen und Schutz für Juden von Seiten ihrer christlichen Nachbarn.182 Viele dieser Aktionen glichen Raubzügen, bei denen der jüdische Besitz mit Wagen abtransportiert wurde. Es zogen regelrechte Banden von Bauern durch die Gegend, die aber Zusammenstöße mit herannahendem Militär stets vermieden. Vereinzelte, meist kleinere Zwischenfälle hielten im Sundgau und einigen Orten auch außerhalb des Sundgaus in den Monaten März und April an. Stadtler berichtet, die Bauern seien wie »im Triumphe« umhergezogen und hätten »Jagd auf die verhaßten Juden« gemacht, wobei sie ihre Aktionen bis in die Kreise Belfort und Colmar hinein ausgedehnt hätten.183 An vielen anderen Orten wird von Drohungen und Belästigungen gegen Juden und von einer aufgeheizten Stimmung gesprochen, doch blieben hier z. T. durch den Einsatz der Nationalgarde oder präventiv georderter Truppen Ausschreitungen aus. Auch im Départment du Bas-Rhin (Unterelsass) kam es ab dem . Februar vielerorts zu antijüdischen Ausschreitungen, ohne dass aber die einheimischen Juden vertrieben wurden.184 Größere Ausmaße nahm die Gewalt nur in wenigen Orten an (Brumath, Otier, Saverne). In Brumath zogen in der Nacht vom . auf den . Februar einzelne Banden unter Absingen der Nationalhymne durch den Ort und stürmten die Wohnungen der sechs wohlhabendsten Juden, die zunächst geplündert und dann sogar niedergerissen wurden. Für den nächsten Abend war der Angriff auf die Wohnungen des Notars, des Steuereinnehmers, des Amtsrichters und des Bürgermeisters geplant. Ebenso plante man die Zerstörung von Bahndämmen und der Brückenwaage. Diese Aktionen konnten aber durch rechtzeitig eintreffendes Militär verhindert werden. Häufig kam es auch zu Gewalttätigkeiten gegen Forstbeamte, zur Verweigerung von Steuerzahlungen, Beamtenbeleidigungen und zur Verwüstung von Wäldern in den Vogesen bzw. zu Holzdiebstahl.185 Auch hier zeigt sich, dass die antijüdischen Ausschreitungen Teil größerer, gegen die Obrigkeit gerichteter Unruhen waren.  Vgl. Lerch, Dominique, Imagerie populaire et antisémitisme en Alsace au XIXe siècle, in: Revue des sciences sociales , , S. -. Vgl. zur Analyse eines der genannten Stiche: Gerson, »Juden Rebold in Dürmenach«, S. -.  Stadtler, Judenkrawalle, S. .  Gerson, Kehrseite, S.  f.; siehe die Beschreibung zweier Lithographien der Ereignisse von Daltroff, Les Juifs de Durmenach, S.  f., auf denen Junge und Alte, Männer und Frauen abgebildet sind, die plündern und die Hausdächer demolieren und dem Wein zusprechen, Stadtler erwähnt hier den katholischen Pfarrer, der einigen Juden Schutz gewährte und die Menge kaum von der Erstürmung seines Pfarrhauses abhalten konnte (Judenkrawalle, S. ).  Stadtler, Judenkrawalle, S. .  Gerson, Kehrseite, S.  ff.  Stadtler zum Ort Brumath, Judenkrawalle, S.  f. Die Rufe, mit denen die Aufrührer durch die Straßen zogen, belegen diese Stoßrichtung: »Vive la République ! A bas les préposés des contributions indirectes!« (S. ).

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Nach Gerson begann das größte Pogrom am . Februar in Marmoutier (Maursmünster), bei dem bis zu  Häuser zerstört wurden und die Menge die herbeigerufenen Truppen heftig attackierte und dabei auch den Bürgermeister und den Friedensrichter nicht verschonte, was sonst eher selten geschah. Nach dem Bericht eines Polizeioffiziers wurden einige Juden von der Menge fast gelyncht, auch dies war in den Ausschreitungen des . Jahrhunderts ungewöhnlich. Das Verbrennen von Schuldscheinen und Wechseln führte immer wieder zum Aufflammen von Bränden. Erst am Folgetag konnte die Ordnung wiederhergestellt werden. Wie im hessischen Rotenburg a. d. Fulda lösten auch in Marmoutier die Verhaftung und Verurteilung der Aufrührer großen Unmut aus. So kam es fast einen Monat später zu einem erneuten Aufflammen der Unruhen. Am . April versammelte sich eine große Menschenmenge (dreihundert bis sechshundert Personen), um die Verhafteten aus dem Gefängnis in Saverne (Zabern) zu befreien. Mit Unterstützung von Einheimischen war es ihr tatsächlich möglich, in das Gefängnis zu gelangen, so dass der Gemeinderat von Marmoutier die zuständigen Stellen aufforderte, die Gefangenen freizulassen, was auch geschah.186 Die z. T. betrunkene Menge nahm dies zum Anlass, am kommenden Tag die Juden Savernes auszuplündern,187 und auch in Marmoutier und in Hochfelden und anderen Dörfern kam es wieder zu Übergriffen.188 Polizei und Nationalgarde erwiesen sich als zu schwach, erst der verstärkte Einsatz von Truppen beendete am . April die Unruhen. In Marmoutier hielten die Spannungen noch lange an, zumal offenbar Schadenersatzforderungen von Juden erneut für Unmut sorgten. Man befürchtete aufgrund der umlaufenden Drohungen und Gerüchte für den Sommer gar ein Massaker an den einheimischen Juden, so dass der Unterpräfekt die Stationierung von Truppen über mehrere Monate hin anordnete. Dass im Zuge dieser Unruhen auch die Häuser von Amtspersonen und reichen christlichen Bürgern Ziele von Übergriffen wurden, belegt die »revolutionäre« Unterströmung auch der antijüdischen Übergriffe. So war der Ruf »Es lebe die Revolution, Tod den Reichen, Tod den Juden!« zu hören. Diese Verbindung von Judenfeindschaft mit gegen den

 Gerson, Kehrseite, S.  f.; bei Stadtler findet sich eine andere Darstellung der Ereignisse: demnach wurden in Saverne in aller Eile nur zwanzig der Haftbefehle aufgehoben, doch forderten die Tumultuanten die Freilassung aller Gefangenen. Die Verantwortlichen waren sich uneinig, was zu tun sei, doch die wenigen Soldaten konnten die Menge, die sie mit Steinwürfen attackierte, nicht lange zurückhalten, so dass schließlich der Regierungskommissar die Entlassung aller Gefangenen anordnete (Judenkrawalle, S. ).  Stadtler sieht den Vorgang etwas anders: Demnach hätten sich die Protestierer nach der Freilassung der Gefangenen ruhig verzogen, doch am kommenden Morgen hätten dann neue Bauerntruppen die Wohnungen der Juden angegriffen (Judenkrawalle, S. ).  Hier soll nach Stadtler der dortige Amtsrichter das Hauptziel der Gewalt gewesen sein, dessen Haus verwüstet wurde, doch wurden auch zehn Häuser von Juden geplündert (Judenkrawalle, S.  f.). In dieser Phase richteten sich nach Stadtler angesichts der Schwäche der Behörden nun in der zweiten Welle der Krawalle (in Marlenheim, Hochfelden, Westhofen, Saverne, Marmoutier) die Angriffe primär gegen die Beamtenschaft und erst in zweiter Linie gegen die Juden.

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Adel und die Beamtenschaft gerichteten Forderungen und Drohungen findet sich ab  auch im benachbarten Baden.189 Im April unternahm dann der provisorische Unterpräfekt des Departments BasRhin (Unter-Elsass) ernsthaftere Versuche zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Im Zuge dessen wurden am . April auch die am . April gewaltsam aus der Haft befreiten Personen unter Einsatz einer Truppe von achthundert Mann gegen den heftigen Widerstand der Bauern, der diese drei Todesopfer kostete, erneut inhaftiert. Dies bedeutete einen Wendepunkt, da nun die Regierung der aufständischen Volksbewegung Herr geworden war.190 Im Oberelsass kam es hingegen in Hégenheim am . und . April noch einmal zu schweren Ausschreitungen.191 Hier hatten durchreisende Bauern aus Hagenthal antijüdische Lieder angestimmt, gegen die ein Jude des Ortes protestierte.192 Als die Bauern ihn daraufhin angriffen, eilten weitere Juden hinzu, und es kam zu einem Handgemenge, bei dem einem Nichtjuden ein Finger abgetrennt wurde. Als das Opfer seine Verwundung demonstrativ auf dem Dorfplatz ausstellte, strömten Dorfbewohner in großer Zahl hinzu, entwaffneten die jüdische Nationalgarde und begannen die Juden zu attackieren und ihre Häuser zu stürmen, wobei sie mehrere vollständig verwüsteten und die Möbel zerstörten.193 Es war ungewöhnlich, dass flüchtende Juden schwer misshandelt wurden, so dass ein Kleinkind an seinen Verletzungen starb. Erst der Einsatz von Truppen konnte die Unruhen am . April beenden. Für Stadtler entsprangen diese Unruhen vom April einer wesentlich allgemeineren Bewegung als die vom Ende Februar, da es neben den geschilderten Ereignissen an vielen anderen Orten zu Übergriffen gegen Juden kam, die er als ein »Anzeichen für eine allgemeine Mißstimmung gegen die Juden« und als eine »allgemeine tiefgehende Reaktion des Bauernstandes« interpretiert. So brachen anlässlich der Präsidentenwahl Louis Napoléons am . Dezember  im Sundgau neue Krawalle aus.194 Für Stadtler wollten die Bauern damit Louis Napoleón auf ihre sozialen Nöte aufmerksam machen. Die befürchtete große Erhebung der Bauern blieb jedoch aus. Die von Daniel Gerson für das Elsass vorgenommene Auswertung der Daten hinsichtlich der Merkmale der Tatbeteiligten zeigt, abgesehen davon, dass die meisten Täter unbekannt blieben, dass sich in vielen Orten ein Querschnitt der Einwohner    

Vgl. Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. . Stadtler, Judenkrawalle, S.  f. Gerson, Kehrseite, S.  f. Stadtler berichtet von einem anderen »Trigger«: demnach habe ein Jugendlicher am . April einem Juden die Pfeife aus dem Mund gerissen, was am Folgetag zu einem Streit zwischen Juden und Christen geführt habe, der den Verlust des genannten Fingers zur Folge hatte (Judenkrawalle, S. ).  In der Darstellung Stadtlers wurde der an eine Stange gebundene Finger auch in anderen Dörfern herumgezeigt und löste auch dort, wie in Niederhagenthal, leichtere Demolierungen von jüdischen Häusern aus, nachdem die Bauern sich der Waffen der jüdischen Nationalgarde bemächtigt hatten (Judenkrawalle, S. ).  Ebd., S. .

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beteiligt hatte (auch wenn die örtlichen Behörden gern fremde Personen als Täter sehen wollten) und die Ausschreitungen teils Volksfestcharakter annahmen.195 Zwar dürften sich Männer häufiger als Frauen an den Unruhen beteiligt haben, doch ist auch deren Mitwirkung, wie auch die von Kindern, vielfach belegt. Abbildungen zeigen eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, wie wir sie auch von anderen Pogromen her kennen: Während Männer die Häuser stürmten und Mobiliar zerstörten, warfen Frauen Gegenstände nach draußen, die dann abtransportiert wurden. Was das Alter der Tatbeteiligten angeht, so sind hier wohl jüngere Männer überrepräsentiert, doch finden sich, vor allem unter den Plünderern, auch ältere Personen und Kinder. Die Täter waren sowohl Ortsansässige wie auch Menschen aus den umliegenden Ortschaften, die oft gemeinsam agierten. In jedem Fall ist erkennbar, dass von Seiten der Nachbarn zwar einzelnen Juden Zuflucht gewährt oder sonst geholfen wurde, zum Schutz der Juden und ihrer Häuser durch die einheimischen Christen kam es jedoch in keinem Fall. Die Juden, die in einigen Orten ja einen großen Bevölkerungsanteil stellten, versuchten in einigen Fällen, die Angriffe abzuwehren, was im Fall von Durmenach, wo die jüdische Nationalgarde einen Demonstranten erschoss, zur Eskalation der Gewalt beitrug. In der großen jüdischen Gemeinde Hégenheim versuchte man im Vorfeld durch Patrouillen der jüdischen Nationalgarde potentielle Aufrührer abzuschrecken. Dort gelang es auch einer aus jüdischen und nichtjüdischen Nationalgardisten zusammengesetzten Truppe, den Angriff einer größeren Bande zurückzuschlagen und sogar  Täter zu verhaften.196 Ein Privatschreiben berichtete Ende März  von diesem Angriff einer Schar von » Insurgenten«, die die jüdische Gemeinde in Hégenheim unweit Basels angreifen wollte, aber durch die Gegenwehr der Gemeinde unter Führung ihres Rabbiners zurückgeschlagen werden konnte. Als sich daraufhin die vertriebenen Insurgenten auf eine Nachbargemeinde (in Hagenthal) stürzen wollten, konnte dies durch die Hilfe der Hégenheimer verhindert werden.197 Bei einem zweiten Angriff, dem sich nur noch die jüdische Nationalgarde entgegenstellte, kam es dann doch noch zu Ausschreitungen und Plünderungen. Berichte über Widerstandshandlungen seitens der Juden sind selten, zum Teil führte individuelle Abwehr auch zu größerer Gewaltanwendung auf Seiten der Tumultuanten, die die Gegenwehr als Bruch der »Spielregeln« ahndeten. Andere Reaktionsweisen waren die Zahlung von »Schutzgebühren« oder Bestechungen, um die Plünderung des eigenen Hauses zu verhindern, was aber nicht immer wirklich Schutz bot. Die häufigste Reaktion war es, die Rettung in der Flucht zu suchen, was insbesondere für die Orte in der Nähe der Schweizer Grenze eine Option war. Dabei floh nicht immer die gesamte Gemeinde, oft wurden Frauen und Kinder weggeschickt, andere fanden Zuflucht bei christlichen Nachbarn. Die Juden wurden zum Teil durch Gerüchte, teils durch die Warnungen von  Dazu und zum Folgenden Gerson, Kehrseite, S.  ff.  Ebd., S. .  Der treue Zions-Wächter, Heft , .., S. .

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christlichen Nachbarn über drohende Übergriffe informiert. Gerson nimmt aber auch die Möglichkeit an, dass sich nach den Erfahrungen der Ausschreitungen von  und  ein »Droh- und Fluchtmechanismus« etabliert haben könnte, bei dem Drohungen über Gerüchte ausgestreut wurden, um die Juden zur Flucht zu bewegen und ihre Häuser umso leichter plündern zu können.198 Neben dieser kurzfristigen Flucht, nach der die meisten Juden wieder in ihre demolierten Häuser zurückkehrten, kam es langfristig aber auch zur Abwanderung aus dem Sundgau, teils in Schweizer Städte oder in andere französische Regionen, teils vom Lande in die größeren Orte. Insgesamt ist diese – damals sowieso stattfindende Migration in die Städte – durch die Pogrome aber kaum angestiegen. Schwierig abzuschätzen sind nach Gerson die genauen Zahlen der sich zusammenrottenden Menschenmengen, die oft zudem von den Behörden gar nicht ermittelt wurden und die fallweise auch sehr unterschiedlich gewesen sein dürften. In einigen Orten, vor allem dort, wo die Zahl der zerstörten Häuser und der jüdischen Bewohner sehr groß war, wie in Durmenach (fünfhundert Juden) und Hagenthal-le-Bas und Hagenthal-le-Haut (zus. sechshundert), sind hohe Teilnehmerzahlen überliefert. In Durmenach sollen sich dreitausend »Demonstranten« zusammengerottet haben, was angesichts der fünfhundert nichtjüdischen Einwohner des Ortes auf eine starke Beteiligung auswärtigen Personen hinweist. Die Größe der Menschenmenge dürfte zwischen diesem Maximum und kleineren lokalen Übergriffen, an denen sich – wie in Friesen  Männer – beteiligten, gelegen haben.199 Es gab in der Gegend im März  zudem mehrere herumziehende Banden, deren Zahl zwischen hundert bis fünfhundert Personen lag. Ebenfalls schwer zu ermitteln sind Angaben zur sozialen Stellung der Täter, zumal die Zahl der Verhaftungen niedrig und die Kriterien der Festnahme unklar waren. Wie auch in vielen anderen Fällen, so finden wir auch hier nach Gerson ein eher zögerndes Vorgehen der Polizei, des Militärs und der elsässischen Justiz gegen die Tumultuanten. Der Fall der Gefangenenbefreiung der in Marmoutier Inhaftierten (s. o.) demonstrierte den Behörden nachdrücklich, wie riskant und unpopulär in der Bevölkerung solche Festnahmen waren.200 Das von Gerson gezeichnete Bild belegt die Beteiligung eines breiten Spektrums der ländlichen wie der kleinstädtischen Bevölkerung, das von den ländlichen Unterschichten (Kleinbauern, Knechte, Tagelöhner, Schmuggler) und der Arbeiterschaft über Ladenbesitzer bis hin zu Großbauern und zum Dorfarzt reichte.201 Wenn sich also auch Bevölkerungsschichten beteiligten, die von der Wirtschaftsund Agrarkrise kaum betroffen waren, so deutet sich doch ein Übergewicht der ärmeren Schichten bei den Pogromen an, zumal diese eher auf Plünderungsgewinne aus waren bzw. besonders unter der Wirtschaftskrise litten. Für das Elsass gilt, wie auch für die Unruhen des Jahres  im übrigen Europa, dass sich die Zerstörungsund Plünderungswut primär gegen die Häuser von Juden und gegen deren Besitz    

Gerson, Kehrseite, S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. -.

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richtete, während physische Angriffe auf Personen und insbesondere Todesfälle nur selten zu verzeichnen waren, obwohl mit Morddrohungen nicht gespart wurde.202 Allerdings betont Gerson zu Recht, dass es zwar nicht zur »entfesselten Gewalt gegenüber Personen« kam, dass Juden, die nicht fliehen konnten, aber durchaus tätlich angegriffen wurden, insbesondere wenn die Menge auf Widerstand stieß. Damit entsprechen die Vorgänge im Elsass einem weit verbreiteten Verlaufsmuster. Was die Folgen der Ausschreitungen angeht, so kam es aufgrund der eher kleinen Zahl der Verhaftungen nur zu wenigen Strafverfahren, wobei die Geschworenengerichte die Gefangenen fast durchweg freisprachen oder nur sehr milde verurteilten, was der elsässischen Justiz einen Rüffel aus Paris eintrug.203 Vor allem der Freispruch der Verhafteten von Marmoutier seitens der unterelsässischen Geschworenen löste einen Skandal aus, da er für die Juden ein Schlag ins Gesicht war. Das Zentralkonsistorium protestierte deshalb auch beim Justizminister. Kurz darauf kam es noch zu einem weiteren Freispruch der Angeklagten von Hochfelden.204 Der jüdische Justizminister Adolphe Crémieux wandte sich um Aufklärung an den Generalprokurator, dessen Antwort die Gewalt der Landbevölkerung und ihren Hass auf die Juden, den er mit einem Hinweis auf den Wucher der Juden erklärte, als verständlich hinstellte. Diese habe sich handstreichartig nur dessen wieder bemächtigt, was ihr durch den illegalen Handel der Juden genommen worden sei. Allein die Zeit könne den Hass der Bauern beschwichtigen und dem Handel der Juden eine legitimere Ausrichtung geben. Der Nachfolger Crémieuxs im Amt des Justizministers schrieb an den Rand des Schreibens nur die lakonische Bemerkung: Es gibt nichts zu tun, nicht mal eine Antwort ans Konsistorium (»Il n’y a rien á faire, pas même á répondre au consistoire«).205 Die Juden konnten sich also nur bedingt auf die Unterstützung seitens der Politik verlassen.206 In den meisten Fällen aber sahen sich die Orte Schadenersatzforderungen gegenüber, die zum Teil einzelne Juden, zum Teil auch die gesamte jüdische Ge Vgl. zu dieser Beobachtung auch schon Eleonore Sterling, Er ist wie Du. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland (-), München , S. ; neuerdings wieder bei Walser Smith, Continuities; Bergmann, Ethnic Riots.  Stadtler spricht hingegen noch von Massenverhaftungen und einer starken Truppenpräsenz »in den zu Unruhen geneigten Dörfern«. Er stellt also den Verantwortlichen ein gutes Zeugnis bei der Bekämpfung der Unruhen aus (Judenkrawalle, S. ). Auch er räumt aber ein, dass man mit Rücksicht auf die Zeitumstände sowie die Lage der Bevölkerung die »gerichtliche Untersuchung beschleunigt und in möglichst engen Grenzen gehalten« habe (S. ).  Ebd., S. .  Vgl. den französischen Text bei Stadtler, Judenkrawalle, S.  f.  Stadtler zitiert aus einem amtlichen Schreiben des zuständigen Generalprokurators, in dem dieser schreibt, dass die ländliche Bevölkerung des Elsass den Juden als einen Feind betrachte, der sie durch Wucher ihres Besitzes beraubte. Es sei leider gut bekannt, dass die Juden des Elsass (auch wenn es ohne Zweifel Ausnahmen gebe) einen strafbaren Geldhandel betrieben. Allein das Vorurteil gegen diese Klasse von Bürgern sei so blind, dass die Aufrührer alle Juden ohne Unterschied von guten und schlechten angriffen (S. ).

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meinde erhoben.207 Die Prozesse zogen sich aber jahrelang hin und führten auch bei einer Verurteilung der Orte meist nur zu schleppenden und eher geringfügigen Zahlungen.208 Dabei finden wir sowieso schon deutlich weniger Kläger als Geschädigte, was darauf hinweist, dass viele Juden auf eine Klage verzichteten, wohl weil die Prozesse teuer und die erreichbare Entschädigung niedrig war. Dies galt nach Gerson offenbar wohl insbesondere für Beschädigungen des Hauses, während die überdurchschnittlich häufig als Kläger verzeichneten reicheren Juden zumeist Schadensersatz für die geplünderten und zerstörten Warenlager forderten. Er weist aber die Auffassung zurück, die Übergriffe hätten sich als eine Form des Sozialprotests nur gegen »reichere Juden« gerichtet, vielmehr machten seiner Meinung nach »die Judenfeinde im Elsass grundsätzlich keinen Unterschied zwischen armen und reichen Juden«.209 Während die Juden als Juden angegriffen wurden, zeigt sich bei den nichtjüdischen Opfern der Übergriffe ein anderes Muster: hier wurden vor allem exponierte Vertreter der Staatsorgane wie Steuereinnehmer, Amtsrichter und Förster (wegen der verbreiteten Waldplünderungen) sowie wohlhabende Nichtjuden, wie Geldverleiher und Fabrikbesitzer, angegriffen. Die Reaktion jüdischer Organisationen auf die Unruhen, vor allem des Zentralkonsistoriums in Paris, blieb verhalten bzw. erfolgte verspätet, was offenbar auch der schlechten Informationslage geschuldet war. Erst im Mai wendete sich das Zentralkonsistorium an den Justizminister, der eine rasche Strafverfolgung im Elsass zusagte. Früher reagierte ein jüdisches Komitee des Départments du HautRhin, das sich schon Ende März beim Regierungskommissar in Colmar beklagt hatte, dass die Bedrohung fortbestehe und die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen würden. Nach Gerson zeigen diese offiziellen Reaktionen, dass die Juden sich ihrer prekären Lage bewusst waren und nur sehr zurückhaltend protestierten.210 Wie prekär die Lage tatsächlich war, belegen auch die Reaktionen der staatlichen Stellen. Die Gemeindebehörden unternahmen nur sehr selten etwas zum Schutz der einheimischen Juden, die für sie offenbar keine »citoyens«, sonder eben nur »les Juifs« waren. Im Nachhinein versuchten die Gemeinden die Klagen der Juden auf Schadenersatz abzuweisen, indem sie Übergriffe angesichts jüdischen Fehlverhaltens (»anmaßendes Gebaren«) als gerechtfertigt erscheinen lassen wollten. Dies galt auch für die höheren Provinzbehörden der Präfekturen und Unterpräfekturen.  Gerson, Kehrseite, S.  ff.  Ein Beleg für die lange Dauer der gerichtlichen Auseinandersetzungen findet sich in der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ), wo von einem Prozess in Colmar berichtet wird, in dem »eine Entscheidung über die traurigen Vorfälle des Februars  zu treffen« war, die zudem für die Kläger zunächst negativ ausgefallen war, bevor sie doch zu ihrem Recht kamen: »Eine Horde von Plünderern hatte die Synagoge zu Altkirch verwüstet. Die durch die Gründer der Synagoge gemachte Reclamation beim Gerichtshof zu Altkirch wurde von diesem und vom Hofe in Colmar abgewiesen. Wieder aufgenommen durch das Consistorium zu Colmar wurde die Reclamation angenommen, und die städtische Gemeinde zu Altkirch wurde verurtheilt, die jüdische Gemeinde zu entschädigen«.  Gerson, Kehrseite, S. .  Ebd., S. .

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Auch der Schutz durch die örtliche Nationalgarde blieb zumeist aus oder musste »erkauft« werden, Armeeeinheiten waren in der Zeit der Unruhen kaum verfügbar und man scheute vor ihrem Einsatz gegen die Zivilbevölkerung zurück. Allein die neue republikanische Regierung in Paris verurteile die Unruhen scharf und übte auch deutliche Kritik an der weitgehenden Untätigkeit der elsässischen Behörden.211 Dieses Muster von eher zögernd agierenden Verantwortlichen vor Ort und der Forderung nach schnellem und härterem Vorgehen der Zentralregierung findet sich in sehr vielen der in diesem Buch untersuchten Fälle. Die Unruhen im Elsass vom Frühjahr  zeigen das bekannte Muster der antiemanzipatorischen Gewalt gegen Juden im frühen . Jahrhundert. Die christlichen Elsässer nutzten die durch den Machtwechsel in Paris entstandene Situation eines Machtvakuums und der revolutionären Unruhe, um die inzwischen sozial besser etablierten Juden in ihre Schranken zu verweisen und sich dabei zu bereichern, wobei die Plünderung als gerechter »Ausgleich« des Schadens betrachtet wurde, der den Christen angeblich durch den »Judenwucher« entstanden war. Zwar wurden die Juden von der Zentralregierung als gleichberechtigte Bürger angesehen, im ländlich geprtägten Elsass war diese Gleichstellung aber keineswegs akzeptiert und durchgesetzt, was einmal mehr durch die kollektive Gewalt unterstrichen wurde. Antijüdische Ausschreitungen in Italien: Acqui und Rom Obwohl es im Zuge der Revolutionen von / in den italienischen Fürstentümern zu einer Welle von Aufständen seitens der Einigungsbewegung kam, richteten sich Ausschreitungen nur selten gegen die zahlenmäßig ja geringe jüdische Bevölkerung (ca. .). Dies lag daran, dass die italienische Nationalbewegung sich im Unterschied zu Deutschland und anderen europäischen Ländern »durch eine weitreichende Integration und starke Partizipation der jüdischen Bevölkerung« auszeichnete.212 Dennoch tauchten nach Ulrich Wyrwa in den revolutionären Tagen Ritualmordvorwürfe auf, in Florenz konnte man an den Häuserwänden Aufschriften wie »Morte agli ebrei« lesen und es gab es judenfeindliche Äußerungen auch von Wortführern der demokratischen Bewegung.213 Zu Ausschreitungen gegen Juden sollte es  aber nur in Rom und im piemontesischen Acqui (heute Acqui Terme) kommen. Eine historische Einordnung der Ereignisse der Ostertage (./. April) von  in Acqui bietet Marto Francesco Dolermi.214 Er betont den engen Zusammen Ebd., S.  ff.  Ulrich Wyrwa, Italien, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, München , S. -, hier S. .  Ebd.  Marco Francesco Dolermi, La costruzione dell’odio. Ebrei, contadini, e diocesi di Acqui dall’istitutione del ghetto del  alle violenze del  e del , Turin , Kapitel : Il pogrom del  e  aprile , S. -, S.  ff.

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hang der Unruhen mit der Emanzipation der Juden. Die Juden Acquis hatten das entsprechende Statut von König Carlo Alberto mit einer Festbeleuchtung und zahlreichen Schenkungen an die Bürgermiliz und fünfzig Sack Mehl an die Armen der Stadt gefeiert. Dies fand am . April den Beifall des Stadtrates, der dem lebhaften Wunsch und der Hoffnung Ausdruck gab, dass eine völlige Einigkeit aller Bürger in der Gemeinde ohne Unterschiede der Religion entstehen und man sich gemeinsam um die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes bemühen werde.215 Diese Versprechen von Brüderlichkeit und die nunmehr erreichte Gleichstellung der Juden lösten aber auch Widerspruch aus, zumal die Beziehungen zwischen der christlichen Bevölkerung Acquis und den Juden nach Dolermi seit Jahrzehnten sehr angespannt waren, so auch gegen Ende der er Jahre. Dabei ging es vor allem um Vorwürfe des Wuchers bei der Kreditvergabe und um angebliche finanzielle Unregelmäßigkeiten bei jüdischen Kaufleuten.216 Während der drei Jahre seit , in deren Verlauf nichts auf einen Rückgang dieser Beschwerden gegen das Ghetto hindeutete, kam es schließlich zum Gewaltausbruch zu Ostern .217 Zu den Unruhen in Acqui liegen zwei Berichte vor. Einmal der des jüdischen Rechtsanwalts Rafaele Ottolenghi, einem Sohn der von den Unruhen besonders betroffenen Familie Ottolenghi, zum anderen ein Bericht offizieller Berichterstatter (Autori principali della Sommossa).218 Dem ersten Bericht Rafaele Ottolenghis zufolge lösten die revolutionären Entwicklungen vom Frühjahr , die nach der neuen Verfassung auch den Juden in Acqui gleiche Rechte bringen sollten, im klerikal-konservativen Acqui eine dumpfe Unzufriedenheit aus. In der Stadt war ein klerikal inspiriertes Grummeln (brontolarono) zu hören, das danach fragte, was die Juden eigentlich wollten. Es wurden Befürchtungen laut, sie würden sich zu Herrschern von morgen aufschwingen.219 Auch hier waren es also der drohende Statusgewinn der Juden und die komplementären Abstiegsängste, die Teile der Bevölkerung in den Ostertagen des Jahres  zu dem Versuch gewalttätiger »Abhilfe« motivierten. Es war dann die Proklamation der Emanzipation der Juden durch König Carlo Alberto im April , der in Acqui »Tage exzessiver antijüdischer Gewalt folgten«.220 In der Datierung des Ausbruchs der Unruhen gehen die beiden vorhandenen Berichte auseinander: einer setzt den Ausgangspunkt auf den Karfreitag (Venerdi santo – . April), der andere auf den Ostersonntag (. April).

 Edd., S. .  Ebd., S. -.  Bei der Rekonstruktion der Ereignisse selbst druckt Dolermi in seinem Buch nur die beiden im Folgenden ausgewerteten, bereits  im Il Vessilo Israelitico veröffentlichten Berichte ab, ohne auf die Unterschiede in den beiden Darstellungen einzugehen.  Beide abgedruckt in: Salvatore Fua, Il ’ gli Ebrei d’Acqui, in: Il Vessilo Israelitico , , S. -.  Dazu und zum Folgenden: ebd., S. .  Wyrwa, Juden in der Toskana, S. .

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Nach dem Bericht Ottolenghis wurde dieser Aufruhr an einem Karfreitagnachmittag durch einen ganz banalen Vorfall ausgelöst, als der älteste Sohn eines gewissen Bartolomeo Timossi, der Lehrjunge in der Werkstatt eines gewissen Vasari war, mit dem Kind seines Lehrherrn an der Hand das Ghetto passierte. Dabei stieß ein ihnen entgegenkommender alter Jude anscheinend unabsichtlich mit dem Kind zusammen, was genügte, dass Timossi laut ausrief: »wollt ihr Juden mir das Kind meines Herrn stehlen, es töten und sein Blut für ungesäuertes Brot verwenden?«221 Es wurde also hier im Kontext der Osterzeit auf die Ritualmordlegende rekurriert, die im Zuge der revolutionären Unruhen von  auch in Italien wieder aufgelebt war.222 Ein solcher Alarmruf stellt einen typischen Auslöser für antijüdische Gewalt dar, doch kam es zunächst nur zu kleineren Streitereien und auch der Vater des Kindes, der mit einer großen Eisenstange bewaffnet ins Ghetto eindrang und drohte, alle Juden auszurotten, die sein Kind geraubt hätten, konnte durch einige christliche Bürger beruhigt werden. So schien die Sache beigelegt zu sein, als plötzlich die Alarmglocke der Stadt geläutet wurde. Und in der kommenden Nacht ergoss sich eine wütende Menge von Bauern aus der Umgebung ins Ghetto, die mit Pfählen und Prügeln bewaffnet und mit Säcken für die erhoffte Beute ausgerüstet waren. Bei ihrer Ankunft in der Stadt beriefen sie sich auf das Gerücht, die zivile Verwaltung der Stadt habe angeordnet, ins Ghetto einzufallen, und habe die Häuser zur Plünderung freigegeben.223 Wir stoßen also auch hier – wie in vielen anderen Fällen – auf das Gerücht, mit dem sich die Tumultuanten der Rechtmäßigkeit ihres kriminellen Tuns vergewissern wollen bzw. durch das sie, wie vielleicht in diesem Fall, angelockt worden waren. Die Menge schätzte der Autor auf tausend Männer. In diesem gefährlichen Moment gelang es aber dem Bürgermeister (sindaco) der Stadt, Graf Blesi, mit einigen Männern der Nationalgarde den Gewaltausbruch zu stoppen. Der Zugang zum Ghetto war nun untersagt, als »Kompensation« schenkten die Gemeinde und die Juden alkoholische Getränke aus, um so die Menge zu besänftigen. Die Hoffnung, der um ein Eingreifen gebetene Bischof Modesto Contratto würde die Gemüter beschwichtigen, wurde enttäuscht, da dieser sich verweigerte.224 Da die Gefahr zunahm und die Menge der Bauern sich ständig vergrößerte, die auf Beute aus waren und die aus dem weiter entfernten Umland hereinkamen, entschärfte Graf Blesi die Situation, indem er den Vater des Juden, der sich eingemischt hatte, überzeugte, dass es besser wäre, der aufgebrachten Menge Genugtuung zu leisten und den Sohn, gegen den sich der Zorn der Menge richtete, ins Gefängnis zu bringen. Er versprach, dessen Leben zu schützen und ihn zum Kastell zu begleiten. Dieser Schutz war auch nötig, da die beutegierige Menge diese Lösung zwar begrüßte, doch den jungen Mann unter Beschimpfungen durch  »… Voi, altri Ebrei volere rubarmi il bambino del mio padrone, per ucciderlo, e usarne il sangue per gli Azzimi?« Zit bei: Dolermi, La costruzione dell’odio, S. .  Vgl. oben die Unruhen von Neuenhoven und Umgebung im Jahre  (Kap. .).  Foa, Il ’ gli Ebrei d’Acqui, S. .  Es handelt sich bei diesem Mann offenbar um einen hinterlistigen Ränkeschmied, der jüdische Kinder rauben und zum Christentum bekehren wollte (ebd.).

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die ganze Stadt begleitete, da sie ihn des Ritualmordes beschuldigte. Die jüdischen Familien mussten ihre Häuser und Geschäfte drei Tage lang geschlossen halten, bis schließlich ein Trupp Kavallerie aus Alessandria eintraf und die Ordnung wiederherstellte. Einige Familien verließen angesichts dieser Vorfälle die Stadt und ließen sich dauerhaft im benachbarten Alessandria nieder. Nach dieser Version der Vorfälle konnte also ein gewalttätiger Ausbruch durch das Eingreifen der Autoritäten gerade noch verhindert werden. Am . April brachte der Bürgermeister ein Manifest in Umlauf, in dem er die Menge, die am Vortag das Ghetto der Juden belagert hatte, zur Ordnung aufrief.225 Der Bericht der beiden offiziellen Berichterstatter stellt die Vorfälle in Teilen ähnlich, in Teilen aber auch gänzlich anders dar und datiert den Vorfall auch auf den Nachmittag des Ostersonntags (. April).226 Es fehlen hier vor allem der Vorwurf des Ritualmordes sowie die Passage mit der Überführung eines Juden ins Gefängnis. Auch das auslösende Moment wird etwas anders dargestellt, da hier nicht der Zusammenstoß eines Juden mit dem vom jungen Timossi begleiteten Sohn des Vasari den Auftakt bildete, sondern Timossi, der auch in dieser Version den Sohn Vasaris begleitete, begann, mit einem Klappmesser bewaffnet, Drohungen und Beleidigungen gegen die Juden auszustoßen und sich mit Empörung besonders gegen Marco zu wenden, den er mit dem Messer bedrohte. Doch freundlich ermahnt von dessen Onkel, einem gewissen Benedetto Debeneditti, der zur Hilfe kam, gab er für einen Moment seine feindselige Absicht auf. Es entwickelte sich eine teils gewalttätige Auseinandersetzung, in die sich einige weitere Juden und Christen einmischten, um Timossi zu beruhigen. Währenddessen kam Bonajut Ottolenghi in der Uniform der örtlichen Miliz vorbei, und als er sah, dass Timossi mit einem Messer bewaffnet war, trat er in aller Freundlichkeit an ihn heran und bat ihn, seine Waffe wegzulegen, und versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Dann entfernte er sich, aber nach ein paar Schritten fühlte er sich von Timossi gepackt, der ihn an die Wand drängte und sein Messer zückte, um ihn zu verletzen. In diesem Augenblick kamen zwei Juden vorbei, die Timossi sofort angriffen, um ihn an der Ausführung seines Anschlags zu hindern. Ein Soldat der Brigade Acquis, der dabei war, riss Timossi das Messer aus der Hand und nahm ihn mit sich fort. Einige Bürger brachten den Sohn Vasaris dann zur richtigen Wohnung. Nach einiger Zeit begab sich Vasari, begleitet von dem schon erwähnten Timossi und einer Zahl anderer Personen, unter dem Vorwand, seinem Sohn zu suchen, ins Ghetto. Sie begannen zu lärmen, Drohungen auszustoßen und einen gewissen Salom Debenedetti anzugreifen, auf den einer von ihnen schrecklich einschlug, bis einige Christen ihn beruhigten, indem sie ihm versicherten, sein Sohn befinde sich in Sicherheit. Die Situation schien in diesem Moment bereinigt zu sein. Aber eine Viertelstunde später erschien Vasari in Begleitung von ungefähr fünfzehn Personen, um unter Beleidigungen und Drohungen ins Ghetto einzudringen und  Abgedruckt in: Dolermi, La costruzione dell’odio, S. .  Dazu ebenfalls: Foa, Il ’ gli Ebrei d’Acqui, S.  f.

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zu drohen, alles auf den Kopf zu stellen, die Häuser der Juden in Brand zu setzen und alle Juden hinzuschlachten. Vom Lärm und Aufruhr angelockt, bildete sich schnell ein Volksauflauf, wobei gerade in diesem Moment der Gottesdienst in der Kirche beendet war. Man warf den Juden vor, an einem Komplott schuld zu sein, und wollte sie ausplündern. Die jüdischen Familien wurden gezwungen, sich in ihren Wohnungen einzuschließen, als es große Steine hagelte, begleitet von Rufen »Tod den Juden«. Vasari war als jemand bekannt, der schon zuvor lange Zeit Juden in öffentlichen Cafés und auf den Straßen gereizt und beleidigt hatte und der sich bemühte, andere aufzustacheln und anzustiften, seinem Beispiel zu folgen. Der oben genannte Aufruhr erhitzte sich immer mehr und drohte einen gefährlichen Charakter anzunehmen, als schließlich die örtliche Wachmannschaft und die königlichen Carabinieri eingriffen und entschlossen jede Unordnung unterdrückten. Aber am selben Abend zwischen  und  Uhr brach in einem anderen Stadtviertel erneut ein Aufruhr aus, der aber durch den Einsatz der örtlichen Ordnungskräfte und durch wachsame und wohlgesonnene Bürger ebenfalls schnell unterdrückt werden konnte und keine weiteren Folgen hatte. Dies wiederholte sich am folgenden Morgen. Dank der Maßnahmen der städtischen Autoritäten und des Einsatzes der Bürger blieb es bis abends um  Uhr ruhig, als es von Seiten einer Gruppe von Bauern aus der Umgebung zu Übergriffen gegen Juden kam. Dass sich an einem – wohl eher zufälligen – Zusammenstoß eines Christen mit einem Juden gewaltsame Ausschreitungen entzünden konnten, zeigt die durch die Ablehnung der rechtlichen Verbesserungen für Juden und kommerzielle Konflikte angespannte Situation in Acqui. Der dabei – möglicherweise – ins Spiel gebrachte und zur Osterzeit besonders virulente Vorwurf der Kindesentführung zum Zwecke eines Ritualmordes war oder wäre geeignet gewesen, die Bereitschaft der christlichen Einwohner zu erhöhen, gegen die Juden mit Gewalt vorzugehen. Dass die Menge sich durch die Nachricht, das Kind befinde sich in Sicherheit, zwischenzeitlich nur kurzfristig beruhigen ließ, spricht aber dafür, dass man in Acqui nur nach einem Anlass gesucht hatte, gegen die Juden vorzugehen. Typisch ist auch, dass sich die Bauern der Umgebung in der Hoffnung, plündern zu können, in die Stadt begaben. Beide Darstellungen belegen aber auch, dass sich christliche Bürger um die Beruhigung der Lage bemühten und auch die Ordnungskräfte schnell für Ruhe sorgten, so dass die Unruhen relativ glimpflich verliefen, aber nichtsdestotrotz die jüdische Bevölkerung so in Aufregung und Angst versetzten, dass einige sich entschlossen, die Stadt zu verlassen. Nach Dolermi spielte bei den Konflikten auch der reaktionäre Bischof von Acqui, Modesto Contratto, eine wichtige Rolle, der versucht hatte, Streitigkeiten in jüdischen Familien zu nutzen, um Mädchen oder Jungen christlich taufen zu lassen.227 Er verweist auch auf den ökonomischen Hintergrund der Unruhen, denn neben dem Antijudaismus der Diözese von Acqui, in der die Kirche seit langem gegen die Ausdehnung des Ghettos angekämpft und sich bei der Regierung in Turin  Dolermi, La costruzione, S. .

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um die Durchführung gesetzlicher Beschränkungen bemüht und so die Vorurteile gegen Juden wachgehalten hatte, war sich die Bevölkerung in der Ablehnung der Juden einig, da viele in Kreditgeschäfte mit Juden verwickelt waren. Die Bevölkerung war von der ökonomischen Krise hart getroffen worden, und viele waren durch die Kreditaufnahme großer Teile ihres Landbesitzes beraubt worden. Damit war ein fruchtbarer Boden für den Ausbruch von Gewalt bereitet.228 Die Kirche hatte sogar ihr Ziel erreicht und der Landbevölkerung die alte Anschuldigung des jüdischen Ritualmordes einblasen können. Dolermi kommt zu dem Schluss, dass der ökonomische Konflikt, den man in Acqui zwischen den Juden und der übrigen Bevölkerung feststellen konnte, sich damit durch ein weiteres Motiv verschärft hatte, das untergründiger, aber ebenso gefährlich seinen Ursprung in einem weit zurückliegenden Gegensatz der katholischen Kirche zu den Juden hatte. Der Überfall auf das Ghetto war somit die Art, wie die christliche Bevölkerung die Judenemanzipation »begrüßte«.229 Die jüdische Bevölkerung Acquis musste als Folge dieses Gewaltausbruchs noch jahrzehntelang in einem Zustand latenter Gewalt leben, so dass sie in die Zentren Norditaliens abwanderte und am Vorabend des Zweiten Weltkrieges nur noch dreißig Juden dort lebten. – Der Gewaltausbruch in Acqui stieß in Italien auf große Resonanz, er wurde sogar Gegenstand eines Kapitels in dem Roman I Sanssôssì (gli spensierati): cronaca domestica piemontese dell Secolo XIX., , von Augusto Monti. Auch in Rom schlug im April die Emanzipation der Juden in Gewalt um. Zunächst gab es Forderungen nach der Emanzipation der Juden auch im Kirchenstaat, und zahlreiche Stimmen, auch aus dem Klerus, forderten unter der Begeisterung der Menge die Niederreißung der Ghettomauern.230 In der Tat gab es in den er Jahren in Teilen der katholischen Kirche Italiens einen Meinungsumschwung zugunsten der Judenemanzipation, und auch Pius IX. schien sich zunächst für die Belange der Juden des Kirchenstaates einzusetzen, weshalb er sich unter den dortigen Juden großer Beliebtheit erfreute.231 Ende Dezember  wurde dem Papst bei einem großen Volksaufzug von einer Deputation eine Liste mit  Postulaten des Volkes überreicht, darunter auch die nach der Emanzipation der Juden.232 Die Juden traten in dieser Zeit immer mehr in das öffentliche Leben Roms ein und wollten sich für die nationale Sache engagieren. Am . April, dem ersten Tag des Passahfestes, ordnete der Papst schließlich die Niederlegung der Ghettomauern an,  Ebd., S. . Ulrich Wyrwa hebt für die benachbarte Toskana hervor, dass die Juden gerade durch Gewalttätigkeiten der gegenrevolutionären Bewegungen auf dem Lande bedroht wurden. Offenbar waren die Bauern im Namen eines radikalen Christentums leicht zu antijüdischer Gewalt zu motivieren (Juden in der Toskana, S. ).  Dolermi, La costruzione, S. .  Vgl. dazu und zum Folgenden: Paul Rieger, Geschichte der Juden Roms, Zweiter Bd. -, Berlin , S. -.  Wyrwa, Juden in der Toskana, S. . Zur Beteiligung von katholischen Geistlichen an der Diskussion über die Judenemanzipation siehe S.  f.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

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und bereits am . April war »ein gut Teil der Mauern verschwunden«.233 In der Allgemeinen Zeitung des Judenthums wurde dieser Vorgang begrüßt, allerdings wurde in dem Bericht warnend auch darauf verwiesen, dass die Ghettomauern den Juden ja auch Schutz gewährt hätten: »Auch in dem gegenwärtigen Augenblicke sehen daher die Gönner der Juden diese Schutzmauern nicht ohne Besorgnis niederreißen, indem sie von nun an jeder Invasion von Uebelwollenden und Unruhestiftern Preis gegeben sind.«234 Diese Befürchtung sollte sich sogleich bewahrheiten. Die Volksstimmung konnte nämlich schnell umschlagen, und so kam es, dass noch am Passahfest ein Jude, der sich nach dem Ave-Maria-Läuten noch außerhalb des Ghettos aufhielt, erschlagen, ein anderer attackiert wurde, weil er angeblich einen Priester angespuckt hatte. Die Menge drang auch ins Ghetto ein und demolierte Häuser von Juden, so dass die Bürgergarde große Mühe hatte, dem plünderungslustigen Mob Einhalt zu gebieten. Das Ghetto musste durch Wachposten und Ketten gesichert werden, zusätzlich schickte der Polizeiminister Kavallerie und Infanterie als Schutz. Die Juden Roms erlebten auch weitere Rückschläge, da die Hälfte der acht aufgestellten Bataillone der Bürgergarde (Guardia Civica) keine Juden aufnehmen wollte, so dass sie sich entschlossen, ein eigenes aufstellen.235 Diese Gewaltausbrüche wiederholten sich mehrfach.236 So kam es anlässlich der gesetzgebenden Versammlung am . Juni  zu Übergriffen gegen Juden, und am nächsten Tag »tobte ein wilder Aufruhr durch die Straßen Roms«.237 Am . Oktober  kam es zu »blutigen Exzessen zwischen den dortigen Einwohnern [des Ghettos, W. B.] und dem gegen sie aufgewiegelten Pöbel. Ein auf der Piazza Nuova handelnder jüdischer Fleischer ward zu Unrecht der Gaunerei verdächtigt: die christlichen Römer im Verein mit der Civica plünderten seinen Fleischerladen aus und stürzten sich in ihrem Raubgelüste auch auf die Juden des Ghettos, die sich indessen mit Knütteln, geworfenen Flaschen, Dachziegeln und anderen dergleichen improvisirten Waffen wacker ihrer Haut wehrten.«238 Dies ging zwei Tage lang, bevor das päpstliche Militär die Ruhe wiederherstellte. Da bei diesen Straßenkämpfen ein Jude drei Bürgergardisten schwer verletzt hatte, forderte ein Flugblatt die Menge von »im Solde fanatischer Priester stehenden Oskuranten« auf, die Waffendepots  Rieger, Geschichte der Juden Roms, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Die Aufnahme in die Bürgergarde war für die Juden auch in Italien ein wichtiger Beleg für ihre bürgerliche Gleichstellung, so dass die Verweigerung der Teilnahme an gemischten Bürgergarden als Zurücksetzung empfunden wurde. Vgl. dazu Wyrwa, Juden in der Toskana, S.  ff.; die Bürgergarde beteiligte sich den Berichten zufolge häufiger selbst an den Ausschreitungen gegen Juden, anstatt diese zu schützen. Vgl. Der Orient, Heft , .., S. .  Aus Rom berichtete die AZJ am . April , dass sich die »mehr oder minder ernstlichen Unordnungen im Ghetto« an den letzten drei Abenden erneuert hätten. »Das Volk hatte bereits angefangen, Häuser zu demolieren, als die Civica einschritt«.  Rieger, Geschichte der Juden Roms, S. .  Der Orient, Heft , .., S. .

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zu stürmen und »den Juden den Garaus zu machen«.239 Dies wurde aber von der Polizei verhindert. Tatsächlich wollten am . Oktober  eine Menschenmenge, die Bürgergarde und einige Barbiere ins Judenviertel eindringen, um den Juden ihre Bärte abzuschneiden. D. h., es ging nicht allein um Plünderung, sondern auch um eine symbolische Entwürdigung. Doch verhinderten Dragoner und Gendarmen diesen Plan. Es kam zu einer gerichtlichen Untersuchung, die ergab, dass der Angriffsplan auf die »schwarze geistliche Kamarilla« zurückging und mit einem allgemeinen Angriff auf das Eigenthum und das Leben der kaum Emanzipierten enden sollte.240 Für die Hoffnung der Juden auf Gleichstellung waren diese Übergriffe eine Enttäuschung, doch gab es andererseits auch Proteste gegen diese Übergriffe von Seiten der Politik. Die Ereignisse in Rom und Acqui, aber auch der Unmut, der sich in anderen Teilen Italiens im Zuge der Revolution gegen die Emanzipation der Juden erhob,241 zeigen, dass sich auch in Italien, wenn auch in geringerem Ausmaß, verglichen mit anderen Regionen Europas, Widerstand gegen die rechtliche Besserstellung der Juden erhob, hier noch verbunden mit starken religiösen Vorbehalten gegen »Andersgläubige«, der vor allem in den städtischen Unterschichten und auch auf dem Lande in Gewaltaktionen ausufern konnte. So schrieb die AZJ zu den Motiven der Unruhen in Rom, dass »die gemeinen Leute […] den Juden ihre neuen Rechte nicht gönnen [wollen]. Hier und da will man mit den Juden auch alle Nichtkatholiken vertrieben wissen«.242 Polen, Deutsche, Juden – ethnisch-nationale Konflikte im Großherzogtum Posen Die Unruhen im Großherzogtum Posen müssen im Kontext der preußischen Polenpolitik seit dem Aufstand von 243 und der polnischen Aufstandsbewegungen seit  gesehen werden, die die Wiederherstellung eines unabhängigen Polen zum Ziel hatten.244 Diese verwickelte Geschichte kann hier nur insoweit kurz  Rieger, Geschichte der Juden, S. ; zur Quelle: Der Orient , .., S. .  Der Orient, Heft , .., S. . Die AJZ zitiert aus einem Artikel der italienischen Zeitung Contemporaneo, wonach es in Rom einen Angriff auf das Ghetto gegeben habe, der eine Privatrache zu sein schien. Danach »fielen einige Exzesse vor, jedoch stellten die Bürgerwehr und die Dragoner bald die Ruhe her« (Jg. , Heft , .., S. ).  Vgl. die entsprechenden Hinweise auf Städte wie Florenz oder Livorno, aber auch auf die ländlichen Regionen der Toskana: Wyrwa, Juden in der Toskana, S.  ff.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Siehe William W. Hagen, Germans, Poles, and Jews. The Nationality Conflict in the Prussian East, -, Chicago, London , S.  ff., der nach dem polnischen Aufstand gegen die russische Herrschaft von  von einer antipolnischen Wende der preußischen Polenpolitik unter dem, dann  abgelösten Oberpräsidenten Eduard von Flottwell spricht, die immense Auswirkungen auf das Verhältnis von Deutschen, Juden und Polen in der Provinz Posen haben sollte.  Im Großherzogtum Posen stellten Polen   der Bevölkerung, die in den östlichen Kreisen eine große Mehrheit bildeten; die Deutschen stellten   und hatten in den

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skizziert werden, wie sie für das Verständnis der antijüdischen Ausschreitungen im April  notwendig ist.245 Den Vorgängen vom März/April  vorausgegangen waren ein Aufstandsversuch in Krakau  sowie ein geplanter Aufstand in der preußischen Provinz Posen, auf die der preußische Staat mit der Repression der polnischen Bevölkerung reagierte.246  wurden  Akteure vor dem Berliner Kammergericht im sog. »Polenprozess« teils zum Tode (acht Personen), teils zu Gefängnisstrafen verurteilt, während die Mehrheit aber freigesprochen wurde. Seit Beginn des Jahres  zeigten sich in der Provinz Posen erneut nationalpolnische Bestrebungen, die durch die Nachrichten über die Februarrevolution in Paris befeuert wurden.247 Nach Beginn der Märzrevolution in Berlin forderte die vor dem königlichen Schloss versammelte Menschenmenge am . März  erfolgreich die Freilassung der Gefangenen, und es kam zu Verbrüderungsszenen zwischen den befreiten Gefangenen, und deutschen Revolutionären, unter denen ebenso wie in Deutschland generell eine polenfreundliche Haltung vorherrschte.248 In dieser frühen Phase gab es eine Verbrüderung von Polen, Deutschen und Juden auch in Posen und vielen anderen Orten der Provinz, die allerdings sehr kurzlebig war.249





  

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westlichen und nördliche Bezirken eine relative Mehrheit; Juden machten mit . Personen   der Bevölkerung aus, stellten aber in vielen Städten der Provinz -  (Krzystof Makowski, Das Großherzogtum Posen im Revolutionsjahr , in: Rudolf Jaworski/Robert Luft (Hrsg.), /. Revolutionen in Ostmitteleuropa, München , S. -, S.  f.). Ich stütze mich dabei im Folgenden auf die Arbeiten von Krzysztof Makowski, Das Großherzogtum Posen S. -; ders., Between Germans and Poles: The Jews of Poznán in , in: Polin. Studies in Polish History, Vol. : Focusing on Jews in the Polish Borderlands, hrsg. von Antony Polonsky, Oxford , S. -. Makowski, Das Großherzogtum Posen, S. ; Artur Rabinbach, The Emancipation of Jews in Poland, -, Oxford , S. -. Nach einem in der AZJ abgedruckten Bericht aus der Königlich privilegierten Berlinischen Zeitung für Staats- und gelehrte Sachen hatte sich schon am . April  im posenschen Rogasen nach einem Feuer am Abend und einem nächtlichen Ruf »Revolution« auf dem Markt eine große, mit Sensen und Feuerhaken bewaffnete Menge von Polen aus der Umgebung gebildet, deren Anführer mit dem Ruf »Bicie przo Jydy i Niemiecky« (Schlagt die Juden und die Deutschen) das Zeichen für gewalttätige Übergriffe gab. »Viele, namentlich Juden wurden lebensgefährlich, Andere nicht minder stark verwundet«. Christlichen und jüdischen Bürgern des Ortes »gelang es indes, »den Tumultuantenhaufen zu zerstreuen; sechs Polen wurden verhaftet« (AZJ, Jg. , Heft , , S. ). Makowski, Das Großherzogtum Posen, S.  und  ff. Dazu Hagen, Germans, Poles, and Jews, S.  ff. Krzysztof Makowski, Poles, Germans and Jews in the Grand Duchy of Poznan in : From Cooperation to Conflict, in: East European Quarterly /, , S. -, S. . Sophia Kemlein hebt die ambivalente Reaktion der posenschen Juden hervor, die angesichts der seit  zwischen Polen und Deutschen angespannten Situation einerseits Angst empfanden, zumal Gerüchte kursierten, die polnische Bevölkerung würde wieder mit Gewalt gegen Juden vorgehen, sich andererseits aber durchaus an der allgemeinen Verbrüderung der ersten Revolutionstage beteiligten (Die Posener Juden -. Entwicklungsprozesse einer polnischen Judenheit unter preußischer Herrschaft, Hamburg , S.  f.). Isaak Herzberg schrieb  rückblickend ironisch, dass die »polnischen

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Sobald die Nachrichten von den Vorgängen in Berlin in Posen bekannt geworden waren, nutzten die Polen die »Paralyse« der preußischen Regierung in Berlin sowie der lokalen Administration und begannen am . März dort ein Nationalkomitee mit dem Ziel der »Befreiung des Vaterlandes« zu bilden, von dem Deutsche und Juden jedoch ausgeschlossen blieben,250 obwohl das Komitee den Juden am . März volle bürgerliche Rechte zusicherte. Bereits am . März gründeten die Deutschen ein eigenes Komitee, das Juden aufnahm.251 Das polnische Nationalkomitee sandte eine Deputation zu Verhandlungen über die Unabhängigkeit der Provinz nach Berlin, die jedoch entgegen ihres Auftrags nur ihre nationale Neuordnung vorschlug. Der preußische König sicherte am . März öffentlich zu, eine Neuordnung der Provinz Posen zu akzeptieren. Diese vom preußischen König zugesicherte Neuordnung der Provinz löste nach Makowski unter Deutschen und Juden schwere Bedenken hinsichtlich ihrer Position in einem von Polen regierten Großherzogtum Posen aus.252 Diese wurden dadurch bestärkt, dass das nationale polnische Komitee für alle Kreise sogleich Kommissare einsetzte, um die sich vielerorts gebildeten Insurgentengruppen unter Kontrolle zu bringen, die sich spontan gegen die preußischen Autoritäten gewendet hatten.253 Denn mit Ausnahme der überwiegend deutschsprachigen Gebiete an der nördlichen, westlichen und südlichen Grenze wurde überall in der Provinz die preußische durch die polnische Herrschaft abgelöst, indem preußische Adler heruntergerissen, die Kassen der Finanzbehörden übernommen und Landräte und Bürgermeister abgesetzt wurden. Als Reaktion auf diese Bestrebungen entstand in der deutschen Bevölkerung der Provinz eine antipolnische Stimmung, und sie wurde in Berlin mit Forderungen

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Empörer«  in Posen zur Erlangung ihrer politischen Selbständigkeit »bei der Wahl und Anwendung ihrer Mittel keineswegs wählerisch« gewesen seien. »Zunächst strebte man eine Verbrüderung der verschiedenen Nationalitäten an, und man gewann es sogar über sich, selbst an die Juden, die man als einen nicht gering zu achtenden Faktor ansah, ein Manifest zu richten, in welchem man sie ›Brüder Israeliten‹ nannte. Als aber die Lockungen nicht verfingen, da ging man offener vor, und bald darauf scheute man selbst vor Mord und Raub, Schändung und Plünderung nicht zurück« (Die polnische Insurrektion des Jahres  und die Juden in den Posener Landen, AZJ, Jg. , Nr. , .., S. -). Zu diesem in Paris proklamierten Manifest siehe Rabinbach, The Emancipation of Jews, S.  f. Hagen, Germans, Poles, and Jews, S. . Makowski, Between Germans and Poles, S.  f.; Makowski betont aber, dass es dem deutschen Komitee zunächst darum ging, die Ordnung aufrechtzuerhalten und gute Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen zu wahren, doch schlug die Stimmung bald radikal um, da die Übernahme der Macht seitens der Polen »nicht immer glimpflich ablief« und auch die Aufstellung polnischer militärischer Einheiten Bedrohungsgefühle unter den Deutschen und Juden auslöste. Am . März bildete sich ein neues deutsches Komitee, das eine antipolnische Linie verfolgte (Das Großherzogtum Posen, S. ). Makowski, Between Germans and Poles, S. . Herzberg schreibt, dass allerorten die Wut der Deutschen aufgelodert sei, die in den Juden »gar eifrige und begeisterte Bundesgenossen fanden« (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Makowski, Between Poles and Germans, S. .

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vorstellig, bestimmte, mehrheitlich deutsche Städte und Kreise von der politischen Reorganisation auszunehmen bzw. diese sogar in den Deutschen Bund aufzunehmen, während die Polen auf die Wiederherstellung ihres Staates oder zumindest auf die Autonomie des Großherzogtums pochten. Damit sei nach Makowski eine Konfrontation von Deutschen und Polen unausweichlich geworden.254 An einigen Orten trafen die polnischen Maßnahmen aber auf offenen Widerstand der deutschen und jüdischen Einwohner, die begannen Schutzwehren aufzustellen. Sie versuchten, die Bildung polnischer Komitees zu verhindern und die sich formierenden aufständischen Einheiten, zum Teil unter Beteiligung der preußischen Truppen, zu zerstreuen.255 »Infolgedessen kam es in vielen Orten des Großherzogtums Posen zu Exzessen«, an denen zumeist von der deutschen Bevölkerung aufgehetzte preußische Soldaten schuld waren. Polnische Insurgenten und die polnische Zivilbevölkerung wehrten sich, und es waren Opfer auf beiden Seiten zu beklagen.256 Umgekehrt kam es schon in den ersten Tagen »in einigen Orten zu kleineren Übergriffen auf die jüdischen Bevölkerung«, bei denen Läden demoliert und Scheiben eingeworfen wurden, ohne dass Menschen verletzt wurden,257 wie auch Deutsche verletzt und ausgeplündert wurden. Anfang April schlug das politische Klima in Berlin um, und militärische Kreise beauftragten – hinter dem Rücken der liberalen Minister – den General Friedrich August von Colomb, die bewaffneten polnischen Verbände aufzulösen258 und die Ordnung im Großherzogtum wiederherzustellen, während gleichzeitig ein anderer General, Wilhelm von Willisen, zu Verhandlungen nach Posen geschickt wurde, um mit den Polen einen Kompromiss auszuhandeln, die am . April zur Konvention von Jarosławiec führten, wonach die Provinz neu geordnet, die in fünf Lagern stationierten polnischen Einheiten teilweise aufgelöst und die militärischen Operationen eingestellt werden sollten. Der preußische König stimmte der Konvention am . April zu, doch sahen polnische Soldaten die Konvention als Verrat an und General Willisen stieß seinerseits bei den örtlichen preußischen Behörden auf Widerstand gegen eine Neuordnung der Provinz. Preußisches Militär unter General  Makowski, Poles, Germans and Jews, S. .  Siehe dazu die von Isaak Herzberg im Rückblick stolz berichteten Beispiele des Einsatzes von Juden auf deutscher Seite (AZJ, JG. , Heft , .., S. ).  Makowski, Das Großherzogtum Posen, S. ; ders., Poles, Germans and Jews, S. . Ein Bericht aus der Stadt Krotoschin zeigt, wie sich »Judenburschen« des Ortes gegen die vom deutschen Landrat, »der es mit der Polenpartei hielt«, veranlasste Übergabe des Ortes an die Polen wehrten, indem sie die im Rathaus tagenden polnischen Adligen vertrieben und auch einen Reiter vom Pferd rissen. Sie hätten gerufen: »Wir wollen kein Polenthum, wir sind Preußen!« (Heinrich Wuttke, Städtebuch des Landes Posen, Leipzig , S. -; dazu auch Kemlein, Die Posener Juden, S.  f.).  Ebd., S. . Bei einer dieser frühen Ausschreitungen am . März in Milosław soll es allerdings ein Todesopfer gegeben haben (s. u.).  Den Polen war die Aufstellung von Truppen erlaubt worden, die Anfang April neuntausend Mann umfasst haben sollen und in drei Lagern an der Grenze zum Königreich Polen stationiert wurden, da man einen Krieg gegen Russland plante.

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Colomb begann die polnische Verwaltung zu entfernen und kleinere polnische Einheiten aufzulösen, was den Widerstand unter den Aufständischen, aber auch in der Zivilbevölkerung anfachte, so dass es zu ersten geringfügigen Scharmützeln kam. Dieser Widerstand stellte für General Colomb den Bruch der Jarosławer Konvention dar, so dass er am . April mit Billigung der preußischen Regierung die Auflösung der polnischen Einrichtungen anordnete. In den nächsten Wochen kam es zu drei größeren Gefechten, nach denen die polnische Militärführung am . Mai  kapitulierte. Die polnischen Bauern verhielten sich nach Makowski mehrheitlich neutral, doch nach der Konvention von Jarosławiec, motiviert durch das brutale Vorgehen des preußischen Militärs und die Agitation des Klerus, »griff ein immer größerer Teil der Bauern von sich aus zur Waffe. Die übrige Landbevölkerung unterstützte in großem Maße den Aufstand«. Diese »Sensenmänner« rekrutierten sich vor allem aus den von den Großgrundbesitzern bewaffneten Dienstboten, Bauern und Knechten, zu denen später noch Häusler, Einlieger und Tagelöhner traten.259 Nach Rabinbach waren es judenfeindliche Mitglieder des niederen Adels, der unteren Mittelschicht sowie Bauern, die in die Städte strömten und die Ausschreitungen begingen.260 Der Verlauf der antijüdischen Ausschreitungen in der Provinz Posen Die antijüdischen Ausschreitungen in den zentralen und östlichen Kreisen des Großherzogtums Posen in dieser Phase verdankten sich also einer spezifischen ethnisch-nationalen Konfiguration in einer durch den geschilderten Nationalitätenkonflikt aufgeheizten politischen Stimmung. Diese feindselige Stimmung und die anarchische Aufstandssituation, in welcher der preußische Staat und seine Ordnungskräfte nicht immer Herr der Lage waren, begünstigte die in einigen Fällen mit militärischen Aktionen verbundenen Ausschreitungen gegen die deutsche, aber vor allem gegen die jüdische Zivilbevölkerung, die zumeist von Insurgenten, in wenigen Fällen aber auch von der örtlichen polnischen Bevölkerung ausgingen.261 Nach Makowski existieren in der Literatur, und zwar sowohl in der deutschen, wie polnischen und jüdischen, zum »Frühling der Nationen« in der Provinz Posen im Jahre  bis heute stereotype Darstellungen über die Haltung der dortigen  Makowski, Das Großherzogtum Posen, S. . Diese Rolle der polnischen Geistlichkeit für die »Fanatisierung« der polnischen Bevölkerung hebt besonders Herzberg hervor: »Aus dem Nationalkampf wurde ein Religionskampf« (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  Rabinbach, The Emancipation of the Jews, S. .  So schreibt etwa Der Orient, . Jg., Heft , , .., S. , dass im Großherzogtum Posen »jetzt die vollständige Anarchie« herrsche: »der Kampf zwischen Deutschen und Polen ist auf fast allen Punkten ausgebrochen, Deutsche und Polen stehen sich mit den Waffen in der Hand gegenüber und die Polen […] erlauben sich besonders auf dem platten Lande unerhörte Excesse«.

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Juden, wonach diese ganz auf Seiten der Deutschen gestanden und der polnischen Seite feindlich gegenübergestanden hätten.262 Dies entspricht nach Makowski jedoch nicht der Situation von , da die große Mehrheit der ärmeren jüdischen Schichten sich aus dem deutsch-polnischen Konflikt heraushielt und sich vor allem die bürgerlich-assimilierten Juden in Posen und in den Kreisen mit deutscher Mehrheit an den deutschen Aktivitäten beteiligten, deren Forderungen unterstützten und sich »an vorderster Stelle im Kampf gegen die polnische Bewegung« engagierten.263 In den vom Aufstand erfassten östlichen und mittleren Kreisen verhielten sich die Juden loyal, wohl auch, wie Makowski vermutet, aus Angst vor Pogromen.264 Makowski mahnt an, dass man in der Diskussion des Nationalitätenkonflikts in der Provinz Posen das Ausmaß und die geographisch begrenzte Verbreitung ethnisch motivierter Gewaltausbrüche im Auge behalten sollte, denn den meisten Publikationen, vor allem den sensationalistischen Zeitungsberichten zu diesem Thema zufolge war die Provinz Schauplatz von Massakern und Pogromen, die vor  Makowski, Between Germans and Poles, S.  ff. Die Sicht gebildeter Posener Juden im Rückblick von  findet sich exemplarisch in dem Buch von Aron Heppener und Isaak Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden in den Posener Landen nach gedruckten und ungedruckten Quellen, Koschmin, Bromberg , S. : »An den nationalen Bestrebungen des Jahres  nahmen die Juden des Landes Posen lebhaften Anteil, sie fühlten sich stets und überall als Deutsche. […] Den in jenen Tagen allerorten gegründeten Bürgervereinen gehörten auch viel Juden an«. Es folgen einige Beispiele eines aktiven Einsatzes gegen die Polonisierung des Landes. Weitere Beispiele für die polenfeindliche Einstellung der deutsch-jüdischen Presse, aber auch seitens assimilierter Posenscher Juden in: Kemlein, Die Posener Juden, S.  f. Polnische Autoren konstatieren ebenfalls eine pro-deutsche Haltung der Juden, doch sehen sie diese nicht in deren Assimilation an die deutsche Kultur begründet, sondern unterstellen den Juden rein materielle Interessen und eine dezidiert antipolnische Haltung. Juden werden vieler Verbrechen beschuldigt, etwa der Misshandlung polnischer Gefangener und der Anstiftung preußischer Soldaten gegen Insurgenten und die polnische Zivilbevölkerung (Makowski, Between Germans and Poles, S. ). Einige zeitgenössische Beispiele für die Unterstellung, Juden würden die deutsche Seite primär aus Handels- und Geldinteressen unterstützen und sich undankbar gegenüber den Polen zeigen, siehe in: Kemlein, Die Posener Juden, S.  f.  Makowski, Das Großherzogtum Posen, S.  Die AZJ, Jg. , Heft , .., S. , zitiert einen Bericht der Deutschen Allgemeinen Zeitung (Leipzig), wonach der »überall jetzt sehr thätigen polnischen Insurrektion« in Posen nun »eine Reaktion von einer Seite« entgegentritt, »von welcher es die Polen wol am wenigsten vermuthet haben, von Seiten nämlich der Bauern und Juden, denen sich die deutschen Bürger anschließen. Sie wollen keine Polen sein, wenigstens nicht unter polnischer Herrschaft, sondern Preußen bleiben«. Sie verweigerten die Annahme polnischer Kokarden und kauften sich preußische. Juden hätten in Kempen sogar das Haus eines Polen gestürmt, der polnische Kokarden verteilt hatte.  Makowski, Das Großherzogtum Posen, S. ; ähnlich auch Kemlein, Die Posener Juden, S. -; Hagen, Germans, Poles, and Jews, S. , schreibt, dass die Juden im polnisch dominierten Zentrum der Provinz ihre Sympathien für die deutsche Seite hinter passivem Verhalten versteckten.

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allem gegen Juden gerichtet waren. Dies entspricht seiner Auffassung nach aber nicht den Tatsachen, zumal beide Konfliktparteien das Ausmaß der Konfrontationen übertrieben. So kursierten für die Erzeugung von Pogromstimmungen typische Gerüchte, wonach Juden die Wasser, und Wodka-Versorgung vergiftet hätten, umgekehrt gab es in der Berliner Zeitung Zeitungshalle eine erfundene Meldung von der Abschlachtung von Deutschen und Juden in Gnesen.265 Juden wurden in jedem Fall nicht vom deutsch-polnischen Konflikt verschont, wobei es Juden gab, die Polen überfielen oder preußische Soldaten dazu anstifteten, wie umgekehrt polnische Aufständische Juden schlugen und ausraubten.266 Auch wenn man alle Berichte als wahr akzeptiert, die nicht explizit als unwahr erwiesen sind, war das Ausmaß der gegenseitigen Gewaltaktionen zwischen Juden und Polen nach Makowski begrenzt, so dass er nur drei schwere Ausschreitungen erkennt (Trzemeszno/ Tremessen/Tschemesno, Września/Wreschen und Buk/Buck), die zudem in direkter Weise mit militärischen Operationen verbunden waren und die deshalb auch einer anderen Handlungsdynamik folgen als von Ortsansässigen begangene zivile Ausschreitungen.267 Auch Stefan Rohrbacher betont, dass diese Ausschreitungen sich in einem »faktischen Kriegsgebiet« abspielten und deshalb, vor allem was das Ausmaß an Gewalt angeht, nur »wenig mit den Ereignissen in den Dörfern und Kleinstädten Badens und Bayerns gemein« hatten, da sie nicht aus der örtlichen Bevölkerung heraus, sondern von polnischen Aufständischen primär gegen die deutsche Bevölkerung gerichtet waren, als deren Parteigänger auch die Juden attackiert wurden. Im Unterschied zu Makowski ist Rohrbacher jedoch der Ansicht, dass die Insurgenten in einigen Fällen »mit einer gezielten Härte und Grausamkeit« gegen Juden vorgingen, die sich nicht allein aus dem Nationalitätenkonflikt, sondern aus der »in Teilen der polnischen Bevölkerung ausgeprägten Judenfeindschaft« speisten.268 Sophia Kemlein hat sicher Recht, wenn sie die Ursachen dafür in diesem Fall in einer doppelten Motivation der Täter sieht, denn einerseits existierte ihrer  Makowski, Poles, Germans and Jews, S. . »From most of the publications on the subject one gets the impression that the province witnessed serious incidents of slaughter and pogroms. However, this is unconfirmed by the sources. The press of the time, the administrative reports, and even the literature, while propagating such opinions, incline one to come to completely different solutions. That such incidents did take place is unquestionable, but because of the vicious propaganda war being waged at the time, their scale was often exaggerated on both sides« (Makowski, Between Germans and Poles, S. ).  Bei Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, S.  f., findet sich ein anschaulicher Bericht aus dem Dorf Slupy (bei Schubin/Szubin, nahe Bromberg/ Bydgoszcz), wo eine große Volksmenge das Wiedererstehen Polens und die Entmachtung der preußischen Behörden feierte, was unter der Minderheit der Deutschen und Juden zu Gegenmaßnahmen, etwa der Aufstellung einer Bürgerwehr, führte. »Auf diese Weise teilte sich die Bevölkerung in zwei feindliche Lager«.  Makowski, Between Germans and Poles, S.  f.; ders., Das Großherzogtum Posen, S.  f.  Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .

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Meinung nach »eine virulente Abneigung der polnischen Landbevölkerung« gegenüber den Juden, die in der vorliegenden Krisensituation zum Tragen kam, andererseits wurden die Juden in der Aufstandssituation zusätzlich als Feinde betrachtet.269 Die von Makowski genannten »schwere Fällen« forderten allerdings Todesopfer (einige, bis höchstes ein Dutzend) unter den Juden, und man kann vermuten, dass mehrere Dutzend in den vielen weiteren Auseinandersetzungen verletzt worden sind,270 denn neben den »schweren Ausschreitungen« gab es in mehreren Orten Angriffe auf jüdische Läden und Synagogen, die in einigen Fällen nicht von bewaffneten Insurgenten, sondern von der lokalen Bevölkerung verübt wurden. Übergriffe hat es nach Sophia Kemlein in etwa  bis  Orten gegeben, bei denen mehrere Juden ums Leben kamen. Einige Orte werden in einer ganzen Reihe von Quellen benannt (Grätz, Żnin, Mirosław, Buk, Wreschen, Tremessen, Strzelno, Schroda, Slupy), andere werden nur in einer Quelle genannt (Kurnik, Pinne, Xions, Neustadt a. d. Warthe).271 Die Unruhen ereigneten sich überwiegend im weiteren Umkreis der Stadt Posen an Orten mit einer polnischen Bevölkerungsmehrheit, obwohl auch hier die Juden zum Teil durchaus die polnischen Aufständischen unterstützten, etwa indem sie Geld, Kleidung oder Ausrüstung für diese spendeten.272 Die Zeitungen, die über die Konflikte in der Provinz Posen berichteten, zeichneten ein ganz unterschiedliches Bild der Vorgänge. Zunächst die dramatisierende Version, die allerdings in einer ganzen Reihe von Fällen auch von späteren Darstellungen gestützt wird: Aus den Orten Trzemeszno, Wreschen und Żnin (bei Bromberg) wurden Mitte April  mehrere Fälle brutaler Morde, Verstümmelungen und Vergewaltigungen berichtet.273 Diese Ausschreitungen ereigneten sich in einer typischen, von »zivilen Pogromen« abweichenden Konstellation eines vorübergehenden Machtvakuums: Sie brachen entweder in dem Moment des Abzugs preußischer Soldaten aus einem Ort aus, oder kurz vor dem Anrücken preußischer Truppen, wodurch die polnischen Insurgenten gezwungen waren, den Ort aufzugeben. Die kurze »liminale Phase« des bevorstehenden Machtwechsels nutzten die Insurgenten, um über die »gegneri Kemlein, Die Posener Juden, S. . Siehe ähnlich auch Rabinbach: »Old prejudices and animosities came to light, while clear differences in the attitude of various parts of the Jewish population to the nationality conflict between Poles and Germans provoked a new wave of anti-Jewish violence. The situation was similar to some countries of the Austrian monarchy« (The Emancipation of the Jews, S. ).  Makowski, Between Germans and Poles, S. .  Kemlein, Die Posener Juden, S. .  Ebd., S. .  Vgl. AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Heft , .. , S. ; Heft , .., S. ; vgl. auch: Der Orient, Heft , .., S. ; Zeitungsnachrichten. Aus dem Großherzogtum Posen, in: Der treue Zions-Wächter, Jg. , Heft , .., S. . Vgl. als spätere Darstellungen: Heinrich Wuttke, Städtebuch des Landes Posen, Leipzig ; Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, die sich z. T. auf Wuttke, aber auch auf andere Quellen und Berichte stützen.

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sche« einheimische Bevölkerung, also Deutsche und Juden, herzufallen. In anderen Fällen waren die Ausschreitungen in Kampfhandlungen eingebettet, in überfallartige Besetzungen eines Ortes. In Żnin (Schnin) wurde nach Abzug der in der Stadt stationierten preußischen Soldaten das Landvolk an einem Sonntag (. April) in die Stadt gerufen, um die angeblich bedrohte Kirche und den Geistlichen zu schützen. Die Obrigkeit wurde entmachtet, und man begann in diesem Machtvakuum  Häuser von Deutschen und Juden zu plündern und teilweise zu zerstören. Dabei wurden ein Jude getötet und mehrere verletzt. Im Mai rückte das preußische Militär dort ein, und drei Polen, die preußische Adler heruntergerissen hatten, wurden ausgepeitscht.274 Die Deutsche constitutionelle Zeitung schrieb von einem Scharmützel mit dreißig Toten in Trzemeszno, darunter vier Juden. Nach der Darstellung im Städtebuch von Heinrich Wuttke war die Stadt zunächst von ca. anderthalbtausend bewaffneten polnischen Insurgenten besetzt, bevor preußische Truppen am . April anrückten. Beim Angriff auf die Stadt wurden sie von Schüssen empfangen, mussten sich aber auf Befehl von General Willisen wieder zurückziehen. Genau in diesem Moment »wendete sich die Wuth der Polen gegen wehrlose Einwohner«. Vier namentlich genannte jüdische Einwohner wurden ermordet, mehrere Einwohner schwer verletzt, dreißig Juden und Deutsche eingesperrt und misshandelt, zahlreiche Häuser von Deutschen und Juden ausgeplündert. Polnische Truppen zogen Anfang Mai in die Stadt, bevor die Preußen am . Mai in die Stadt einrückten.275 Der Trigger für den Ausbruch der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung war der Angriff preußischer Truppen, der eine ganze Reihe polnischer Todesopfer gefordert hatte, so dass die Übergriffe als Racheakte an den in »Geiselhaft« genommenen deutschen und jüdischen Einwohner zu verstehen sind. Dabei fällt allerdings auf, dass nur Juden ermordet wurden. Ein ganz ähnliches Muster zeigt das Zustandekommen der Ausschreitungen in Wreschen in der Nacht vom . auf den . April . Seit dem . März wurde die Stadt von Polen beherrscht, die sie zum Sammelplatz ihrer »bewaffneten Haufen« machten. Nach einer Abmachung mit dem preußischen General Willisen zogen die polnischen Aufständischen am . April ab, doch nutzten sie die Nacht davor zur Schändung der Synagoge und begingen »Gräueltaten« an den Juden des Ortes, wobei sie extrem brutal vorgegangen sein sollen (s. u.). Es hat wohl zwei Tote und drei Verletzte gegeben. Von den am nächsten Tag einrückenden preußischen Soldaten wurden »mehrere polnische Bürger übel behandelt«.276 Die AZJ berichtete unter Berufung auf die Posener Zeitung von schweren Ausschreitungen gegen christliche und jüdische Deutsche in Buk (Buck), einer Stadt in der Nähe Posens, die alle ihre Habe verloren hätten. Das Innere der gerade erst kürzlich eingeweihten Synagoge wurde zerstört, Gesetzesrollen zerschnitten, Fens Wuttke, Städtebuch, S.  f.  Ebd., S.  f. Bei den Kämpfen wurden  preußische Soldaten und dreißig Polen verwundet, ein Soldat und  Polen starben.  Wuttke, Städtebuch, S. .

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ter eingeschlagen.277 Auch in diesem Fall waren nicht die Ortsbewohner, sondern Insurgenten die Gewaltakteure. Polen hatten die Stadt besetzt und den Bürgermeister abgesetzt, bevor preußische Truppen die alte Ordnung wiederherstellten. Nach Wuttke hatten die Einwohner eine Bürgerwehr gebildet, und es lagen auch Soldaten in der Stadt, dennoch überfielen am Morgen des . Mai »Sensenmänner« die Stadt, »verstümmelten eine Anzahl Soldaten und waren eine Weile Meister der Stadt«.278 Häuser von Deutschen und Juden wurden demoliert oder geplündert, polnische habe man verschont. Auch die erst vor kurzer Zeit erbaute Synagoge wurde zerstört. »Eine große Zahl Juden büßte bei diesen Metzeleien ihr Leben ein«.279 Nach Heppener und Herzberg hätten sich die Juden bis zur Ankunft der preußischen Soldaten versteckt, die dann die Häuser durchsucht und die vorgefundenen Aufständischen erschossen hätten. Im April zogen polnische Insurgentengruppen durch die Provinz Posen und überfielen die jüdischen und deutschen Einwohner kleinerer Städte, zumeist von den Adligen ausgerüstete Bauern, die sog. »Sensenmänner«. In der südlich von Posen gelegenen Stadt Kosten (Koscian) kam es laut einem Bericht vom . April  zu »Exzessen« seitens einer »Räuberbande«, die eine in der Stadt liegende Garnison nicht verhindern konnte. Fünfhundert Mann Militär wurden daraufhin in den Ort in Marsch gesetzt, die allerdings zu spät eintrafen. Auch in der Stadt Grätz (Grodzisk Wielkopolski) wurden Häuser von Juden und Deutschen demoliert und deren Bewohner misshandelt.280 Heppener und Herzberg berichten auch über Exzesse polnischer Insurgenten aus Kurnik (Kornik), wo zwei jüdische Kaufleute ermordet worden sein sollen.281 In Pinne blieb es in der Nacht vom . auf den . April bei  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Heft , .., S.  f.  Wuttke, Städtebuch, S. .  Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, S.  f.; dort auch einige Namen der getöteten Juden; auf S.  schreiben die beiden Autoren, die »Sensenmänner« (bewaffnete Insurgenten, s. o.) hätten in Buk fünf Juden ermordet. Diese Zahl übernimmt auch Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. . Ein Bittbrief des Vorstandes der jüdischen Gemeinde in Buck vom . Mai  an einen nicht näher bezeichneten »Hochwürden« in Magdeburg beschreibt ausführlich die völlige Ausplünderung der jüdischen Einwohner und die Zerstörungen der gerade neu eingeweihten Synagoge und bittet um die Veröffentlichung eines Spendenaufrufs, ohne jedoch mit einem Wort zu erwähnen, dass es Todesopfer zu beklagen gab. Dies lässt gewisse Zweifel an dem vorstehenden Bericht aufkommen (AZJ, . Jg., Heft , .., S. ), zumal auch Wuttke, Städtebuch, S. , keine Todesopfer unter den Juden erwähnt hat.  Der Orient, . Jg., Heft , , S. . Ein Bericht in der selben Ausgabe vom .. zitiert die Breslauer Zeitung, wonach in Kosten keine Exzesse begangen wurden und auch in Grätz seien keine Personen bedroht, wohl aber die Einrichtung von Juden gehörenden Häusern zerstört worden.  Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, S. ; allerdings findet sich zu den beiden Todesopfern im Ortsartikel »Kurnik« in: Wuttke, Städtebuch, S.  f., kein Hinweis. Wuttke berichtet vielmehr, dass am . April »preußisches Kriegsvolk« einrückte, das nach polnischen Angaben »arg gehaust« habe: der Schlossgarten sei zerstört, Heiligenbilder gespießt, Betten und Geräte zerschlagen, geplündert, ein paar

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Angriffen auf jüdisches Eigentum.282 In der Nähe von Buk sollen in dem Ort Stenschewo (Stęszew) die Wohnhäuser von Deutschen und Juden vollständig ausgeplündert worden sein.283 Auch Unruhen in der Stadt Strzelno zeigen ein von den üblichen lokalen Pogromen abweichendes Muster: Nach Wuttke nahm eine nicht näher bezeichnete »Schar« von Polen die Stadt in Besitz, riss die preußischen Adler ab, hisste polnische Fahnen, versiegelte die Kassen usw., wogegen sich die Ortsbürger bewaffnet wehrten und die Polen vertrieben. Eine zum Schutz erbetene preußische Besatzung kam in die Stadt. Das auslösende Moment der Ausschreitungen bestand in der Provokation seitens eines preußischen Soldaten, der am . April eine polnische Kokarde herunterriss, woraufhin Polen die Sturmglocke läuteten, was Adlige und ihre »Sensenmänner« aus der Umgebung alarmierte, die die preußischen Soldaten vertrieben und die Häuser von Deutschen und Juden plünderten, wobei zwei Deutsche ums Leben kamen. Bei der Rückeroberung der Stadt gab es unter den Polen dreißig Tote und zwanzig bis fünfundzwanzig Verwundete.284 Wir finden hier also eine Vermischung von Aufstandsaktionen, die auf die Abschüttelung der preußischen Herrschaft zielten, mit antijüdischen und antideutschen Ausschreitungen sowie blutigen militärischen Gegenreaktionen zur Niederschlagung der Insurrektion. In Kempen sollen Mitte April Bauern über die Juden hergefallen sein und mehrere ermordet haben, bevor Militär zur »Dämpfung der dort ausgebrochenen Unruhen« dorthin beordert wurde, doch findet sich bei Wuttke dazu kein Hinweis.285 Bereits am . März wurden auch in Milosław die preußischen Adler abgerissen, Akten verbrannt und auf den flüchtenden Bürgermeister geschossen, der Gendarm entwaffnet. Die Häuser der beiden Männer wurden zertrümmert, darauf ging es an die Beraubung der »Judenhäuser«. Nach Heinrich Wuttke sei die Tochter des Rabbiners, die sich gegen ihre Vergewaltigung wehrte, ermordet worden. Letzteres wird von Makowski nicht erwähnt, er schreibt die Plünderung der Läden und Bethäuser der lokalen Bevölkerung zu und nicht, wie in den meisten anderen Fällen, den Insurgenten. Viele dieser bei Wuttke sowie bei Heppener und Herzberg und in den deutschjüdischen Zeitungen geschilderten grausigen Vorfälle dürften sich so nicht ereignet haben, bedienten sie sich doch ganz offensichtlich des in der Schilderung von Erfahrungen kollektiver Gewaltakte typischen Repertoires und blieben auch von polnischer Seite nicht unwidersprochen. So wenn aus Wreschen berichtet wird,

   

Bürger verwundet, ein Mann getötet worden. Der ironische Nachsatz von Wuttke, »Nach dieser Befreiung verlangten die Einwohner von Kurnik Aufnahme in den Deutschen Bund«, soll diesen »Gräuelbericht« von polnischer Seite als unglaubwürdig diskreditieren AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, S. ; Herzberg. Die polnische Insurrektion (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Wuttke, Städtebuch, S.  f. Der Orient, . Jg., Heft , , .., S. ; Ortsartikel zu Kempen in: Wuttke, Städtebuch, S. -.

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dort habe man einem Juden die Augen ausgestochen, einem anderen das Ohr abgeschnitten und die Finger zerhackt, und drei in ihren Betten überfallenen Mädchen habe man die Bäuche aufgeschlitzt und die Brüste abgeschnitten.286 In anderen Orten sei ein Jude gezwungen worden, neben der Leiche seines erschossenen Bruders mit den Insurgenten Brüderschaft zu trinken, »wehrlose Krüppel wurden entsetzlich mißhandelt«, »ein sechzigjähriger gelähmter Greis« erlag seinen Verletzungen; eine »Mutter sieht ihre Tochter geschändet vor sich liegen«; Eltern müssen mit ansehen, wie sich ihr »unschuldiges Kind, am Körper verstümmelt, im Blute badet«, usw.287 Diesen ihrer Meinung nach parteiischen Gräuelberichten über die Ausschreitungen seitens der Polen traten  in der Zeitschrift Der Orient, die in derselben Ausgabe selbst solche Berichte enthielt, drei Männer entgegen, die sich im Auftrag des demokratischen Vereins in Breslau an Ort und Stelle ein Bild von »den Zuständen in Posen« gemacht hatten. Sie widersprachen den »übertriebenen Zeitungsberichten« und betonten den Fanatismus beider Seiten. Der Bericht hob insbesondere eine Mitschuld der Juden hervor, die, durch »Ängstlichkeit« getrieben, »alle Mittel auf boten, um Haß und Zwietracht gegen die Polen zu schüren«. Die Gräueltaten in Trzemeszno und Wreschen seien eine Reaktion auf eine preußische Militäraktion sowie auf den Fund von fünf toten, im Kampf gefallenen Polen im Haus eines Juden gewesen. Zudem dürfe man nicht kollektiv alle Polen beschuldigen. Vor allem die Berliner Zeitungen neigten zum Aufbauschen der Ereignisse in der Provinz Posen. »Jene Excesse sind übrigens auch nicht in dem Umfange und nicht in der Brutalität ausgeführt, wie sie in den Zeitungen von den Parteien einseitig erzählt werden«. So seien in Kosten und Kurnik die berichteten Gräueltaten nicht verübt worden, was durch einen Bericht der Breslauer Zeitung vom . April erhärtet wurde, die den Berliner Zeitungen vorwarf, »die von den Polen bei dieser Gelegenheit verübten Gräuelthaten an Deutschen und Juden nicht grell genug zu schildern vermögen«. Diese entstellten Nachrichten würden ihrerseits nur Öl ins

 Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, S. , die diese Gräueltaten anführen, fügen diesem Bericht jedoch an, dass die Polen »jegliche Schuld an den entsetzlichen Vorfällen« abstritten, »ja sie leugneten sogar, daß den Ausschreitungen Juden zum Opfer gefallen seien. Sie behaupteten, ›das erhobene Angst- und Zetergeschrei der Wrescher Juden habe in jenen Tagen die ganze Welt in Flammen gesetzt, u. doch sei nachher durch die unverdächtigen Zeugen ermittelt worden, daß kein Mensch bei dem Aufstande umgekommen sei‹«. Die beiden Autoren widersprachen dieser Behauptung, da die Namen der schwer verletzten, unglücklichen Mädchen bekannt seien. Von polnischer Seite wurde wiederum erzählt, »die Juden hätten die poln. Verwundeten in ihre Häuser gelockt u. dort hingemordet«. Damit waren die fünf toten polnischen Soldaten gemeint, die im Haus eines Juden aufgefunden worden waren.  Heppener/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden, S.  f. und ; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. , gibt diese Berichte gänzlich unkommentiert wieder. Eine geballte Zusammenstellung solcher Szenen findet sich in einer Privatmitteilung in der AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

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Feuer gießen.288 D. h., wir sehen hier, dass in dieser Konfliktsituation ein öffentlicher Meinungskampf über das Ausmaß an Gewalttaten der jeweils anderen Seite geführt wurde, der es erschwert, ein genaues Bild der Ereignisse zu gewinnen. So zitiert Der Orient in derselben Ausgabe die Posensche Gazeta Polska, die die Juden beschuldigt habe, durch Aufhetzen des preußischen Militärs, durch Abfassung falscher und entstellender Berichte, die in Posen herrschende Zwietracht geschürt zu haben.289 An diesem Fall zeigt sich das generelle Problem von Zeitungsberichten, aber auch späteren Darstellungen über Pogrome, die angesichts der unangekündigt auftretenden und zumeist nur kurz andauernden Gewalt keine Berichterstattung aus erster Hand liefern konnten und deshalb aus zweiter Hand berichten mussten und die zudem nur selten unparteiisch waren. In dieser Kriegssituation, in der es neben den zivilen Opfern, darunter auch Juden und Deutsche, auch eine hohe Zahl von getöteten Soldaten auf polnischer wie auf preußischer Seite gab, tobte der »Propagandakrieg besonders heftig, indem die jeweils andere Seite durch Gräuelberichte in der nationalen wie internationalen Öffentlichkeit diskreditiert werden sollte. Da keine neueren, auf offiziellen Quellen basierenden Studien über die Ausschreitungen vorliegen, muss offenbleiben, welches Ausmaß genau die antijüdische Gewalt im Großherzogtum Posen angenommen hat. Unbestritten ist jedoch, dass es bei diesen Ausschreitungen, die im Kontext einer »Kriegssituation« gewaltsamer verlaufen sind als in »zivilen Pogromen«, in einer Reihe von Orten zu Plünderungen und zu Todesopfern und Verletzten unter den Juden gekommen ist, wie auch zu einer großen Zahl von Toten unter den Aufständischen und den preußischen Soldaten in den Kämpfen um diese Orte. Antijüdische Ausschreitungen im Habsburgerreich Wir finden antijüdische Ausschreitungen auch in größeren Städten des Habsburgerreiches wie Prag, . April und . Mai; Preßburg, .-. Februar und .-. April; Budapest, . April; Olmütz,. April; Groß-Meseritsch, . April; aber auch in Orten in der Umgebung von Preßburg, im westlichen Ungarn und in Mähren. Diese Unruhen hatten ihren Ursprung zumeist im Handwerker- und Kaufmannsmilieu, d. h., die Angriffe richteten sich gegen die Ausbreitung der jüdischen Konkurrenz, vor allem also gegen deren Ladengeschäfte oder Marktstände. Die Frage, in welchen Teilen der Stadt Juden ihre Läden aufmachen durften oder nicht, betraf aber nicht nur die Konkurrenten, sondern alle Bürger, da es hier um die Anwesenheit von Juden im öffentlichen Raum ging, die als Symbol der Machtverteilung gedeutet wurde.  Der Orient, Heft , .., S. -.  Ebd., S. . Das Misstrauen der jeweils anderen Seite gegenüber wird in der Anmerkung der Redaktion deutlich, die die Gazeta Polska denn für eine »wohl nicht ganz lautere Quelle« hielt.

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Antijüdische Unruhen in Prag Christoph Stölzl schreibt von der spezifischen Gemengelage sozialer, politischer und nationaler Triebkräfte in Böhmen, die die Juden der Revolution gegenüber zunächst skeptisch gestimmt habe. Als die Revolution eine liberale Stoßrichtung zu nehmen schien, gaben sie jedoch ihre Besorgnis auf und beteiligten sich tatkräftig daran. Im März hatte es zunächst eine Übereinstimmung in den Forderungen nach Liberalisierung und jüdischer Emanzipation im Prager Bürgertum gegeben. Jüdische Stimmen hatten noch Ende März  eine für die Juden »sehr gute Stimmung, wie sie noch nie war«, sehen wollen. Als die nationalen böhmischen Forderungen in Wien abgelehnt wurden, kam es zu einem Stimmungsumschwung vor allem im nationalen, radikalen Kleinbürgertum. Die nationale Frage in Böhmen verschärfte sich, obwohl Juden dem alle Gruppen übergreifenden Nationalausschuss beitraten. So wurde die Stimmung »gegen Deutsche und Juden eine fürchterliche«.290 In Prag setzte eine judenfeindliche Flugblattagitation ein, und Drohbriefe wurden an die jüdische Gemeinde Prags verschickt, die den Juden einen Verzicht auf Emanzipationsforderungen nahelegten.291 Am . April  versammelte sich in Prag eine Menschenmenge vor einem der neu eröffneten jüdischen Läden und wollte dessen Schließung erzwingen, da diese sich entgegen den dahin geltenden Beschränkungen in der Prager Neustadt niedergelassen hatten. Als der Sohn des Inhabers, der ein Mitglied der Nationalgarde war, den Säbel zog und die Menge bedrohte, wurde er attackiert und konnte von einer Studentenkohorte nur schwer aus den Händen der aufgebrachten Menge befreit werden. Dieser Vorfall bildete das auslösende Ereignis, woraufhin es den ganzen Tag über zu kleineren Exzessen und zu mehreren Verhaftungen kam. Aufgrund der aufgeheizten Stimmung musste die Nationalgarde nachts in der Judenstadt und auf dem Tandelmarkt, auf dem Juden ihre Handelsbuden aufgeschlagen hatten, patrouillieren.292 Sehr schnell zeigte sich aber in der Nationalgarde ein Unwille, die Juden zu schützen, und Teile der Garde begannen, Juden aus der Garde auszuschließen. Deren Führer sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, zu energische Maßnahmen zum Schutz der Juden ergriffen zu haben. Am . April wurden Plakate in der Stadt angeschlagen, in denen zu einem Blutbad an den Juden aufgerufen wurde, die von der Nationalgarde aber entfernt wurden.293 Zwar gab es auch ausgleichende Stimmen, etwa den Hirtenbrief des Prager Erzbischofs, doch konstatiert Stölzl den Beginn des Zerfalls der bürgerlich-jüdischen Interessengemeinschaft in Prag.294 In der Tat munkelte man Ende April in der Stadt, in der die deutsch- und judenfeindliche Agitation nicht nachgelassen hatte, wiederum von drohenden Krawallen, die sich gegen Juden, aber auch gegen von der Frankfurter Nationalversammlung     

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Der Orient, Heft , .., S. . Stölzl, Zur Geschichte der böhmischen Juden I, S.  ff. AZJ, Jg. , Heft , .., S.  und . Der Orient, Heft , .., S. . Stölzl, Zur Geschichte der böhmischen Juden I, S.  f.

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zurückkehrende Abgeordnete, den Konstitutionellen Verein und den Führer der Nationalgarde, wohl wegen dessen Einsatzes zum Schutz der Juden, richten sollten.295 Juden wurden hier also Opfer einer Gemengelage von aus unterschiedlichen Gründen enttäuschten politischen Hoffnungen und akuten sozialen Problemen.296 Die Nationalgarde hielt einen ersten Menschenauflauf aber noch unter Kontrolle, doch sie wirkte allmählich ermüdet, und man kritisierte, dass sie sich der Verteidigung der Juden so sehr annehme, und forderte, die Juden sollten ihren Schutz selbst organisieren. Insbesondere die Forderung, die Juden aus der übrigen Stadt ins Ghetto zu verweisen, wurde von vielen unterstützt und fand ein Sprachrohr in der Konstitutionellen Prager Zeitung. Der Konflikt um die Emanzipation der Juden wurde hier also in Form eines Kampfes um den öffentlichen Raum ausgetragen. D. h., die Juden sollten ihre zugewiesenen Grenzen nicht überschreiten. An mehreren Abenden versammelten sich nun größere Menschenmengen, die nur mit gefälltem Bajonett in Schach gehalten werden konnten, was für ein Ansteigen der feindseligen Stimmung spricht. Am . Mai kam es – trotz zahlreicher Verhaftungen von »Gesindel« und gut gekleideten Personen – dann den ganzen Tag über zu blutigen Zwischenfällen (es gab wohl einen durch einen Bajonettstich der Nationalgarde getöteten Demonstranten, zahlreiche Verletzte unter Juden und Christen, insbesondere aus der Nationalgarde und dem Studentencorps), und alle Straßen des Judenviertels wurden Ziel von Zerstörung und Plünderung.297 Die Nationalgarde wurde mit Steinen beworfen und musste sich wegen des Judenschutzes als »Judenpolizei« beschimpfen lassen. Die Menge war nur mit Waffengewalt zurückzuhalten. Ein Korrespondent berichtet auch von jüdischer Gegenwehr. Die Juden hätten mit »Steinen, Ziegeln und Holzstücken« auf Christen geworfen und einige verletzt, was die Menge als unerwarteter Bruch der protocols of riots noch mehr verbittert habe, die nun das Fließen von »Christenblut« rächen wollte.298 Ein in der AZJ abgedruckter Brief zu den Vorgängen in Prag zitiert ein in der Stadt angeschlagenes Plakat, das sich als eine Art Aufruf »zur Güte« verstand, aber sehr deutlich eine Mischung aus antiemanzipatorischen Vorstellungen und Assimilationsforderungen enthielt, um die Juden in »den gehörigen Schranken der Bescheidenheit zu halten.«299 Zu den Forderungen gehörten die völlige räumliche Separie Dazu und zum Folgenden der Bericht aus Prag: AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.  Rürup sieht für die Arbeiterunruhen im Frühjahr  in Prag die Ursache vor allem in Teuerung und Arbeitslosigkeit, so dass sich die Gewalttätigkeiten zunächst gegen einzelne jüdische Bäckereien und Händler gerichtet hätten (Der Fortschritt und seine Grenzen, S. ).  AJZ, Jg. , Heft , .., S.  f. Stölzl spricht für den . Mai von einem »regelrechten Sturm auf das Ghetto, bei dem große Zerstörungen angerichtet wurden« (Stölzl, Zur Geschichte der böhmischen Juden I, S. ).  Der Orient, Heft , .., S. . Berichte über eine derartige Gegenwehr finden sich ab und zu in den Darstellungen, doch ist es schwer zu sagen, ob es sich jeweils um eine zutreffende Beschreibung oder aber um eine Falschmeldung handelt, die dazu dient, die erhöhte Gewalt der Menge zu erklären oder gar zu legitimieren.  AJZ, Jg. , Heft , .., S.  f.

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rung von Christen und Juden in ihren Wohnvierteln, die strenge Bestrafung von betrügerischen jüdischen Kaufleuten, die zwangsweise berufliche Ausbildung des jüdischen Nachwuchses in »christlichen Gewerben«, d. h. in Handwerkerberufen, die Wiedereinführung einer Judenmatrikel, um die Zahl der Kinder zu senken usw. Darin wird erkennbar, dass die antijüdischen Unruhen im Kontext der Märzrevolution ein Versuch waren, die weitere Emanzipation der Juden zu verhindern bzw. in Teilen sogar zu revidieren. In der AZJ wurde dieser Stimmungsumschwung mit Sorge konstatiert, da die Märzrevolution zunächst ja zu einer Verbrüderung von Christen und Juden geführt habe, die nun aufgrund des »Gewerbsneids« einiger Kaufleute, die diese Konkurrenz zu »den ärgsten Judenfeinden gemacht habe«, zerstört worden sei.300 Die Zeitung beschuldigte diese Kaufleute, den Pöbel mit Geldzahlungen zu den Übergriffen angestachelt zu haben (ein häufig, aber meist zu Unrecht erhobener Vorwurf ). Zwar hielten laut AZJ Studenten und Nationalgarde am Judenschutz fest,301 doch komme es täglich zu Übergriffen auf dem Tandelmarkt und auch gegen Juden, die sich außerhalb des Ghettos bewegten. Mit der Wiederzulassung jüdischer Händler auf dem Tandelmarkt wollte die Stadtverwaltung demonstrieren, dass man den Forderungen der Judengegner nicht nachgeben wollte. Angekündigte Krawalle gegen diese Maßnahme blieben aufgrund der starken Präsenz der Nationalgarde aus,302 doch kam es am . Mai in der stark von Militär und Nationalgarde geschützten Stadt zu einem Sturm auf die nichtjüdischen Bäckerläden, was viele Beobachter zu dem Schluss führte, dies sei der Beginn der kommunistischen Revolution.303 Auch hier mischten sich wie auch andernorts antijüdische Übergriffe mit anderen Formen von revolutionären Unruhen, wie etwa Brotunruhen. Die Reaktion der nationalen tschechischen Bewegung auf die Unruhen in Prag war sehr problematisch, da der radikaldemokratische Kommentator der Zeitung Národní noviny (Nationalzeitung) das Volk als »als das große ungebärdige Kind« feierte, das sich den staatlichen Repressionsorganen entgegenstelle. Man war auch nicht bereit, sich von Seiten der tschechischen Honoratioren an einem öffentlichen Gerichtsverfahren gegen die gefassten Täter zu beteiligten.304 Der treue ZionsWächter berichtete, dass am . Mai als Reaktion auf die Angriffe ungefähr » jüdische Handwerker und Handelsdiener« sich zur Auswanderung nach Amerika eingeschrieben hätten.305 Ende Mai berichtete auch die AZJ unter Berufung auf die  Ebd., S.  f.  Die AZJ berichtet, der Oberste der Nationalgarde habe gedroht, sein Amt niederzulegen, wenn Juden ausgeschlossen würden. Woraufhin dies dann unterblieb (ebd.). Vgl. ähnlichen Bericht in: Der Orient, Heft , .., S. .  Bericht aus Prag vom . Mai , in: Der treue Zions-Wächter, Heft , .., S. .  Stölzl, Zur Geschichte der böhmischen Juden I, S. ; dazu auch AZJ, Jg. , Heft , .., S. , die von einer starken Militärpräsenz, aber auch von weiterhin drohenden Unruhen berichtet.  Ebd., S.  f.  Der treue Zions-Wächter, Heft , .., S. .

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Allgemeine Österreichische Zeitung, dass sich in Pesth, Prag, Preßburg, Wien und anderen Orten wegen der »erlittenen Drangsale« Gesellschaften zur Auswanderung gebildet hätten.306 So spricht auch Stölzl von einer Emigrationswelle im Prager jüdischen Bürgertum, die ein »beträchtliches Ausmaß« angenommen habe. Ziele seien Wien und Amerika gewesen. Zwei bekannte jüdische Baumwollfabrikanten, Epstein und Brandeis, die schon  Ziel von Übergriffen geworden waren, schlossen ihre Fabriken. Der Prager Pfingstaufstand seitens der radikal-demokratischen Nationalbewegung, an dem sich die Juden nicht beteiligten, richtete sich aber gegen die militärische Staatsmacht und wurde schnell niedergeschlagen, was von jüdischer Seite durchaus positiv aufgenommen wurde, da man befürchtet hatte, dass sich bei einem Erfolg des Aufstandes dieser auch gegen die Juden gewendet hätte, zumal der Antisemitismus sowohl in den Unterschichten wie im tschechischen Bürgertum Prags virulent blieb, indem man etwa die Juden von Wahlen der Stadtvertretung ausschließen wollte. Nach Stölzl resultierte daher auch die nun deutliche Zuwendung des Prager jüdischen Großbürgertums zur deutschen Seite.307 Ausschreitungen gegen Juden in Mähren Auch in Mähren, wo es insgesamt ruhig blieb, kam es im April und September  in den Städten Olmütz, Groß-Meseritsch und Prossnitz zu antijüdischen Unruhen.308 In Olmütz haben wir es mit der für die Emanzipationsperiode klassischen Situation des Widerstands gegen eine Ansiedlung von Juden zu tun. Dort nahmen die Einwohner am . April  das Recht in einem Akt von »Lynchjustiz« selbst in die Hand und vertrieben eine jüdische Familie zusammen mit einigen anderen Juden aus der Stadt, da sich diese zum Schaden der christlichen Einwohnerschaft bereichert hätten. Hintergrund war, dass für Juden seit  ein Ansiedlungsverbot für Olmütz bestand, doch war es ihnen erlaubt, den Wochenmarkt in der Stadt zu besuchen und sich zeitweise auch niederzulassen.  besaßen schließlich  Juden eine Konzession für den Aufenthalt in der Stadt. Schon vor  hatten Olmützer  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.  Stölzl, Zur Geschichte der böhmischen Juden I, S.  f. In der AZJ wurde  ein Artikel publiziert, der diese Abwendung von der tschechischen Seite deutlich formulierte: »Es ist ein eignes Schicksal, daß in diesen Ländern überall Juden mit den Deutschen amalgamiert werden … Was beweist dieses nun? Nichts anderes als die Ausschließungssucht der Slawen … Sie halten sich von allem beeinträchtigt, was nicht slawisch ist. Ist dies aber ein Beweis von Stärke? Ich glaube vom Gegenteil. Der Starke duldet neben sich, weil er der Herrschaft gewiß, weil er ruhig ist. Der Schwache haßt, und im Hasse glaubt er seine Stärke zu finden […]. Darum befeindet der Slawe nicht allein die Deutschen, sondern auch die Juden […]. Weil er, trotz aller Prahlereien, im Innersten seiner Seele die Schwäche seines Geistes und seines zerspaltenen Stammes fühlt, darum haßt er« (Jg. , Heft , , S. ).  Zum Folgenden siehe: Michael L. Miller, Rabbis and Revolution. The Jews of Moravia in the Age of Emancipation, Stanford , S. -.

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Bürger versucht, die jüdische Familie Hamburger auszuweisen. Der Versuch des Magistrats, diese  gesetzlich auszuweisen, war fehlgeschlagen. So nutzten die Olmützer im April  im Zuge der Revolution einen der Wochenmärkte, die schon seit längerem Schauplatz von Streitigkeiten christlicher und jüdischer Kaufleute waren, um die Familie Hamburger unter Anwendung »rohester Gewalt«, begleitet von einer Demonstration gegen mehrere Prossnitzer »Handelsjuden«, von denen zwei verprügelt wurden, aus der Stadt zu vertreiben. Die Olmützer Nationalgarde half dabei, die Ordnung wiederherzustellen, auch wenn sie die Vertreibung der Familie Hamburger und eines weiteren Juden nicht verhinderte. Am . April erschien unter dem sprechenden Pseudonym Pfefferkorn, womit auf den spätmittelalterlichen Pfefferkorn-Streit angespielt wurde,309 eine Kritik an diesem intoleranten Vorgehen. Am . Mai reagierten  Bürger der Stadt in einem Manifest der Zeitung Die Neue Zeit, indem sie die Anschuldigungen gegen Hamburger wiederholten, nämlich dass er zum Nachteil der Stadt viele Jahre Kornhandel betrieben und seine Niederlassung in Olmütz mit Kunstgriffen und weit hergeholten Vorwänden widerrechtlich erlangt habe. Sie seien gegen ihn nicht nur als einen Israeliten vorgegangen, sondern als einen, der nicht nach Olmütz gehöre. Die Bürger beschuldigten die Juden aber auch generell des Betrugs und der Intrige im Korn-, Vieh- und Textilhandel und wegen ihrer Fähigkeit, die Gesetze des Landes zu brechen, aber zugleich eine Strafverfolgung zu vermeiden.310 Mit seiner Beschwerde gegen die Ausweisung fand Hamburger bei der Distriktbehörde jedoch kein Gehör, die befand, seine Ausweisung beruhe nicht auf seiner Konfession, sondern auf seinem Verhalten. Sein Gesuch auf Erneuerung seines Aufenthaltsrechts wurde im Dezember  wegen der herrschenden Vorurteile gegen die jüdische Nation und die öffentliche Haltung gegen Hamburger abschlägig beschieden. Die Unruhen gegen die Juden in Groß-Meseritsch, die am Ostersonntag  begannen, entzündeten sich auf den ersten Blick an einem religiös motivierten Konflikt. Über den Hergang der Geschehnisse finden sich in der Studie von Michael L. Miller und in der zeitgenössischen Brünner Zeitung unterschiedliche Darstellungen, die wieder einmal das Problem aufzeigen, den Verlauf von Ausschreitungen verlässlich zu rekonstruieren.311 Einig sind sich die beiden Darstellungen im Anlass der Unruhen, nämlich dem Diebstahls einer wertvollen Monstranz, der beim Ostergottesdienst am . April  bemerkt wurde. Bei einem derartigen Religionsfrevel lag es vor allem in der konfliktträchtigen Osterzeit für viele Christen nahe, Juden als Täter zu vermuten, da diese in christlicher Tradition als Feinde der Christen galten

 Vgl. dazu Arno Herzig, Pfefferkornstreit, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S.  f.  Miller, Rabbis and Revolution, S.  f.  Brünner Zeitung, . Mai , S. -, Bericht aus Groß-Meseritsch, . April; Miller, Rabbis and Revolution, S. -.

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(etwa in den Hostienfrevel- und Ritualmordlegenden).312 Während es nach Miller der Priester der Kirche in Groß-Meseritsch, Pater Kuczura, war, der die Juden insgesamt beschuldigte, die aus dem Tabernakel verschwundene juwelenbesetzte goldene und silberne Monstranz gestohlen zu haben, woraufhin sich am Nachmittag eine wütende Menschenmenge zusammengerottet und die Juden angeschuldigt und mit Gewalt gedroht habe, war es nach der Brünner Zeitung das »fanatische Volk«, das sich auf den Straßen zusammengerottet und den Verdacht gegen die Juden geäußert habe, sich in Richtung der Judenstadt bewegte und drohte, »tumultuarisch zu werden und den Juden zu drohen«, sich an ihnen zu rächen, wenn die Monstranz nicht innerhalb von  Stunden wieder herbeigeschafft sei. Erscheint hier »das Volk« als treibende Kraft, so ist es bei Miller der Priester Kuczura, der dann auch die sich anschließende Durchsuchung der jüdischen Häuser veranlasst haben soll, die nicht ohne Brutalitäten ablief. Was bei Miller als Eskalationsstufe erscheint, diente laut Brünner Zeitung der Besänftigung des »aufgereizten Volkes« und ging auch nicht auf die Initiative des Priesters zurück, sondern auf die der Lokalbehörden.313 Die nun folgende Episode kommt in der Darstellung Millers nicht vor. So soll kurz vor Ende der Haussuchungen das Gerücht aufgekommen sein, die Monstranz befinde sich bereits im städtischen Rathaus. Dies habe bei den Juden große Freude ausgelöst, und die Menschenmenge verließ die Judengasse und machte sich auf den Weg zum Stadtplatz. Dort stellte sich nun das Gerücht als falsch heraus, was die Menge empörte, da man in den Juden die Urheber dieser Falschmeldung vermutete, die die gewonnene Zeit hätten nutzen wollen, um die Monstranz in ein sicheres Versteck zu schaffen. Die Menge stürzte sich nun mit »erneuerter Wuth in die Judengasse, um die Juden niederzumetzeln. Viele der unglücklichen Israeliten liefen in Todesangst hin und her, um Asyle vor den Verfolgungen zu suchen, deren Opfer sie werden könnten, und wieder andere ergaben sich geduldig wie Lämmer in ihr höchst trauriges Schicksal.«314 Nun betritt in beiden Darstellungen der lokale Ober- und Justizamtmann Christian Fiala die Szene, um die Einwohner zu beruhigen, wobei er bei Miller allein erschien, während er nach der Brünner Zeitung in Begleitung des Pfarrers und Dechanten Franz Heller und der Herren Capläne kam. Übereinstimmung besteht in beiden Berichten darüber, dass Fiala verhöhnt, mit Steinen beworfen und bis nach Hause gejagt wurde, wo ein Steinwurf seine Tochter schwer verletzte. Einige Bürger rieten ihm, mit seiner zahlreichen Familie unter Zurücklassung seiner Habe zu flüchten. »Mehreren achtbaren Bürgern« gelang es nach Darstellung der Brünner Zeitung, die Menge, die in das Haus Fialas eindringen wollte, abzudrängen, die sich daraufhin daranmachte, Fenster in der Forstamtskanzlei und weiteren Kanzleien  Johannes Heil, »Gottesfeinde« – »Menschenfeinde«. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (. bis . Jahrhundert), Essen , Kap. .: Die Permanenz der Juden und die Permanenz ihrer Feindschaft.  Dass ein Priester befugt sein soll, Haussuchungen anzuordnen, ist nicht sehr wahrscheinlich, so dass die zweite Version plausibler ist.  Brünner Zeitung, .., S.  f.

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und Cafés einzuwerfen, wovon man sie wiederum abdrängen konnte, so dass sie schließlich Straßenlaternen und Gartenzäune zerstörte.315 Während von Miller kein Grund für die gegen Fiala ausbrechende Gewalt genannt wird, kam Fiala laut Brünner Zeitung in die Judenstadt, um der randalierenden Menge mitzuteilen, dass man die »heilige Hostie« in der Kirche unter dem Altartuch vorgefunden habe, was für einen christlichen Täter spreche, »weil das religiöse Gefühl der Heiligkeit dieses Gegenstandes keineswegs bei Ersterem [ergänze: einem Juden], wohl aber bei Letzterem [einem Christen] rege werden konnte«.316 Für die eher unerwartete Reaktion dieses Gewaltausbruchs lassen sich mehrere Gründe vermuten: die Enttäuschung darüber, dass einem mit dieser Nachricht der Boden für ein weiteres Vorgehen gegen die Juden entzogen wurde, oder die Vermutung, es handele sich um ein erneutes Täuschungsmanöver, um die Ausschreitungen zu beenden. Beide Darstellungen stimmen dann wiederum darin überein, dass die Menge daraufhin nicht etwa von weiteren Angriffen auf Juden absah, sondern in das Judenviertel zurückkehrte und mit Knüppeln bewaffnet begann, Fenster einzuwerfen, Möbel, Läden und Laternen zu zerstören und Geld und Waren zu plündern. In den Branntweinbrennereien wurden Fässer mit Schnaps ausgegossen. Nun ereignete sich etwas für antijüdische Ausschreitungen Ungewöhnliches, denn um fünf Uhr abends erschienen einige Stadtbürger und trieben die randalierende Menge unter Trommelschlag aus dem jüdischen Viertel, die wegen der Trommel das Anrücken von Militär befürchtete. Zwar besaß Groß-Meseritsch noch keine Nationalgarde, doch stellten die Bürger in der Stadt Wachen auf und es wurde ein Ausgangsverbot verhängt. Auf Betreiben des Justizamtmanns Fiala kamen am nächsten Tag (Ostermontag) der Distrikthauptmann und Infanterie in die Stadt und stellten die Ordnung wieder her. Nach Darstellung der Brünner Zeitung machten sich auch weitere staatliche Vertreter, wie der k. k. Kreiskommissar, der das Volk zu Ruhe ermahnte, und der k. k. Gubernialrath und Kreishauptmann auf, der die »alsbaldige Aufstellung einer Nationalgarde«, allerdings für Christen und Juden getrennt, bewirkte.317 Miller schildert dann eine weitere Episode, die in der Brünner Zeitung fehlt. Demnach habe am Ostermontag, an dem die Monstranz immer noch nicht wieder aufgetaucht war, ein -jähriges Mädchen den Konflikt weiter angeheizt, indem es erklärte, einen rotbärtigen Juden gesehen zu haben, wie er zwei Tage zuvor die Kirche verlassen habe. Daraufhin wurden alle männlichen Juden in der Synagoge versammelt, doch das Mädchen konnte niemanden identifizieren. Die Menge drohte mit der Fortsetzung der Gewalt, wenn die Monstranz nicht innerhalb von zwölf Stunden gefunden würde. Am . April erhielt der Magistrat einen anonymen Brief auf Tschechisch mit dem Hinweis auf den Verbleib der Monstranz, die man an dem angegebenen Ort tatsächlich auffand, allerdings fehlten einige wert

Ist die Dynamik von Ausschreitungen einmal entfesselt, so führt der Wegfall des ursprünglichen Zielobjekts nicht unbedingt zum Abbruch der Handlungen, sondern die Menge wendet sich neuen, greifbaren Zielen zu.  Ebd., S. .  Brünner Zeitung, .., S. .

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volle Teile, die schließlich bei einem christlichen Schneider gefunden wurden. Vom Auffinden eines Briefes in der Nacht vom . auf den . April berichtet auch die Brünner Zeitung, doch habe dieser nicht Hinweise auf den Verbleib der Monstranz enthalten, die ja der Brünner Zeitung nach bereits in der Kirche wiedergefunden worden war, sondern auf die fehlenden Teile der Monstranz, die man dort auch auffand. Eine Kriminalkommission wurde mit der Aufklärung des Kirchenraubes und des Tumults eingesetzt. In der Brünner Zeitung erschien am . Mai  auf der Frontseite »Ein Wort gegen die Judenverfolgungen. Von einem Menschenfreunde«, in dem die im Zuge der Revolution erworbene Freiheit auch für die Juden eingeklagt wurde, die man von den »schmachvollen Sclavenketten« befreien solle.318 Der christliche Verfasser wollte – trotz des religiösen Anlasses – nicht Religionshass, sondern herzlos selbstsüchtigen »Krämergeist« als Motiv für die Ausschreitungen sehen. Er erwähnte als Beispiele für die Wirkung dieses ökonomischen Motivs auch die »Ausschaffung« von Juden im oben erwähnte Olmützer Fall (zusätzlich noch einen ähnlichen aus Znaim).319 Sowohl die jüdische Zeitung Central-Organ als auch die Brünner Zeitung bewerteten den Vorfall als eine Verirrung und betonten die guten christlichjüdischen Beziehungen in Groß-Meseritsch, indem sie den Einsatz der Bürger zur Unterdrückung der Gewalt hervorhoben. Im Unterschied zur Situation in Olmütz wurden von beiden Zeitungen Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen abgestritten. Von jüdischer Seite wollte man auch keine tiefgreifende religiöse Feindseligkeit erkennen, obwohl es zuvor dort schon einen Versuch gegeben hatte, die Bevölkerung durch einen Ritualmordverdacht gegen die Juden aufzuhetzen, indem man ein junges Mädchen versteckt hatte. Auch nach Michael Miller spricht die Tatsache, dass man am Ort getrennte jüdische und christliche Bataillone der Nationalgarde aufstellte und eine antijüdische Petition beim Mährischen Provinziallandtag einreichte, nicht gerade für gute Beziehungen.320 Einen Konfliktpunkt bildete in vielen Orten die Frage, ob Juden in die christliche Nationalgarde aufgenommen werden sollten, wie es von jüdischer Seite gefordert wurde, oder ob sie selbst eine eigene getrennte Garde aufstellen sollten.321 Während christliche Nationalgarden mancherorts Juden in ihre Reihen aufnahmen, wurde dies in anderen Städten wie Preßburg, Prag oder eben Groß-Meseritsch vehement abgelehnt, da man darin ein Symbol für die Gleichstellung der Juden mit den Christen sah. Dies war auch in der in der Nähe von Olmütz gelegenen Stadt Prossnitz (Prostějov) der Fall, wo es am . September  zu Gewalt gegen Juden kam. Auslöser war denn auch das Erscheinen von jüdischen Nationalgardisten aus  Brünner Zeitung, .., S. -.  Ebd., S. : »Auch in unserem gutmüthigen, freien Märenlande droht schon der schmutzige Krämergeist seine verheerende Brandfackel gegen die unschuldigen, wehrlosen Juden zu schleudern«.  Miller, Rabbis and Revolution, S.  f.  Dazu ausführlich ebd., S.  ff.

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Olmütz am Shabbat, was zunächst einen Zusammenstoß mit einigen christlichen Tagelöhnern und einem Schuster zur Folge hatte. Als die jüdischen Gardisten sich in das jüdische Viertel zurückzogen, schickten sich die »plebejischen Massen« an, die Judenstadt zu stürmen, wo sich jüdische Nationalgardisten zur Verteidigung bereit machten. Der Magistrat griff ein und bat die jüdischen Nationalgardisten dringend, auf Gegenwehr zur verzichten und nach Olmütz zurückzukehren, woraufhin die Menge das Viertel dennoch zu stürmen begann. Die christliche Nationalgarde nahm an, die Ordnung dadurch wiederherstellen zu können, dass sie die »Irritation« für die christlichen Einwohner beseitigte, indem sie die jüdische Nationalgarde entwaffnete, was deren Anführer auch zuließ. Die Menge war damit aber nicht zufrieden und setzte ihre Gewalttätigkeiten noch einige Stunden fort, bis die christliche Nationalgarde den Ausschreitungen schließlich ein Ende machte. Der Magistrat erließ darauf am Abend eine Ausgangssperre und begann zu untersuchen, wer die Täter waren und warum es zum Ausbruch der Unruhen gekommen war. Die Anführer der christlichen wie der jüdischen Nationalgarde stimmten darin überein, dass die Insignien der jüdischen Nationalgarde der unmittelbare Anlass für die Gewalt gewesen seien.322 Auch wenn man sich über den Anlass einig war, so verbargen sich hinter der Konkurrenz zwischen der christlichen und jüdische Garde doch tieferliegende Konflikte, wie es einige Prossnitzer Bürger denn auch offen formulierten, nämlich die ökonomischen Aktivitäten der Juden, ihr Eindringen in den Handel. Damit und mit dem Aufstellen einer eigenen Nationalgarde hätten sich die Juden Rechte der christlichen Bürgerschaft angemaßt, ohne tatsächlich ein Teil von ihr zu sein. Die Juden besäßen keine Bürgerrechte, handelten aber so, als ob sie diese hätten. Man beklagte zudem, dass die Juden trotz ihrer Benachteiligung bereits jetzt zum reichsten Segment der Gesellschaft geworden seien und nun drohten, die Christen zu versklaven.323 D. h., wir haben es auch in diesem Fall mit der klassischen Konfliktkonstellation der Emanzipationszeit zu tun, die sich in den vielen Petitionen an die politischen Organe niederschlug, nämlich, dass Juden Bürgerrechte einforderten oder sich »anmaßten«, die ihnen viele Christen weiterhin nicht zugestehen wollten, oft mit der Begründung, die Juden seien bereits auch so zu reich und mächtig geworden, was man polemisch mit dem Begriff der Versklavung der Christen zuspitzte. Zwischen April und August hatten die mährischen Städte, Dörfer und Gilden die Möglichkeit bekommen, Petitionen mit ihren Wünschen und Beschwerden an den Provinziallandtag zu schicken. Von den eingesandten fast dreihundert Petitionen enthielten  Beschwerden über die Juden, davon kamen  aus Orten mit kaum einem jüdischen Einwohner, die anderen aus Städten mit einer großen jüdischen Gemeinde, darunter aus Groß-Meseritsch und Prossnitz. In den Petitionen war

 Ebd., S. .  Miller, Rabbis and Revolution, S.  f.

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man bestrebt, die Beschwerden in ökonomische Begriffe zu kleiden, um sich von einem intoleranten Judenhass zu distanzieren.324 Antijüdische Exzesse im ungarischen Landesteil Im ungarischen Landesteil der Habsburgermonarchie hatte das ungarische Parlament  beschlossen, dass Juden die freie Niederlassung auch in königlichen Städten, wie etwa Preßburg, erlaubt werden sollte, wo diese zuvor nur in einem bestimmten Randbezirk bzw. einer »Judengasse« das Wohn- und Handelsrecht besaßen. Dies stieß in diesen Städten auf Widerstand vor allem unter den Handwerkern und Kaufleuten. Für Rürup waren es auch hier wirtschaftliche Spannungen, die durch eine »antijüdische Stimmungsmache verschärft wurden, so dass sich die allgemeine Unzufriedenheit schließlich vor allem gegen die Preßburger Juden richtete.«325 Gewaltsame Proteste im Vorfeld von politischen Entscheidungen sind ein oft zu beobachtendes Mittel, die Entscheidungsträger zu beeinflussen. Als das Parlament im Februar über die völlige rechtliche Gleichstellung der Juden debattierte, kam es, etwa in Preßburg, schon am . dieses Monats zu ersten, drei Tage andauernden antijüdischen Tumulten. In Pest gab es Beschwerden gegen zu viele vom Magistrat in der Stadt neu zugelassene Juden, die eine gefährliche Konkurrenz seien. Die Bürgerschaft sammelte Unterschriften, um die gesetzliche Ausweisung von Juden zu erzwingen. Wir sehen auch hier, dass die Bürger bei ihrem Vorgehen gegen unliebsame staatliche Entscheidungen nicht immer sofort zum Mittel der gewaltsamen Selbsthilfe griffen, sondern ihren Protest häufig zunächst in Form von Eingaben mit der Forderung nach Rücknahme der Besserstellung der Juden artikulierten. Nachdem in der Bevölkerung also schon mehrere Tage »Aufregung« geherrscht hatte, kam es am Abend des . April  von Seiten der »niederen Klassen« zur Plünderung von jüdischen Häusern in mehreren Gassen der Stadt und auch zu schweren tätlichen Angriffen auf Juden. Auch hier zog der Tumult Häuser von Christen in Mitleidenschaft. Der Ausbruch des Tumults wurde durch einen Angriff einiger Bürger auf einen jüdischen Nationalgardisten beschleunigt, der einen der Angreifer mit dem Säbel verletzt hatte, was zu einem regelrechten Volksauflauf führte.326 Es bedurfte auch hier der Nationalgarde und des Militärs, um den jüdischen Gardisten in Sicherheit zu bringen und die Menge zu zerstreuen. Erst am Abend gegen  Uhr war dann die Ruhe wiederhergestellt, und »einige hundert Tumultuanten« waren verhaftet worden.327 Hier mischten sich die sozialen Konflikte zwischen Handwerksmeistern  Ebd., S.  und  ff.  Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. .  Der treue Zions-Wächter, Heft , .., S. ; Bericht aus Pest vom .. in: Wiener Zeitung vom . April , S. , und vom .. – dort wird auch noch die Entlassung des Redakteurs der Zeitschrift Der Ungar gefordert.  Der treue Zions-Wächter, Heft , .., S. .

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und Gesellen mit dem Judenhass, dessen sich die Meister bedienten, um die Wut der Gesellen und Lehrlinge auf diese abzuleiten. Die Pester Bürgerschaft kehrte nach der gewalttätigen »Selbsthilfe« nun wieder zu legalen Mitteln zurück, indem sie nun die Vertreibung eines Teils der Juden auf gesetzlichem Wege erzwingen wollte. Am . April wurde über eine dem Wohlfahrtsausschuss wohl am . April überreichte Petition von Ofen-Pester Bürgern berichtet, in denen die Entwaffnung der in die Nationalgarde eingereihten Juden sowie die Abschiebung derjenigen Juden, die ohne Erlaubnis in die Stadt drängten, gefordert wurde. Dieser Petition gab die Wohlfahrtsstelle statt. Die Juden hätten sich inzwischen freiwillig aus der Garde zurückgezogen, und Hausbesitzer, die nicht zugelassenen Juden Wohnung gewährten, sollten bestraft werden. Auch in Preßburg bestand der Protest der Bürger aus einer Mischung von Gewaltaktionen und Petitionen, die die Entfernung von Juden aus der Nationalgarde oder gar aus der Stadt forderten. Preßburg war eine multiethnische Stadt im ungarisch-tschechisch-österreichischen Grenzraum, in der Juden, nachdem sie  vertrieben worden waren, gegen Ende des . Jahrhunderts nur ein Wohnrecht auf dem Boden des Grafen Pàlffy unterhalb des Preßburger Schlossberges eingeräumt worden war, so dass hier eine Art Judenghetto entstand.328 Die Stadt war bekannt für die judenfeindliche Haltung ihrer Einwohner.329 Auch die Zeitung Der Orient betonte die Verachtung der Preßburger »Spießbürger« gegenüber den Juden und ihre Ablehnung der Emanzipation. »In keiner Hauptstadt werden die Juden so schmachvoll von den Bürgern behandelt wie hier.« Der Artikel betont aber den Emanzipationswillen und den Schutz seitens der Regierung.330 D. h., wir haben hier die klassische Situation obrigkeitlichen Reformwillens und des hinhaltenden Widerstands dagegen von großen Teilen der Bevölkerung oder sogar von untergeordneten staatlichen Organen: Das vom ungarischen Parlament  verabschiedete Gesetz, das es Juden nun erlaubte, sich in königlichen Residenzstädten wie Preßburg anzusiedeln, war aber vom Rat der Stadt nicht anerkannt worden. Im Zuge der Märzrevolution diskutierte das ungarische Parlament nun sogar die völlige rechtliche Gleichstellung der Juden. Darauf reagierte ein Teil der Preßburger Bevölkerung im März und April  wiederholt mit antijüdischen Ausschreitungen.

 Räume und Wege: Jüdische Geschichte im Alten Reich -, hrsg. von Rolf Kießling, Peter Rauscher, Stefan Rohrbacher und Barbara Staudinger, Berlin , S. .  »Pressburg was always noted for the anti-Jewish tendencies of its citizens. The city, whose council had opposed all improvement of the political condition of the Jews in , was the scene of a fierce riot in  (April -), caused by the provocation of the citizens at the granting of equal rights to the Jews« (Gotthard Deutsch, Pressburg (Hungarian Pozsony), in: Jewish Encyclopedia , http://www.jewishencyclopedia.com/ articles/-presburg (eingesehen am ..).  Der Orient, Heft , , S. .

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Nach einem »Vorspiel« in der Nacht zum . März , wo Lehrjungen einen Fackelzug zu Ehren des Herrn von Kossuth331 umfunktionierten und ihre Fackeln auf die Dächer der Judenhäuser warfen und »erreichbare Juden« attackierten,332 wurde auch in Preßburg der Eintritt von Juden in die Nationalgarde offenbar zum Auslöser von Verfolgungen seitens christlicher Nationalgardisten, die gegen die Aufnahme von Juden protestierten. In der Nacht vom . auf den . März gab es dann »sehr bedeutende, gegen die Juden gerichtete Tumulte«, gegen die das Militär eingesetzt werden musste, das die Menge vertrieb. Es gab Verletzte und Verhaftungen. Am Mittag des nächsten Tages rotteten sich Mengenmengen erneut zusammen. Daraufhin verzichtete man trotz der anders lautenden Gesetzeslage auf eine weitere Einstellung von Juden in die Garde und bereits eingetretene jüdische Mitglieder traten »von selbst« wieder aus.333 Der treue Zions-Wächter berichtet, dass viele angesehene Bürger die Übergriffe missbilligt und ihre Ämter niedergelegt hätten. Auch von Seiten der Behörden seien die Juden in Schutz genommen worden. Dennoch seien die wohlhabenden jüdischen Bürger geflüchtet, die jüdischen Geschäfte geschlossen worden und »nur die armen Trödler sind zurückgeblieben.«334 Am nächsten Vormittag rottete sich die Menge erneut zusammen und musste vom Militär zerstreut werden. Daraufhin wurde als zumeist sehr wirksames Mittel das Standrecht verkündet, woraufhin es dann ruhig blieb.335 Die antijüdische Stimmung und die Gefahr »drohende Pöbelexzesse« blieben aber bestehen,336 zumal die Bürger Preßburgs eine Petition verfasst hatten, in der die Juden zum sofortigen Verlassen der Stadt aufgefordert wurden. Die Behörden schritten nicht dagegen ein, und selbst als man drohte, bis zum . April das Judenviertel anzuzünden, trafen die Behörden keine Vorsichtsmaßnahmen.337 Auf diese erste Welle von antijüdischer Gewalt folgten in Preßburg dann Ostern (.-. April ) heftige antijüdische Ausschreitungen.338 Ihren Ausgang nahmen sie von einer Versammlung von Handwerksgesellen und -lehrlingen,339 die eine Petition verabschiedeten, in der sie sich gegen bestimmte missbräuchliche        



Lajos Kossuth de Kossuth et Udvard (-) war Rechtsanwalt, Politiker und in den Jahren / einer der Anführer der ungarischen Unabhängigkeitserhebung gegen Österreich. Er gilt in Ungarn als Nationalheld. Der Orient, Heft , .., S. ; Meldung vom . März. AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f. Der treue Zions-Wächter, Heft , ..; Der Orient, Heft , .., S. . Der Orient, Heft , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . AJZ, Jg. , Heft , .., S.  f. Zu den Preßburger Unruhen gibt es bisher zwei Publikationen: Ambrus Miskolczy, »… a zem sa nám pod nohami otvorila. Židovský pogrom v Bratislave . a. . aprila «, in: Gábor Czoch (Hrsg.), Fejezetek Pozsony történetéböl Magyar és szlovák szemmel, Bratislava , S. -; Petra Rybárová, Antisemitismus v Uhorsku v -tych rokoch . storiča, Bratislava , S. -. Die Brünner Zeitung, Preßburgs blutige Ostern, . Mai , S. -, spricht von einer Schar von »-jährigen Buben aus der Hefe des Volkes«.

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Aufgaben wandten, die sie nicht länger übernehmen wollten. Diese Versammlung war also eigentlich ein Protest gegen die Handwerksmeister, doch zogen die Gesellen und Lehrjungen unter »Hep-Hep«-Geschrei von ihrem Versammlungsort zum Judenviertel in der Schlossgrundgasse, wo sie unterstützt von Angehörigen der städtischen Unterschicht jüdische Läden angriffen, Waren verstreuten und Juden verprügelten. Es bedurfte wiederum des Einsatzes von Nationalgarde und Militär, das den Befehl zum Waffengebrauch bekommen hatte, um die immer weiter anwachsende Menge zu zerstreuen,340 die sich jedoch in den Nachbargassen neue, auch christliche Häuser zum Ziel nahm, auch wenn Letztere sich durch das Anbringen von Kreuzen zu schützen suchten. Die Menge, darunter auch Frauen, plünderte das jüdische Krankenhaus, die Patienten wurden misshandelt, der jüdische Friedhof wurde verwüstet und man griff die jüdische Schule und die »Kleinkinder-Bewahranstalt« an und plünderte sie aus. Die Brünner Zeitung berichtete von »einem Mann aus dem Volke«, der das Gerücht in die Welt gesetzt habe, im Szigraischen Hause am Schlossberg würden »über dreißig Christen eingekerkert schmachten, so dass eine Deputation aus Gardisten und Bevölkerung gebildet wurde, um das Haus zu durchsuchen, wo natürlich nichts gefunden wurde«.341 Ein großes Stiftsgebäude mit der kostbaren Schulbibliothek und physikalischen Instrumenten wurde total zerstört, zum Ziel der Menge wurden auch die Nationalgardisten, die mit Steinen beworfen und verletzt wurden.342 D. h., zwar bildeten die Juden das primäre Ziel, doch war der Protestaufruhr in seinen Zielen eher unspezifisch und attackierte auch Christen und Ordnungskräfte. Das Militär nahm einige der im Stiftsgebäude angetroffenen Anführer fest, wogegen sich die Menge wehrte. Daraufhin stürmte das bedrängte Militär mit gefälltem Bajonett gegen den »Pöbel« vor, wobei ein Schuss fiel, der einen »eben zum Thore hinauseilenden gut gekleideten Mann augenblicklich todt zu Boden streckte«.343 Dieser Bruch der ungeschriebenen Regeln solcher Unruhen durch den Schuss eines Soldaten stachelte die Wut der Menge noch weiter an, da man in den Juden die Schuldigen für diese Tat sah. Die Zeitungen berichteten dann, dass das bedrängte Militär nun den Befehl zu feuern bekommen habe, und man nahm fälschlicherweise an, dass es wohl circa sechs Tote und Verwundete unter den Tumultuanten und Zuschauern gegeben habe. Die Leichen der getöteten Tumultuanten (mindestens sechs) habe man als Zeichen des Protestes vor dem Haus des Militärkommandeurs niedergelegt und die Fenster seiner Wohnung zertrümmert – dieser dramatisierenden Darstellung der Vorgänge wurde später aber

 Zu den Handwerksgesellen soll nun »das eigentliche Hauptheer des Pöbels« gestoßen sein (Brünner Zeitung, .., S. ).  Brünner Zeitung, . Mai , S. .  Wiener Zeitung vom .., S. .; ein drastischer Bericht, dem die Empörung anzumerken ist, findet sich in der Klagenfurter Zeitung vom .., gestützt auf die Oesterreichische Zeitung.  Brünner Zeitung,. Mai , S. .

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deutlich widersprochen.344 Die Klagenfurter Zeitung berichtet über eine viel zu geringe Zahl von einsetzbaren Soldaten und beklagte, dass sich nur zwanzig von . organisierten Bürgern am Schutz der Juden beteiligt hätten.345 Erst gegen drei Uhr nachts wurde es ruhiger, auch wenn weiter die ganze Nacht über »tobende Haufen« durch die Gassen zogen, um die Fenster von jüdischen Wohnungen einzuwerfen. Patrouillen der Nationalgarde wurden ausgesandt, um Tumultuanten zu verhaften. Der Magistrat versuchte die Lage dadurch in den Griff zu bekommen, dass er am folgenden Tag verkündete, alle Juden, die außerhalb des Judenviertels wohnten, müssten die Stadt binnen  Stunden verlassen, um zurück in das Judenviertel auf dem Schlossberg zu ziehen, und ihre Läden müssten geschlossen bleiben.346 Man hoffte, mit dieser räumlichen Eingrenzung der jüdischen Handelstätigkeit die Ruhe wiederherstellen zu können. Die defensive Politik auf Kosten der Juden signalisierte aber der Bevölkerung letztlich, dass auch der Staat die Juden nicht schützen konnte oder wollte. Die versuchte Beruhigung der Situation misslang denn auch, da am Ostermontagmorgen nun ab  Uhr das Judenviertel selbst zum Angriffsziel wurde.347 Aber auch gegen den Magistrat und das Militär gab es »ernste Demonstrationen«. Ein Jude wurde getötet, viele andere verletzt. Auch ein christlicher Juwelier kam zu Tode. Die Läden außerhalb des Judenviertels wurden völlig ausgeplündert, und viele Waren wurden auch zerstört. Die Nationalgarde griff zunächst hart durch, erklärte jedoch später, sich nicht mehr für die Juden »totschlagen lassen« zu wollen und als »Judenbeschützer« hänseln zu lassen. Schließlich trat Ruhe ein, da die Tumultuanten nach der Plünderung eines Wirtshauskellers nun betrunken he So die Wiener Zeitung vom ... Auch die Brünner Zeitung, .., S.  f., schreibt zunächst ebenfalls, dass circa sechs Tote und Verwundete angenommen wurden, fügt dann später eine »Berichtigung« an, wonach es nur das besagte erste Todesopfer und »mehrere mehr oder minder gefährlich Verwundete« gegeben habe. Auch habe der kommandierende Offizier in der fraglichen Situation nicht den Befehl zu feuern gegeben. Auch die »böswillige Demonstration« vor dem Haus des kommandierenden Generals habe nicht stattgefunden (S. ).  Klagenfurter Zeitung vom . Mai . Die Zeitung beklagt aus österreichischer Perspektive die »politische Unre i f e u n s e rer ve r b le nd e t en Br ü de r in Ungarn« (Sperrung i. O.) und nannte den Vorgang »eine Schmach für den in so trauriger Weise betheiligten Bürgerstand, wie für die constitutionellen Behörden«, die es versäumt hatten, die anerkannten Missstände zwischen Juden und Christen zu beseitigen.  Der Berichterstatter der Wiener Zeitung (..) schreibt, gestützt auf Privatbriefe, dass der Magistrat zur Beruhigung der Menge einen Maueranschlag veröffentlichen ließ, in dem er erklärte, »die Herstellung der Ruhe nur dann verbürgen zu können, wenn sämmtliche, seit Jahrhunderten in dieser Stadt wohnenden Judenfamilien sich aus derselben entfernen würden.« Diese Entfernung sei auf unbarmherzige Weise vollzogen worden, die Ausgewiesenen hätten ihren Hausrat zu Fuß auf den Schloßberg tragen und dort unter freiem Himmel kampieren müssen. Der Bericht wird am nächsten Tag bestätigt: Wiener Zeitung vom .., S. . Eine gleichlautende Darstellung auch in: Der Orient, Heft , .., S. , in dem auch die Männer der Nationalgarde, des Adels und des Militärs für ihren Einsatz gegen die Tumultuanten gelobt wurden.  Der treue Zions-Wächter, Heft , .., S. .

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rumlagen. Die angegebenen Opferzahlen waren deutlich überhöht, sie schwanken zwischen acht bis  toten Zivilisten und Soldaten, bis zu sechzig Personen sollen verletzt worden sein, doch dürfte die Zahl der Getöteten bei zwei bis drei Personen liegen, darunter ein Jude.348 Über zweihundert jüdische Familien waren beraubt worden und hatten ihre Wohnung verloren.349 Nationalgarde, Militär, verstärkt und Kürassiere aus der Umgebung mussten zur Aufrechterhaltung der Ordnung aufgeboten werden. Diese Maßnahme beendete nach drei Tagen weitere Tumulte, und der Magistrat rief dazu auf, die geraubten Waren zurückzubringen, und ließ Haussuchungen in der Stadt und den umliegenden Dörfern vornehmen. Die zurückgebrachten und aufgefundenen Waren erwiesen sich aber meist als zerrissen und unbrauchbar, und der »Pöbel war erbittert, dass man ihm den ›versprochenen‹ Raub nun nicht lasse.« Manche Plünderer waren so dreist, die gestohlenen Waren auf dem Markt anzubieten. Nach Aussage des Korrespondenten der Allgemeinen Zeitung des Judenthums war an den Unruhen neben »Gesindel« vor allem auch das Landvolk beteiligt, das zu den Osterfeiertagen in die Stadt gekommen war, sowie die fremden, zumeist italienischen Eisenbahnarbeiter.350 Das mag zum Teil zutreffen, doch bildeten die einheimischen Handwerksburschen den Ausgangspunkt der Unruhen, und ein Zeitungsbericht aus Wien hebt die Verantwortung der Preßburger besitzenden Bürger hervor, die selbst die Führung übernommen und zudem noch bezahlte Proletarier rekrutiert hätten, während er die Leute der unteren Klassen freispricht. Die Zeitung bedient sich hier mit der angeblichen Rekrutierung des »Mobs« eines verbreiteten, aber unzutreffenden Klischees, da auch bei den späteren Untersuchungen der Unruhen keine Beweise für diese Behauptung beigebracht werden konnten.351 Wie bei vielen antijüdischen Ausschreitungen beteiligten sich auch Angehörige der bürgerlichen Schicht, unter denen es ja berufliche Konkurrenten der Juden gab, direkt an den Unruhen, während andere dem Treiben als Schaulustige beiwohnten. Die Berufe der in einem weiteren Bericht namentlich als Anführer bezeichneten Personen zeigen nämlich, dass sich mit einem Modewarenhändler, einem Tuchhändler, einem Richter, einem Braumeister, einem Seifensieder Angehörige der bürgerlichen Schicht selbst beteiligt haben.352 Andere  AZJ, Jg. , Heft , .., S. -; Heft , .., S.  ff. Deutsch, Pressburg, Jewish Encyclopedia , spricht von einem jüdischen Todesopfer und mehreren Verletzten.  Münchner Neuigkeits-Kourier vom .., Nachtrag einen Tag später.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Die These, der »Mob« sei gegen die Juden aufgestachelt worden, lässt sich nach den Untersuchungen von Ambrus Miskolczy, »… a zem sa nám pod nohami otvorila«, nicht halten. Es gab keinen geplanten Angriff, sondern es war eine spontane Aktion der »einfachen Leute«. Für Miskolczy bildeten diese Unruhen der »einfachen Leute« für den Stadtrat nur einen Vorwand, um unter dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung später anzuordnen, dass die Juden weiterhin nur im früheren Ghetto wohnen durften.  Der Münchener Neuigkeits-Kourier, Nr. , vom .. wirft den Preßburger »Spießbürgern« vor, sie hätten die Ansiedlung von Juden außerhalb des Ghettos nicht verschmerzen

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Bürger hätten dem Treiben zudem unter Gelächter zugesehen. Demgegenüber wird gerade die katholische Geistlichkeit der Stadt für ihren – wenn auch vergeblichen – Einsatz zur Beruhigung der Lage gelobt.353 Obwohl die Berichte eine Verantwortlichkeit der Bürger hervorheben, sehen sie doch die tiefere Ursache im »Andrang des Proletariats gegen das Besitztum«, der sich hier gegen die Juden gerichtet habe, der sich aber in gleicher Weise gegen christliche bürgerliche Gewölbe, kirchlichen Besitz oder Fabriken richte.354 Die Unruhen werden hier als primär sozial motiviert angesehen, was die Sache aber nicht ganz trifft, da sie die allein judenfeindliche Zielrichtung der Unruhen nicht zu erklären vermag. Der Innenminister in Budapest (Ofen-Pest) schickte den Neutraer Vizegespann als »Regierungs-Commissär« nach Preßburg, der die Vorkommnisse untersuchen sollte, insbesondere auch die Versäumnisse der städtischen Zivilbehörde und der Nationalgarde, denen er ein zu spätes Eingreifen vorwarf.355 Der Abgesandte begann »eine große Tätigkeit« und führte scharfe Verhöre mit den dreihundert bis vierhundert Verhafteten.356 Der Schaden wurde gerichtlich auf . Florin geschätzt, und Schadenersatzzahlungen bzw. Gefängnisstrafen betrafen auch mehrere vermögende Personen. Die Stimmung in der Stadt blieb noch lange angespannt, zumal auf Plakaten auf das Gesetz von  verwiesen wurde, wonach Juden in allen königlichen Freistädten frei wohnen und Handel treiben dürften. Dies erbitterte einen Teil der Preßburger Bevölkerung, die verkündete, Juden keine Quartiere vermieten zu wollen, während andere sich entgegenkommend zeigten. Die Nationalgarde blieb wegen dieser Stimmungslage, zumal auch wüste Drohbriefe auftauchten, in ständiger Alarmbereitschaft.357 Es blieb zudem eine starke militärische Besatzung in Preßburg, wenn auch schon am . April Artillerie und Kavallerie nach Brünn abkommandiert wurden, wo »sehr blutige Auftritte« stattgefunden hatten.358 Auch mit der Entschädigung haperte es wohl. So berichtete die Allgemeine Zeitung des Judenthums im Juni , dass die  zerstörte israelitische

  

  

können. Als Motiv für die Unruhen wird also wirtschaftliche Konkurrenz angesehen. Die Juden hätten das »Majestätsverbrechen« begangen, »etwa Modewaaren und Brünner Tücher zu billigeren Preisen als ihre christlichen Brüder zu verkaufen.« Nachdem man von Seiten der Statthalterei keine Abhilfe erfahren habe, habe man den städtischen Pöbel auf die »jüdischen Unterdrücker« gehetzt, der am Ostermontag dann alle Wohnungen und Kaufläden plünderte und zerstörte, wehrlose Frauen, Kinder und Greise misshandelte. AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f. Ebd., S. . Der Brief des Innenministers an die Gemeinde der Stadt Preßburg ist abgedruckt in: Der Orient, Heft , .., S. . Auch der Münchner Neuigkeits-Kourier vom .. beschuldigt die Stadtbehörde, die Bürgergarde und das Sicherheitskomitee der Untätigkeit, stattdessen habe der Magistrat die Aussiedlungsanordnung für die Juden verfügt. Laut Bericht der Pesther Zeitung, abgedruckt in: Der treue Zions-Wächter, Heft , .., S. ; und in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Der treue Zions-Wächter, Heft , .., S.  Deutsche constitutionelle Zeitung vom ...

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Schule weiterhin nur eine Ruine sei.359 Erst im August wurde nach der faktischen Vereinigung der Kommune Preßburg mit dem Judenviertel am Schlossberg und Zuckermantel auch die jüdische Gemeinde in die städtische Kommune inkorporiert, womit die fürstliche Schutzherrschaft über die Gemeinde erlosch. Zudem wurden den jüdischen Handels- und Geschäftsleuten ihre vormaligen Gewerbebefugnisse zurückgegeben, und Juden konnten sich frei in der Stadt ansiedeln.360 Aufgrund der geschilderten Ereignisse erlitt Preßburg einen deutlichen Ansehensverlust.361 Die Bewohner traf die Verachtung über ihr schmähliches Verhalten, und in Wien sollen sogar Preßburger Bürger aus einem Kaffeehaus geworfen worden sein.362 In Wien lebende Ungarn schrieben einen Brief an den ungarischen Justizminister, in dem sie die Vorfälle in Preßburg verurteilten und den Minister zur Ehrenrettung aller gutgesinnten Bürger Ungarns zu einer strengen Untersuchung des Falles aufforderten.363 Es sollten aber nicht die letzten antijüdischen Unruhen in Preßburg gewesen sein. Die Unruhen in Preßburg strahlten auf die Umgebung aus, und es wurden »Judenkrawalle« auch aus dem benachbarten Brünn, aus Wieselburg (Niederösterreich), Ungarisch-Altenburg und dem westslowakischen Neustadt an der Waag (Nové Mesto nad Váhom) gemeldet.364 Dies ist ein Indiz dafür, dass das Thema der Ansiedlungsrechte für Juden in der Region vielerorts auf teils friedlichen, teils aber auch gewalttätigen Widertand stieß. Zu Unruhen kam es auch im slowakischen Hontianske Trsťany, im westungarischen Szombathely (Steinamanger) und Körmend sowie in Keszthely (Kestheil) am Plattensee. Auch in Stuhlweißenburg, wo  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , ...  Vgl. auch die entsprechenden Vorwürfe im Münchner Neuigkeits-Kourier vom ... Dieser merkt noch an, dass »solche Gräuel« nicht bloß von der deutschen Bevölkerung Preßburgs ausgegangen seien, sondern ja seit Wochen in ganz Ungarn auf der Tagesordnung stünden. Die Brünner Zeitung vom .., S. . berichtete davon, dass in der kleinen Stadt Wischau die örtliche Nationalgarde den sich anlässlich eines Jahrmarktes zusammenrottenden »rachsüchtigen, rohen Pöbelhaufen«, der die zum Markt kommenden Juden attackieren wollte, an der Durchführung seines Vorhaben hindern konnte. Dieses Verhalten wurde der Preßburger Nationalgarde als Vorbild vorgehalten, deren Verhalten als schimpflich und entwürdigend hingestellt wurde.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Ebd., S. .  Die Wiener Abendzeitung gab am .. einen höchst dramatischen Bericht von . jüdischen Flüchtlingen aus Neustadt(e)l an der Waag, deren Häuser völlig ausgeplündert und zerstört worden seien, so dass sie nun außerhalb der Stadt auf dem freien Felde kampieren müssten. Die Nationalgarde und eine Schwadron Kavallerie hätten nicht eingegriffen. Eine ganz andere und wohl zutreffendere Darstellung gibt der Obernotar der israelitischen Gemeinden des Trentschiner Komitats, Moritz Hübsch, in der Pesther Zeitung. Demnach soll der Krawall in Neustadt(e)l von einer Gruppe von  entschlossenen Männern aus Trentschin, die nach Neustadt(e)l zogen und sich den Plünderern entgegenstellten und diese in die Flucht schlugen, beendet worden sein (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).

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Juden erst kurz zuvor das Ansiedlungsrecht bekommen hatten, gab es Ausschreitungen, und die Juden, ca. sechzig zumeist wohlhabende und gebildete Familien, wurden aus der Stadt getrieben, worauf die Regierung mit der Entsendung von Militär reagierte.365 Die Juden klagten dagegen bei den Behörden und vor dem Reichstag, so dass der angesehene Graf Pulski zur Vermittlung nach Stuhlweißenburg geschickt wurde.366 In vielen Städten der ungarischen Reichshälfte (Pécs, Esztergom, Temesvár, Köszeg, Košice u. a.) wurde von Volksversammlungen die Abwanderung der Juden aus der Stadt innerhalb weniger Tage gefordert. Eine Vertreibung der Juden wurde auch aus der ungarischen Stadt Szered367 gemeldet, die man »an Eigenthum und Leben bedroht und gefährdet« habe. Anschließend richteten sich »die raublustigen Proletarier« aber auch gegen das Schloss der Familie Esterhazy, gegen die katholische Kirche und das Salzamt, die allesamt ausgeplündert wurden, wobei mehrere christliche Beamte getötet worden seien. Die Wiener Abendzeitung nannte es eine »ernste Thatsache, daß man mit dem Eigenthume der Juden sich nicht begnügte und weiter griff.«368 Die Zeitung stellte die Unruhen in einen breiteren revolutionären Kontext und führte deshalb die Übergriffe nicht auf einen Glaubensfanatismus gegen die Juden zurück, sondern sah darin die »erste Äußerung eines herandrohenden Kommunismus«, nämlich den »Kampf des Proletariates gegen die Besitzenden«. Man greift die Juden an, weil man sich materiell übervorteilt fühlt. Die Juden sind die ersten Opfer, da der religiöse Vorwand den »lauernden Kommunismus noch verhüllt«, doch nach den Juden werden andere Besitzende an die Reihe kommen oder sind schon an die Reihe gekommen. Die Zeitung weist also religiösen Judenhass als Motiv für die antijüdischen Ausschreitungen zurück (»Glaubt Ihr, der Judenhaß trete auf und dränge zu ihrer Verfolgung?«). Die Juden seien nur das erste Opfer, weshalb man sie unbedingt zu schützen und diese ersten Äußerungen des Kommunismus zu unterdrücken habe, »damit wir Alle gerettet seyen«.369 Die öffentliche Verurteilung der Preßburger Ereignisse, in die Anfang Mai auch der österreichische Kaiser einstimmte, ließ jedoch offenbar die Krawallstimmung an anderen Orten nicht abebben, auch wenn der Ausbruch von Gewalt vielerorts verhindert werden konnte.370  Der Orient, Heft , .., S. .  Graf Pulski rief eine Volksversammlung ein, um die Versammelten auf die Unrechtmäßigkeit ihres Vorgehens hinzuweisen. Er fragte aber auch nach Beschwerden gegen die Juden, woraufhin man angab, dass die gegen die Juden gerichteten Demonstrationen eigentlich dem unbeliebten Bürgermeister gegolten hätten, der aber alle Schuld auf die Juden abgewälzt habe, so dass sich Gewalt gegen diese gewendet habe. Vgl. Deutsche constitutionelle Zeitung vom .., S. .  Szered (an der Waag/Váh) liegt heute in der südwestlichen Slowakei unweit von Bratislava (Preßburg).  Wiener Abendzeitung, Nr. , .. – Zum Bedenken.  Ebd.  So befürchtete man in Skalitz von jüdischer Seite den Ausbruch von »Pöbelexzessen«, die aber durch das entschiedene Auftreten der Bürgerschaft und der Nationalgarde verhin-

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Die Ausschreitungen in einigen Städten im Habsburgerreich, wo es in Prag (sogar mehrfach), Preßburg und Budapest während der revolutionären Unruhen auch zu größeren Angriffen gegen Juden kam, waren aber nach Manfred Gailus die Ausnahme. Er betont, dass die Übergriffe in der liberal-revolutionären Stimmung der Städte zumeist sehr schnell unterdrückt wurden und sich nicht zu größeren Tumulten auswuchsen.371 Dass aber die Stimmung angespannt blieb, zeigen die zahlreichen gewalttätigen Konflikte über die Neuansiedlung von Juden im Habsburgerreich und in Deutschland. So stellte Mitte Mai  die AZJ in einem Leitartikel unter dem Titel »Die Reaktion« die Unruhen und die stockende Umsetzung der Judenemanzipation als eine historisch quasi erwartbare Antwort auf die schnellen revolutionären Veränderungen dar, zumal diese noch mit einer tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise zusammenfielen.372 Der Liberalismus habe seine Feuerprobe angesichts dieser Probleme nicht bestanden, und die Juden hätten nun unter der Ablehnung der krisengeschüttelten oberen Schichten und dem alten, von den Oberschichten noch geschürten Hass des Pöbels zu leiden. Dennoch gab der Artikel am Schluss der Hoffnung Ausdruck, dass diese »Abwehrreaktion« nachlassen und sich die liberalen Grundsätze von Gleichheit und Freiheit durchsetzen würden.

dert wurden (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Jüdische Zeitungen berichteten auch aus anderen Gegenden vom aktiven Schutz der Juden durch die Bürger, z. B. aus dem badischen Emmendingen (Der treue Zions-Wächter, Heft , .. , S. ).  Gailus, Anti-Jewish Emotion, S. . So berichtete Der Orient (. Mai) davon, dass es »gewissen Leuten« in einigen Städten Oberschlesiens gelungen sei, die Bevölkerung gegen die Juden aufzuwiegeln. In Breslau seien auch Plakate mit der Aufschrift »Nur keine Judenemanzipation« angeschlagen worden, doch gelang es den Aufrührern, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht, die Menge zu Tätlichkeiten gegen die Juden aufzuhetzen (Heft , .., S. ). Kein Eintrag zu Breslau in Weiß, Chronik der Stadt Breslau. Das Pamphlet »Nur keine Juden-Emanzipation« stammte von Hubert Müller aus Wien und soll mit . Stück weit verbreitet worden sein. In Prag gab es einen separaten Druck von . Stück. Hubert Müller warnte, dass die Verfolgungen, die dem Ausbruch der Revolution in Frankreich und Ungarn gefolgt waren, den Juden im Habsburgerreich als warnendes Exempel dienen sollten. Er betonte, dass Selbstschutz und nicht fanatischer Religionshass den Widerstand gegen die Judenemanzipation antrieb. Auch eine Reihe anderer Flugblätter sahen antijüdische Gewalt als Antwort auf eine verfrühte Emanzipation voraus (Miller, Rabbis and Revolution, S.  f. – Miller beruft sich hierbei auf Hans Tietze, Die Juden Wiens. Geschichte, Wirtschaft, Kultur, Wien , S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.

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. Die Nachwehen der Revolutionsjahre - Die Konflikte um das Ortsbürgerrecht reichten über die Revolutionsjahre hinaus und bis in die Zeit des Siegeszuges des Liberalismus hinein, der dann in den meisten deutschen Staaten zur völligen rechtlichen Gleichstellung der Juden führte. Für Bayern hat James F. Harris diesen hinhaltenden Widerstand anhand der Petitionsbewegung der Jahre - untersucht, der sich dort letztlich bis  hinzog und nicht ohne Gewalt abging.1 Auch in anderen europäischen Ländern führten die Ausschreitungen des Jahres  zu Konflikten über die Emanzipation und die Rückgabe von Eigentum bzw. die Wiedereinsetzung von Juden in ihre alten Rechte, die zum Teil tumultartig verliefen. Wie oben bereits erwähnt, gab es in Bayern bereits zum Jahresbeginn  vor allem in Unterfranken Proteste der Bürger gegen einen vom Staat vermittelten Kompromiss und gegen den Zwang von staatlicher Seite, Juden  schließlich als Ortsbürger zu registrieren. Als  die Juden dann doch das Ortsbürgerrecht in den kleinen unterfränkischen Orten bekamen, führte dies / in Laudenbach und Wiesenfeld (s. u. Kap. ), zwei Orten im Bezirk Karlstadt, zu antijüdischen Ausschreitungen, die sich ebenso wie in Langsdorf gegen die neuen Ortsbürgerrechte der Juden (am Gemeindenutzen, d. h. Weiderechte und Anrecht auf Holz) richteten – ganz wie es der Bezirksdirektor von Karlstadt  vorausgesagt hatte.2 Es war dann wiederum Preßburg, wo es vom . bis . April  zu mehreren von Handwerksburschen verübten »Israelitenschlägereien« kam, die Erinnerungen an die Ausschreitungen von Ostern  weckten.3 Auch dort wollte die Bevölkerung weiterhin nicht akzeptieren, dass Juden nun ihre Geschäfte außerhalb des alten Judenviertels eröffnet hatten. Das Militär stellte die Ordnung nach den Unruhen zwar zeitweilig wieder her, doch wollte der Stadtrat so lange nicht für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgen, bis die Regierung anordnen würde, dass alle Juden ihre Läden an den Orten wieder schließen müssten, wo sie vor der Gewährung der Privilegien von  kein Ansiedlungsrecht besessen hatten. Daraufhin erhielten die Juden  von der Regierung erneut das Recht, ihre Läden auch außerhalb des Ghettos zu eröffnen, und im September wurde dann das Ghetto Teil der Stadtgemeinde, unterstand also nicht mehr einer separaten Verwaltung.4 Vor allem in Böhmen und Mähren kam es im Frühjahr/Sommer  zu antijüdischen Krawallen. Nach einem Zeitungsbericht der Linzer Zeitung rissen am . Juli  auf dem Markte Zwettel (sic! eigentlich Zwettl, im niederösterreichischen Waldviertel) mehrere Konkurrenten zwei jüdischen Handelsleuten die Verkaufsstände nieder und hinderten sie daran, sie wiederaufzurichten. Offenbar konnte selbst ein Einschreiten des Marktrichters dies nicht ändern, so dass die  Harris, The People Speak!  James F. Harris, Bavarians and Jews in Conflict in : Neighbours and Enemies, in: Leo Baeck Institute Year Book , , S. -; auch ders., The People Speak! S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.  Deutsch, Pressburg, Jewish Encyclopedia .

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beiden Händler den Markt verlassen mussten. Sie erstatten dann in Linz Anzeige.5 Aus Straßnitz in Mähren berichtete die Allgemeine Zeitung des Judenthums ebenfalls, dass dort am . April  Angriffe auf das Haus eines Juden stattgefunden hätten und dieses mit Kot beschmiert worden sei. Der Bezirkshauptmann aus dem nahe gelegenen Hradisch habe den Exzess dort persönlich ohne Militäreinsatz unterbunden.6 Zu Unrecht seien diese den Straßnitzer Bürgern insgesamt zugeschrieben worden, die sich allerdings passiv verhalten, aber über die »bedauerlichen Exzesse« entrüstet hätten. Die Schuldigen konnten aber ermittelt werden.7 Die Zeitung räumte aber auch ein, dass der jüdische Hausbesitzer stinkende Tierhäute ausgelegt habe, die er auch auf Proteste hin nicht weggeräumt habe, so dass hier wohl eher ein konkreter Nachbarschaftskonflikt vorlag.8 Auch in dem in der Nähe Brünns gelegenen Ort Trebitsch kam es am ./. Mai  zur Zerstörung und Plünderung jüdischer Wohnhäuser, woraufhin am . Mai eine Abordnung der jüdischen Gemeinde nach Brünn reiste, um dem Landeschef ihre Beschwerde vorzutragen. Der Kreisregierungspräsident reiste daraufhin nach Trebitsch, wo am . Mai dann eine Kriminaluntersuchung der Vorfälle begann. Aus Iglau wurde Militär zum Schutz der Juden nach Trebitsch verlegt, wobei über die dortigen Vorgänge – wie so oft – widersprüchliche Berichte überliefert sind.9 Auch für den Trebitscher Fall räumte die AZJ ein, dass der Geschädigte selbst eine Mitschuld trage, da er ohne Genehmigung einen Tuchladen außerhalb der Judenstadt in einem christlichen Haus eingerichtet habe, wofür er keine Erlaubnis besessen hatte.10 Die Beschädigung seiner Waren sei deshalb zunächst von Lehrlingen und Gesellen der Tuchmacher verübt worden. Über die Vorgänge in Trebitsch und über das Verhalten des Magistrats, des Bezirkshauptmanns und der Nationalgarde gab es in der Presse einander zum Teil widersprechende Darstellungen. Während Die Presse am . Mai  behauptete, die Letztgenannten seien untätig geblieben bzw. hätten sich gegenüber den Beschwerden der jüdischen Gemeinde abweisend verhalten,11 veröffentlichte die AZJ ein Schreiben des Gemeinderates, das sich gegen die Darstellung des Vorfalles in der AZJ und anderen Presseorganen wandte und eine abweichende Version  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Die AZJ meldete im Juni, dass das Kriminalgericht in Hradisch durch das Oberlandesgericht zu Brünn »dringend aufgefordert worden sei, eine kriminalistische Kommission zur Erhebung des Thatbestandes nach Straßnitz zu entsenden, und durch ein energisches und rasches Verfahren gegen die schuldig Befundenen das Ansehen der Gesetze zu befestigen« (Jg. , Heft , ..).  Später bedauerte die AZJ auch, dass »Israeliten nicht die nötiger Mäßigung und Klugheit beim Gebrauch ihrer neuen politischen Rechte bewahrten« (Jg. , Heft , .., S. ); vgl. auch den Bericht in der Wiener Zeitung vom . Mai  (unter Berufung auf die Oesterreichische Korrespondenz).  Wiener Zeitung vom . Mai .  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.; ebenso das Abendblatt der Wiener Zeitung vom . Mai .  Die Presse ..; AZJ, Jg. , Heft , .., S.  ff.

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DIE NACHWEHEN DER REVOLUTIONSJAHRE

1849-1852

der Vorgänge in der Stadt gab, in der zwar die mehrfache Zusammenrottung von Trebitschern und Übergriffe auf die Geschäfte mehrerer Juden zugegeben wurde, aber deren Überschreiten der Gewerbebefugnis und die Verdrängung von Konkurrenten durch Zahlung überhöhter Mietpreise betont wurde. Zudem seien von Juden selbst Steine auf die Menge geworfen worden, was diese sehr erbittert habe. Eine Verhinderung der Gewalt sei der Wache und der Nationalgarde wegen der großen Menschenmenge (von mehr als tausend Personen ist die Rede) nicht gleich gelungen. Am dritten Tag kam Militär in die Stadt, und es kehrte Ruhe ein. Weder sei der angerichtete Schaden so groß wie in der Presse dargestellt, noch sei der Bezirkshauptmann seiner Pflicht zum Eingreifen nicht nachgekommen. In Trebitsch wurden aber immerhin  Personen angeklagt, acht davon inhaftiert.12 Im mährischen Kreis Iglau sollen neben Trebitsch auch in Iglau selbst, wo es am . und . Mai zu »Katzenmusiken« gegen »mißliebige Juden« kam, die durch Militäreinsatz bald unterbunden werden konnten,13 in Pirnitz (. Mai), Wollein (. Mai),14 Holleschau, Nikolsburg, Olmütz (. Mai) und im nahe gelegenen Dorf Doloplas (. Mai) sowie in Prerau im Mai  ähnliche Vorfälle vorgekommen sein, »bei denen Leben und Eigentum einzelner Staatsbürger mehr oder weniger gefährdet wurde« oder nächtliche »Katzenmusiken« veranstaltet wurden.15 Insgesamt blieb das Gewaltniveau aber gering, man beschränkte sich auf das Einwerfen von Fenstern, Zerstören von Waren und auf die Ausübung von Rügebräuchen. Hintergrund war zumeist die Neuansiedlung einer oder mehrerer jüdischer Familien am Ort, wobei sich der Unmut – etwa in Form von Katzenmusiken – sowohl an die christlichen Verkäufer der Häuser wie an deren jüdische Käufer richten konnte.16 Die Aktionen wurden durch den Einsatz von Militär beendet. Hintergrund war die Ausschaltung der jüdischen Konkurrenten seitens christlicher Kaufleute, die z. T. Arbeiter zur Zerstörung von Maschinen oder Geschäftsräumen angestachelt haben sollen. Das Innenministerium forderte daraufhin die Behörden auf, für die Sicherheit der Juden zu sorgen und die untätigen Polizeiorgane zur Rechenschaft zu ziehen. Die Statthalterei in Mähren erließ eine »energische Warnung« vor weiteren Unruhen. In einer Zuschrift eines Prerauer Bürgers wurde klar gesagt, dass es sich bei den Übergriffen um gerechtfertigte »Demonstrationen« gegen die Ansiedlung von Juden bzw. jüdischen Geschäften handele,17 die so lange  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Abendblatt der Wiener Zeitung vom . Mai .  In Wollein kam es zu Demonstrationen gegen eine jüdische Branntweinschenke, wobei Fenster eingeworfen und Katzenmusiken veranstaltet wurden. Hintergrund war die Konkurrenz zu einheimischen Christen, die ebenfalls das Schankrecht besaßen. Der Bezirkskommissar konnte durch rechtzeitiges Eingreifen die Ruhe wiederherstellen, ohne Militär einsetzen zu müssen (Abendblatt der Wiener Zeitung vom . Juni ).  AZJ, Jg. , Heft , . Mai , S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Anlass für den Krawall war in Prerau der Versuch der Juden, sich in der Stadt ansiedeln, was die Bürger mit Steinwürfen zu verhindern suchten. Von einer Menschenmenge von . Personen sollen alle Juden, die Quartiere in der Christenstadt gemietet hatten, bis

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fortgesetzt würden, bis die Juden wieder verschwänden: »Wir werden sehen, wer früher müde wird, die Prerauer oder die Juden. Die Ersteren setzten ihre in der That sehr zeitgerechten !? Manövers fort, und die Juden lassen die zerbrochenen Fenster neu machen.«18 Dieses Schreiben offenbart nicht nur das gute Gewissen der Tumultuanten, sondern spricht auch die Motivlage deutlich aus: es ging um die Ausschaltung der jüdischen Ansiedlung und damit einer möglichen ökonomischen Konkurrenz am Ort. Auch die AZJ schrieb in einem Leitartikel zu den »Judenverfolgungen in Mähren«, dass es keinem Zweifel unterworfen sei, »dass die dortigen Vorfälle in jüngster Zeit durch Brodneid und Befürchtung, in seinem Kramervorrecht benachtheiligt zu werden, hervorgerufen wurden«.19 In der AZJ wird überdies darauf verwiesen, dass in den Städten, in denen »Judenexzesse« stattgefunden hätten, die Intoleranz gegenüber Juden nicht einmal am ärgsten sei, sondern dass sie in den Orten, wo bisher keine Juden wohnten, noch größer sein dürfte. Dort sei es nur ruhig geblieben, weil sich dort keine Juden anzusiedeln wagten.20 Die AZJ kam einige Wochen später zu dem Fazit, dass offenbar »ein tiefer Groll gegen die jüdischen Mitbewohner in den meisten Orten, wo Judengemeinden bestehen, zu Tage« trete, der aber in »einem seltsamen Kontraste steht mit der Humanitätsbegeisterung des ersten österreichischen Reichtages und der Charte vom . März«.21 Auch hier wird wiederum der Hiatus zwischen der auf Liberalisierung zielenden fortschrittlichen Haltung der Regierungen und liberalen Bürgern in den größeren Städten und großen Teilen der Bevölkerung vor Ort deutlich, die ihre herkömmlichen Rechte geschmälert sahen. – Jüdische Familien zogen die Konsequenzen aus dieser Lage und verließen aufgrund der angespannten Lage in Mähren ihre Heimatorte und gingen nach Wien. Auch aus einzelnen kleinen Landgemeinden in Hessen wird über Ausschreitungen berichtet, die aber insgesamt ebenfalls ein niedriges Gewaltniveau aufwiesen. Als in Langsdorf in der Wetterau im Juni  die örtlichen Juden unter Berufung auf das Gesetz und auf einen Bezirksratsbeschluss Ortsbürgerrechte verlangten, kam es zum »Langsdorfer Judenkrawall«, wobei dieser nur der Höhepunkt einer sich von  bis  hinziehenden Auseinandersetzung war.22 Streitpunkt war die Verweigerung der Ortsbürgerrechte für sieben ansässige Juden, die bis  als »Schutzjuden« dort gelebt hatten. Zunächst hatte der Langsdorfer Gemeinderat hinhaltend Widerstand gegen die Einbürgerung geleistet und bei der Kreisbehörde die drastische Erhöhung des »Einzugsgeldes« beantragt, das bei der Aufnahme als Ortsbürger zu entrichten war, um so die ärmeren Landjuden vom Gemeindenut-

    

auf zwei Ärzte vertrieben und ihre Wohnungen durch Steinwürfe beschädigt worden sein. Die Gewalt war so stark, dass fünfzig Mann Militär aus Krems herbeigerufen werden mussten (AZJ, Heft , .., u. mit einer Korrektur der Darstellung Heft , ..). AZJ, Jg. , Heft , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Ebd., S. . AZJ, Jg. , Heft . .., S. . Dazu und zum Folgenden Preissler, Frühantisemitismus, S.  ff.

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DIE NACHWEHEN DER REVOLUTIONSJAHRE

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zen auszuschließen. Diese Politik war zwei Jahre lang erfolgreich gewesen, bis das Innenministerium unter Strafandrohung die Aufnahme anordnete. Nach Bekanntwerden der Entscheidung kam es im Juni  zu Ausschreitungen mit Katzenmusik, eingeschlagenen Fenstern und »allerhand Roheiten«, die sich zwar direkt gegen die Juden des Ortes richteten, aber auch als Kritik an der Entscheidung des Staates verstanden werden müssen. Niemand im Ort, auch nicht der Bürgermeister, war gegen die Gewalt einschritten oder hatte Anzeige erstattet.23 Hier wird wiederum die Differenz zwischen örtlichen Autoritäten, die sich mit den eignen Bürgern solidarisieren, und den zentralen Behörden sichtbar, die den Griff zu kollektiver »Selbsthilfe« begünstigt. Nachdem Juden die Ausschreitungen angezeigt hatten, kam es zu einer Untersuchung durch das Landgericht in Hungen, das sich dabei durch eine Zusammenrottung von Langsdorfern so gestört und verhöhnt fühlte, dass es zur Widerherstellung der Ordnung Militär anfordern musste. Auch in Langsdorf kam es nach der Rückkehr der geflüchteten Juden vom . bis . Juni  zu Tumulten, zu deren Niederschlagung Militär eingesetzt wurde. Einige Randalierer wurden verhaftet. Die Langsdorfer blieben aber bei der Ablehnung der Aufnahme von Juden als Ortsbürger, und die Regierung konzedierte ein hohes »Einzugsgeld«, das die Juden jedoch bald zusammengebracht hatten. Daraufhin gab die Gemeinde ihren Widerstand immer noch nicht auf, sondern versuchte nun, die Juden ökonomisch zu ruinieren, indem man ihnen den Handel verbot, einen neuen Viehmarkt einrichtete und versuchte, sie durch die Einrichtung einer Solidaritätskasse auch als Kreditgeber auszuschalten. Die Regierung schritt dann zugunsten der Juden ein, verhängte hohe Geldstrafen, was im März  wiederum zu antijüdischen Übergriffen führte. Versuche des Bürgermeisters, vom Landtag eine Suspendierung des Eintrags in Ortsbürgerregister zu erreichen, wurde abgeschmettert, so dass die Juden  schließlich Ortsbürger wurden, obwohl die Gemeinde dies noch durch die Verweigerung der Annahme des »Einzugsgeldes« zu behindern suchte. Preissler betont sicher zu Recht, dass hier weniger ideologische Motive eine Rolle spielten als vielmehr handfeste materielle Interessen, um ärmere Juden vom Gemeindenutzen auszuschließen oder berufliche Konkurrenz auszuschalten (etwa im Fall der Metzger und Kaufleute).24

 AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Preissler, Frühantisemitismus, S. .

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. Resümee - Der historische Zeitraum zwischen der Französischen Revolution und den europäischen Revolutionen von  ist zugleich die Zeit, in der die Emanzipation der Juden in vielen Ländern auf der Tagesordnung stand. Die angestrebte rechtliche und staatsbürgerliche Gleichstellung bedeutete für die Juden einen Statusgewinn und schuf damit die Voraussetzungen für ihren sozialen Aufstieg. Diese Positionsgewinne stießen in Teilen der christlichen Gesellschaften auf Ablehnung, da einige Gruppen ihre soziale und wirtschaftliche Stellung durch die Zulassung von Juden gefährdet sahen. Gegen diese von staatlicher Seite betriebene Gleichstellungspolitik wandten sich viele Bürger einerseits gewaltlos durch Eingaben an die Parlamente oder den Fürsten oder durch die Publikation von Schriften, in denen sie vor der Gefahr einer jüdischen Übermächtigung der Christen und der Schädlichkeit der Juden warnten, andererseits, zumal wenn solche Mittel erfolglos blieben, auch mit kollektiver Gewalt, die als legitimes Mittel gegen eine als illegitim empfundene Entwicklung verstanden wurde. Als besonders konfliktträchtig erwiesen sich dabei die Fragen der Ansiedlung von Juden in Orten, die sie bisher ausgeschlossen hatten, sowie die Gewährung des Ortsbürgerrechts, da dies greifbare ökonomische Folgen für alle Ortsbürger hatte. Die vorstehend analysierten antijüdischen Ausschreitungen traten dabei selten isoliert auf, sondern waren ganz überwiegend eingebettet in Phasen einer allgemeinen politischen und sozialen Unruhe, in denen sich kollektive Gewaltaktionen auch gegen andere Ziele richten konnten. Die in solchen Phasen entstehenden Machtwechsel bzw. Machtverluste des Staates oder fremder Machthaber boten Chancen einer breiten Mobilisierung von Akteuren und zugleich sind sie durch eine gewisse Schwächung der staatlichen Organe gekennzeichnet. Die antijüdischen Ausschreitungen im Elsass richteten sich gegen die durch die Französische Revolution erfolgte rechtliche Gleichstellung auch der dort ansässigen Juden, die Unruhen in Italien von  griffen die Juden als Parteigänger der französischen Besatzungsmacht an, wobei sie die Phase der temporären Abwesenheit französischer Truppen nutzten. Auch die Ausschreitungen in der Schweiz von  ergaben sich aus politischen Machtkämpfen und reagierten zudem auf drohende Statusverbesserungen der einheimischen Juden in Endingen und Lengnau. In den Revolutionen von  und / ging es zwar nicht primär um die Frage der Rechtsstellung der Juden, sondern um die Veränderung der politischen und sozialen Ordnung insgesamt, doch wurden Juden dabei in doppelter Weise zum Ziel von Gewalt: Einerseits wurden sie häufig von mit ihnen konkurrierenden sozialen und beruflichen Gruppen (Kaufleute, Handwerker) attackiert, weil ihnen im Zuge der politischen Neuordnung einerseits die volle rechtliche Gleichstellung in Aussicht gestellt wurde, die auch berufliche Einschränkungen hinfällig gemacht hätte (vgl. etwa die Unruhen in Hamburg , , ). Andererseits wurden sie als Geldverleiher vor allem der bäuerlichen Bevölkerung und der Unterschichten als Teil der sie bedrückenden herrschenden Gruppen angesehen – so wurden in den Pogromen oft die bei jüdischen Geldleihern aufgelaufenen Schulden durch 326

RESÜMEE

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Vernichtung der Schuldscheine getilgt. Da die Gewährung der rechtlichen Verbesserungen für Juden von den politischen Autoritäten, seien es die Fürsten oder die Parlamente, ausging, konnten die antijüdischen Ausschreitungen häufig auch einen regierungskritischen Zug (z. B. in Warschau , Kopenhagen ) annehmen bzw. sich dann auch direkt gegen staatliche Organe wenden. In ihren Aktionsformen und in ihrem Gewaltniveau unterschieden sich die Angriffe auf Juden nicht von den Übergriffen gegen andere Ziele. Aus Sicht der Täter handelte es sich bei ihren Aktionen um Akte kollektiver Bestrafung oder Rache für ein zugefügtes Unrecht, das durch die symbolische Zerstörung von Eigentum, insbesondere die Demolierung von Häusern und Einrichtungen, gesühnt werden musste. Hinzu kam die Bereicherung durch Plünderung der Häuser und Läden oder das Abpressen von Geld oder Schmuck, die von den Tätern aber als eine Form des »gerechten Ausgleichs«, als eine Art Rückholung illegitim erworbenen Gutes verstanden wurde. Obwohl auch christliche Judenfeindschaft ein Motiv für die Ausschreitungen war, kamen nur selten Angriffe auf Synagogen oder Entweihungen religiöser Objekte vor. Ebenso fällt auf, dass schwere physische Übergriffe eher selten vorkamen waren und es offenbar nur wenige Todesfälle während dieser Unruhewellen gab.1 Wie Manfred Gailus und auch Helmut W. Smith angemerkt haben, steht dies in auffälligem Gegensatz zu den wüsten Drohungen und Gerüchten sowie den »wilden« Phantasien über Gewaltaktionen. Beide sehen in diesen Vernichtungsphantasien eine Bezugnahme auf die Sprache der spätmittelalterlichen Pogrome,2 doch darf man nicht verkennen, welche Rolle die verbreitete radikale und aggressive antijüdische Pamphletistik mit ihren Drohgebärden dabei spielte.3 Für die erste Hälfte des . Jahrhunderts gilt zudem, dass die örtlichen Ordnungskräfte fast immer zu schwach besetzt waren, um größeren »Volkshaufen« erfolgreich entgegentreten zu können, und auch der persönliche Einsatz örtlicher Autoritäten konnte die Tumultuanten nur selten von ihren Aktionen abbringen, wenn diese nicht sowieso mit den Zielen der Ortsbewohner konform gingen. Gingen die Polizeikräfte zu entschlossen vor oder feuerten sie sogar auf die Menge, so riskierten sie, ihrerseits zum Ziel vehement vorgetragener Angriffe zu werden. Zumeist musste bei Unruhen deshalb Militär herbeigeordert werden, was immer eine gewisse Zeit beanspruchte, so dass die Akteure vor Ort eine gewisse Zeitspanne relativ ungehindert agieren konnten. Für die angegriffenen Juden bestand deshalb nur die Möglichkeit, sich in den Häusern zu verschanzen oder, wenn sich die Ge Gailus, Anti-Jewish Emotions, S. .  Ebd., S. , Smith, Continuities, S. : »The anti-Jewish riots, at least in the nineteenth century, oscillated between these two poles – remaining limited, specific, and bounded, like the riots of the moral economy, but gesturing to the general, the religious, the ethnic, and lethal«.  Zu dieser Vernichtungsrhetorik und zum Zusammenhang von antijüdischer Agitation und Gewalt in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts siehe auch Erb/Bergmann, Nachseite, S.  ff. bzw.  ff.

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ANTIEMANZIPATORISCHE UND REVOLUTIONÄRE GEWALT

walt länger angekündigt hatte, sich in andere Orte zu flüchten oder bei christlichen Nachbarn zu verstecken. Alternativen waren das Angebot, sich durch Geldzahlungen freizukaufen oder sich zu wehren, was nach den Quellen nur in wenigen Fällen geschah. Es kam im Zuge von Pogromen zwar immer wieder dazu, dass jüdische Familien den Ort für immer verließen, doch blieben die meisten am Ort wohnen oder kehrten nach dem Ende der Unruhen wieder zurück. In einigen Fällen setzte in Reaktion auf örtliche Unruhen jedoch ein Abwanderungsprozess von Juden aus den betroffenen Pogromgebieten in ruhigere Provinzen ein, dies galt insbesondere für die Juden in Posen, die sich nach Westen, häufig in die Großstädte Breslau und Berlin wandten.4 Nicht alle antijüdischen Ausschreitungen sind jedoch durch die Abwehr der Judenemanzipation motiviert gewesen. Lokale Unruhen konnten sich auch aus religiösen oder wirtschaftlichen Konflikten zwischen Christen und Juden ergeben, so im Fall der Unruhen im Zuge des Ritualmordvorwurfs in Neuenhoven oder der Religionstumulte, die sich etwa aus dem Versuch einer jüdischen Familie ergaben, den zum Christentum konvertierten Sohn zurückzuholen, oder aus angeblichen Schmähungen des christlichen Glaubens. Unruhen konnten auch entstehen, wenn Geschäftspraktiken von Juden als Verletzung der Regeln der herkömmlichen »moral economy« gesehen wurden, so etwa bei den Unruhen der Unterschichten in der Toskana  oder im Zuge der Lebensmittelunruhen in ländlichen Gebieten während der Revolution von -. Auch die Ausschreitungen von Fabrikarbeitern in Prag und Böhmen im Jahre  sind ähnlich als eine Form der Maschinenstürmerei angesichts einer akuten Wirtschaftskrise einzustufen. Diese Übergriffe der betroffenen bäuerlichen und städtischen Unterschichten galten oft nicht allein den jüdischen Händlern oder Unternehmern. Hier könnte man mit Eleonore Sterling vom »displacement of social protest« sprechen, während die als Widerstand gegen die rechtliche und ökonomische Besserstellung der Juden entstehenden kollektiven Übergriffe sich allein gegen die Juden als Gesamtgruppe richteten und zumeist von einer breiteren Beteiligung bzw. Unterstützung der Bevölkerung getragen wurden, auch wenn die Gewaltakteure zumeist jüngere Männer (Lehrlinge, Gesellen) aus dem Milieu der Handwerker und des Kaufmannstandes, der Unterschichten oder des bäuerlichen Milieus (Knechte) waren. Der gewalttätige Widerstand gegen den Zuzug oder die Gewährung weiterer Rechte an die Juden hatte in vielen Fällen, wie man etwa am Beispiel Hamburgs oder der beiden schweizerischen Dörfer sehen kann, durchaus Erfolg. Selbst in Frankreich, wo die Juden seit  gleichberechtige Staatsbürger waren, schränkte Napoleon  dieses Recht durch das »Décret infâme«, das die wirtschaftlichen Aktivitäten der Juden beschnitt, in den unruhigen östlichen Départments für eine gewisse Dauer wieder ein. Es gelang also mittels des gewaltsamen Protests, die Obrigkeiten soweit zu beeindrucken, dass sie weitere Reformpläne aufschoben. So stagnierte nach einer Phase der Erlasse neuer Judenordnungen in den ersten beiden  Toury, Die Revolution von  als innerjüdischer Wendepunkt, S. .

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Jahrzehnten des . Jahrhunderts die weitere Entwicklung bis zu den erneuten Bemühungen im Zuge der er Revolution, die zwar Fortschritte brachte und in einigen europäischen Staaten auch zur völligen Gleichstellung führten, doch war die Entwicklung nicht einheitlich und die Revolution brachte nicht den erwarteten Abschluss der Emanzipationsgesetzgebung.5 Da den Unruhen in vielen Fällen auch Motive wirtschaftlicher Konkurrenz zugrunde lagen, gab es jüdische Stimmen, die einen Umbruch in der jüdischen Berufsstruktur weg von der händlerischen Tätigkeit und dem Kreditgeschäft hin zu Handwerk und Landwirtschaft forderten.6 Für Jacob Toury war die er Revolution zumindest für die Juden in Deutschland ein »innerjüdischer Wendepunkt«.7 Auch wenn sich viele der strenggläubigen Gemeinden von der Revolutionsbewegung fernhielten und die traditionszersetzenden Folgen von Emanzipation und Integration fürchteten, so bezeichnete nach Toury die Revolution doch das Ende der Ghetto-Existenz und die Wandlung vom traditionsverbundenen, primär religiös orientierten Judentum hin zu einem säkularisierten und politisierten, sich an das »Deutschtum« akkulturierten jüdischen Bürgertums.8

   

Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen, S. . Toury, Die Revolution von  als innerjüdischer Wendepunkt, S. . Ebd., S. . Ebd., S. .

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. Nachhutgefechte gegen die Emanzipation und Nationalitätenkonflikte – antijüdische Ausschreitungen in den »ruhigen Jahren« - Die knapp drei Jahrzehnte nach  gelten in der Antisemitismusforschung als die »ruhigen Jahre« zwischen dem Ausbruch antijüdischer Gewalt im Kontext der er Revolution und der Wende mit dem Aufkommen des Antisemitismus als politische und soziale Bewegung nach dem Gründerkrach Anfang der er Jahre. Zugeschrieben wird dies dem Durchbruch des Liberalismus und dem zunehmenden internationalen Druck, die schließlich  bzw.  zur endgültigen rechtlichen Gleichstellung der Juden im Deutschen Reich führten, in der Habsburgermonarchie mit der neuen liberalen Dezember-Verfassung von  die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden in Cisleithanien durchsetzten und auch auf den rumänischen Staat in seiner Gründungsphase einen, wenn auch nicht sehr erfolgreichen Einfluss in dieser Richtung ausübten. Neuere Untersuchungen belegen jedoch, dass in Preußen bereits seit den späten er Jahren der »linke« sozialkonservative Flügel der Konservativen Partei in seinem Kampf gegen den Liberalismus sich eines radikalen Antisemitismus bediente, der sich kaum von dem gewöhnlich erst in die er Jahre datierten »modernen Antisemitismus« unterschied, der allerdings in Preußen keinen Niederschlag in antijüdischer Gewalt fand.1 In anderen europäischen Staaten, wie in der Habsburgermonarchie oder im neu gegründeten Rumänien, gaben nun erstmals Nationalitätenkonflikte Anlass für Ausschreitungen gegen Juden. Andernorts dauerten die aus der frühen Emanzipationsphase bekannten Konflikte über die Revolution von  hinaus bis in die er Jahre an, vor allem was den Zuzug und die Verleihung der Ortsbürgerrechte an Juden anging. Dies zeigt die Hartnäckigkeit, mit der an einigen Orten eine Gleichstellung der Juden bekämpft wurde. Möglicherweise sind die historischen Zäsuren bisher überzeichnet worden und wir müssen die -er Jahre neu in den Blick nehmen. – Was antijüdische Gewalt angeht, so ist für diese Jahre durchaus eine Reihe von Ausschreitungen bekannt.

 Henning Albrecht, Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen, -, Paderborn ; ders.: Preußen, ein Judenstaat. Antisemitismus als konservative Strategie gegen die »Neue Ära« – Zur Krisentheorie der Moderne, in: Geschichte und Gesellschaft , , S. -.

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. Nachhutgefechte um das Ortsbürgerecht für Juden - Wie wir es schon im vorigen Kapitel festgestellt haben, leistete eine Reihe von Orten über  hinaus einen lang andauernden Widerstand gegen die Verleihung der Ortsbürgerrechte an Juden, indem sie staatliche Anordnungen ignorierten und zum Mittel kollektiver Gewalt griffen, um ihre eigene traditionale »Rechtsauffassung« durchzusetzen und den Juden Rechte zu verweigern, die den Ortsbürgern materielle Nachteile gebracht hätten. Antijüdische Krawallnächte in Oberendingen im Kanton Aarau  Zu den Orten, die sich so hartnäckig gegen die Ortsbürgerechte für Juden wandten, gehörten auch die beiden Schweizer »Judendörfer« Endingen und Lengnau, in denen es bereits im Zuge der ersten Emanzipationsdebatte in der Helvetischen Republik  zu heftigen antijüdischen Ausschreitungen gekommen war (vgl. Kap. ). Damals hatte man sich nicht zu einer Verleihung der Bürgerrechte auch an die Juden in diesen beiden Ansiedlungsorten durchringen können, sondern ihnen den Aufenthalt nur unter einem Fremdengesetz gestattet.1 Auch sechzig Jahre später stand die Aargauer Bevölkerung einer Einbürgerung der Juden noch ablehnend gegenüber, die in der Tradition des christlichen Antijudaismus stehend Juden nur als Wucherer, Blutsauger und Mörder Christi betrachtete.2 Dabei betrug die Zahl der Juden im Aargau  ganze . Personen, was ,  der Gesamtbevölkerung entsprach.3 Da Napoleon  in der Mediationsverfassung den alten Föderalismus wieder eingeführt hatte, war die Judenemanzipation wieder die Angelegenheit der Kantone, also vor allem des Kantons Aargau geworden, zu dem die Judendörfer Endingen und Lengnau jetzt gehörten. Entsprechend konnte sich die fortschrittlichere Position der liberalen und protestantischen Zentralregierung hier nicht durchsetzen.  hatte die aargauische Regierung nach dem Vorbild des napoleonischen »Décret infame« ein Judengesetz erlassen, das den Juden nur die Pflichten als Kantonsbürger auferlegte, ihnen aber nicht deren Rechte gewährte.4 Gesuche der aargauischen Juden um gesetzliche Verbesserungen ihrer Stellung in den Jahren , ,  und  blieben ohne Wirkung. Auch die Gründung  Alexandra Binnenkade, Kontaktnahmen. Jüdisch-christliche Kontaktzonen im Surbtal (Schweiz), in: dies./Ekaterina Emeliantseva/Svatoslav Pacholkiv, Vertraut und fremd zugleich. Jüdisch-christliche Nachbarschaften in Warschau – Lengnau – Lemberg, Köln, Weimar, Wien , S. -, hier S. .  Aram Mattioli, Der »Mannli-Sturm« oder der Aargauer Emanzipationskonflikt -, in: ders. (Hrsg.), Antisemitismus in der Schweiz -, Zürich , S. - , hier S. .   lebten in Lengnau  Juden und  Christen, in Endingen  Juden und  Christen. Danach nahm die jüdische Bevölkerung in diesen Orten ab: in Lengnau auf  Juden und . Christen, in Endingen auf  Juden und  Christen (Binnenkade, KontaktZonen, S.  f.)  Guggenheim-Grünberg, Vom Scheiterhaufen, S. .

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des Schweizer Bundesstaates von  brachte den Juden mit der neuen Verfassung nicht die gleichen Bürgerrechte wie den Christen, also keine Niederlassungsfreiheit, keine Gleichstellung vor dem Gesetz und keine Kultusfreiheit.5 Es war paradoxerweise gerade die Tatsache, dass die Schweiz das erste Land Europas war, in dem sich das Prinzip der Volkssouveränität umfassend durchsetzte, das aber Frauen und Juden als letztes europäisches Land Volksrechte zuerkannte.6 Es war nach Alexandra Binnenkade gerade die demokratische Mitsprache der männlichen christlichen Bevölkerung ab , die sich undemokratisch auswirkte und judenfeindlichen Argumenten immer wieder zum Durchbruch verhalf, während liberale Regierungen zentralistischer Staaten Reformen hier leichter durchsetzen konnten.7 Allerdings gab es ein deutliches Gefälle zwischen der Romandie und der Deutschschweiz sowie innerhalb Letzterer einen deutlichen Unterschied zwischen Stadt und Land.8 Die alten Landgemeinden waren stark konfessionell geprägt, so dass wir es mit einem staatlich-religiösen Doppelorganismus zu tun haben: mit dem souveränen Volkskörper, der eng mit dem »corpus catholicum« verbunden war. »Diese Verdoppelung erklärt, warum der konservativ-katholische Widerstand gegen die Juden« so stark ausfiel.9 Allerdings fielen die Unruhen  im protestantischen Dorf Endingen heftiger aus als im katholischen Lengnau. Fragen der Konfession waren im konfessionell gemischten Aargau eine heikle Sache, und die Frage der Judenemanzipation gehörte zu diesen problematischen konfessionellen Themen. Der Aargauer »Mannli-Sturm« von - verfolgte zwar wie jedes Referendum über neue Gesetze direktdemokratische Ziele, sein Auslöser und seine Triebkraft war aber der Antisemitismus. Nach Josef Lang lagen die Organisation und die Mobilisierung dieser Volksbewegung in den vorwiegend katholischen Bezirken in den Händen des ausgesprochen judenfeindlichen papsttreuen Piusvereins.10  Allerdings war die Rechtslage widersprüchlich, da die Verfassung im Artikel  alle Schweizer vor dem Gesetz gleichstellte, was zwischen den Kantonen zu Rechtsstreitigkeiten um die Rechte der Juden führte (ebd., S. ).  Josef Lang, Das Paradox der (Deutsch-)Schweizer Demokratie«, in: René Roca/Andreas Auer (Hrsg.), Wege zur direkten Demokratie in den schweizerischen Kantonen. Zürich , S. -.  Binnenkade, Kontaktnahmen, S. .  Ebd. So stimmten bei der ersten Volksabstimmung im jungen Schweizer Bundesstaat im Januar  zwei Drittel der französischen Schweizer und eine knappe Mehrheit der städtischen Deutschschweiz für eine Gleichberechtigung der Juden, während zwei Drittel der ländlichen Deutschschweiz dies ablehnten. In der Zentralschweiz sogar  .  Lang, Ein Paradox. Zeitgenössische Beobachter sahen die »Judenfrage« als nur vorgeschoben an, da es den katholischen Agitatoren, wie dem bekannten aargauischen Katholikenführer Johannes Nepomuk Schleuninger und dem Piusverein primär darum ging, die Protestanten und Liberalen anzugreifen. Die »Judenfrage« sahen sie als bloßen Anlass, den tieferen Grund aber in der konfessionellen Frage. Friedrich Külling, Bei uns wie überall? Antisemitismus in der Schweiz -, Zürich o. J. [], S. -.  Ebd. Vom Führer dieser Organisation, Johann Nepomuk Schleuniger, stammte der Satz in der offiziellen Eingabe der Volksversammlung von Leuggern, einer Gemeinde in Nachbar-

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Die Schweiz war aufgrund ihrer weiterhin restriktiven Judenpolitik aber international in die Kritik geraten, da sich vor allem die Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande seit den er Jahren an den diskriminierenden Bestimmungen der Schweizer Bundesverfassung von  und an den kantonalen Sondergesetzen stießen, die auch die Niederlassung bzw. die Ausübung von Gewerben für Juden aus diesen Ländern erschwerten. Die Schweiz sah sich so zunehmend unter dem diplomatischen Druck und musste Nachteile für ihren Außenhandel befürchten,11 weshalb amerikanischen und französischen Juden größere Rechte zugebilligt wurden als den einheimischen Juden. Die Bundesregierung der Schweiz beschloss deshalb , den Juden die Ausübung politischer Rechte sowie Handels- und Niederlassungsfreiheit im Niederlassungskanton sowie das Recht auf freien An- und Verkauf zu gewähren, hatte aber kein Durchgriffsrecht auf die Kantone und Ortsgemeinden.12 Juden konnten sich deshalb  erstmals an Nationalratswahlen beteiligen. Auch die Aargauer Regierung entschloss sich, dieses Problem nun endgültig zu lösen, und legte im November  dem Parlament einen Gesetzentwurf vor, der die beiden jüdischen Gemeinden Lengnau und Oberendingen zu selbständigen Einwohnergemeinden erhob, womit die Juden ein Ortsbürgerrecht erhalten hätten, was eine Voraussetzung für ihre völlige rechtliche Gleichstellung als Kantons- und Staatsbürger war, die für die Schweizer Bundesbehörden längst als gegeben angesehen wurde.13 Außerdem sollten Niederlassungs- und Heiratsbeschränkungen aufgehoben werden. Mit dieser spezifischen Lösung der Schaffung selbständiger jüdischer Einwohnergemeinden hoffte die Regierung die Bedenken der christlichen Einwohner Oberendingens und Lengnaus zu zerstreuen, die sich über Jahrzehnte gegen eine Ausweitung der ortsbürgerlichen Rechte für die jüdischen Nachbarn gestemmt hatten, weil sie fürchteten, überstimmt und vom

schaft Lengnaus und Endingens im Bezirk Zurzach des Schweizer Kantons Aargau: »Die Juden passen nicht zu uns als Mitbürger und Mit-Eidgenossen. […] Die Juden passen geschichtlich, gesellschaftlich und politisch nicht zu den Schweizern. […] Die Schweiz ist geschichtlich ein Vaterland der Christen« (zit. in: Matteoli, Mannli-Sturm, S. ).  Mattioli, Mannli-Sturm, S. .  Yoko Akiyama kommt deshalb zu der Einschätzung, dass die Judenemanzipation in der Schweiz nicht auf einen Gesinnungswandel der Schweizer zurückzuführen war und die gesellschaftliche Stellung der Juden deshalb noch lange Zeit brüchig blieb (Das Schächtverbot von  und die Tierschutzvereine: Kulturelle Nationsbildung der Schweiz in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts, phil. Diss. University of Tokyo  (pdf.-Datei), S.  (http://hdl.handle.net//).  Das Problem war, dass weder der Kanton noch der Bundesstaat Einwohner von sich aus zu Kantons- bzw. Staatsbürgern machen konnten, ohne dass die Ortsgemeinden ihnen das Bürgerrecht zusprachen. Erst wer Gemeindebürger war, was nur über den Besitz an Boden in der Gemeinde möglich war, konnte auch Kantons- bzw. Staatsbürger werden. Deshalb wählte die Regierung auch den Weg, den Juden zu gestatten, eine neue Gemeinde zu gründen, der dann Rechte an kollektivem Besitz von Grund und Boden zustanden (Binnenkade, KontaktZonen, S. ; ders., Kontaktnahmen, S. ).

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Grundbesitz verdrängt zu werden.14 Aram Mattioli betont, dass sich diese örtlichen Konflikte vor dem Hintergrund einer schlechten Wirtschaftslage in dieser wenig industrialisierten Region abspielten. Christen wie Juden lebten in Armut, die durch die Hungerkrise von / noch verschärft worden war, so dass viele Familien nach Übersee auswandern mussten. Auch in Lengnau und Endingen war zur Jahrhundertmitte die Finanzlage so prekär, dass das hochverschuldete Lengnau unter die Finanzaufsicht des Kantons gestellt wurde.15 Die Krisensituation ist für die Haltung in der Ortsbürgerfrage für Juden in Rechnung zu stellen. Deshalb ist hier die Emanzipationsfrage weniger in ihrer rechtlich-ideellen Dimension debattiert worden als vielmehr vor dem Hintergrund von sozioökonomischer Rückständigkeit und wirtschaftlicher Unsicherheit.16 Hinzu kam die zunehmende Zentralisierungs- und Reglementierungspolitik des Kantons Aarau, die die Kontrolle über die Gemeinden verstärkte, was zu einer gewissen Entfremdung zwischen Regierung und Dorfgemeinden führte. Die Bewohner ländlicher Gebiete schlossen sich angesichts der geschilderten Veränderung zu einer Protestbewegung (Demokratische Bewegung) zusammen, die sich gegen die Reformen der liberalen Regierung wandte und ein Vetorecht in Form von Referenden forderte.17 Als die Mitglieder des Regierungsrates, der sich mehrheitlich aus liberalen Politikern zusammensetzte, im Zuge der Verfassungsrevision für die bürgerliche Gleichstellung der Juden und damit einer Anpassung an den Bundesbeschluss von  votierten, formierte sich heftiger Widerstand im Parlament und in der christlichen Bürgerschaft und führte zur Auflösung des Regierungsrates und des Großen Rates.18 D. h, die Einwohner von Endingen und Lengnau standen in ihrer Ablehnung nicht allein, sondern konnten sich auf einen breiten, teils politischen, teils gesellschaftlichen Konsens berufen, was die Bereitschaft zur »kollektiven Selbsthilfe« auch mit Mitteln der Gewalt befördert haben dürfte, zu denen sie zwischen dem . Oktober und dem . November  in den antijüdischen Ausschreitungen in Oberendingen griffen.19  Der  ausgearbeitete Entwurf blieb aber liegen, weil man befürchtete, die in den beiden Dörfern wohnenden Juden könnten ihre christlichen Mitbürger überstimmen. Ein  neu ausgearbeiteter Entwurf sah vor, die Juden als selbstständige Ortsgemeinden allerdings ohne Gemeindebann anzuerkennen, so dass sie teilweise von der christlichen Ortsgemeinde abhängig geblieben wären. Die christlichen Ortsgemeinden waren dagegen, etwas von ihrem Gemeindeland an die Juden abzutreten (Külling, Bei uns wie überall? S.  f.).  Binnenkade, Kontaktnahmen, S. .  Mattioli, Mannli-Sturm, S. .  Binnenkade, Kontaktnahmen, S.  f. Die Regierung begrenzte aber einerseits auch die Souveränitätsrechte der zu Korporationen erklärten jüdischen Gemeinden, dehnte aber andererseits durch die seit  erlassenen neuen kantonalen Schulgesetze die Rechte der Juden immer stärker in Richtung Gleichstellung mit den Christen aus (ebd., S. ).  Ebd., S.  f., Binnenkade hebt aber hervor, dass beide Gremien in fast identischer Besetzung wiedergewählt wurden.  Zum Versuch, zu erklären, warum es im überwiegend protestantischen Endingen zu den Ausschreitungen kam, während es im mehrheitlich katholischen Lengnau – wie schon

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Auslöser waren Arbeiten eines von der Regierung beauftragten Vermessungsingenieurs im Surbtal am . Oktober. Für die neu zu schaffende jüdische Ortsgemeinde war die Zuweisung eines eigenen Gemeindebannes in Aussicht genommen worden, was zu einer Teilung des Gemeindebanns geführt und das zur Verfügung stehende Gemeindeland für die christlichen Bewohner geschmälert hätte, was deshalb bei diesen auf erbitterte Ablehnung stieß. Die Tatsache, dass es Konflikte über die Allmende in den er Jahren auch schon zwischen christlichen Ortsbürgern gegeben hatte, da die alten Ortsbürger die Berechtigung der zu Neubürgern gewordenen Hintersassen unterliefen, indem sie eine Innerortsgemeinde gründeten, spricht dafür, dass es weniger ein religiös motivierter christlich-jüdischer Gegensatz als vielmehr die drohenden wirtschaftlichen Einbußen waren, die das Handeln bestimmten.20 Bereits eine Woche vor dem Auftauchen des Vermessungsingenieurs hatte man in einer Gemeindeversammlung geschworen, vom Gemeindebann kein Stückbreit abzugeben, auch wenn die Regierung dies im Zusammenhang mit der geplanten Gleichstellung der Juden verlangen würde. Man pochte auf das in der Kantonsund Bundesverfassung verbriefte Eigentumsrecht.21 D. h., der Widerstand der Ortsbewohner richtete sich gleichermaßen gegen die Maßnahmen der Regierung, die man auf Seiten der Juden sah.22 Sowohl dem Ingenieur (»wenn Sie morgen noch hier sind und arbeiten, gibt’s Blut«)23 wie den jüdischen Bewohnern wurde offen mit Gewalt für die kommende Nacht gedroht, sollten die Vermessungsarbeiten, die als eine Grenzüberschreitung seitens des Staates betrachtet wurden, nicht sofort eingestellt werden. Daraufhin unterrichteten die Vorsteher der jüdischen Gemeinde durch einen Kurier das Bezirksamt von Zurzach. Einige Arbeiter, die am Morgen im Gemeindewald Holz geschlagen hatten, verabredeten sich für den Abend dazu, dem Ingenieur und den Juden eine »Katzenmusik« oder »Serenade« darzubringen. Das heißt, man griff auf einen traditionellen Rügebrauch zurück, mit dem zumeist die jungen Männer eines Ortes mit Billigung der Älteren durch symbolische Gewalt, die karnevaleske Züge tragen konnte und Elemente von Parodie und Spott enthielt, unakzeptables, normbrüchiges Verhalten bestrafen und so die »richtige« Ordnung wiederherstellen wollten.24 Als Signal zu deren Beginn diente offenbar das Abfeuern von drei Schüssen, auf die hin der gewalttätige

    

 – weitgehend ruhig blieb, obwohl auch der Ort handfeste Gründe für einen Konflikt mit der Regierung gehabt hätte, vgl. Binnenkade, Kontaktzonen. S.  ff. Binnenkade, KontaktZonen, S. . Dort auch der Hinweis, dass der kommunale Wald im . Jahrhundert eine wichtige und umkämpfte Ressource für die dörfliche Gemeinschaft darstellte (S.  f.). Ebd., S. . Man wolle für den Boden »mit dem letzten Tropfen Herzblut aller Ortsbürger, […], einstehen« (S. ). Dies betont Binnenkade, KontaktZonen, S. . Die Tatsache, dass der Vermessungsingenieur im jüdischen Wirtshaus abstieg und sich bei den Vermessungsarbeiten von zwei jungen Juden assistieren ließ, bestärkte den Argwohn der christlichen Einwohner. Ebd., S. . Zu einer ausführlichen Beschreibung des Rituals der »Katzenmusik« am Endinger Beispiel: ebd., S.  ff.

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Krawall mit Billigung der Gemeindevorsteher begann. Die verabredeten Arbeiter (zwölf Musikanten) versammelten sich am Abend mit ihren Instrumenten (Flöten, Pfannen, Sensen, Trommeln, Kuhschellen) und zogen los, wobei sich angesichts des Lärms immer mehr Dorf bewohner dem Zug anschlossen.25 In einer anderen Darstellung wird die Hauptrolle  bis  Jugendlichen zugeschrieben, die durch das Dorf zogen, sich vor einzelnen Häusern von Juden sammelten und unter Rufen wie »Harus, furt mit da Juda !« oder »Harus, hurah, haaraus!«, Spottliedern und Schlägen gegen deren Türen und Fenster hämmerten sowie begannen, mit Steinen und Holzstücken Fensterscheiben einzuwerfen.26 Ein Hauptziel war dabei das jüdische Gasthaus, in dem der Vermessungsingenieur logierte. Diese Aktion versetzte die Juden des Ortes in Angst, zumal man sich noch an die heftigen Ausschreitungen des Jahres  erinnerte. Die Juden nahmen diese Angriffe aber nicht widerstandslos hin. Einige packten die Angreifer am Kragen oder wiesen sie verbal zurecht. Auch gab es, da man die Tumultuanten ja persönlich kannte, schriftliche Anzeigen gegen die Ruhestörer.27 Als der alarmierte Bezirksamtmann Frey aus Zurzach gegen  Uhr erschien, war der Krawall bereits vorüber. Der Gemeindeamman verteidigte den Gewaltausbruch, indem er dem Bezirksamtmann erklärte, dass man es den »wirklichen Ortsbürgern«, damit meinte er die Christen, nicht übelnehmen könne, wenn sie sich gegen den Gesetzesvorschlag der Regierung, der den Juden einen eigenen Gemeindebann, Nutzungsrechte für Holz und Wiesen der Christengemeinde und rechtliche Gleichstellung einräumen wolle, zur Wehr setzten, um »das Erbe ihrer Väter« zu schützen. Zudem hätten die Juden in der letzten Zeit durch ihre unverhohlene Freude über die anstehende Emanzipation die christlichen Bürger ungebührlich gereizt.28 Zwar wies der Bezirksamtmann diese Erklärung zurück und befahl dem Gemeindeamman, keine weiteren Ausschreitungen zu dulden. Dennoch wurden Fensterscheiben des Gasthauses eingeworfen, in dem er sich mit den jüdischen Vorstehern traf, die er ermahnte, die Juden sollten sich nicht der Vorteile der zu erwartenden bürgerlichen Gleichstellung rühmen. Die Aufstellung einer jüdischen Bürgerwache lehnte er ab. Frey hatte bei seinem Eintreffen gerade noch einige junge jüdische Männer im Gasthaus mit Mühe davon abhalten können, die Herausforderung anzunehmen, da er wohl zu Recht annahm, dies hätte eine Eskalation der Gewalt hervorgerufen.29 Zwar blieb es die Nacht über ruhig,  Ebd., S. .  Mattioli, Mannli-Sturm, S. ; Binnenkade verweist darauf, dass dies »Harus« ein Herausforderungsruf sei, der sich auf alteidgenössische Kampf- und Soldatenrufe bezieht, die den in Deutschland bei antijüdischen Ausschreitungen seit  gebräuchlichen »HepHep -Rufen entsprächen (KontaktZonen, S. ).  Binnenkade, KontaktZonen, S. .  Mattioli, Mannli-Sturm, S. ; ähnlich Binnenkade, KontaktZonen, S. .  Aus den Untersuchungen zu den antijüdischen Pogromen im Zarenreich wissen wir, dass die Gewalt durch gewisse Regeln eingehegt war und dass eine allzu heftige Gegenwehr von Seiten der Juden häufig zu einer Eskalation der Gewalt führen konnte.

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doch Steinwürfe gegen die Kutsche des wieder abreisenden Bezirksamtmanns, das ihm nachgerufene »Judenhund« sowie die Stationierung zweier Polizeisoldaten im Ort zeigen, wie angespannt die Lage blieb und wie sehr man den Bezirksamtmann als Parteigänger der Juden betrachtete. Aus diesem Grund brach auch der Vermessungsingenieur seine Arbeit ab und verließ Oberendingen wieder. Trotz dieser Vorkehrungen hörte die Gewalt nicht auf. Bis zum . November gingen die Krawalle seitens durch das Dorf ziehender junger Burschen in der Dunkelheit weiter, wenn auch nicht mehr in der Intensität wie am . Oktober, da es bei verbalen Drohungen blieb. Die abendlichen Züge durch das Dorf scheinen eine Art von Abendunterhaltung der christlichen Dorfbewohner mit fließenden Übergängen zu verbalen Provokationen (Spottliedern) gewesen zu sein.30 In einem Brief an die Regierung teilte die israelitische Vorsteherschaft mit, dass weder die jüdischen Einwohner noch die beiden abkommandierten Landjäger sich angesichts der fortgesetzten »Exzesse« auf die Straße trauten. Dies bewog die Behörde, am . November weitere vier Polizisten nach Oberendigen zu entsenden, die bis zum . November dort stationiert blieben. Sie drohte zudem an, dass man das Dorf militärisch besetzen werde, wenn die Unruhen anhielten. Interessant ist, worauf Alexandra Binnenkade hingewiesen hat, die unterschiedliche Kategorisierung der Ereignisse seitens der verschiedenen Akteure. In den Akten des Bezirksamtes und von Seiten der bedrohten Juden wurden die Ereignisse als »Excesse«, von den Endinger und Lengnauer Bürgern als »Katzenmusik oder Serenaden« bezeichnet. Binnenkade betont, dass man das Handeln der Endinger primär im lokalen Kontext interpretieren müsse, auch wenn man an kantonale bzw. bundesweite Bürgerrechtsdiskurse anschloss. Der Konflikt, in dem Judenfeindschaft eine wichtige Rolle spielte, war Teil einer Auseinandersetzung, in der die christlichen und jüdischen Endinger einander widerstreitende Interessen vertraten. Die Katzenmusik war in den Augen der christlichen Endinger das geeignete Kommunikationsmedium, um den Juden und der Regierung ihr Anliegen vorzutragen. Gewalt war demnach ein Mittel der Markierung von Grenzen in den örtlichen Kontaktzonen. »Entfremdung, Ausschluss, Gewalt und Fundamentalismus sind Teil kultureller Bewegungen in Kontaktzonen«.31 Verglichen mit den Ausschreitungen von  war das Gewaltniveau zwar geringer, doch immerhin wurden drei Personen durch die tätlichen Angriffe verletzt, Menschen wurden bedroht und  Fensterscheiben eingeworfen sowie weitere Schäden an  Häusern angerichtet. Hinzu kamen Provokationen, wüste Beschimpfungen und eine in beständige Angst versetzte jüdische Einwohnerschaft.32  Binnenkade, KontaktZonen, S.   Ebd., S.  f.  Mattioli, Mannli-Sturm, S. ; Binnenkade, KontaktZonen, S. , nennt etwas andere Zahlen: demnach seien in den  Unruhetagen  Fensterscheiben sowie Fensterrahmen und Fensterladen eingeworfen bzw. beschädigt worden. Mehreren Dorf bewohnern seien die Laternen ausgetreten oder mit diese Steinwürfen auslöscht geworden. Es gab eine durch einen Steinwurf wohl zufällig getroffene verletzte jüdische Frau.

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Der von der Regierung mit der Untersuchung der Vorgänge beauftragte Bezirksamtmann Frey, der drei Monate lang Täter, Opfer und Zeugen vernahm, sah eine »planmäßige Verabredung« und Durchführung des Aufruhrs. Der Großrat sowie der Gemeindeammann hätten den Juden teils selbst gedroht, teils angegeben, sie hätten den Absichten ihrer Mitbürger nicht mehr Einhalt gebieten können, um nicht als »Judenfreund« zu gelten.  Befragte gaben schließlich zu, an dem Umzug am . Oktober beteiligt gewesen zu sein, woraufhin Frey eine Klage wegen Sachbeschädigung gegen sie einreichte, auf die hin sie dazu verurteilt wurden, solidarisch für den Schaden aufzukommen, der sich aber mit  Franken gegenüber den Prozesskosten von sechshundert Franken gering ausnahm.33 Am . November hatte in Oberendingen und Lengnau eine Volksversammlung einstimmig beschlossen, von ihrem Gemeindebann »nicht einen Schuh breit Landes zu vergeben und dafür mit dem letzten Tropfen Herzblut aller Ortsbürger und ihrer Weiber und Kinder einzustehen«.34 Sie richteten eine Eingabe an die Regierung und den Großen Rat des Kantons Aargau, in die sie zahllose heftige judenfeindliche Einlassungen einflochten, mit der Bitte, dass sich an dem traditionellen Status der Juden nichts ändern dürfe. Sie lehnten es darin vehement ab, die Juden als gleichberechtigte Orts- und Gemeindebürger zu akzeptieren. Der Bezirksamtmann sah in den Oberendinger Christen deshalb zu Recht eine entschlossene und verschworene Gemeinschaft, die zur Wahrung ihrer Interessen auch zu Gewaltanwendung bereit war. Die jugendlichen »Radaumacher« handelten stellvertretend für ihre Mitbürger und würden im Dorf als Helden verehrt.35 So erschienen die  Angeklagten am . März  nicht allein zur Urteilsverkündung, sondern wurden von einer Menge von Dorfbewohnern nach Zurzach begleitet, die mit Sensen und Dreschflegeln ausgerüstet waren und einen Pulverwagen mitführten. Der Anführer Johannes Blum, der sich nach dem damals sehr populären italienischen Freiheitskämpfer Garibaldi nannte, kam gar hoch zu Ross daher. Nach der Urteilsverkündung zogen sich die Verurteilten weiße Hemden als Zeichen ihres freiheitlichen Widerstandswillens über, und der selbsternannte »Garibaldi« verlieh ihnen fiktive Ehrenzeichen und hielt dabei als Rabbiner verkleidet eine judenfeindliche Spottpredigt, was von der tanzenden Menge mit Beifall aufgenommen wurde.36 Binnenkade betont, dass sich der Auftritt in Zurzach nicht allein aus der judenfeindlichen Mentalität der Endinger erklären lasse, sondern dass der Auftritt Blums mehrere Adressaten hatte und sich der traditionellen Praktiken ländlichen Sozialprotests bedient habe.37 Wie auch in anderen Fällen, in denen sich Gemeinden mit Gewalt gegen das Ortsbürgerrecht von Juden wandten, war dieses Vorgehen von Erfolg gekrönt. Denn im Aargau war der Konflikt mit dem Ende der Endinger Unruhen keineswegs beigelegt. Der Streit um das Emanzipationsgesetz zog vielmehr immer weitere     

Binnenkade, KontaktZonen, S.  f. Matteoli, Mannli-Sturm, S. . Ebd. Binnenkade, KontaktZonen, S.  ff. Binnenkade, Kontaktnahmen, S. .

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Kreise, so dass es dort  zu einer erbittert geführten Emanzipationsdebatte kam.38 Er wurde in dem sog. »Mannli-Sturm« /, in dem es primär um die öffentliche Diskussion über eine Revision der Kantonsverfassung ging, allerdings gewaltlos fortgeführt.39 Um die Frage der Einbürgerung der Juden sollte zwischen Bundesversammlung und der aargauischen Regierung noch jahrelang weiter gestritten werden, bis die Bundesversammlung sich durchsetzte und die Juden dann auch im Aargau ab  rechtlich gleichgestellte Staatsbürger wurden.40 Der Widerstand der christlichen Gemeinden gegen die Einbürgerung der Juden war also doppelt motiviert: Einmal bestanden, wie die Eingabe an die Regierung und den Großen Rat zeigt, massive antijüdische, teils religiöse, teils protorassistische Vorurteile, zum anderen war es die Angst vor materiellen Einbußen, die eine Teilung des Gemeindelandes sowie die Übernahme der Sorge für die jüdischen Armen mit sich gebracht hätten. Dieses Beispiel zeigt, wie auch die im Folgenden dargestellten Unruhen in Franken, dass auch ein halbes Jahrhundert nach Beginn der Judenemanzipation der Kampf zumindest auf der Ebene der Gemeinden noch nicht beendet war, auch wenn sich die Regierungen und Parlamente nun um die Durchsetzung der völligen Gleichstellung der jüdischer Bürger auf dem Wege der Gesetzgebung bemühten. Insofern ist Aram Mattioli Recht zu geben, dass die Vorgänge in Oberendingen (wie auch in Franken) Paradebeispiele dafür sind, »wie demokratische Partizipation den Prozess jüdischer Emanzipation nachhaltig verzögern und zeitweise offen delegitimieren konnte«.41 Wie der Verlauf der Ereignisse zeigt, hat es neben und verflochten mit dem christlich-jüdischen Konflikt einen Konflikt zwischen »Volk« und »Regierung« gegeben. Mit der Abwehr der Judenemanzipation wehrten sich die Ortsgemeinden auch gegen die zunehmenden Eingriffe der Regierung in die eigenen Angelegenheiten, zumal die staatliche Durchdringung zu Rechtsunsicherheiten in den Gemeinden führte.42 Entsprechend richteten sich viele antijüdische Ausschreitungen zugleich auch gegen als inakzeptabel angesehene staatliche Reglementierungen. Gewalttätige Konflikte um den Gemeindenutzen in Franken / Vor allem das Jahr  ist durch eine Häufung antijüdischer Unruhen gekennzeichnet, die zeitgenössische Zeitungen gar als »Drama der Judenverfolgungen«  Matteoli, Mannli-Sturm, S. .  Vgl. dazu ausführlich: Matteoli, Mannli-Sturm, S. -. Der Name »Mannli« (Männchen) war eine von Regierungsvertretern und Liberalen herabsetzend gemeine Bezeichnung für »einfaches Volk«, die von den so Bezeichneten aber als Herausforderung angenommen wurde (Binnenkade, Kontaktnahmen, S. ).  Zu diesem jahrelangen Konflikt um die Einbürgerung der Juden im Aargau siehe Külling, Bei uns wie überall? S. -. Binnenkade, KontaktZonen, »Der Mannli-Sturm: Grenzsetzung durch Judenfeindschaft«, S. -.  Ebd., S. .  Binnenkade, Kontaktnahmen, S.  ff.

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oder als »Schändliches Treiben der Judenverfolgungen« bewerteten.43 Unruhen in Böhmen und Bierunruhen in Bayern, die sich in einem Fall, nämlich in Würzburg, zu antijüdischen Ausschreitungen ausweiteten, müssen im Kontext der Mobilisierung für den Krieg Preußens gegen Österreich gesehen werden, in dem Bayern auf Seiten Österreichs kämpfte. Zwei andere antijüdische Unruhen, die sich  in den beiden unterfränkischen Städtchen Wiesenfeld und Laudenbach im Bezirk Karlstadt ereigneten, sind jedoch nach James F. Harris nicht auf diesen größeren Kontext zurückzuführen, sondern hatten lokale Ursachen, zumal es bereits Mitte Juni  zu Unruhen in Wiesenfeld gekommen war.44 Die zeitgenössischen Berichte, die in der AZJ zitiert wurden, sehen jedoch einen Zusammenhang mit den Unruhen in Böhmen und den Bierkrawallen.45 In Wiesenfeld und Laudenbach, die beide mit   bzw.   einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil aufwiesen, ging es einmal um die Beziehungen von Juden und Christen in der lokalen Gemeinschaft, zum anderen um die Beziehung der beiden Gruppen zum bayrischen Staat.46 Die antijüdische Gewalt im Mai/Juni  zeigte in beiden Orten dasselbe Muster: zumeist des Nachts bewarfen Unbekannte Häuser der Juden mit Steinen, schlugen mit Knüppeln gegen Türen und Fensterläden, doch gab es keine gezielten Angriffe auf Personen, auch wenn zwei Juden durch Steinwürfe bzw. durch zerbrochene Scheiben verletzt wurden. Zugleich erlebten die Juden die Stimmung am Ort als feindselig, was sich in entsprechenden Drohungen und negativen Bemerkungen auf den Straßen und in Gasthäusern äußerte. Juden aus Wiesenfeld berichteten dem Bezirksamt in Karlstadt, dass die Wiesenfelder meinten, die Zeit der Rache an den Juden sei gekommen und man würde alle umbringen. Einige jüdische Familien flohen deshalb aus den beiden Orten. Die AZJ berichtete unter Berufung auf regionale Zeitungen sogar von einer Panik unter der dortigen jüdischen Bevölkerung.47 Harris hebt besonders hervor, dass den örtlichen Juden von den Mitbürgern und den lokalen Autoritäten keinerlei Schutz gewährt wurde, dass man keine Nachtwachen aufstellen wollte bzw. die Juden diesen Wachen nicht trauen konnten. Deshalb wandten sie sich direkt an die staatlichen Stellen der Bezirksstadt Karlstadt, um ihre Beschwerden vorzubringen.48 Obwohl der Bezirksamtmann die betroffenen Gemeinden ermahnte, gingen die Exzesse weiter.49 Bei den nächtlichen Tätern handelte es sich – entgegen der Schutzbehaup AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Harris, Bavarians and Jews, S.  f. Die AZJ berichtet in Berufung auf die Münchener Neuesten Nachrichten, dass es zudem auch im benachbarten unterfränkischen Thüngen zu Exzessen gekommen sei, Harris konnte aber keine entsprechenden Quellen finden (AZJ, Jg. , Heft , ..).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Harris, Bavarians and Jews, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Harris, Bavarians and Jews, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Die AZJ berichtet anerkennend, dass sogar die Kreisregierung in Würzburg die strengsten Maßregeln ergriffen habe und die Unruhestifter nun durch die hohen Kosten der militärischen Besatzung für ihre Taten büßen müssten.

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tung der kommunalen Autoritäten, es handele sich um ortsfremde Personen – fast durchgängig um Einheimische, die von den ansässigen Juden namentlich benannt werden konnten. Obwohl die Bürgermeister der beiden Orte versicherten, es werde keine weiteren Aktionen mehr geben, hörten die Übergriffe nicht auf, so dass aus Karlstadt eine militärische Einheit von  Mann nach Laudenbach geschickt wurde, um weitere Ausschreitungen zu verhindern.50 Da der Einsatz von Militär von der Gemeinde bezahlt werden musste, ist der Widerstand von christlicher Seite her verständlich, doch war die Forderung nach militärischem Schutz auch für die örtlichen Juden zweischneidig, da sie die Gemeinde mit Kosten belasteten und zudem die Fähigkeit bzw. den Willen der örtlichen Verwaltung – allerdings nicht zu Unrecht – in Zweifel zogen, vor Ort für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Auch die mildere Variante, in stärkerem Maße aus der Bürgerschaft rekrutierte Wachen bereitzustellen, bedeutete für die Ortsbürger eine große Belastung und wurde auch von jüdischer Seite mit Skepsis gesehen, da die Wachen als unzuverlässig galten und im Ernstfall wenig Schutz boten.51 Was die Motive für die Unruhen angeht, so macht Harris einmal die traditionelle Judenfeindschaft verantwortlich, wonach die Juden als Wucherer angeschuldigt wurden, die mehrere örtliche Familien in den Ruin getrieben hätten, zum anderen aber hauptsächlich die Veränderungen der rechtlichen Stellung der Juden durch die Emanzipationsgesetzgebung.52 Den Juden wurde das volle Ortsbürgerrecht verliehen, was ihnen neben der politischen Mitsprache vor allem auch materielle Vorteile brachte, da sie nun in den »Gemeindenutzen«, vor allem die Allmende einbezogen waren. Vertreter der örtlichen Juden sahen – ebenso wie der Bürgermeister von Wiesenfeld – darin die Ursache für die Gewalt und auch die Gefahr, dass die Kosten für den nötigen Schutz bei den christlichen Mitbürgern Hass und Bitterkeit weiter steigern würden, und waren deshalb bereit, auf die Teilhabe am Gemeindenutzen zu verzichten. Die Regierung in Karlstadt beschloss am . Mai, Truppen nach Wiesenfeld zu schicken, und machte bis zu deren Eintreffen die örtliche Verwaltung für die Aufrechterhaltung der Ordnung verantwortlich, erlaubte aber gleichzeitig, dass die lokale Verwaltung und die örtlichen Juden einen Verzicht auf den Gemeindenutzen vereinbaren konnten – ein Sieg der christlichen Gemeinde und von politischer Seite ein Zurückweichen vor einer »Rechtsetzung durch kollektive Gewalt«. Da die Juden dort tatsächlich ihre Rechte am Gemeindenutzen aufgaben, blieb es von da an ruhig. In Laudenbach setzten die Unruhen erst am . Mai ein, fielen aber stärker aus als in Wiesenfeld. Das »Königliche Bezirksamt« griff zu einer ungewöhnlichen Maßnahme, indem es einerseits alle christlichen Haushaltsvorstände zu einer Versammlung einberief, denen dabei die gesetzlichen Bestimmungen derartige Unruhen betreffend vorgelesen wurden.53 Da die Gewalt auch dort trotzdem nicht    

Der Israelit, Heft , .., S. . Harris, Bavarians and Jews, S. . Ebd., S. . Die Regierung hatte sämtlichen Distriktpolizeibehörden noch einmal die einschlägigen »Bestimmungen des Straf- und Polizeigesetzbuches« und über Militäreinsätze in Erinne-

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aufhörte, wurde Militär in den Ort beordert. Daraufhin wurden die »israelitischen« Haushaltsvorstände für den . Juni zusammengerufen, um Maßnahmen zu ihrer weiteren Sicherheit zu beraten. Die Juden befürchteten, dass sich nach Abzug der Militärs die Situation noch verschlechtern würde, wenn es nicht zu einer neuen Regelung käme, d. h., auch sie waren bereit, auf den Gemeindenutzen (hier vor allem Holzrechte) zu verzichten, um damit die alten guten Beziehungen wiederherzustellen. Beiden Konfliktparteien war klar, dass der gewaltsame Konflikt über den Gemeindenutzen geführt wurde. Juden berichteten, dass ihnen das auch ganz ausdrücklich so von christlichen Mitbürgern gesagt worden sei. Der Stadtrat von Laudenbach selbst hatte am . Mai erklärt, dass die Agitation gegen die Juden teils in ihren wucherischen Berufen, teils in ihrem neuen Recht auf Teilhabe am Gemeindenutzen begründet sei. Die Laudenbacher würden diese neuen Rechte der Juden als »moralisch ungerecht« empfinden, da diese früher die Gemeinde nicht unterstützt hätten und seit der Emanzipation unverschämter geworden seien,54 ein Vorwurf, der in vielen der Konflikten über das Ortsbürgerrecht zu hören war und in dem die Gleichstellung der Juden als »Anmaßung« empfunden wurde. Hier wird also letztlich eine Verletzung der hergebrachten ländlichen »moral economy« und hergebrachter Statusordnungen als Ursache angeführt. Ob es auch in Laudenbach zu einer formalen Übereinkunft zwischen beiden Parteien kam, bleibt nach Harris unklar, doch zog das Militär am . Juni ab. Es gab zwar noch einige eher harmlose Aktionen, die aber bald abebbten. Harris resümiert, dass die staatlicherseits initiierte Emanzipation der Juden auf örtlicher Ebene, wie auch schon in vielen Fällen im Vormärz, auf Widerstand stieß, der in vielen Orten auch andere Formen als gewalttätige Aktionen annahm. Zwar waren die übergeordneten staatlichen Stellen bereit, die Juden militärisch zu schützen, doch blieb der Schutz eine zweischneidige Maßnahme, da er zugleich wegen der finanziellen Belastung des Ortes durch die Einquartierung das Verhältnis zwischen Juden und Christen weiter verschlechterte und Militär ja auch nicht dauerhaft stationiert werden konnte. Indem der Staat letztlich dem partiellen Verzicht der Juden auf ihre neuen Rechte zustimmte, kam er der christlichen Seite wiederum sehr weit entgegen und verzichtete auf die Durchsetzung der von ihm erlassenen Gesetze.55 Nicht weit vom Bezirk Karlstadt entfernt kam es in Würzburg, das ja bereits seit  eine Tradition antijüdischer Ausschreitungen besaß, im Zuge von »Bierkrawallen«, in denen sich der Unmut über hohe Bierpreise Bahn brach, am . Juni  abends auch zu »Pöbelauftritten gegen die Häuser einiger Juden«, denen die AZJ jedoch keine größere Bedeutung zumessen wollte.56 In dem Bericht der Augsburger rung gerufen und die Behörden zu strengem Eingreifen verpflichtet. AZJ, Jg. , Heft , .. , S.  (Meldung vom . Juni).  Harris, Bavarians and Jews, S. .  Ebd.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Allgemein zu den Bierkrawallen von  und genauer zum Münchener Krawall siehe: Martina Engels, Bierpreis, Brauer und Behörden. Teuerungsproteste von  bis  in München, in: Neithard Bulst/Ingrid Gilcher-

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Allgemeinen Zeitung vom . Juni , den die AZJ zwei Wochen später zitierte, ist allerdings davon die Rede, dass bereits zuvor wiederholt »Maueranschläge zu Judenhetzen« aufgetaucht seien und sich das Gerücht verbreitete, »am Sonntag sollten Brauer und Juden gezüchtigt werden«. Trotz dieser Warnungen habe es keine Vorkehrungen gegeben, Übergriffe zu verhindern, bei denen dann zwischen zehn und  vermeintlich von Juden bewohnte Häuser heftig mit Steinen beworfen wurden. Es wird in dem Bericht auch eine gefährliche Szene berichtet: Als aus einem bestürmten Haus ein Schuss fiel, wurde die Haustür aufgebrochen, und nur »ein Wunder« habe den Schützen vor »der äußersten Misshandlung« gerettet. Die sehr spät alarmierte Landwehr brauchte mehrere Stunden, um den Krawall zu beenden.57 Auch Der Israelit berichtete im Juni, dass die Angriffe auf die Häuser der Juden von einem Bierkrawall ausgingen, dass es aber bereits Wochen zuvor Plakate und anonyme Drohbriefe gegen Juden in Würzburg gegeben habe, so dass der Angriff längere Zeit vorbereitet worden sei und sich nicht spontan aus dem Bierkrawall heraus ergeben habe.58 Die »einzige Ursache« des Angriffs sei »Religionshass« gewesen. Dort wird auch der Vorwurf erhoben, dass Landwehr und Liniensoldaten erst vier Stunden nach Beginn der Ausschreitungen gegen die Randalierer vorgegangen seien.59 Allerdings wurden sofort  Personen verhaftet und sieben von ihnen bereits am nächsten Tag öffentlich zu Arreststrafen zwischen zehn und  Tagen verurteilt. Gegen den Rest der Inhaftierten wurde weiter ermittelt, und es wurden später weitere  Personen verhaftet. Außerdem wendeten sich die Behörden mit einer »sehr energischen Ansprache« an die Bevölkerung, und es wurde den Juden Schutz versprochen.60 Eine Woche später berichtete Der Israelit davon, dass mehrere wohlhabende jüdische Familien Würzburgs die Stadt verlassen hätten.61 Offenbar herrschte auch in anderen fränkischen Städten eine angespannte, judenfeindliche Stimmung, da auch aus Nürnberg über Vorsichtsmaßnahmen gegen einen »befürchteten Judenkrawall« berichtet wurde.62 Die tiefere Ursache der Würzburger Unruhen bleibt also unklar, da »Religionshass« kein plötzlich auftretendes Motiv ist, es also an einem auslösenden, mobilisierenden Ereignis fehlte. Da nach den Aussagen der jüdischen Zeitungen bereits vor dem Bierkrawall antijüdische Propaganda betrieben wurde, müssen andere Motive im Spiel gewesen sein.

  

  

Holtey/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Gewalt im politischen Raum. Fallanalysen vom Spätmittelalter bis ins . Jahrhundert, Frankfurt a. M., New York , S. -. AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f. Der Israelit, Heft , .., S. . Die Coburger Zeitung vom .. berichtete ebenfalls von Plakaten, die schon eine Woche zuvor zur Vertreibung der Juden aufgerufen hätten, woraufhin dem Rabbiner die Fensterscheiben eingeworfen worden seien. Die Zeitung betonte aber ein sofortiges energisches Einschreiten des Militärs. Dennoch sei »die Rotte« noch vor das Haus eines anderen Juden gezogen, um dort »ihr Werk fortzusetzen«. Ebd., S. . Der Israelit, Heft , .., S. . Ebd.

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Sowohl bei den Unruhen in der Schweiz (Oberendingen) wie auch in Franken (Laudenbach und Wiesenfeld) haben wir es jedoch mit letzten Ausläufern der Auseinandersetzungen um die rechtliche Gleichstellung der Juden auch auf der örtlichen Ebene zu tun, wo sich der Widerstand am deutlichsten und langwierigsten artikuliert hat. Das Gewaltniveau hat bei diesen »Nachhutgefechten« aber gegenüber den Ausschreitungen der ersten Hälfte des . Jahrhunderts abgenommen. Diese Form des »Protests« hat sich dann mit der schließlich durchgesetzten rechtlichen Gleichstellung der Juden erledigt, auch wenn Einschränkungen einiger Rechte für Juden zu den Forderungen der antisemitischen Bewegung seit den frühen er Jahren gehörten, ohne dass dies aber Anlass für Pogrome geboten hätte.

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. Im »Kreuzfeuer des Nationalitätenkampfes« – Ausschreitungen gegen Juden in Böhmen und Mähren  und  Rudolf Jaworski hat  in einem wichtigen Aufsatz auf die spezifischen »Voraussetzungen und Funktionsweisen des modernen Antisemitismus in Ostmitteleuropa« hingewiesen, die im Vergleich mit ihren Pendants in Frankreich und Deutschland »weniger reflektiert und ideologisch weniger abgehoben« erscheinen.1 Den Kern der »Judenfrage« bildeten dort soziale Konkurrenz, da die Juden aufgrund ihrer sozialen Positionen die Verbürgerlichung der sie umgebenden ostmitteuropäischen Völker zu blockieren schienen, und nationalpolitische Gesichtspunkte, da es nicht wie in Westeuropa nur um die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Juden ging, sondern auch um »ihre prekäre Positionierung zu den modernen Nationalbildungsprozessen der nichtjüdischen Mehrheitsvölker«, da sie damit unweigerlich zwischen die Fronten der aufbrechenden Nationalitätenkämpfe gerieten.2 Jaworski spricht vom »besonderen Unglück der Juden in diesem Teil Europas«, da ihr Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft im Moment des Ausbrechens der Nationalitätenkämpfe erfolgte, so dass es für sie unklar war, in welche der sich entwickelten Nationalgesellschaften sie sich integrieren sollten.3 So war im Habsburgerreich die »Judenfrage« mit der breiteren »Nationalitätenfrage« verbunden, was die Juden häufig zur Zielscheibe im Nationalitätenkampf werden ließ.4 Besonders kompliziert war die Lage in den böhmischen Ländern, da hier die nationalen Herrschaftsverhältnisse in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts ins Wanken geraten waren und weder die bis dahin dominante deutsche noch die aufstrebende tschechische Nationalität klar dominierte.5 Kateřina Čapková und Michal Frankl betonen aber, dass die Juden in Böhmen und Mähren keineswegs nur passive Opfer des Nationalitätenkonflikts waren, sondern sich auf beiden Seiten auch aktiv an der Politik beteiligten.6 Nach Meinung der beiden Autoren setzten »die nationalen Zwistigkeiten« zwischen deutschen und tschechischen  Rudolf Jaworski, Voraussetzungen und Funktionsweisen des modernen Antisemitismus in Ostmitteleuropa, in: Annelore Engel-Braunschmidt/Eckhard Hübner (Hrsg.), Jüdische Lebenswelten in Osteuropa, Frankfurt a. M., Berlin u. a. , S. -, hier S. .  Ebd., S.  f.  Ebd., S. .  David Rechter, Staat, Gesellschaft, Minderheit. Die »Judenfrage« im österreichischen Habsburg, in: Manfred Hettling/Michael G. Müller/Guido Hausmann, Die »Judenfrage« – ein europäisches Phänomen?, Berlin , S. -, hier S.  f.; ähnlich sieht auch Hillel Kieval primär nationalistische Motive im tschechischen Antisemitismus, der so als Konsequenz für die prodeutsche Stellungnahme der Juden erscheint (Nationalism and Antisemitism. The Czech-Jewish Response, in: Jehuda Reinharz (Hrsg.), Living with Antisemitism. Modern Jewish Responses, Hanover, London , S. -).  Jaworski, Voraussetzungen, S. .  Kateřina Čapková/Michal Frankl, Diskussionen über die »Judenfrage« in den böhmischen Ländern, in: Andreas Reinke et al., Die Judenfrage in Ostmitteleuropa. Historische Pfade und politisch-sozialen Konstellationen, Berlin, , S. -, hier S. .

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Politikern mit der Erneuerung des politischen Lebens und der parlamentarischen Tätigkeit durch den Erlass des föderalistisch geprägten österreichischen Verfassungsgesetzes (Oktoberdiplom vom . Oktober  durch Kaiser Franz Joseph) ab Anfang der er Jahre erneut und stärker ein, in denen es einmal um nationale Rechte und um die Sprache im Schulwesen und in der Verwaltung, zum anderen um die konkurrierenden nationalen Interpretationen der böhmischen Geschichte ging.7 Auch wenn die »jüdische Frage« in diesen politischen Debatten nicht das drängendste Problem war, wurde sie nach Michal Frankl dennoch zu einem vom tschechischen Bildungsbürgertum öffentlich diskutierten Thema. Dabei knüpfte man an die Thematisierung dieser Frage in den Jahren / an, doch fand jetzt die Debatte unter dem Einfluss einer erhöhten politischen und medialen Mobilisierung statt. D. h., die tschechischen wie deutschen Nationalisten versuchten in Böhmen »neue soziale Normen zu erzwingen, die das richtige Verhalten der Mitglieder der jeweiligen Nation definierten«.8 Dadurch verschärfte sich der nationale Konflikt zwischen Tschechen und deutsch-österreichischen Nationalisten, die nun um den Einfluss auf die Politik, das Bildungswesen und die Wirtschaft kämpften, wobei auf die Juden Druck ausgeübt wurde, sich auf der einen oder anderen Seite zu positionieren. Für die liberale alt- wie jungtschechische Bewegung war die Judenemanzipation Teil der politischen und sozioökonomischen Emanzipation der tschechischen Nation von der »Germanisierung« des Landes, wobei diese Politik mit der Erwartung verbunden war, dass sich die Juden sprachlich und bildungsmäßig schnell an die tschechische Kultur assimilieren würden.9 Diese Forderung nach Loyalität gegenüber der tschechischen Nation war eine Grundvoraussetzung für die bürgerliche Integration der Juden, deren Verletzung – so wurde gewarnt – zum Ausschluss führen würde. Da diese liberale Forderung nach schneller Assimilation realitätsfremd war, verschärfte sie die bestehenden Spannungen im Nationalitätenstreit10 und die anfängliche Offenheit der tschechischen Liberalen gegenüber den Juden nahm Schaden. Verbunden mit diesem Nationalitätenstreit war zudem eine andere Konfliktlinie in der Habsburgermonarchie, nämlich die Frage, ob diese zentralistisch oder föderalistisch aufgebaut sein sollte. Die deutschen Liberalen vertraten zumeist eine zentralistische, die tschechischen eine föderalistische Position, was sie einerseits in Gegensatz zu den ihnen politisch nahestehenden Liberalen der Gegenseite, andererseits ungewollt in die Nähe der föderalistischen böhmischen  Ebd., S. .  Michal Frankl, Gescheiterte Fortschrittsvision? Die tschechischen Liberalen und die »Judenfrage« in den er Jahren, in: Manfred Hettling et al., Die »Judenfrage«, S. -, hier S. .  Zur Kritik an der in der tschechischen Historiographie dominierenden These von einer tschechisch-jüdischen Symbiose, die die negativen Seiten dieser Beziehung ignoriere, sowie an der Auffassung von einem »Sonderweg« des tschechischen Antisemitismus, der als eher wirtschaftlich und national, aber nicht als rassistisch motiviert betrachtet wird, vgl. Čapková/Frankl, Diskussionen über die »Judenfrage«, S.  ff.  Frankl, Gescheiterte Fortschrittsvision? S. .

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patriotischen Adligen brachte. Die deutschen bzw. deutsch-jüdischen Wiener liberalen Journalisten konnten so die tschechischen als reaktionär brandmarken, was wiederum dazu führte, dass von der tschechischen Presse die Juden kollektiv als Feinde der Nation angegriffen wurden, die als Zentralisten gesehen wurden, die das Land germanisieren wollten. Juden wurden so Teil der »Antinationalen Partei in Böhmen« (Protinárodní strana v Čechach) – wie die Národní listy am . April  eine Artikelserie überschrieb.11 Im Rahmen dieser Kampagne thematisierte die Zeitung auch die angeblich schädliche jüdische Wirtschaftstätigkeit, wobei sich diese Kritik nur auf »illoyale« Juden beziehen sollte, während gleichzeitig die Integration der Juden in die tschechische Nation postuliert wurde. Neben der nationalen Illoyalität wurde damit ein zweites, das ökonomische Motiv der Judenfeindschaft aktualisiert.12 Der Umstand, dass sich einige der Unruhen aus Arbeitskämpfen bzw. einem wirtschaftlichen Betrugsskandal entwickelten, weist auf die Bedeutung von sozialen Krisen und wirtschaftlichen Motiven hin. Frankl interpretiert die antijüdische Wende der tschechischen Liberalen als Ausdruck ihrer Enttäuschung über den mangelnden Fortschritt in der nationalen Politik, da die den ungarischen Nationalisten im sog. Ausgleich mit Ungarn im Jahre  gemachten Zugeständnisse gegenüber den Tschechen nicht gemacht wurden, was dann zum bis  anhaltenden Boykott des Reichsrates seitens der tschechischen Abgeordneten führte. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die ca. . böhmischen und . mährischen Juden (laut Volkszählung von ) noch von der Erfahrung des sich seit den er Jahren hinziehenden Emanzipationsprozesses geprägt waren, der erst mit der liberalen Verfassung von  ihre volle Gleichberechtigung brachte.13 Čapková und Frankl weisen denn auch darauf hin, dass die Debatten um die Emanzipation der Juden eine wesentliche Grundlage für die »jüdische Frage« auch in den böhmischen Ländern waren, da die zumeist sehr bedrückenden Gesetze von  trotz der Josephinischen Toleranzpatente von /, die den Juden den Zugang zu Handwerken und zur Bildung eröffnet hatten, die Heimatberechtigung und den Erwerb neuer Häuser für Juden an vielen Orten stark einschränkten und keinen Zuzug in »judenfreie« Orte erlaubten, bis  galten. Dies führte dazu, dass diese diskriminierende Sondergesetzgebung mit anderen Gesetzen, z. B. über die Berufsausübung, kollidierte, so dass sich die Integration der Juden in einer rechtlichen »Grauzone« abspielte.14 Vielerorts gab es wie in der Schweiz und in Franken noch in den er Jahren Konflikte um das Niederlassungsrecht von Juden, in denen man ihnen den Zuzug verwehrte, so dass die Unruhen von  auch von diesen Streitigkeiten um Ortsbürgerechte beeinflusst worden sein dürften. Michal Frankl weist darauf hin, dass die tschechischen Zeitungen wie Čas und Národní listy nach den antijüdischen Ausschreitungen in Prag von  sich sowohl gegen den Vorwurf des Judenhas   

Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Čapková/Frankl, Diskussionen über die »Judenfrage«, S.  und .

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ses an die Adresse der tschechischen Nationalbewegung verwahrten, als auch die antijüdischen Übergriffe verurteilten und die Gemeinden kritisierten, die der Niederlassung von Juden Hindernisse in den Weg legten, da dieses ihrem liberalen Inklusionsprogramm zuwiderlief.15 In seinem Aufsatz »Zur Geschichte der böhmischen Juden in der Epoche des modernen Nationalismus« stellte Christoph Stölzl die antijüdischen Ausschreitungen in Böhmen und Mähren ganz in den Kontext des nationalen Gegensatzes zwischen Tschechen und Deutschen, innerhalb dessen sich die böhmischen Juden positionieren mussten und sich ganz überwiegend für die deutsche Seite entschieden hätten.16 Stölzl sieht zwar auch soziale Motive für die antijüdische Gewalt, betont aber noch stärker die Rolle antijüdischer Polemik im nationalen Kampf der jungtschechischen Bewegung gegen die deutsche Seite. Michal Frankl hat dieser Sichtweise widersprochen bzw. hat sie relativiert, da er einen gewissen Einfluss der jungtschechischen Presse auf die Unruhen von  durchaus einräumt, aber die Auffassung zurückweist, sie hätte die Unruhen verursacht.17 Wie im Folgenden zu sehen sein wird, färbte der Nationalitätenkonflikt die Berichterstattung über die antijüdischen Unruhen in der tschechischen Presse (Národní listy, Čas, Hlas)18 und der konservativen deutschsprachigen, aber pro-tschechischen Blätter (Das Vaterland, Die Debatte) einerseits und der deutschsprachigen Presse Wiens (Die Presse, Neue Freie Presse) und der deutschjüdischen Zeitungen (AZJ, Der Israelit) andererseits deutlich ein. Die Unruhen in Prag von  Einen ersten Ausbruch antijüdischer Gewalt nach den Unruhen von Prag  und jenen im Zuge der er Revolution gab es im August  wiederum in Prag. Bereits im Juni hatte die Národní listy angesichts der angespannten politischen Lage vor der wachsenden Unruhe in Böhmen gewarnt und vor allem auf die Gefahr  Ebd., S.  f. Národní listy berichtete nach Stölzl im Juni  über eine allgemeine Unzufriedenheit und Unruhe, die an einigen Orten in Zusammenrottungen und antijüdische Ausschreitungen mündeten, z. B. in Straconice/Strakonitz (Zur Geschichte, Teil II, S. ). Die Zeitung veröffentlichte dann am .. einen Aufruf »Žádné demonstrace!«, in dem alle aufgerufen wurden, »den hier und da aufkommenden Widerwillen und Hass gegenüber den jüdischen Landsleuten zu ersticken« (zit. in Frankl, Gescheiterte Fortschrittsvision? S. ).  Stölzl, Zur Geschichte.  Michal Frankl, »Silver !« Anti-Jewish Riots in Bohemia, , in: Judaica Bohemiae ,, , S. -; vgl. auch sein Buch: Prag ist nunmehr antisemitisch, Tschechischer Antisemitismus am Ende des . Jahrhunderts, Berlin ; gegen die These einer Verursachung: Čapková/Frankl, Diskussionen über die »Judenfrage«, S. .  Auch die in Wien erscheinende katholisch-aristokratisch ausgerichtete Zeitung Das Vaterland. Zeitung für die österreichische Monarchie, zu deren Gründern böhmische Adlige gehörten und die deshalb auch föderalistisch gesonnen war, nahm eher eine pro-tschechische und antijüdische Haltung in der Berichterstattung über die Unruhen ein.

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antijüdischer Unruhen hingewiesen, die die Zeitung im August nach den Unruhen dann deutlich verurteilte.19 Stölzl, der für die Unruhen »nationale und soziale Beweggründe« geltend macht,20 sieht dennoch eine Mitschuld bei der tschechischen Presse, etwa der Národní listy,21 die in ihren Wahlkampagnen Deutsche und Juden gleichermaßen wegen ihrer Ausbeutung der tschechischen Nation angegriffen habe. Die Juden würden durch ihren Hausierhandel, den Branntweinausschank, ihre Wechselgeschäfte und ihre Journalisten, die die tschechische Nation verunglimpften, der Nation schaden. Die jungtschechische bürgerliche Nationalbewegung versuchte so, den sozialen Druck von Seiten des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft auf die Juden (und die Deutschen) umzulenken. So kam es aufgrund der Agitation gegen den jüdischen Textilunternehmer und Landtagsabgeordneten Josef Fürth, den man als Feind der Nation angeprangert hatte, schon im April zu ersten Ausschreitungen, als eine Menge von Arbeitslosen dessen Fabrik stürmte, um die Maschinen zu zerstören. Dabei traten nach Stölzl die nationalen Motive schnell hinter sozialradikalen und antisemitischen zurück.22 Vom . Juli bis . August  kam es dann in Prag zu tagelangen antijüdischen Ausschreitungen, die, was den Auslöser, die Verbreitung von dramatisierenden Gerüchten, das Vorgehen der Menge, die zu schwachen örtlichen Polizeikräfte, die Notwendigkeit, schließlich Militär zu Hilfe zu rufen, und ein erneutes Aufflammen der Unruhen am folgenden Tag angeht, einen geradezu prototypischen Verlauf nahmen. Ausgangspunkt war nach dem Bericht der Zeitung Die Presse vom . August eine Schlägerei in der Josephstadt, dem jüdischen Wohnviertel in Prag, wobei ein Kaufangebot einer jüdischen Händlerin und die höhnische Antwort des angesprochenen Hausknechts in einen Wortwechsel und schließlich in eine Schlägerei mündeten, bei der der Hausknecht »arg zugerichtet worden sein soll«.23 Der Täter wurde von der Polizei festgenommen, und es verbreitete sich nun das Gerücht, der Hausknecht sei von einem Juden erschlagen worden, schließlich wollte das Gerücht sogar von zwei Toten wissen. Die Zeitung Das Vaterland schildert einen nur leicht abweichenden Verlauf dieses Ereignisses, wonach der besagte Hausknecht (hier als Lohndiener bezeichnet) zum Einkaufen in die Josephstadt gegangen sei, wo er mit einem jüdischen Trödler nicht handelseinig werden konnte, woraufhin  Čapková/Frankl, Diskussionen über die »Judenfrage«, S. .  Stölzl, Zur Geschichte, I, S. .  Nachdem bis  keine tschechischen politischen Periodika zugelassen gewesen waren, wurden in den frühen er Jahren in kurzem Abstand mehrere tschechische Tageszeitungen neu gegründet: Čas (Die Zeit), Národní listy (Nationale Blätter) und Hlas (Die Stimme), in denen Fragen der nationalen Zugehörigkeit diskutiert wurden. Národní listy war die bekannteste der drei Zeitungen und erschien  mit einer Auflage von . Stück, die sich bis  auf . erhöhte. Die Zeitung vertrat die Ideen der alt- und später der jungtschechischen Bewegung (Frankl, Gescheiterte Fortschrittsvision? S. ).  Stölzl, Zur Geschichte, I, S. .  Die Presse vom . August , die sich aber auf die Zeitung Bohemia stützte. Laut Stölzl wurden nach Rechnung der Behörden  Fensterscheiben eingeschlagen, aber niemand verletzt (Zur Geschichte, S. ).

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ihn dieser beleidigt habe, so dass es zu einem Wortwechsel und schließlich unter Hinzukommen anderer jüdischen Händler zu Tätlichkeiten gekommen sei. Dabei sei der Lohndiener bewusstlos geschlagen worden. Dieses Gerücht habe sich dann schnell in der Stadt verbreitet.24 Auf diese Gerüchte hin sammelte sich eine Menschenmenge vor dem Rathaus, wohin man den verhafteten Juden gebracht hatte, doch blieb es hier friedlich. Anders sah es dem Bericht der Presse zufolge in der Josephstadt aus, wo Haufen junger Männer, meist Gesellen, Lehrjungen und Tagelöhner, durch die Straßen zogen, die Fenster jüdischer Häuser einwarfen und deren Türen aufzubrechen suchten.25 Die Zeitung Der Israelit stellt den Auslöser der Gewalt ganz ähnlich dar, sieht jedoch in den von der Arbeit heimkehrenden »Proletariern« die Haupttätergruppe, die »in dichten Haufen nach dem Judenviertel« gezogen seien und dabei das »neue schmutzige Volkslied ›Pinkel husi‹« gesungen haben sollen.26 Die eingesetzten Polizeipatrouillen nahmen Verhaftungen vor und drängten die Randalierer aus den Judengassen ab, woraufhin diese auch in Straßen, wo keine Juden wohnten, weiter lärmten und Fenster einwarfen. Da sich die verfügbaren Polizeikräfte als nicht ausreichend erwiesen, wurde schließlich aus einer nahen Kaserne Militär angefordert, das zunächst auch noch nicht ausreichte, so dass als weitere Verstärkung Kavallerie herangeholt werden musste. Das Militär musste mit gezogenen Säbeln und aufgesetzten Bajonetten vorgehen und sogar die Gewehre laden lassen, um die Menge zu zerstreuen, wobei Randalierer leicht verletzt wurden. Es hatte dann zusammen mit der Polizei bis abends nach zehn Uhr zu tun, um die Straßen zu räumen, wobei ihnen ein starker Regenschauer zur Hilfe kam. Patrouillen sicherten nachts die Zugänge und Straßen der Josephstadt. Es sollen  Personen (andere schreiben von zwölf ) wegen der Steinwürfe bzw. wegen Widersetzlichkeiten gegen die Polizei festgenommen worden sein. Sie wurden offenbar sofort bestraft. Die eher judenfeindlich argumentierende katholisch-aristokratische Zeitung Das Vaterland schreibt, dass »die Erbitterung in unserer Stadt über die Frechheit und die traurigen Folgen der Roheit des besagten Trödeljuden […] eine große und allgemeine« ist.27  Das Vaterland, »Die brutale That eines Juden«, vom ...  In der Zeitung Das Vaterland wurde das Verhalten der Juden wesentlich negativer dargestellt. So sollen sie Steine in die Menge geworfen und dabei sogar einen Polizisten erheblich verletzt sowie Schwefelsäure aus ihren Fenstern gegossen haben. (Die Steinwürfe bestätigte einen Tag später auch der Bericht in Die Presse vom ...) Die Zeitung wendete sich auch gegen einen Bericht des von einem Juden herausgegebenen Tagesboten, in dem die Schuld auf den Hausknecht geschoben wurde, der »einige Schacherjuden« beleidigt haben soll (. August ). Am folgenden Tag bestätigte die Zeitung Das Vaterland (..) die Steinwürfe von Juden, die Polizisten getroffen hätten, widerrief aber die Behauptung, es sei auch Schwefelsäure aus den Häusern gegossen worden. Solche »Tatarenmeldungen« über jüdische Gegenwehr finden sich immer wieder in Berichten zu antijüdischen Ausschreitungen und dienen offenbar zur Legitimation der Gewalt der Eigengruppe als bloße Gegenreaktion.  Der Israelit, Heft , .., S. .  Das Vaterland, .., Nachschrift.

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Am folgenden Tag dauerte die antijüdische Stimmung an, und es sammelten sich schon am frühen Morgen Menschen in der Josephstadt28 und den ganzen Tag über waren Menschengruppen in der Stadt unterwegs.29 Von der Polizei wurde am späten Nachmittag auf Anschlägen den Gerüchten über den Verlauf des Streites vom Vortage entgegengetreten und bekannt gemacht, dass es dem Hausknecht gut gehe und er arbeitsfähig sei.30 Die Widerlegung von Gerüchten hat selten die erhoffte mäßigende Wirkung, da diese äußerst anpassungsfähig sind und schnell Uminterpretationen kursieren. Dass auch in diesem Fall die Bekanntmachung wenig bewirkte, zeigt die Tatsache, dass sofort abgewandelte Versionen die Runde machten, wonach zwar der Hausknecht nicht tot sei, wohl aber sei ein Bauer von Juden erschlagen worden, dessen Leiche man nun zu sehen forderte. Trotz starker Sicherheitsvorkehrungen kam es aber mit Einbruch der Dämmerung, als Arbeiter und Tagelöhner von ihre Arbeit heimkehrten,31 bis gegen Mitternacht zu weiteren Schlägereien und Krawallen, wieder wurden Spottlieder gesungen, Drohungen und Verwünschungen gegen die Juden ausgestoßen, Steine gegen Häuser von Juden und gegen die Neu- und die Hofsynagoge geworfen und »einige Juden insultirt«.32 Die amtliche Prager Zeitung wird dahingehend zitiert, dass sich die »bedauerlichen Scenen«, die sich am . Juli ereignet hätten, leider am . August »in noch erhöhtem Maße wiederholt« hätten.33 Eine andere Zeitung berichtet, dass die Schäden im Inneren der Josephstadt weniger stark waren als zu den Rändern hin, wo in den Häusern oft auch das Mobiliar zerstört worden war und man Steine in den Wohnzimmern liegen sah34 Christen hätten versucht, ihre Wohnungen durch das Aufstellen von Kruzifixen oder Rufen, dass dort Christen wohnten, zu schützen. Über die Zahl der Verhaftungen und Verurteilten gehen die Angaben in den verschiedenen Zeitungen – wie fast immer – etwas auseinander.  Personen (andere Zeitungen sprechen von weit über fünfzig) seien verhaftet worden.35 Am . August trat dann weitgehend Ruhe ein, nur am »Juden-Tandelmarkte« seien noch einige Fenster        

Die Presse, Die Excesse, .., ebenso Der Israelit, Heft , .., S. . Das Vaterland, Excesse im Judenviertel, ... Die Presse, .., in der Abendausgabe unter der Rubrik: »Telegramme«; und am ... Neben diesen beiden Gruppen werden als Täter noch Knaben und Lehrjungen genannt (Der Israelit, Heft , .., S. ). Das Vaterland, ... Der Israelit, Heft , .., S. ; ein ähnlicher Bericht auch in der AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f. und im Heft , ... S. . Die Presse, Der Judenkrawall zu Ende, ... Ebd., und in: Die Presse, .., Mitteilung vom .. unter der Rubrik »Telegramme«. Das Vaterland berichtet von  Verhafteten, darunter auch Juden (..). Die Presse spricht am . August  schließlich davon, dass  der Verhafteten wegen Körperverletzung, Aufreizung, öffentlicher Gewalttätigkeit wegen Wachebeleidigung und Einmengung bei Arretierungen den Strafgerichten übergeben worden seien. Gegen  Personen wurde wegen anderer Vergehen (Beschädigung fremden Eigentums, Widersetzlichkeit, Exzessen usw.) seitens der Sicherheitsbehörden ermittelt. Die Mehrzahl der Verhafteten wurde ordentlichen Gerichten zur weiteren Untersuchung und Aburteilung übergeben (Der Israelit, Heft , .., S. ).

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eingeworfen worden, und es kursierten Gerüchte über bevorstehende Tumulte, so dass viele Händler ihre Stände auf dem Markt abbrachen.36 Erst nach einiger Zeit beruhigte sich die Lage dort wieder. Zwar versammelten sich am späten Nachmittag und am Abend wieder viele Neugierige auf den Straßen und Plätzen, aber es blieb ruhig, da ein starkes Militäraufgebot patrouillierte und Menschenansammlungen zerstreute. Viele Gruppen lasen den Anschlag der Polizeidirektion und einen weiteren Anschlag des Stadtrates, in denen die Bürger zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung ermahnt wurden, und diskutierten miteinander. Dennoch verließen aufgrund weiterhin umlaufender Gerüchte viele jüdische Familien zur Sicherheit die Stadt.37 Die »Vorgänge in Prag« strahlten auch auf Wien aus, wo man am . August antijüdische Plakate angeschlagen fand, und sie führten an anderen Orten, wie im südböhmischen Winterberg (heute Vimperk), zu Zusammenrottungen, zu Übergriffen gegen Juden, zum Einwerfen der Fenster und zum Besudeln bzw. Übermalen von Reklametafeln jüdischer Geschäfte, was auf den Aspekt der ökonomischen Konkurrenz verweist. Im benachbarten Skyn konnte die Polizei den Ausbruch von Gewalt verhindern.38 In den Berichten der verschiedenen Zeitungen scheinen deren politische Standpunkte deutlich durch. In Wien maß man den Prager Ereignissen große Bedeutung zu, da man hinter ihnen weniger eine spezifisch antijüdische Absicht sah, sondern politische Bestrebungen bzw. eine politische Unruhe in der tschechischen Bevölkerung vermutete.39 Für die tschechischen Nationalisten waren die Ausschreitungen aus zwei Gründen sehr unangenehm, da einmal in Wien gerade eine Reichsratssitzung stattfand und zum anderen Prag seit dem Frühjahr  von einem Magistrat mit einer starken tschechischen Mehrheit regiert wurde, dem die Wien unterstellte Polizei vorwarf, nicht schnell und energisch genug eingeschritten zu sein. Die deutsch-liberalen Zeitungen hatten hier nun einen Anlass gefunden, die tschechische Politik als antiliberal und intolerant zu kritisieren.40 So schrieb die Wiener Presse (Die Presse, Wiener Zeitung) die Schuld für den Ausbruch der Unruhen nicht allein den Juden zu, sondern wies auf die Mitschuld des verprügelten Hausknechtes hin und warf den nationaltschechischen Blättern wie Národní listy und Das Vaterland vor, bei ihnen sei eine gewisse Schadenfreude über die Ausschreitungen zu  In der AZJ wird leicht abweichend davon berichtet, dass sich am Morgen noch Exzesse in der Langengasse wiederholt hätten, dass dann aber der Versuch, einen Krawall auf dem Tandelmarkt hervorzurufen, misslungen sei (Jg. , Heft , .., S. ).  Die Presse, »Der Judenkrawall zu Ende«, ...  Der Israelit, Heft , .., S. -; AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Der Israelit, Heft , .., S. ; AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Er berichtete auch davon, dass führende tschechische Politiker nach Prag reisten, um dort mäßigend auf »den Pöbel« einzuwirken. Die Minister der Regierung äußerten ihre Entschlossenheit, »jede Ausschreitung mit Energie niederzuhalten und ganz besonders gegen den religiösen Anstrich der Bewegung mit aller Kraft aufzutreten«. Neben den politischen Aspekten, d. h. der Rolle der tschechischen Nationalbewegung, wertete man die Gewalt auch als religiös motiviert.  Frankl, Gescheiterte Fortschrittvision? S.  f.

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spüren und sie sähen den Auslöser ganz auf Seiten der Juden.41 Die Wiener Presse nutzte die Ausschreitungen politisch gegen die nationalen tschechischen Politiker, denen sie unterstellte, dass der Gewalt ein politisches Kalkül zugrunde liege.42 In einem Leitartikel »Die Vorgänge in Prag« druckte Der Israelit den Artikel eines Korrespondenten aus Wien ab,43 der schrieb, dass man auf die Frage »Und warum hasst man in Prag die Juden so sehr?« zur Antwort bekomme: »weil sie sämmtlich [sic] zur deutschen Partei halten«. Ein jüdischer Korrespondent erörterte daraufhin, weshalb wohl in Ungarn und in Galizien die Juden und sogar die Deutschen der magyarischen Sache zuneigten, nicht aber die Deutschböhmen und die Juden Böhmens der tschechischen Seite, obwohl gerade die Prager Juden sich sehr um die Sympathie der Tschechen bemühten. Er ging zwar nicht so weit wie andere Wiener Zeitungen, die die Nationaltschechen der Aufhetzung zu den Ausschreitungen bezichtigten, wies aber ebenfalls darauf hin, dass etwa Das Vaterland die Schuld eindeutig bei den Juden lokalisiert und die Exzesse der Menge heruntergespielt habe. Hier versuche der hohe Adel den niederen Pöbel zu entschuldigen. Die übrige Presse habe aber die antijüdische Gewalt entschieden verurteilt. Auch für Christoph Stölzl, der hier wohl zu sehr dem Tenor der deutsch-österreichischen Presse folgt, zeigten die »August-Exzesse« des Jahres , wie sich unter dem Einfluss des Nationalismus das Rechtsempfinden gewandelt und einer doppelten Moral Platz gemacht habe, wenn es sich um die Juden drehte.44 Er zitiert aus den Quellen des Zentralen Staatsarchivs in Prag, dass die Ausschreitungen der Lehrjungen, Gesellen und Tagelöhner von Teilen der »niederen Bürger- und Gewerbeklassen« mit Schadenfreude gesehen und gebilligt worden seien und dass auch die tschechische Oberschicht die »Lektion« für die politisch unbequemen Juden in Kauf genommen habe. Der tschechische Bürgermeister habe sich trotz des Drucks seiner Behörden nicht zu einer offiziellen Stellungnahme bereitgefunden, sondern sich in der schließlich abgegebenen Stellungnahme so geäußert, dass es die Wien unterstehende staatliche Polizei sei, die gegen die Ruhestörer vorginge, der Stadtrat habe mit dem Schutz der Juden nichts zu tun, was ihm von Seiten des Statthalters den Vorwurf der Passivität eintrug. Letzterer habe die unteren Behörden angewiesen, jede antijüdische Störung sofort zu unterbinden.45 Čapková und Frankl weisen da Vgl. auch den Bericht in: Die Presse, ... Die Presse warf der Národní listy, die sie als »Organ der ultra-czechischen Partei« bezeichnete, vor, die Exzesse in nicht zu verkennender Schadenfreude besprochen, dem »süßen Pöbel fast Beifall« zugeklatscht und mit »Verleumdungen und Beschimpfungen der rohesten Art« den Hass gegen die Juden geschürt zu haben. Sie habe erst auf ein Telegramm eines ihrer »Patrone« aus Wien eine Kehrtwende vollzogen, damit die Vorfälle nicht von »den Feinden der Nation« politisch ausgeschlachtet würden (ebd.)  Stölzl, Zur Geschichte II, S. .  Der Israelit, Heft , .., S. -.  Stölzl, Zur Geschichte, S. .  Ebd. – Stölzl weist hier auf ein generelles Strukturproblem hin, da sich die Gemeinden aus der Verantwortung zurückziehen und das Eingreifen der Wien unterstellten Behörden überlassen konnten.

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Ausgewählte Orte mit antijüdischen Ausschreitungen in Böhmen in den Jahren  und 

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gegen daraufhin, dass die Zeitschrift Národní listy im Juni  vor der wachsenden Unruhe in Böhmen und antijüdischen Ausschreitungen gewarnt hatte. Im August  habe die Redaktion die antijüdische Gewalt in Prag »in deutlichen Worten« verurteilt. Beide Autoren sehen auch keine Belege dafür, dass diese Zeitung oder andere nationaltschechische Blätter die Krawalle von  verursacht hätten, wie die deutschsprachige Presse behauptete, auch wenn ein Einfluss der nationalen Streitigkeiten auf die Unruhen nicht auszuschließen sei.46 Die Reaktion der liberalen Prager Juden auf diese Unruhen und die in den nächsten Jahren noch folgenden Reibereien war eine noch stärkere Zuwendung zur österreichischen Zentralgewalt und damit zur deutschen Sache, was eine Frontstellung zur nationaltschechischen Bewegung implizierte, während es umgekehrt auf dem Lande eher eine Option der Juden für die tschechische Seite gab.47 Die Welle antijüdischer Ausschreitungen in böhmischen Städten im Jahre  Großflächiger und gewalttätiger waren die antijüdischen Ausschreitungen in einigen böhmischen und mährischen Städten von Februar bis Juli , die von Zeitgenossen auf die drohende Kriegslage und den anschließenden deutsch-österreichischen Krieg mit preußischer Besatzung, die Kontributionen einforderte, zurückgeführt wurden.48 Auch aus Galizien und Ungarn wurde von Übergriffen berichtet. Diese Ausschreitungen verliefen nach Michal Frankl alle nach einem ähnlichen Muster: Gruppen von ein paar Dutzend Teilnehmern und eher selten größere Menschenmengen (die zu Hunderten zählten) skandierten antijüdische Slogans, griffen Wohnungen und Läden an, zerstörten und plünderten dabei jüdischen Besitz und verletzten in einigen Fällen auch Personen. An vielen Orten war die Polizei selbst gegen diese kleineren Menschenaufläufe zu schwach, um die Gewalt zu beenden, und es musste Militär eingreifen, was angesichts des drohenden Krieges schwierig war.49 Stölzl beschreibt die Vorfälle zusammenfassend so: »Im Februar rotteten sich die hauptsächlich von jüdischen ›Verlegern‹ ausgebeuteten Arbeiter der Nagelschmiede-Hausindustrie in der Gegend von Beroun (Westböhmen) zusammen und plünderten und verwüsteten tagelang jüdische Häuser.«50 Über den Auslöser und Verlauf der Unruhen, die am . Februar im böhmischen Hostomitz (Hostomice)51 begannen, existieren mehrere jeweils etwas voneinan Čapková/Frankl, Diskussionen über die »Judenfrage«, S. .  Stölzl berichtet von einem judenfeindlichen Tumult im tschechischen Städtchen HeřmanMěstec , wo zugewanderte Juden und Tschechen in der Schuhindustrie in Konkurrenz standen und Handwerksgesellen die Juden unter dem Vorwurf einer »deutschnationalen Haltung« attackierten (Zur Geschichte II, S. , FN ).  Vgl. AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Frankl, Silver.  Stölzl, Zur Geschichte II, S. .  Bei den Ortsnamen wird im Folgenden jeweils der deutsche Ortsname vor dem tschechischen verwendet, da die ausgewerteten deutschsprachigen Zeitungen in ihren Berichten über die Ausschreitungen überwiegend nur die deutschen Ortsnamen benutzt haben.

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der abweichende Presseberichte sowie der Erlebnisbericht des betroffenen Juden. Ausgangspunkt war offenbar ein Streit im Laden des jüdischen Händlers oder Verlegers Samuel Brunner, der Huf- und andere Nägel verkaufte, als dieser vier Nagelschmieden52 einen geringeren Preis als von diesen gefordert für die gelieferte Ware zahlen wollte. Ein Lehrjunge hatte ebenfalls einen geringeren Preis für die Waren bekommen und fürchtete sich offenbar davor, dies seinem Meister mitteilen zu müssen. Möglicherweise ist es dabei zu Tätlichkeiten gekommen, der Lehrjunge lief jedenfalls mit einem blutenden Gesicht auf den Marktplatz und schrie, er sei von einem Juden geschlagen worden. Da gerade Markttag war, bildete sich schnell eine Menschenmenge, zu der sich auch die vier unzufriedenen Nagelschmiede gesellten, und man rief »Silber!«, um den antijüdischen Gefühlen freien Lauf zu lassen.53 Hintergrund dieses Rufs war ein Silberdiebstahl aus den Minen des nahegelegenen Ortes (Pribram/Pschibram/Příbram),54 in den auch Juden verwickelt waren. In der zeitgenössischen Presse wird der Zusammenhang mit dem Silberdiebstahl von Pribram gesehen: »Ueberhaupt ist die Lage der Juden innerhalb des ganzen Landstriches zwischen Horowitz, Beraun und Przibram eine nichts weniger als beneidenswerthe; die Wuth der ganzen Bevölkerung hat sich gegen sie gekehrt, weil – zwei oder drei ihrer Glaubensgenossen bei den Przibramer Silberdiebstählen mitbetheiligt sind«.55 D. h., sowohl der Ausbruch der Gewalt in Hostomitz wie auch die sich daran anschließende Welle antijüdischer Ausschreitungen muss vor dem Hintergrund dieser Missstimmung gesehen werden. Allerdings stießen die Tumultuanten mancherorts durchaus auch auf Widerstand ihrer christlichen Mitbürger, die selbst aktiv wurden oder Militär zur Hilfe riefen. Der Erlebnisbericht des betroffenen Kaufmanns Brunner, aus dem der Schrecken des direkt Betroffenen spricht, bestätigte zwar die Geschichte mit dem Jungen, bot aber eine sonst davon abweichende Schilderung der Ereignisse des . Februar, da er den Vorgang in seinem Geschäft, der nur zu einem kleinen Tumult geführt  Die Herstellung von Nägeln hatte die Form der »Hausindustrie«, deshalb wurden die Nagelschmiede offenbar auch nicht als Handwerker, sondern als Arbeiter/Proletarier bezeichnet. Vgl. Neue Freie Presse. Morgenblatt, ...  Hierzu und zum Folgenden Frankl, Silver, S.  ff. In den Zeitungen finden sich zwei Versionen des auslösenden Ereignisses: Einmal wird allgemein von Lohndifferenzen zwischen einem jüdischen Nagelhändler und einigen Nagelschmieden geschrieben, zum anderen wird, unter Berufung auf die amtliche Prager Zeitung, die Geschichte eines Jungen erzählt, dem der Nagelhändler für die ihm zum Kauf angebotenen Nägel etwas abziehen wollte, woraufhin dieser höhnisch »stříbro« (Silber) gerufen und der Kaufmann ihn geohrfeigt haben soll. Daraufhin sei der Junge schreiend davongelaufen, so dass ein »förmlicher Aufruhr« entstand, an dem sich, weil Markttag war, viele Leute beteiligten. (Linzer) TagesPost, ..; Das Vaterland, ..; Die Debatte, . .. Da es in diesem Streit nur um »zehn Kreutzer« gegangen sei, vertrat die Neue Freie Presse die Auffassung, dass die Vorfälle schon vorab verabredet gewesen seien und der Streit mit Herrn B. nur »den willkommenen Anlaß zum Dreinschlagen« gegeben habe (..).  Tschechisch Příbram, deutsch Pribram, aber auch Prizbram und Freiberg genannt.  Neue Freie Presse. Morgenblatt, ...

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hatte, und den späteren Gewaltausbruch zeitlich voneinander trennte und auch das Ohrfeigen des Jungen bestritt: – Am Vormittag des . Februar habe er mit einem Nagelschmiedemeister und dessen Gesellen in seinem Laden verhandelt, als ein Knabe eines seiner Arbeiter ihm ein Päckchen Nägel zu einem höheren Preis als üblich anbot. Als der Kaufmann dem Knaben das Päckchen darauf zurückgab, fiel es zu Boden, der Knabe stolperte über ein Hindernis im Laden und lief schreiend davon. Die anwesenden Gesellen nutzten die Gelegenheit, liefen auf die Straße und riefen, der Knabe habe sich die Hand gebrochen, woraufhin ein kleiner Tumult entstanden sei. Aber erst später habe sich eine »Rotte Nagelschmiede, Weiber, Kinder ec.« vor dem Hause versammelt und begonnen, es mit Steinen zu bewerfen. Es sammelten sich immer mehr Menschen, aber erst nachdem die erste Rotte aufgehört hatte, fingen »die Hostomicer Schuljugend und Lehrbuben an, unter großem Spektakel und Geschrei: kupte stříbro (Kaufet Silber!)« zu rufen, was die Umstehenden aufgriffen. Dieses Spektakel dauerte bis zum Abend, so lange habe er mit seiner Familie verbarrikadiert im Hause gesessen. Abends seien einige junge Bürger zu ihm gekommen, um ihn zur Flucht aufzufordern, da die Leute mit üblen Absichten bereits ihre Hacken schliffen, um Tore und Fenster einzuschlagen und die Familie zu ermorden. Seine Familie floh durch einen Hinterausgang und habe nichts als das nackte Leben gerettet, seine Möbel seien zertrümmert und Wäsche, Geld etc. gestohlen und seine Nagelvorräte teils gestohlen, teils ins Wasser geworfen worden, Bücher und Korrespondenzen seien zerrissen oder verbrannt worden.56 Der Bericht Brunners deutet schon darauf hin, dass die Versuche eines Polizisten, die Menge in Hostomitz zu beruhigen und einen Anstifter zu verhaften, fehlschlugen und die Menge immer gewalttätiger wurde und begann, die Fenster im Haus des jüdischen Kaufmanns einzuwerfen. Ein Polizeikommissar wurde schwer misshandelt, als er die Menge zu hindern suchte, die Tür des jüdischen Geschäfts aufzubrechen, doch konnten dann ein Stadtrat bzw. mehrere Hostomitzer Bürger und ein Priester die Menge beruhigen, was allerdings in anderen Berichten bestritten wird.57 Bei Anbruch der Dunkelheit gingen die Ausschreitungen aber weiter, und die Menge zerstörte die Fensterläden und drang in Brunners Haus ein,

 Die Debatte, ...  Die Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., stellte diesen Vorfall ganz anders dar. Demnach habe der aus dem nahen Betzdieditz herbeigeeilte Pfarrer versucht, die Menge zu beruhigen, doch sei dies vergeblich gewesen und ihm wäre beinahe selbst noch »ein Leid zugefügt worden«. In der Presse ist auch sonst zumeist von dieser Beruhigungsphase nicht die Rede, dort wird es so berichtet, dass die Häuser von zwei jüdischen Nagelhändlern sogleich geplündert und völlig demoliert worden seien. Andere Zeitungen schreiben von Angriffen auf die Häuser der Juden generell, nennen sogar Fälle, wo es arme Juden hart getroffen habe. Vgl. (Linzer) Tages-Post, ..; Neue Freie Presse. Morgenblatt, ...

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dessen Inventar völlig zerstört wurde, darunter auch die Geschäftspapiere.58 Ein weiteres jüdisches Geschäft, das mit Nägeln handelte, wurde ebenfalls attackiert. In beiden Fällen wurden auch die Vorräte an Nägeln zerstört, indem man sie in einen Teich schüttete. Weitere Häuser von Juden wurden zum Ziel von Angriffen, wohl mit Unterstützung aus der Umgebung hinzugeeilter Landbevölkerung.59 Die Menge begann sich schließlich zu zerstreuen. Drei Hauptanführer der Randalierer wurden am Abend und am nächsten Morgen verhaftet, aber durch eine große Menschenmenge (es sollen fünfhundert Personen gewesen sein) wieder befreit, wobei die Polizisten brutal attackiert wurden.60 Die Polizei telegraphierte deshalb um militärische Hilfe. Dieser Fall zeigt, wie viele andere auch, dass es für die meist nur schwach besetzten örtlichen Polizeikräfte ein Risiko war, Verhaftungen vorzunehmen bzw. die Verhafteten sicher zu verwahren, da es immer wieder zu meist auch erfolgreichen Befreiungen der Gefangenen kam, da die Polizeikräfte einer großen, gewaltbereiten Menschenmenge kaum effektiv widerstehen konnten. Das Haus Brunners wurde erneut angegriffen und Nagelvorräte zerstört, seine Kutsche wurde entwendet und zu einer Fahrt ins nahe gelegene Dorf Betzdieditz (Bezdědice – gehört heute zur Stadt Hostomice) benutzt, wo die Gruppe in den Hof und das Haus eines Juden einbrach und nach Schnaps verlangte – den sie auch bekam. Anschließend fuhr man weiter nach Bieschtin (Běštín), wo man mit einer Menschenmenge nun wiederum das Haus eines jüdischen Nagelhändlers angriff und es so wie in Hostomitz zerstörte. Als man das Haus eines weiteren Händlers attackieren wollte, schritt eine Gruppe Einheimischer ein.61 Einer der jüdischen Geschäftsinhaber wurde aber gezwungen, Brot und Bier bereitzustellen. Die Entwendung der Kutsche und die Erpressung von Bier und Brot kann man als Ausdruck einer tem Frankl, Silver, S. . Die Neue Freie Presse schrieb am .. dazu: »Die ganzen Eisenvorräte beider Kaufleute wurden gestohlen und ihre Geschäftspapiere in Stückchen gerissen und zerschnitten; damit nicht zufrieden, machten die Excedenten im Wohnzimmer des Herrn B. auf den Dielen ein Feuer an und verbrannten die Papierfetzen. Die Leute spekulirten dabei nicht übel, denn außer den Schulden der Käufer waren auch die den Schmieden gegebenen Vorschüsse in diesen Büchern verzeichnet«.  Frankl, Silver, S. , schreibt, dass in Hostomitz und Umgebung nicht nur Waren, sondern auch die Wohnungseinrichtungen zerstört und Kleider, Bettwäsche und silberne Gegenstände gestohlen wurden. Auch Geschäftsbücher und Rechnungen wurden systematisch zerstört. Die Neue Freie Presse. Abendblatt vom . März , zitiert einen Bericht aus der Zeitung Narod, wonach die Vorfälle in Hostomitz hauptsächlich von Auswärtigen verübt worden seien. Die Einheimischen hätten sich auf das Einschlagen der Fenster jüdischer Häuser beschränkt. Die vom Markt in ihre Dörfer zurückkehrenden Bauern hätten von den Unruhen in Hostomitz erzählt, woraufhin »eine große Anzahl übel berüchtigter Personen« dorthin geeilt sei, um die dortigen Nagelschmiede noch weiter aufzuhetzen und daraus dann ihren Nutzen zu ziehen. Die meisten der geraubten Gegenstände seien nicht in Hostomitz, sondern in den umliegenden Dörfern sichergestellt worden.  Frankl, Silver, S. .  Auch ein weiterer Angriff im nahe gelegenen Jince wurde durch eine Menge mit Stöcken bewaffneter Einheimischen verhindert, dennoch forderte man auch dort Militär zum Schutz der Juden an, dies tat auch das Dorf Wosow, Die Debatte, ...

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porären Machtverschiebung – etwa wie im Karneval – verstehen. Die wirtschaftlich wohl etwas wohlhabenderen Juden mussten unter dem Druck der Situation etwas von ihrem Besitz überlassen bzw. abgegeben.62 In Hostomitz gab es zwar keine erneute Gewalt, aber die auf dem Marktplatz versammelte Menge musste vom herbeigerufenen Militär zerstreut werden. Es wird berichtet, dass die Bürger des Ortes das Militär mit Jubel begrüßt hätten, während »der Pöbel« ihm »stříbro« entgegenrief.63 Soldaten und die schnell aufgestellte Bürgergarde durchsuchten die Wohnungen nach gestohlenen Gütern, die man auch willig wieder herausgab. Um weitere potentielle Störer abzuschrecken, wurde eine besondere Gerichtskommission aus Prag geholt, um die Ereignisse zu untersuchen. Der Gesamtschaden belief sich auf . Gulden.64 Der Kreisvorstand bestellte am . Februar die Nagelschmiedemeister von Hostomitz ins Rathaus, um ihnen die nachteiligen Folgen der Unruhen vor Augen zu führen und sie aufzufordern, »ihre Gesellen und Lehrlinge im Zaume zu halten«.65 Viele Juden flüchteten, und einige Nagelhändler planten, die Gegend zu verlassen, so dass man in der Presse auf den wirtschaftlichen Schaden für die Nagelschmiede hinwies.66 Die durch das neue Gemeindegesetz autonom gewordenen Gemeinden waren offenbar nicht in der Lage, selbst für Ruhe und Ordnung zu sorgen, so dass der Einsatz von Militär nötig wurde, das teilweise massiv gegen die Plünderer vorging – es gab Tote und Verwundete –, was wiederum zur Erbitterung der zunächst unbeteiligten bürgerlichen Schichten führte. Stölzl spricht von einer Kettenreaktion zwischen Ausschreitungen, dramatischen Presseberichten darüber und neuen Ausschreitungen.67 Nach Frankl breiteten sich die Unruhen nun in die umliegenden Orte aus, zunächst in die Bezirksstadt Horowitz (Hořovice)68 mit ca. . Einwohnern) und nach Beraun (Beroun).69 Offenbar wurden die Krawalle in den umliegenden Dörfern (wie Biechczin, Suchomost, Luzce, Jince (Ginetz), Wosow, Wscheraditz, Praškoles, Rokitzan, Dobrochowitz, u. a.) aber nicht durch die Einheimischen verübt, sondern durch herumziehende Hostomitzer Proletarier, denen sich die Einheimischen widersetzten.70

 Zum »Volksfestcharakter« von Pogromen siehe Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff.  Die Debatte, ...  Frankl, Silver, S. .  Wiener Zeitung, ...  Die Neue Freie Presse (..) weist auf die negativen Folgen der Ausschreitungen für die Nagelschmiede hin, da nun die beiden in Hostomitz angegriffenen Nagelhändler ihr Geschäft in der Gegend aufgeben wollten. »Was die Schmiede jetzt anfangen werden, wissen sie wohl noch selbst nicht«.  Stölzl, Zur Geschichte II, S. .  Auch Horschowitz oder Horzowitz.  Frankl, »Silver !«, S.  f.  Neue Freie Presse. Morgenblatt, ... In Praskoles sei »ein großer Exzess vorgefallen, indem der Verkaufsladen des dortigen Israeliten S. von einem Volkshaufen geplündert

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In Horowitz rottete sich am Abend des . März  eine Menge zusammen und durchzog unter »stříbro«-Rufen lärmend den Ort. Man begann dann das Geschäft eines jüdischen Nagelhändlers zu attackieren, besonders die Lehrlinge der Nagelschmiede taten sich dabei hervor.71 Der einzige anwesende Polizist und eine zufällig in der Stadt weilende Militärpatrouille (ein Korporal und drei Soldaten – sie eskortierten gerade einen Täter, der sich an Unruhen in einem Nachbarort beteiligt hatte) suchten die Menge zu zerstreuen und einen Rädelsführer zu verhaften, wurden aber dabei heftig attackiert und in das Rathaus abgedrängt, wobei ein Soldat verletzt worden sein soll. Als Drohungen, Feuer zu geben, und auch Warnschüsse in die Luft nichts bewirkten, griffen die Soldaten zum letzten Mittel und schossen in die Menge. Dabei töteten sie einen Gastwirt und verwundeten die Mutter eines der Haupttäter, die die Soldaten wütend mit Steinen beworfen haben soll, weil die Soldaten ihren Sohn verhaftet hatten.72 Daraufhin soll sich nach einer Version die Menge zerstreut haben, während nach einer anderen, wahrscheinlicheren Version das Leben der Soldaten durch die wütende Menge in Gefahr geraten sei, so dass noch in der Nacht  Mann Militär dorthin entsandt worden sei, das anschließend dafür sorgte, dass es ruhig blieb. Vier Rädelsführer, andere Zeitungen schrieben von sieben, wurden in Horowitz (Hořovice) verhaftet.73 Da man offenbar weitere Unruhen befürchtete, wurde der (in dem Bericht als unschuldig bezeichnete) erschossene Gastwirt einen Tag früher beerdigt als angekündigt worden war. Die Beerdigung fand unter großer Beteiligung auch von k. u. k.-Beamten statt und verlief ruhig. In der so geschaffenen unruhigen Atmosphäre dieser Tage reichten dann unbedeutende Vorfälle aus, um handlungsbereite Gruppen zu erzeugen, die von den örtlichen Behörden nicht immer unter Kontrolle gebracht werden konnten, oder um Zeitungen dazu zu bringen, umlaufende Gerüchte über Unruhen in den Rang von Tatsachen zu erheben. In Beraun war es ein betrunkener Tagelöhner, der am . März  in einem jüdischen Geschäft Stöcke – wohl zur Selbstverteidigung der Juden – verkaufen wollte, um im Gegenzug Geld, Alkohol und Essen zu bekommen. Auf der Straße drohte er damit, die Juden aus der Stadt zu treiben, woraufhin wurde« (Die Presse, ..). Später ist in vielen Berichten eher von Vagabunden und Obdachlosen die Rede (Die Presse, ..).  Hierzu und zum Folgenden Frankl, Silver, S. , der zudem darauf hinweist, dass die Zeitung Národni listy den Ausbruch der Gewalt auf eine Provokation des Militärs und dessen brutalen Einsatz zurückführt, was von der offiziellen Version deutlich abwiche. Siehe auch den ausführlichen Bericht in: Die Debatte, ...  Frankl, Silver, S. . Das Vaterland, .., berichtet unter Berufung auf die Prager Zeitung vom . März, dass in Hořovice die Militärabteilung zu schwach gewesen sei (eben nur vier Mann umfasst habe) und deshalb von der Waffe Gebrauch gemacht habe, wobei ein Gastwirt getötet und »ein Weib« verwundet worden sei. Daraufhin sei das Leben der Soldaten durch die wütende Menge in Gefahr geraten, so dass noch in der Nacht  Mann Militär dorthin entsandt worden sei. Gleiches berichtet: Neue Freie Presse. Morgenblatt, ..: Der Gastwirt hatte Randalierern in seinem Hof Schutz bieten wollen und sein Tor abgesperrt. Als er nicht öffnen wollte, habe man geschossen und dabei den Gastwirt getroffen.  Neue Freie Presse Abendblatt, .. (unter »Kleine Chronik«).

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sich ihm in der angespannten Atmosphäre der Gegend eine Menge von Jugendlichen anschloss und in Beraun herumzog und »Silber!« rief, was zu einem antijüdischen Schlagwort geworden war. Da zwei Polizisten das Treiben nur beobachteten, war es die Aufgabe des Bezirksamtsleiters, den widerstrebenden Betrunkenen in eine nahe gelegene Gastwirtschaft zu schicken.74 Der Bürgermeister ging durch die Stadt, um die Menschen zu beruhigen, ohne aber die Unterstützung des Stadtrates zu bekommen, woraufhin er heimlich Truppen anforderte, was die Bürger des Ortes gegen ihn aufbrachte. Er wurde als »Juden-Bürgermeister« bedroht.75 Der Bürgermeister hatte die Truppen wohl vor allem wegen des anstehenden Markttages herbeigerufen, zumal es Gerüchte gab, dass - Jugendliche mit einer Kapelle vorweg durch Dörfer der Umgebung zögen und gedroht hätten, die Juden in Beraun zu attackieren. Wahrscheinlich verhinderte aber das anwesende Militär, dass es dort zu Unruhen kam. In der Umgebung von Beroun hingegen wurde in der Nacht auf den . März im nahe gelegenen Tmain (Tmaň) das Haus eines Juden von einem »Volkshaufen«, andere Berichte sprechen von einigen Vagabunden, die zunächst Geld erpressten und dann den Laden des Juden zu plündern begannen, geplündert und zerstört, wobei der Gemeindevorsteher und die Dorfbewohner tatenlos zugesehen hätten und ein »christlicher Beschützer« verprügelt worden sei.76 Nach Tmain wurde eine Abteilung Soldaten verlegt und ein »Rädelsführer« verhaftet. Die Gewalt breitete sich auch auf andere kleinere Orte aus, wo Juden beleidigt wurden und es zu kleineren Zwischenfällen kam,77 so dass Die Presse am . März davon schrieb, dass sich die Aufregung in den Nagelschmiede-Distrikten immer noch nicht gelegt zu haben scheine und »unterstandloses Gesindel und notorische Vagabunden« die »nationalen und konfessionellen Reibungen ausbeuteten«, um zu plündern und zu rauben.78 Am . März soll es im etwas weiter entfernten Pilsen zu  Aus Beraun wird auch berichtet, dass man Jüdinnen gezwungen habe, den Spruch »Gelobt sei Jesus Christus !« auszusprechen, was auf die weiterhin wirksamen religiösen Vorbehalte hindeutet (Die Debatte, .., unter Berufung auf einen Artikel in der Presse aus Prag vom . März). Ähnlich auch: (Linzer) Tages-Post, ... Die Debatte vom .. stellt denselben Vorgang etwas anders dar: In Beraun herumziehende Gruppen hätten sich einen Spaß daraus gemacht, »die vorübergehenden Frauenzimmer zu zwingen, sich durch den Spruch ›Gelobt sei Jesus Christus‹ als Christinnen« zu legitimieren. Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., Frankl, Silver, S. .  Frankl, Silver, S. . Eine abweichende, etwas harmlosere Darstellung der Vorgänge in Beraun findet sich in: Die Debatte, ..: Um den Betrunkenen habe sich ein großer Volkshaufe gebildet und wurde nicht behindert, da die Gendarmen des Ortes nach Hostomitz beordert worden waren. Es habe dann einige Zeit gedauert, bis der Gemeindeausschuss sich blicken ließ und den Betrunkenen festnahm, woraufhin sich der Volkshaufe aufgelöst habe.  Vgl. die kurze Notiz in: (Linzer) Tages-Post, ..; Wiener Zeitung (Abendblatt), ... An anderen Orten konnte es aber anders laufen: Als die »Übeltäter« aus Tmain in das nahe gelegene Suchomast (Suchomasty) zogen, um dort ebenfalls zu plündern, wurden sie vom Gemeindevorsteher und Dorfbewohnern vertrieben (Die Presse ..).  Frankl, Silver, S.  f.  Die Presse. Abendblatt, ...

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einem Krawallversuch gegen Juden und Deutsche gekommen sein, der aber durch das Erscheinen des Militärs unterbunden werden konnte.79 Wie Die Presse einige Tage später meldete, hatte es sich aber nur um das Einwerfen von Fensterscheiben durch einige »betrunkene Vagabunden« gehandelt.80 Auch in Prag kam es zu antijüdischen Übergriffen, als ein jüdischer Begräbniszug auf dem Weg zum Friedhof mit Steinwürfen und »stříbro«-Rufen begleitet wurde.81 Angesichts der aufgeheizten Atmosphäre wurden immer wieder Falschmeldungen über angeblich stattgehabte Ausschreitungen mit Übertreibungen der Opferzahlen und Schäden verbreitet, bzw. es wurden nun auch Bagatellvorgänge in den Kontext der Unruhen gestellt, über die sonst nicht berichtet worden wäre. In der Presse finden sich immer wieder auf Gerüchte gestützte Berichte über »Exzesse« gegen Juden, die dann wenige Tage später dementiert werden mussten.82 Dies spricht für die Unruhe in diesem Gebiet und das Umlaufen zahlreicher Gerüchte, die in einigen Fällen von den Zeitungen fälschlich für bare Münze genommen wurden. Es ist schwer einzuschätzen, welche Wirkung die stark dramatisierenden Zeitungsberichte, die zwar zumeist wenig später widerrufen werden mussten, auf die Entwicklung von Pogromstimmungen an anderen Orten ausgeübt haben. Danach kam es in diesen böhmischen Gebieten zwar nicht zu weiteren Ausschreitungen, doch blieb die Stimmung offenbar sehr gereizt und die »Insultierungen« einzelner Juden gingen weiter.83 Es mussten auch Militärabteilungen weiterhin häufig in unruhige Orte verlegt werden.84 Wegen des im Hintergrund spielenden Konflikts zwischen Tschechen und Deutschen finden sich in der jeweiligen Presse  (Linzer) Tages-Post, ...  Die Presse. Abendblatt, ... Die Debatte vom .. und vom .. weist ebenfalls Berichte der Wiener Presse zurück, dass es sich in Pilsen um Ausschreitungen gegen Deutsche und Juden gehandelt habe, es sei nur ein Krawall -jähriger Burschen gewesen, die der »Hostomicer Affäre« nacheifern wollten, der aber durch die Polizei schnell beruhigt werden konnte. Am Abend hätten dann einige Vagabunden drei Fensterscheiben bei einem Juden eingeschlagen. Daraufhin publizierte Die Presse, .., wiederum einen Artikel, in dem sie die verharmlosende Darstellung in »gewissen Prager Blättern« kritisierte und über mehrere Vorfälle berichtete (ein Jude sei in den Fluss getaucht und nachts seien Aufschriften »Przibramer Silber« an den jüdischen Läden angebracht worden).  Die Presse. Abendblatt, ...  So der weit übertriebene Bericht über die Vorgänge in Hořovice in Die Presse (..), wo die durch Steinwürfe attackierten Soldaten angeblich sechs Menschen erschossen und weitere  verwundet hätten. Es seien auch Soldaten verwundet worden (auch: (Linzer) Tages-Post, ..). Die Debatte vom .. veröffentlichte ein »Offizielles Dementi« der amtlichen Prager Zeitung, wonach das Gerücht von sechs Toten und  Verletzten übertrieben sei, es habe nur einen Toten und eine Verwundete gegeben. Auch seien die Gerüchte falsch, wonach es in Mauth und Cerhowic (Cerhovice) Exzesse gegeben habe. So auch der Bericht über den deutschen Ort Stankowitz (Staňcovice) (bei Saaz – Žatec). Die Presse. Abendblatt, ..; Die Debatte, .. – der Widerruf in: Die Presse, ...  Die Presse, ... (Bericht datiert vom . März).  Die Presse. Abendblatt, ..; Die Presse. Abendblatt vom .. mit einer Reihe von Beispielen für einzelne Übergriffe, in denen Juden mit Steinen beworfen oder öffentlich mit »stříbro«-Rufen verhöhnt wurden.

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auch recht unterschiedliche Darstellungen der Ereignisse, die entweder dramatisiert oder heruntergespielt werden. Dabei erfolgt allerdings die Presseberichterstattung in ihrer Tendenz nicht immer diesem nationalen Muster: Das Vaterland berichtete am . März  davon, dass die »Nachricht einiger Wiener Blätter« von einem »bedeutenden Judencrawall« in Slabetz (Slabce) nicht zutreffe, ebenso wenig sei es in Pilsen zu Unruhen gekommen, wo es nur Gerüchte über drohende Gewalt gegeben habe. Die Berichtigung zu Slabetz findet sich auch in Die Debatte vom . und . März , wo auch Unruhen in Tabor bestritten werden. Offenbar neigte die liberale Wiener Presse zu übertriebenen Berichten, wohl um der tschechischen Sache zu schaden. Die Presse (Abendblatt) vom . März  gibt eine kurze Darstellung des Vorgangs in Slabetz, bei dem dreißig junge Burschen sich vor dem Haus eines jüdischen Getreidehändlers versammelten und wünschten, er solle ihnen Korn kreditieren, was dieser auch versprach. Der Ortsvorsteher und andere Bürger kamen hinzu, und die Sache verlief sich. Die Debatte brachte am . März  eine ähnliche Meldung, druckte aber auch den Bericht des Tagesboten aus Brünn ab, der ein wesentlich umfangreicheres und bedrohlicheres Szenario mit einer zu Hunderten zählenden Menge aus den umliegenden Ortschaften entwarf, die nur durch Vertröstung ihrer Forderungen auf den nächsten Tag zerstreut werden konnte. Diese Darstellung gibt auch die Neue Freie Presse am . März  und dementiert den Bericht der Prager Zeitung, es seien nur dreißig Burschen gewesen.85 Als man den Eindruck hatte, die Welle antijüdischer Gewalt sei vorüber, kam es zu einem Übergreifen der Unruhen auf die deutschsprachigen Gebiete (Kreis Pisek). In Schüttenhofen (Sušice) am Fuß des Böhmerwaldes äußerten sich seit Anfang März Spannungen in Form von Drohbriefen und umlaufenden Gerüchten über einen am Jahrmarkttage bevorstehenden Angriff auf die Juden, denen hin und wieder Fenster eingeworfen wurden. Ein angeblicher Brief des Premierministers Richard Belcredi, in dem dieser den Bürgermeister aufgefordert habe, eine verdeckte Untersuchung gegen die verräterischen Juden einzuleiten, soll in der Stadt umgelaufen sein, ein Gerücht, das die Presse zunächst aufgriff, später dann selbst aber wieder dementierte.86 Als am . März der Jahrmarkt stattfand, kamen viele  Ähnlich Differenzen gab es in der Presse auch über den »Saazer Exceß gegen die Juden« am . März , den ein Teil als »bedeutungslos« schilderte, während ein anderer den »Judenkrawall« als wesentlich größer einstufte, da Militär requiriert wurde, es zu Verhaftungen kam und das Standrecht ausgerufen werden musste. Vgl. Die Presse. Abendblatt, ..; Das Vaterland, ... Einen ausführlichen Bericht auch über die längere Vorgeschichte und die Rolle von Erzählungen über die Judenexzesse an anderen Orten für die Mobilisierung in Saaz (Żatec) gab die Die Presse vom ...  Das Vaterland berichtet am .. davon, dass fingierte Briefe des Ministers, die zum Hass gegen die Juden anstachelten, bei Vagabunden gefunden und auch an Gemeindevorsteher verschickt worden seien. Die Debatte vom .. berichtet ebenfalls von Drohbriefen an den Bürgermeister von Protiwin (Protivín) und an andere Gemeindevorsteher, in denen diese im Namen eines Staatsmannes bei Androhung von Kerkerstrafe aufgefordert worden seien, die Juden vertreiben zu lassen. Das Vaterland schrieb am .., dass

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Menschen auch aus der Umgebung in den Ort, in dem fünfhundert Juden lebten, und die Menge begann auf dem Marktplatz laut zu pfeifen und »Silber« zu rufen. Am Nachmittag begannen dann Übergriffe auf die Läden von Juden.87 Nachdem die wenigen Gendarmen (es ist von sieben die Rede bzw. von  mitsamt den Finanzwachmännern) versucht hatten, einen Bauern zu verhaften, begann die mit Prügeln bewaffnete Menge die Gendarmen anzugreifen und ihnen die Gewehre zu entreißen, woraufhin die Gendarmen Warnschüsse in die Luft abgaben. Dabei wurde ein Tumultuant am Bein verletzt, der später an seiner Verletzung starb.88 Daraufhin eskalierte die Situation immer weiter, die Menge schlug mit Knüppeln auf die Gendarmen ein und beschoss sie, so dass diese sich schließlich im Rathaus verbarrikadieren mussten. Dieser Rückzug der Kontrollorgane eröffnete der Menge den Weg zur Plünderung weiterer jüdischer Geschäfte und Häuser, wobei Juden auch misshandelt wurden.89 Die Unruhen der betrunkenen Randalierer dauerten bis in den frühen Morgen an, als sich die Plünderer noch um ihre Beute prügelten.90 Durch das Militär wurden an die zwanzig »Excedenten« verhaftet. Das Militär führte Haussuchungen durch und konnte viele geraubte Güter sicherstellen. Dies spricht dafür, dass an den Unruhen keineswegs nur auswärtige Besucher teilgenommen hatten, was auch in der Presse angezweifelt wurde.91 Mehrere Zei-

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die durch die Tagespresse verbreitete Meldung, wonach man in Schüttenhofen bei den Tumultuanten gedruckte Plakate in böhmischer Sprache gefunden habe, auf denen unter dem Namen des Ministerpräsidenten Belcredi zur Rache an den Juden aufgerufen wurde, falsch sei (vgl. auch Die Debatte, ..). Vgl. die ausführliche Darstellung der Ausschreitungen in: Frankl, Silver, S. . Erste Zeitungsmeldungen datieren vom .. in: Das Vaterland (Bericht vom . März); Neue Freie Presse. Abendblatt, .., wo noch von Vorfällen in anderen Orten des Kreises Pisek berichtet wird, etwa im deutschen Wilkischen, in Hrádek, Kollinetz, Horaschdowitz (Horaždovice) (vgl. Die Presse, ..), auch Dobris (Dobříš), Laun (Louny), Langendorf, Welhartitz (Velhartice) und Slabetz (Slabce) wurden genannt (Neue Freie Presse. Morgenblatt, ..; Die Presse vom ..); später auch noch Neubydzow (Die Presse, ..). Die Nachricht aus Laun wurde von den dort ansässigen Israeliten dementiert (Die Debatte, ..). Auch Berichte über Unruhen an anderen Orten wie in Neuhaus oder Klattau (Klatovy) wurden später dementiert (Wiener Zeitung, Abendpost vom ..) Frankl, Silver, S. . Ebd. Einen dramatischen Augenzeugenbericht einer jüdischen Kaufmannsfrau druckte Die Presse, .., ab (»Die Judenhetze in Böhmen«). Die Frau betonte allerdings auch, dass sie Schutz in einem christlichen Hause fand. Auch in anderen Berichten wurde der Schutz seitens christlicher Bürger erwähnt (Die Presse, Abendblatt, ..). Das Vaterland, .., Die Presse, ... Einen sehr ausführlichen Bericht über die Vorgänge bietet in der Nachsicht die Neue Freie Presse. Abendblatt, ..: »Judenverfolgungen in Böhmen«. Die Presse, ... Die Neue Freie Presse (..) berichtet, dass die Schüttenhofener Bürger sehr bestrebt seien, die Schuld fremdem Volk in die Schuhe zu schieben, dass sich aber geraubtes Eigentum durchaus auch bei angesehenen Bürgern angefunden habe. Inzwischen habe man bereits über fünfzig Personen verhaftet. Die Presse, .., berichtet davon, dass immer mehr verschleppte Gegenstände aufgefunden würden, durchaus auch

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tungen betonten, dass die Fabrikarbeiter der Zündwarenfabrik Fürth, die einen jüdischen Eigentümer hatte, »musterhafte Zurückhaltung« gezeigt hätten,92 doch gab es auch davon abweichende Darstellungen, in denen die Fabrikangehörigen als Träger der Unruhen identifiziert wurden.93 Der Gesamtschaden soll beträchtlich gewesen sein,94 und die Presse betonte immer wieder die »großen Dimensionen« dieser Ausschreitungen, sogar die Synagoge wurde attackiert.95 Sie fanden sogar in der deutsch-jüdischen Presse ein schnelles Echo.96 Versuche von Stadträten und einem Vertreter der Distriktbehörden, mit Hilfe von Kontrollorganen die Menge zu zerstreuen, schlugen fehl. Der Stadtdechant, der die Menge ermahnte und zu beruhigen suchte, wurde sogar verprügelt.97 Dies lag vermutlich auch daran, dass viele der Täter nicht aus dem Ort selbst kamen, sondern Besucher des Marktes waren, die bei der Rückkehr in ihre Heimatorte auch dort zu randalieren begannen. Wer genau die Trägergruppen der Unruhen in Schüttenhofen waren, ist nicht ganz leicht festzustellen, da die Schuldzuweisung auch Parteiinteressen folgt. So betonen die tschechischen Blätter immer auch die Beteiligung von deutscher Seite, die österreichische Presse eher die Beteiligung von Tschechen. Wie die im Folgenden zitierten Zeitungsberichte zeigen, lässt sich aus ihnen nur schwer ein klares Bild darüber gewinnen, welche Volksgruppe sich in welchem Umfang an den Ausschreitungen beteiligt hatte. Dass hier zugleich der nationale Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen mitverhandelt wurde, war auch den beteiligten Zeitungen bewusst. So verweist ein Korrespondentenbericht in der Neuen Freien Presse (Abendblatt, ..) darauf, dass entgegen den Behauptungen der tschechischen Blätter, »dass auch deutsches Volk bei dem schauerlichen Spektakel mitgewirkt« habe, unter den zwanzig Verhafteten kein einziger Deutscher gewesen sei. Demge-

   

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bei ehrbaren Bürgern. Vieles wurde auch in den Fluss Wattawa geworfen und konnte zum Teil geborgen werden. Auch die Zahl der Verhafteten stieg weiter an. Die Presse, .., schreibt: die Untersuchungen in Schüttenhofen bilden sich zu einem »wahren Monstreproceß« heraus. Das örtliche Gefängnis sei bereits völlig überfüllt. Neue Freie Presse. Morgenblatt, ..; Die Presse, ..; Das Vaterland, ..; allerdings wurden Läden der Familie Fürth geplündert (Neue Freie Presse. Abendblatt, ..). Die Debatte, ... Frankl, Silver, S. , spricht davon, dass die Einrichtung des Hauses von Heinrich Fürth sowie die Geschäftspapiere zerstört wurden, Wäsche, Kleider und Geld wurden gestohlen oder auf die Straße geworfen. Das Vaterland, .., das von fünf geplünderten Läden schreibt; andere nennen drei. Das Vaterland, .. schreibt jedoch bereits von  vollständig zugrunde gerichteten jüdischen Familien und einem Schaden von . Florin. Z. B. Das Vaterland, ..; Die Presse, ..; Neue Freie Presse. Morgenblatt, ..; Die Presse vom .. (»Die Unruhen im südwestlichen Böhmen«) mit einem ausführlichen Augenzeugenbericht aus Schüttenhofen, in dem vom Angriff auf die Synagoge, von Verletzten unter den Juden und von brutalen Gewaltexzessen die Rede ist. Von einer größeren Dimension des Krawalls in Schüttenhofen berichtet auch der Tagesbote aus Brünn unter Berufung auf einen Bericht der Prager Zeitung (.., S. ). Der Israelit, Heft , .., S.  f. Neue Freie Presse. Abendblatt, ...

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genüber betonte Das Vaterland (..) unter Berufung auf die Zeitung Narod, dass bei den Schüttenhofener Exzessen »Böhmen und Deutsche, das einheimische und fremde Proletariat, ferner Zigeuner und Krämer« beteiligt gewesen seien. Am . März schreibt dasselbe Blatt sogar, dass die Unruhestifter zum größten Teil der deutschen Nationalität angehört hätten. Das Vaterland legt am .. noch einmal nach, indem es unter Berufung auf die Zeitung Bohemia auf die Beteiligung eines Teils des deutschen Landvolkes hinweist. Am . März  betont dieselbe Zeitung dies noch einmal: es habe sich auch deutsches Proletariat beteiligt sowie Kolonisten aus verschiedenen Nationen aus den umliegenden Ortschaften, die einen üblen Leumund besäßen.98 Die Debatte, .., bestätigt, dass sich auch einige wenige deutsche Strolche an den Unruhen beteiligt hätten, dass aber zunächst neben den »stříbro«-Rufen auch der Ruf »Niemci« zu hören gewesen sei. Die Presse vom .. betont aber, es sei sicher, dass sich auch die untersten Schichten der Stadt wesentlich daran beteiligt hätten, insbesondere die wegen ihrer Unzuverlässigkeit entlassenen Fabrikarbeiter sowie Menschen aus der Umgebung. Ansässige und Marktlieferanten seien als Hehler tätig geworden. Die böhmische Landesregierung berief daraufhin den Bezirkshauptmann ab, und es wurden fünfzig Soldaten nach Schüttenhofen beordert, die ab dem . März Hausdurchsuchungen nach Diebesgut vornahmen. Ein Teil der Soldaten wurde auch in die umliegenden Ortschaften entsandt, wo es ebenfalls zu Übergriffen gekommen war. Der materielle Schaden belief sich auf . Gulden, es waren allein bei  jüdischen Häusern Fenster eingeworfen worden, dazu noch  Fenster des Rathauses und der Distriktbehörde. Allerdings waren die Schäden bei den jüdischen Kaufleuten nicht so hoch, dass diese ihre Handelstätigkeit hätten aufgeben müssen.99 In der Presse wurde das Verhalten der Verantwortlichen vor Ort heftig kritisiert, da diese die vorhandenen Vorzeichen nicht ernst genommen und keine Vorkehrungen getroffen hätten. Es wurde von zentralistisch gesonnenen Blättern auf die Ohnmacht der autonomen Gemeindebehörden hingewiesen, um damit gegen föderale Strukturen zu argumentieren. Ein anderer, in der Wiener Neuen Freien Presse (Abendblatt) abgedruckter Korrespondentenbericht spitzt die Vorwürfe noch nationalistisch zu, indem er den lokalen Politikern unterstellt, man habe die Warnungen bewusst ignoriert und kein Militär gerufen, weil die Gemeinderäte sich »vor der Ungunst der ›Politik‹ oder Narodni Listy fürchteten, da der Ruf nach Militär ein Eingeständnis der Ohnmacht der Gemeinden gewesen sei, man die Kosten der Einquartierung fürchtete und glaubte, die Situation allein »mit aufgehobenen Händen« beruhigen zu können.100  In ähnliche Richtung zielt Die Presse. Abendblatt vom . März , die aus der tschechischen Zeitung Bohemia die Aussage eines Schüttenhofener Tagelöhners zitiert, wonach es nicht die Schüttenhofener gewesen seien, sondern die »Österreicher«, d. h., die als Tagelöhner nach Österreich wandernden Personen und die Kühnischen (d. h. deutsche) Landsleute.  Frankl, Silver, S.  f.  Neue Freie Presse. Abendblatt, ...

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Nach Frankl wurden aber die Vorkommnisse in Schüttenhofen, bei denen auch ein schneller Einsatz von Truppen die Ausbreitung der Gewalt an anderen Orten nicht stoppen konnte, als Warnzeichen ernst genommen, und der böhmische Statthalter verhängte am . März für die Regionen Prag, Pisek, Tábor101 und Pilsen das Standrecht und verlegte Truppen dorthin. Außerdem wurden die örtlichen Behörden aufgerufen, die Ordnung aufrechtzuerhalten und Unruhen zu unterdrücken, u. a. wurde ihnen das Recht eingeräumt, das Abhalten von Märkten zu untersagen. Die Behörden machten von diesem Recht bei drohender Bevölkerungsstimmung auch Gebrauch – sehr zum Unwillen der einheimischen christlichen Bevölkerung. Auch die Kirche fühlte sich nun zur Stellungnahme herausgefordert. Das bischöfliche Konsistorium von Budweis versuchte Einfluss auf die Bevölkerungsstimmung zu nehmen, indem es am . März eine Currende (d. h. ein Umlaufschreiben) verschickte, in der die Pfarrer aufgerufen wurden, mäßigend auf die Gläubigen einzuwirken.102 Der Prager Erzbischof Kardinal Fürst Schwarzenberg richtete ebenfalls ein Rundschreiben an den Kuratklerus, in dem dieser zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen wurde, damit die Unruhen nicht mit Waffengewalt unterdrückt werden müssten.103 Die Unruhen hatten beträchtliche negative Auswirkungen auf die Wirtschaftstätigkeit in der Region, da vor allem der Kleinhandel darunter litt, dass Märkte aus Sicherheitsgründen verboten wurden bzw. viele Händler sich nicht auf die Märkte wagten und auch die Käufer wegblieben. Es seien nur Neugierige und »vagabundierendes Gesindel« gekommen, wusste die (Linzer) Tages-Post vom . März  zu berichten. Auch die deutsch-jüdische Zeitung Der Israelit nannte als Folgen des »böhmischen Judenkrawalls« die völlige Stockung des Warenverkehrs auf dem flachen Lande und die Abwanderung eines der angesehensten jüdischen Kaufmannshäuser von Prag nach Wien oder Berlin. Die Wirkungen seien bis Wien zu spüren, wo es zu zahlreichen Absagen früherer Warenbestellungen komme.104 Deputationen von Industriellen sowie die Eingaben von Handelskammern mehrerer Städte machten die Politik auf die negativen Folgen für die einheimische Wirtschaft aufmerksam.105 An vielen Orten wurde Militär stationiert, und für die Jahrmärkte, etwa in Horaschdowitz (Horaždovice) oder Winterberg, wurden umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen getroffen.106 Auch Orte in der Umgebung Prags, wo jü Frankl, »Silver !«, S. . Tagesbote (Brünn). Zu den Judenexzessen in Böhmen, .., S. ; zum Taborer Kreis vgl.: Neue Freie Prasse (Abendblatt), ..; (Linzer) Tages-Post, .. (in Müchlhausen, Weselizko, Beneschau (Benešov). Unruhen soll es aber auch im Gitschiner Kreis in Neubidschow (Nový Bydžov) gegeben haben (Neue Freie Presse. Abendblatt, ..). Gerüchte über bevorstehende Ruhestörungen in Pilsen und in Tabor erfüllten sich nicht, es soll in diesen Städten ruhig geblieben sein (Wiener Zeitung, Abendblatt vom ..).  Die Presse. Abendblatt, ..; Die Debatte, ...  Das Vaterland, ...  Der Israelit, Heft /, .., Zweite Beilage, S. .  (Linzer) Tages-Post, ...  Die Presse. Abendblatt vom ... Über kleinere Ausschreitungen gegen jüdische Marktstände im Ort Retschetin (Kreis Pilsen) am Markttag des .. berichtet Die

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dische Familien sich zur Sommerfrische einzumieten pflegten, litten darunter, dass diese lieber in den sichereren Städten blieben.107 Die Exzesse in Böhmen wurden auch Thema in der Politik. Im Böhmischen Landtag kam es bereits am . März  aufgrund einer Interpellation einiger Abgeordneter der Linken zu den Vorfällen in Hostomitz zu einer Stellungnahme des Statthaltereirates Bach, der die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen (Stationierung von Militär) darlegte und hoffte, dass damit jede weitere Gefahr gebannt sei.108 Das Vaterland zitiert Bachs Auffassung zustimmend, dass der eigentliche Grund für die Exzesse nicht so sehr »in blindem Judenhass, als vielmehr in dem überhand nehmenden Pauperismus« zu sehen sei.109 Abhilfe sei daher vor allem durch die Gründung einer Assoziation zur Beschaffung des Rohmaterials für die Nagelschmiede sowie durch den Absatz ihrer Produkte zu schaffen.110 Letztlich war damit aber unterstellt, die Ausschaltung der (jüdischen) Kaufleute werde die Situation verbessern. Die Ausschreitungen hatten für die Tumultuanten also insofern einen positiven Effekt, als sich nun Wirtschaft und Politik um ihre soziale Misere zu kümmern begannen, zumal klar wurde, dass das Nagelschmiedegewerbe keine Zukunft mehr hatte. Die Debatte vom .. berichtete etwa, dass Industrielle bei der Regierung vorstellig geworden seien, um Maßnahmen zu ihrer Sicherheit, aber auch zur Ansiedlung neuer Industrien zu fordern, um so den Arbeitslosen und der verarmten Bevölkerung eine neue Perspektive zu geben. Die Gewalt brachte also ein Problem erfolgreich auf die politische Agenda, das offenbar schon länger bekannt gewesen war, aber keine Aufmerksamkeit gefunden hatte. Der soziale Notstand der Nagelschmied-Bevölkerung sei, wie Das Vaterland am . März  schrieb, schon im November  der Prager Handels- und Gewerbekammer vorgetragen worden, was aber ohne Folgen geblieben war. Die Stationierung von Militär allein sollte aber nicht für ein Ende der Unruhen sorgen, so dass sich Abgeordnete in Prag erneut mit einer Interpellation an die

   

Presse, .. (Abendblatt). Der Bericht über einen ähnlichen Vorfall in Rokitnitz (Rokytnice v Orlických horách) am .. wurde korrigiert, wonach es nur einen Streit zwischen einem Käufer und einer Händlerin gegeben habe (Die Presse, Abendblatt, ..). Die Presse, ... (Linzer) Tages-Post, . .. Das Vaterland, ... Eine ähnliche Zusammenfassung in: Neue Freie Presse. Morgenblatt, . März . Vgl. zum Kontext dieser Diskussion Frankl, Silver, S. - (Economic associations against Jewish merchants?»). Die Presse. Abendblatt, .. berichtet über die Not der Nagelschmiede und einen bereits bestehenden Hlubower Nagelschmiedeverein, dessen Gründung die Nagelhändler hatten verhindern wollen. Die Zeitung hebt als Erfolg dieser Vereinigung hervor, dass sich dessen Mitglieder gegen die aus Hostomitz anrückenden Volkshaufen gewendet und diese abgewehrt hätten. Sie schreibt aber auch, dass das »Nagelschmiedegewerbe offenbar keine Zukunft« habe, aber die Schmiede in der Zeit des Übergangs unterstützt werden müssten.

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Regierung wandten, um zu fragen, welche Maßnahmen sie zu treffen gedenke.111 Offenbar zeigte dann das Standrecht Wirkung, denn am . März  berichtete Das Vaterland, es herrsche seit einigen Tagen vollkommene Ruhe im Land. Diese Maßnahmen beendeten tatsächlich das Ausbrechen größerer Unruhen, doch kam es vor allem in kleineren Orten immer wieder zu Übergriffen gegen jüdische Kaufleute, es kursierten Drohbriefe und hin und wieder kam es auch zu physischen Angriffen.112 Nach Frankl waren ganz unterschiedliche persönliche oder soziale Konflikte vor Ort Anlass für die Übergriffe, die häufig von unbedeutenden Ereignissen ihren Ausgang nahmen.113 Es gab auch danach noch einige »Nachzügler«. So berichtete die AZJ noch im August von antijüdischen Unruhen in Böhmen, bei denen am . Juli in Rakonitz Rekrutierungspflichtige öffentlich auf die Juden zu schimpfen begannen und schließlich, verstärkt durch Einheimische, begannen, jüdischen Kaufleuten die Fenster einzuschlagen. Sie drangen auch in eine Wohnung ein, zerstörten das Mobiliar und raubten Wertgegenstände. Eine kleine Gruppe von Soldaten, verstärkt durch drei Gendarmen, musste mit Säbeln und Bajonetten vorgehen, um die Menge, die . Personen umfasst haben soll (sicherlich eine weit übertriebene Schätzung), zu zerstreuen, und man nahm eine große Zahl von Militärpflichtigen fest. Die Zeitung beklagt das späte Eingreifen, so dass die Menge zahlenmäßig so stark anwachsen konnte.114 Es begann nach dem Abflauen der Unruhen nun die Phase der gerichtlichen Aufarbeitung der Unruhen. Angesichts der polizeilichen Razzien und gerichtlichen Untersuchungen versuchten viele Tumultuanten und Hehler die geraubten Gegenstände nun wieder loszuwerden, vor allem, indem sie diese in die Flüsse warfen.115



Die Presse, .., u. im Abendblatt derselben Zeitung; Die Presse, ..; die Zeitung schreibt dazu auch, dass die Unruhen bewiesen hätten, auf wie schwachen Füßen das Ansehen der Behörden in den westlichen Bezirken Böhmens ruhe, da die Autorität der Regierungsorgane nicht ausgereicht habe, »den blutigen Auftritten Einhalt zu tun«.  Die Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., berichtete von neuen Unruhen aus dem Ort Wolenitz (auch Wollenitz) unweit von Strakonitz (Strakonice) im Kreis Pisek, die die Entsendung von Militär nötig machten. Ebenso in Die Presse vom .., wo auch noch Unruhen im Orte Stechowitz (Štěchovice) benannt werden (ebenso in: Die Debatte, ..). Auch in Trebitsch (Třebíč bei Iglau) gab es wiederholt wenn auch unblutige Unruhen (Die Presse, ..), so dass der Gemeinderat sich für bessere Sicherheitsmaßnahmen aussprach. Das Vaterland vom .. berichtete, dass sich Exzesse noch immer an einzelnen Orten des Landes wiederholten, wenn auch in kleineren Dimensionen als in Hostomitz und Schüttenhofen.  Frankl, Silver, S.  f.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Die Presse. Abendblatt, ... Die Zeitung berichtet aber auch von Bürgertöchtern, die den von Jüdinnen geraubten Schmuck offen trugen, und von organisierten Banden, die schon während der Tumulte systematisch vorgingen und den Raub in Kisten verpackten.

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Die Diskussion der Ursachen für die Unruhen in Presse und Wissenschaft Über die möglichen Ursachen der Unruhen wurde in der zeitgenössischen Presse breit diskutiert, wobei sich unterschiedliche Standpunkte der tschechischen und deutsch-österreichischen Zeitungen erkennen lassen. Darüber, dass die »Przibramer Affäre« der Auslöser der Unruhen war, bestand weitgehende Einigkeit, »über die Grundursache der Bewegung jedoch gehen die Meinungen auseinander«, schrieb die Wiener Zeitung (Abendpost) am . März . Der Bericht selbst sieht vor allem soziale und keine politischen und nationalen Ursachen für die Unruhen, da jeglicher Widerstand gegen die Staatsorgane ausgeblieben sei – was allerdings nicht ganz zutraf. Er schließt auch »reinen Communismus« aus, womit hier allerdings die Absicht der Bereicherung gemeint war. Die Plünderungen seien nicht von den Nagelschmieden, sondern von »sich einfindenden Gaunerelementen« verübt worden. Dieser Bericht wurde von der pro-tschechischen Zeitung Das Vaterland am .. zustimmend abgedruckt. Ein wichtiger Hintergrund für die Ausschreitungen war der drohende österreichisch-preußische Krieg,116 weil nun viele junge Männer in die Armee einberufen wurden. Wie wir es von anderen Schauplätzen (z. B. im Zarenreich im Zuge des russisch-japanischen Krieges) kennen, kommen bei den Musterungen und Einberufungen viele junge Männer zusammen, die sich in dieser Situation als über dem Gesetz stehend empfinden. Hinzu kamen – vermutlich eher falsche – Gerüchte über preußische und russische Agenten, die in Böhmen operierten und zu antijüdischen Übergriffen aufreizten,117 zudem wurden einzelne Fälle generalisiert, in denen jüdische Spekulanten und Betrüger bei der Landbevölkerung gegen die Versicherung, deren Söhne durch Bescheinigungen der Untauglichkeit vor der Einberufung zu bewahren, Geld abluchsten, das sie zwar zurückzahlten, wenn dies nicht gelang, aber behielten, wenn die Söhne zufällig untauglich waren. Diese Praxis und andere betrügerische Finanzaktionen sorgten für Unmut sowohl bei den Behörden wie auch bei den örtlichen Bevölkerungen.118 Das Vaterland vom . März  wies aufgrund der »neuesten Nachrichten aus Böhmen« darauf hin, dass die bedauerlichen Vorfälle von Kennern der sozialen Missstände im westlichen Böhmen schon lange erwartet worden seien. Ursache sei weder »nationaler noch religiöser Fanatismus, sondern ein tiefes sociales Uebel«. Diese Unruhen seien weder »böhmisch« noch »österreichisch«, da ihnen weder ein nationales noch ein politisches Moment innewohne. Die Przibramer Affäre sei nur der Auslöser, aber nicht die Ursache für die Unruhen gewesen. Sie druckte anschließend einen Bericht aus der Prager Zeitung ab, der ein wahres »Jammerbild«

 So berichtete Die Debatte, .., dass die preußische Regierung Aufklärung über die Rüstungen und die Truppenbewegungen anlässlich der Judenkrawalle von der österreichischen Regierung erbeten habe.  Vgl. einen entsprechenden ironischen Bericht dazu in der (Linzer) Tages-Post, ...  Frankl, Silver, S.  f.

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der sozialen Zustände unter den Nagelschmieden zeichnete.119 Erkennbar wollte die Zeitung sowohl dem Vorwurf eines Religionshasses gegen Juden wie auch dem gegen einen tschechischen Nationalismus entgegentreten. Auf die prekäre soziale Lage in den Nagelschmied-Distrikten wies auch die (Linzer) Tages-Post am .. hin, vertrat aber die These, dass die Agitation der »Gebildeten der Nation« schuld daran sei, dass die bis dahin ruhigen, wenn auch ungebildeten und moralisch verkommenen Arbeiter nun frevelhafte Exzesse verübten. Das Stichwort »stříbro« sei von ihnen ausgegeben worden. Doch gab es seitens der Zeitung Das Vaterland auch eine kritischere Sicht auf das verarmte Proletariat. So begrüßte die Zeitung die Verhängung des Standrechts in mehreren westböhmischen Kreisen, da man es »mit einer förmlichen Kriegserklärung des zügellosen Proletariats gegen den Besitz überhaupt zu tun habe«.120 Damit wurde aber nach Auffassung der österreichischen Zeitung Die Presse die primär antijüdische Zielrichtung der Unruhen verdeckt. Sie behauptete am . März , die tschechischen Blätter besprächen »in sehr kleinlauter Weise die Proklamierung des Standrechtes«. Sie fährt fort, dass es schon augenscheinlich sei, dass nicht Notstand und Arbeitslosigkeit die Ursache der Judenhetzen waren. Ironisch schreibt die Zeitung weiter, es werde kaum möglich sein, »für jeden Exzeß, für jeden Raub einen halbverhungerten Nagelschmiedgesellen zu citiren«. Andere Zeitungen, wie Die Presse (Abendblatt, vom ..), wandten auf der Basis empirischer Belege gegen die These von der sozialen Not als Ursache der Unruhen ein, dass sich die Menge in Horzowitz vor den von Juden bewohnten Häusern zusammenrottetet habe, obwohl sich »gerade hier der Nägelhandel […] ganz in christlichen Händen« befinde, und die Neue Freie Presse vom . März  konstatierte, dass es in den Kreisen Tabor, Pilsen und Pisek keine um ihre Existenz kämpfenden Nagelschmiede gewesen seien, die die Juden attackiert hätten. Armut und Abstieg bildeten also wohl eher den Hintergrund oder eine mittelfristige Ursache für die Unruhen, erklären aber nicht den Zeitpunkt und die Tatsache, dass nur die Läden jüdischer und nicht die der nicht-jüdischen Kaufleute angegriffen und geplündert wurden, wie Frankl richtig anmerkt. Er weist zudem zu Recht darauf hin, dass das Interpretament Armut, soziale Krise und Sozialprotest in der Historiographie antijüdischer Unruhen sehr oft Verwendung findet, wobei zugleich ein Moment der Entschuldigung oder Sympathie mit den »ausgebeuteten« sozialen Klassen, ja vom traditionellen Stereotyp des »reichen Juden« mitschwingt.121 Der Tagesbote aus Brünn sieht die Unruhen zwar auch als eine soziale Bewegung, betont aber gegenüber der tschechischen Presse, die darin keinen Nationalitäten Bereits am . März  hatte die pro-tschechische Zeitung Das Vaterland darauf hingewiesen, dass die Übergriffe nicht primär durch »blinden Judenhass« begründet seien, sondern ganz anderen Motiven, nämlich dem sozialen Notstand der NagelschmiedBevölkerung, entsprängen.  Das Vaterland, ...  Frankl, Silver, S. . Auch die Satirezeitschrift Kikeriki sah das Armutsargument kritisch, indem sie einen kleinen Artikel unter der Überschrift »›Noth‹, als Ausrede für Mord, Raub, Todtschlag und Plünderung« publizierte (Nr. , ..).

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konflikt erkennen wollte, auch deren nationalistischen Charakter. »Man sage, was man wolle, in Wahrheit sind die Gräuelszenen in den czechischen Orten durch die nationale Agitation angefacht worden. Wäre es reine Noth, welche die armen Leute dazu bestimmt, dann müssten die Krawalle auch in den deutschen Bezirken vorkommen, wo mehr Industrie betrieben wird und das materielle Elend sicher nicht kleiner ist.«122 Der Verfasser will zwar die Deutschen nicht vom Vorurteil und Krämergeist freisprechen, doch herrsche in ihren Städten Ruhe und Gesetzlichkeit. Er schreibt weiter: »Die czechischen Blätter seien doch schon einigermaßen verwundert – erschreckt noch lange nicht – über ihr Werk und suchen nach allerlei Redewendungen, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen, dass czechische Horden in Böhmen jetzt die Juden prügeln und plündern«. Auch andere Zeitungen heben hervor, dass es sich um tschechisch besiedelte Orte handelt: »Daß die Gegend eine rein czechische ist, wird wohl bekannt sein«, schreibt die Neue Freie Presse. Die Debatte spricht ebenfalls von den »czechischen Distrikten Böhmens«.123 Diese Position vertritt auch die AZJ, die den »Excessen in Böhmen« am . April  einen Leitartikel widmete, der die Unruhen zusammenfassend bewertete.124 Darin wird einerseits darauf verwiesen, dass sich die Gewalt gegen Juden auch immer gegen den Staat richte und als Vorbote einer revolutionären Bewegung anzusehen sei, die die Handlungsfähigkeit des Staates gleichsam teste. Der Leitartikler glaubt, ohne eine politische Partei beschuldigen zu wollen, dass hinter den Unruhen Aufrührer und Organisierer steckten. Die Ursachen sieht er nicht in lokalen oder persönlichen Umständen oder in sozialen Notlagen, sondern im Kampf der Tschechen gegen die Deutschen, in dem die Juden als Parteigänger der Letzteren attackiert würden.125 Die Exzesse gegen die Juden seien teils Vorläufer, teils Ausbrüche dieses Kampfes. Als Beleg führt er zudem Berichte sächsischer Kaufleute an, wonach in den czechischen Distrikten Böhmens ein großer Deutschenhass herrsche und man als Deutscher seines Eigentums und Lebens nicht mehr sicher sei, so dass sie ihre Handelstätigkeit dort einschränken wollten. Die AZJ sieht im Ablauf der Unruhen, bei denen die handelnden Personen teilweise dieselben waren, nicht die Unmittelbarkeit eines lokalen Judenhasses, sondern ein planmäßiges Vorgehen, um Schrecken zu verbreiten. Für die Zeitung sind »die Anstiftung und der national-politische    

Tagesbote, Zu den Judenexzessen in Böhmen, .., S. . Freie Presse, ... Die Debatte, ... AZJ, Jg. , Heft , .., S. -. Dieser Punkt wird auch in einem Bericht (Privatmitteilung) der AZJ aus Prag vom April  bekräftigt, in dem darauf verwiesen wird, dass die Tumulte keineswegs, wie von tschechischer Seite behauptet, rein soziale Ursachen gehabt hätten, sondern dass dabei auch national-politische eine Rolle gespielt hätten, da man die Juden wegen ihrer »deutschen Gesinnung und deutschen Bildung« angegriffen habe. Der Verfasser weist die »Verlockung von Seiten der Tschechen« zurück und bezeichnet die böhmischen Juden als »deutsch gesinnt« und »kaiserlich gesinnt«. Er weist also auf eine neue, zusätzliche Dimension judenfeindlicher Übergriffe hin, die nun in den Deutungskontext der Nationalitätenkonflikte und Unabhängigkeitsbewegungen im Habsburgerreich gestellt wurden (Jg. , Heft , .., S. ).

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Zweck als Kern der ganzen Sache […] unläugbar«. Die AZJ wertete aber die Anstiftung als Fehlschlag, da die »Wucht der czechischen Leidenschaft« weniger groß war als angenommen und der Staat schnell und wirksamer zurückschlug als erwartet. Auch in den wissenschaftlichen Analysen herrscht kein Einvernehmen über die Ursachen der Unruhen von . Während Christoph Stölzl126 die Gewalt als Folge der durch den tschechischen Nationalismus hervorgerufenen ethnischen Spannungen interpretiert, weist Frankl diesem Aspekt nur geringe Bedeutung zu, da sich in der Agitation der Jungtschechen nur wenige Ausfälle gegen jüdischen Wucher finden ließen und die jungtschechische Presse in der »Silber-Affäre« zwar die jüdische Herkunft der Beschuldigten nannte, daran aber keine weiteren antisemitischen Argumente anschloss. Stölzl hingegen ist der Auffassung, dass die tschechische Presse die Gelegenheit genutzt habe, »in pseudosozialistischer Manier die soziale Not der Arbeiterschaft den betrügerischen Bereicherungspraktiken ›der Juden‹ gegenüberzustellen«, doch habe sich die antisemitische Bewegung in Böhmen dann sehr bald dem taktischen Kalkül der Prager Jungtschechen entzogen.127 Trotz langwieriger Untersuchungen der Behörden konnte eine vermutete Leitung der Unruhen seitens der jungtschechischen Partei in Prag nicht nachgewiesen werden, und die bürokratische Suche nach den Ursachen der Unruhen lief letztlich ins Leere. Frankl hält diese Anschuldigung an die Adresse der tschechischen Nationalisten für eine von deutschen Nationalisten lancierte Sichtweise.128 Er betont vielmehr, dass die föderalistisch orientierte tschechische Presse in der Příbram-Affäre eher eine Chance sah, die zentralistische österreichische Politik und die deutsche liberale Partei als die Juden anzugreifen, insbesondere den Finanzminister, der den Silberdiebstahl lange Jahre nicht habe aufklären können.129 D. h., im Silberdiebstahl von Příbram sahen die jungtschechischen Nationalisten vor allem ein »Symbol des deutsch-liberalen Systems«, was seiner Meinung nach natürlich nicht ausschließt, dass die Berichterstattung über die jüdische Habsucht und Geschichten über angeblichen jüdischen Reichtum die Volksmeinung indirekt in antisemitische Richtung beeinflusst haben könnte. Hinzu kommt, dass jüdische Journalisten dem liberalen Lager zugerechnet und deshalb von der tschechischen Presse im Zuge der politischen Konflikte heftig attackiert wurden: »The anti-Jewish propaganda of Czech national liberals did not derive, then, from antisemitism, but rather from a loss of optimism and faith that after the restoration of constitutional and political life in the Habsburg Monarchy Czech national rights  Stölzl, Zur Geschichte der böhmischen Juden, I.  Ebd., S. .  Tatsächlich finden sich in der Wiener Presse immer wieder Artikel, die auf die Verantwortung der tschechischen Nationalisten für die Unruhen hinwiesen. Die Presse vom .. schreibt etwa: »Die tschechische Journalistik thut unter dem Scheine, jene Vorfälle zu mißbilligen, alles Mögliche, um die Hetzereien zu nähren«. Diese seien nicht nur gegen die Juden, sondern die Deutschen überhaupt gerichtet. Die Neue Freie Presse (Abendblatt ..) beschuldigt die tschechische Presse ganz direkt der Anstiftung, indem sie die »vox populi« zitiert, die, gefragt, wer die Schuld an den Unruhen trage, angeblich antwortete: »An alledem sind die unaufhörlichen Hetzereien der czechischen Journale schuld!«  Frankl, Silver, S. -.

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would be achieved and that it would be possible to quickly nationalize the Jewish population«.130 Mit dieser Einschätzung hat Frankl sicher Recht, doch ist er damit nicht sehr weit von Stölzls Position entfernt, der von einer »heillosen Verflochtenheit der Judenfeindschaft in die nationale und soziale Frage Böhmens« spricht.131 Es ist in jedem Fall ein Pressekampf erkennbar, in dem die Unruhen von beiden Seiten, der nationalen tschechischen Presse wie der deutschen Wiener Presse, zum Anlass genommen wurden, die jeweils gegnerische Position zu attackieren.132 Die tschechische Presse tendierte dazu, die Unruhen in ihrem Ausmaß herunterzuspielen, sie der deutschen Seite zuzuschieben und »verständliche« soziale Ursachen ins Feld zu führen, während die »deutsche« Seite die Unruhen als dramatisch schilderte und dafür auch die nationalistische tschechische Presse und Intelligenz haftbar machen wollte.133 Für Frankls Interpretation ist die Příbram-Affäre der Schlüssel für das Verständnis der Unruhen. Entscheidend war seiner Meinung nach die Nähe zu dem Ort, an dem sich der große Silberdiebstahl ereignet hatte, in den in der Tat mehrere Juden aus Příbram und Prag beteiligt gewesen waren.134 Der Diebstahl von Silber aus den staatlichen Minen war schon mehrere Jahre im Gange, wurde aber durch einen Arbeiter in der Werkstatt eines jüdischen Prager Goldschmieds aufgedeckt, woraufhin dessen Sohn und zwei am Diebstahl beteiligte Juden aus Příbram verhaftet wurden.  Ebd., S. .  Stölzl, Zur Geschichte I, S. .  Die protschechische Zeitung Das Vaterland vom .. schrieb aufrechnend über Ausschreitungen gegen Juden bei einer Versteigerung, dass »der Pöbel […] an allen Orten [wohnt]. Jetzt ahmt er auch hier in Wiens Nähe die böhmischen Judencrawalle nach«. Die Zeitung musste aber am .. eingestehen, dass sie falschen Gerüchten aufgesessen war (»Keine Judenhetzen in und um Wien«).  Das Vaterland vom . März  schrieb vom »furor teutonicus«, der den zentralistischen Blättern in »die Glieder gefahren« sei, wenn die Unruhen mit den Schlagworten »hussitischer Taboritengeist oder Bundschuh belegt würden. Man wolle so aus sozialen Missständen politisches und nationales Kapital schlagen, indem man die Unruhen auch als gegen die Deutschen gerichtet hinstelle«. So schrieb die Wiener Neue Freie Presse am .. triumphierend, dass die Zustände im südwestlichen Böhmen nun mit dem Exzess von Schüttenhofen auf die Spitze getrieben seien, so dass der Regierung nun endlich die Augen geöffnet worden seien. »Diese sieht nun ein, wie die vielgeschmähten Correspondenten der Wiener ›centralistischen‹ Blätter die Zustände in Böhmen in nichts weniger als übertriebener Weise geschildert haben; sie begreift, dass es nicht gerechtfertigt war, die Bewegung als eine möglichst unbedeutende hinzustellen«. Ein Beispiel für diese Dramatisierung in der Wiener Presse ist ein Artikel in der Presse, .., in dem es heißt, die Schüttenhofener Vorgänge erinnerten durch »ihre cannibalischen Einzelheiten an die Gräuelscenen der französischen Revolution«.  Diese Deutung findet sich auch in der zeitgenössischen Presse. So berichtete die Neue Freie Presse vom .. von an vielen Orten aufgefundenen Drohbriefen, in denen die Ortsvorsteher aufgefordert wurden, die bevorstehenden »Judenhetzen« nicht zu verhindern. Diese seien die Strafe für die Beteiligung der »sämtlichen Judenschaft im Allgemeinen« an den Betrügereien in den Przibramer Bergwerken, die ja Staatseigentum seien. In Budin (Bezirk Libochowitz/Libochowic) seien Pamphlete gegen die Juden gefunden worden, auf denen zu Exzessen am Karsamstag aufgerufen wurde (Wiener Zeitung, Abendpost, ..).

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Aus diesem Anlass bildete sich im Ort eine große, aufgebrachte Menschenenge, die den Slogan »Silber« skandierte, der in Böhmen ähnlich wie der Hep!Hep!-Ruf in Deutschland zu einem antijüdischen Hetzruf wurde. Frankl hält es für mehr als wahrscheinlich, dass der Ruf »Silber«, der von dem Lehrling im Streit mit dem Kaufmann Brunnen zu hören war, zum Auslöser der Unruhen in Hostomitz wurde. Die Meldungen über die Verwicklung von Juden in den Silberdiebstahl, der kurz zuvor wieder ein großes Thema der tschechischen Presse geworden war, hätten für eine Verschlechterung der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen in Böhmen gesorgt und waren damit der wichtigste Grund für den Ausbruch und die weite Verbreitung der Unruhen. Eine antijüdische Stimmung war in den Kneipengesprächen spürbar, Kinder und Lehrlinge beleidigten Juden mit »Silber!«-Rufen oder griffen sie auch physisch an.135 Der Silberdiebstahl bestätigte die vorherrschenden Stereotypen über unehrenhafte jüdische Geschäftspraktiken und hat so möglicherweise das Vertrauen in die ökonomischen Beziehungen zwischen Christen und Juden für eine kurze Zeit erschüttert, so dass man sich von den Juden ökonomisch bedroht sah.136 Dabei kommt noch ein weiterer Aspekt ins Spiel, der in den Unruhen in Deutschland in dieser Zeit ebenfalls eine wichtige Rolle spielte (so in den Fällen Laudenbach und Wiesenfeld in Bayern , s. Kap. .), nämlich lokale Konflikte über die Judenemanzipation und die Zuwanderung in Orte, in denen Juden vorher kein Wohnrecht besaßen, was auf Widerstand der einheimischen Bevölkerung, insbesondere der direkten wirtschaftlichen Konkurrenten stieß. Eine solche, z. T. massive Zuwanderung in den Jahren nach  lässt sich auch an vielen böhmischen Orten erkennen (Příbram, Hostomitz, Schüttenhofen u. a.), wobei es vor allem der rasche ökonomische Aufstieg und die lokale Mitbestimmung waren, an denen sich der Unmut der nicht-jüdischen Einwohner entzündete.137 Da die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung bei den Gemeinden lag, machten die Einwohner zumeist Leute von außerhalb für den Ausbruch der Unruhen verantwortlich.138 Dies traf zum Teil auch zu, da die Unruhen häufig an Markttagen ausbrachen, an denen viele Dorfbewohner und jüdische Händler aus der Umgebung in die Kleinstädte kamen, doch waren durchaus auch die Einheimischen an der Gewalt beteiligt, wie die offiziellen Untersuchungen ergaben. Der Ausbruch der Gewalt konnte durchaus von Konflikten zwischen einheimischen Juden und Nicht-Juden herrühren, während Menschen von außerhalb in der Hoffnung auf Plünderungsgut erst in die Städte strömten, wenn die Unruhen 

Frankl, Silver, S. -. Die AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) schreibt der Verwicklung des jüdischen Kaufmanns Taussig eine wichtige Rolle zu, da dieser »von der czechischen Partei zur ostensiblen Veranlassung zahlreicher Judenhetzen ausersehen wurde«.  Ebd., S. .  Ebd., S. .  Das Versagen bzw. die Passivität mancher von den Bürgern gewählter Gemeindevertretungen traf einen empfindlichen Punkt, da die Übergabe der lokalen Gewalt an diese Vertretungen als eine wichtige Errungenschaft zur Stärkung der örtlichen Autonomie angesehen wurde. Dieser Punkt wird von der Zeitung Die Debatte unter Bezugnahme auf die Prager Zeitung Politik angesprochen. Zugleich wird auch auf das Versagen der »unzähligen Vereine«, die in den letzten Jahren gegründet worden waren, hingewiesen (..).

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bereits ausgebrochen waren. Frankl betont zudem, dass es sich bei den aus der Umgebung in die Stadt kommenden Personen häufig keineswegs um völlig fremde handelte, sondern dass sie in der Stadt durchaus bekannt waren und dort berufliche wie private Verbindungen besaßen.139 Frankl weist darauf hin, dass in Böhmen, insbesondere in Prag, antijüdische Ausschreitungen kein neues Phänomen gewesen seien, da es dort schon  Ausschreitungen der Textilarbeiter gegeben hatte und im Revolutionsjahr  (s. Kap. ) sowie im Sommer  wiederum in Prag größere Unruhen vorgekommen waren (s. o.), doch seien die böhmischen Unruhen von  in ihrer Stärke, ihrer Dauer, der weiten regionalen Verbreitung und ihrer Konzentration auf eine ländliche Gegend etwas Neues.140 Vor allem Markttage in kleineren Städten bildeten den Ausgangspunkt der Gewalt, die in den größeren Städten kaum Widerhall fand (in Prag und Pilsen gab es nur kleinere Vorfälle). Erst  und  sollte es dort wieder zu antijüdischer Gewalt in diesem Ausmaß kommen. Michal Frankl diskutiert eine ganze Reihe möglicher Konfliktursachen: wirtschaftliche und soziale Krisen bzw. christlich-jüdische Konkurrenz, tschechischen Nationalismus, Konflikte über neue Rechte der Juden im Zuge der Emanzipation, die Rolle von Priestern und ökonomischen Kooperativen usw. Er deutet an, dass in der Region, in der die Unruhen ihren Ausgang nahmen (Hostomitz), zwar der Niedergang der vorherrschenden Bergbau- und Metallindustrie eine Rolle für den Ausbruch der Gewalt gespielt haben könnte, doch da die Unruhen sich schnell über fast ganz Böhmen erstreckten, kommt diesem wirtschaftlich-sozialen Faktor wohl nicht die entscheidende Bedeutung zu.141 Dennoch war der Aspekt des wirtschaftlichen Abstiegs dieser Region, insbesondere auch der zuvor angesehenen, »bürgerlichen« Nagelschmiede, und der Sozialneid auf die relativ wohlhabenderen jüdischen Kaufleute als eine eher mittelfristig wirkende Ursache wichtig, wie sich auch im Charakter der Unruhen zeigt, die auf eine zeitwillige Umkehr der sozialen Hierarchie zielten (man stahl die Kutsche eines Juden und fuhr damit »wie ein Herr« herum). Es ist also Michal Frankls Resümee beizustimmen, dass der Ausbruch antijüdischer Gewalt aus seiner Kombination ganz verschiedener Motive resultierte (Příbram-Affäre, Armut und sozialer Abstieg, Spannungen durch die Emanzipation und Zuwanderung von Juden, der tschechische Nationalismus, der Konflikt zwischen Zentralisten und Föderalisten, der österreichisch-preußische Krieg usw.), die zu einer angespannten Situation führten, in der ganz unterschiedliche, an sich  Frankl, Silver, S.  f.  Ebd., S. . Die weite Verbreitung und Kenntnis der Vorgänge vom März  spiegelt sich auch darin, dass das humoristische Volksblatt Kikeriki in Wien in der zweiten Märzhälfte  wöchentliche Karikaturen zu der Przibramer-Bergwerksaffäre wie auch zu den antijüdischen Unruhen brachte (Nr. , .., Nr. , ..; Nr. , ..). Dabei schreckte das Blatt auch nicht davor zurück, die antijüdische Gewalt »humorvoll« zu präsentieren, indem sie etwa ein Bild (Neueste Nachrichten aus Böhmen) von am Boden liegenden Juden mit der Unterschrift versah: »Die Juden sind sehr niedergeschlagen« (Nr. , .., S. ).  Frankl, Silver, S. .

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unbedeutende soziale, ökonomische und persönliche Konflikte in Gewalt mündeten, wobei mit der Příbram-Affäre und dem darauf Bezug nehmenden »Silber«-Ruf ein Auslöser gegeben war.142 Die Ausläufer der böhmischen Unruhen in Mähren und Galizien Über vereinzelte Konflikte aus Böhmen wird auch noch im Sommer des Jahres  berichtet. Zugleich begannen im April auch antijüdische Ausschreitungen im benachbarten Mähren und Galizien, die bis in den Sommer hinein auftraten, allerdings nur einen geringen Umfang hatten. Ein erster »Exzess« wurde aus dem von Bergleuten bewohnten böhmischen Soborten/Sobědruhy (b. Teplitz/Teplice) berichtet, wo sich der übliche Verlauf beobachten lässt: Drei betrunkene Bergleute randalierten in der Judengasse und warfen mit Steinen die Fenster ein, ein schnelles Eingreifen der zuständigen Behörden machte dem rasch ein Ende.143 Am . April ereigneten sich ähnliche Übergriffe im mährischen Proßnitz (Prostějov), wo die Judenstadt eine selbständige Gemeinde bildete.144 Es muss noch an zahlreichen anderen Orten zu ähnlichen Vorfällen gekommen sein. Der Israelit berichtet über Unruhen im mährischen Jamnitz (Jemnice), wo sich am . Juli  eine Menschenmenge »unter Lärmen und Drohungen« vor einer jüdischen Branntweinschänke versammelte, wobei es zu Plünderungen kam. Zehn Tage später versammelte sich dort wiederum eine Menschenmenge, die nun den Juden vorwarf, sie hätten für die Preußen im preußisch-österreichischen Krieg Lieferungen besorgt. Durch das Einschreiten von Behördenvertretern kam es nicht zu Plünderungen, es gab einige Festnahmen, die die Unruhe beendeten.145 Nicht nur aus Böhmen und Mähren, sondern auch aus dem habsburgischen Galizien wird im Mai/Juni  von antijüdischen Ausschreitungen in Tarnow (. Mai), Mielce (bei Krakau, . Juni) und Krakau (. August) berichtet.146 In Tarnow waren es die wegen des bevorstehenden österreichisch-preußischen Krieges einberufenen, aber kurzfristig beurlaubten polnischen Soldaten, die in betrunkenem Zustand drohten, die »Juden umzubringen«, und in die Judengasse zogen, wo sie nicht nur Läden zerstörten und plünderten, sondern auch deren Inhaber, Deutsche wie Juden, verprügelten und z. T. wohl auch lebensgefährlich verletzten. Der alarmierte Oberbefehlshaber ließ sofort Patrouillen und Husaren ausrücken, die Randalierer festnehmen und sogleich öffentlich mit Stockhieben bestrafen. Die AZJ zitiert einen Bericht aus Olmütz, wonach auch in den böhmischen Städten alle jüdischen und deutschen Läden schlössen, wenn tschechische Beurlaubte einrückten, da sie nicht nur um ihr Eigentum fürchten müssten, sondern auch physische Übergriffe zu gewärtigen hatten. Auch dies spricht für nationalistische Motive     

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Ebd., S. .

AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

Die Debatte, ... Der Israelit, Heft , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f., und , .., S. .

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als eine Ursache der Krawalle.147 Für viele dieser Vorfälle waren Militärpersonen verantwortlich, so wenn ein Militärabschieder148 am . Mai  einen jüdischen Arzt und weitere weibliche Familienmitglieder in Entschob b. Sobieslau (Soběslav), nördlich von Budweis, misshandelte und Zerstörungen in dessen Wohnung anrichtete. Er wurde als Hauptruhestörer verhaftet, und man traf Sicherheitsvorkehrungen für den nächsten Jahrmarkt in Sobieslau; da »allerhand übertriebene Nachrichten von förmlichen Revolten, Raub und Todtschlag« zirkulierten.149 In Situationen, in denen junge Männer entweder im Zuge von Musterungen und Einberufungen oder auf Urlaub oder bei Entlassung aus dem Militärdienst in größeren Gruppen auftraten, bestand die Gefahr von Ausbrüchen kollektiver Gewalt, die sich gegen Juden, aber auch andere verfügbare Ziele richteten konnten. Im galizischen Bezirk Mielce hingegen sollen es Bauern aus der Umgebung der Stadt gewesen sein, die – wohl auch an anderen Orten – die judenfeindlichen Exzesse verübten. Die K. Z.150 wird mit der Aussage zitiert, dass sich in Galizien in der polnischen Bevölkerung »eine fanatische Erbitterung gegen die Juden« kundtue. In Mielce wurden die Unruhen schnell durch das aufgebotene Militär erstickt.151 In der Zeitschrift Der Israelit wird betont, dass die Exzesse sich in dem Mielcescher Bezirk darauf beschränkt hätten, in den Wirtshäusern zweier Orte Branntwein in einer jüdischen Kneipe erpresst und eine Jüdin misshandelt zu haben. Aufgrund weiterer Drohungen über bevorstehende Plünderungen habe die jüdische Gemeinde um Schutz gebeten, woraufhin fünfzig Soldaten dorthin entsandt worden seien, die auch Verhaftungen vorgenommen hätten. Daraufhin sei es in dem Gebiet ruhig geblieben.152 In Krakau gab es Übergriffe seitens des »Volks der untersten Schichten«, als Juden einen als Spion hingerichteten Glaubensgenossen zum Begräbnis in die Stadt schaffen wollten. Sie wurden verfolgt und mit Steinen beworfen, und man versuchte, ihnen die Leiche zu entreißen.153 Wie angespannt die Lage im Habsburgerreich war und wie scharf die Behörden auf die Verbreitung von Gerüchten reagierten, belegt ein Prozess in Wien, in dem der Herausgeber einer Lokalkorrespondenz wegen der Verbreitung beunruhigender Gerüchte und Ehrbeleidigung bestraft wurde. Er hatte im März , angeregt durch einige »Judenhetzen, wie sie damals in Böhmen vorfielen«, von Misshandlungen von Juden in Wiener Vorstädten berichtet. Dies hatte sich dann als haltlos erwiesen.154

 Ebd., S. .  Militärabschieder ist ein im Österreichischen gebräuchlicher Begriff für Personen, die aus dem Militär ausgeschieden sind, ihren Abschied bekommen oder genommen haben.  Der Israelit, Heft , .., S.  (unter Bezugnahme auf das Wiener Fremdenblatt).  Vermutlich ist die Österreichisch-Kaiserlich privilegierte Zeitung gemeint, die allerdings ab  nur noch Wiener Zeitung hieß.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Der Israelit, Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Der Israelit, Heft , .., S. .

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. Eine Stadt der Pogrome: Odessa - Mit der Pogromwelle von / sollte das Zarenreich geradezu zum Hort gewaltsamer antijüdischer Unruhen werden, für die sich später der Begriff »Pogrome« durchsetzte. Tatsächlich war es aber bis zu dieser Zeit von kollektiven Gewaltausbrüchen gegen Juden weitgehend verschont geblieben – mit einer Ausnahme: der Stadt Odessa.1 Das ethnisch sehr stark gemischte Odessa gehört zu den Städten des Zarenreiches, in denen es sehr früh und wiederholt zu antijüdischen Unruhen kam (, , , , ). Die Schwarzmeerküste war erst nach zwei Kriegen gegen das Osmanische Reich Ende des . Jahrhunderts unter russische Herrschaft gelangt und als Neurussland ein Ansiedlungsgebiet für Zuwanderer geworden. Die russische Regierung förderte die Einwanderung in dieses neu erworbene Territorium und erlaubte es auch Juden und sogar entlaufenen Leibeigenen, sich dort anzusiedeln, so dass dort eine Art »frontier«-Situation mit einem großen Männerüberschuss entstand, ähnlich dem »Wilden Westen« der USA. Odessa war eine  neu gegründete Stadt, die ein schubweises, starkes Bevölkerungswachstum erlebte: waren es  noch . Einwohner gewesen (drei viertel davon Männer), so stieg die Zahl bis  schon auf .-. und bis  auf . (davon   Juden), was die Stadt zur viertgrößten des Zarenreiches machte. Odessa wurde zu einer bedeutenden Hafenstadt, die von ihrer multiethnischen Bevölkerung geprägt war. Nach Robert Weinberg zog die Hafenstadt, die einen kometenhaften wirtschaftlichen Aufschwung durch den Handel mit Weizen erlebte, Tausende von Migranten an, die in diesem »Eldorado« ihre ökonomische Chance suchten.2 So gab es jeweils größere Minderheiten von Griechen, Juden, Deutschen, Italienern, Franzosen, Polen, Karaiten. Russen, und Ukrainer stellten anfangs ebenfalls nur eine Minderheit von einem Viertel der Gesamtbevölkerung.3 Wie wir zu Beginn des . Jahrhunderts sehen können, spielten die starke Zuwanderung und die multiethnische Zusammensetzung der Städte in Südwestrussland (z. B. Kishinev) eine wichtige Rolle für ethnische Spannungen und das hohe Ausmaß an ungeregelter Gewalt.4 Für Juden war Odessa attraktiv, da es ihnen weit mehr Chancen bot als der überbevölkerte Ansiedlungsrayon, so dass Ende des . Jahrhunderts von den ca. . Einwohnern . Juden waren (. Russen, . Ukrainer, .  Im Jahre  hat es nahe Odessa in der Stadt Akkerman (heute Bilhorod-Dnistrowskyj im Oblast Odessa im Südwesten der Ukraine) in der Osterzeit geringfügige Ausschreitungen gegen Juden gegeben. A. Linden nennt diesen Vorfall und die Unruhen von Odessa »eine Anomalie« (Prototyp des Pogroms S. ).  Robert Weinberg, Visualizing Pogroms in Russian History, in: Jewish History , No. , , S. -, hier S. .  Hierzu und zum Folgenden Zipperstein, The Jews of Odessa, S.  ff., dort ausführlich zur wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung der Stadt.  Siehe auch Edward H. Judge, Urban Growth and Anti-Semitism in Russian Moldavia, in: ders./J. Y. Simms, Jr. (Hrsg.), Modernization and Revolution: Dilemmas of Progress in Late Imperial Russia, New York , S. -.

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Polen und . andere Gruppen),5 wovon nur jeder Sechste in der Stadt auch geboren war. Die Juden Odessas, zumeist durch die wirtschaftlich dynamische, kulturell offene und internationale Atmosphäre der Hafenstadt stärker assimiliert, spielten von Anfang an eine wichtige Rolle im Getreidehandel, im kommerziellen Leben der Stadt und auch in der Lokalpolitik – was im Zarenreich eine Ausnahme darstellte –, auch wenn die Mehrheit zu den ärmeren Bevölkerungsschichten gehörte und als Tagelöhner am Hafen und als Kleinhändler arbeitete. Für die Integration der Juden spricht, dass es zunächst kein Judenviertel gab, sondern dass sie verteilt in der Stadt wohnten; die Reicheren eher im Zentrum, die Ärmeren in den Vierteln Moldavanka und Peresyp, Stadtviertel, in denen sich seit den er Jahren die zahlreichen Zuwanderer niederließen. Die Juden Odessas wurden als eine wirtschaftliche Mittelschicht von den russischen Behörden geschätzt und gefördert, zumal es keine bedeutende russische oder ukrainische Mittelschicht gab.6 Diese Haltung begann sich in den er Jahren zu verändern, als die jüdische Wirtschaftstätigkeit von der kapitalismus- und industrialisierungskritischen russischen Intelligenz zunehmend mit Argwohn betrachtet wurde, zumal einige sehr reich gewordene jüdische Finanziers als »russische Rothschilds« die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Hinzu kam eine neue Regelung, dass Nicht-Christen nur ein Drittel der Sitze im Stadtrat besetzten durften, was sich vor allem in Odessa bemerkbar machte.7 Zwischen  und  erlebte Odessa einen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung und entwickelte sich zu einem internationalen Seehafen. Dies fiel zusammen mit einer zweiten Welle jüdischer Zuwanderer.8 Früher als in anderen Städten des Zarenreiches erlebte Odessa bereits  die ersten Ausschreitungen gegen Juden, gefolgt von weiteren in den Jahren  und , die primär aus Konflikten mit den ansässigen Griechen resultieren. Hintergrund war die Konkurrenz im Kornhandel, der zunächst das Monopol der Griechen gewesen war, doch spielte auch der religiöse Gegensatz eine wichtige Rolle, zumindest bildeten religiöse Konfrontationen den Auslöser der Unruhen. Im Jahre  kam es zu ersten heftigen Unruhen, deren Hintergrund der griechische Freiheitskampf gegen die osmanische Herrschaft bildete. Den Juden wurden unterstellt, eher die Osmanen zu unterstützen als die griechischen Aufständischen. In Griechenland selbst, wo in der ersten Phase des Befreiungskampfes auf der Peleponnes Tausende von Juden getötet und somit die dortigen jüdischen Gemeinden ausgelöscht wurden,9 und in Moldawien hatte dies, verbunden mit einer Ritual    

Zipperstein, The Jews of Odessa, S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Vgl. Hagen Fleischer, Griechenland, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, München , S. -; Bernard Pierron, Juifs et chrétiens de la Grèce modern. Histoire des relations intercommunautaires de  à , Paris , Kap. .

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mordbeschuldigung, schon zu antijüdischen Gewalttaten geführt.10 Das Pogrom von Odessa gehört in diesen Kontext. Der konkrete Auslöser war die Überführung des von den Osmanen hingerichteten griechisch-orthodoxen Patriarchen Gregor V. nach Odessa, das lange Jahre ein Zentrum des griechischen Aufstandes war. Griechen aus Konstantinopel sollen das Gerücht verbreitet haben, Juden hätten sich an der Ermordung des Patriarchen beteiligt. Gleich nach dessen Beisetzung am . Juni begannen Griechen in Gruppen gleichzeitig an mehreren Stellen jüdische Häuser und Geschäfte anzugreifen, was für eine Verabredung der Aktionen spricht. Die Unruhen forderten mehrere Todesopfer. Bis zum Nachmittag desselben Tages hatte die Polizei die Gewalt beendet, nachdem sie schon zuvor die jüdische Bevölkerung gewarnt und empfohlen hatte, in den Häusern zu bleiben. In Folge des Krimkrieges (-) verlor der Hafen Odessas seine zentrale Stellung für den Getreideexport, in dem die Griechen der Stadt die führende Rolle spielten, während Juden häufig als »Middlemen« agierten. Griechische Firmen gingen Bankrott und viele zogen sich aus dem Getreidegeschäft zurück, eine Lücke, die jüdische Kaufleute erfolgreich zu nutzen verstanden und die nun ihrerseits eher jüdische Arbeiter auf den Docks einstellten, so dass griechische Arbeiter arbeitslos wurden.11 Diese dramatischen Statusverschiebungen verschärften in den späten er Jahren die traditionell bestehenden griechisch-jüdischen Spannungen, und es gab immer wieder vor allem zur Osterzeit Übergriffe gegen Juden von Seiten griechischer Seeleute.  kam es wiederum zu einem kleineren antijüdischen Aufruhr, den die Polizei nur durch den Einsatz von Wasser aus Feuerwehrschläuchen auflösen konnte. Ein Jahr später brach dann ein größeres Pogrom aus, als ein Ritualmordgerücht, kolportiert von einem griechischen Seemann, der von einem Ritualmordfall in Galaţi (Moldawien) berichtete, verbreitet wurde. D. h., wiederum verbanden sich hier religiöse Empfindlichkeiten mit ökonomischen Spannungen. Dreihundert Seeleute, unterstützt von einheimischen Griechen, griffen Bewohner eines jüdischen Viertels mit Messern an und verletzten dabei viele, es gab auch einen Todesfall. Die Gewalt hielt zwei Tage an und breitete sich über die gesamte Stadt aus, wobei die Pogromisten nun alle attackierten, die europäisch-modern gekleidet waren – ein Zeichen dafür, dass die Juden Odessas ihre traditionelle  Die Geschichte antijüdischer Ausschreitungen in Odessa besitzt eine auffällige Parallele in der Geschichte der nicht weit entfernt liegenden moldawischen Stadt Galaţi (im Fürstentum Moldau), in der ebenfalls die lokale griechische Kolonie Träger antijüdischer Gewalt war. Ebenfalls  waren es dort Revolutionäre des griechischen Aufstandes gegen die osmanische Herrschaft, die in die Stadt kamen und mehrere Synagogen anzündeten. Weitere Ausschreitungen lokaler Griechen gab es dann ,  und (wie in Odessa) , wo Synagogen geplündert und jüdische Häuser und Läden zerstört wurden.  wurden bei den Unruhen mehrere Juden getötet. Bereits  hatte es dort zudem Übergriffe gegen Juden aufgrund einer Ritualmordanschuldigung gegeben. Vgl. dazu: Haim Karl Blum/ Lucian Zeev-Hersovici, Galaţi, in: Encyclopedia Judaica, . Aufl., Vol. , Denver , S. .  Weinberg, Visualizing Pogroms, S.  f.

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Kleidung abgelegt hatten. Der Polizei gelang es lange Zeit nicht, diesen Aufruhr zu unterbinden. Das dreitägige Pogrom zu Ostern  folgte diesem Muster.12 Die Osterzeit war die übliche Zeit für Kämpfe zwischen Juden und Christen, da die Christen nach John D. Klier in dieser Zeit in Hochstimmung waren und der öffentliche Charakter des orthodoxen Gottesdienstes üblicherweise auch eine größere Menge neugieriger jüdischer Zuschauer anzog, eine Situation, in der es in jedem Jahr zu Auseinandersetzungen zwischen christlichen und jüdischen Jugendlichen kam, die sich gegenseitig mit Steinen bewarfen. Daraus sind in einer Reihe von Fällen regelrechte Pogrome entstanden, so auch  das Pogrom in Odessa13 Wieder nahm dort die Gewalt den Ausgang von einem Gerücht, und wieder ging sie zunächst von den Griechen aus. Es hieß, Juden hätten am Ostersonntag (. April )14 eine im jüdischen Viertel gelegene griechisch-orthodoxe Kirche und einen Friedhof geschändet, indem sie das Kreuz der Kirche vom Dach gestohlen hätten. Nach einer anderen Version hätten sich griechische Gottesdienstteilnehmer am Osterabend auf dem Hof einer Kirche versammelt und dabei Lärm gemacht. Daraufhin habe ein Jude einen Stein in den Hof geworfen und eine Person damit verletzt, was die glaubhaftere Version sein dürfte. Ziel der Übergriffe waren zunächst Häuser von Juden in der Umgebung der Kirche. Offenbar griffen die Behörden zunächst nicht ein, da sie die »unangenehmen Szenen« als unbedeutend einschätzten. Am Ostermontag war die Menge stark angewachsen, da sich neben den Griechen nun auch viele Russen und Ukrainer beteiligten und »tobend und brüllend« durch die Straßen zogen, die Scheiben von jüdischen Häusern einschlugen und begannen, »in Gegewart der Polizeiorgane auf dem alten Markte die armen jüd. Händler zu plündern und zu berauben, ohne daß gegen sie eingeschritten wurde« .15 Die Angriffe weiteten sich aus, da die Angreifer sich in mehrere Gruppen aufteilten, um Straßen zu attackieren, in denen eher Juden aus der Mittelschicht wohnten bzw. ihre Geschäfte besaßen, wobei es z. T. eine erfolgreiche Gegenwehr von jüdischen und nicht-jüdischen Kaufleuten gab. Die Menge plünderte mehrere Geschäfte und warf die Fenster der beiden Synagogen ein. Polizei und Kosaken griffen nicht ein,  Die folgende Darstellung stützt sich auf Zipperstein, The Jews of Odessa, S.  ff.  Klier, Russians, Jews and the Pogroms, S. .  Vermutlich irrtümlicherweise datiert Zipperstein, The Jews of Odessa, S. , den Beginn der Ausschreitungen auf den . Mai , einen Donnerstag, obwohl etwa die AZJ bereits am . Mai  über diese Ostern (. April) ausgebrochenen Ausschreitungen berichtet und dabei auch Zeitungen aus Odessa und Petersburg zitiert. Das griechisch-orthodoxe Osterfest fiel im Jahre  nach dem julianischen Kalender auf den . März. Auch Zipperstein beruft sich auf Zeitungsberichte vom April .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Für Weinberg zeigt die Tatsache, dass solche Gerüchte in ein Pogrom münden konnten, dass die christlich-jüdischen Beziehungen in der Stadt keineswegs so gefestigt waren, wie es das Bild des multinationalen Odessa suggerierte, denn die Griechen waren nicht die einzigen Einwohner, die Juden als Bedrohung empfanden, vor allem unter der russischen Bevölkerung waren antijüdische Einstellungen verbreitet (Visualizing Pogroms, S. ).

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obwohl sich dies vor ihren Augen – vor der Hauptwache – der Polizei abspielte. Am späten Nachmittag soll die Menge Tausende gezählt haben, die das prächtige Haus des Bankiers David Raffalovich total demolierten, was endlich zum Eingreifen der Behörden führte.16 Doch das Pogrom breitete sich am dritten Tag und in der Nacht sogar über die ganze Stadt aus. Der Korrespondent der AZJ nannte diesen Tag den »schrecklichsten von den ›Schreckenstagen Odessas‹, denn das »Rauben und Plündern wurde im großartigsten Maßstabe fortgesetzt«. Man beschränkte sich nicht länger auf das Einwerfen von Fenstern, sondern begann nun, angestachelt durch ein Gerücht, der Zar habe das Plündern erlaubt,17 in die Häuser der Juden einzudringen, den Besitz zu zerstören, Bücher und Schriften auf die Straße zu werfen und die Habe zu plündern. Durch den Konsum geraubter Alkoholvorräte artete das Pogrom zu einem regelrechten Bacchanal aus, in dem sich die Lust zu quälen mit einer festlichen Stimmung verband, in der Menschen auf den Straßen tanzten. Wie die von Vasilii V. Vakhrenov gemalten Bilder des Pogroms zeigen, geschah dies alles vor den Augen gut betuchter männlicher wie weiblicher Zuschauer, die z. T. von ihren Kutschen aus den Plünderungen ebenso zusahen wie dem Eingreifen des Militärs.18 Die Bilder zeigen, dass auch nichtjüdische Einwohner, die ihr Eigentum etwa durch das Zeigen von Ikonen als christliches Haus zu schützen suchten, was aber nicht immer gelang.19 Eine Delegation jüdischer Honoratioren wurde an diesem Morgen des dritten Tages beim deutsch-baltischen Gouverneur Paul Demetrius Graf von Kotzebue vorstellig und drängte auf einen massiveren Einsatz der Polizei, wurde aber vom Gouverneur mit der Begründung hinausgeworfen, die Juden seien selbst schuld. Er sicherte aber zugleich die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung zu.20 Tatsächlich wurden nun stärkere Gegenmaßnahmen getroffen. Das Militär machte von der Schusswaffe Gebrauch, und es wurde sogar Artillerie in den Straßen postiert. Mehrere tausend Mann sollen per Telegraph in die Stadt beordert worden  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Unter Berufung auf die Neue Freie Presse (Odessa) berichtet die AZJ aus St. Petersburg, dass die gerichtliche Untersuchung unzweifelhaft ergeben habe, »daß die Leute überzeugt gewesen waren, die Regierung habe erlaubt, drei Tage hindurch Exzesse gegen die Juden zu begehen und insbesondere ihre Vermögensobjekte zu zerstören«. Als Beleg habe die Menge das Nichteingreifen von Polizei und Militär gewertet (Jg. , Heft , .., S. ).  Weinberg, Visualizing Pogroms, S. , vgl. dort die Abbildungen Nr.  zu den tanzenden und saufenden Pogromisten, die Abb. Nr. , , , ,  zeigen die Zuschauer aus den höheren Schichten.  Ebd., Fig.  und .  Weinberg, Visualizing Pogroms, S.  und Fig. , führt den Meinungswandel des Generalgouverneurs Kotzebue darauf zurück, dass die Pogromisten sich zu seiner Residenz aufgemacht hätten, wo er sie in harschem Ton anherrschte, was diese mit Steinwürfen beantworteten, da sie wohl eher Zuspruch erwartet hatten. Erst in Reaktion darauf soll Kotzebue Maßnahmen zur Beendigung des Pogroms angeordnet haben, da die Pogromisten mit diesem Angriff die Grenze zwischen erlaubter antijüdischer Gewalt und gefährlichen Aktionen gegen die staatliche Autorität überschritten hatten.

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sein.21 Die Pogromisten wichen nun aus dem wohlhabenderen Zentrum der Stadt ins ärmere Moldavanka-Viertel aus, wo der Aufruhr weiterging und an Intensität sogar noch zunahm, da wiederum ein Gerücht auftauchte, dass die Regierung in Petersburg die Gewalt billige, solange kein Blut vergossen werde. Nun beteiligten sich auch Soldaten, Bauern aus der Umgebung, russische Handwerker, Arbeiter und Kaufleute an den Ausschreitungen, wobei  Wohnungen zerstört wurden und man die Mauer der großen Synagoge im Zentrum Odessas einriss, TorahRollen schändete, Häuser und Geschäfte in Brand setzte. Trotz ihres hohen Bevölkerungsanteils versuchten die Juden nicht, sich heftig zu verteidigen oder sich anschließend zu rächen. – Es soll auch in den umliegenden Dörfern bei Odessa zu Misshandlungen der Juden gekommen sein.22 Die Schadensbilanz ging weit über die der früheren Fälle von  und  hinaus. In den Darstellungen werden unterschiedliche Zahlen angegeben: Die Angaben schwanken zwischen sechs bis  Toten und zwischen  und sechzig schwerer Verwundeten (darunter auch Christen), zudem soll es weitere Verletzte unter den Soldaten gegeben haben.  Häuser,  Geschäfte und auch mehrere Synagogen wurden zerstört.23 Der materielle Schaden war enorm. Hunderte jüdische Familien waren obdachlos, Warenlager waren verwüstet und geplündert worden, so dass Hunderte Familien wirtschaftlich ruiniert waren.24 Aufgrund der Insolvenz vieler jüdischer Geschäftshäuser befürchtete man eine wirtschaftliche Krise im südlichen Russland.25 Obwohl Polizei und Militär sehr spät eingriffen, wurden doch über tausend Pogromisten verhaftet,26 einige davon peitschte man öffentlich aus.27 Der Magistrat Odessas zahlte Entschädigungen an die betroffenen Juden. – Ein rückblickender Artikel in der Neuen Freien Presse Odessas gab der Verwunderung Ausdruck, dass nach einem großen Aufschrei aller Zeitungen in europäischen Ländern, im Zarenreich und in jüdischen Zeitungen die Berichterstattung ganz plötzlich abgebrochen sei, selbst in den jüdischen Blättern. Auch die ausländischen  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Nach Zipperstein, The Jews of Odessa, S. -, wurden sechs Juden getötet und  verletzt. Über tausend Häuser und Geschäfte von Juden wurden zerstört. Andere Zahlen brachte die AZJ im Juni :  Tote, sechzig Schwerverwundete, Schändung von Frauen, Ausraubung von Synagogen (Jg. , Heft , .., S. ). Ob es tatsächlich zu Vergewaltigungen in größerem Stil gekommen ist, ist allerdings umstritten.  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  (Bericht vom . April).  So die AZJ unter Berufung auf die Petersburger Zeitung (Jg. , Heft , . Juni , S. ).  Die AZJ berichtete unter Berufung auf den im Russischen Generalanzeiger veröffentlichten Bericht des Generalgouverneurs von Odessa von . Verhafteten (Jg. , Heft , .., S. ). Dort werden folgende Opferzahlen angeführt: zehn Tote, zwanzig Verletzte plus  von Steinwürfen verwundete Soldaten.  Die Bilder des Pogroms von Vakhrenov zeigen, dass Soldaten einerseits durchgriffen, Pogromisten verhafteten oder z. T. an Ort und Stelle auspeitschten, dass sie in anderen Fällen aber auch ruhig zusahen oder gar die Seiten wechselten und sich am Pogrom beteiligten (Weinberg, Visualizing Pogroms, S. , Fig. , . ).

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Konsulate und die betroffenen Juden würden sich nicht mehr äußern und nach den Entschädigungen und weiteren Maßnahmen fragen. In dem Artikel wird dies teils auf die Wirkung der russischen Zensur zurückgeführt, teils auf Entstellungen des Sachverhalts in der Presse (etwa in der Petersburger Zeitung Golos), wonach die Juden die griechische Kirche gestürmt und geplündert hätten, so dass die Griechen in Notwehr handelten. Zudem seien die Juden, unter dem »Einfluss des behördlichen Terrorismus stehend«, zu eingeschüchtert, um sich öffentlich zu beklagen.28 Der Verfasser des Artikels beschuldigt allein die Griechen als Täter, Russen hätten sich nicht beteiligt. Seiner Meinung nach ging es auch nicht um Religionshass, sondern die Griechen hätten »aus gemeinem Krämerneid«, aus »Hab- und Raubsucht« gehandelt. Diese sei unter den Griechen schon länger latent vorhanden gewesen und das Osterfest sei nur als Anlass benutzt worden. Der Brauch der Griechen, zum Osterfest Freudenschüsse abzufeuern, habe seit vielen Jahren immer wieder zu anschließenden kleinen Exzessen geführt, zu denen auch das Einwerfen von Fensterscheiben jüdischer Häuser gehörte. Während der frühere Gouverneur sofort eingegriffen habe, habe der gegenwärtige nicht eingreifen lassen. »Die Lauheit der Polizei war so augenfällig, daß selbst der wüthende Pöbel darüber stutzte und sich der Vermuthung hingab, der Kaiser selber wünsche den Exzeß und habe den Behörden die Intervention verboten.«29 Um seine Unterlassungssünden zu vertuschen, behindere der Gouverneur die Aufklärung durch Zensur und Bürokratismus. Wo lagen die Ursachen für diesen heftigen Gewaltausbruch? Der amerikanische Konsul in Odessa betonte in seinem Bericht nach Washington ebenfalls den ökonomischen Konflikt zwischen Griechen und Juden. Die Griechen (die mit ca. . Personen die Hälfte des jüdischen Bevölkerungsanteils der Stadt ausmachten) »were doing generally the larger and better kinds of commerce«, so dass es »between the Jews and Greeks, therefore are constant jealousies and animosities, originating no doubt, mostly from differences of race and religion, but also, perhaps, excited and encouraged from the collision of business interests.«30 Ein jüdischer Anwalt, M. G. Margolis, sah  in einem Rückblick auf das Pogrom von  die Ursache eher in dem verbreiteten Ressentiment gegenüber dem wachsenden Wohlstand der jüdischen Gemeinde in Odessa. Vor allem der jüngste Erfolg im Getreidehandel, der auf Kosten der griechischen Händler ging, sorgte seiner Ansicht nach für Spannungen. Die Gewalt wäre also der Versuch gewesen, die »aufgeblasenen Juden« in die Schranken zu weisen: »The Jews allegedly had taken on too many airs, and they‚ should be taken down a peg or two«.31 Die Inaktivität der städtischen Behörden erklärte er damit, dass diese den Konflikt als einen Streit zwischen zwei fremden Gruppen angesehen hätten, so dass die Interessen der russischen Bevölkerung nicht tangiert worden seien. Hingegen habe die Regierung in St. Petersburg alarmiert  AZJ, Jg. , Heft , .., S. -.  Ebd., S. . Kursiv gesetzte Zeile im Original gesperrt.  Zit. nach Patricia Herlihy, Odessa: A History, - (Harvard Series in Ukrainian Studies), Cambridge, Mass. , S. .  Ebd.

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regiert, da sie fürchtete, der Aufruhr könne einen revolutionären Hintergrund haben – ihre stete Sorge auch bei allen späteren Pogromen. Eine Untersuchung ergab aber keine Hinweise auf einen »roten Fleck am Horizont«. Der amerikanische Konsul prognostizierte weitere Unruhen in der Zukunft, da der Hass der Griechen und Russen auf die Juden tief verwurzelt sei und zur Intoleranz führen könne.32 Andere Stimmen hatten zuvor noch das friedliche Zusammenleben von Juden und Christen in der Stadt konstatiert. Eine Konsequenz auf jüdischer Seite war, dass diese Gewalt unter jüdischen Intellektuellen erste Zweifel säte, ob der in Odessa eingeschlagene Weg der Assimilation der richtige sei, zumal die nicht-jüdische Intelligenz noch während des Pogroms offen bekundete, die Juden seien selbst schuld an den Unruhen, weil sie in der Stadt eine bedrückende wirtschaftliche Atmosphäre geschaffen hätten, so dass man den Aufruhr als eine Form der Selbstverteidigung verstehen könne.33 Sogar die als eher projüdisch bekannte führende liberale Sankt Petersburgskiia vedemosti sah in den Unruhen den Beweis, dass die jüdische Frage ein dringendes Problem in der russischen Gesellschaft darstelle, das nicht religiös begründet sei, sondern auf der bedrückenden ökonomischen Ausbeutung durch die Juden beruhe. Die Lösung sah die Zeitung in der Auflösung des Ansiedlungsrayons und der Verteilung der Juden über das gesamte Zarenreich in kleinen »unschädlichen« Gruppen. Dies würde ihre ökonomische Macht auflösen. Hier manifestierte sich die antikapitalistische Haltung der russischen Intellektuellen, und es lässt sich generell ein Anstieg antisemitischer Ressentiments in dieser Zeit erkennen.34 – Das Pogrom von  sollte nicht das letzte in Odessa gewesen sein, bereits zehn Jahre später kam es im Zuge der ersten großen Pogromwelle in Teilen des Ansiedlungsrayons auch zu erneuten Ausschreitungen in Odessa.

 Ebd.  »The upper classes proved indifferent, and often openly hostile, to the plight of the Jews: one well-dressed woman was seen riding in a carriage in the midst of the pogromists, pointing out to the mob the house of wealthy Jews. Friendships and business partnerships between Jews and Non-Jews dissolved« (Zipperstein, Jews of Odessa, S. ).  Zit. nach ebd., S.  – Zipperstein wiederum zitiert eine jüdische Zeitung: Vestnik Russkikh Evreev, . Mai .

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. Antisemitische Massenkrawalle in Stuttgart  Die Jahre zwischen der Revolution von / und der Mitte der er Jahre gelten bisher als die ruhigsten Jahre des . Jahrhunderts, was die Verbreitung und Virulenz des Antisemitismus angeht. Diese Phase wird als eine Hochzeit des Liberalismus gesehen, in der es schließlich in vielen deutsche Staaten zur völligen rechtlichen Gleichstellung der Juden kam. Mit dem Jahr  galt dies dann für das gesamte neu gegründete Deutsche Reich. Angesichts dieser Gesellschaftsstimmung bedeutete die Entdeckung eines antisemitischen Massenkrawalls in Stuttgart im Jahre  durch Martin Ulmer eine Überraschung, eine Ausnahme in einer ansonsten ruhigen Zeit.1 Auch wenn die spektakulären antijüdischen Ausschreitungen im deutschen Kaiserreich – Pommern und Westpreußen , Xanten / und Konitz  – inzwischen bekannt sind und man m. E. nicht mehr wie Martin Ulmer von einen Forschungsdesiderat sprechen kann,2 zumal die Gewaltforschung und insbesondere die Untersuchung antijüdischer Gewalt seit ca. zwanzig Jahren einen regelrechten Boom erleben, wird möglicherweise die Stärke antijüdischer Ressentiments in der Phase zwischen  und dem Ausbruch der antisemitischen Bewegung  in Deutschland unterschätzt, wie Henning Albrecht in seinem kürzlich erschienenen Buch für die Aktivitäten der Sozialkonservativen nachweisen konnte.3 Betrachten wir zudem den europäischen Kontext, haben die vorstehenden Ausführungen ja bereits gezeigt, dass diese Phase in der Schweiz, in Franken, Böhmen und Mähren, in Rumänien sowie im Zarenreich durchaus zahlreiche antijüdische Ausschreitungen kannte. Zur Vorgeschichte der Unruhen gehört, dass in Württemberg, wie anderswo, sich in der ersten Hälfte des . Jahrhundert vor allem die Handwerkerzünfte und die Kaufmannsgilden gegen einen Zuzug der Juden in ihre Städte wandten. Das erste Judengesetz von  war von langen und zähen Parlamentsdebatten begleitet gewesen und führte letztlich nicht zur völligen Gleichstellung der Juden, die , also erst ein knappes Jahrzehnt vor den Unruhen erreicht wurde.4 Auch in Stuttgart gab es Widerstand gegen die Ansiedlung von Juden, der jedoch an der Haltung des königlichen Hofes scheiterte, der den Zuzug von Juden befürwortete.5 Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich die Gewalt der Tumultuanten sehr deutlich auch gegen die Vertreter der Staatsmacht, die Polizei, richtete.  Martin Ulmer, Antisemitische Massenkrawalle in Stuttgart – Anlass, Verlauf und Ursachen, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung Bd. , , S. -; eine kürzere Fassung findet sich auch in seinem Buch: Antisemitismus in Stuttgart, S. -. Er betont das weitgehende Ausblenden dieses Ereignisses in der Stuttgarter Stadtgeschichtsschreibung, was auch der schlechten Quellenlage geschuldet sein kann. Seine Analyse stützt sich vor allem auf die Lokalzeitungen (S.  f.).  Ulmer, Antisemitismus in Stuttgart, S.  f.  Albrecht, Antiliberalismus und Antisemitismus.  Vgl. Erb/Bergmann, Die Nachtseite, S. -.  Ulmer, Antisemitische Massenkrawalle, S.  f.; ders., Antisemitismus in Stuttgart, S. .

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Ulmer schildert die Situation in Stuttgart am »Vorabend des Krawalls« als geprägt von wirtschaftlicher Prosperität einerseits, aber auch von latenten Spannungen, da die starke Zuwanderung aus dem Hinterland die Stadtgesellschaft unter Wandlungsdruck setzte. Auch Juden wanderten in größerer Zahl zu, so dass sie ca. ,  der . Einwohner zählenden Stadt stellten. Ulmer betont zudem die im Zuge des Sieges im deutsch-französischen Krieg und der anschließenden Reichseinigung hervorgerufene nationale Hochstimmung, die als Kehrseite auch antifranzösische und antisemitische Ressentiments aufleben ließ.6 Am Nachmittag des . März, kurz vor Ostern, ereignete sich ein Vorfall, der zum Auslöser eines dreitägigen judenfeindlichen Krawalls werden sollte, an dem sich Tausende Stuttgarter Bürger beteiligten.7 Ausgangspunkt war der Streit eines Soldaten mit der jüdischen Textilhändlerin Helene Baruch über die Qualität ihrer Ware.8 Er fühlte sich durch die Händlerin beleidigt und ohrfeigte den dabeistehenden Angestellten, so dass Erstere ihn zum Verlassen des Geschäfts aufforderte. Auf seine Weigerung hin rief sie die Polizei. In einem Handgemenge eines Polizisten mit dem Soldaten, der sein Seitengewehr gezogen hatte, wurde Letzterer leicht verletzt. Die durch den Streit und das Eintreffen der Polizei angelockte große Menschenmenge wandte sich gegen die Polizei und das jüdische Geschäft. Als der Polizist den Soldaten dann abführte, eskalierte die Situation und man begann antijüdische Slogans zu skandieren: »Der Jude muss heraus« oder das traditionelle »Hepp-Hepp«.9 Einige begannen mit Steinen zu werfen, die Läden an den Fenstern herunterzureißen und in das Geschäft eindringen. Die zahlenmäßig schwach besetzte Polizei versuchte die Aufrührer zu verhaften, die die Menge jedoch wieder befreite.10 Zur weiteren Eskalation trug nun das in der Stadt umlaufende Gerücht bei, der Soldat sei tödlich verletzt bzw. er sei von einem Juden totgeschlagen worden.11 Hier lag also nach Ulmer in der Konstellation »deutscher Soldat von einem Juden ermordet« noch eine weitere Zuspitzung, da dies nationalistische Stimmungen entfachte, zumal angesichts des Prestiges, welches das Militär in diesen Jahren genoss.12 Man identifizierte sich mit dem angeblich »deutschen« Opfer und deutete den Angriff als eine anti-deutsche Provokation von jüdischer Seite.13  Ebd., S.  f.  Ulmer, Antisemitische Massenkrawalle, S. ; ders., Antisemitismus in Stuttgart, S. .  In der Darstellung der AZJ heißt es, der Soldat habe sich betrogen gefühlt (Jg. , Heft , ..).  Ulmer, Antisemitische Massenkrawalle, S. .  Bericht der AZJ vom . März (Jg. , Heft , .., S. ).  Die AZJ schreibt selbst noch am .., S. , der Soldat sei schwer verletzt und man fürchte um sein Leben. Es seien aber nicht die äußerlichen Verletzungen, sondern eine in deren Folge entstandene innere Entzündung, die zu dieser Befürchtung Anlass gebe.  Ulmer, Antisemitische Massenkrawalle, S. .  Hier allerdings von einer »Stuttgarter Mordlegende« zu sprechen und diesen Vorfall in den Kontext der Ritualmordbeschuldigung zu rücken, wie Martin Ulmer es tut, geht fehl. Der angebliche Tod eines Erwachsenen nach einem Streit mit einem Juden passt nicht in das Schema des heimlich entführten und rituell geschlachteten Christenkindes. Vielmehr

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Die Gewalt breitete sich am Abend nun immer mehr aus, und die zahlenmäßig schwache Polizei konnte die öffentliche Sicherheit nicht mehr aufrechterhalten und man befürchtete gar, dass der Aufruhr sich zu einer Revolution gegen die Obrigkeit auswachsen könnte, so dass der Bürgermeister Militär aus der Stuttgarter Garnison anforderte, dem es auch gelang, die Menge vom Marktplatz und vom Geschäft der Frau Baruch abzudrängen, doch löste sich diese nicht auf, sondern zog weiter in andere, vom Militär nicht geschützte Stadtteile – eine in Pogromen immer wieder zu beobachtende Strategie. Ihr gelang es in der Nacht immer wieder jüdische Geschäfte zu attackieren. Bei der Verhaftung von Aktivisten (über vierzig Personen) traf die Polizei auf massiven Widerstand der Menge und Verhaftete konnten immer wieder befreit werden. Der Krawall dauerte bis zwei Uhr in der Nacht.14 Die kommunalen und königlichen Repräsentanten zeigten sich entsetzt über das Ausmaß der Unruhen, zumal sie die Ausweitung der antisemitischen Rebellion als Gefahr für die öffentliche Ordnung generell einschätzten. Gemeinderat und königliche Stadtdirektion ließen deshalb eine Bekanntmachung anschlagen, in der dem Mordgerücht widersprochen, an die Ruhe als Bürgerpflicht sowie auf harte Strafen bei fortgesetzter Gewalt hingewiesen wurde. Diese Anschläge wurden jedoch von einzelnen Randalierern bald wieder abgerissen und blieben wirkungslos, denn an beiden folgenden Abenden wiederholten sich die Vorgänge der ersten Nacht. Nachdem schon am Nachmittag Neugierige den »Tatort« besucht hatten, wuchs die Menge im Schutz der Dunkelheit auf mehrere Tausend an, belagerte die Innenstadt, lärmte und warf mit Steinen. Die Spitzen der Stadt erschienen in der Öffentlichkeit, um die Lage zu beruhigen, und wieder wurden Kavallerie und Infanterie eingesetzt. Anders als am ersten Abend wurden nun nicht mehr nur jüdische Läden, sondern auch die Ordnungsmacht selbst zum Ziel der Angriffe. Die militärischen Führer und das Rathaus wurden mit Steinwürfen angegriffen, woraufhin der Marktplatz mit Gewalt geräumt wurde und die Menge sich zerstreute. Die Bilanz von  verletzten Polizisten und Soldaten sowie von zahlreichen verletzten Tumultuanten und die Verhaftung von  Personen belegen den hohen Gewalteinsatz auf beiden Seiten.15 Einige Tumultuanten zogen sich wie in der ersten Nacht in die Gasthäuser zurück, wo man sich antisemitisch erregte, andere setzten in kleinen Gruppen die Steinwürfe auf jüdische Geschäfte fort. Die dritte Nacht bot das gleiche Bild. Angesichts des großen Aufgebots und des entschiedelassen sich viele ähnliche Vorkommnisse aufzählen (s. o. die böhmischen Unruhen von  in Prag, in vielen russischen Pogromen der Jahre /), in denen eine tätliche Auseinandersetzung zwischen einem Gast und einem jüdischer Schankwirt oder einem Kunden und einen jüdischen Händler zum Auslöser von Ausschreitungen gegen Juden wurden, wobei der Vorfall nur in einigen Fällen zum Mordgerücht aufgebauscht werden musste. Dieses Muster ist auch in zahlreichen anderen Mehrheits-Minderheits-Konflikten anzutreffen; d. h., es bedarf nicht der Tradition der Ritualmordlegende. Vgl. für solche Fälle auch Horowitz, The Deadly Ethnic Riot, S.  ff.  Ulmer, Antisemitische Massenkrawalle, S. - (Erste Krawallnacht).  Ebd., S. , zitiert nach: Neues Tageblatt vom ...

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nen Vorgehens der Sicherheitskräfte und dramatischer Presseappelle versammelten sich zwar weniger Menschen als an den Abenden zuvor, doch hatten sich viele nun mit Äxten bewaffnet. Da das Geschäft von Frau Baruch nun streng bewacht war, richtete sich die Gewalt gegen einen anderen Laden, der gerüchteweise mit dem von Frau Baruch in Verbindung gebracht wurde. In kurzer Zeit wurde dieser aufgebrochen und geplündert. Die Polizei konnte vier junge Plünderer verhaften. Zwar hatte sich inzwischen auf dem Marktplatz eine größere Menschenmenge versammelt, doch blieb es ruhig und der Krawall ging dem Ende zu.16 In den folgenden Nächten sorgten dann Feuerwehr, Schützengilde und Stadtreiterei für die Aufrechterhaltung der Ordnung, da diese im Gegensatz zur Polizei, deren hartes Vorgehen zu zahlreichen Beschwerden geführt hatte, bei der Bevölkerung besser angesehen waren. Ulmer nennt das Zusammenwirken dieser Ordnungskräfte zusammen mit einer ablehnenden Presseberichterstattung sowie einer »Massenerschöpfung« als Gründe, warum die Gewalt nicht wieder auflebte.17 Dabei ist allerdings anzumerken, dass Ausschreitungen, die nicht organisiert sind, generell selten länger als zwei bis drei Tage oder Nächte andauern und eine Tendenz haben, sich dann von selbst aufzulösen. Die Justiz arbeitete mit Schnellverfahren, um die Täter baldmöglichst zu bestrafen. Die Strafen waren recht streng. Plakatabreißer bekamen zwei Monate Haft, Steinewerfer und sonstige Aufwiegler wurden zu noch höheren Strafen verurteilt. Das Gericht verzichtete auf die Ermittlung der Motive, als Strafgrund wurde jeweils Aufruhr gegen die öffentliche Ordnung angeführt, die antijüdische Dimension der Unruhen blieb völlig unberücksichtigt. Dies gilt nach Ulmer überwiegend auch für die Presseberichterstattung, die die Gewaltexzesse scharf verurteilte und Vernunft und Gesetzestreue anmahnte, doch ebenso die Gefährdung der öffentlichen Ordnung in den Vordergrund rückte und die antijüdische Dimension nur hier und da erwähnte. Man beklagte vielmehr den Schaden, den der Ruf Stuttgart auswärts erlitten habe, sowie die Kosten für die Staatskasse, da den jüdischen Geschäftsinhabern Entschädigungen gezahlt werden sollten.18 Ulmer sieht darin eine »Verdrängung der antisemitischen Motive des Aufruhrs« durch Justiz und Presse. Seine eigene Presseanalyse widerlegt aber m. E. dieses Urteil. Zwei der drei von ihm ausgewerteten Zeitungen gehen sehr wohl deutlich auf den antijüdischen Charakter der Unruhen ein, allerdings mit entgegengesetzter Stoßrichtung. Das vielgelesene liberale Neue Tageblatt rechtfertigt den Protest und gibt der Volksmeinung Raum, die jüdische Seite habe den Streit provoziert. Zwar wurde der Aufruhr scharf verurteilt, doch gab die Zeitung den Juden eine Mitschuld und zeigte Verständnis für die Gerüchte und die Übergriffe. Die Zeitung konnte zudem nicht verhehlen, »dass eine gewisse Mißstimmung gegen einen Theil der Gemeinde mehr oder minder fast alle Schichten der Bevölkerung durchzieht. Ob und inwiefern diese Missstimmung  Ebd., S. .  Ebd., S.   Ebd., S. .

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gerechtfertigt ist, darüber eine Ansicht auszusprechen, ist nicht unsere Sache«.19 Damit bestätigt die Zeitung ja durchaus eine antisemitische Stimmung in der Bevölkerung, die seitens der demokratischen Zeitung Der Beobachter ganz deutlich benannt wurde. Sie wies auf den massenhaften Charakter der »Hep-Hep«-Rufe und ihre traditionelle Bedeutung ebenso hin wie auf die Agitation eines »brutalen Judenhasses« durch gebildete Kreise in den Gaststuben. Dies sei ein »versteckter mittelalterlicher Judenhass«.20 Der Beobachter fragte auch nach den Ursachen dieser schon lange in der Bevölkerung erkennbaren »antiisraelitischen« Stimmung, die eher im Zusammenwirken des Neides auf das »geschäftliche Emporblühen mancher israelitischen Kaufleute und Geldmänner« und der »verdienten Unpopularität Einzelner« erkannte. Damit benannte das Blatt die antiemanzipatorische Stoßrichtung des Krawalls, gab jedoch den Praktiken einzelner jüdischer Geschäftsleute eine gewisse Mitschuld. Die reale Gefahr des Krawalls für die Juden schätzte das Blatt aber eher gering ein und betonte die Stoßrichtung gegen die Polizei wegen ihres überharten Eingreifens. Interessanterweise kam auch die AZJ zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen wie Justiz und christliche Presse. Sie kritisierte einerseits die Übertreibungen in der Darstellung der Ausschreitungen und leugnete, dass die Juden als Ganze bedroht gewesen seien und man ihnen den Schutz verweigert habe. Es habe keinen im Voraus geplanten Angriff auf die Juden gegeben. »Der Charakter der Pöbelaufstände liegt dann diesmal nur in der Plünderung eines anderen jüdischen Kleiderladens, und in dem Einwerfen einiger Fenster an Häusern, die von Juden bewohnt werden. Die eigentliche Erbitterung war gegen die Polizei gerichtet, welche ebenso sich tactlos offensiv, wie unfähig, den Aufruhr zu bewältigen, erwiesen hat.«21 Die einzige Lehre, die die Zeitung aus dem Aufruhr ziehen wollte, war, dass die Polizei eine besser organisierte Verwaltung brauche. Hatte sie in der vorherigen Ausgabe vom . April  aus den Unruhen noch den Schluss gezogen, dass die »Volksgesinnung gegen diese [die Juden, W. B.] immer noch krankt«,22 so schrieb sie eine Woche später, dass die »Erregung an sich gegenstandslos war, und nur zufälligen Impulsen folgte«. Auch eine jüdische Zeitung wie die AZJ bemühte sich sichtlich, die antijüdische Dimension des Aufruhrs herunterzuspielen. Dies kann auch als Indiz genommen werden, dass man von jüdischer Seite angesichts der in diesen Jahren erreichten Fortschritte in der Gleichstellung der Juden und der liberalen Grundstimmung diese Unruhen nicht als wirkliche Gefährdung ansehen wollte, zumal der »Krawall« von Stuttgart keine Nachahmungen in den umliegenden Gemeinden oder gar reichsweit fand, sondern ein in diesen Jahren isoliertes Ereignis blieb.  Neues Tageblatt vom .. (zit. nach Ulmer, Antisemitische Massenkrawalle, S.  und  f.).  Der Beobachter vom . und .. (zit. nach Ulmer, Antisemitische Massenkrawalle, S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . In dieser Zeit gab es in Deutschland kaum andere größere jüdische Zeitungen. Der Israelit ist für die Jahre  und  nicht nachgewiesen.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

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ANTISEMITISCHE MASSENKRAWALLE IN STUTTGART

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Das Muster des Stuttgarter »Judenkrawalls«, der noch kurz vor Beginn der nach der Gründerkrise von  zunehmenden öffentlichen Angriffe gegen Juden in Zeitungsserien und vor Beginn der eigentlichen politischen antisemitischen Bewegung stattfand, folgte noch den antiemanzipatorischen Ausschreitungen in den deutschen Ländern, aber auch in Böhmen und Mähren, Polen, im Elsass und Rumänien, in denen es um die Abwehr ökonomischer Konkurrenz, Sozialneid über den Aufstieg der Juden und um die Abwehr ihrer rechtlichen Gleichstellung bzw. ihres lokalen Zuzugs ging. Es handelt sich um spontane, nicht organisierte und nicht von Agitatoren oder der Presse angeheizte Gewaltaktionen auf zumeist niedrigem Gewaltniveau, bei denen Juden als Personen nur selten zu Schaden kamen und auch keine Synagogen und Friedhöfe geschändet wurden. Steinwürfe, das Eindringen in Häuser und Läden sowie deren Plünderung oder Zerstörung bildeten das typische Handlungsmuster.

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. Ausschreitungen gegen Juden im Zuge der Bildung neuer Nationalstaaten - In den frühen Phasen der Bildung neue Nationalstaaten wird häufig darüber gestritten, wer dem Staatsvolk zugehören und wer als nicht-zugehörig von staatsbürgerlichen Rechten ausgeschlossen bleiben soll. Mit dem schwindenden Einfluss des Osmanischen Reiches auf dem Balkan eröffnete sich in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts hier für die Rumänen und Bulgaren die Möglichkeit der Gründung eigener souveräner Staaten. Damit stellte sich die Frage nach der Position der dortigen Minderheiten, insbesondere der nicht-christlichen Türken und Juden. Während Rumänien in seiner Verfassung den Juden die staatsbürgerliche Gleichstellung verwehrte bzw. sehr stark erschwerte, sollte sich die Gewalt gegen die einheimischen Juden in Bulgarien im Zuge der Euphorie der »nationalen Befreiung« vom Osmanischen Reich im Zuge des russisch-türkischen Krieges neben den Muslimen in einigen Fällen auch gegen die Juden richten. In der bulgarischen Verfassung sollten Juden dann aber gleichberechtigte Staatsbürger werden. Antijüdische Politik und Gewalt gegen Juden in Rumänien - Die Stellung der Juden in Rumänien muss im Kontext der rumänischen Nationsbildung seit der Union der beiden Fürstentümer Walachei und Moldau , dem Einfluss der Großmächte auf die »Judenpolitik« sowie der schwierigen ökonomischen Lage des Landes gesehen werden (s. o.).1 betrug die Gesamtzahl der rumänischen Bevölkerung .., darunter . Juden, von denen . in der Moldau (,  der Gesamtbevölkerung)2 und . in der Walachei (, ) lebten.3 Die rumänische Bevölkerung wuchs bis zum Ende des »langen . Jahrhunderts« um  , die jüdische sogar um hundert Prozent auf . Personen an (,  der Gesamtbevölkerung), was auf die Zuwanderung russischer Juden zurückging.4 Rumänien machte in dieser Phase  Dazu und zum Folgenden: Julia Onac, The Brusturoasa Uprising in Romania, in: Robert Nemes/Daniel Unowsky (Hrsg.), Sites of European Antisemitism in the Age of Mass Politics -, Waltham, Mass. , S. -.  Bis  war der jüdische Bevölkerungsanteil in der Moldau nur wenig gestiegen: von ,  auf ,  (so die Zahlen bei Beate Welter, Die Judenpolitik der rumänischen Regierung -, Frankfurt a. M., u. a. , S. ).  Bevölkerungsstatistiken für Rumänien liegen nur für  und  vor, vgl. dazu: Welter, Die Judenpolitik,  ff.; Edda Binder-Iijima, Die Institutionalisierung der rumänischen Monarchie unter Carol I. -, München , S. ; die Zahlenangaben bei Carol Iancu, Evreii din România (-). De la excludere la emancipare, Bukarest , S. , liegen etwas niedriger.  Julia Onac, »Die antisemitische Hydra hebt den Kopf«: Aspekte der jüdischen Reaktion auf den Antisemitismus in Rumänien vom Ende des . bis Anfang des . Jahrhunderts, in: Einspruch und Abwehr. Die Reaktion des europäischen Judentums auf die Entstehung des Antisemitismus (-), hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Ulrich Wyrwa,

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einen rapiden Modernisierungsprozess durch, in dem die Juden eine aktive Rolle spielten.5 Um die rumänische Politik gegenüber den Juden zu verstehen, muss man auf die Zeit nach dem Vertrag von Adrianopel im Jahre  zurückblenden, durch den die Donaufürstentümer Moldau und Walachei einen gewissen Grad an Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erlangten. In dieser Phase kam es nicht nur zur Masseneinwanderung von ca. einhunderttausend Juden aus Russland und Galizien, sondern auch zu einer fünfjährigen russischen Okkupation, währenddessen der Gouverneur mit den sog. Organischen Statuten eine neue Gesetzgebung einführte, die neben einer Reihe anderer Einschränkungen für Juden diese als »Fremde« definierte, womit die Vorstellung von einem »Landstreichertum« verbunden war, was nach Raul Carstocea die Ausweisung von Juden erleichterte.6 Seiner Meinung nach war dies der Beginn gesetzlicher Regelungen, die Juden als ökonomische Profiteure und Ausbeuter und die »jüdische Nation« als Hindernis auf dem Weg zur Modernisierung der Fürstentümer markierten und die in Rumänien die rechtliche Entwicklung lange beeinflussten. In Folge der Revolution von  kam es nach der Wahl Alexandru Ioan Cuzas zum Fürsten der Moldau und der Walachei  zu deren Vereinigung, wenn diese auch weiterhin unter der nominalen Oberhoheit des Osmanischen Reiches verblieben.  kam es dann zur formalen Vereinigung der beiden Fürstentümer zum Staat Rumänien. Seit der Pariser Konferenz von  nahm die Rumänienfrage eine zentrale Stellung in der europäischen Politik ein, doch stießen die Forderungen nach einer vollen Emanzipation der Juden in den beiden Donaufürstentümern auf heftige Ablehnung: »Romania’s clash with the Great Powers began in «.7 Der in der Konvention von Paris zwei Jahre später aufgenommene Artikel , in dem allen christlichen Einwohnern der Walachei und der Moldau gleiche Rechte zugesprochen wurden, deren Geltung auf andere Religionen durch eine gesetzliche Regelung ausgedehnt werden konnte, blieb hinter den Forderungen der Großmächte zurück, doch genossen die Juden Jahrbuch  zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt a. M., New York , S. -.  Zur Rolle der jüdischen Minderheit in den rumänischen Fürstentümern bis zum Berliner Kongreß: siehe Julia Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«. Zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Rumänien -, Berlin , S. -.  Dazu und zum Folgenden: Raul Carstocea, Uneasy Twins? The Entangled Histories of Jewish Emancipation and Anti-Semitism in Romania and Hungary, -, in: Slovo /, , S. -, hier S.  ff. Die übliche Unterscheidung zwischen assimilierten westlichen Juden und dem Typ des orthodoxen »Ostjuden« ist auch in Bezug auf Rumänien für Carstocea von zentraler Bedeutung für die Ablehnung der Judenemanzipation: »Since most Jews in the country were of this ›Eastern‹ Type, to which even some of their fellow coreligionists were opposed, and since their emancipation, unlike that of the ›Western‹ Jews, could bring no benefits to the new state, Romanian legislators constantly referred to this argument when responding to the demands of the Great Powers« (ebd., S. ).  Carole Fink, Defending the Right of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection, Cambridge , S. .

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unter der Herrschaft des Cuzas (-) volle Bürgerrechte und konnten unter bestimmten Bedingungen immerhin individuell eingebürgert werden.8 Der Artikel  erfuhr in den nächsten zwanzig Jahren von Rumänen, den Juden innerhalb und außerhalb Rumäniens9 und den Großmächten eine konträre Auslegung, wobei sich Letztere in vielen Fällen gegenseitig blockierten. Während die Juden darin eine Anerkennung auch ihrer Rechte sahen, wurde dies von der Gegenseite bestritten. Nach Silvia Marton diente die »Judenfrage« in den Jahren - geradezu als ein Instrument zur Konsolidierung des rumänischen Staates, seiner Handlungsfähigkeit und dazu, eine homogene Nation zu erschaffen.10 Das Jahr  eröffnete für Rumänien den Weg hin zu einer rechtlichen Anerkennung der lang ersehnten Unabhängigkeit, obwohl es bis zur östlichen Krise der Jahre - rechtlich vom Osmanischen Reich abhängig blieb. In dieser Zeit wurde eine Verfassung diskutiert und verabschiedet, die mit einigen Änderungen bis zum Zweiten Weltkrieg in Geltung bleiben sollte. Silvia Marton hat die Debatten in der verfassungsgebenden Versammlung in Bezug auf den Artikel , der die Exklusion von Nicht-Christen (insbesondere von Juden) von politischen Rechten festschrieb, detailliert untersucht. Mit diesem Verfassungsartikel und den daraus folgenden legislativen und administrativen Maßnahmen schuf die rumänische Politik eine »jüdische Frage«, indem Judenfeindlichkeit zu einem Ausdruck allgemeiner Fremdenfeindlichkeit wurde, was diese Frage zu einem Problem der internationalen Politik werden ließ und zur innenpolitischen Instabilität beitrug.11 Marton sieht die Xenophobie und den Antisemitismus der liberalen Abgeordneten  Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S.  f.; Silvia Marton, Designing Citizenship. The »Jewish Question« in the Debates of the Romanian Parliament (), in: Quest. Issues of Contemporary Jewish History, No. , July  (http://www. quest-cdecjournal.it/focus.php?ide=). Die Pariser Konvention von  garantierte den einheimischen Juden die zivilen Rechte und eröffnete die Möglichkeit gleicher politischer Rechte sowie die Einbürgerung. Cuza trug diesen Bestimmungen im Code Civil (Artikel ) und Kommunalwahlrecht Rechnung (kleine Naturalisierung im Jahre ). Allerdings wurden zwischen  und  nur zwei Juden eingebürgert (vgl. dazu Welter, Die Judenpolitik, S.  f.). Dazu auch Dietmar Müller, Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte -, Wiesbaden , S. .  Zur Politik der europäischen Juden für die Gleichberechtigung der rumänischen Juden siehe: Fink, Defending the Right of Others, zum Kampf der rumänischen Juden für ihre rechtliche Gleichstellung und gegen den grassierenden Antisemitismus sowie ihre Bemühungen um Unterstützung aus dem Ausland siehe: Onac, »Die antisemitische Hydra hebt den Kopf«, S.  ff.  Silvia Marton, De la construction de l’Ètat au racism: judéophobie et antisémitisme au Romanie avant la Grande Guerre, in: Mareike König/Oliver Schulz (Hrsg.), Antisemitismus im . Jahrhundert aus internationaler Perspektive, Schriften aus der Max Weber Stiftung, Bd. , Göttingen , S. -, hier S.  ff.  Marton, Designing Citizenship; Silvia Marton, De la construction de l’État au racism: judéophobie et antisémitisme en Roumanie avant la Grande Guerre, in: Mareike König/ Oliver Schulz (Hrsg.), Antisemitismus im . Jahrhundert aus internationaler Perspektive. Schriften aus der Max Weber Stiftung, Bd. , Göttingen , S. -, hier S.  ff.

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weniger als Ausdruck religiöser Differenzen als vielmehr eines modernen Nationalismus, der die Eigenständigkeit der Nation demonstrieren will.12 Deshalb votierten gerade die radikalen Liberalen im Namen des Fortschritts gegen politische Rechte für Juden, während hinsichtlich der Gewährung bürgerlicher Rechte an Juden und »Ausländer« eine größere Offenheit bestand. In den Parlamentsdebatten wiederholten die Abgeordneten in ihren Argumenten für und wider einer Gleichstellung der Juden in der Frage der politischen Staatsbürgerrechte, die aus den Emanzipationsdebatten des frühen . Jahrhundert in den deutschen Staaten bekannten Positionen. Der Präsident der verfassungsgebenden Versammlung, Monolache Costache Epureanu, warnte zwar davor, dass der politische Ausschluss den Judenhass der Rumänen anstacheln und beide Bevölkerungsgruppen zu Feinden machen werde (was dann ja auch so geschah), doch votierte die Majorität der Abgeordneten im vorbereitenden Ausschuss zum Artikel  dafür, die zunächst vorgesehene Fassung, dass Religion nicht länger ein Hindernis für die Naturalisierung sein dürfe, durch einen Zusatz zum Artikel . des Entwurfs für die neue Verfassung einzuschränken, der besagte, dass ein weiteres spezielles Gesetz den graduellen Zugang der Juden zur Staatsbürgerschaft festlegen sollte. Die schließlich verabschiedete Fassung des Artikels  der Verfassung enthielt auch diesen Zusatz nicht mehr, sondern legte fest, dass nur Ausländer, die dem christlichen Glauben angehören, die Staatsbürgerschaft bekommen könnten, d. h. ausländische Juden davon generell ausgeschlossen waren.13 Dies stellte nach Carol Jancu einen erheblichen Rückschritt gegenüber dem ursprünglichen Entwurf dar.14 Wie schon die Einstellung der Mehrheit der Abgeordneten zeigt, herrschte zu dieser Zeit in Rumänien eine aufgeheizte judenfeindliche Stimmung, da die Emanzipation der Juden in Rumänien auf der politischen Tagesordnung stand.15 Eine zeitgenössische jüdische Stimme schrieb dazu, dass der »religiöse Fanatismus,  Nach Marton zeigen die Akten des Parlaments und des Innenministeriums, die Verordnungen von Regierung und Verwaltung, die Gesetzgebung sowie die Verhandlungen der Abgeordneten über die Diskriminierung und die Gewalt gegenüber Juden zwischen  und , dass die »Judenfrage« (chestiunea evreiascˇa) in Rumänien sich in einer Zone zwischen dem »l’imaginaire spécifique de l’antijudaisme et la politique moderne nationale et mobilisatrice (spécifique à l’antisémitisme)« bewegte (De la construction, S. ).  Der Berichterstatter des vorbereitenden Ausschusses zum Artikel , Aristide Pascal, begründete die Exklusion der Juden von politischen Rechten damit, dass sie der Grund für die Krankheiten der rumänischen Nation seien, innere Feinde seien und gegenüber den Überzeugungen, der Religion und der Unabhängigkeit der Rumänen feindselig einstellt seien (Marton, Designing Citizenship).  Carol Iancu Jews in Romania -. From Exclusion to Emancipation, Boulder, Col., , S. .  Hintergrund war, dass die zunächst  gewährte Gleichberechtigung der Religionen in den Donaufürstentümern Moldau und Walachei in der neuen Verfassung aufgehoben worden war. Die gleichen politischen Rechte galten für alle christlichen Bekenntnisse, die auf andere Kulte ausgedehnt werden konnten. Trotz gleicher bürgerlicher Rechte waren Juden faktisch von Staatsämtern, der Nationalgarde, vom Landkauf und aus bestimmten Gewerben ausgeschlossen. Dies sollte nun  geändert werden. Vgl. dazu den

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der verblendete Judenhass […] hier alle Grenzen« übersteigt und dass »die rumänische Presse […] das ihrige dazu beitrüge, ihn anzuschüren und aufzustacheln. Kaum wagen die Juden noch, ihre Häuser zu verlassen, da sie Beschimpfungen und Schläge stets zu fürchten haben«.16 Es muss in dieser Phase eine permanente antijüdische Agitation gegeben haben. Die Neue Freie Presse (Wien) vermutete sogar ein (geheimes) Central-Comité hinter diesen nationalistischen Aktivitäten. Sie schreibt deshalb auch von einer »erheuchelten Spontaneität« des folgenden Gewaltausbruchs.17 Diese Stimmung schlug sich Anfang April in einer Petition an die Regierung nieder, die neu erbaute Synagoge für die orthodoxe Kirche in Beschlag zu nehmen. Dies wurde mit der Drohung verbunden, diese andernfalls dem Erdboden gleichzumachen.18 In der Woche des orthodoxen Osterfestes um den . April  und der Volksabstimmung über die Thronbesteigung des Prinzen Karl Ludwig von Hohenzollern-Sigmaringen kam es in Iaşi zu Ausschreitungen gegen Juden.19 Hinter diesen Unruhen standen nach Beate Welter die von den Bojaren in der Moldau verfolgten separatistischen Tendenzen, die sich gegen die Zentralregierung in Bukarest richteten. D. h., die Ausschreitungen waren somit eine Absage an die Union und den neuen Herrscher. Die separatistischen Forderungen sollen wiederholt zu Übergriffen gegen Juden geführt haben.20 Diese Ereignisse fielen noch in die Zeit der provisorischen Regierung (Locotenenţa Domnească) zwischen der Herrschaft Cuzas und der Wahl von Karl Ludwig von Hohenzollern-Sigmaringen zum Fürsten Carol I. am . Mai (. April) und seinem Einzug in Bukarest am . Mai (. Mai) . Am . Juli wurde er dann zum konstitutionellen König ernannt. Laut der Zeitung Trompeta Carpatzilor, einem ausgesprochen antisemitischen Blatt, wurde die »Judenfrage« in Rumänien, angefeuert durch die Diskussion über den zunächst noch großzügigeren Artikel  des Verfassungsentwurfs, in den Monaten Mai und Juni  »geboren«.21 Dazu mag beigetragen haben, dass rumänische Juden das Zentralkomitee der Alliance Israèlite Universelle in Paris um Unterstüt-

   

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abgedruckten Brief von Auguste Crémieux, der Anfang Juli Bukarest besucht hatte, vom . Juli  in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. -. Der Israelit, Heft , .., S. . Der Berichterstatter erwähnt anschließend, ohne nähere Namensnennung, dass in einer »kleinen Stadt der Moldau […] sämmtliche Juden geschlagen« wurden; eine Frau sei an den Folgen gestorben. Neue Freie Presse. Morgenblatt, Nr. , vom .., S.  (Originalkorrespondenz eines Berichterstatters aus Bukarest). AZJ, Jg. , Heft , .., S. , sie beruft sich auf die Kreuzzeitung. Da in Rumänien der julianische Kalender galt, beträgt der Unterschied zwischen der Datierung in Rumänien, die dem julianischen Kalender folgte, und der in den westeuropäischen Zeitungen, die dem gregorianischen Kalender folgen, plus  Tage. Ich folge hier der Datierung nach dem gregorianischen Kalender. Welter, Die Judenpolitik, S. . Diese separatistischen Strömungen versprachen sich von einer Annäherung an Russland politische und wirtschaftliche Vorteile. Hintergrund war, dass die durch Großgrundbesitz geprägte Moldau gegenüber der sich industrialisierenden Walachei immer stärker ins Hintertreffen geriet. Trompeta Carpatzilor, Nr. , .. (julian. Kalender), zit. nach Marton, Designing Citizenship.

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zung gebeten hatten. Daraufhin war Adolphe Crémieux, der Präsident der Alliance, Anfang Juni nach Bukarest gereist, wo er eine Rede für die Emanzipation der Juden hielt, die von den Abgeordneten und der Presse sehr positiv aufgenommen wurde. Es schien demnach so, dass die volle Emanzipation der rumänischen Juden Eingang in die Verfassung finden würde, was auch Prinz Carol I. unterstützte.22 Am . Juni (. Juni) wurde die Judenemanzipation wie oben geschildert im Abgeordnetenhaus verhandelt, wobei der großzügigere Regierungsentwurf von Artikel  schon vor der Parlamentssitzung wieder zurückgezogen worden war (am . Juni/. Juni – s. o.).23 Vor dem Parlament hatte sich während der Beratung des Gesetzes eine aus »vielen hundert Menschen« bestehende Menge versammelt (einige nennen  bis  mit Knüppeln und Steinen bewaffnete Personen aus den unteren Klassen;24 eine andere Zeitung spricht sogar von . Personen),25 um Druck auf die Nationalversammlung auszuüben, den Juden keine Gleichberechtigung zu gewähren. Dabei soll auch ein Jude (ein anderer Bericht spricht von mehreren Opfern) so schwer misshandelt worden sein, dass er später an den Folgen starb. Die Menge rief nach einigen Ministern, die wie auch andere Parlamentarier das Gebäude nur durch ein Fenster verlassen konnten. Was dann geschah, darüber gehen die Berichte auseinander. Eine Version spricht davon, dass sich die Menge trotz einer von mehreren Ministern, etwa vom Finanzminister Ion Brˇatianu und vom Kultusminister Constantin Alexandru Rosetti, unterzeichneten Proklamation, die dem Volk versprach, den Artikel  zurückzuziehen, also Fremden und Juden keine Rechte einzuräumen, die die Interessen des rumänischen Volkes gefährdeten, nicht beruhigte, sondern am selben Tag zur neuen Hauptsynagoge (Templul Coral) zog und diese völlig zerstörte.26 Der Berichterstatter aus Bukarest machte dafür walachische Kaufleute verantwortlich, die zugleich die Nationalgarde stellten. Diese habe aus Feigheit ihr eigentliches Vorhaben, »alle Juden niederzumetzeln«, nicht realisiert, sondern stattdessen die Synagoge zerstört.27 Es hatte aber zuvor offenbar auch in der Judengasse Übergriffe gegen Juden gegeben, zudem wurde wohl auch noch eine weitere Synagoge attackiert.28 Der zweiten in der Neuen Freien Presse vertretenen Version nach soll sich die wartende Menge, nachdem ihnen Brˇatianu versprochen hatte, sich und die Rumänen nicht an »Juden oder Fremde verkaufen zu wollen«, beruhigt, und nur ein kleinerer Haufe soll weitergelärmt haben, dem Brˇatianu vorwarf, die Intervention fremder Mächte zu provozieren. Woraufhin die     

Iancu, Jews in Romania -, S.  f. Neue Freie Presse. Morgenblatt, Nr. , .., S. . Ebd. Der Israelit, Heft , .., S. . Marton, Designing Citizenship; »Anarchische Zustände – Judenverfolgungen«, in: Die Debatte, Nr. , vom .., S.  (der Artikel basiert auf einem Bericht der GeneralKorrespondenz aus Bukarest).  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.; vgl. auch Carol Iancu, Evreii din România, S. .  Der Israelit, Heft , .., S. .

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Menge skandierte: »Besser Türken und Russen, welche Geld bringen, als Juden, welche uns unseren sauer verdienten Nothpfennig aussaugen !« Militär zu Pferde habe dann die Menge auseinandergejagt. In dieser Darstellung wird die Situation vor dem Parlament abgetrennt von den eigentlichen Ausschreitungen, da parallel zu den Vorgängen vor dem Parlamentsgebäude eine andere Menschenmenge von , meist Handwerksburschen und Tagelöhner, begonnen hätte, die Synagoge zu zerstören, woraufhin sich viele Juden in das österreichische und das russische Generalkonsulat flüchteten.29 – Offenbar schwieg die Regierung zu diesem Vorfall, versuchte ihn weder zu verhindern, noch wurden die Täter nach Meinung der AZJ zur Rechenschaft gezogen. Dies traf laut einem anderen Bericht nicht ganz zu, da Militär und Nationalgarde schließlich, wenn auch sehr spät, eingriffen und einige Randalierer verhafteten, wobei die Nationalgarde sich aber auch an der Zerstörung der Synagoge beteiligt haben soll.30 Die jüdischen Familien Bukarests waren verängstigt, und viele jüdische und christliche Kaufleute schlossen ihre Läden. Wohlhabende Juden bekamen Drohbriefe zugesandt, in denen man die Zerstörung ihrer Wohnungen ankündigte. Der österreichische Generalkonsul intervenierte beim Polizeipräsidenten und forderte, die Nationalgarde aufzubieten, um den Juden in der Nacht Schutz zu gewähren, was dann auch geschah.31 Die Nationalgarde patrouillierte in der Stadt, und das Judenviertel wurde gänzlich abgesperrt. Am Abend rückte dann auch ein Infanterieregiment in der Stadt ein, und es wurde auch eine vom Ministerrat unterzeichnete Proklamation angeschlagen, wonach die Regierung schon vor der Parlamentssitzung erklärt habe, »daß sie es nie zulassen würde, die Rechte, ja auch die Interessen der Rumänen zu Gunsten der Fremden im Allgemeinen und der Israeliten insbesondere, zu verringern. In der heutigen Sitzung nun erklärte wiederholt sowohl die Regierung als auch die Mehrheit der Kammer, daß sie den Artikel der Constitution, welcher die Israeliten betrifft und gewisse Befürchtungen im Publicum hervorgerufen hatte, unbedingt zurückziehe«.32 In der Nacht blieb es dann ruhig. Am nächsten Morgen (. Juli /. Juni) rückte ein weiteres Infanterieregiment in die Stadt ein, da man für den Abend neue Unruhen befürchtete.33 – In diesem Fall führte der Ausbruch kollektiver Gewalt also schnell  Neue Freie Presse. Morgenblatt, Nr. , .., S. ; mit gleichlautenden Meldungen die Coburger Zeitung, Nr. , .., S. ; Das Vaterland, Nr. , .., S. .  Neue Freie Presse. Morgenblatt, Nr. , ..; Die Debatte (Nr. , .., S. ) berichtet, dass Militär und Nationalgarde erst am Schauplatz der Zerstörung eintrafen, als diese bereits vollendet war. Ähnlich in der Neuen Freien Presse, Nr. , vom .., S. .  Die Debatte, Nr. , .., S. .  Nach Binder-Iijima, Die Institutionalisierung der rumänischen Monarchie, S. , hätten die radikalen Liberalen aus der Walachei diese Ausschreitungen und die »Judenfrage« als Waffe gegen Carol I. und gegen die offen antisemitischen Liberalen der Moldau genutzt, während die Konservativen diese genutzt hätten, um die Verabschiedung der Verfassung hinauszuschieben und die Debatten zu verlängern. Dieser politisch motivierte Schachzug sollte dann zu einer großen politischen Belastung der rumänischen politischen Elite führen, da die »Judenfrage« einen ständigen Konfliktherd mit den Großmächten bildete.  Neue Freie Presse. Morgenblatt, Nr. , .., S. .

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zum Erfolg, was allerdings vor allem auch darin begründet war, dass die Mehrheit der rumänischen Politiker ebenfalls antisemitisch eingestellt und deshalb gegen eine Verbesserung der Rechtslage für Juden war. Die AZJ referiert einen Artikel der Wiener General-Korrespondenz über die Vorfälle, in denen vor allem die herrschende »Gesetzlosigkeit und Anarchie« in Bukarest hervorgehoben wurde und dass die Regierung des Prinzen von Hohenzollern unfähig erscheine, »dem fanatisierten Pöbel irgendwelche Schranken zu setzen«. Es wird vor allem auf die kursierenden »Brandschriften« und offen zur Gewalt gegen Juden und Fremde auffordernden Artikel der Trompeta Carpatzilor sowie auf judenfeindliche Reden von Parlamentariern hingewiesen,34 darunter auch die des Finanzministers Brˇatianu, der in seiner Parlamentsrede von »verfluchten Juden« und »elenden Parias« gesprochen haben soll.35 Diese Gewaltaktionen fanden im Ausland ein äußerst negatives Echo.36 Insbesondere die französische Regierung und die in Rumänien sehr engagierte Alliance Israélite Universelle (Paris) intervenierten auf diplomatischer Ebene. Die englische Regierung schloss sich dieser Intervention an.37 Dennoch zog die Regierung noch am . Juni (..) den Artikel  zurück, und das Parlament verabschiedete am . Juli (. Juni)  die neue Verfassung mit dem berühmten Artikel , der die politische Emanzipation der Juden für ein halbes Jahrhundert blockierte.38 Der entsprechende Passus im Artikel  lautete: »Nur Fremde christlichen Glaubens können der Naturalisation teilhaftig werden«.39 D. h., der Passus, dass Religion kein Hindernis für die Einbürgerung sein sollte, war gestrichen worden, was die Juden von der Naturalisierung ausschloss, so dass man nicht nur als zugewanderter Jude nicht eingebürgert, sondern auch als einheimischer Jude als Fremder behandelt werden konnte.40 Interessant ist, dass die halboffizielle rumänische Zeitung Romanul, die sich im Besitz des Kultusministers C. A. Rosetti befand, die Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den Unruhen leugnete und stattdessen in einer abenteuerlichen Verschwörungstheorie den früheren Machthaber Cuza, dessen Polizei und vor al AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.  Wiener Presse, Türkisches Reich, ...  Eine kurze identische Notiz über »rohe Gewaltakte gegen die Juden« in Bukarest wurde in einer ganzen Reihe österreichischer und deutscher Zeitungen veröffentlicht: (Linzer) Tages-Post, .., Nr. , S. ; Das Vaterland, .., Nr. , S. ; Die Presse, Nr. , .., S. ; Coburger Zeitung, .., Nr. , S. ; Vorarlberger Volksblatt, Nr. , .., S. .  Die im Anhang des Buches von Carol Iancu, Les Juifs en Roumanie (-). De l’exclusion a l’émancipation, Université de Provence , abgedruckten zahllosen Berichte und Eingaben jüdischer Organisationen sowie französischer und anderer europäischer Diplomaten belegen, dass es vielfältige Bemühungen gab, die Lage der Juden in Rumänien zu verbessern.  Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S.  f.; zum Verlauf dieser Debatten siehe Marton, Designing Citizenship.  Abgedruckt bei Welter, Die Judenpolitik, S. .  Der Israelit, Heft , .., S. ; Iancu, Jews in Romania, S. .

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lem ausländische Agenten für die Ausschreitungen verantwortlich machte, die nur wenige (»fünfzig Unglückliche«) zum Mittun hätten bewegen können.41 Finanzminister Brˇatianu und andere Parlamentarier hätten das Volk von der verbrecherischen Absicht der Aufwiegler in Kenntnis gesetzt, woraufhin sich die Aufwiegler entdeckt sahen und nur einen kleinen Teil der Bevölkerung zum Angriff auf die Synagoge anstiften konnten. »Dem wahren Volk und der herbeigeeilten Nationalgarde gelang es, die Ordnung wiederherzustellen« (»als nichts mehr zu zerstören war« – wie der Berichterstatter der Presse ironisch anmerkte). Die Aufwiegler seien daraufhin schmählich geflohen. Der Berichterstatter der Presse fragte sich, wen die Zeitung Romanul mit dieser Darstellung der Unruhen eigentlich täuschen wolle,42 zumal der genannte Alexandru Ioan Cuza, der zwischen  und  regiert hatte, den Juden in einem Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen ein Recht auf individuelle Einbürgerung zugestanden hatte.43 Die anschließend referierte Darstellung der oppositionellen Zeitung Trompeta Carpatzilor vertrat die völlig entgegengesetzte, aber glaubhaftere Version, wonach es keineswegs fremde Agenten und von ihnen bezahlte Trunkenbolde gewesen seien, die die Synagoge zerstörten, sondern dass dies »vo n d e r Blüt he d e r Bev öl ker ung Bu ka res t s vera n s ta l te t wo rd e n w a r« . Als Belege nennt die Zeitung einmal die Adressierung der protestierenden Menge vor dem Parlament seitens des Ministers Brˇatianu mit »Brüder«, woraufhin diese ihm mit Rufen »Br uder d er Ju den , a b er nic ht d er u n s ri g e « geantwortet hätten, zum anderen die Tatsache, dass die Regierung die »Schwachheit gehabt habe«, den Artikel  der Konstitution zurückzuziehen. Damit habe man den Forderungen von fremden Agenten und bezahlten Vagabunden und Trunkenbolden nachgeben wollen, wie das Blatt ironisch anmerkte, um die offenbaren Lügen der Zeitung Romanul bloßzustellen.44 In Bukarest blieb es danach weiterhin unruhig. Am . Juli (. Juni)  kamen Gerüchte über einen Coup der Mecontenten (Unzufriedenen) gegen den Fürsten Carol I. und seine Regierung in der kommenden Nacht auf. Als Vorwand sollte es vorerst gegen die Juden gehen. Die Regierung hatte von den Plänen »Wind bekommen« und entsprechende Vorkehrungen getroffen. Die Verlegung von zwei Infanterie-Regimentern in die Stadt wurde damit in Verbindung gebracht. Es wird zudem konstatiert, dass »der Fanatismus und der Fremdenhaß« in Bukarest täglich mehr und mehr um sich griffen und von einem Teil der rumänischen Presse und von Emissären genährt würden.45  Der Berichterstatter der Zeitung Die Presse referierte kritisch die völlig gegensätzliche Meinung zweier rumänischen Zeitungen, ... Der Artikel zu »Romania« von Theodor Lavi, Lucian Zeev-Herscovici und Leon Volovici in: Encyclopaedia Judaica, Vol. , . Aufl., S. , spricht auch davon, dass die Demonstrationen, die zur Zerstörung der Synagoge führten, von der Polizei organisiert worden seien.  Die Presse, ...  Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S.  f.  Die Presse, ... Der Berichterstatter stimmt in diesem Fall der Trompeta Carpatzilor zu.  Die Debatte, ...

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In Rumänien setzte ab  dann eine Kampagne ein, einheimische und zugewanderte Juden, die keine feste Arbeit oder ein Vermögen nachweisen konnten, wegen Landstreicherei des Landes zu verweisen.46 In dieser von der Regierung durch ihre Maßnahmen aufgeheizten antijüdischen Stimmung brach am . Januar  ein judenfeindlicher Krawall in Barlad (Moldau) aus. Auslöser war der Tod eines Priesters, der als offizieller Kandidat der Abgeordnetenkammer in den Ort kam, um durch antisemitische Reden die Bevölkerung auf seine Seite zu ziehen. Man beschuldigte die Juden, den Priester vergiftet zu haben, und eine Menschenmenge griff unter Führung eines Professors und eines Gerichtsangestellten jüdische Geschäfte und Wohnhäuser mit Äxten und anderen Werkzeugen an.47 Auf eine Intervention Sir Moses Montefioris hin, der in einem Brief an König Carol diese Unruhen ansprach, bedauerte der rumänische Außenminister Stefan Golescu zwar die Ausschreitungen, doch hätten nach den Ergebnissen der Untersuchung die Juden den Vorfall selbst verursacht. Diese Unruhen blieben auch sonst im Ausland nicht unbeachtet, und es kam zur diplomatischen Intervention der Großmächte, die jedoch die Ausweisungsaktionen nicht verhindern konnten, die in den nächsten Jahren trotz aller ausländischen Proteste fortgesetzt wurden.48 Im April  soll es in der Moldau zu antijüdischen Ausschreitungen gekommen sein.49 Im Winter / ereignete sich eine Reihe von antijüdischen Ausschreitungen im südlichen Bessarabien, die man auf russischen Einfluss und die Agitation der Radikalen zurückführte.50 Am . Januar  kam es wiederum zu antijüdischen Ausschreitungen in Ismail,51 nachdem ein gerade getaufter Jude einen Diebstahl begangen hatte. Die Schilderung der dortigen jüdischen Gemeinde entwirft ein Bild völlig entfesselter Gewalt:  Iancu, Jews in Romania, S.  ff.; zu den Wirkungen der entsprechenden Anordnungen Brˇatianus. Während dieser Vertreibungen sollen in Padurea Lunga und Galatz Plakate aufgetaucht sein, in denen die Christen aufgefordert wurden, sich zu erheben, da die Zeit gekommen sei, die Juden, die Freimaurer und ihre Freunde zu töten (S. ).  Iancu, Jews in Romania, S. . Nach einem Bericht der AZJ (Jg. , Heft , ..) soll es in dem Ort Giurgewo zu einem »kleinen Juden-Massacre« gekommen sein, welches »die Herren Rumänen zur Feier der russisch-rumän. Convention in Giurgewo veranstalteten«, wie die Zeitung ironisch formulierte. Die Juden seien über die Grenze nach Ungarn geflohen und hätten nichts als das Leben gerettet.  Ebd. Welter deutet an, dass die Maßnahmen gegen die Juden möglicherweise auch dazu dienten, den bojarischen Separatisten der Moldau den Rückhalt in der Bevölkerung zu nehmen, da Letztere sie nur aus wirtschaftlichen Gründen unterstützt hätten. Die antijüdische Regierungspolitik wurde offenbar immer auch mit Rücksicht auf die Interessen der Moldau verfolgt (Die Judenpolitik, S.  und ).  Diese werden nur bei Welter, Die Judenpolitik, S. , kurz erwähnt.  Ebd., S. . Ziel der Opposition war es, die »Judenfrage« dafür zu nutzen, die konservative Regierung und den Fürsten durch das »künstliche Hervorrufen partieller Aufstände und anarchischer Szenen« zu kompromittieren (S. ).  Ismail gehörte nur kurz von  bis  zu Rumänien, davor und danach zum russischen Gouvernement Bessarabien.

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»The masses ran like wild beasts escaping from their cage, urged on by intriguers and fanaticized priests, through the streets, crazy with revenge, rape and murder. They ran from house to house, heartless and without pity, not sparing anyone because of age or sex, not even nursing children. Powerless to remain, our brothers were shamefully mistreated, women and girls were raped in front of their husbands and fathers, our home were sacked, our sacred objects destroyed, even the rest of the dead was disturbed and tombs looted; many died from mistreatment.«52 Am . Januar folgten weitere Ausschreitungen in Cahul (in Südbessarabien), am . Februar in Vilcov (heute Wylkowe). Diese Unruhen sowie ein Gerichtsurteil, das die Tumultuanten von Ismail freisprach, aber den am Diebstahl völlig unbeteiligten Rabbiner und andere Juden des Ortes streng bestrafte, führte zu heftigen diplomatischen Reaktionen der europäischen Mächte England, Frankreich, Deutschland, Griechenland und Österreich-Ungarn sowie der USA, dennoch sandte der rumänische Außenminister einen Brief an die ausländischen diplomatischen Vertreter, in dem er den Juden die Schuld für die Unruhen gab – es handelt sich also offenbar um das durchgängige Muster einer Schuldumkehr seitens der rumänischen Regierung. In einigen Ländern (England, Deutschland, Italien, USA) war das Thema im Frühsommer  sogar Gegenstand parlamentarischer Debatten.53 Hintergrund für die rege Einmischung der ausländischen Staaten war die Tatsache, dass sich Juden in Rumänien, auch wenn sie teilweise im Land geboren waren, unter ausländische Protektion stellen konnten, da sie sich dadurch mehr Rechtsschutz versprachen als ihn die einheimischen Juden genossen. Hinzu kam eine kleinere Gruppe zugewanderter Juden, die ihre alte Staatsbürgerschaft behielten.54 Die aus Die englische Fassung wird zitiert nach: Iancu, Jews in Romania, S. . Nach den sorgfältigen Analysen von John D. Klier zu ähnlichen Schilderungen während der russischen Pogrome / dürfte auch diese Darstellung stark übertrieben haben. Totschlag und Vergewaltigungen kamen eher selten vor. Die Übertreibungen sind als Ausdruck des großen Schreckens angesichts der Bedrohung zu werten.  Der Deutsche Reichstag behandelte in seiner . Sitzung am . Mai  (Verhandlungen des Deutschen Reichstages, S. -) eine Petition des Vorstandes der Synagogengemeinde zu Lyk in Ostpreußen, in der diese darum bat, »dahin zu wirken, daß das Deutsche Reich seinen Einfluß in Rumänien geltend mache, den unaufhörlichen Judenverfolgungen daselbst ein Ende zu setzen.« Dieser Antrag wurde durch den nationalliberalen Abgeordneten Dr. Ludwig Bamberger unterstützt, der seinen Antrag in einer längeren Rede begründete. Der ebenfalls nationalliberale Abgeordnete Johannes Miquel äußerte die Befürchtung, dass eine Einmischung von Rumänien als Intervention aufgefasst werden könnte, die den rumänischen Juden eher schaden als nützen würde. Eine Befürchtung, die ihm von in Rumänien ansässigen Juden übermittelt worden sei. Der nationalliberale Abgeordnete Eduard Lasker wandte ein, dass die Petition nicht als Aufforderung zu einer Intervention gedacht sei, dass aber die zivilisierten Staaten ein Recht hätten, entsprechend auf die rumänische Politik einzuwirken. Der Antrag wurde schließlich mit Mehrheit angenommen.  Welter, Die Judenpolitik, S. .

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ländischen Interventionen zeigten eine gewisse Wirkung, da die rumänische Regierung die Ausweisungen und Unruhen für eine Weile stoppte, jedoch weiterhin über entsprechende Verordnungen ihre antijüdische Politik fortsetzte.55 Nach Carstocea folgte in Rumänien die antisemitische Ideologie und Praxis der offiziellen Politik gegenüber den Juden: »It is thus no surprising that some of the leading personalities of Romanian politics at the time engaged in violent anti-Jewish speeches or actions.«56 Eine neue Ausweisungskampagne begann im Jahre , insbesondere in der Region von Vaslui, wo mehr als achthundert Personen betroffen waren, die ausgesprochen roh behandelt wurden. Wie schon zuvor folgten diesen Aktionen antijüdische Ausschreitungen, deren schwerste sich im Juni  in Darobani (heute Darabani),57 in der nordöstlichen Ecke Rumäniens (Moldau) gelegen, ereignete. Es wird von Plünderung und physischer Gewalt größeren Ausmaßes gegen Juden berichtet, die von Bauern und Dienern einer Gutsbesitzerin, die diese angestiftet haben soll, verübt wurden. Sie hatte den Bauern versichert, die Regierung habe befohlen, dass sie die Juden berauben und töten sollten.58 Diese Gewalt, die am . Juni  fast einen ganzen Tag lang andauerte und bei der auch Frauen, Kinder und Alte z. T. lebensgefährlich misshandelt wurden, wurde erst durch die Ankunft des Sohnes der Gutsbesitzerin gestoppt, der die Tumultuanten mit vorgehaltenem Revolver zum Rückzug gezwungen haben soll. Gegen  Bauern und den Diener, der sie angeführt hatte, wurden Ermittlungen aufgenommen.59 Der Mann der Gutsbesitzerin und einige der Haupttäter befanden sich später in Haft, während die Drahtzieherin auf freiem Fuß blieb. Diese Ermittlungen ergaben das Bild einer Zerstörung großen Ausmaßes: von den zweihundert Häusern des Ortes wurden  Juden gehörende Häuser geplündert,  Personen waren »ohne Unterschied des Alters und des Geschlechts in der brutalsten Weise misshandelt« worden, von  Iancu, Jews in Romania, S. .  Carstocea, Uneasy Twins, S. . Er weist auf die Rundschreiben der Innenminister Ion Brˇatianu und Mihail Kogˇalniceanu hin, in denen die Ausweisung von Juden oder Polizeirazzien unter dem Vorwand der Bekämpfung von Landstreicherei angeordnet wurden, sowie auf die Ermutigung von Ausschreitungen gegen Juden unter Mithilfe der Polizei seitens verschiedener Präfekten. Außenminister Nicolae Inonescu regte  an, die Juden nach Palästina zu schicken, da sie eine »nationale Plage« seien.  Ebd., S. . Iancu datiert das Ereignis auf den . Juni, die AZJ nennt mehrfach den . Juni  (Jg. , Heft , .., S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Laut Bericht der Untersuchungskommission sollen die Pläne der Gutsbesitzerin noch weit radikaler gewesen sein, da bis zum Einbruch der Dunkelheit geplündert, anschließend das Städtchen in Brand gesteckt werden und in dem entstehenden Tumult alle Juden niedergemetzelt werden sollten, um so den Hergang der Ausschreitungen und den Wert des geplünderten jüdischen Besitzes nicht mehr ermitteln zu können. Bei der Untersuchungskommission handelt es sich um eine Kommission des k. und k.-Vizekonsuls zu Bottuschan, da ein Teil der ansässigen Juden österreichischungarische Staatsbürger waren.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Die AZJ berichtet darüber in sehr starken Formulierungen und schreibt von »Greueltaten« und »entfesselter Mord- und Raubgier«.

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denen viele im Krankenhaus behandelt werden mussten.60 Durch die Plünderungen und Zerstörungen wurden die meisten Juden des Ortes wirtschaftlich ruiniert. Hintergrund dürfte der russisch-türkische Krieg der Jahre / gewesen sein, da darauf verwiesen wird, dass dieses Gebiet wegen des Krieges von Truppen entblößt gewesen sei, was deren Nichteingreifen erklären könnte.61 Die Israelitische Allianz aus Wien berichtet, dass die Gemeinderäte des Ortes, sämtlich Analphabeten, nicht eingegriffen hätten, vielmehr seien auch bei ihnen geraubte Gegenstände aufgefunden worden. Der Gemeinderat von Darobani sei daraufhin aufgelöst worden. Die Zeitung befürchtete, der rumänische Richter würde in der Untersuchung nicht unparteiisch verfahren.62 Die AZJ zitierte später den Pesther Lloyd, wonach das Gutsbesitzerehepaar wieder auf freien Fuß gesetzt worden sei und mit einer strengen Bestrafung kaum noch gerechnet werden könne: »Die Juden bleiben geplündert, misshandelt, gemordet – und die Urheber und Thäter gegen triumphierend umher!«63 – Julia Onac spricht angesichts dieser »rechtlich« abgesicherten Verfolgungen und Übergriffe deshalb für die Jahre - von einer »Zeit des staatlich institutionalisierten Antisemitismus«, der vom politischen Regime und den rumänischen Intellektuellen getragen wurde, ein in Europa damals einzigartiges Phänomen.64 Bulgarien – Gewaltexzesse gegen Juden im Zuge des russisch-türkischen Krieges von / Obwohl es sich bei Darobani um ein lokales Ereignis im Moldau-Gebiet handelte, steht es möglicherweise im Kontext des russisch-türkischen Krieges, der sich zwischen April  bis Januar  überwiegend auf dem Gebiet Bulgariens und im europäischen Teil der (heutigen) Türkei (bis kurz vor Istanbul) abspielte. Vertragsgemäß ließ Rumänien russische Truppen durch das Land marschieren und sicherte Russland den Anschluss des südlichen Bessarabien zu (das Gebiet war bereits - unter russischer Kontrolle gewesen), während Rumänien dafür die nördliche Dobrudscha versprochen wurde. Für Rumänien bot der Krieg die Chance, seine volle Unabhängigkeit zu erlangen, und auch für Bulgarien, das den Krieg als russisch-türkischen Befreiungskrieg begrüßte, begann die Zeit der »nationalen Wiedergeburt«.65 Der russische Feldzug bedeutete allerdings für die bulga   

AZJ, Jg. , Heft , .., S. 

Ebd., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f. Am .. schreibt die AZJ, Heft , dass die Untersuchungen zu keinem Resultat führen würden, die Übeltäter blieben ungestraft mit »Ausnahme einiger untergeordneter Taugenichtse« (S. ). Der Israelit (, ..) berichtet, dass der Mann der Gutsbesitzerin aus der Haft entlassen worden sei, die Frau habe nur Hausarrest erhalten. Der Bericht schließt resigniert: »In Rumänien ist alles möglich«.  Onac, »In der rumänischen Antisemitismus-Citadelle«, S. .  Zu den politischen Voraussetzungen des russisch-türkischen Krieges, den Russland neben seinen geopolitischen Interessen auch als Schutzmacht der Slawen führte, gehörten der

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rischen Juden – noch mehr aber für viele Muslime – in den damals europäischen Gebieten des Osmanischen Reiches abgesehen von den direkten Kriegsfolgen bei der Bombardierung der Städte auch die Erfahrung blutiger Übergriffe seitens der russischen Armee (Kosaken) und der Bulgaren, die die Zivilbevölkerung, darunter vor allem Muslime und Juden, aus vielen Städten (außer Sofia) vertrieben bzw. aus denen sie vor den Soldaten flüchteten. Tausende von Zivilisten wurden in diesen Kämpfen getötet. In der jüngeren Forschung wird der russisch-türkische Krieg als mehr als nur ein politischer Machtkampf zwischen Russland und dem Osmanischen Reich gesehen: »The war struck a blow against the multi-cultural and multi-religious ethos of Balkan societies and resulted in the demographic restructuring of the Balkans«.66 Nach  führte der Wunsch nach einem homogenen bulgarischen Nationalstaat zu einer Vertreibung und Abwanderung von Minderheiten, d. h. von Muslimen, Juden und Griechen.67 Wir haben es hier im Grunde also mit einer Form von »ethnischer Säuberung« zu tun, die immer mit einem hohen Maß an Gewalt verbunden ist. Da die bulgarische Bevölkerung das Zarenreich als Befreier vom türkischen Joch ansah, begrüßte sie den Krieg enthusiastisch und nahm auch aktiv an den Kämpfen und an den Operationen hinter den Linien teil.68 Die bulgarischen Juden,69 die unter der osmanischen Herrschaft einen privilegierten Status genossen hatten, was ihnen den Vorwurf der Spionage für die Türken eingetragen hatte, verhielten sich hingegen eher neutral, zumal sie aufgrund des grassierenden russischen Antisemitismus und der Behandlung der Juden im Zarenreich eine weniger positive Erwartungshaltung gegenüber den Russen hatten – und dies nicht zu Unrecht: »Homegrown Russian perceptions of Jews and ›Jewish disloyalties‹ had a profound impact on the fate of the Bulgarian Jews at the hands of the invading Russian armies. These armies, largeley peopled by Cossack irregulars but also by Russians, Bulgarian émigrés and even Russian Jews, indiscriminately plundered the Jewish populations of Bulgaria.«70 Die russischen Militärs übertrugen ihre Vorstellung von Juden als

  

 

bosnische Aufstand gegen die osmanische Herrschaft im Jahre , der serbisch-türkische Krieg von  und der bulgarische Aufstand im April/Mai , der von der Türken blutig niedergeschlagen worden war. Siehe Pinar Üre, Immediate Effects of the - Russo-Ottoman War on the Muslims of Bulgaria, in: History Studies , , S. -, hier S.  f. Ebd., S.  f. Ebd., S. . Siehe Bartłomiej Rusin, Anti-Jewish excesses on Bulgarian territories of Ottoman Empire during the Russo-Turkish War of -, in: Studia z Dziejów Rosji i Europy Šrodkowo-Wschodniej (Studies into the History of Russia and Central Eastern Europe), /, , S. -, hier S. . Die Zahl der Juden auf dem bulgarischen Territorium wird auf .-. geschätzt, Censusdaten nach  und  kamen auf ca. . Personen (Rusin, Anti-Jewish excesses, S.  f.). Mary Neuberger, The Russo-Turkish War and the ›Eastern Jewish Question‹: Encounters Between Victims and Victors in Ottoman Bulgaria -, in: East European Jewish

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»inneren Feinden« auf die Situation in Bulgarien. Vicki Tamir schreibt, dass die Juden, sobald die russische Armee vor einer Stadt erschien, dort zu einem feindlichen Element erklärt und verfolgt wurden,71 was sie zum Ziel heftiger Verfolgung seitens der Kosaken, der bulgarischen Milizen wie auch der einheimischen bulgarischen Bevölkerung werden ließ.72 Insofern kann man Stefan Troebst zustimmen, dass der »Beginn antisemitischer Aktionen im neuen bulgarischen Staat mit dessen Geburtsstunde identisch« war.73 Für Mary Neuburger markierte der russisch-türkische Krieg, obwohl er als Kreuzzug begann, um die Türken aus Europas zu vertreiben, gleichermaßen »a turning point in the expulsion and exodus of Jews from Eastern Europe on account of their ambiguous position in the struggle between East and West, between nation and empire«.74 Erstaunlich ist der Befund der Forschung, dass russische und bulgarische Darstellungen des russisch-türkischen Krieges zwar die Ermordung und Vertreibung der türkischen Zivilbevölkerung thematisieren, aber über die antijüdischen Ausschreitungen schweigen: »Hence, the Russian and Bulgarian ›Jewish atrocities‹ have been collectively forgotten because they complicate both nationalist and Messianic myths of Slavic brotherhood«.75 Nach Rusin liegen die Gründe für dieses »selektive Vergessen« einmal darin, dass die antijüdischen Pogrome das positive Bild Russlands als Verteidiger der orthodoxen Slawen beschädigt hätte, zum anderen hätte die Beteiligung der bulgarischen Bevölkerung an den Ausschreitungen gegen Juden das bis heute vorherrschende Selbstbild Bulgariens als tolerantes Land, frei von Antisemitismus, in Zweifel gezogen.76



 

  

Affairs /, , S. -, hier S. . Zur engen Verbindung von Nationalismus, PanSlawismus und Judenhass unter den russischen Repräsentanten siehe ebd., S.  ff. Vicki Tamir, Bulgaria and Her Jews. The History of a Dubious Symbiosis, New York , S.  f. Die jüdischen Gemeinden aus Kazanlăk, Svištov, Stara Zagora, Vidin und Nikopol seien massenhaft geflüchtet, während ihr zurückgelassenes Eigentum von einem wütenden Mob geplündert und zerstört worden sei. Neuberger, The Russo-Turkish War, S. . Entgegen dem bulgarischen Selbstbild als »Land ohne Antisemiten« betont Stefan Troebst, dass die politische Elite Bulgariens nach  danach trachtete, die jüdische Minderheit von etwas unter . Personen als Teil des osmanischen Erbes loszuwerden. Die Juden besaßen kulturelle und konfessionelle Autonomie, sprachen kaum Bulgarisch, waren von Landbesitz ausgeschlossen und wurden im öffentlichen Sektor verdeckt diskriminiert. Sie stellten ca. ein knappes Prozent der Bevölkerung (Antisemitismus im »Land ohne Antisemitismus«. Staat, Titularnation und jüdische Minderheit in Bulgarien -, in: Mariana Hausleitner/Monika Katz (Hrsg.), Juden und Antisemitismus im östlichen Europa, Berlin , S. -, hier S.  f.). Entgegen der Auffassung von Troebst, die bulgarische Bevölkerung habe sich indifferent verhalten (S. ), sprechen die Quellen durchaus von deren Beteiligung an antijüdischen Ausschreitungen. Neuberger, The Russo-Turkish War, S. . Ebd., S. . »The Russian sources simply omit them (the - atrocities against Jews, W. B.) from their discussion of the events, relegating them to a place in their collective amnesia.« Rusin, Anti-Jewish excesses, S. . Siehe auch den Befund von Veselina Kulenska, Antisemitismus und Judenfeindschaft in Bulgarien am Ende des . Jahrhunderts, phil. Diss. TU Berlin (Druck in Vorbereitung), FN .

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Gewaltaktionen gegen Minderheiten fallen im Zuge militärischer Operationen gewöhnlich wesentlich brutaler aus als Übergriffe seitens der einheimischen Bevölkerung, da es sich bei den Soldaten um höher organisierte und zudem bewaffnete Gruppen von zumeist jüngeren Männern handelt. Dies ist vor allem der Fall, wenn die soziale Kontrolle seitens der militärischen Führung gering ist bzw. sie den Soldaten sogar freie Hand lässt. Vergewaltigungen, die bei zivilen Pogromen selten vorkommen, finden sich in diesen Fällen häufig. Einheimische Zivilpersonen schließen sich in manchen Fällen diesen Aktionen gegen eine Minderheit an und verhalten sich ebenfalls sehr gewalttätig. Die antijüdischen Ausschreitungen geschahen überwiegend in der ersten Phase des Krieges, also während des Vormarsches der russischen Armeen. Die Juden waren im Vergleich zu der systematischen Vertreibung der muslimischen Bevölkerung, die als Repräsentanten des osmanischen Staates gesehen wurden, der die slawische Bevölkerung seit Jahrhunderten ausgebeutet hatte, nur fallweise Plünderungen und physischen Übergriffen ausgesetzt, die seitens der russischen Soldaten von Antisemitismus und Habgier motiviert waren, während seitens der bulgarischen Bevölkerung neben persönlichem Plünderungsgewinn auch traditionelle antijüdische Vorurteile und ein allgemeines Misstrauen gegenüber dieser nichtchristlichen Minderheit, die im bulgarischen nationalen Freiheitskampf eine zweideutige Haltung eingenommen hatte, eine Rolle gespielt haben. Dies gilt, obwohl der Grad der Antipathie gegen Juden unter Bulgaren geringer war als in der Bevölkerung vieler anderer Länder Europas, auch wenn sich die Einstellung zu Juden in den er Jahren etwas einzutrüben begann.77 Die Gewalt gegen die nichtchristliche Bevölkerung setzte sofort nach dem Übergang der russischen Truppen über die Donau bei dem Ort Svištov im Juni  ein, wobei es zwei einander widersprechende Versionen der dortigen Ausschreitungen gibt. Nach einer Version begannen die Übergriffe gegen Juden und Muslime in Svištov mit dem Eintreffen der Kosaken. Erst dann hätten Bulgaren, begleitet von Vlachen und Roma, die verlassenen muslimischen Viertel geplündert, wobei auch Häuser von Juden, die nicht mit einem Kreuz markiert waren, den Marodeuren zum Opfer fielen.78 Wir hätten es in diesem Fall nicht mit einem Pogrom zu tun, sondern mit einer Plünderungsaktion russischer Soldaten, an der sich Teile der einheimischen Bevölkerung als Trittbrettfahrer beteiligten. In der anderen Version erlitten die Juden des Ortes Demütigungen, Gewalt und Ausplünderung von Seiten der christlichen Einwohner, wobei mehrere Juden getötet79 und Frauen  Rusin, Anti-Jewish excesses, S. -. Die Gewalt seitens bewaffneter bulgarischer Gruppen und irregulärer Kosaken gegen die muslimische Zivilbevölkerung konnte bei Abwesenheit militärischer Führung die Form regelrechter Massaker annehmen (Üre, Immediate effects, S. ).  Rusin, Anti-Jewish excesses, S. .  Nach Aussagen von Flüchtlingen aus der Stadt sollen Bulgaren Gräueltaten an Muslimen und Juden verübt haben, wobei mehrere Juden ermordet und türkische Frauen in den Fluss geworfen worden seien (Telegram from Mr. Huyshe to Mr. Bennett, London,

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vergewaltigt worden sein sollen: »According to some accounts, the Bulgarians began lynching and attacking Turkish and Jewish residents unprovoked, resorting to killing women and children without mercy«.80 Diese Aktionen seien durch die Entscheidung des russischen Generals Iosef Gurko begünstigt worden, der die den türkischen Truppen abgenommenen Waffen an die bulgarischen Bevölkerung weitergab. Die Juden wurden gezwungen den Ort zu verlassen, und flohen in die umliegenden Städtchen.81 Nach dieser Version hatten die Ereignisse durchaus Pogromcharakter. Ein ähnliches Schicksal erlitt die kleine jüdische Gemeinde von etwa  Personen in Karlovo (auch Karlowo) in Zentralbulgarien am Südhang des Balkangebirges, die bereits beim Herannahen der russischen Truppen zum Verlassen des Ortes aufgefordert worden waren. Viele gingen ins nahe gelegene Plovdiv, andere blieben und wollten ihren Besitz nicht in die Hände der russischen Truppen und der einheimischen Bevölkerung fallen lassen. An dem nach dem Einmarsch einsetzenden Pogrom durch die Kosaken beteiligte sich auch die bulgarische Bevölkerung. Die Häuser der Juden wurden geplündert, die Synagoge in Brand gesteckt.82 Veselina Kulenska berichtet in ihrer Arbeit, gestützt auf ein Buch des bulgarischen Ethnographen und Zeitgenossen Georgi G. Dimitrov (Die Leiden der Bulgaren und die Befreiung Bulgariens -, Sofia ), davon, dass zuvor die Stadt fünf Monate lang von einer Tscherkessenarmee der Osmanen belagert und schließlich erobert und geplündert worden war. Nach Darstellung Dimitrovs hätten die örtlichen Juden den Tscherkessen dabei geholfen und sie hätten als Gefangene abtransportierte Bürger verhöhnt. Auch in weiteren bulgarischen Städten hätten die Juden die Rolle von Verrätern und Erpressern gespielt. Darin sah Dimitrov die Ursache für ihre spätere Vertreibung aus Karlovo durch die »verärgerte« und »geschädigte« Bevölkerung. Laut Dimitrov stießen die nach Plovdiv umgesiedelten Juden bei ihrer Rückkehr nach Ende des Krieges auf eine sehr feindselige Stimmung der christlichen Bevölkerung Karlovos, wobei vor allem die Frauen mit Gewalt gegen Chumla, July th, , in: Russian Atrocities in Asia and Europe during the months of June, July, and August , printed by A. H. Boyajian, Constantinople , no. , S. ).  Ebd. Rusin weist aber darauf hin, dass der Autor dieses Berichts, L. Bernhard, eine deutlich anti-bulgarische und anti-russische Haltung eingenommen habe. Ein anderer zeitgenössischer Autor (Paul Bourde, Russes et turques. La guerre d’Orient, vol. , Paris , S. ) spricht dagegen von einzelnen Tötungsfällen durch Banden, die durch die Stadt streiften (zit. bei Rusin, Anti-Jewish excesses, S. ).  Kulenska, Judenfeindschaft, S.  ff. Schon zuvor war es in der Stadt und Festung Matschin (Mˇacin) in der rumänischen Dobrudscha nach dem Auszug der türkischen und der Ankunft der russischen Truppen zu einer Schändung der Synagoge seitens der bulgarischen Einwohner gekommen. »Matschin ist jetzt in einen Schutthaufen verwandelt und die Einwohnerschaft an den Bettelstab gebracht« (Der Israelit, Heft , ..).  Kulenska, Judenfeindschaft, S.  f. Siehe auch Rusin, Anti-Jewish excesses, S. : »Those who opposed and remained in their homes were almost entirely exterminated by Bulgarian criminals and the Cossacks serving in the Russian army«. Auch nach Rusin wurden Rückkehrer später feindselig empfangen und verließen daraufhin Karlovo.

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die Juden vorgegangen seien, die durch die Polizei geschützt werden mussten. Die Lage in der Stadt beruhigte sich auch danach nicht, so dass die Juden die Stadt wieder verließen, was Dimitrov zustimmend kommentiert: »Jetzt sind in Karlovo schon keine Juden mehr zu sehen«.83 Tatsächlich ist dort die jüdische Gemeinde nicht wieder neu entstanden, und nach dem Krieg verblieben nur wenige Juden in der Stadt. Diese Darstellung dürfte eher als Versuch einer Rechtfertigung des späteren Pogroms und der Vertreibung der Juden beim Einmarsch der Kosaken denn als zutreffende historische Wiedergabe der Ereignisse zu werten sein. So verneint der Historiker Ivan Undžiev in seinem Buch über Karlovo ausdrücklich, dass die örtlichen Juden während des russisch-türkischen Krieges den Bulgaren gegenüber feindselig eingestellt gewesen seien.84 Er kritisiert, dass bei Dimitrov nicht deutlich wird, ob die den Juden unterstellten Taten sporadisch oder durchgängig auftraten und ob sie nur in Karlovo vorgefallen seien, während der Historiker Eli Haim Eškenazi in einem Aufsatz von  die Darstellung Dimitrovs als Resultat seines antisemitischen Standpunkts und nicht als ein Abbild realer Ereignisse einstuft.85 Hintergrund für die Anschuldigungen Dimitrovs könnte sein, dass die Bulgaren die Russen als Befreier vom »türkischen Joch« gefeiert haben, während unter den Juden aufgrund der Behandlung der Juden im Zarenreich eine skeptische Haltung gegenüber den Russen vorgeherrscht haben dürfte. Das Schicksal Svištovs und Karlovos traf im Juli  dann in noch ungleich größerem Ausmaß die Städte Kazanlăk und Stara Zagora.86 Nach Darstellung der AZJ seien die jüdischen Bewohner aus Kazanlăk, Svištov, Stara Zagora, Vidin und Nikopol vor den anrückenden Truppen massenhaft geflohen und ihr Besitz sei von einer plündernden Menge geraubt worden.87 Besonders betroffen waren aber die Häuser von Muslimen. Die antijüdische Gewalt in Kazanlăk (auch: Kazanlik, Kezanlik) scheint sich in mehreren Wellen ereignet zu haben: Nach Rusin hätten die Bulgaren am Ort die türkische und jüdische Bevölkerung bereits vor dem Eintreffen der russischen Truppen angegriffen. Die Hoffnung der Juden, die Ankunft der russischen Truppen würde die Ordnung in der Stadt wiederherstellen, trog, da diese die komplizierte Situation weiter verschärften, indem sie die Türken entwaffneten und die Waffen  Kulenska, Judenfeindschaft, S.  f.  Ivan Undžiev, Karlovo. Istorija na grada do Osvoboždenieto (Karlovo. Geschichte der Stadt bis zur Befreiung), Sofia , S.  (zit, nach Kulenska, Judenfeindschaft, S.  f.).  Eli Haim Eškenazi, Njakoi beležki okolo Aprilskoto vˇastanie (Einige Notizen über den Aprilaufstand), in: Evrejski vesti (Jüdische Nachrichten) Nr. , . August . Zit, nach Kulenska, Judenfeindschaft, S. . Zur Frage, ob Dimitrov als Antisemit einzuschätzen sei, die die Vf. positiv beantwortet, siehe: ebd., Kap. ...  Veselina Kulenska stützt ihre Darstellung z. T. auch auf den Aufsatz von: Zvi Keren, Sˇadbata na evreiskite obšnosti v Kazanlăk i Stara Zagora po vreme na Rusko-turskata viona ot - godina (Das Schicksal der jüdischen Gemeinden in Kazanlăk und Stara Zagora während des Russisch-türkischen Krieges von -), in: Istoričesko bˇadešte (Historische Zukunft), Nr. -, , S. -.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

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an die Bulgaren weitergaben, damit diese eine Bürgermiliz zum Schutz der Zivilbevölkerung bilden sollten. Diese Miliz soll dann begonnen haben, die muslimische Bevölkerung zu ermorden. Bulgaren und Kosaken hätten aus Habgier dann auch die Juden attackiert.88 Nach dem Bericht eines geschädigten Juden des Ortes hätten die russischen Truppen und bulgarischen Milizen die Stadt nach dem julianischen Kalender am . (gregorianischer Kalender am .) Juli  besetzt. Der russische Kommandant habe dann am . Juli (. Juli) den christlichen Einwohnern erlaubt, die Häuser der Muslime und der ca. sechshundert Juden des Ortes zu plündern, wobei es ihm vor allem um das Aufspüren und die Beschlagnahme von Waffen ging.89 Die bulgarischen Einwohner hätten dann die Plünderungen und Misshandlungen ungestraft noch mehrere Tage lang fortgesetzt,90 wobei es ihnen offenbar vor allem um den Raub jüdischen Besitzes ging. So hätten sie von den Juden zunächst Geld, Waren oder Gerätschaften verlangt, diese Forderungen dann immer weiter gesteigert und zu plündern begonnen. Schließlich habe man das Vieh geraubt, die Juden aus den Häusern vertrieben und einige von ihnen ermordet.91 Für die weiteren Ereignisse in Kazanlăk gibt es unterschiedliche Darstellungen.92 Nach Darstellung der AZJ und des Israeliten sollen in Kazanlăk nach dem Abzug der regulären russischen Truppen ab dem . Juli (. Juli) Bulgaren und Kosaken neun Tage lang über die Juden hergefallen sein, sie ermordeten die Männer und vergewaltigten Frauen oder verschleppten sie.93 Nach Aussagen der nach Bukarest geflüchteten Juden aus Kazanlăk seien sie von den russischen Soldaten vor den Bulgaren geschützt worden, auf deren Konto die »Totschläge, Schändungen und Plünderungen« gingen.94 Auch  Rusin, Anti-Jewish-excesses, S. .  Laut einem Bericht (Die Judenhetze in Kasanlik) von nach Bukarest geflüchteten Juden aus Kazanlăk war den russischen Soldaten erlaubt worden, die türkischen und jüdischen Häuser zu plündern, doch sei ihnen dabei sonst nichts Böses zugefügt worden. Diese Aktion sei dann das Signal für die Bulgaren gewesen, über die Juden herzufallen (Der Israelit, Heft , .., S. -).  Kulenska, Judenfeindschaft, S. . Die Darstellung beruht auf dem Bericht des Vertreters der Alliance Israélite Universelle in Konstantinopel, M. Venecijani, in: Alliance Israélite Universelle, Bulletin mensuel /, S. -.  Der Israelit, Heft , .., S. . In dem Bericht eines Augenzeugen, Mercado Cohen, wurden namentlich elf getötete Juden, darunter eine Frau, genannt sowie über die Vergewaltigung von fünf jüdischen Frauen berichtet.  Kulenska hebt in ihrer Arbeit hervor, dass die kollektive Gewalt gegen Juden in Kazanlăk nur in neutralen und jüdischen Quellen erwähnt wird, es findet sich davon keine Spur in den bulgarischen Quellen, obwohl diese wiederum sehr detaillierte Informationen über die Grausamkeiten geben, denen die örtliche muslimische Bevölkerung ausgesetzt war (Judenfeindschaft, S. ). Auch die jüdische Presse in Bulgarien, die die militärischen Aktionen schilderte, erwähnte die Pogrome in Karlovo und Kazanlăk nicht. Kulenska nimmt hier die Wirkung der Zensur der auf dem Territorium des Zarenreiches erscheinenden Zeitungen an.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; ganz ähnlich der Bericht »Die Judenhetze in Kasanlik«, den ein Berichterstatter der Presse aus Bukarest schrieb: Als Täter wurden hier allein die einheimischen Bulgaren genannt, die »eine Judenverfolgung nach mittelalterlichem

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nach dem Bericht des oben genannten Augenzeugen wurden die Juden, darunter auch Frauen, Kinder und Alte, ausgeplündert, geschlagen und getötet, obwohl der Vorsteher der jüdischen Gemeinde den russischen Stadtkommandanten gebeten hatte, diese zu verschonen, was dieser auch zugesagt haben soll.95 Nach dieser Darstellung erreichte das Pogrom erst am . Juli (. August), einem Sabbat,96 seinen Höhepunkt, als sich eine ungewöhnlich große Zahl von Juden, entgegen dem Befehl die Stadt zu verlassen, in der Synagoge versammelt hatte. Unter Anleitung eines ortskundigen Mannes, der für die Juden kleinere Aufträge übernommen hatte und deshalb deren Häuser und Geschäfte gut kannte, wurden die Häuser von den Plünderern nach Wertgegenständen durchsucht und ausgeraubt.97 Die Pogromisten töten einen Juden am Eingang der Synagoge und nahmen dessen Bruder als Geisel, um von der Familie Lösegeld zu erpressen. Obwohl die Familie das Lösegeld bezahlte, kam die Geisel nicht frei, sondern wurde zwei Wochen später am Stadtrand tot aufgefunden.98 Die in der Synagoge eingeschlossenen Juden litten in der sommerlichen Hitze an Hunger und Durst. Russische Offiziere hätten schließlich zwei Tage später die in der Synagoge und der Schule eingeschlossenen Juden befreit, als sie vor der anrückenden türkischen Armee die Stadt räumten.99 Auch in diesem Fall gibt es stark divergierende Angaben über die Zahl der Opfer. Nach einer Darstellung sollen in Kazanlăk  Juden ermordet worden sein,  wurden vermisst,  flohen in Richtung Adrianopel und  folgten den russischen Einheiten zurück über den Schipka-Pass.100 Nach mehreren anderen Berichten sollen in der Zeit vom

  

  

Style arrangirt« hätten. Die nach Bukarest geflohenen Juden betonten, dass sie von den Kosaken gegen die »wüthenden Bulgaren« geschützt worden seien (Der Israelit, Heft , .., S. -). Kulenska, Judenfeindschaft, S. . Der .. war nach dem gregorianischen Kalender allerdings ein Sonntag, nach dem julianischen war der entsprechende . Juli ein Dienstag. Vgl. auch Rusin, Anti-Jewish excesses, S. . In einem Bericht der Kölnischen Zeitung wird diese Episode anders erzählt: Die russischen Truppen seien an einem Samstag in die Stadt eingedrungen und hätten die in ihren Synagogen versammelten Juden umzingelt. Der Anführer der hier als Kosaken und Bulgaren benannten Täter war ein ortsansässiger Bulgare, der früher Aufseher in den jüdischen Weinbergen gewesen war und nun diejenigen Juden bezeichnete, die festgenommen werden sollten. Er soll diese dann eigenhändig erwürgt haben. Er habe dann Hunde schlachten lassen und die Juden gezwungen, deren Blut, vermischt mit Menschenblut, zu trinken. Den Leichnam des getöteten jüdischen Gemeindevorstehers Abraham Canetti habe er von Hunden zerreißen lassen (zit in: Der Israelit, Heft -, .., S. ). Rusin, Anti-Jewish excesses, S. . Kulenska, Judenfeindschaft, S. . Rusin, Anti-Jewish excesses, S. . Rusin stützt sich auf einen Artikel aus dem Buch von Z. Keren, The Ottoman-Russian War /, ed. O. Turan, Ankara , S. -. Die AZJ berichtet nach Informationen der Alliance Israélite Universelle aus Paris vom .. von ähnlichen Zahlen:  ermordeten, acht verschwundenen,  umherirrenden und  verwundeten Juden.  sollen nach Konstantinopel geflüchtet,  mit Gewalt nach Schipka gebracht worden sein – Letztere kamen als Flüchtlinge dann nach Bukarest (Jg. , Heft , .., S. ).

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Einmarsch der russischen Truppen bis zum . Juli (. August)  jüdische Frauen und Männer getötet worden sein, eine vielfach höhere Zahl war von Schlägen, Entführungen und Vergewaltigungen betroffen,101 ein Bericht spricht von fünf vergewaltigten Jüdinnen.102 Auf der Flucht starben weitere Menschen an Erschöpfung und Übergriffen. Der Bericht enthält Darstellungen von ausgesprochener Grausamkeit, wie etwa, dass das Oberhaupt der jüdischen Gemeinde getötet und sein Körper von Hunden zerrissen worden sei, oder dass die Plünderer, wütend über zu geringe Beute, Hunde niedermetzelten und die Juden zwangen, deren Blut zu trinken.103 Bei solchen Berichten, wie wir sie auch von russischen Pogromen her kennen, ist Vorsicht geboten, da sie eher zum Hervorheben der besonderen Grausamkeit der Täter dienen sollen, als dass sie den Tatsachen entsprechen. Die AZJ und der jüdische Augenzeuge nannten die Bulgaren (und Kosaken) als Tätergruppen und nahmen reguläre russische Truppen explizit aus, die sogar als Beschützer der Juden dargestellt wurden. In einem Aufsatz in The Jewish Chronicle vom . Oktober , der von dem Korrespondenten der Zeitung The Standard in Bukarest verfasst wurde, wurden allerdings auch Russen für die Grausamkeiten an den Juden während des Krieges verantwortlich gemacht.104 Sie hätten die Bulgaren, die seit Generationen friedlich mit den Juden zusammengelebt hätten, zu den Angriffen aufgehetzt. Auch der Korrespondent interpretiert die bulgarischen Übergriffe als eine Art Vergeltung für die Kooperation der Juden mit dem Osmanischen Reich, stellte sie also in den Kontext der »nationalen Wiedergeburt« des  Kulenska, Judenfeindschaft, S. . Nach einem anderen Bericht seien  Juden getötet worden,  Leichen habe man im Hof der Synagoge verbrannt, eine sei von einem Hund gefressen worden. Unter den  Toten sei auch ein mehrfach vergewaltigtes jähriges Mädchen gewesen. Weitere  Juden seien verletzt worden (Telegram from an official person to another official person, London, Constantinople, August th , in: Russian atrocities, No. , S. ). Diese Zahlen nennt auch der Oberrabbiner von Adrianopel in einem Telegramm an die britische Zeitung Standard. Die AZJ verbreitete eine weit übertriebene Nachricht der Alliance Israélite Universelle, wonach in Kazanlăk die Hälfte der Juden durch Bulgaren niedergemetzelt worden sei (Jg. , Heft , vom .., S. ).  Archives Israélite Universelle /, .. (zit. nach Kulenska, Judenfeindschaft, S. ).  In einer anderen Darstellung der Ereignisse (Die Judenhetze in Kasanlik) wird aus einem Bericht des Pesther Lloyd vom . September zitiert, der davon spricht, dass Bulgaren und Kosaken ihr »Bluthandwerk« mit »beispielloser Brutalität« ausgeübt hätten: »Mädchen wurden unter den Augen der Eltern geschändet und dann hingeschlachtet, Säuglinge wurden mit Lanzen an Thüren und Thoren geheftet, Männer bei lebendigem Leibe geschunden, Greise gepfählt« (Der Israelit, Heft , .., S. ). Die Tatsache, dass hier geradezu alle gängigen Topoi zur Darstellung besonders brutaler Gewalt aneinandergereiht werden, lässt starke Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt aufkommen.  Auch Der Israelit (Heft , .., S. ) zitiert aus einer von dem englischen Gesandten Layard an den britischen Außenminister Lord Derby gerichteten Depesche vom Kriegsschauplatz, die ein Henry de Worms im Daily Telegraph veröffentlichte, wonach die nach Adrianopel geflohenen Juden von »den Händen der Bulgaren und Russen fast ebenso wie die Mohammedaner die grausamste Behandlung erfahren« hätten.

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Landes.105 Es dürfte wohl am ehesten den Tatsachen entsprechen, dass die Angriffe von Bulgaren mit Unterstützung von Kosaken auch nach dem Abzug russischer Truppen weitergeführt wurden: »Allegedly, the Bulgarian assailants also displayed considerable brutality, raping women and murdering everyone regardles of gender and age, with the Jewish community the most effected of all.«106 Nach Darstellung in den Archives Israélite Universelle flohen  Juden nach Adrianopel, weitere  seien gewaltsam zum Schipka-Pass weggeführt worden. Die Zahlengaben über die Zahl der Flüchtlinge wie auch der auf der Flucht Gestorbenen oder Verschwundenen variieren in den Berichten.  Juden (andere Zahlenangaben lauteten: ,  und ) gelang unter dem Schutz von Kosaken in  Tagen die Flucht nach Bukarest, wobei sie von bulgarischen Kutschern nochmals ausgeraubt worden sein sollen.107  Personen (in anderen Berichten ) seien noch auf der Flucht vor Erschöpfung gestorben, andere dann in Bukarest, wo sie keine Unterkunft fanden (insgesamt sollen  Personen gestorben sein).108 Eine andere Nachricht spricht von  vergewaltigten Frauen und zudem davon, dass junge Mädchen und Frauen von Kosaken und Bulgaren in die Berge verschleppt wurden.109 Da schon die jüdische Bevölkerung, die nicht das primäre Ziel der Gewalt war, hohe Opferzahlen zu beklagen hatte, dürfte die Zahl der ermordeten und vertriebenen Muslime noch weitaus höher gelegen haben.110 Auch aus dem Ort Stara Zagora (in den Quellen auch: Eskisaghra oder EskiZaara), in dem mit ungefähr zweitausend Personen eine große jüdische Gemeinde lebte, wurde von Übergriffen berichtet.111 Am . (.) Juli  marschierten russische Truppen und bulgarische Freiwilligenverbände, von den Bulgaren enthu Zit. nach Kulenska, Judenfeindschaft, S.  f.  Rusin, Anti-Jewish excesses, S. . Rusin zitiert hier ein Telegramm eines englischen Beobachters, der seinen Bericht über zahlreiche Gräueltaten auf die Aussagen der in Konstantinopel eingetroffenen halb verhungerten und z. T. verletzten jüdischen und muslimischen Flüchtlinge stützte (Mr. Gray, an den Daily Telegraph London, Pera, . August , in: Russian Atrocities in Asia and Europe, No. , S. -).  Aus Bukarest wurde am . September die Ankunft von  »türkischen Judenweibern und Kindern« aus Kazanlăk gemeldet,  seien unterwegs vor Erschöpfung gestorben. Sie seien auf der Flucht von Kosaken geschützt worden (ebd., S. , ebenso Die Presse vom ..).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Vgl. dazu die Berichte No. ,  und , in: Russian Atrocities, S.  ff. Üre, Immediate effects, S. , spricht von fast . Muslimen, die in den Massakern getötet oder an Hunger und Krankheiten (Typhus) gestorben seien. Geschätzte . seien geflohen.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Nach Rusin, Anti-Jewish excesses, S.  f., findet sich bei Z. Keren (The Ottoman-Russian War /) sogar die Angabe, es seien fast dreitausend jüdische Einwohner gewesen, während ein anderer Autor von . spricht. In der Stadt sollen dreihundert Häuser von Juden bewohnt worden sein, . von Muslimen und . von Bulgaren. Zerstörungen habe es auch durch den Kanonenbeschuss der Städte (z. B. Vidin) gegeben. Vgl. Tamir, Bulgaria, S. .

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siastisch begrüßt, in die Stadt ein. Der russische General Gurko ließ bulgarische Miliz zum Schutz in der Stadt, doch nahmen dies bulgarische Banden zum Anlass, die Zivilbevölkerung einzuschüchtern und auszuplündern. Beim Herannahen türkischer Truppen zogen russische Einheiten in Begleitung vieler Zivilisten aus der Stadt ab, die durch Artilleriefeuer stark zerstört wurde.112 Juden und Muslimen wurde befohlen, ihre Häuser nicht mehr zu verlassen. Die Archives Israélite Universelle berichteten, dass in dieser Phase zwischen dem Abzug der regulären russischen Truppen und vor Ankunft der Türken, also in der Zeit eines Machtvakuums, die Gewalt und die Plünderungen vor allem von den Kosaken ausgingen, dass die »Bulgaren aber keine unbeteiligten Zeugen waren, sondern eifrig dran teilnahmen.«113 Die Plünderungen durch die Kosaken und Bulgaren dauerten neun Tage lang, was schon zeigt, dass wir es nicht mit der üblichen Form eines Pogroms, sondern mit einer Aktion im Zuge der militärischen Einnahme einer Stadt zu tun haben. Wohlhabende Juden wurden durch Anwendung von Gewalt zur Herausgabe ihres Besitzes gezwungen oder von bulgarischen Schuldnern, darunter auch Muslimen, unter der Drohung, sie und ihre Familien würden dies sonst mit dem Leben bezahlen, erpresst, auf die Rückzahlung von Schulden zu verzichten.114 Veselina Kulenska erwähnt auch Mordtaten, ohne jedoch genauere Angaben dazu zu machen, während nach Rusin die Ausschreitungen insgesamt sechshundert Todesopfer, darunter auch Frauen und Kinder, forderten. Es seien  Juden getötet und mehrere Hundert verletzt worden.115 Die Geschehnisse in Stara Zagora waren auch Gegenstand eines Artikels, den der englische Jewish Chronicle am . August  unter dem Titel »Die Juden und der Krieg« veröffentlichte, der entsetzliche Einzelheiten über Morde und Vergewaltigungen sowie Plünderungen durch die Kosaken und ihre bulgarischen Komplizen schilderte. Auch ein Bericht der Kölnischen Zeitung beschrieb die Vorgänge in besonders drastischer Weise. Nach den Plünderungen der Häuser nahmen die Soldaten Frauen und Kinder als Geiseln, um die Herausgabe vergrabener Reichtümer zu erzwingen. Da dies nicht den erhofften Erfolg hatte, sollen sie begonnen haben, Frauen und Mädchen zu schänden, die Bewohner in die Häuser zu sperren und diese anzuzünden. Auch die Synagoge soll entweiht worden sein. Muslimische Einwohner waren offenbar ähnlich schwer betroffen, so hätten Leichen muslimischer Männer auf den Straßen der Stadt gelegen, ebenso verwundete und verstümmelte  Rusin, Anti-Jewish excesses, S. .  Archives Israélite Universelle /, vom .., S.  f. (zit. nach Kulenska, Judenfeindschaft, S. ).  Kulenska, Judenfeindschaft, S. , als Quelle wird The Weekly Dispatch vom .. angegeben. Siehe auch Rusin, Anti-Jewish excesses, S.  f., der besonders betont, dass die bulgarische Bevölkerung das Chaos nach Abzug der russischen Truppen nutzte, um über die Häuser reicherer Juden herzufallen.  Rusin, Anti-Jewish excesses, S. . Die in der AZJ genannte Zahl von . Opfern für Stara Zagora dürfte bei insgesamt zweitausend jüdischen Einwohnern deutlich zu hoch gegriffen sein (AZJ, Heft , .., S. ).

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Frauen, geknebelte junge Mädchen und angekettete Greise.116 Die Gewalt endete erst durch die Rückeroberung der Stadt durch die Armee Süleyman Paschas am . Juli, bei der Artilleriebeschuss und Brände die Stadt zerstörten. Die russischen Truppen zogen sich zurück, und ein großer Teil der christlichen Bevölkerung, aber auch die Juden flohen in die Umgebung oder zu den russischen Linien. Viele von ihnen wurden von den muslimischen Truppen getötet. Jüdische Flüchtlinge ließen sich nun verarmt in Adrianopel nieder.117 Dimitˇar Ilkov entwarf in seiner  publizierten Geschichte der Stadt Stara Zagora118 ein völlig anderes Bild. Danach seien die Juden beim Einmarsch der russischen Truppen völlig unbehelligt geblieben, und ihnen wurde vorgeworfen, sie würden ihr Leben mit Geld freikaufen und Spionagedienste für reiche Türken leisten. Die Juden hätten bei der Rückeroberung der Stadt durch die Türken verfolgten Bulgaren keinen Schutz gewährt, sondern viele Bulgaren in die Hände der türkischen Behörden übergeben, die dann von den Türken auf den Märkten und vor den Moscheen gehängt worden seien. Ähnliches habe sich in Adrianopel und Konstantinopel ereignet. Dafür fehlen jedoch jegliche Quellen, im Gegenteil gibt es Belege, dass jüdische Familien die Flucht von Bulgaren organisiert und so deren Leben gerettet hatten.119 Als die Einnahme von Sofia durch russische Truppen im Dezember  bevorstand und der osmanische Gouverneur (Mütesarif ) die Stadt in Brand setzen wollte, protestierte auch der Oberrabbiner gegen diese Maßnahme. Als sich die regulären osmanischen Truppen zurückzogen, blieben die Baschibozuks120 in der Stadt und begannen, die von evakuierten und geflüchteten Bürgern verlassenen Häuser zu plündern und Frauen zu vergewaltigen. Sie verschonten auch die Häuser von Juden nicht. Sie steckten nicht nur viele Häuser in Brand, sondern auch die in der Stadt verstreuten Speicher für Nahrung und Waffen. Die Juden bildeten eine eigene Miliz und eine freiwillige Feuerwehr, die einen großen Anteil am Löschen der Brände gehabt haben soll,121 und der Oberrabbiner von Sofia sowie weitere Juden waren unter denjenigen, die den russischen General Gurko bei der Einnahme der Stadt begrüßten.122  Zit. nach Der Israelit, Heft -, .., S. .  Kulenska, Judenfeindschaft, S. .  Dimitˇar Ilkov, Prinos kˇam istorijata na Stara Zagora (Ein Beitrag zur Geschichte von Stara Zagora), Plovdiv , S.  ff. (zit. Kulenska, Judenfeindschaft, S. ). Vgl. dazu auch Rusin, Anti-Jewish excesses, S. .  Kulenska, Judenfeindschaft, S. .  Die Başı Bozuk (Başıbozuk, Baschi-Bosuks) waren irreguläre Truppen des Osmanischen Reiches, die sich aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammensetzten und vom Staat Waffen und Proviant bekamen. Sie bekamen keinen Sold, sondern versorgten sich über Raub, Plünderung und Brandschatzung, wozu sie vom Sultan legitimiert waren.  Kulenska, Judenfeindschaft, S. .  Simon Marcus, Bulgaria, in: Encyclopaedia Judaica, Vol. , . Aufl., Detroit , S. . Siehe dazu auch Rusin, Anti-Jewish excesses, S.  f.

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Das weitere Vordringen der russischen Armee führte teils wegen des heftigen Beschusses der Städte,123 teils bei ihrer Einnahme zu einer großen Fluchtbewegung der jüdischen Einwohner. Nach Rusin betraf der Krieg auch die Juden in kleineren Städten und Dörfern, wo sie unter Artilleriebeschuss litten, aus ihren Häusern vertrieben oder Opfer von Plünderungen und Mord wurden.124 Die Alliance Israélite Universelle beklagte in einem Circular, dass »unsere Glaubensgenossen […] außerordentlich vom Krieg in allen Theilen der europäischen Türkei [leiden]. Eine Bevölkerung von . Israeliten ist in das größte Elend versetzt.«125 Ab August  findet sich in nahezu jeder Ausgabe der AZJ ein Bericht über jüdische Flüchtlinge, die aus den bulgarischen Städten nach Adrianopel, Konstantinopel, Bukarest und z. T. auch weiter nach Budapest oder aber in die Berge geflohen seien. Dies geschah wohl häufig unter dem Schutz osmanischer Truppen (z. B. die Flucht von zweitausend Juden aus Jenisaghra (Yeni Saghra) – einer Stadt nahe Kazanlăk – nach Adrianopel).126 Allerdings flüchteten nicht nur Juden vor den Kriegsereignissen. So sollen Ende September  . geflüchtete Bulgaren, Türken und Juden in Adrianopel eingetroffen sein.127 Dabei wurden aber von jüdischer Seite vor allem die Bulgaren gefürchtet, die sich in der Gewalt gegen Juden und Muslime hervorgetan hätten, so dass man angesichts der Gründung eines eigenständigen bulgarischen Staates große Bedenken hatte: »Denn sei es die angeborene, noch nicht gezähmte Wildheit der Bulgaren, sei es die in ihnen durch Aufstand und Krieg entflammte Wuth derselben, das Schicksal, das sie den Mohammedanern und Juden aus der Bulgarei bereitet haben und ferner bereiten werden, ist das denkbar Schrecklichste«.128 Der Friedensvertrag bestätigte nach Meinung des Berichterstatters die Befürchtungen, da er die Vertreibung der Muslime sanktioniere, den Juden werde es nicht besser ergehen, so dass es ratsamer sei, »aus der Mitte dieses barbarischen Volkes zu fliehen«.129 Aber auch  Die AZJ berichtet von dem Bombardement Rustschuks, bei dem neunhundert Häuser, ca. ein Fünftel der Stadt, zerstört wurden, darunter auch Häuser und die Synagoge im jüdischen Quartier. Drei Juden wurden dabei getötet, weitere sechs verletzt (Jg. , Heft , .., S. ).  Rusin, Anti-Jewish excesses, S. . Er nennt die Städte Nikopol, Karnobat, Samokov, Berkovitsa, Vratsa und Kjustendil, wo zwei Juden von Bulgaren ermordet worden seien. Bei Neuberger, The Russo-Turkish War, S. , wird von antijüdischen Ausschreitungen in Loma Palanka (heute Lom in Nordwestbulgarien) berichtet: »The Russians and Bulgarians rival each other in brutality against the Jewish population of Loma Palanka. Whenever a Jew shows himself he is beaten. Every day money is demanded of the Jews under some pretext or other. The houses which were not ruined by the war have been destroyed«. Neuberger zitiert hier allerdings aus einer amerikanisch-jüdischen Zeitung, die weit vom Geschehen entfernt war: The Jewish Progress (San Francisco), ...  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Heft , vom .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Ebd.

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AUSSCHREITUNGEN GEGEN JUDEN IM ZUGE DER BILDUNG NEUER NATIONALSTAATEN

aus der Hafenstadt Chania/Kania auf Kreta wurde berichtet, dass die griechische Bevölkerung die jüdischen und türkischen Einwohner ausplünderte und tötete.130 Die Repatriierung jüdischer und muslimischer Flüchtlinge nach dem Berliner Vertrag im Juli  stieß auf Proteste der bulgarischen Bevölkerung, die in ihnen die Überreste osmanischer Herrschaft sahen. In der Region von Burgas wurden offenbar mehrere Dörfer in Brand gesteckt, um die Rückkehrer abzuschrecken, oder die Rückkehrer fanden ihre Häuser oder ihr Land von Bulgaren besetzt oder wurden von russischen Offizieren und örtlichen Polizisten misshandelt. Der britische Vizekonsul in Burgas beobachtete lokale Demonstrationen, bei denen man den russischen Zaren hochleben ließ und »Weg mit den Türken und Juden!« sowie »Bulgarien den Bulgarien« gerufen habe. Die Flüchtlinge erfuhren jedoch auch Hilfe von Bulgaren, die nun ihrerseits Ziel von Angriffen wurden. Versuche, europäische Kommissionen einzusetzen, die die Repatriierung überwachen sollten, scheiterten am Widerstand Russlands.131 Rusin sieht entsprechend in den antijüdischen Ausschreitungen einen Wendepunkt in der Einstellung der örtlichen slawischen Bevölkerung gegenüber der jüdischen Minderheit, der den Beginn des modernen Antisemitismus in Bulgarien markierte.132 Für die Beantwortung der Frage, wie es in Bulgarien, dessen Bevölkerung vergleichsweise wenig judenfeindlich eingestellt war, zu einer solchen Gewaltorgie in einer Reihe kleinerer Städte kommen konnte, ist der Kriegskontext entscheidend, zumal einige der Orte eine wechselnde russische und wiederum türkische Besetzung erlebten. Im Fall der antijüdischen Gewalt im Zuge des russischen Feldzuges haben wir es also mit einem besonderen Pogromtyp zu tun, da die Übergriffe zumeist von organisierten militärischen Gruppierungen initiiert und getragen wurden, die dann für Teile der bulgarischen Ortsbevölkerung die Chance eröffneten, sich straflos an der Plünderung jüdischer Häuser und sogar an Mordtaten und Vertreibungen zu beteiligen. Dabei spielte es auch eine Rolle, dass die antijüdische Gewalt offenbar eine Art Begleiterscheinung der Gewalt gegen die muslimische Bevölkerung war, die zusammen mit der osmanischen Herrschaft aus dem Land entfernt werden sollte. Die zweideutige Haltung der Juden gegenüber dem Osmanischen Reich bzw. gegenüber den nationalen Ambitionen der Bulgaren machte diese in den Augen der bulgarischen Bevölkerung zu Parteigängern bzw. sogar Helfern der Muslime und gab den kollektiven Gewaltakten so eine gewisse Legitimation. Die jüdische Minderheit wurde also als Verbündete der Türken attackiert, doch spielte bei den Ausschreitungen und Plünderungen auch das Motiv des Plünderungsgewinns eine wichtige Rolle.133 Die russische Besetzung der Städte bot somit eine günstige Gelegenheit, teils gemeinsam mit den Kosaken gegen die muslimische und jüdische Bevölkerung vorzugehen. Deshalb ereigneten sich die Ausschreitungen vor allem in den ersten drei Monaten des russischen Feldzuges. Rusin weist noch auf einen an   

AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

Üre, immediate effects, S. . Rusin, Anti-Jewish excesses, S. . Siehe dazu ähnlich Rusin, Anti-Jewish excesses, S. .

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deren wichtigen Aspekt der Kriegssituation hin, nämlich das vorherrschende Chaos und die Bedrängnis der Bevölkerung. Die Angst war vor allem in Kazanlăk und Stara Zagora greif bar, wo die Freude über die Ankunft der Russen schnell durch Angst vor den herannahenden türkischen Truppen abgelöst wurde.134 Die Berichte über die während des russisch-türkischen Krieges begangenen Übergriffe gegen die jüdische Bevölkerung in den bulgarischen Städten bieten hinsichtlich der Tätergruppen, der Zahl der Opfer und der Darstellung der Ereignisse kein klares Bild, zumal nach Mary Neuberger die genaue Benennung der Täter je nach der Ausrichtung der Berichterstattung variierte, aber sowohl jüdische wie nicht-jüdische Quellen belegen doch die Schwere der Aggression gegen die jüdische Bevölkerung seitens der Bulgaren, Russen und besonders der Kosaken.135 Einerseits werden vor allem die in russischen Diensten stehenden Kosaken, aber auch reguläre russische Truppen als Plünderer und Gewalttäter benannt, in deren Gefolge sich auch die bulgarischen Freiwilligen und Teile der christlichen Stadtbevölkerung an den Ausschreitungen beteiligt hätten. Die Bulgaren werden als durch die russischen Truppen aufgehetzt betrachtet, doch wird in manchen Berichten wiederum hervorgehoben, dass die bulgarische Bevölkerung schon vor Eintreffen oder nach Abzug der russischen Truppen über die Juden hergefallen sei bzw. sich bereitwillig an den Übergriffen beteiligte. Die Kosaken werden in einigen Fällen sogar als Schutzmacht der flüchtenden Juden dargestellt, und es wird vor allem die Täterschaft und Brutalität der Bulgaren hervorgehoben. Die osmanischen Truppen werden insgesamt als Schutzmacht angesehen, eine Ausnahme bildeten in einem Fall die Baschibozuks. Rusin hat zu Recht auf einen sehr wichtigen Punkt hingewiesen, nämlich die Haltung der russischen Befehlshaber. D. h., wir haben es hier mit einem eklatanten Fall des Ausfalls sozialer Kontrolle seitens der verantwortlichen Militärs zu tun, die den Kosaken und den einheimischen Bulgaren oft weitgehend freie Hand ließen: »As the commanders of the Cossack troops, they certainly had the authority to discipline their subordinates to some degree. And yet they proved themselves indifferent to the fate of the Jewish population, which they looked upon with a certain disgust, significantly influenced by the anti-Semitism rooted in Russian culture and their perception of an ongoing war in terms of a clash of Christianity with Islam, meaning that the local Orthodox population above all deemed worthy of their protection«.136 Wie in vielen anderen Fällen auch, variieren die Opferangaben z. T. erheblich, so dass man nur ein ungefähres Bild vom Ausmaß der Gewalttaten zeichnen kann. Dies gilt auch für die Einschätzung, ob die häufig bei Berichten über Pogrome anzutreffenden Schilderungen von ausgesuchten Gräueltaten den Tatsachen entsprechen. Da wir es in diesem Fall allerdings mit Gewalttaten seitens militärischer  Ebd.  Neuberger, The Russo-Turkish War, S. ; siehe auch Tamir, Bulgaria and Her Jews, S.  f.; Stanford Shaw, The Jews of the Ottoman Empire and the Turkish Republic, New York , S. .  Rusin, Anti-Jewish excesses, S. .

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Einheiten bzw. von Zivilisten im Kontext einer Kriegssituation zu tun haben, hat das Gewaltniveau in der Tat deutlich höher gelegen als bei rein zivilen Ausschreitungen, d. h., wir haben es mit einer ungewöhnlich hohen Zahl von getöteten und verletzten Juden zu tun. Während etwa Vergewaltigungen in Pogromen, entgegen z. T. anders lautenden zeitgenössischen Berichten, Ausnahmen blieben, finden wir sie in im Kontext des Krieges im Zuge der Besetzung einer Stadt oder eines Landes geradezu regelmäßig vor, so dürften in diesem Fall die Berichte über zahlreiche, oft besonders brutale Fälle zutreffen. Die Botschafter der europäischen Großmächte ergriffen aber offenbar Partei für die russische Seite, indem sie bei der türkischen Regierung wegen Gräueltaten der türkischen Armee an russischen Gefangenen und Verwundeten vorstellig wurden, die diese Beschwerde jedoch mit dem Hinweis auf die Gräueltäten an der türkischen Bevölkerung seitens der russischen Armee abwies. Das britische Foreign Office hatte jedoch seinen Botschafter angewiesen, eine genaue Untersuchung über die »an der muselmännischen und türkischen Bevölkerung in der Bulgarei verübten Schlächtereien anzustellen.«137 Zur Zeit des russischen Vormarsches wurden auch Unruhen aus dem Zarenreich gemeldet, die offenbar auch auf judenfeindliche Presseberichte zurückgingen. In Kiew und Chonow (Ukraine) führte die Musterung von Rekruten zur »bedeutenden Straßenexzessen« gegen die Juden, wobei Häuser attackiert, Magazine und Geschäfte geplündert und jüdische Einwohner misshandelt wurden. Die Polizei soll nicht eingegriffen haben.138 Auch an anderen Orten kam es zu Unruhen, und in Warschau gingen Pogromgerüchte unter den jüdischen Einwohnern um, so dass die Behörden Vorsichtsmaßregeln trafen.139 In der Stadt soll es aber zu Ausschreitungen von Seiten der Juden gekommen sein, die gegen die Bekehrung eines jüdischen Mädchens durch protestantische Missionare vorgingen.140 Zu einem antijüdischen Pogrom im Königreich Polen kam es  in Kalisz, dessen Auslöser ein Vorfall bei der Fronleichnamsprozession war.141 Auslöser soll der Ruf gewesen sein, Juden seien dabei, den Altar zu zerstören, zu dem die Prozession unterwegs war. Daraufhin hätte die anwesende Menge, später verstärkt durch Bauern aus der Umgebung, Juden mit Steinen, Dreschflegeln, Heugabeln und Stöcken angegrif Der Israelit, Heft -, .., S. . Der Bericht ist aus der Kölnischen Zeitung übernommen worden. Zur Rezeption und Reaktion der Gewalttaten gegen Zivilisten im russisch-türkischen Krieg und zur »Eastern Jewish Question« in Westeuropa siehe Neuberger, The Russo-Turkish War.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. , und Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .. , S.  f.  AZJ, Jg. , Heft , ...  Dazu und zum Folgenden Markowski, Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, S. . Markowski merkt aber kritisch dazu an, dass es auch in diesem Fall nicht möglich gewesen sei, den Verlauf der Ereignisse zu rekonstruieren sowie genau zu benennen, wer die Verursacher waren. Die polnischsprachige Presse habe zwar ausführlich darüber berichtet, aber sie habe die Fakten geschönt oder übertrieben, um den eigenen politischen Standpunkt zu unterstützen (ebd.).

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fen. Die zarischen Behörden hätten die Unruhen niedergeschlagen und  Personen verhaftet, von denen achtzig verurteilt worden seien. Wegen der Verbindung zu dem christlichen Feiertag hält Artur Markowski ideologische Gründe für die Ursache der Unruhen, während die Gendarmerie die Schuld dem Verhalten der Juden zuschob, indem sie die Unzufriedenheit der lokalen Bevölkerung über die ökomische Ausbeutung seitens der Juden als Grund für die Ausschreitungen ins Feld führte.142 Die AZJ berichtete im Sommer  von einem antijüdischen Exzess am . Juli in Lemberg, der offenbar im Kontext von Wahlen stattfand. Hierbei hatten die jüdischen Wähler verfassungstreuen Kandidaten ihre Stimme gegeben, was offenbar das Missfallen von Teilen der polnischen Bevölkerung erregt hatte, die am Sabbatabend jüdische Häuser außerhalb des jüdischen Viertels attackierten. Trotz umlaufender Drohungen hatten die Behörden keine Vorkehrungen zur Verhinderung der Gewalt getroffen.143 Die AZJ schreibt weiter, dass die Ausschreitungen »erwiesenermaßen« von russischen Agitatoren beeinflusst worden seien. Auch aus dem Ort Suczawa bei Czernowitz (Bukowina) wurden »Judenkrawalle« gemeldet, die von Studenten verübt worden sein sollen. In Rumänien, in Tekutsch (rumän. Tecuciu), einer Kreishauptstadt in der Moldau, waren offenbar im April  ebenfalls »Judenkrawalle« vorgefallen, über die die AZJ im Juli anlässlich der von ihr als Farce bezeichneten Gerichtsverhandlung gegen die Täter berichtete.144 Über ähnliche örtliche Vorfälle berichtete die AZJ in den er Jahren immer wieder, so etwa über einen Fall aus der im östlichen Georgien gelegenen Stadt Suram, wo sechzig jüdische Häuser und die Synagoge zerstört und ausgeplündert worden sein sollen. Als Ursache galt das Gerücht, zwei Juden hätten einen Christenknaben entführt.145

   

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Ebd. AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f. Ebd., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

. Resümee - Für die /er Jahre haben sich also Fälle antijüdischer Gewalt geographisch weit gestreut ereignet und kamen in ganz unterschiedlichen Formen von Odessa im Osten über Galizien und Bulgarien bis nach Böhmen und Stuttgart vor. Hinsichtlich der Unruhen in Mittel- und Ostmitteleuropa (Schweiz, Franken, Böhmen und Mähren, Stuttgart) begegnen uns teils Ausläufer der Konflikte über die Judenemanzipation, teils haben wir es mit Nationalitätskonflikten und sozialen Krisensituationen zu tun. Diese Ausschreitungen wiesen durchgängig ein geringes Gewaltniveau auf, und den staatlichen Organen gelang es zumeist schnell, die Unruhen zu beenden. In den osteuropäischen Gebieten (Odessa, Rumänien, Bulgarien) lag das Gewaltniveau deutlich höher. In den sich in dieser Phase erst als Nationalstaaten konstituierenden Ländern Rumänien und Bulgarien ereigneten sich die Vorfälle teils im Zuge der Ausnahmesituation eines Krieges, wie in Bulgarien, wo die einheimische Bevölkerung sich mit Billigung der Ordnungsmacht an deren Gewaltakten beteiligte, teils waren sie wie in Rumänien Ausdruck einer staatlich geförderten Politik gegenüber den Juden (wie z. T auch gegen andere »Fremde«), die die Schuld an den Übergriffen stets bei den Juden suchte, so dass auch hier die Juden eher schutzlos waren. Hier wird sichtbar, wie entscheidend das Vorkommen wie das Gewaltniveau von Pogromen vom Verhalten der Ordnungsmacht abhängen. Dies gilt auch für Odessa, wo die mehrtägige Dauer und das hohe Gewaltniveau durch das lange Zögern beim Einsatz der Ordnungskräfte begünstigt wurde. Hintergrund dieses wiederholt ausbrechenden Konflikts zwischen Griechen und Juden bildete die ökonomische Konkurrenz, verstärkt von religiöser Feindschaft, aus der jeweils der Anlass für die Unruhen resultierte.

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. Antisemitismus als politisch-soziale Bewegung und Gesellschaftsstimmung – Wellen antijüdischer Gewalt - Trotz ganz unterschiedlicher Wege der Modernisierung und unterschiedlich weit gediehenen Integration der Juden in den europäischen Ländern entstand dort ab den er Jahren eine neue Form der Judenfeindschaft, für die sich international schnell der Begriff Antisemitismus durchsetzte. Er war Ausdruck von sozialen Krisen und kulturellem Wandel, die die Phase rasanter Industrialisierung und Modernisierung begleiteten. Diese als krisenhaft erlebte Modernisierung wurde auf die Juden projiziert, deren sozialer Aufstieg sie zum Symbol der Moderne machte. Man postulierte die Existenz einer »Judenfrage«, die nur durch die Rücknahme der Emanzipation zu lösen sei. Diese Modernisierungskrise löste in vielen Ländern eine Wendung von einem liberalen und demokratischen Nationalismus hin zum Chauvinismus aus, der mit Xenophobie, der Zuspitzung ethnischer Konflikte und imperialistischem Großmachtdenken verbunden war. Judenfeindschaft nahm nun die Form einer politisch-sozialen Bewegung an. Es entstanden antisemitische Karteien und Organisationen, früh im Deutschen Reich, in Frankreich und im kaiserlichen Österreich, später auch in Russland, Ungarn, Rumänien und Polen. Damit verbunden war die Gründung antisemitischer Verlage und Zeitschriften, es entstand ein großer Markt für antisemitische Schriften, da Antisemitismus sich als ein geeignetes Mittel der politischer Agitation entpuppte, das fast vom gesamten politischen Spektrum genutzt wurde, von den Frühsozialisten und Katholiken in Frankreich über christlich-soziale und konservative Strömungen im Deutschen und im Habsburgerreich bis hin zu Bauernbünden und extrem nationalistischen Bewegungen. Auf diese Weise hielt Antisemitismus Einzug in die Massenpolitik in West- und Mitteleuropa, in einigen osteuropäischen Ländern wie Russland und Rumänien sogar in die Regierungspolitik. Ethnische Konflikte, ökonomische Probleme, politische Machtkämpfe und rascher kultureller und sozialer Wandel konnten zu Krisen dieser Politik führen, in denen Juden dann als Sündenböcke herhalten mussten. Es hing von der Schärfe und Dauerhaftigkeit dieser Krisenphänomene und vom Einfluss politischer Gegenkräfte ab, ob Antisemitismus als Oppositionsbewegung marginal blieb oder politische Breitenwirkung erzielte und zu einer Art Gesellschaftsstimmung wurde, was den Ausbruch antijüdischer Ausschreitungen begünstigte. Für die Jahre von  bis  ist typisch, dass wir nun häufig Pogromwellen finden, die sich von einem lokalen Ereignis aus weit verbreiteten, ohne in revolutionäre oder sonstige soziale Unruhen eingebettet zu sein. Alltägliche Ereignisse wie eine Wirtshausschlägerei, ein Streit auf dem Markt oder ein verschwundenes oder ermordet aufgefundenes Kind reichten vielfach aus, um eine Pogromwelle anzustoßen, die dann in vielen Fällen von Seiten der Antisemiten agitatorisch zur weiteren Ausbreitung der Gewalt genutzt werden konnte. 425

. Die große Pogromwelle im Zarenreich - Die Pogromwelle, die das Russische Kaiserreich in den Jahren / mit ihren Ausläufern in den Jahren  und  erlebte, schockierte aufgrund ihrer wellenförmigen weiten Ausbreitung1 und wegen des bisher nicht gekannten Gewaltniveaus die europäische Öffentlichkeit, insbesondere natürlich die Juden in Europa und den USA, und führte zur Prägung des neuen Begriffs »Pogrom« für besonders gewaltsame antijüdische Ausschreitungen. Juden sahen in ihnen einen Wendepunkt in der modernen jüdischen Geschichte, doch sprachen die Unruhen auch für eine Krise des Zarenreiches, schien es doch die Kontrolle über die Bauern und städtischen Massen zu verlieren. Hinzu kam, dass die Pogrome eine Flüchtlingswelle auslösten und sich Russland einer Pressekampagne sowie der Intervention der ausländischen Diplomatie ausgesetzt sah. Das Land erlitt einen großen Ansehensverlust, und die russischen Wertpapiere stürzten an den Börsen ab.2 John D. Klier, der wohl beste Kenner dieser Pogromwelle, beklagt, dass kein detaillierter und zusammenfassender Bericht über die Gesamtheit der Pogrome existiert und auch keine Definition, was genau unter einem Pogrom verstanden wurde. Deshalb gebe es auch keine verlässlichen Angaben zur Gesamtzahl der Pogrome, zur Zahl der Opfer unter Juden, Pogromisten und Polizisten/Soldaten und auch keine präzisen Angaben zu den materiellen Verlusten auf jüdischer Seite.3 In den ca.  Pogromen der Jahre / wurden wohl  Juden getötet, während die Zahl der getöteten Pogromisten um einiges höher liegen dürfte. Dies bedeutet zweifellos einen hohen Blutzoll,4 dennoch heißt dies, dass es »nur« in jedem zehnten Fall ein Todesopfer unter den angegriffenen Juden zu beklagen gab.5 In der älteren Literatur, in der sehr dramatische Darstellungen, oft auf sog. Augenzeugenberichte gestützt, vorherrschen, finden sich weit überhöhte Opferzahlen. Noch Stephen M. Berk spricht in seinem Buch pauschal davon, dass »hundreds of Jews were killed,  Die liberale russische Zeitung Golos schrieb , die »antijüdischen Ausbrüche haben nun den Charakter einer Epidemie angenommen« (zit. nach Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. ).  Ebd., S. XIIIf.  Ebd., S. .  Ebd., S. ; die Zahl von fünfzig Toten insgesamt, davon die Hälfe auf Seiten der Pogromtäter, nennt auch Frank Golczewski, Pogrome in der Ukraine, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -, hier S. . Aronson, Troubled Waters, S.  f., hatte noch von vierzig getöteten Juden und  Fällen von Vergewaltigung gesprochen. Die New York Times hatte am .. allein für die Monate April bis Dezember  von vierzig getöteten Juden berichtet.  Bereits die vereinzelten Pogrome der Jahre  und  in Ekaterinoslav und Nischni Nowgorod zeigten ein deutlich höheres Gewaltniveau, da in Ekaterinoslav mindestens zwanzig Pogromisten getötet wurden, während es in Nischni Nowgorod zehn Juden traf. Siehe: Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . Klier sieht darin den Ausdruck einer Art von Überbietungsstreben, was das Niveau der ausgeübten Gewalt betraf.

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DIE GROSSE POGROMWELLE IM ZARENREICH

1881-1884

wounded, mutilated, and raped«, es ist von Vergewaltigungen zehn bis elfjähriger Mädchen und vom Mord an Kindern die Rede, die aus dem Fenster geworfen worden seien. Dies konnte Klier in seinem letzten Buch widerlegen.6 Auch die AZJ, die in einzelnen Berichten zuvor auch von vielen Todesopfern geschrieben hatte, stellte nach der ersten Pogromwelle fest, dass bei allem hohen materiellen Schaden »allerdings die Opfer an Menschenleben geringer sind als in früheren Zeiten und an mehreren Orten, wo sich die Plünderer der bewaffneten Macht widersetzten, mehr auf Seiten ersterer als auf Seiten der Juden«.7 Statistisch gesehen war also die Zahl der Opfer wesentlich geringer als in den späteren Pogromwellen des . Jahrhunderts. Dennoch repräsentierten die Pogrome der Jahre / eine neue Stufe der antijüdischen Gewalt und fanden eine entsprechend negative Resonanz in der europäischen Öffentlichkeit. Die russische Politik und die Lage der Juden Mit dem Regierungsantritt Alexanders II. (-) begann mit den »Großen Reformen« eine Phase der russischen Politik, in der man industriell, außenpolitisch, militärisch und kulturell den Anschluss an den Westen zu gewinnen suchte. So wurde die Verwaltung reformiert, und eine bessere Entfaltung der Presse, die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Öffnung des Landes für westliche Kultur sollten zur gesellschaftlichen Entwicklung beitragen. Auch hinsichtlich der Stellung der Juden im Zarenreich gab es erste Verbesserungen. So brachte die Reformpolitik den »produktiven« jüdischen Elementen Bildungs- und Aufstiegschancen sowie politische Mitbestimmungsrechte in den städtischen und dörflichen Selbstverwaltungsorganen (zemstwa), mehr Freizügigkeit in den Provinzen des Ansiedlungsrayons sowie den Mitgliedern der Ersten Kaufmannsgilde, Handwerkern und Akademikern ein Niederlassungsrecht auch außerhalb dieses Rayons. Jüdische Akademiker bekamen de jure unbegrenzten Zugang zum Staatsdienst, doch blieben in der Praxis viele Barrieren bestehen, die sich unter der Herrschaft Alexanders III. sogar wieder höher auftürmten.8 Die öffentliche Meinung stand in dieser frühen Phase ab Mitte der er Jahre einer Emanzipation der Juden durchaus positiv gegenüber, es gab eine kurze Phase der »Judeophilie«.9 Dennoch blieb nach Klier auch in dieser Reformpolitik immer ein tiefer Vorbehalt gegenüber den Juden spürbar,  Berk, Year of Crisis, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Linden, Prototyp des Pogroms, S.  f., schrieb  ebenfalls, dass es in der Pogromwelle von  nur vereinzelte Mordtaten (in Kiew, Odessa, Smela, Balta) gegeben habe, dafür aber zahlreiche Misshandlungen, Verwundungen und Vergewaltigungen. Wobei er die Übertreibungen in der westlichen Presse, hier die eines Times-Korrespondenten, kritisierte, der im Fall Baltas von  geschändeten und  daran gestorbenen Frauen geschrieben hatte.  Zu diesen Reformen vgl. Jörg Baberowski, Juden und Antisemiten in der russischen Rechtsanwaltschaft -, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas , , S. -, hier S.  f.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff.

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WELLEN ANTIJÜDISCHER GEWALT

1881-1900

und als mit dem polnischen Aufstand von  eine nationalistische Russifizierungspolitik einsetzte, erstreckte diese sich auch auf die Juden, die als Parteigänger der Polen galten. Dieser russische Nationalismus, verbunden mit einem Panslawismus sowie einer Feindseligkeit gegenüber den nationalen Minderheiten im Lande wurde auch durch den russisch-türkischen Krieg / angefacht, zumal der Westen das Osmanische Reich unterstützte.10 Insbesondere die diplomatischen Aktivitäten Englands unter dem als Juden gesehenen Premierminister Benjamin Disraeli (-) auf dem Berliner Kongress von , die die Ansprüche Russlands schmälerten, schürten auch antijüdische Ressentiments. Es gab zudem eine Welle von Anschuldigungen gegen jüdische Unternehmer, die Regierung beraubt und die russische Armee geschwächt zu haben, man warf den Juden Feigheit vor, ja gab ihnen gar die Schuld am Ausbruch der Krieges.11 Nach Theodore Weeks spielte allerdings der Nationalismus in der bäuerlichen Bevölkerung, die noch zum Ende des . Jahrhunderts überwiegend aus Analphabeten bestand, nur eine geringe Rolle. In den gebildeten Schichten breitete sich jedoch nach dem polnischen Aufstand eine nationale Strömung aus, die vor allem in den Polen und Juden unloyale Bürger sah.12 Zar Alexander II. hatte eine ambivalente Reformpolitik betrieben, in der eine frühe Reformphase von einer Phase der Sicherung der Autokratie abgelöst wurde, in der trotz einer stürmischen Industrialisierung, Urbanisierung und kapitalistischen Modernisierung weitere Reformen blockiert wurden, d. h., Russland betrieb eine defensive Modernisierung mit antikapitalistischen und antimodernen Zügen.13 Entsprechend stagnierte der »Dritte Stand«, also die als stadtbürgerliche Schicht Registrierten bei ca.   der Bevölkerung, von denen zudem viele in Grunde noch Bauern waren. Dem russischen Bürgertum fehlte deshalb politisches Gewicht, zumal viele führende Positionen in Handel, Finanzen, Industrie und Bildung sowie die höheren Ränge des Militärs von »Fremdstämmigen«, darunter viele Deutsche, eingenommen wurden. Gegen Ende des . Jahrhunderts sollten dann auch gebildete Juden, die den Ansiedlungsrayon verlassen durften, hinzukommen, die vor allem die freien Berufe, das Presse- und Verlagswesen sowie Industrie und Finanzwirtschaft prägten. Die Blockierung der Herausbildung eines selbstbewussten, politisch einflussreichen Bürgertums führte zu zunehmenden innenpolitischen

 Berk, Year of Crisis, S.  f.  Ebd.  Theodore R. Weeks, Official and Popular Nationalism: Imperial Russia -, in: Nationalismus in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, hrsg. von Ulrike von Hirschhausen/Jörn Leonhard, Göttingen , S. -, hier S. .  Die Modernisierungspolitik blieb »defensiv« oder »partiell«, insofern sich der Staat bemühte, »die politische Ordnung und Herrschaftsverfassung von diesem Wandel auszunehmen. An der Autokratie mit ihrer Konzentration aller politisch-administrativen Macht und Letztentscheidung sollte nicht gerüttelt werden« (Manfred Hildermeier, Geschichte Russlands vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München , S.  f.).

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Konflikten und zum Aufkommen revolutionärer Bewegungen, die gegen dieses Herrschaftsmonopol ankämpften. Die Tendenz zur Begrenzung der Modernisierung zeigt sich auch in der zarischen Politik gegenüber den Juden, die aus einer Mischung bzw. einem ständigen Schwanken zwischen Toleranz und Repression bestand.14 Nach Manfred Hildermeier ist die »jüdische Frage« im Zarenreich nicht vom »Mangel an Demokratie und tolerantem Pluralismus und Liberalismus zu trennen«.15 Da sich die russische Politik im Unterschied zu den anderen europäischen Großmächten einer tatsächlichen Mitwirkung der Gesellschaft an der politischen Herrschaft generell verschloss, kam auch eine vollständige rechtliche Gleichstellung der Juden nicht in Betracht. Sie wurde erst mit dem revolutionären Umbruch von  erreicht. Mit der defensiven Modernisierungspolitik konnte aber auch ein weiteres Problem nicht gelöst werden, das des raschen Bevölkerungswachstums (von  Millionen im Jahre  auf  Mill. im Jahre  und  Mill. im Jahre ). Nach der Bauernbefreiung kam es zu einer Überbevölkerung auf dem Lande mit einem hohen Anteil der jungen Kohorten, die zu einem entsprechenden »Landhunger« und zum Absinken des Lebensstandards der bäuerlichen Bevölkerung führte, zumal die Landwirtschaft aufgrund veralteter Anbaumethoden nicht genügend Nahrungsmittel produzierte.16 Zwanzig Jahre nach der Bauernbefreiung war die Lage der Landbevölkerung schlechter als zuvor, zumal diese gerade in der Ukraine zum Landverlust der Bauern und zum Anwachsen der großen Güter des Adels geführt hatte. Die Aufhebung der Leibeigenschaft hatte an der Rechtlosigkeit der Bauern nichts geändert und sie nicht zu Staatsbürgern gemacht, sie hatte den Bauerngemeinden zudem finanzielle Ablösepflichten gegenüber den Gutsherren auferlegt, die durch »Abarbeit« zu erfüllen waren, so dass sich ihre Lage eher verschlechtert als verbessert hatte. Die russische Landwirtschaft blieb ebenso wie die in den Dörfern verbliebenden Handwerker und Hausindustrien in einem System der Subsistenzökonomie gefangen. Berk nennt die Lage der Bauern im Zarenreich hart, in der Ukraine sogar noch verzweifelter.17 Dies galt auch für die zahllosen nach Südwestrussland strömenden Wanderarbeiter. Die wachsende Industriearbeiterschaft blieb dem Landleben verhaftet und kehrte immer wieder für einige Zeit in ihre Dörfer zurück. Auch die Handwerker und kleinen Kaufleute in den Städten hatten mit ökonomischen  Zum abweichenden Verlauf des Emanzipationsprozesses im Zarenreich, der von einem Wechsel von »Jewish reforms and counter-reforms« gekennzeichnet war, siehe: John D. Klier, The Concept of ›Jewish Emancipation‹ in a Russian Context, in: Olga Crisp/Linda Edmondson (Hrsg.), Civil Rights in Imperial Russia, Oxford , S. -. Er zieht ein negatives Fazit: »The legal treatment of Russian Jewry by tsarism was a consistent failure, with serious implications for the fate of a multinational, multi-ethnic state« (S. ).  Hildermeier, Geschichte Russlands, S. . Der russische Antisemitismus bestand primär in der staatlichen Politik selbst und ist somit nicht von deren Modernisierungsdefiziten zu trennen.  Gerd Koenen, Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München , S.  ff.  Berk, Year of Crisis, S.  ff.: zur ökonomischen Krisensituation in Südwestrussland.

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Schwierigkeiten zu kämpfen. Die jüdische Bevölkerung, die in den Städten und kleinen Handelszentren (Schtetl) lebte, war ebenfalls arm, kinderreich und einem traditionellen Lebensstil verhaftet geblieben, und sie wuchs im Vergleich zur übrigen Bevökerung überproportial stark an. Ihre Berufsstruktur wich erkennbar von der der ländlichen Bevölkerung ab. Sie stellten einen Anteil von   im Handel und   in Handwerk und Industrie. Das Schtetl bildete das typische ökonomische Bindeglied zwischen Bauern und Juden, die auf dem Marktplatz und in den Läden des Schtetls aufeinandertrafen. Als typische »middlemen minority« (als Geldleiher, Kleinhändler, Getreide- und Holzhändler) monopolisierten sie den Handel mit den Bauern und zogen sich so den Vorwurf zu, schlechte Waren zu liefern bzw. aus den billig angekauften Ernten Spekulationsgewinne in Krisenzeiten zu ziehen. Als Pächter von Brauereien und Schänken waren Juden in Krisenzeiten Hauptzielscheibe des bäuerlichen Unmuts und zugleich auch der Politik und öffentlichen Meinung, die ihnen vorwarfen, den Alkoholkonsum der Bauern zu fördern und damit das Volk zu »vergiften«.18 Nur ein kleiner Teil der Juden war um  sozial aufgestiegen (in den freien Berufen als Anwälte, Ärzte oder Journalisten) und reich geworden, vor allem im Alkoholhandel, im Bank- und Kreditwesen, im Eisenbahnbau und als Unternehmer im Bau von Straßen, Forts etc. im Staatsauftrag. Doch war diese kleine Schicht der Gintsbergs und Poliakovs sehr sichtbar und forderte den Neid ihrer christlichen Konkurrenten heraus, die vor allem in den jüdischen Kreditgebern eine neue Form der »jüdischen Ausbeutung« sahen.19 Angesichts dieser Lage war der Schutz der rückständigen, dem Zaren aber loyal ergebenen christlich-orthodoxen Bauernschaft gegenüber den als »unrussisch« empfundenen Juden ein zentrales Motiv russischer Politik,20 die das Problem mit unrealistischen, das Wirtschaftsleben schädigenden Verboten und mit der Begrenzung des Siedlungsgebietes für Juden auf den sog. Ansiedlungsrayon zu beseitigen  John D. Klier, Russland bis , in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, München , S. -, hier S.  f. Klier hebt die besondere Hass-Liebe der russischen Intelligenz gegenüber den Bauern hervor. Die einen schrieben ihnen slawophil die bäuerlichen Tugenden des Volkes zu, andere sahen in ihnen revolutionäres Potential. Umgekehrt aber verachtete man die Landbevölkerung, die dumpfen Massen, wegen ihres Aberglaubens, ihrer Gewalttätigkeit und Zurückgebliebenheit. In jedem Fall sah man in den Juden die »Verderber« dieser Bevölkerung, die dieser Bevölkerung durch ihre Betriebsamkeit und intellektuelles Niveau, aber auch durch ihre Arglist überlegen waren. Deshalb mussten die Bauern vor den Juden geschützt werden. In dieser Liebe zum einfachen Volk sah Linden, Prototyp des Pogroms, S. , auch die Ursache dafür, dass sich selbst liberale Zeitungen zunächst bei Pogromen ausschwiegen, um »nicht die Aktionen des Volkes verdammen zu müssen«. Sie hätten erst später die Übergriffe verurteilt. Nur wenige Stimmen hätten öffentlich Mitgefühl mit den Juden gezeigt, was im jüdischen Lager sehr große Enttäuschung ausgelöst habe.  Jaworski, Voraussetzungen, S. , beschreibt dies als ein für ganz Ostmitteleruopa typisches Muster: Auf dem Land standen Juden als Pächter, Schankwirte und Kleinhändler »für Rückständigkeit und Ausbeutung«, in den Städten für ein »hemmungsloses Gewinnstreben und Geschäftemacherei«.  Hildermeier, Geschichte Russlands, S. .

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suchte, was die Mobilität der Juden noch in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts stark einengte, als anderen Untertanen die Freizügigkeit bereits zugestanden worden war. Diese Politik lässt sich als »selektive Integration« kennzeichnen, da den Juden in einigen Bereichen völlige Gleichstellung mit den christlichen Untertanen gewährt wurde, während sie in anderen weiterhin benachteiligt blieben.21 Die Zaren, selbst der sog. Reformzar Alexander II., blockierten häufig weitergehende Reformvorstellungen der höheren Beamtenschaft.22 Die Pogrome führten nicht etwa zu einem Überdenken dieser Politik, sondern verschärften nur deren repressive Ausrichtung, da man den Juden die Schuld daran gab, deren Ursachen man in der Ausbeutung der Bauern seitens der Juden sah. In den Kontext dieser krisenhaften Transformationsphase des zarischen Vielvölkerstaates, der über hundert Nationalitäten zählte, gehören auch die beiden großen Pogromwellen der Jahre / mit weiteren Fällen / und die ab  bzw. /. Diese haben deshalb nach ersten Arbeiten von Hans Rogger in den er Jahren in den letzten dreißig Jahren große Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Dies ist einerseits auf das gesteigerte Interesse der Sozialwissenschaften am Phänomen der Gewalt zurückzuführen, zum anderen aber auch darauf, dass sich die Forschungssituation für die Osteuropahistoriker seit der politischen Wende von  sehr verbessert hat. Es ist kein Zufall, dass seit Beginn der er Jahre die Zahl der Publikationen zu den Pogromen schnell anstieg.23 Strukturelle und politische Entstehungbedingungen der Pogrome Von großer Bedeutung für die Entstehung lokaler Konflikte zwischen Juden und Christen im Ansiedlungsrayon ist ein Aspekt, auf den Rudolf Jaworski hingewiesen hat, nämlich dass sich für die osteuropäische Form des Antisemitismus in Polen, Ungarn, Böhmen, aber auch in Rumänien und in Russland ein deutlicher Unterschied zu dessen mittel- und westeuropäischer Ausprägung feststellen lässt. Dieser erscheint weniger theoretisch fundiert (es gab vor  keinen einflussreichen osteuropäischen Theoretiker des Antisemitismus), sondern hatte vielmehr eine alltagspraktische Ausrichtung. Den Grund dafür sieht Jaworski darin, dass die Juden in Ostmitteleuropa einen höheren Prozentsatz der Bevölkerung stellten und damit sichtbarer waren. »Sie waren hier in vielfältiger, zeitweise noch nicht oder nur halbassimilierter Gestalt präsent und sie waren in allen Regionen und Schichten vertreten«. Die jüdischen Schtetl bildeten erkennbar abgehobene Enklaven, und es bedurfte keiner »Rassentheorie« wie in Westeuropa, um Juden als Juden zu identifizieren. Insofern war Antismitismus in Osteuropa weniger ein ideologischweltanschauliches Bekenntnis als ein »verbreitetes kollektives Einstellungsmuster«, eine »bestimmte vorurteilsbelade Form des alltäglichen Umgangs mit den jüdischen  Zu diesem Konzept: Benjamin Nathans, Beyond the Pale: The Jewish Encounter with Late Imperial Russia, Los Angeles , Kap. : The genesis of selective integration.  Ebd., S.  f.  Vgl. Aronson, Troubled Waters; Klier/Lambroza (Hrsg.), Pogroms.

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Nachbarn«. Dies mache nach Jaworski deshalb eine genaue Benennung der antisemitischen Trägerschichten so schwer, da die Judenfeindschaft von der bäuerlichen Bevölkerung bis in intellektuelle Kreise und die politischen Eliten hineinreichte.24 Dies deckt sich mit einer der beiden von Michael I. Aronson für den Ansiedlungsrayon im Zarenreich identifizierten Entstehungsbedingungen für die kollektive Gewalt gegen Juden, denn anders als in West- und Mitteleuropa, wo Juden inzwischen emanzipiert und stärker akkulturiert waren, bestand eine große soziale und kulturelle Distanz zwischen Juden und ihren christlichen Nachbarn, die sich in der Sprache, der Kleidung, in den eigenen religiösen und kommunalen Einrichtungen der Juden sowie in ihrer besonderen Berufsstruktur ausdrückte.25 Aronson und auch Klier betonen, dass die osteuropäischen Juden eine distinkte »ethno-religiöse Kultur« entwickelt hatten und für ihre Nachbarn »ethnic strangers« geblieben seien.26 Der abweichende Status der Juden drückte sich in der speziellen rechtlichen Kategorie »inorodtsky« (Fremde) aus, was sie in den Augen der Bauern außerhalb des gesetzlichen Schutzes stellte und die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass sie gefahrlos attackiert werden konnten.27 Pogrome waren also primär interethnische Konflikte. Die soziokulturelle Distanz trat durch die Größe der jüdischen Minderheit noch schärfer hervor, deren Zahl gegen Ende des . Jahrhunderts ungefähr fünf Millionen Menschen erreichte und sich zudem durch ein überproportionales Wachstum auszeichnete. Die Juden lebten, durch zarische Gesetze eingeschränkt, überdies nur in den westlichen und südwestlichen Provinzen des Zarenreiches, so dass sie hier mancherorts sogar die  Jaworski, Voraussetzungen, S. . Es fragt sich deshalb, ob die zeitgenössische jüdische Wahrnehmung, die russische Regierung habe auf Druck einer »in ungeheurem Maße anschwellenden antisemitischen Bewegung« die Gewalttaten gegen Juden zugelassen, zutrifft (Linden, Prototyp des Pogroms, S. ).  Dazu Heiko Haumann, Kommunikation im Schtetl. Eine Annäherung an jüdisches Leben zwischen  und , in: Nada Boskovska/Peter Collmer/Seraina Gilly/Rudolf Mumenthaler/Christoph von Werdt (Hrsg.), Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas, Köln , S. -.  Stefan Wiese weist allerdings auf die verbreitete Existenz von Spannungen zwischen und innerhalb ethnischer Gruppen im zarischen Vielvölkerreich hin, so dass viele Konfliktlinien eine ethnische Dimension besaßen, da viele soziale Schichten und Berufsgruppen ein spezifisches ethnisches Profil aufwiesen: in den hohen staatlichen Stellen (Beamtenschaft, Justiz, Militär) dominierten Russen, Polen und Deutsche, unter Kaufleuten, Unternehmern und in den freien Berufen waren es häufig mobile Diasporagruppen wie Deutsche, Juden, Armenier und Griechen; die unqualifizierten Arbeiter waren je nach Region Türken, Juden, Ukrainer oder Russen. Die dadurch gegebene ethnische Arbeitsteilung bot vielfach Anlass zu Konflikten. Verschärft wurde dies noch dadurch, dass der Staat seit dem polnischen Aufstand Polen und Juden pauschal als antirussisch einschätzte (Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  f.). Vgl. dazu auch Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, München  (. Aufl.), S. .  Diese Distanz und Bipolarität drückt sich sehr genau in dem bei Ausbruch von Pogromen aus Anlass von Wirtshausschlägereien häufig zu hörenden Ruf »die Juden schlagen unsere Leute« aus. Klier gibt eine Übersicht über die sich auf alle Lebensbereiche erstreckenden Differenzen (Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff.).

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Mehrheitsbevölkerung stellten. Verschärft wurde diese Distanz auch dadurch, dass die Juden sich kulturell der russischen Landbevölkerung überlegen fühlten und auf diese mit einer gewissen Verachtung herabblickten, in jedem Fall aber – anders als in West- und Mitteleuropa – der einheimischen Kultur keine besondere Wertschätzung entgegenbrachten, die zu Akkulturationsanstrengungen hätte führen können. Nach Klier ließen sich die Probleme, die Juden für die übrige Bevölkerung, aber auch für die Regierung darstellten, in zwei Aussagen bündeln, die eng zusammenhingen: religiöser Fanatismus und ökonomische Ausbeutung.28 Im Vorwurf des religiösen Fanatismus spiegelt sich die genannte religiös-kulturelle Differenz zwischen Juden und ihren christlichen Nachbarn und die geringe Neigung der Juden wider, sich an die russische Kultur anzupassen. Die christliche Bevölkerung sah dies als Beleg für den jüdischen Auserwähltheitsanspruch und eine daraus abgeleitete Verachtung der Christen.29 Dieser Vorwurf wurde verbunden mit der angeblich durch den Talmud religiös legitimierten ökonomischen Ausbeutung der Christen, die den Betrug nicht scheute und seitens der Führer der jüdischen Gemeinschaft (der Kahal) erlaubt und sogar angeordnet würde. Obwohl die Kahal als Organisation bereits  abgeschafft worden war, gingen Bürger und Staat davon aus, dass diese im Geheimen fortbestand, was den Mythos von der jüdischen Verschwörung bestärkte. Das von dem jüdischen Konvertiten Jakov Brafman  veröffentlichte Buch vom Kahal (Kniga Kahala) leistete dieser Vorstellung Vorschub, da Brafman die Existenz einer Welt-Kahal behauptete, die die Macht der lokalen jüdischen Gemeindeorganisationen weltweit im Sinne einer Weltverschwörung bündelte.30 Die jüdische Wirtschaftstätigkeit im Kleinhandel, als Geldleiher, Gastwirte und als Aufkäufer landwirtschaftlicher Erzeugnisse wurde als parasitär empfunden. In dieser Sichtweise wurde der rapide ökonomische Aufstieg einiger jüdischer Unternehmer als Ausdruck dieser Ausbeutung gesehen. Dies führte bei der zarischen Regierung zu einer Beibehaltung ihrer paternalistischen Haltung gegenüber der gerade emanzipierten Landbevölkerung und zu einer Politik, die diese den Juden aufgrund ihrer Unbildung unterlegenen Menschen vor der jüdischen »Sklaverei« schützen wollte. In der staatlichen Politik gegenüber den Juden sieht Aronson deshalb eine zweite Entstehungsbedingung für die antijüdischen Ausschreitungen in den Distrikten des Ansiedlungsrayons. Die allgemeine Tendenz dieser Politik zielte auf die recht Dazu und zum folgenden Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .  Nach Klier (ebd., S.  f.) war die religiöse Judenfeindschaft der Russisch-Orthodoxen sehr krude und direkt: man warf den Juden vor, Christusmörder zu sein und die Christen von ihrem wahren Glauben abbringen zu wollen. Die Ritualmordbeschuldigung und die Angriffe auf den Talmud hatten in der Russisch-Orthodoxen Kirche keine Rolle gespielt, sondern waren ein Import aus dem Westen.  Anke Hilbrenner, Jakov Brafman, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. ,, hrsg. von Wolfgang Benz, München , S.  f., hier S. . Das Buch spielte eine wesentliche Rolle im verschwörungstheoretischen antisemitischen Diskurs in Russland.

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liche Diskriminierung der Juden und nahm eine generell feindliche Haltung gegenüber der Minderheit ein, die auf Einschränkungen aller Art zielte.31 Entsprechend wurden für Juden das Recht auf Landbesitz und das Führen von Wirtshäusern auf dem Lande eingeschränkt. Zudem wurde, da Juden als Drückeberger galten, deren Einberufung in die Armee strenger gehandhabt. Da es sich bei diesen Provinzen um strategisch sensitive Grenzgebiete des Zarenreiches handelte, begegnete die Regierung den dort lebenden ethnischen Minderheiten mit besonderem Argwohn.32 Nach Klier machte sich nach einer kurzen judenfreundlichen Reformphase eine neue Feindseligkeit gegen die Juden breit, die man in Russland als »Judeophobie« bezeichnete. »Judeophobia encompassed a diverse range of opinions. Some adepts based their criticism of the Jews on objective realities, such as the concentration of Jews in tavern-keeping and petty trade, or their apparent reluctance to fulfill their military service obligations. At the other extreme were those who went far beyond the observed realities of Jewish life to promulgate Blood Libel […] or the belief in a vast Jewish conspiracy against Christian civilization, led by the ›international kahal‹«.33 Diese Judeophobie blieb jedoch nicht unwidersprochen. Jüdische und nicht-jüdische liberale Verteidiger, die auch in der Regierung saßen, setzten auf weitere Reformen. Verschärft wurde die Situation dadurch, dass die Judenfeinde, nachdem sie lange Zeit ebenso wie die Reformkräfte auf die aufstrebende jüdische Intelligenzschicht als Partner für die Aufklärung und Erziehung der jüdischen Massen gesetzt hatten, in diesen nicht länger Bündnispartner sahen, da die jüdische Intelligenz sich ihren verschwörungstheoretischen Vorwürfen nicht anschließen wollte. Dies führte nach Klier dazu, dass die Judenfeinde nun die russisch-jüdischen Intellektuellen beschuldigten, Teil der großen jüdischen Verschwörung zur Unterminierung der russischen Staates und der Gesellschaft zu sein.34 Diese These sahen sie einmal in der Präsenz von Juden in der sozialistischen und anarchistischen Bewegung, zum anderen in der Verdrängung von Christen in den höheren  Der  veröffentlichte Bericht des zionistischen Hilfsfonds in London, Linden, Prototyp des Pogroms, Abschnit III, verneint zwar u. a. mit dem Verweis auf die öffentliche Verurteilung der Pogrome durch Zar Alexander III., einige Gouverneure und Lokalpolitiker die damals verbreitete These von der Steuerung oder gar Organisation der Pogrome als »Werk der regierenden Faktoren«, doch wirft er einer Reihe von lokalen Bürokratien bzw. einzelnen Politikern Förderung und Sympathien für die Pogrome vor. Einigen, wie dem Generalgouverneur von Kiew, Drenteln, oder dem Innenminister Ignatiev wird eine besondere Mitschuld gegeben. Dies gilt auch für die unteren Ebenen der Polizeichefs, der Beamtenschaft und der militärischen Führer, denen aufgrund ihrer antisemitischen Gesinnung Untätigkeit vorgeworfen wird. Einschränkend wird aber konzediert, dass es »von Judengegnerschaft und Judenhass bis zu Pogromen ein weiter Weg sei, den nur die brutalsten Machthaber mitzumachen geneigt waren« (S. ). Ganz wird die Organisationsthese aber nicht zurückgewiesen, da man dem »Treiben auswärtiger Agenten« eine wichtige Rolle zuschreibt (S.  ff.).  Aronson, Troubled Waters, S.  f.; auch Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .  Ebd., S.  f.; ebenso Berk, Year of Crisis, S. .

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Bildungsinstitutionen bestätigt. In Russland hatte sich aus Enttäuschung über die stecken gebliebenen »großen Reformen« eine revolutionäre Bewegung entwickelt, in der sich auch Juden engagierten. Dass die Judeophoben die Juden mit Revolution identifizierten, lag jedoch nicht an deren großem Engagement in diesen Gruppierungen, sondern war nach Klier der Rezeption des deutschen Antisemitismus geschuldet, in dem diese Identifikation vorgenommen wurde. Dies sollte sich nach Klier als »self-fullfilling prophecy« erweisen, da Juden um  dann tatsächlich auch quantitativ eine große Rolle in der sozialrevolutionären Bewegung im Zarenreich spielten.35 Erich Haberer vertritt hier eine andere Position, wonach es bereits in den er Jahren einen sehr großen Anteil der jüdischen Jugend in der sozialistischen Bewegung Russlands gegeben habe. Er teilt nicht die oft geäußerte Auffassung, damit solle den Juden nur die Schuld an Russlands Problemen aufgehalst werden. Seiner Studie zufolge hatte die russische Regierung gute Gründe für ihren Argwohn gegenüber jüdischen Sozialisten und für ihre Überzeugung, dass Juden die gefährlichste Komponente in der revolutionären Bewegung darstellten.36 Die von einem tiefen Misstrauen gegenüber dieser zahlenmäßig großen und stark anwachsenden jüdischen Bevölkerung geprägte Judenpolitik des Zarenreiches färbte auf die Haltung der nicht-jüdischen Bevölkerung in doppelter Weise ab: einerseits war Gewalt gegen eine vom Staat benachteiligte bzw. nicht konsequent geschützte Gruppe gefahrloser möglich, da man sich im Konsens mit der staatlichen Politik fühlen konnte (loyale Pogrome),37 andererseits wirkte sich diese Politik auch auf die Handlungsbereitschaft der Kontrollorgane vor Ort aus, die bei loyalen Pogromen weniger schnell und hart durchgriffen. Einige Autoren weisen auf die judenfeindliche Presse als weiteren Faktor hin, der zur Verbreitung und Verschärfung antijüdischer Haltungen beigetragen habe, dessen Bedeutung aber von anderen Autoren bestritten wird. Nach Theodore R. Weeks habe sich mit der zunehmenden Alphabetisierung und der Vervielfachung von Zeitungen in den beiden Hauptstädten, von denen einige ausgesprochen nationalistisch, antisemitisch und antipolnisch waren, in den /er Jahren das Ressentiment gegen die nicht-russischen nationalen Minderheiten verstärkt.38 In dieser anhaltenden antijüdischen Pressekampagne einiger Zeitungen, die durch die staatliche Zensur nicht unterbunden worden sei, sehen einige Autoren eine wesentliche Ursache für den Ausbruch judenfeindlicher Unruhen, zumal die Kampagne  Klier, Russland bis , S. -.  Erich Haberer, Jews and Revolution in Nineteenth-Century Russia, Cambridge , S.  f.  Dies drückte sich in Russland etwa dadurch aus, dass trotz der gängigen Zensurpraxis antisemitische Hetze in Zeitungen nicht unterbunden wurde. Lambroza schreibt dem Ausfall der staatlichen Pressekontrolle eine wichtige Rolle zu: »The central government should have curtailed publication of inflammatory articles in the press. The government’s refusal to muzzle or censor these periodicals becomes a contributing factor in future pogroms« (in: Klier/Lambroza (Hrsg.), Pogroms, S. ).  Weeks, Official and Popular Nationalism, S.  f. und S. .

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sich nach der Ermordung des Zaren noch intensiviert haben soll. Insbesondere habe man die Rolle der an dem Attentat auf den Zaren beteiligten Jüdin Gessja Gel’fman herausgestellt. Die judeophobe Presse (Kievlianin, Novorossisiiskii telegraf, Novoe vremia) hat sicher durch ihre antijüdischen Artikel über einen längeren Zeitraum den Ausbruch von Gewalt begünstigt, doch kann Klier in seiner Analyse von  überregionalen und lokalen Zeitungen der Pogromgebiete nachweisen, dass selbst die oben genannten judeophoben Blätter nach dem Attentat auf den Zaren, also im Vorfeld der Pogrome, eher mäßigend als hetzerisch berichtet hätten und sich nach Ausbruch der Pogrome deutlich gegen diese gewandt, ja ein hartes Vorgehen gegen die Pogromisten empfohlen hätten. Allerdings machten einige dieser Zeitungen in sich oft widersprechenden Artikeln vor allem die Juden für die Pogrome verantwortlich und hielten es für gerechtfertigt, dass die Menschen sich gegen diese zur Wehr setzten: sie deuteten die Gewalt als »einen Hilfeschrei der Massen«. Klier weist auch darauf hin, dass Gewalt anheizende Artikel wohl kaum die Pressezensur passiert hätten. Er wendet sich damit gegen den in der älteren Literatur verbreiteten Vorwurf (etwa von Simon Dubnow, Louis Greenberg), die Presse habe die Bevölkerung zu den Pogromen sogar direkt angestiftet.39 In dem späteren Untersuchungsbericht des Grafen Kutaisov zu den Pogromen kritisierte dieser, dass die Presse die lächerlichen Gerüchte über drohende Unruhen aufgegriffen habe, doch kam Kutaisov zu dem Fazit, dass die Zeitungen weder einflussreich genug waren, die Unruhen auszulösen, noch die Gerüchte erfunden hätten, sondern dass es sich um spontane Ausbrüche gehandelt habe.40 Fassen wir noch einmal zusammen, welche Pogrome begünstigenden Faktoren es um  gab: – Die Reformen hatten eine gewisse Verbesserung des jüdischen Status gebracht, und die lange etablierte Exklusion einer als inferior definierten Gruppe partiell gelockert. Diese Veränderung von Über- und Unterordnungsverhältnissen kann als ein Auslöser eines gewaltsamen Widerstands gegen diese Neuordnung gelten, zumal wenn die Minderheit vor Ort zahlenmäßig stark ist.41 »The popular conviction of non-Jews that Jews, whatever their wealth, social status, or power over Non-Jews might be, were somehow inferior to them offers a key to decipher the psychology underlying the pogroms. They were, in important respects, about status in village and town.«42  John D. Klier, The Russian Press and the Anti-Jewish Pogroms of , in: CanadianAmerican Slavic Studies /, , S. -. Auch I. Michael Aronson schreibt, dass nach der Ermordung des Zaren in der judeophoben Presse zwar besonders aufhetzende Artikel erscheinen seien, doch habe sie nicht zu Gewalt gegen Juden aufgerufen, man habe sich im Gegenteil besorgt gezeigt und sich gegen Gewalt ausgesprochen (The Anti-Jewish Pogroms in Russia in , in: Klier/Lambroza (Hrsg.), Pogroms, S. ).  Vgl. Aronson, Troubled Waters, S.  ff.  Rogger, Conclusions and Overview, S. -; auch Aronson, Troubled Waters.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . Deshalb war es für die christlichen Nachbarn auch ganz klar, dass Juden keinen besonderen staatlichen Schutz verdienten und sich die Behörden auch bei ihrem Eintreten zum Schutz der Juden »unwohl« fühlten.

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– Die Machtrelationen veränderten sich zudem noch durch die starke jüdische Zuwanderung in die südwestlichen Provinzen des Zarenreiches, die zum Hauptschauplatz der Unruhen wurden. – Für Hans Rogger und Heinz-Dietrich Löwe waren weniger die kurzen konjunkturellen Krisen als vielmehr der lang anhaltende, krisenhaft erlebte soziale Wandel, in diesem Fall die ökonomische Transformation Russlands und die Einbeziehung der Ukraine in das Weltmarktsystem, ein begünstigender Faktor für gewaltsamem Protest, da beides die Bauern und Kleinstädter den Unsicherheiten der kapitalistischen Marktökonomie aussetzte, wie sie sich in der Agrarpreiskrise der Jahre / zeigten. Somit wäre die Gewalt gegen Juden auch als eine Art von »displaced social protest« gegen eine Minderheit zu verstehen, die als Sündenbock für die Krise herhalten musste, zumal sich diese aufgrund ihrer langen ökonomischen Erfahrungen besser an die veränderten Bedingungen anpassen konnten und, wie die reiche Familie des »Zuckerbarons« Brodskii in Kiew, zum Symbol dieses verstörenden Wandels wurde.43 – Begünstigend wirkte sich dabei die beschriebene staatliche Diskriminierungspolitik aus, da man sich in seiner antijüdischen Einstellung mit Teilen der Regierung in Übereinstimmung sehen konnte. Die Situation in Südwestrussland vor Ausbruch der Pogromwelle Diese längerfristigen Faktoren, die nur den Rahmen bildeten, lassen die Frage unbeantwortet, warum gerade  und gerade in den südwestlichen Gourvernements (Kiew, Podolien, Chernigov, Poltawa, Cherson, Ekaterinoslav, sowie in den etwas weniger betroffenen Wolhynien und Taurien) des Ansiedlungsrayons die antijüdischen Pogrome ausbrachen.  lassen sich mehrere Faktoren benennen, wobei der Zeitpunkt auf die Ermordung des Zaren Alexander II. zurückzuführen ist. Die politisch instabile Lage nach der Ermordung des Zaren durch eine Gruppe von Anarchisten, zu der auch eine Jüdin gehörte, führte zu Spannungen und Unruhe über den weiteren Kurs der Politik und löste sogleich die vielfältigsten Gerüchte aus, darunter auch, dass die Juden den Zaren getötet hätten und es um Ostern Übergriffe gegen Juden, aber auch gegen Adlige und andere ethnische Gruppen geben würde. Dies machte Gewalt gegen Außenseiter, seien sie religiös oder sozial definiert, relativ wahrscheinlich. So brach am selben Tag wie das erste Pogrom in Elisavetgrad auch ein Pogrom gegen Muslime in Baku aus. Es gab auch Gerüchte, dass es Ausschreitungen gegen den Landadel geben werde.44 Es entstand eine Situation, in der der Staat als nicht voll handlungsfähig gesehen wurde. Zudem galt der Nachfolger des ermordeten Zaren, Zar Alexander der III., als Antisemit, was ebenfalls die Anwendung von Gewalt begünstigte. Die Ermordung des Zaren  Heinz-Dietrich Löwe, Pogroms in Russia: Explanations, Comparisons, Suggestions, in: Jewish Social Studies /, , S. -, hier S. .  Klier, Christians and Jews, S. .

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konnte diesen trigger effect haben, da die politischen Reformen Alexanders II. mit der Industrialisierung, Urbanisierung und Kommerzialisierung des Landes einen schnellen sozialen Wandel angestoßen hatten, der in den Augen der Bevölkerung das Ausmaß der Ausbeutung seitens der jüdischen Minderheit noch weiter verstärkt hatte.45 Es war kein Zufall, dass die Gewaltwelle fast ausschließlich den Südwesten Russlands heimsuchte,46 handelte es sich hier doch um ein Gebiet, das eine Masseneinwanderung sowohl von Juden wie von Nicht-Juden erlebte und wo staatliche und kommunale Strukturen in den nun multiethnisch geprägten Städten erst aufgebaut werden mussten.47 Auch Stefan Wiese hebt den Punkt hervor, dass sich die Pogrome in den Städten der imperialen Peripherie ereigneten, die neben den Prachtbauten und Parks der Stadtzentren auch eine dunkle Seite besaßen, nämlich die Randgebieten mit ihren Industriebetrieben und Elendsvierteln, in denen die alten Traditionen und die herkömmliche »moral econony« ihre Bindekraft verloren und sich neue Normen des Zusammenlebens noch wenig entwickelt hatten. Da viele der wenig qualifizierten Arbeiter ohnehin wieder in ihre Dörfer zurückkehren wollten, blieb »die Kultur der Dörfer an den Rändern des urbanen Raumes präsent«.48 Während die Städte zum Schauplatz eskalierender Gewalt mit hohem Sachschaden und bisweilen auch Todesopfern auf beiden Seiten wurden – zumal die Juden auch aufgrund ihres hohen Bevölkerungsanteils heftige, z. T. organisierte Gegenwehr leisteten, was als Bruch der Spielregeln angesehen wurde – und die Gewalt nur durch militärische Intervention gestoppt werden konnte, wiesen die zahlenmäßig weit überwiegenden ländlichen Unruhen ein geringes Gewaltniveau auf,  Innenminister Ignatiev teilte Alexander III. mit, »that the rioters were protesting against the policy of the last twenty years in which the expansion of Jewish rights … were particularly damaging to the poorest classes of the population« (Hans Rogger, Russian Ministers and the Jewish Question -, in: California Slavic Studies, , , S. -, hier S. ).  Darius Staliūnas macht zwei Faktoren dafür verantwortlich, dass es in den nordwestlichen Provinzen kaum zu klassischen Pogromen kam: »the decisive action taken by the local authorities and the economic backwardedness of this region« (Anti-Jewish Disturbances in the North-Western Provinces in the Early s, in: East European Jewish Affairs, /, , S. -). Nachdem es in den südwestlichen Provinzen zu Pogromen gekommen war, gab es entsprechende Befehle der Regierung in St. Petersburg, die der Gouverneur der nordwestlichen Provinzen umsetzte, indem er bei drohenden Konflikten die örtliche Polizei verstärken ließ und auch Militär in Bereitschaft hielt.  »Among the changes taking place in Russia during the late imperial period, the unprecedented growth of the cities and towns may well have had a far reaching impact. The growth of industry and commerce and the influx of tens of thousands of impoverished peasants helped to create conditions of social dislocation, economic oppression, and civil strife. […] This set the stage for the anti-Jewish pogroms of the late imperial period« (Judge, Urban Growth, S. ).  Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . Maxim Gorki hat in seinem Buch: Vom russischen Bauern, Berlin , in dem er seine eigene Kindheit beschreibt, das exzessive Ausmaß an Gewalt hervorgehoben, das unter den Dorf- wie Vorstadtbewohnern geherrscht habe und das dem Leib und der Psyche der bäuerlichen und proletarisierten Massen eingeschrieben gewesen sei (zit. nach Koenen, Die Farbe Rot, S. ).

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und es kam kaum einmal zu Gewalt gegen Personen.49 Diese Unruhen endeten hier oft, ohne dass der Einsatz von Polizei oder Militär nötig geworden wäre. Hier galten offenbar die »rites of violence« fort, wie wir sie von den antijüdischen Unruhen aus Mitteleuropa kennen.50 Klier berichtet, dass dort die Pogromisten sich gegenseitig warnten, Juden zu töten.51 Bei den Trägern der städtischen Unruhen handelte es sich häufig um Arbeiter, die in das Gebiet als Saisonarbeiter oder aber als Eisenbahnarbeiter gekommen waren und sich dort nur vorübergehend aufhielten. Das Gewaltniveau in diesem »Wilden Südwesten« des Zarenreiches war generell sehr hoch, wobei auch der hohe Alkoholkonsum eine große Rolle spielte.52 John D. Klier betont, dass man die russischen Pogrome im Kontext des generellen Gewaltniveaus im Lande sehen muss, denn pogromartige Gewalt war recht alltäglich. In der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts sah sich der russische Staat mit Massengewalt von Seiten der Bauern und Arbeiter konfrontiert, mit städtischen Unruhen gegen die Polizei und mit interethnischen Ausschreitungen sowie der Gewalt gegen die zarische Herrschaft durch revolutionäre oder nationalistische Bewegungen etwa in Finnland oder Armenien.53 Nimmt man dies alles zusammen, so erklärt dies, warum die Gewalt gegen Juden in dieser Zeit ein neues Niveau erreichte: Die Schwäche des Repressionsapparates  Aronson, The anti-Jewish pogroms, S. , schreibt, dass  der  Pogrome in den Dörfern stattfanden, weitere vier in agrarischen Ansiedlungen der Juden und nur  in größeren und kleinen Städten.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. , spricht in Bezug auf die Alltagskontakte zwischen Juden und Nicht-Juden von einem »dialogue of violence«, der festen Regeln folgte. Beleidigungen oder Schädigungen führten regelmäßig zu Schlägereien, an denen sich dann weitere Personen beteiligten, was zum Ausgangspunkt eines Pogroms werden konnte.  Die AZJ merkte ebenfalls als charakteristischen Zug der Pogrome an, dass die Täter auf Plünderung und Zerstörung aus seien, es jedoch nicht auf die Verletzung von Personen oder Totschlag abgesehen hätten. Die Zeitung führte dies fälschlicherweise darauf zurück, dass die revolutionären Agitatoren es den Bauern eingeflüstert hätten, dass sie wegen Plünderung unbestraft bleiben würden, »wenn sie sich nur von dem Töten von Personen hüteten« (Jg. , Heft , .., S. ). Im Widerspruch dazu meldete die Zeitung im selben Artikel, dass in Elisavetgrad mehrere Juden getötet worden seien, was aber nicht zutraf.  »Russia’s government, educated public and clergy perceived a growing social and moral crisis of the rural population, especially widespread drunkenness and depravity as well as violent behaviour. They claimed that villagers took on ›the likeness of beasts‹ in their drunken revelries, and pointed out with great concern […] to violence spreading throughout the countryside« (Stephen P. Frank, Confronting the Domestic Other: Rural Popular Culture and Its Enemies in Fin-de-Siècle Russia, in: Stephen P. Frank/Mark D. Steinberg (Hrsg.), Cultures in Flux. Lower-Class Values, Practices, and Resistance in Late Imperial Russia, Princeton, NJ , S. -, hier S. ).  Klier, Christians and Jews, S. . Die Pogrome, deren Zahl in den letzten Jahrzehnten des Zarenreiches in die Hunderte ging, richteten sich nicht nur gegen die jüdische Minderheit, auch Armenier, Muslime und andere Gruppen waren davon betroffen. Darauf weist insbesondere Wiese, Pogrome im Zarenreich, hin.

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führte zusammen mit einer ausgrenzenden staatlichen Politik, die zudem die Schuld an den Konflikten bei den Juden selbst suchte, und einer Zuwanderungssituation, in der es nur bedingt eingelebte kommunale Zusammenhänge gab und größere Gruppen jüngerer Männer als Gewaltpotential bereitstanden, zu einem höheren Niveau an Gewalt mit Übergriffen gegen Personen. Die durch die Gewaltwelle ausgelöste Panik unter den russischen Juden wurde auch durch die gleichzeitige Welle von Bränden im südlichen Russland verstärkt, die auch nach Polen und Litauen ausstrahlte.54 Brandstiftung stellte nach Studien von Cathy Frierson häufig gerade in multiethnischen Orten eine Form sozialer Kontrolle nach Verletzungen sozialer Normen dar und sie weist darauf hin, dass gerade die Städte des Ansiedlungsrayons besonders häufig von Bränden heimgesucht wurden.55 Auch Klier weist einerseits auf die generelle Häufigkeiten von Bränden hin, da die Häuser und Scheunen aus Holz waren, hält aber doch Brandstiftung als durchgängiges Motiv für unwahrscheinlich, da das Legen eines Brandes im Haus eines Juden immer auch zugleich Häuser von Christen bzw. den gesamten Ort gefährdet hätte.56 Tatsächlich wird immer von einer hohen Anzahl an abgebrannten Gebäuden in den betroffenen Städten berichtet.57 Die Ausbreitung der Gewalt in einer Welle von über zweihundert Pogromen mit einem bis dahin nicht bekannten Gewaltniveau konnten sich zeitgenössische Beobachter58 und z. T. auch spätere Historiker nur mit Planung und Duldung seitens der  Berk, Year of Crisis, S. ; zu Litauen auch Klaus Richter, Antisemitismus in Litauen, Christen, Juden und die »Emanzipation« der Bauern (-), Berlin . Die AZJ berichtete im Sommer  mehrfach über die in vielen Städten ausbrechenden Brände. In einer Meldung vom . September  ist von  betroffenen Städten die Rede (Jg. , Heft , .., S. ).  Cathy A. Frierson, All Russia is Burning, Seattle , S.  f. und  f.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff.; die AZJ geht von einer antijüdisch motivierten und organisierten Brandstiftung aus. Die Zeitung führt dann eine ganze Reihe von Städtenamen, den Tod von vier Personen und den großen Sachschaden der Brände auf. Allerdings liegen die genanten Städte fast alle in Weißrussland bzw. im ostpolnischenm Gebiet, also außerhalb des Pogromgebietes (Jg. , Heft , .., S. ).  Auf die auffällige Häufung von »Kolossalbränden« in den Sommern  und besonders  wies  bereits auch Linden, Prototyp des Pogroms, S. , hin, so dass viele in den Bränden »eine Variante des südrussischen Pogroms« sehen wollten. Dort auch eine Übersicht über die betroffenen Städte und die Zahl abgebrannter Gebäude. Nach einer Meldung aus Petersburg würden die Versicherungsgesellschaften keine Brandschutzversicherungen mehr abschließen und zudem auch die Zahlung der versicherten Summen für die bei Pogromen durch Brandstiftung zerstörten Häuser verweigern (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  Die AZJ stellte eine Verbindung zum aufkommenden Antisemitismus in Deutschland her und behauptete, dass die soeben »stattgefundenen Judenverfolgungen in Südrußland« von »langer Hand seitens der Revolutionäre geplant und durch Agitatoren ins Werk gesetzt wurden. Agitatoren, die, sobald die Hetzen begannen, sich aus dem Staub machten, um anderswo ihr teuflisches Werk fortzusetzen.« Ihre Absicht sei es, Volksaufstände gegen die Behörden hervorzurufen, um so ihre geheimen Pläne zu fördern (J. g. , Heft , .., S. ).

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Regierung erklären.59 Erst in den er Jahren setzte sich eine andere Sichtweise durch, die keine zentrale Planung entdecken konnte, sondern primär die Unfähigkeit des zarischen Staates, im Südwesten des Reiches die Gewalt schnell und effektiv zu unterbinden, für die wellenförmige Ausbreitung verantwortlich machten.60 Im südlichen Russland war die zudem schlecht ausgebildete Polizei völlig unterbesetzt, so dass die lokalen Behörden zumeist gar nicht fähig waren, Unruhen zu verhindern oder gar zu stoppen.61 Militärische Hilfe war zumeist nicht sofort verfügbar, sondern musste erst aus größerer Entfernung herbeigerufen werden, was bei der sprichwörtlichen russischen »Wegelosigkeit« (rasputiza) dauern konnte. Man kann also bei dieser Pogromwelle nicht von »state-sponsered violence« sprechen, denn »the pogroms horrified the new regime, especially because they were thought at first to be the work of revolutionaries«.62 Der Ausbruch der Pogromwelle in Elisavetgrad Ausschreitungen gegen Juden hatte es im Zarenreich ganz vereinzelt auch schon vor  gegeben, etwa mehrfach in der multiethnischen Hafenstadt Odessa (,  und ) und im benachbarten Akkerman ,63 doch das Neue und Beunruhigende war einerseits, dass sich die Gewalt wellenförmig ausbreitete und schließlich zu einer Zahl von über zweihundert Pogromen anwuchs, andererseits das Ausmaß an Zerstörung und an Todesopfern und Verletzten, auch wenn es in den meisten Fällen keine Toten gegeben hatte.64  Iris Boysen, Die revisionistische Historiographie zu den russischen Judenpogromen von  bis , in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, , , S. -.  Aronson, Troubled Waters; Wynn, Workers, Strikes, and Pogroms; Klier/Lambroza (Hrsg.), Pogroms; Berk, Year of Crisis.  Die normale Polizei war im europäischen Vergleich extrem unterbesetzt, denn auf ca. hundert Millionen Einwohner entfielen ganze neuntausend Polizisten. Das bedeutete nach Gerd Koenen, dass ein einzelner Polizist auf zehntausende Dorf bewohner kam, die sich zudem über fünftausend Quadratkilometer verteilten. Die besser ausgestattete Gendarmerie und politische Polizei sowie die Kosaken waren in den Haupt- und Provinzstädten sowie Industriezentren konzentriert (Koenen, Die Farbe Rot, S. ).  Klier, The Concept of ›Jewish Emancipation‹, S. . Kaum im Amt, veröffentlichte Innenminister Ignatiev am . Mai ein Rundschreiben an alle Gouverneure, in denen er sie aufforderte, alles zu tun, um die Gewalt gegen Juden zu verhindern bzw. zu beenden, denn »rioters taking the law in their own hands were merely carrying out the schemes of the revolutionaries«. Am . Mai  wurde eine ähnliche Instruktion herausgegeben (Rogger, Russian Ministers, S. ). Es gibt immer wieder Beispiele, dass der Ausbruch von Gewalt an einigen Orten durch den rechtzeitigen Polizei- und Militäreinsatz verhindert werden konnte. Vgl. dazu die chronologische Übersicht bei Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, Appendix.  Unter Verweis auf die Pogrome in Akkerman und Odessa schrieb Linden, Prototyp des Pogroms, S. , dass diese Vorkommnisse von den Juden als »momentanes Unglück, als einmalige Anomalie« und nicht als ein »regelrechter Bestandteil des Lebens betrachtet« wurden.  Linden schrieb : »Erst seit dem . April  kennt die russische Judenheit jene Erscheinung, die das Leben zeitweilig zur Hölle, beständig aber zur Synthese zwischen

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Zwar befürchtete die Regierung nach dem Attentat auf den Zaren allgemeine Unruhen, und es herrschte im Zarenreich auch eine angespannte, unsichere Stimmung, doch waren vom Ausbruch antijüdischer Pogrome im Frühjahr  alle überrascht.65 Zwar hoben einige Zeitungen die Rolle der am Attentat indirekt beteiligten Jüdin Gessja Gel’fman hervor, ja einige wollten dahinter sogar »die Juden« insgesamt sehen, doch kursierten ganz unterschiedliche Annahmen zu den Attentätern, so gab es Verdächtigungen auch gegen den Adel.66 Obwohl schon vor dem . April das Gerücht umlief, der Zar habe es in einem Dekret erlaubt, die Juden zu schlagen und auszuplündern, schienen antijüdische Übergriffe nach Aronson nicht zu drohen.67 Stefan Wiese hält die der antijüdischen Berichterstattung einiger Zeitungen im Nachhinein von der jüdischen Presse, den Juden Elisavetgrads und russischen Politikern zugeschriebene Schlüsselrolle für den Ausbruch der Pogrome für eine nachträgliche Konstruktion, um eine befriedigende Erklärung für den Ausbruch der Pogrome zu finden.68 Hier können im Folgenden natürlich nicht alle Vorkommnisse dargestellt werden, zumal es für die meisten Orte bisher keine Darstellungen (und möglicherweise auch keine Quellen) gibt. Ich werde mich auf einige markante und gut untersuchte Fälle beschränken. Dazu gehört natürlich der Fall von Elisavetgrad (heute: Kirovograd) in der Provinz Cherson, da von hier aus die Pogromwelle ihren Ausgang nahm. Stefan Wiese, auf dessen Ausführungen ich mich im Folgenden stütze, hat den Ausbruch des ersten Pogroms der Pogromwelle von / kürzlich auf breiter Quellenbasis sehr detalliert rekonstruiert.69

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panikartiger Angststimmung und sehnsüchtiger Erlösungshoffnung gestaltet, kennt sie den Pogrom« (ebd., S. ). Im Frühjahr  gab es nach Stefan Wiese »keinen Grund, mit dem zu rechnen, was kommen würde«. Er sieht denn auch für den »Auftakt in Elisavetgrad« ein hohes Maß an »Improvisation« gegeben (Pogrome im Zarenreich, S.  f.). Allerdings hatte der Gouverneur der Provinz Odessa vor Ausbruch der Pogrome auf Gerüchte über bevorstehende »Unordnungen und Verfolgungen der Juden« hin in Odessa eine Bekanntmachung verbreiten lassen, in der die Bevölkerung zu Ruhe und Ordnung aufgerufen und Ansammlungen auf Straßen und Plätzen vor den Kirchen verboten wurden. Auch in Grodno wurden von den Behörden Vorsichtsmaßnahmen getroffen (AZJ, Jg. , Heft , .., S.  – die Nachricht ist auf den . April datiert). Eine Woche später, nachdem der Ausbruch des Pogroms in Elisavetgrad bekannt geworden war, berichtet die AZJ davon, dass Zeitungen schon seit einiger Zeit Artikel gebracht hätten, dass Volksaufstände gegen die Juden in Südrussland drohten (Jg. , Heft , .., S. ). Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  f. Auch Klier hat auf der Basis seiner Presseanalyse zeigen können, dass es keine antisemitische Pressekampagne gab, die die Juden als Zarenmörder anschuldigte (s. o.). Aronson, The Anti-Jewish Pogroms, S. -. Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  f. Dazu und zum Folgenden, ebd., Kap. .

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Die kleine Kreisstadt von . Einwohnern hatte einen Bevölkerungsanteil an überwiegend armen Juden von ca.  .70 Zwar hatte sich die Einwohnerzahl seit  fast verdoppelt,71 doch war die Zahl der Juden in den Jahren zuvor nicht stärker angewachsen als die der übrigen Bevölkerung, dennoch herrschte unter der nichtjüdischen Bevölkerung offenbar ein Gefühl der Bedrohung durch die Zuwanderung von Juden. Wiese hebt auch hervor, dass sich die Stadt seit einigen Jahren im ökonomischen Niedergang befand und dass aufgrund der schlechten Ernte von  ein Teil der Bevölkerung sogar Hunger litt. Das in der Stadt verbreitete Gefühl jüdischer Dominanz lässt sich wohl darauf zurückführen, dass Juden den Handel mit Getreide und Alkohol, beides »sensible Güter«, fasst vollständig kontrollierten (  der Geschäfte gehörten Juden, unter den Brotgeschäften sogar  ), zwei Drittel der Mittelschüler stellten und auch in der Stadtversammlung über großen Einfluss verfügten. Das mag dazu beigetragen haben, dass die Kommission, die das Pogrom in der Stadt untersuchen sollte, dessen Ursache trotz der unter Juden verbreiteten Armut in der Gefahr jüdischer Dominanz über die »angestammte« Bevölkerung sah.72 Neben dieser Konfliktlinie sieht Wiese aber den mobilisierenden Faktor eher in einer in der Luft liegenden Ritualmordbeschuldigung. Auch wenn der Prozess der sog. »Kutaisi-Affäre« schon ein Jahr zurücklag und mit einem Freispruch geendet hatte, sei dieser landesweit breit debattierte Fall immer noch »in aller Munde« gewesen, zumal im Dezember  ebenfalls im Gouvernement Kutaisi ein weiterer, wenn auch schnell aufgeklärter Ritualmordverdacht aufgekommen war. Das Erstaunliche war aber nach Wiese, dass ein Vorfall in der Karwoche in Elisavetgrad, der das Zeug hatte, ein Ritualmordgerücht in Gang zu setzen, zumal sich schon eine große Menschenmenge versammelt hatte, sich schließlich friedlich aufklärte und die beruhigte Menge sich wieder zerstreute.73 Dies weist auf die  Einen ähnlich großen Anteil stellten Russen, gefolgt von den Ukrainern (ca  ), dazu noch Polen und einige Deutsche, Tataren und Griechen. Damit entsprach die ethnische Zusammensetzung in Elisavetgrad in etwa dem Durchschnitt der Städte im sog. Neurussland (Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. ).  Nach Omeljan Pritsak, The Pogroms of , in: Harvard Ukrainian Studies /-, , S. -, hier S. , war die Region um Elisavetgrad in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts immer noch ein kolonial geprägtes Gebiet (Nova Serbiia). Die Stadt hatte  . Einwohner, davon achttausend Juden. Pritsak betont die multinationale Zusammensetzung der Bevölkerung aus Ukrainern, Juden, Moldawiern, Bulgaren, Deutschen, Polen, Russen und anderen.  seien nur   der Bevölkerung auch dort geboren worden. Zu Recht bestreitet er damit die These, es sei die rebellische und antijüdische Tradition der Ukrainer seit den Chmielnicki-Exzessen von , die das Ausbrechen der Gewalt dort erklären könnten.  Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . Die Kommission beklagte, dass die christliche Oberschicht der Stadt sich apathisch verhalte und die Stadt den Juden überlasse, die insgesamt weiterentwickelt seien als die Christen.  Am . April  entdeckte man bei einer jüdischen Händlerin sechs Konservengläser mit Innereien und Blut, woraufhin das Gerücht aufkam, es handele sich um die Überreste eines Pessachopfers, was rasch eine große Menschenmenge zusammenströmen ließ. Tatsächlich handelte es sich um die Überreste zweier Jungen, die wegen des Verdachts einer

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hochgradige Kontigenz der Entstehung von Pogromen hin, da diese, wie Wiese immer wieder zu Recht betont, ein sehr komplexes Geschehen sind, so dass vieles zusammenkommen muss, damit es tatsächlich zum Ausbruch von kollektiven Gewaltaktionen kommt. Diese Tatsache macht es Behörden schwer, den Ausbruch von Pogromen vorauszusehen. Wenn auch der Zarenmord nicht direkt als Auslöser der Pogrome anzusehen ist, hatte er eine indirekte Auswirkung, da die zu Ostern üblichen Festivitäten, zu denen ausgiebiges Trinken und Schlägereien zwischen den Männern benachbarter Orte gehörten, wegen der Staatstrauer abgesagt wurden. Diese Absagen drückten auf die Stimmung auch in Elisavetgrad, und es kam das Gerücht auf, diese Einschränkungen habe man den Juden zu verdanken, die die Behörden bestochen hätten, da für sie diese Vergnügungen der Massen immer eine Bedrohung darstellten. Diese Gerüchte wurden vom Polizeimeister der Stadt so ernst genommen, dass er ein gedrucktes Dementi in der Stadt plakatieren ließ. Es verfestigte sich jedoch bei den Einwohnern die Erwartung, dass mehr bevorstand als die üblichen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Juden.74 Wiese beschreibt sehr detailliert, wie vor dem Ausbruch des Pogroms kleinere Drohungen und Konflikte, die man sonst als alltägliche Vorkommnisse gewertet hätte, nun für Juden wie für Christen den Charakter eines Menetekels annahmen und die Gerüchteküche immer mehr anheizten. Diese weite Verbreitung der Gerüchte führte später zu der vor allem unter Juden verbreiteten Annahme, diese seien absichtlich ausgestreut worden, um zur Gewalt anzureizen, doch ließen sich keine Urheber der Gerüchte identifizieren. Nach Wiese wies das Pogrom in Elisavetgrad jedoch keinerlei Anzeichen einer vorausgegangenen Planung auf.75 Diese Gerüchte blieben natürlich nicht ohne Wirkung auf die potentiellen Opfer. So begannen die Juden Vorkehrungen zu treffen, indem sie bei Behörden vorstellig wurden und um Schutz baten, Teile ihres Besitzes bei christlichen Nachbarn deponierten oder gar aus der Stadt flohen oder Waffen zur Selbstverteidigung kauften, was nun wieder unter den Christen Gefühle der Bedrohung entstehen ließ. Der Gouverneur der Provinz gab auf diese Gerüchte und die Intervention einflussreicher Juden hin am . April dem Polizeichef von Elisavetgrad, Il’ia Petrovich Bogdanovich, den Befehl, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, was dieser durch die zusätzliche Anforderung von Militär auch tat.76 Er ließ zudem an den Vergiftung gerichtsmedizinisch untersucht werden sollten. Ein Gerichtsdiener hatte die zu verschickenden Gläser zufällig bei der Händlerin abgestellt und traf nun auf die erregte Menschenmenge, als er sie wieder abholen wollte. Die Menge glaubte dieser Erklärung (Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. ). Auch Klier erwähnt unter Bezugnahme auf die Zeitung Rassvet vom .. diesen Vorfall, doch stuft er den Bericht als »curious, and unsubstantiated, story of a near-pogrom« ein (Russians, Jews, and the Pogroms, S. , FN ).  Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  f.  Ebd., S.  f.  Nach Wiese, ebd., S. , Es patrouillierten über die Ostertage neben der Polizei zwanzig Fußsoldaten und zwölf berittene Husaren in der Stadt. Zwei Geschwader Husaren wurden vor Ort in Reserve gehalten.

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ersten drei Tagen der Osterwoche Läden und Gasthäuser schließen – offiziell wegen der Trauer um den getöteten Zaren.77 Die Ostertage vom .-. April (nach dem julianischen Kalender)78 blieben denn auch ruhig, so dass der Polizeichef die Truppen wieder abziehen ließ, was sich als fataler Fehler erwies, denn dies konnte in der Bevölkerung als Ermutigung zu Gewalttaten aufgefasst werden, zumal die durch die Gerüchte angeheizte Erwartung eines Konflikts zwischen Christen und Juden weiterhin bestand. Der für den Ausbruch eines Pogroms nötige »empörende Anlass« (trigger event) ereignete sich bereits am Nachmittag des . April,79 einem Mittwoch, dem ersten Markttag nach Ostern, als in einer der nun wiedereröffneten jüdischen Schankwirtschaften ein Streit mit dem lokalen »heiligen Dorfnarren« ausbrach,80 der auf seinen Hinauswurf mit seinem Geschrei, er sei geschlagen worden, eine große Menschenmenge anlockte, die der nach kühlen und regnerischen Ostertagen einsetzende Sonnenschein auf die Straße gelockt hatte. Wiese beschreibt den unter den Umstehenden einsetzenden Kommunikationsprozess, in dem man dem Geschehen einen Sinn zu geben versuchte. So verbreiteten sich unterschiedliche Gerüchte über das Vorgefallene, die teils von einer Verletzung oder gar Ermordung des Hinausgeworfenen wissen wollten, teils annahmen, dieser sei wegen seiner Weigerung, den Schnaps oder ein zerbrochenes Glas zu bezahlen, vom ausbeuterischen Juden hinausgeworfen worden.81 Ein hinzukommender Polizeihauptmann versuchte vergeblich, die Menge zu zerstreuen, die stattdessen unter dem Ruf »Die Juden schlagen die Unsrigen« unter Johlen und Pfeifen der Zuschauer begannen, jüdische Passanten zu Boden zu stoßen und zu schlagen sowie Juden auch in den umliegenden Schänken zu attackieren.82 Wiese betont, dass es dabei um die Demütigung der Opfer ging und nicht darum, diese schwer  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .  Nach dem gregorianischen Kalender fiel Ostern  auf den . April.  Die Datierung in der ausländischen Presse folgte dem gregorianischen Kalender, demnach war der . April nach dem julianischen Kalender dort der .. Vgl. etwa AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Zur Rolle dieses in den Berichten als »Gottesnarr« (jurodivye) bezeichneten Mannes, der von einem Bürger angestiftet worden war, in der jüdischen Schänke einen orthodoxen liturgischen Gesang anzustimmen vgl. Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  f. Wie schwer die nachträgliche Identifizierung der Ursachen für den Ausbruch eines Pogroms fällt, zeigt die Meldung in der AZJ, die sich auf »Privatberichte aus Odessa«, bezieht, »die zu wissen meinen, dass die Unruhen am Mittwochnachmittag wie auf Verabredung begonnen haben«, d. h., also auf einen organisierten Beginn abstellen. In einem weiteren Bericht klingt es ähnlich: Demnach hätten am . mittags zwischen drei und vier Uhr dort »zahlreiche abgesonderte Haufen von  bis  Menschen überall zur gleichen Zeit ihr Vernichtungswerk« begonnen. »Jeder Haufen ward von Leuten angeführt, die mit den Orts- und sonstigen Verhältnissen aufs genaueste bekannt waren« (Jg. , Heft , .., S.  und ). Die Datierung folgt hier dem gregorianischen Kalender.  Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  f.  In älteren Darstellungen, die von einer offiziellen Steuerung der Pogrome ausgingen, wird behauptet, es seien zwanzig junge Fremde, ausgestattet mit Taschen voller Geld, aus den Hauptstädten in die Stadt geschickt worden, um dort ein Pogrom zu organisieren. Zudem

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zu verletzen oder gar zu töten. Nun setzte ein schrittweiser Eskalationsprozess ein. Die aufgrund des Markttages vielköpfige Menge begann nun auf dem Marktplatz die Stände jüdischer Obsthändler umzuwerfen, die Läden aufzubrechen und die Waren auf die Straße zu werfen, zog dann in die Nachbarstraßen weiter, um von Juden bewohnte Häuser anzugreifen und die Möbel zu zerstören und auf die Straße zu werfen. Die jüdischen Ladeninhaber wehrten sich mit Brecheisen und Äxten. Nachdem die Polizei vergeblich versucht hatte, die Menge zu zerstreuen, forderte der Polizeichef die am Morgen entlassenen Soldaten erneut an.83 Die Menge auf dem Marktplatz, die den Juden die Schuld gab, einen Russen geschlagen zu haben, wich vor der Polizei und den Soldaten zurück, und zwanzig Pogromisten wurden verhaftet. Die Staatsanwaltschaft nahm den angerichteten Schaden auf.84 Dies beruhigte die Situation jedoch nicht, vielmehr zog die Menge in die Straßen der Außenbezirke, wo weiter zerstört und geplündert wurde.85 Es waren nach Klier vor allem Bäuerinnen, Jugendliche und der lokale Pöbel, die sich auf das Plündern verlegten.86 Als gegen  Uhr die bereits abmarschierten Truppen wieder eintrafen, wurden diese zur Beruhigung der Lage in den Außenbezirken und zu Patrouillen in der Stadt eingesetzt, doch schritten sie nach Stefan Wiese nicht oder nicht wirksam genug gegen die Tumultanten ein.87 Eine Patrouille hatte es mit einer Menschenmenge zu tun, die die Synagoge belagerte und mit Steinen bewarf, in der sich viele Juden versammelt hatten. Die Menge beschwerte sich, aus der Synagoge beschossen worden zu sein.88 Herbeigeholte staatliche Repräsentanten konnten dies widerlegen und so die Lage beruhigen, so dass sich die Menge zerstreute. Nach Wiese wurden die Truppen vor allem im Stadtzentrum postiert, um die dortigen Häuser der wohlhabenden Juden zu schützen, was auch gelang. Dies führte dazu, dass sich die Menge nun den Häusern der ärmeren Juden in den Au-

     

seien viele Bauern mit auffällig leeren Wagen in die Stadt gekommen, was als Zeichen für versprochene Plünderungen gedeutet wird (Pritsak, The Pogroms of , S. ). Nach Pritsak (ebd., S. ) hatte Elisavetgrad bei . Einwohnern nur sechs Polizeioffiziere und  Polizisten, die zudem alle schlecht ausgebildet waren. Sowohl die Polizei wie auch das Militär waren auf die Unterdrückung städtischer Unruhen nicht vorbereitet. Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . Dies geschah nach Pritsak in Gruppen von ca. vierzig Personen, angeführt von einem der auswärtigen Anstifter (The Pogroms of , S. ). Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . Nach einem Zeitungsbericht soll dabei eine Frau erschossen und mehrere Personen verwundet worden sein. Die Erzählung, wonach es zehn Tote gegeben habe, wurde als Übertreibung zurückgewiesen (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Nach Linden, Prototyp des Pogroms, S.  f., sollen sich Juden noch vor dem Osterfest mit Revolvern bewaffnet und beim Ausbruch des Pogroms in der Synagoge »zwecks Selbstverteidigung eingesperrt« haben. Soldaten seien aber in die Synagoge eingedrungen und hätten die Juden entwaffnet, woraufhin die Synagoge von der Menge gestürmt worden sei. In den wissenschaftlichen Darstellungen findet sich dazu nichts Entsprechendes. Linden erhebt den Vorwurf, die Behörden hätten Versuche der Juden, sich zu bewaffnen und damit selbst zu verteidigen, hintertrieben, etwa in Odessa und Balta.

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ßenbezirken zuwandte, die aufgrund ihrer weiten Streuung von den Truppen kaum wirksam zu schützen waren, zumal die Menge vor anrückenden Soldaten entweder verschwand, um ihr Treiben an anderer Stelle fortzusetzen, oder einfach abwartete, bis die Soldaten wieder abgerückt waren, um dann mit ihren Zerstörungen und Plünderungen fortzufahren. Die Soldaten wurden teilweise auch mit Steinen beworfen.89 Wiese schreibt auch, dass sich die Soldaten, weil sie nichts ausrichten konnten, in manchen Fällen in bloße Zuschauer verwandelten, so dass sich die Pogromisten in ihrem Tun vollends sicher fühlten. Die Soldaten beteiligten sich jedoch nicht an den Plünderungen.90 Der Polizeichef Bogdanovich meldete die Vorfälle an den Gouverneur der Provinz Cherson, der seinerseits die Ministerien in St. Petersburg informierte und sich zudem mit Truppen nach Elisavetgrad auf den Weg machte. Obwohl es auch nachts noch zu sporadischen Übergriffen kam, traf die Polizei keine Vorkehrungen für den kommenden Tag. Am nächsten Morgen lebten die Ausschreitungen in großem Umfang wieder auf, zumal nun die städtischen Pogromisten durch die Bauern der Umgebung verstärkt wurden, die die Neuigkeiten aus der Stadt angelockt hatten. Hier ist ein in sehr vielen Pogromen anzutreffendes Handlungsmuster erkennbar, dass nämlich nach dem Auftakt eines Pogroms seitens der vor Ort schnell mobilisierbaren Menschenmenge am zweiten Tag die Zahl der Pogromisten deutlich ansteigt, da sich nun sowohl weitere Ortsbewohner beteiligen als auch Personen aus den umgebenden Dörfern zum Plündern in die Stadt kommen. Da den staatlichen Organen das Wissen um dieses Muster fehlte, wurden sehr oft die nötigen Vorkehrungen gegen das verstärkte Aufleben der Gewalt am Folgetag nicht getroffen. Militär und Polizei, die in einzelne Streifen aufgeteilt wurden, waren vor Ort jeweils in der Unterzahl, zudem hinderte ein Publikum aus »besseren Kreisen« und aus Frauen und Kindern ein scharfes Durchgreifen, da dies auch die Umstehenden gefährdet hätte. Es gab deshalb später Vorwürfe auch seitens Elisavetgrader Bürger, das Militär sei zu passiv in der Niederwerfung der Unruhen gewesen.91 Der örtliche Militärkommandant wurde am frühen Morgen von Seiten des militärischen General-Gouverneurs angewiesen, die Befehlsgewalt in Elisavetgrad zu übernehmen. Dieser forderte sogleich weitere Truppen an und gab den Befehl, scharf durchzugreifen und auch Schusswaffen einzusetzen. Es wurden Kordons um die städtischen Verwaltungsgebäude gebildet und Truppen an die jeweiligen Brenn Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  ff.  Ebd., S.  f.  Vgl. auch Pritsak, Pogroms of , S. , der behauptet, die Passivität der Polizei und des Militärs habe bei den Pogromisten den Eindruck entstehen lassen, die Aktionen gegen die Juden seien kein Verbrechen, sondern sogar vom Staat angezettelt und unterstützt worden. Dieser Vorwurf wurde auch in der ausländischen Presse erhoben. Die AZJ schrieb, dass sich das Militär durchaus nicht beeilte, »am . den Unfug zu steuern«. Es habe »keinen ernstlichen Versuch« gemacht, »die Störenfriede auseinanderzutreiben«. Und später habe man sich angesichts der Plünderungen und Zerstörungen der Häuser damit entschuldigt, die Garnison sei zu schwach zum Einschreiten gewesen (Jg. , Heft , .., S. ).

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punkte beordert. Beim Zerstreuen der Menge waren die Truppen nicht immer erfolgreich, wenn sie allerdings über die Menge schossen, zerstreute sie sich schnell. Auch gelang die Auflösung kleinerer Menschengruppen sehr schnell, die sich aber zum Teil andernorts wieder neu formierten. Auf Widerstand stieß das Militär vor allem, wenn es Verhaftungen vornehmen wollte. Nach Klier ließ sich die Polizei am zweiten Tag kaum noch auf den Straßen blicken.92 Durch das Aufstellen von Wachen an den Ausfallstraßen und das Entfernen von Bodenbrettern über einen Fluss gelang es aber, den weiteren Zustrom von Bauern aus der Umgebung zu unterbinden. So ging das Pogrom am Abend des . April wie von selbst zuende.93 Die Ankunft von drei Kavallerieschwadronen in der Nacht zum . April, die verhängte Ausgangssperre und schlechtes Wetter trugen dazu bei, dass die Gewalt am nächsten Tag nicht erneut aufflammte. Am nächsten Tag wurden drei Leichen gefunden, ein »unter unbekannten Umständen umbrachter Jude«94 und zwei Pogromisten, die an Alkoholvergiftung gestorben waren. Nach Klier hatte es einige brutale Übergriffe gegen Juden gegeben, die aus höheren Stockwerken auf die Straße gestoßen worden seien und von denen einige schwere Verletzungen erlitten hätten. Ein Christ sei durch einen Schuss verwundet worden.95 Andere Autoren wie Pritsak und Wiese berichten nur von einem getöteten Juden, nicht jedoch von schwerer Verletzten. Die Bilanz der Zerstörung waren  attackierte Häuser sowie  zerstörte Läden. Der Schaden wurde von jüdischer Seite mit zwei Millionen Rubel veranschlagt, was von offizieller Seite als stark überhöht eingeschätzt wurde.96 Es hatte zudem  Verhaftungen gegeben, die meisten Täter stammten aus der Stadt, es waren aber auch einige Bauern aus der Umgebung darunter. Die Verhafteten wurden nach kurzer Zeit entlassen, aber  von ihnen später vor Gericht gestellt.97  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f.  Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. . Wiese sieht das Ende des Pogroms auch dadurch mitbedingt, dass die Täter müde geworden waren, ihnen nicht mehr viele Plünderungsgewinne winkten und zudem Wind und Regen eingesetzt hatten.  Nach Wiese, ebd., S. . Vom . April bis . Mai  wurden nach Pritsak (The Pogroms of , Appendix, S. -) im gesamten Gouvernement Cherson ein Jude getötet (in Elisavetgrad) und zwei verletzt (in Berezovka). Die AZJ bezweifelte, dass nur ein Jude umgekommen war, und sprach davon, dass »mehrere totgeschlagen« und »viele schwer, andere leicht verletzt« worden seien (Jg. , Heft , .., S. ).  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .  Das Pogrom von Elisavetgrad wies damit, was die Zahl der zerstörten jüdischen Häuser und Läden anging, bei weitem die größten Zerstörungen im Vergleich zu den übrigen  Pogromen im Gouverment Cherson in der Zeit vom . April bis . Mai  auf. Insgesamt wurden dort  Häuser,  Geschäfte und  Schänken zerstört Der gesamte Sachschaden lag bei .. Rubel. Nur in den Städten Golta kam es mit , in Ananev mit  und Berezovka mit  zerstörten Häusern, Läden und Schänken ebenfalls zu einem hohen Ausmaß an Zerstörung, während in den Dörfern und sehr kleinen Städtchen die Zahl der zerstörten jüdischen Häuser, Läden und Schänken im einstelligen Bereich blieb (zur Statistik siehe Pritsak, The Pogroms of , Appendix).  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f.

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Als am Morgen des . April der Gouverneur der Provinz, A. E. Erdeli, eintraf, herrschte Ruhe in der Stadt. Nun begann die Phase der polizeilichen Aufarbeitung des Geschehens. Der Gouverneur sandte seine Truppen aus, um die rings um auf dem Lande noch schwelenden Unruhen zu unterbinden, die noch in der Nacht vom . auf den . April begonnen hatten, als Bauern mit ihrer Beute aus Elisavetgrad zurückkehrten und ihren Nachbarn berichteten, sie könnten die Juden straflos ausrauben. Der Gouverneur befahl zudem unter Strafandrohung die Rückgabe gestohlenen Besitzes, was einigen Erfolg hatte. Der Stadtrat setzte Kommissionen ein, die einerseits der Polizei helfen sollten, Täter zu identifizieren, andererseits den angerichteten Schaden zu ermitteln. Er stellte zunächst tausend Rubel als Soforthilfe für die Pogromopfer zur Verfügung. Kritik sollte der Gouverneur allerdings für seine Entscheidung ernten, auch ein Komitee zur Hilfe für die Familien der verhafteten Pogromisten einzurichten.98 Die AZJ druckte einen Korrespondentenbericht der Kölner Zeitung ab, wonach nach Ende der Unruhen in Elisavetgard die Stadt »von Militär und Gerichtspersonen so angefüllt [ist], das man kein Zimmer mehr auftreiben kann. […] Mehrere Abschätzungs-Commissionen sind rastlos tätig«.99 – Pritsak hat für Elisavetgrad und die umgebenden Orte die Zusammensetzung der Verhafteten aufgeschlüsselt. Von den  Verhafteten waren  orthodoxe Christen,  Städter,  Soldaten im Ruhestand, sechs Fremde, ein Adliger,  Bauern aus der Umgebung und drei »Andere«. Von  Verhafteten sind die Berufe bekannt:  waren ungelernte Arbeiter,  Tagelöhner und  Domestiken, gehörten also zum Proletariat. Sechs Prostituierte und  Arbeitslose wurden gezählt, dazu  Bauern. Es überwog bei den Verhafteten mit  Personen bei weitem die städtische Bevölkerung. Die Zusammensetzung war in den kleineren Orten ähnlich.100 Wie auch in den späteren Fällen löste das Pogrom in einer Stadt eine Welle weiterer Unruhen in den Dörfern des Gouvernements aus, wobei sich die Nachrichten und Gerüchte über die Eisenbahn, Flüsse und Straßen in die jeweils benachbarten Orte fortpflanzte. Es waren häufig die Berichte der aus Elisavetgrad zurückkehrenden Bauern, die als Auslöser fungierten.101 Neben dem Pogrom in Elisavetgrad kam es zwischen dem . und . April noch zu Unruhen in Znamenka, Golta (ein schweres Pogrom),102 sowie zu einem fehl    

Ebd., S. ; auch: Aronson, Troubles Waters. AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f. Pritsak, The Pogroms of , S. -. Vgl. die Darstellung im Bericht der AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Zu Golta druckte die AZJ einen Augenzeugenbericht ab, wonach am . April am Abend die Kirchenglocken geläutet hätten und man zunächst »wildes Angst- und Wuthgeschrei, das Klirren zerbrochener Fenster und das Krachen eingeschlagener Thüren« gehört habe. »Eine Rotte von etwa  Menschen, Bauernburschen, Eisenbahnarbeitern, Kutschern und fremden hier unbekannten Leuten wüthete in vandalischer Wut und ganz genauen Ortskenntnissen im Eigentum der entflohenen oder in den Kellern versteckten Juden. Etwa zwölf Buden, Magazine und Wohnungen wurden bis morgens  Uhr vollständig zerstört und ausgeraubt. Der Inhalt wurde in den Straßenkoth getreten, Betten zerschnit-

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geschlagenen Versuch in Aleksandriia; am . und . April gab es Übergriffe in Anan’ev und ein größeres Pogrom in Berezovka (mit zwei verletzten Juden), einem Ort von . Einwohnern mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit von . Personen. In der Provinz Cherson kam es zwischen dem . und dem . April zu insgesamt  Pogromen, davon sechs städtische und  dörfliche (sporadisch gab es noch Pogrome bis in den Herbst hinein), die aber im Unterschied zu den Städten recht »milde« verliefen bzw. vom nun umgehend dorthin beorderten Militär schnell unterdrückt werden konnten. Betrug der Schaden in Elisavetgrad fast zwei Millionen Rubel, waren es in den anderen Orten zusammen nur knapp ..103 Nach Klier trugen neben den Nachrichten und Gerüchten auch die offiziellen Warnungen und Verlautbarungen ungewollt zur Verbreitung der Pogrome bei. In der älteren Darstellung von Pritsak waren die Bauern von Agitatoren dazu überredet worden, an anderen Orten Pogrome auszulösen. Letztere hätten dazu mit der Behauptung gearbeitet, es gebe einen Befehl des Zaren, die Juden anzugreifen.104 In der Tat kursierten solche Gerüchte, doch werden diese heute in der Forschung nicht mehr auf eine bewusste Verbreitung durch Agitatoren zurückgeführt, sondern aufgrund einer Vielzahl ganz ähnlicher Gerüchte in anderen Pogromwellen als spontane Rechtfertigungsformel der gewaltbereiten Menge betrachtet. Die AZJ bringt ein Beispiel für eine im Gourvernement Chernigov kolportierte Erzählung, die zeigte, »wie tief das Volk vom Vorhandensein eines Ukases, welcher die Zerstörung der von Juden bewohnten Häuser, anempfiehlt, überzeugt gewesen sei«. Demnach habe ein Bauer weinend sein eigenes Haus zerstört, in welchem ein armer Jude zur Miete wohnte, weil »der Ukas es so verlange«.105 ten, die Federn umhergestreut, die Branntweinfässer zerschlagen, Thüren und Fenster aus dem Rahmen herausgeschlagen und die Möbel zertrümmert. Die Juden hatten sich gut versteckt, daß auch nicht ein einziger getötet oder verwundet wurde, aber das Loos der Familien war denn doch höchst beklagenswerth«. Im Ort waren im Lazarett rekonvaleszente junge Soldaten untergebracht, die ohne Waffen aber nichts ausrichten konnten, anderes Militär war nicht verfügbar. Bereits am frühen Morgen hätten die Behörden dann ihre Tätigkeit aufgenommen (Jg. , Heft , .., S.  f.).  Pritsak, The Pogroms of , S. , . Dort auch eine Liste der  Pogrome jeweils mit dem angerichteten Schaden an Personen und Sachen (S.  ff.). An den jeweils angegebenen Entfernungen der Orte vom Epizentrum Elisavetgrad kann man gut nachvollziehen, wie sich zwischen dem . und . April die Pogrome immer weiter rings um E. ausbreiteten. In der neuesten Darstellung von Klier (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ) finden sich andere, etwas niedrigere Angaben: es gab  Pogrome, davon sechs städtische (drei Städte, zwei kleine Städte und eine Bahnstation) sowie in vierzig Dörfern.  Personen wurden verhaftet, weitere  ohne vorherige Verhaftung angeklagt. Außer den drei Todesopfern in Elisavetgrad gab es keine weiteren Toten.  Pritsak, The Pogroms of , S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Auch Klier hebt die wichtige Rolle von Gerüchten hervor, denen zufolge der Zar seine treuen Untertanen dazu aufgefordert habe, »to put the Jews in their place« (John D. Klier, Christians and Jews and the ›Dialogue of Violence‹ in Late Imperial Russia, in: Anna Sapir Abulafia (Hrsg.), Religious Violence between Christians and Jews. Medieval Roots, Modern Perspectives, Houndsmills, New

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Die Gerüchte und Warnungen blieben zumeist auf einen Distrikt begrenzt und griffen selten über Distrikt- und Gouvernementsgrenzen hinaus. In den Nachbargouvernements gingen die Unruhen zumeist ebenfalls von einem Pogrom in einem städtischen Zentrum aus, wie etwa von dem am . April ausbrechenden, dreitägigen Pogrom in Kiew.106 Die Warnungen des Innenministeriums an die verantwortlichen Gouverneure vor allem in dem für Unruhen bekannten Odessa und in der Stadt Charkov führten dort zu den nötigen Vorkehrungen, so dass Pogrome verhindert bzw. sehr schnell unterdrückt werden konnten.107 Die Gouverneure reagierten nun umgehend und schickten Truppen in Orte, in denen Pogromgerüchte umliefen oder gar Unruhen ausgebrochen waren. Zudem reagierte man mit Schutzmaßnahmen, indem man Schänken schloss, Märkte absagte und die Warnung plakatierte, dass die Juden ebenso unter dem Schutz des Gesetzes stünden wie orthodoxe Christen.108 Zudem gab es Anweisungen, das Vorgehen des militärischen Befehlshabers in Elisavetgrad zu überprüfen, und die Geheimpolizei sollte nach möglichen Anstiftern der Pogrome suchen, die man unter den revolutionären Sozialisten vermutete.109 Stefan Wiese gibt für Elisavetgrad eine genaue Beschreibung des Verhaltens der vier bei Pogromen beteiligten Akteursgruppen: Täter, Zuschauer, Opfer und Polizei bzw. Militär.110 Die Täter rekrutierten sich demnach überwiegend aus der Unter- und Mittelschicht. Bei den Aktionen lässt sich eine gewisse Arbeitsteilung beobachten: So gab es die (zunächst) altruistischen, häufig gewalterfahrenen Täter, die sich an die Spitze der Menge stellten und bei den Angriffen vorangingen, die Türen jüdischer Häuser auf brachen und zumeist eine ausgesprochene Freude am Zerstören der Einrichtungsgegenstände zeigten (etwa beim Aus-dem-Fenster-Werfen von Klavieren, dem Zerreißen von Bettwäsche usw.) und weniger an der Aneignung von Besitz interessiert waren. Oft waren es auch kleine Gruppen, die bei der Gewaltausübung vorangingen und dann, ermutigt durch den geringen Widerstand,

 

  

York, , S. -, S. ). Zur Rolle von Gerüchtekommunikation siehe oben Kap.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff. Hatte die AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) noch in der Ausgabe vom . Mai  berichten können, der Generalgouveneur habe offenbar dafür gesorgt, dass Odessa »zu jener Zeit mit Militär gefüllt war«, was den sonst auch dort drohenden Ausbruch von Gewalt verhindert habe, so musste sie in der Ausgabe vom . Juni (Heft , .., S.  f.) doch berichten, dass es trotz aller Sicherheitsvorkehrungen zu antijüdischen Ausschreitungen gekommen war, die sich schnell in der Stadt ausgebreitet hatten, die allerdings durch das energische Eingreifen von Polizei und Militär, insbesondere seitens der berittenen Kosaken, innerhalb eine guten Stunde hatten beendet werden können. Klier stuft die Unruhen in Odessa deshalb nicht als »full-scale pogrom« ein. Es war zu einer hohen Zahl von . Verhaftungen gekommen, die aber vor allem durch eine Razzia in den Nachtasylen und Herbergen zustandegekommen war (Russians, Jews, and the Pogroms, S. , ). Ebd., S. . Ebd., S.  f. Dazu und zum Folgenden: Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. -.

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in die Häuser oder Schänken eindrangen. Weniger risikobereite Täter folgten dann nach und nutzten die sich nun eröffnende Chance zur gefahrlosen Plünderung, darunter waren dann auch häufig Frauen. Diese Täter scheuten das Risko und verhielten sich beim Fortschleppen der Beute sehr vorsichtig; wobei manche das Geraubte in mehreren Ladungen nach Hause schleppten. Wie schon Klier hebt auch Wiese den z. T. karnevalesken Festcharakter der Pogrome hervor, wobei sich die Pogromisten mit der erbeuteten Kleidung kostümierten, es wurde getanzt und gesungen, wozu sicherlich der in den jüdischen Schänken und Schnapslagern geraubte und sogleich konsumierte Alkohol einiges beigetragen haben dürfte (zwei der drei Toten des Pogroms starben ja an Alkoholvergiftung).111 Ganz banal hat die zunehmende Trunkenheit der Akteure dann auch zur Beendigung des ersten Pogromtages beigetragen. Der geschilderte Festcharakter weist bereits darauf hin, dass die Gewaltaktionen immer vor einem mehr oder weniger großen Publikum stattfanden, zu dem in Elisavetgrad neben vielen Frauen und Kindern vor allem die Angehörigen der städtischen Oberschicht gehörten, die dem Spektakel fröhlich plaudernd zusahen. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich die Zuschauer völlig sicher fühlten (obwohl bei Pogromen immer wieder Zuschauer zu Tode kamen, sobald das Militär in die Menge zu feuern begann). Nach Wiese lag ihre Sympathie auch ganz eindeutig auf Seiten der Täter, während man dem Schicksal der Opfer gleichgültig gegenüberstand, was wiederum belegt, dass die Juden außerhalb des Schutzes sozial-moralischer Normen standen.112 Die Zahl der Zuschauer dürfte dabei immer wesentlich höher gewesen sein als die der aktiven Täter, wobei es auch hier immer wieder zu einem Austausch kam, d. h., aktive Täter traten zurück in die Menge, während sich aus dieser heraus einige zum Mitmachen entschlossen. Wiese betont zu Recht die zentrale Rolle des Publikums bei der Motivierung der Täter, da Letztere sich durch die Aufmerksamkeit der Menge zugleich angespornt und in ihrem Tun legitimiert fühlten. So trug das Publikum, auch wenn es die Täter nicht direkt anfeuerte, zur Eskalation bei, da die Täter im Ringen um Aufmerksamkeit sich zu immer dramatischeren Aktionen aufgerufen fühlten. Die Anwesenheit einer großen Zuschauermenge stellte für die Pogromtäter aber auch einen wichtigen Schutz dar, da sie aus der Menge heraus agieren, aber auch wieder in ihr verschwinden konnten. Bei vielen Ausschreitungen wurden die Täter von der Menge vor einer Festnahme geschützt oder sogar wieder freigepresst. Schutz bot zumal die Anwesenheit von Frauen und Kindern, da sie für das Militär ein Anlass war, nicht zu hart vorzugehen. Nach Wiese trug dieses Zu Vgl. Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f.  Indirekt wird dieser Ausschluss aus dem normativen Schutz durch eine Erklärung des Zaren Alexander III. bestätigt, der  über den Senat eine Verfügung erließ, worin jedermann bekanntgegeben wurde, »daß die Regierung fest entschlossen sei, jede Gewaltthätigkeit gegen Person und Eigentum der Juden zu bestrafen, weil sich diese ebenso unter dem Schutze der allgemeinen Gesetze befinden wie alle anderen Untertanen des Kaisers« (Die Wende in Rußland, in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Dieser Erlass sollte in Städten und Dörfern öffentlich ausgehängt werden.

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sammenspiel von Tätern und Zuschauern wesentlich dazu bei, Polizei und Militär handlungsunfähig zu machen. Nicht alle Zuschauer spendeten jedoch den Tätern Beifall, da manche fürchteten, die sinnlose Gewalt des »Pöbels« könnte sich später auch gegen ihre Häuser richten. Davor versuchte man sich unter Bezug auf die religiöse Differenz durch das Anbringen von Kreuzen, Ikonen oder das Ausstellen der Osterkuchen im Fenster zu schützen. Eine Maßnahme, mit der sich auch Juden zu schützen suchten.113 Es gab jedoch auch Christen, die Juden teils aus Eigeninteresse – z. B., weil sie bei Juden angestellt oder von ihnen als »Wächter« angeheuert worden waren –, teils aber auch aus altruistischen Motiven schützten, was sie häufig selbst zum Ziel von Angriffen werden ließ. Hatten die christlichen Einwohner also eine Mehrzahl von Rollenoptionen, war der Handlungsspielraum für die Opfer sehr begrenzt: »Sie konnten fliehen, sich zur Wehr setzen oder verhandeln«.114 Manche verschanzten sich im eigenen Haus und suchten Schutz in einem Kellerversteck. Die meisten wählten die Option der Flucht. Manche hatten sich schon vor Ausbruch der Gewalt andernorts in Sicherheit gebracht, manche versteckten sich bei hilfsbereiten Nachbarn oder in Scheunen und Kellern. Andere versuchten sich durch Schutzgeldzahlungen freizukaufen, was die Täter teils aber ablehnten und was auch nur temporären Schutz versprach, da der nächste Pogromhaufe sich daran nicht halten musste oder neue Foderungen erhob. Was die Gegenwehr angeht, so kann Wiese für Elisavetgrad zwei Phasen unterscheiden: als zu Beginn der Gewalt ihre Obststände umgeworfen wurden, wehrten sich Juden mit Beilen und Brechstangen sozusagen auf Augenhöhe mit den Angreifern, da sie die Situation als eine typische Alltagssituation im »dialogue of violence« zwischen sich und den Christen interpretierten, den Klier als alltägliches Phänomen beschrieben hat.115 Als sie sahen, dass die Gewalt einen deutlich ernsthafteren Charakter annahm, wurde diese Gegenwehr im Nahkampf jedoch aufgegeben. Juden sollen später dann aus ihren Wohnungen oder von Dächern auf die Pogrommenge geschossen haben. Diese Schüsse und auch weitere Androhungen seitens einzelner Juden, zu schießen, wurde von den Pogromisten nicht ernst genommen. Viele Pogromberichte belegen zudem, dass Schüsse von Seiten der Juden eine Gewaltspirale in Gang setzen konnten, bei der es in vielen Fällen zu



Interessant ist der Hinweis von Wiese, dass die Täter aber kaum Schwierigkeiten hatten, die Opfer zu identifizieren. Diese Erkennbarkeit, die etwa in westeuropäischen Ländern kaum noch gegeben war, ist als eine wichtige Voraussetzung für Pogromgewalt anzusehen. Dennoch gab es auch bei antijüdischen Pogromen vielfach Probleme, Juden sicher zu erkennen, so dass die Täter nach zusätzlichen Indikatoren suchten und »jüdisch aussehende« Personen vorsichtig sein mussten. Es gab nach Wiese regelrechte Aushandlungsprozesse zwischen Täter und potentiellem Opfer, indem dieses etwa aufgefordert wurde, ein christliches Bekenntnis abzulegen (Pogrome im Zarenreich, S.  und  ff.).  Ebd., S. .  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .

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Todesopfern unter den Juden kam.116 Diese Art der Gegenwehr wurde offenbar als Verletzung des rituellen Ablaufs von Pogromen verstanden, während eine Gegenwehr mit Fäusten, Knüppeln oder Messer als legitim galt.117 Polizei und Militär sahen sich im Fall von Pogromen in einer schwierigen Lage. Aufgrund ihrer geringen Stärke konnten sie gewöhnlich nur wenige Orte dauerhaft schützen, zumal die Menge – wie geschildert – in der Auswahl ihrer Ziele sehr beweglich ist, und es bestehen Hemmungen, gegen die Bevölkerung zu massiv mit Waffengewalt vorzugehen. Zugleich wurden sie gelegentlich selbst auch zum Angriffsziel der Pogromisten. Nach Wiese konnten so Militär und Polizei zwar einige Orte in der Stadt schützen, hier und da die Menge vertreiben (die dann anderswo weitermachte) und viele Pogromtäter auch festnehmen (immerhin gab es  Festnahmen),118 doch konnten sie das Pogrom nicht stoppen. Gegen eine große Menschenmenge erwiesen sich die Ordnungskräfte letztlich als machtlos. Wiese beschreibt, wie die Polizei zu Beginn des Pogroms auf dem Markplatz beherzt eingegriffen habe, von der Menge aber gleichsam »neutralisiert« wurde. Als die Polizei erkannt hatte, dass die Ausschreitungen das Maß gewöhnlicher Schlägereien überstiegen, verschwand sie für den Rest des Tages von der Bildfläche und eskortierte allenfalls die festgenommenen Pogromisten in den Arrest. Den Husaren gelang zwar der effektive Schutz der Hauptstraße, doch verlagerte dies das Pogrom lediglich auf den (weitaus größeren) ärmeren Teil der jüdischen Bevölkerung. Hier verfolgten die Pogromisten eine Art »Hit and run-Technik«, da sie beim Anrücken des Militärs verschwanden, um an anderer Stelle weiterzumachen. Aufgrund dieser Erfolglosigkeit ihres Vorgehens gaben viele Soldaten ihre Schutzaufgabe auf und »verwandelten sich vielerorts in uniformierte Zuschauer«, wodurch sich wiederum  Wiese weist hier auf die Bedeutung von Gerüchten in den unübersichtlichen Situationen eines Pogroms hin: man hört Schüsse, die dann Gerüchte in der Menge auslösen, dass sich die Juden bewaffnet hätten, dass Menschen getötet worden seien usw. Auch in Elisavetgrad löste das Gerücht, aus der Synagoge sei geschossen worden, den Sturm der dadurch erbitterten Menge auf dieselbe aus (Pogrome im Zarenreich, S. ).  Die AZJ schildert diesen Zusammenhang im Fall der Unruhen in Odessa (Mai ): Die immerhin . Personen zählenden Juden hätten sich gegenüber der Gewalt »vollkommen passiv verhalten und bei der Vernichtung ihres Eigenthums nur auf lautes Jammern beschränkt. In dieser Weise entgingen sie auch meistens Misshandlungen. Nur in sehr vereinzelten Fällen traten sie in überwiegender Zahl den Angreifenden entgegen, was zu heftigen Kämpfen und beiderseits zu zwar schweren, doch nicht tödlichenVerletzungen führte. Feuerwaffen scheinen nicht in Anwendung gekommen zu sein, dagegen auf beiden Seiten scharfe Waffen und Stöcke« (Jg. , Heft , .., S. ).  Vor welche unerwarteten praktischen Problemen ein Pogrom die Ordnungskräfte stellte, wird daran deutlich, dass man die große Zahl der Festgenommenen gar nicht sicher im Arrest unterbringen konnte und deshalb viele sofort wieder auf freien Fuß setzen musste, ohne dass ihre Vergehen zu Protokoll genommen worden waren. Dies enthielt wiederum für die Pogromisten die bestärkende Information, dass die Festnahmen ohnehin nur »zum Schein« erfolgten, während die Justiz durch das Fehlen der Protokolle viele Täter nicht bestrafen konnte, da es keine Angaben zum Grund der Verhaftung gab (Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. ).

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die Täter noch sicherer fühlten. Obwohl das Militär in Elisavetgrad mit  Mann keine geringe Stärke aufwies, konnte es die Unruhen letztlich nicht beenden – dies taten dann die verhängte Ausgangssperre und der Zuzug militärischer Verstärkung. Da es sich bei Elisavetgrad um das erste Pogrom, also um ein präzedenzloses Ereignis handelte, versagten auch die örtliche Verwaltung wie die militärische Führung vor dieser neuen Aufgabe: So wurden anfangs zu wenige der verfügbaren Soldaten eingesetzt, man wartete auf die Erlaubnis für den Einsatz von im Examen stehenden Junkern aus St. Petersburg, die Polizeiführung verfiel in völlige Untätigkeit, es fehlte an einer klaren Aufteilung der Truppen für die jeweiligen Stadtteile usw. Ein zentraler Punkt für das Scheitern des Militärs war aber, dass es nicht bereit war, wirklich mit Gewalt gegen die Menge vorzugehen. Die Offiziere fürchteten einen Loyalitätsverlust bei den Soldaten, wenn sie diese zwangen, auf die eigene Bevölkerung zu schießen. Dies hätte zugleich auch das Ansehen der Autokratie beschädigen können. Nach Wiese betonten die Vorschriften der Militärs den Ausnahmecharakter des Einsatzes von Waffengewalt gegen die Zivilbevölkerung, so dass die Offiziere das Risiko scheuten, den Schießbefehl zu erteilen, der im Nachhinein als zu exzessiv beurteilt werden könnte.119 Insofern verhielt man sich in Pogromen so, dass man dem Militär nicht Untätigkeit, aber auch nicht die Anwendung zu brutaler Gewalt vorwerfen konnte.120 Da die Pogromisten dieses Dilemma erkannten, konnten sie sich entsprechend »respektlos« verhalten, ohne die Grenzen zu überschreiten, die einen härteren Einsatz provoziert hätten.121 Die AZJ wollte Ende Mai eine Veränderung im Vorgehen der Sicherheitskräfte gesehen haben: So habe die Regierung anfangs das Volk schonen wollen und deshalb den Angriffen auf Juden »ruhig oder lässig« zugesehen, wie sich das »besonders an den Ausgangspunkten, Elisavetgrad und Kiew, gezeigt« habe. Als sich die Unruhen dann in die größeren Zentren des Reiches auszudehnen drohten, seien die Behörden »energisch eingeschritten« und hätten »überall ohne allzugroße Anstrengungen die Ruhe« erhalten oder wiederhergestellt, so in Warschau und Odessa. Die Zeitung vermutet,  Die AZJ berichtete von einem solchen Fall, wonach der Gouverneur des Gouvernements Chernigov, Schostak, entlassen worden sei. Dies soll nach einer Version wegen seiner Energielosigkeit gelegentlich des Judenkrawalls in Reschin geschehen sein. Nach einer anderen Version sei er jedoch entlassen worden, weil er die örtlichen Behörden dort angewiesen hatte, mit Waffengewalt gegen die Pogromisten einzuschreiten, wobei es zu zehn Todesfällen und vielen Verwundeten gekommen sei. Dieser Schießbefehl sei in Regierungskreisen übel aufgenommen worden und habe die Entlassung des Gouverneurs zur Folge gehabt (Jg. , Heft , .., S. ). Allerdings findet sich bei Klier keine Angabe zu diesem Pogrom, zur Entlassung des Gouverneurs und zu den Todesopfern (Russians, Jews, and Pogroms).  Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  f.  Linden, Prototyp des Pogroms, S. , schreibt , dass es Übergriffe gegen Soldaten und Polizei gab, da die »Freundschaft zwischen Exzedenten und Militär nur solange bemerkbar war, als dies nicht einzugreifen pflegte. Denn geschah es auch noch so spät, gab es ein Bild großer Unzufriedenheit. Die Exzendenten der achtziger Jahre verstanden keinen Spaß und vermochten die Einmischung der Gewalt nicht zu fassen«.

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dass das schärfere Vorgehen der Generäle auch damit zu tun hatte, dass die Regierung in Petersburg einen politisch-revolutionären Hintergrund annahm, wonach die »Nihilisten« die Unruhen angestiftet hätten. So hätten die Unruhen in Kiew eine Panik unter den dortigen Großgrundbesitzern und wohlhabenden christlichen Kaufleuten erzeugt, die ein Übergreifen der Unruhen fürchteten.122 Dass die Furcht vor revolutionären, staatsfeindlichen Umtrieben die staatlichen Organe zu höherem Einsatz motiviert hat, war auch schon in der Zeit der Vormärz zu beobachten. Allerdings sollte man in diesem Fall auch durchaus einen Lernprozess des Militärs in Rechnung stellen, das den ersten Pogromen noch unerfahren und eher hilflos gegenübergegenstanden hatte. Der Verlauf der Pogromwelle In den folgenden Sommermonaten kam es bis zum August  zu drei Wellen mit über zweihundert Pogromen in acht der  Gouvernements des Ansiedlungsrayons, wobei der Schwerpunkt in den südwestrussischen Gouvernements der Ukraine und der Krim lag. Nach dem Abflauen der sersten Welle im Gouvernement Cherson Ende April begann mit dem Pogrom von Kiew am . April eine zweite, bis zum . Mai  andauernde Welle in den Gouvernements Kiew, Tauride und Ekaterinoslav.123 Die Pogrome in acht Gouvernements des Ansiedlungsrayons Die Juden Kiews waren über die Ereignisse in Elisavetgrad und Umgebung nicht weiter beunruhigt, man fühlte sich aufgrund der am Ort stationierten Truppen recht sicher. Zudem hatte der Generalgouverneur gerade für Kiew besondere Vorkehrungen getroffen, da man wegen der großen jüdischen Einwohnerschaft (ca. . Personen), einer starken sozialistischen Bewegung, umlaufenden gegen Juden und Polen gerichteten Gerüchten und einer unruhigen Bevölkerung Probleme erwartete.124 Hinzu kam, dass sich die Bevölkerung Kiews lange gegen die den Juden ursprünglich verbotene Ansiedlung gewehrt hatte. Bis zur Regierungszeit Zar Alexanders II. war Juden die Ansiedlung in Kiew nicht erlaubt gewesen, auch wenn nach dem Erwerb polnischer Gebiete mit den polnischen Teilungen mit großer jüdischer Bevölkerung sich auch im Gouvernement Kiew und auch in der Stadt Juden ansiedelten, wogegen sich die Kiewer  zu wehren begannen und tatsächlich  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Vgl. die Landkarte mit den  Orten antijüdischer Pogrome vom . April bis . Mai  bei Klier, Russians, Jews, and the Pogroms S. XXIIf. und  ff. Zu den Pogromen in einer ganzen Reihe dieser Orte gibt es kurze Berichte in der AZJ, Jg. , Hefte -.  Zu den unter den Bauern und Arbeitern umlaufenden Gerüchten, wonach der neue Zar den Bauern Land versprochen und sich gewünscht habe, dass bis zu seiner Krönung nur noch eine russische Kirche existieren solle und es deshalb bis dahin keine Andersgläubigen mehr geben dürfe, siehe: AZJ, Jg. , Heft , ...

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Ausgewälte Orte antijüdischer Pogrome im Zarenreich in den Jahren - – rings um die Städte Elisavetgrad, Kiew, Smela, Ekaterinoslav sowie zwischen Balta und Nikolaev und zwischen Alexandrovsk und Berdiansk finden sich Häufungen von Pogromorten (siehe die Übersicht von Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. XXII-XXIV).

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eine erneute Aussetzung der Ansiedlungsrechte erwirkten. Zar Nikolaus I. ließ am . Dezember  siebenhundert Kiewer Juden vertreiben, wobei ihnen ein längerer Zeitraum für die Umsiedlung eingeräumt wurde; für Juden mit Grundbesitz bis zu zwei Jahren.125 Zu ähnlichen Ausweisungen kam es auch in Sebastopol, Nikolaev und im Baltikum. Während für das Gouvernement Kiew als Teil des Ansiedlungsrayons die Ansiedlung von Juden erlaubt war, galt dies nicht für die Stadt Kiew. Zwar kamen zu den Messen jüdische Kaufleute in die Stadt und konnten sich dort für sechs Monate aufhalten, doch erst unter Alexander II. wurden die Aufenthaltsbestimmungen ab  liberalisiert. Obwohl es auf Betreiben von Kiewer Bürgern immer wieder zu Ausweisungsbemühungen kam, zeigten diese kaum Wirkung und die Zahl jüdischer Einwohner in der Stadt stieg kontinuierlich an und betrug  schon .. In den Stadtteilen Lybid, Podil und Ploskaja war der jüdische Bevölkerungsanteil so hoch, dass man von einem »neuen jüdischen Ghetto« sprach, in dem eine sehr arme Bevölkerung lebte. – Wir haben hier also eine Zuwanderungssituation, die – wie zahlreiche Beispiele aus dem frühen . Jahrhundert in Mitteleuropa zeigen – eine gewaltsame Abwehr der Neuankömmlinge begünstigt, insbesondere wenn die alten Anschuldigungen, vorgebracht auch von der rechten Zeitung Kievlianin und dem halboffiziellen Blatt Kievski gubernskie vedemosti, forbestanden, wonach die Juden unproduktiv und parasitär seien, den Handel, das Bank- und Kreditwesen und die Wirtshäuser kontrollierten und überheblich und impertinent seien. Wie schon in Elisavetgrad bemerkte die Polizei auch in Kiew in der Bevölkerung Unruhe und die Erwartung von Ausschreitungen. Es bestanden in Kiew Ressentiments gegenüber Polen, Juden und Landbesitzern.126 Vor dem Ausbruch des Pogroms am Sonntagnachmittag des . April  war es am . April zu einem ersten »Vorspiel« gekommen, als anlässlich einer öffentlichen Darbietung ein Jude angegriffen wurde und es zu einem Kampf kam, wobei einige Juden sich wehrten, andere in den Dnjepr sprangen, um sich zu retten. Es bildeten sich Gruppen, die die Schänken von Juden zertrümmerten oder aber dort freien Ausschank von Wodka verlangten. Es gab erste Warnungen, es könne ein Pogrom ausbrechen,127 wobei man von Seiten der Politiker (fälschlicherweise) vor allem revolutionäre Kreise als Anstifter vermutete. Daraufhin wurden die Schänken geschlossen, und den Juden wurde geraten, sich nicht mehr auf der Straße zu zeigen. Der Militärgouverneur Alexander Romanowitsch Drenteln warnte die Bevölkerung davor, sich an weiteren Unruhen zu beteiligen. An einem schönen warmen Sonntagmittag, an dem viele Menschen auf den Straßen unterwegs waren, brach im Viertel Podol ein Streit zwischen einem Juden und einem Christen aus, der auf den nahe gelegenen Bazar übergriff, wo eine größere Menschenmenge, wobei die Angaben über deren Größe nach Hamm zwischen fünfzig und fünfhundert schwanken, begann, jü Hierzu und zum Folgenden: Hamm, Kiev, S.  ff.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .  Hamm, Kiev, S. .

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dische Läden anzugreifen und zu plündern. Nach Klier sprechen zeitgenössische Berichte davon, dass die Pogromisten nur Sachschaden anrichteten, also Einrichtungsgegenstände zerstörten oder plünderten,128 und die Juden nicht persönlich attackierten, während andere Berichte davon sprachen, dass Juden, die in ihren Häusern blieben oder sich gar zur Wehr setzten, angegriffen wurden. Viele Juden fanden allerdings auch bei christlichen Nachbarn Schutz, die ihre Häuser mit Ikonen oder Kreuzen als christliche auswiesen.129 Obwohl der Militärgouverneur130 und der Chef der Distriktgendarmerie dort persönlich für Ruhe sorgen wollten, gelang dies nicht, sondern die Menge bewegte sich, angestachelt durch Rufe wie »Schlagt die Juden, die unseren Zaren getötet haben!«, in das angrenzende PloskajaViertel und dann über die gesamte Stadt. Truppen wurden zum Schutz der besseren Wohnviertel abkommandiert, die dadurch unbehelligt blieben.131 Dennoch wurden aber die Häuser und Geschäftsräume einer der reichsten jüdischen Familien Kiews, der Brodskys, angegriffen und zerstört. Bis drei Uhr morgens dauerten die Unruhen an und es gab Fälle von Brandstiftung an jüdischen Bethäusern. Es soll auch zur Demolierung und zu Plünderungen in der Synagoge gekommen sein.132 Fünfhundert Randalierer wurden an diesem Tag verhaftet. Wie bedrohlich die Lage war, kann man daran ermessen, dass der Chef der Distriktgendarmerie, Novitskii, nach St. Petersburg telegrafierte, dass er die Ruhe für den kommenden Tag nicht garantieren könne.133 Tatsächlich war die Zahl der Pogromisten am Montagmorgen auf viertausend angewachsen, von denen sicher viele nur Zuschauer waren oder aber sich an den Plünderungen beteiligen wollten. Der Militärgouverneur ließ diese neugierigen Zuschauer in Anschlägen auffordern, die Straßen zu räumen, sonst würden auch sie verhaftet und vor das Kriegsgericht kommen. Er drohte zudem, Polizei und Armee sei es erlaubt, auch tödliche Waffengewalt einzusetzen. Die Truppen gingen nun härter gegen die Randalierer vor. Die Menge attackierte zunächst die Läden  Auch hier scheint eine Art Volksfestcharakter geherrscht zu haben. So berichtet die AZJ, ein Mann habe sich in einem der attackierten Häuser ans Klavier gesetzt und »unter dem Gejohle der Plünderer Weisen aus ›Faust‹ und ›La Traviata‹« gespielt. Anschließend wurde das Klavier in Stücke geschlagen und aus dem Fenster geworfen (Jg. , Heft , .., S. ).  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .  Klier (ebd.) hält diesen persönlichen Einsatz und die vorherigen militärischen Sicherheitsmaßnahmen seitens Drentelns für wichtig, da diesem vorgeworfen wurde, er habe seine Pflichten nicht ausreichend wahrgenommen. Der Chef der Distriktgendarmerie, V. D. Novitskii, beschuldigte Drenteln später sogar, die Juden zu hassen und deshalb dem Mob der Hooligans völlig freie Hand für ihre Zerstörungen gelassen zu haben. Allerdings sahen Novotskiis Berichte nach St. Petersburg während der Unruhen anders aus, was er später mit seiner rangniedrigeren Position gegenüber Drenteln rechtfertigte.  Im Bericht der AZJ wird jedoch davon gesprochen, dass man Häuser reicher Juden in der Straße Michaelowskaja demoliert und ausgeplündert habe (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  Ebd.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .

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von Juden,134 wandte sich dann aber in den Vierteln Podil, Demievka, Ploskaja und Solomenka auch gegen ihre Häuser. Als eine große Menge am Nachmittag die Brauerei von Iosif Markov Brodskii angriff und die Truppen mit einem Steinhagel eindeckte, ließ der Kommandeur in die Menge schießen, wobei eine Frau getötet und drei Männer verwundet wurden, die aber offenbar zu den Zuschauern und nicht den Pogromisten gehörten. Als sich diese Nachricht in der Stadt verbreitete, erlahmte die Gewalt. Am Ende des zweiten Tages waren mehr als tausend Personen verhaftet worden.135 Am Dienstag (. April) war nach Klier die Ruhe wieder hergestellt, doch liefen weiter Gerüchte um, dass es in den ersten Maiwochen erneut zu Unruhen kommen würde und dass Arbeiter angeblich planten, die verhafteten Pogromisten zu befreien.136 Im Vergleich zu Elisavetgrad war das Pogrom sehr gewalttätig verlaufen: es hatte den Besitz und die Unterkunft von viertausend Juden zerstört, . mussten in Notunterkünften untergebracht werden. Über die Zahl der Todesopfer besteht in der Literatur Uneinigkeit. Nach Hamm hatte es sechs Todesopfer (davon drei Juden) gegeben,  Menschen waren verletzt worden.137 Bei Klier wird nur ein Todesopfer auf Seiten der Zuschauer/Pogromisten genannt (eine Frau). Dazu noch drei Verletzte, obwohl die Polizei von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hatte. Todesopfer unter den Juden werden nicht genannt. Die AZJ berichtet ebenfalls davon, dass beim Militäreinsatz eine Frau getötet und mehrere Personen verwundet wurden.138 Die Pogromisten unterschieden sich von denen in Elisavetgrad, da es  Hamm berichtet, dass einige Juden ihre Läden dadurch zu schützen suchten, dass sie Kreuze oder Ikonen an Türen oder in die Fenster hingen, während andere ihre Läden selbst demolierten, um weitere Zerstörungen und Plünderungen abzuwenden (Kiev, S. ).  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . Nach dem Ende der Unruhen sollen insgesamt . Personen arretiert worden sein (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms S. . Nach Hamm kam es am Dienstag in der Nähe des Bahnhofs noch zu einer Rauferei, an der sich ca. sechshundert Personen beteiligten. Dies führte zur Zerstörung der Synagoge. Während Häuser und Läden von Juden in den ärmeren Vierteln zerstört wurden, wurden sie in den vornehmeren Stadtteilen Lypsky und Khreshhatyk geschützt (Kiev, S. ). Die Polizei hob am ./. April auch eine Untergrunddruckerei der Revolutionäre aus, in der sich druckfrische Proklamationen befanden, in denen die Bevölkerung aufgefordert wurde, nicht die Juden, sondern die staatlichen Autoritäten anzugreifen. Dies gab den Befürchtungen der Regierung Nahrung, es bestünde eine Verbindung zwischen den Pogromen und der revolutionären Bewegung im Lande (ebd.). Vgl. zu dieser Anschuldigung gegen die Revolutionäre, Anarchisten und Nihilisten AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; und wieder AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Hamm, Kiev, S. . In einem Bericht der AZJ ist dann unter Bezugnahme auf PrivatTelegramme russischer Zeitungen, die in Russland unterdrückt würden, von mehreren Toten und zahlreichen Verletzten die Rede (Jg. , Heft , .., S. ), während die Zeitung später aber wieder von einer getöten Frau und  Verletzten schreibt (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f. und S. -; AZJ, Jg. , Heft , .., S. . In einem späteren Bericht schreibt die AZJ jedoch von  Toten, darunter

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sich um einen Mob aus Betrunkenen, Raufbolden und bekannten Mitgliedern der Kiewer »barefoot brigade« (bosiaki) handelte. Die Plünderung eines großen Warenlagers für Wodka, das der reichen jüdischen Familie Brodsky gehörte, hatte für genügend Alkohol gesorgt. Es wurde aber auch von großrussischen Arbeitern oder Großrussen aus Moskau gesprochen, die noch nie so zahlreich gesehen worden seien. Auch der Kiewer Strafverfolger sprach in Bezug auf die . zunächst festgesetzten Personen von Tätern aus dem Norden. Tatsächlich aber waren unter den schließlich  Verhafteten zwar auch einige Russen aus dem Gouvernement Kaluga und aus Weißrussland, doch stammte die Mehrheit aus Kiew und dem Gouvernement Chernigov. Der Polizei, die den Gerüchten über Täter von außerhalb nachging, gelang es nicht, solche Täter als Anführer oder Anstifter des Pogroms zu identifizieren, wenn auch Südwestrussland in diesen Jahren aufgrund wirtschaftlicher Krisen in Nord- und Zentralrussland von arbeitslosen Wanderarbeitern geradezu überschwemmt wurde.139 D. h., das Abschieben der Täterschaft auf Fremde muss als Schutzbehauptung gewertet werden bzw. als Versuch, eine antijüdische Verschwörung hinter den Vorfällen zu sehen.140 Dies gilt auch für die Annahme, dass eine private oder halboffizielle Organisation hinter den Unruhen stünde. Als Hauptverdächtige galt die im März  in Reaktion auf die Ermordung des Zaren gegründete Heilige Bruderschaft (Sviashchennaia Druzhina), die sich als Beschützerin des Zaren und als Kämpferin gegen die revolutionäre Bewegung verstand. Berk hält die Druzhina trotz ihrer numerischen Stärke und ihres publizistischen Erfolges für eine schlecht geführte, lächerliche und erbärmliche Organisation, die kaum in der Lage gewesen sein dürfte, die zahlreichen Pogrome anzuzetteln.141 Der Militärgouverneur von Kiew, Alexander Romanowitsch Drenteln, war während der Ausschreitungen durch die Straßen geritten, um die Gewalt zu stoppen. eine Frau und drei Russen (Kazapen), und  Verletzten, Letztere größtenteils Juden (Jg. , Heft , .., S. ).  Berk, Year of Crisis, S. ; diese Wanderarbeiter (bosiaki, was im Russischen Stromer/ Strolch bedeutet) trugen zusammen mit den Eisenbahnarbeitern und den einheimischen Tagelöhnern und Bauern wesentlich zum Ausbruch der Gewalt bei, wenn Berk auch die Kerngruppe der Pogromisten in den Kleinbürgern (meshchanstvo) sah, also Ladeninhaber, Schlachter, Zimmerleute, Tischler, Gerber und kleine Angestellte; in einigen Städten – wie Odessa – aber auch Gymnasiasten und Studenten. Die Bauern spielten eine geringere Rolle, sie kamen zumeist erst als Plünderer in die Städte, wenn dort das Pogrom schon fast vorüber war (ebd.). Die Beteiligung von sog. Großrussen betraf also die Wanderarbeiter aus diesen Gebieten, die aber nicht als Drahtzieher der Pogrome im Auftrag der Regierung in Moskau oder St. Petersburg anzusehen sind (ebd., S. ). In der AZJ ist auch von städtischen Arbeitern, fremden Eisenbahnarbeitern bzw. generell von Fremden die Rede (Jg. , Heft , .., S. ).  Hamm, Kiev, S. . Nach Hamm hat etwa der Historiker Simon Dubnow großrussische Tramps für die Pogrome von  verantwortlich gemacht, die durch eine Geheimorganisation sorgfältig geplant worden seien (S. ), hält dies aber für genauso unwahrscheinlich wie die Theorie einer staatlichen Lenkung der Vorfälle.  Berk, Year of Crisis, S. . Ähnlich hält auch Wiese nichts von der These einer Organisation der Pogrome seitens irgendeiner Bruderschaft (Pogrome im Zarenreich, S. ).

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Es stellt sich aber die Frage, warum die Unruhen zwei Tage lang andauern konnten. Nach Klier wurden sofort nach Ende des Pogroms von vielen Seiten Vorwürfe laut, die Polizei sei passiv geblieben und es habe keine klaren Befehle für den Polizeieinsatz gegeben. Die Studenten der Universität forderten in einem Brief sogar eine öffentliche Entschuldigung von Drenteln wegen seiner unzureichenden Maßnahmen gegen die Gewalt in der Stadt.142 Offenbar hatten die Soldaten anfangs keinen Befehl mit Gewalt vorzugehen und hatten sich auf den Schutz wichtiger Gebäude, wie das Arsenal, beschränkt. Zudem hatte man nicht genug Truppen zur Verfügung, und die Armee hatte keine Erfahrung im Umgang mit städtischen Unruhen. Diese Gründe hält Hamm jedoch für nicht ganz überzeugend, da die Gewalt an vielen Orten von Gruppen von fünfzig bis einhundert Personen, oft angeführt von Frauen oder Kindern, ausging und die Pogromisten durchaus von entschlossenen Arbeitern, Studenten oder Türstehern vertrieben werden konnten. Er bringt eine ganze Reihe von Beispielen aus anderen Städten der Umgebung, wo Pogromgerüchte umgelaufen waren, wo aber die Behörden, Priester, Bewohner der Stadt oder jüdische Milizen den Ausbruch von Gewalt verhindert hätten.143 Offenbar war man in Kiew trotz der umlaufenden Gerüchte schlecht vorbereitet gewesen. Man war sich zudem einig, dass die Bevölkerung durch ihre Indifferenz angesichts der plündernden und randalierenden Pogromisten nicht eingegriffen habe, was den Mob begünstigt habe. Es blieb aber nicht bei der Indifferenz, sondern der Menge gelang es immer wieder, bereits Verhaftete aus dem Gewahrsam der Polizei zu befreien. – Wie in den meisten Pogromfällen wurden nur wenige Täter bestraft. Von den zunächst fast . festgesetzten Personen wurde nur  angeklagt und  auch verurteilt.144 Neben dem Schrecken und den materiellen Verlusten hatten die Unruhen weitere negative Auswirkungen auf die Gruppe der Opfer, da man nun begann, die nicht zum Aufenthalt in der Stadt berechtigen Juden zu erfassen und auszuweisen.145  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .  Hamm, Kiev, S. . Während der Gerichtsverhandlungen Ende Mai  erklärten Offiziere, es habe schon zwei Wochen vor dem . April Warnungen vor einem Pogrom gegeben, und sie hätten zudem an ihren Einsatzorten auch Plünderungen weitgehend verhindern können.  Ebd., S. . Die Strafen des Kriegsgerichts gegen die Hauptanstifter fielen nach Angaben der AZJ recht hoch aus: einer der Angeklagten erhielt zwanzig Jahre, ein weiterer zehn und ein dritter sechs Jahre Zwangsarbeit, drei erhielten Gefängnisstrafen. Weitere Anstifter wurden in einen anderen Prozess zu  ½ bzw.  ½ Jahren Zwangsarbeit verurteilt, acht erhielten zwei Monate Gefängnis, vier drei Wochen Arrest, sieben wurden freigesprochen (Jg. , Heft , .., S. ).  Die AZJ kommentierte dies mit der bitteren Bemerkung: »Also erst vom Pöbel ausgeplündert, dann von der Polizei ausgetrieben!!!« (Jg. , Heft , .., S. ). Diese Maßnahme galt nicht nur für Kiew: »Dagegen geht eine strenge Revision der Legalität des Aufenthaltes der Juden, überall dort, wo sie nur unter gewissen Bedingungen das Wohnrecht haben, vor sich, was viel Unheil stiftet« (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Von Seiten der Antisemiten wurde als Konsequenz der Pogrome gefordert, die Juden sollten das Zarenreich verlassen und sich außerhalb der Grenzen ansiedeln. Von jüdischer

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Wie schon im Fall Elisavetgrads begannen sich nun von Kiew ausgehend Pogrome in der Umgebung auszubreiten, deren Träger die Aktivisten oder Zuschauer der Kiewer Ereignisse waren.146 Die Hauptträger waren jedoch vor allem Eisenbahnarbeiter, und die Pogrome breiteten sich rasch zunächst entlang der Eisenbahnlinien mit Schwerpunkten an Bahnstationen, Depots oder Betrieben aus, weshalb man auch von »Eisenbahn-Pogromen« spricht. Bereits am . April gab es Pogrome in Zhmerinka (Gouvernement Podolien) und Konotop (Gouvernement Chernigov), die immerhin gut zweihundert Kilometer von Kiew entfernt liegen. Die einzigen schweren Pogrome in dem Gouvernement Podolien (Zhmerinka) und Wolhynien (Volochisk) ereigneten sich in diesen an der Eisenbahn liegenden Städten. Auch in anderen Gouvernements wie Ekaterinoslav (Aleksandrowsk und Lozova), Tauride (Orekhov und Berdiansk) und Poltawa (Romny) waren solche Eisenbahnstädte Schauplatz von Pogromen, wobei die Menge vor allem aus Eisenbahnarbeitern bestand. Erst von dort aus breiteten sich die Übergriffe auf die umgebenden ländlichen Regionen aus.147 Nach Wiese unterscheiden sich die Pogrome in Dörfern, bei denen es sich fast immer um Nachahmungstaten städtischer Vorfälle handelte, von den städtischen durch ihr geringeres Gewaltniveau, obwohl auf dem Lande der Schutz durch Polizei oder Militär so gut wie inexistenz war.148 So endeten die Pogrome dort auch nicht durch den Einsatz der staatlichen Organe, sondern weil sich die Täter mit dem angerichteten Schaden begnügten und man wusste, dass Juden und Christen aufeinander angewiesen waren, gab es doch zu den jüdischen Schänken und Läden keine Alternative. Es bestand also somit eine gewisse dörfliche Gemeinschaft. Typische Praktiken waren daher eher »Rügebräuche« wie die »Katzenmusik«, das Einschlagen der Fensterscheiben und der Alkoholkonsum auf Kosten der jüdischen Opfer. Andererseits waren die Juden eines Dorfes aber anteilig häufiger betroffen, da sich dort jedermann kannte.149 Diese zweite, von Kiew ausgehende Pogromwelle zeichnete sich nach John D. Klier durch ein höheres Gewaltniveau und mehr Todesfälle aus als die erste Welle. Als Ursachen sind einmal die Beteiligung von Arbeitern, insbesondere den aus Eisenbahnarbeitern gebildeten Mobs, zum anderen die gelegentliche Selbstverteidigung bzw. ein Zurückschlagen von Seiten der Juden zu nennen. Als Bespiel für das hohe Maß an Gewalt nennt Klier den Ort Smela (Gouvernement Kiew), in dem das Pogrom am . Mai  aus Angriffen von Juden auf Christen entstanden sein soll, wobei vier Juden getötet wurden, dazu noch zwei Pogromisten durch in

   

Seite wurde ebenfalls gefordert, Juden außerhalb des Ansiedlungsrayons anzusiedeln, allerdings innerhalb des Zarenreiches (mit Bezugnahme auf einen Korrespondenten der Kölnischen Zeitung in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). »Mittlerweile hatte der Aufruhr sich über das Weichbild unserer Stadt hinaus auszubreiten begonnen. Die Plünderer zogen in die Nachbarorte, um dort ihr Zerstörungswerk fortzusetzen« (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f. Wiese, Pogrome im Zarenreich, S.  ff. Ebd., S.  f.

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die Menge feuernde Truppen. Auch sei radikaler geplündert worden. Zudem gab es Gerüchte, dass nach den Juden auch andere ethnische Gruppen wie polnische Gutsbesitzer, russische Kaufleute und Menschen, die Juden geschützt hatten, Ziel von Pogromen werden sollten.150 Zur Prävention wurde von staatlicher Seite eine ganze Reihe von Maßnahmen getroffen. Auf lokaler Ebene wurden Versammlungen einberufen, auf denen man den Bauern verdeutlichte, dass Angriffe auf Juden nicht geduldet würden. Ebenso wurden der Klerus, der Adel und Mitglieder der »guten Gesellschaft« aufgefordert, mäßigend auf ihre Mitbürger einzuwirken. Es wurden Untersuchungskommissionen in verschiedenen Städten eingesetzt, um die Ursachen für die christlichjüdischen Feindseligkeiten zu ergründen. Als vorbeugende Maßnahmen wurden die Öffnungszeiten von Wirtshäusern an religiösen Feiertagen und von örtlichen Jahrmärkten begrenzt, doch gab es auch gegen Juden gerichtete »beruhigende« Maßnahmen, wie die Ausweisung fremder Juden aus Kiew. Auch die schnelle Aburteilung der Pogromisten sollte eine abschreckende Wirkung entfalten.151 Die Gegner der Juden wählten daraufhin zunächst eine legale Strategie, indem sie Petitionen an die Behörden richteten, in denen sie die Ausweisung der einheimischen oder der nach den Pogromen aus anderen Städten neu hinzugekommenen Flüchtlinge forderten, was gegen geltendes Recht verstoßen hätte. Die Behörden sahen sich so vor dem Problem, dass sie diesen Forderungen nicht nachgeben durften, womit sie aber eine Verschärfung der Situation riskierten. Dass die Ablehnung solcher Forderungen zu erneuten Pogromen führen konnte, zeigt Klier am Fall von Pereiaslav im Gouvernement Poltawa, wo eine am . Juni von  Bürgern eingereichte Petition vom Gouverneur abgelehnt wurde, was die Stimmung vor Ort anheizte und am . Juni  zu Straßenkämpfen zwischen Juden und Christen führte, die dann in einen dreitägigen allgemeinen Aufruhr und Angriffe gegen jüdische Läden mündeten. Als aus dem Haus eines jüdischen Kaufmannes Schüsse auf die Menge abgegeben wurden, begann diese mit der völligen Zerstörung jüdischen Besitzes und konnte nur durch den Einsatz vom Militär gestoppt werden. Es wurden  Personen verhaftet. Der Gouverneur begab sich daraufhin in die Stadt und trat gegen den Rat der städtischen Behörden ohne Eskorte vor einer Menge von viertausend Personen auf, die er zur Ruhe mahnte und deren Petition er als illegal bezeichnete. Er kündigte allerdings zur Beruhigung der Menge an, dass die gesetzlichen Bestimmungen möglicherweise geändert würden und dass eine Reihe von Juden, die Gerüchte verbreitet und sich provokativ verhalten hätten, verhaftet werden sollten. Als er sich jedoch weigerte, verhaftete Pogromisten freizulassen, begann die Menge auf den Ruf »Die Juden schlagen Christen« hin erneut die Häuser von Juden zu attackieren. Am nächsten Morgen waren  Christen und dreißig Juden verhaftet worden, es gab aber nur wenige Verletzte. Versuche des Gouverneurs,  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. ; siehe dazu auch AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Laut der Zeitung Rassvet, Nr. , , soll es in Smela fünf Tote und viele Schwerverletzte gegeben haben (Linden, Prototyp des Pogroms, S. ).  Dazu und zum Folgenden: Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff.

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durch die Einsetzung eines Komitees die Lage zu entspannen, blieben erfolglos, da beiden Seiten dieses als Forum für gegenseitige Anschuldigungen nutzten. Die Pereiaslaver zeigten keinerlei Reue über ihr Vorgehen, sondern forderten die Freilassung der Verhafteten.152 Das Pogrom in Pereiaslav wurde zum Auslöser von Nachfolgeaktionen in den umliegenden Dörfern, die gewöhnlich mit Angriffen auf Juden im örtlichen Wirtshaus begannen, um dann in die Plünderung und Zerstörung jüdischer Läden und Häuser überzugehen. Waren die Pogrome der ersten beiden Wellen häufig durch die Abwesenheit von genügend Militär gekennzeichnet gewesen, so ereigneten sich nun viele Pogrome an Orten, in denen Truppen stationiert waren, die oft aber zu schwach waren, um Unruhen effektiv unterdrücken zu können. Dies führte etwa in Borispol153 und auch in Nezhin im Gouvernement Chernigov (.-. Juli ) dazu, dass die angegriffenen Truppen sich mit ihren Schusswaffen und Säbeln wehrten, so dass in Borispol fünf Pogromisten, in Nezhin sogar elf starben, während es keine Toten unter den Juden gab, aber hohe materielle Verluste von . Rubeln. Das Beispiel der dreitägigen, heftigen Ausschreitungen in Nezhin zeigt, dass die Zersplitterung der Truppen in zahlreiche, über die Stadt verteilte Trupps vor Ort zu einem Übergewicht der Pogrommenge führte, was die Kommandeure dann zum Schutz der eigenen Leute zum Feuerbefehl »zwang«, was wiederum die Wut der Pogromisten nur noch mehr anfachte, die den Soldaten vorwarfen, »christliches Blut für die Juden zu vergießen«. Eine zweite Konstellation erwies sich ebenfalls häufig als Auslöser heftiger Gewalt, nämlich die Forderung bzw. der  Auch die AZJ berichtete auf der Basis eines Artikels in der russischen Zeitung Golos über den Vorfall (Jg. , Heft , .., S. ). Demnach habe der Gouverneur in Pereiaslav die Menge nach den Gründen für die Ausschreitungen gefragt, die erklärte, mit dem Polizeiaufseher und Friedensrichter unzufrieden zu sein, da diese bei Streitfragen immer für die Juden Partei ergriffen. Auf die Frage, was die Menge nun wolle, habe diese die Freilassung der Verhafteten gefordert. Als der Gouverneur dies ablehnte, flammten die Unruhen erneut auf, woraufhin die Polizeiverwaltung die Verhafteten freiließ. Die AZJ wollte sogar ein Muster erkennen, wonach Militär und Polizei den Unruhen zunächst untätig zuschauten, dann Verhaftungen vornahmen, die sie sich später wieder von der Menge abtrotzen ließen und so die Ruhe wiederherstellten – nachdem allerdings die jüdischen Häuser ausgeraubt und zerstört worden waren (Jg. , Heft , .., S. ).  Eine Beschreibung dieses blutigen Pogroms in Borispol findet sich in der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ). Hier waren auf Bitten der örtlichen Juden dreißig Donkosaken zum Schutz in den Ort gekommen. Ausgangspunkt der Unruhen war eine von einem höheren Landpolizisten einberufene Gemeindeversammlung, auf der dieser die Menge ermahnte, nichts gegen die Juden zu unternehmen. Auf der tumultuös verlaufenden Versammlung forderten die Bauern die sofortige Ausweisung der Juden, »weil diese ihre Existenz gefährdeten«. Gegen Mittag begann die Menge auf dem Marktplatz die jüdischen Läden zu zerstören, was das Signal zu weiteren Übergriffen, etwa auch auf die Poststation und das Quartier der Kosaken, gab. Die betrunkene Menge attackierte, nun z. T. mit Sensen, Messern und Dreschflegeln bewaffnet, auch die Kosaken, die sich schließlich gezwungen sahen, in die Menge zu feuern und ihre Säbel zu ziehen, um die Menge zu zerstreuen. Nach der AZJ gab es zwei Tote und fünf Schwerverwundete.

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Versuch der Menge, Verhaftete wieder freizupressen.154 In Nezhin wurden in solch einer Situation die Soldaten mit Steinen und Flaschen bombardiert und verletzt, woraufhin der Kommandeur nach mehrfachen Warnungen schließlich den Schießbefehl gab, was fünf Angreifer das Leben kostete, zwei schwer verwundete, einen davon letztlich tödlich. Mit elf Toten war dieses das blutigste Pogrom des Jahres . Mitte August endete im Ansiedlungsrayon dann diese dritte Pogromwelle des Jahres. Pogrome im Königreich Polen Vereinzelte Pogrome gab es aber bis in den Winter  hinein, wo sich noch am Weihnachtstag  ein Pogrom in Warschau ereignete, das aber keine Pogromwelle in der Umgebung auslöste. Ein besonderer Fall war Russisch-Polen, das nach dem polnischen Aufstand von  als besonders unruhig galt. Die russische Regierung verfolgte daher eine Politik, die den Einfluss des polnischen Adels und Klerus unterminieren sollte und stattdessen auf die bäuerliche Bevölkerung setzte, was möglicherweise ihre Bereitschaft etwas minderte, sich zugunsten der Juden gegen diese Bevölkerungsgruppe zu wenden. Juden genossen dort seit  weitgehende Gleichberechtigung, und es gab zudem eine gewisse polnisch-jüdische Allianz gegenüber der russischen Besatzungsmacht. Die Polen wiesen denn auch angesichts der Pogrome in Südwestrussland gern auf die Ruhe in Russisch-Polen hin, die sie mit dem Verhalten der »barbarischen Russen« kontrastierten. Das Pogrom am Weihnachtstag (..) in Warschau kam daher eher überraschend, obwohl es kurz zuvor an Allerseelen am . November  ein Pogrom in Balwierzyszki (Balbieriškis), einer Kleinstadt im Bezirk Kowno in Zentrallitauen, gegeben hatte. Nach Artur Markowski flanierten an diesem christlichen Feiertag, der mit einem jüdischen Feiertag zusammenfiel, viele Menschen auf den Straßen der kleinen Stadt. Obwohl Markowski die sozialen Beziehungen zwischen Juden und Christen als ausgezeichnet beschreibt, reichte ein Streit zwischen einem Juden und einem Christen aus, um ein Pogrom auszulösen, bei dem mehrere Dutzend Häuser geplündert und mehrere Personen verletzt wurden, bevor die Gewalt durch die Armee niedergeschlagen wurde.155 Der Ausbruch der Gewalt in Warschau war eher untypisch. Während des morgendlichen Gottesdienstes in der größten Warschauer Kirche des Heiliges Kreuzes ertönte plötzlich der Ruf »Feuer !«, woraufhin eine Panik ausbrach, bei der  Menschen zu Tode getrampelt und mehr als hundert verletzt wurden.156 Ob gleich nach dem Verlassen der Kirche oder erst am Nachmittag, jedenfalls kam das Gerücht auf, ein oder mehrere jüdische Taschendiebe hätten den Ruf ausgestoßen, um in der  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f.  Markowski, Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, S. .  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. ; Michael Ochs, Tsarist Officialdom and Anti-Jewish Pogroms in Poland, in: Klier/Lambroza (Hrsg.), Pogroms, S. , spricht von über zwanzig Toten und davon, dass es unterschiedliche Versionen des Ereignisses gebe.

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entstehenden Panik entkommen zu können. Am Abend begannen Gruppen von Gesellen und Lehrlingen jüdische Schankwirtschaften, Läden und Wohnungen in mehreren Stadtvierteln anzugreifen. Die Unruhen dauerten bis zum . Dezember an, als sie schließlich durch das Militär niedergeschlagen werden konnten, das über dreitausend Personen verhaftete.157 Nach Michael Ochs gibt es zum Verhalten der Ordnungskräfte unterschiedliche Versionen. Der Chef der Distriktgendarmerie schrieb in seinem Telegramm nach St. Petersburg, seine Truppen seien zunächst zu schwach gewesen, um die Pogromisten zu stoppen, und erst das hinzugezogene Militär habe die Gewalt beenden können. Nach anderen Darstellungen, etwa in der russischen und internationalen Presse, hätten die Polizei und die Truppen sich passiv verhalten, die Versuche jüdischer Selbstwehr behindert und erst am dritten Tag habe es ernsthafte Anstrengungen zur Beendigung der Gewalt gegeben.158 Der Zar bedankte sich bei dem Gouverneur dafür, dass die Unruhen ohne die Anwendung tödlicher Gewalt beendet werden konnten, da dies sonst die polnischen Aspirationen beflügelt hätte. Dennoch mussten  Christen und  Juden in Warschauer Krankenhäusern behandelt werden, und der Sachschaden an jüdischem Besitz lag zwischen ca. . und , Millionen Rubeln.159 Viele waren jedoch der Meinung, dass der größte Schaden des Warschauer Pogroms darin bestand, dass damit die moralische Überlegenheit gegenüber den »barbarischen« russischen Nachbarn hinfällig war, was bei einigen den Verdacht nährte, die Unruhen seien durch russische Agitatoren inspiriert worden. Vor allem in der polnischen Presse im österreichischen und preußischen Teilungsgebiet Polens und unter jüdischen Historikern (wie Simon Dubnow) kursierten solche verschwörungstheoretischen Annahmen, doch teilt auch ein gegenwärtiger deutscher Historiker wie Frank Golczewski die Annahme, das Pogrom habe im russischen Interesse gelegen. Für diese Auffassung sieht Ochs keinerlei Beweise, auch wenn er es für erklärungsbedürftig hält, warum in der polnischen Hauptstadt mit ihrer Polizei und ihrem Militär das Pogrom erst nach drei Tagen niedergeschlagen werden konnte.160 Nach Markowski  Markowski, Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, S.  f. Die große Mehrheit der Verhafteten wurde wieder freigelassen, mehrere Dutzend wurden zu Strafen von Auspeitschung bis Ausweisung verurteilt.  Ochs Tsarist Officialdom, S. .  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f.; über die Opferzahlen gibt es verschiedene Angaben: Klier spricht von  verletzten Juden, von denen später einer gestorben sei; Ochs nennt als Konsens ; nach der Darstellung in einigen frühen jüdischen Publikationen ( und ) habe es ein bzw. zwei Todesfälle unter Juden gegeben, nach Frank Golczewski sei ein Pogromist an einer Überdosis Alkohol gestorben (Vgl. Ochs, Tsarist Officialdom, S. ). Bei Markowski finden wir die Zahl von  verletzten und einem getöteten Juden. Der Schaden soll .. Rubel betragen haben, ein Betrag, den Markowski für deutlich überhöht hält; ein Vorgehen, das dazu gedient haben könnte, höheren Schadenersatz zu bekommen (Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, S. ).  Nach Presseberichten sollen die Soldaten auf jüdische Hilfsersuchen hin geantwortet haben, dass sie keinen Befehl hätten, die Juden zu schützen, und es gab Berichte, dass die Anführer der Menge hauptsächlich Russen gewesen sein. Auch sollen verhaftete

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wird heute deutlich seltener behauptet, das Pogrom sei von russischer Seite initiiert worden, da die vorhandenen Polizei- und Gerichtsakten dieser Interpretation klar widersprechen. »The pogrom broke out spontaneously, was not controlled by the authorities, and had no direct organizational links with similar incidents in other parts of the empire«.161 Im folgenden Jahr  kam es in Russisch-Polen zu einer Reihe kleinerer, zumeist nicht sehr schwerer Vorfälle, von denen sich eine deutliche Mehrheit in der Zeit christlicher Feiertage (Ostern, Pfingsten, Fronleichnam, Allerseelen usw.) ereignete, in der die Menschen Gottesdienste besuchten, an Prozessionen teilnahmen oder sich in religiöser Festtagsstimmung auf den Straßen aufhielten.162 So fanden etwa Übergriffe seitens der Bauern nach dem Verlassen des Gottesdienstes statt, wenn sie auf dem Marktplatz des Ortes Juden ihre Waren anbieten sahen, was ihnen als Entheiligung des Sonntags erschien.163 Es gab zudem auch Vandalismus gegen den Eruv, d. h. die rituelle Markierung, die Juden um ihre Niederlassung gezogen hatten.164 Wir finden aber auch viele Fälle, die aus den typischen Anlässen resultierten, Streitigkeiten beim Handel auf dem Markplatz oder ein von Kindern durch Zigaretten verursachtes Feuer, deren Verkauf man Juden anlastete. Die Unruhen, bei denen es zu wenn auch nur geringfügigen Plünderungen jüdischer Häuser kam, wurden zumeist ohne ein Eingreifen der Polizei beigelegt.165 Ein etwas schwereres Pogrom ereignete sich in dieser Zeit am . April in Gąbin nordwestlich von Warschau (Masowien). Den typischen Auslöser bildete ein Streit zwischen einem Bauern und einem Juden beim Kauf von Tabak, der gleich eine Menge Zuschauer beider Seiten anzog.166 Das Besondere dieses Falles liegt darin, dass Gąbin mehr jüdische als christliche Einwohner hatte, so dass Letztere aus den umliegenden Dörfern weitere Unterstützung rekrutierten, indem sie das Gerücht verbreiteten, Juden hätten den Priester und den Bürgermeister verprügelt. Daraufhin versammelten die Bürgermeister dieser Dörfer ihre örtlichen Bauern, um

  

  

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Personen, deren Handeln den Tumult in der Kirche ausgelöst hätte, falsche Namen und Adressen angegeben haben und so unerkannt entkommen seien. Vgl. Ochs, Tsarist Officialdom, S. -. Markowski, Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, S. . »Key factors might rather have been deeply rooted anti-Jewish notions connected to Christian faith, the stimulus of religious festival, the mobilization of the people, and an exceptional feeling of religious distinctiveness on holy days« (ebd., S.  f.). Am Gründonnerstag, den . April , kam es zu Übergriffen in Ilów (Provinz Warschau), als nach einem Gottesdienst ein Dutzend junger Männer begann, die Fenster jüdischer Häuser einzuwerfen, woraufhin ein Polizist einen der Täter verhaftete, während die anderen fliehen konnten. Drei Täter (ein Bauer, ein Arbeitrer und ein Diener) wurden verurteilt. Am . Mai  ereignete sich Ähnliches in Janów (heute: Janów Podlaski), siehe: ebd., S.  f. Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . So am . Juni  in Czartowiec bei Lublin sowie am . August  in Prienai im Bezirk Kaunas (dazu näher s. u.). Siehe dazu Markowski, Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, S. . Dazu und zum Folgenden ebd., S. .

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den Christen in Gąbin zur Hilfe zu kommen. Das Pogrom, das die ganze Nacht andauerte, fiel denn auch sehr heftig aus, da ein Drittel der  jüdischen Häuser geplündert und zerstört sowie vier Juden und zwei Christen verletzt wurden. Die Armee machte am nächsten Morgen der Gewalt ein Ende und verhaftete  Personen. Da Markowski erwähnt, dass nur wenig gestohlen wurde, die Menge mehr auf Zerstörung als auf Zwangsenteignung aus war, ging es den christlichen Einwohnern bei diesen Ausschreitungen offenbar darum, den Juden zu zeigen, dass sie zwar die Mehrheit in der Stadt stellten, sich aber mit einem untergeordneten Status zufriedengeben müssten.167 Was diese Folge von Pogromen im Königreich Polen angeht, so stellt sich Markowski die Frage, ob wir es hier mit einer typischen Pogromwelle zu tun haben. Aufgrund der geographisch weit auseinanderliegenden Pogromorte finden wir hier nicht das typische Ausbreitungsmuster, das sich von einem Zentrum in konzentrischen Kreisen immer weiter fortsetzt, auch wenn man nach Markowski wohl annehmen muss, dass die ideologische »Anregung« zu den Ausschreitungen von den Pogromen in Südwestrussland ausging. Er geht aber davon aus, dass das Pogrom in Warschau organisatorisch ein lokales Ereignis war, jedoch als Beispiel und Vorlage für die folgenden antijüdischen Ausschreitungen diente: »The chronology of the pogroms in the Kingdom of Poland clearly points to the importance of events in the capital for public behavior in other places, especially during a period when the system of communication was developing, when the press, the telegraph, and the possibility to travel contributed to the dissemination of information that served as a basis for forming patterns of behavior […]. The importance of exemple and pattern in the outbreaks of pogroms is also to be emphasized«.168 Interessant ist in diesem Fall auch der Hinweis von Markowski, dass es in einigen Gebieten des Königreichs Polen  und  häufig Zusammenstöße zwischen der christlichen und der jüdischen Bevölkerung in Form von sporadischen Zerstörungen von Eigentum und verbalen Beleidigungen gab, die auf eine verbreitete Pogromstimmung hindeuten, aber nicht in Massengewalt mündeten, weil dies durch administrative Maßnahmen, das Eingreifen der Polizei oder von Vertretern der Kirche verhindert werden konnte.169 D. h., von vielen in einer angespannten Lage möglichen Pogromen münden stets nur wenige tatsächlich in ein Pogrom.

 Ebd. Diese Unruhen in Gąbin (Gombin) werden in der Presse teils als unbedeutend dargestellt, teils wird jedoch über die Zerstörung sämtlicher Schänken und Judenhäuser des Ortes berichtet, viele Juden seien durch Schüsse verletzt und mehrere Bauern getötet worden. Die Stadt, die zu drei Vierteln von Juden bewohnt war, sei völlig verwüstet. Der »Kampf zwischen Juden und Christen habe Stunden gedauert. Es seien vier Juden und zwei Christen verurteilt worden (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  Markowski, Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, S. .  Ebd., S. .

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Die Untersuchung der Pogrome in den südwestlichen Gouvernements Von staatlicher Seite wurde im Mai  Generalmajor Pavel I. Kutaisov zur Untersuchung der Pogrome in die südwestlichen Provinzen geschickt, wo er bis Februar  alle Orte aufsuchte, an denen Pogrome stattgefunden hatten. Er sollte einen Bericht über den Ablauf der Ereignisse und deren mögliche Ursachen anfertigen.170 Auf diese Berichte sowie auf die  von G. I. Krasnyi-Admoni herausgegebenen Archivalien171 (Berichte und Telegramme der lokalen Behörden an die Zentralregierung sowie Memoranden von Kutaisov) stützen sich die meisten wissenschaftlichen Arbeiten zu der Pogromwelle /. Die Juden Russlands blieben jedoch auch nicht untätig, und aus verschiedenen Städten des Zarenreiches reisten Deputationen nach Petersburg, um beim Innenminsiter Ignatiev vorstellig zu werden und ihre Beschwerden, z. B. die Forderung nach Absetzung des Gouverneurs A. R. v. Drentelen, vorzubringen.172 Die Pogromwelle des Jahres  löste eine Flut von Anordnungen aus St. Petersburg aus, in denen die Militär- und Provinzgouverneure, die diese an ihre Untergebenen weiterleiteten, im gesamten Zarenreich aufgefordert wurden, das Ausbrechen von Unruhen zu verhindern. Dies betraf etwa das Recht, Wirtshäuser zu schließen, jüdische Läden und Wohnungen abzusperren, Arbeitern das Verlassen ihrer Arbeitsplätze in Fabriken zu untersagen und Truppen anzufordern.173 Die Haltung des Zaren und der Regierung in St. Petersburg war ganz entschieden auf die Verhinderung bzw. Niederschlagung von antijüdischen Pogromen ausgerichtet. Neben den Befürchtungen, die Pogrome könnten sich auch gegen andere Ziele richten (wie etwa Gutsbesitzer)174 oder in revolutionäre Unruhen münden, dürften vor allem auch die schwere Schädigung der russischen Wirtschaft sowie die negativen internationalen Reaktionen und der Imageverlust im Ausland zu dieser Haltung der Regierung beigetragen haben. Vor allem in jüdischen Zeitungen wie der  Pritsak, The Pogroms of , S. .  Materialy dlia istorii antievreiskikh pogromov v Rossii, vil. : Vos’ midesiatye gody ( aprelia  g.– . fevralia  g.) hrsg. und eingeleitet von G. I. Krasnyi-Admoni, Petersburg, Moskau .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Dazu mit zahlreichen Beispielen aus Russisch-Polen: Ochs, Tsarist Officialdom, S.  und . Zar Alexander III. erließ am . August  eine Anordnung über Maßnahmen zur Aufrechterhaltung von staatlicher Ordnung und öffentlicher Ruhe, die am . September dann in den meisten Pogromregionen zur Anwendung kam. Auch die AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) berichtete, dass die Regierung nach »langem Schwanken endlich die Nothwendigkeit eingesehen« habe, »den fortgesetzten Ausschreitungen gegen die Juden mit Ernst und Strenge Einhalt zu gebieten«. Entsprechende Anordnungen seien an die Gouverneure abgegangen.  Die AZJ berichtet von solchen Fällen, bei denen Bauern die Felder oder Zuckerfabriken reicher adliger Großgrundbesitzer in Brand steckten (Jg. , Heft , .., S. ). Im Frühsommer  schreibt die AZJ von Agrarrevolten und Judenunruhen im Gouvernement Podolien, bei denen es Misshandlungen von Gutsverwaltern und Bediensteten, ja sogar zu »Agrarmorden« gekommen sein soll (Jg. , Heft , .., S. ).

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AZJ wird immer wieder auf den wirtschaftlichen Schaden verwiesen, der nicht nur

durch die direkte Zerstörung jüdischen Eingentums entstand, sondern auch durch die »Zerstörung des gewerblichen Verkehrs«, durch Firmenbankrotte, steigende Getreidepreise durch den Abbruch von Handelsbeziehungen seitens des Auslandes sowie durch Verluste russischer Aktien an den internationalen Börsen.175 Die Regierung fürchtete ein Wiederaufleben von Pogromen im Frühjahr des nächsten Jahres, insbesondere in der Zeit vor Ostern,176 und der Innenminister versandte ein Rundschreiben an die Gouverneure, das diese angesichts der umlaufenden Gerüchte, des Auftauchens antijüdischer Plakate, die im März Pogrome zu Ostern androhten (z. B. in Warschau, Groetsk und Blonsk) und kleinerer Vorfälle (z. B. am . März in Valegotsulovo, Bezirk Ananev, mit schwereren Übergriffen gegen den Priester und Polizisten) zu besonderer Wachsamkeit aufrief.177 Im Frühjahr  lebten die Ausschreitungen in der Ukraine tatsächlich wieder auf. In einem Bericht der AZJ vom . April  aus Petersburg schreibt die Zeitung, dass die »Nachrichten sowohl von hier als auch aus dem Süden […] düster genug« lauteten. »Harte Maßregeln, die vom Ministerium des Innern verfügt werden und Excesse in Südrussland steigern sich von Tag zu Tag«.178 Es lag an der größeren Bereitschaft der Behörden, auch zum tödlichen Waffeneinsatz zu greifen, die den epidemischen Charakter der Unruhen im Sommer  beendete, auch wenn es bis  vereinzelt zu weiteren Fällen kam.179 Das Wiederaufleben der Pogromwelle im Frühjahr  Das erste größere Pogrom des Jahres  ereignete sich am . und . März in Balta,180 Gouvernement Podolien, das nach Klier im In- und Ausland zum Symbol  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Jg. , Heft , .., S. . Linden, Prototyp des Pogroms, S. , spricht  für die Pogromwelle von  von einem Gesamtschaden für die südrussische Judenheit von - Millionen Rubel, rechnet man die Pogrome der Jahre  und  dazu, kommt er auf - Millionen Rubel. Mindestens . Juden seien geschädigt worden.  Klier (Russians, Jews, and the Pogroms, S. -) sieht in der Konzentration von Pogromen in der Osterzeit keinen Ausdruck religiöser Ressentiments. Vielmehr boten religiöse Festtage reichlich Gelegenheit zum Feiern und Trinken, was die Gefahr des Ausbruchs von Streitigkeiten erhöhte, zumal viele der Schankwirtschaften von Juden betrieben wurden.  Ebd., S. . Klier führt auch ein Pogrom in der Kolonie von Abazovska von Anfang April  an, bei dem zwei Juden geschlagen wurden, von denen einer später verstarb.  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f. Sie führt Berichte aus seiner ganzen Reihe von Ortschaften an, in denen es im März zu Ausschreitungen gekommen war (Beresnegowatoje, Wissunsk, Nowaja Praga, Dubossary, Letitschewo, Prossomikow).  John D. Klier, Pogroms, in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Yale UP, .  Klier datiert das auslösende Ereignis auf Sonntag, den . März; dies kann nicht zutreffen, da nach dem julianischen Kalender der Ostersonntag auf den . März  fiel. Entweder das Ereignis geschah am Sonntag, dann war es der . März, oder am Montag,

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für diese Pogromwelle wurde, obwohl es weder das größte und destruktivste war, noch die meisten Opfer forderte. Es wurde aber so bekannt wegen der Gräueltaten und Vergewaltigungen, die mit ihm verbunden wurden.181 Balta, eine Stadt von zwanzigtausend Einwohnern, davon mehr als die Hälfte Juden, lag an der Bahnlinie Odessa-Kiew. Polizei und Militär brachten dort zusammen nicht mehr als knapp hundert Mann zusammen. Da Pogromgerüchte in Balta umliefen, wandten sich die Führer der jüdischen Gemeinde an die lokalen und nationalen Behörden, und man erlaubte den Juden, vor Ostern nächtliche Patrouillen aufzustellen. Nach Klier ist der genaue Hergang des Ausbruchs der Gewalt umstritten. Es scheint jedoch Schlägereien zwischen Christen und Juden gegeben zu haben, wobei die offizielle Version des Hergangs vor allem die Juden dafür verantwortlich machte, während für die jüdische Seite die Passivität der Kontrollorgane in dieser Situation ausschlaggebend war.182 In der Osterwoche kam es am . März  vor der Hauptkirche von Balta zu Kämpfen und Steinwürfen zwischen Christen und Juden, wobei Letztere in der Überzahl waren und die Lage beherrschten. Militär und Polizei schritten ein, zerstreuten die Menge und verhafteten Angehörige beider Seiten, ließen die Christen aber wohl früher wieder frei. Es breitete sich das Gerücht aus, die Juden hätten die orthodoxe Kirche angegriffen und Zerstörungen angerichtet. Die Behörden reagierten auf dieses Gerücht und konzentrierten ihre Truppen vor der Kirche und überließen damit einer relativ kleinen Menge von Pogromisten schutzlos die übrige Stadt, zumal man den Juden eine organisierte Selbstwehr verbot. Diesen ersten Fehler verschärften die Behörden noch durch einen zweiten, indem sie nämlich aus den umliegenden Dörfern fünfhundert Freiwillige anheuerten, die mit Knütteln bewaffnet in die Stadt kamen und eigentlich bei der Niederschlagung der Unruhen hätten helfen sollten, sich aber den Pogromisten anschlossen und damit das Gewaltniveau des Pogroms deutlich steigerten.183 So wurde der größte Teil des jüdischen Eigentums zerstört, es entstand nach Angaben von jüdischer Seite ein Schaden von . Rubeln. Die Angaben über die menschlichen und materiellen Verluste differieren nach Klier sehr stark: wurden von jüdischer Seite zwölf Tote gemeldet, sprechen andere von vier, die offiziellen Quellen von nur einem Toten. Klier nimmt an, dass es zwei Todesopfer gegeben hat.184 Seiner Meinung dem . März, was aber eher untypisch wäre, da der Konflikt vor der Hauptkirche Baltas begann.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff.  Ebd., S. .  Vgl. auch ähnliche Vorwürfe in einem späteren Prozeß in Balta (L. Judavics-Paneth, Pogromprozesse, Königsberg , S.  ff.).  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . Das  publizierte Buch zu Pogromprozessen von L. Judavics-Paneth, Pogromprozesse, zeigt noch, wie übertrieben die Pogrome in der Berichterstattung dargestellt wurden. Hier ist von dreitägigen Exzessen in Balta die Rede, die  Tote,  schwer und  leicht Verletzte gefordert hätten. Es seien  Häuser und mehr als dreihundert Geschäfte zerstört worden, es sei ein Sachschaden von . Rubeln entstanden (ebd., S. ). Die Schilderung des Pogromverlaufs entspricht ungefähr der Darstellung von Klier, ist aber in einem erzählerischen und etwas

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nach waren die Presseberichte über das Pogrom von Balta besonders reißerisch aufgemacht. Neben vielen Todesopfern, brutaler Gewalt, irre gewordenen Opfern spielte in der nationalen wie internationalen Presse der Vorwurf der Vergewaltigung die Hauptrolle.185 Es war von  Fällen die Rede, jedoch erhoben nur drei Opfer Anklage. Nach Klier wurde der Vorwurf von Vergewaltigungen immer wieder erhoben, traf seiner Meinung nach jedoch nur in seltenen Fällen zu, in Balta jedoch enthalten die archivalischen Quellen Anschuldigungen von Vergewaltigung.186 Neben diesen Anschuldigungen wurden die politisch Verantwortlichen von Balta wegen ihrer Passivität öffentlich angeschuldigt. Jüdische Sprecher beschwerten sich darüber, dass die Polizei Juden entwaffnet und ihre Versuche der Selbstwehr behindert, ihrerseits aber dem Vandalismus und den Plünderungen tatenlos zugesehen habe. Die Führer der Gemeinde wandten sich in Telegrammen nach St. Petersburg, worin sie Zweifel an der Fähigkeit der lokalen Behörden äußerten und um Schutz nachsuchten, später schickten sie sogar eine Delegation zum Innenminister in die Hauptstadt.187 Diese Berichte stimmten durchaus mit dem für das Department reißerischen Ton gehalten (S.  ff.). Im Bericht des Gouverneurs von Podolien wird von einem jüdischen Todesopfer und drei Verletzten, darunter ein Jude, die im Krankenhaus behandelt werden mussten, gesprochen (Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, Appendix, S. ).  Die AZJ, die ansonsten nicht mit der Schilderung drastischer Vorfälle sparte, veröffentlichte zu Balta zunächst nur einen kurzen Bericht, in dem weder von Todesopfern noch von Vergewaltigungen die Rede ist (Jg. , Heft , .., S. ). Zwei Wochen später wird in einem Bericht zu den »Judenverfolgungen in Rußland auf ihrem Höhepunkte« dann doch von  jüdischen Todesopfern, die zum Teil in die Flammen ihrer Häuser geworfen worden seien, und dreihundert Schwerverwundeten gesprochen. / der Stadt lägen in Trümmern, und der Schaden beliefe sich auf  Millionen Rubel. Allerdings erwähnt die Zeitung keine Vergewaltigungen (Jg. , Heft , .., S.  f.). Wenig später druckte die AZJ noch den Bericht eines Arztes aus der Wiener Presse nach, der das Pogrom von Balta so beschrieb: »In Balta hat das russische Volk eine Bestialität geübt, die über alles, was die Geschichte aus früheren Zeiten erzählt, hinausgeht. Die Fabel von der russischen Guthmütigkeit wird wohl nunmehr verstummen. Wir haben es hier mitten im eigentlichen Russland […] mit einer bestialischen Horde zu tun, die in den grausamsten Mordthaten und unermeßlichen Freveln mit den rohesten Barbaren wetteifert«. Die Zeitung bringt dann wiederum neue Zahlen zu den Schäden in Balta: demnach seien  Häuser zerstört worden, d. h. - Millionen Rubel an Eigentum, es habe acht Tote und  Verwundete gegeben (Jg. , Heft , .., S. .). Auch Linden, Prototyp des Pogroms, S. , nennt  mit Verweis auf die Zeitung Golos dieselben Zahlen.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f. Linden, Prototyp des Pogroms, S. , spricht  davon, dass die »Vergewaltigungen in den achtziger Jahren an Zahl und Rohheitsäußerungen auffällig waren«, weist aber zugleich Berichte der Times, die von  Fällen schrieb (davon  mit tödlichem Ausgang), als »gewiss stark überhöht« zurück.  Linden, Prototyp des Pogroms, S.  f., schreibt darüber, wie »wirkliche Vertreter und Nichtbevollmächtigte« aus den Provinzen zu den Ministern, zu Geistlichen und zu den Ortsgewaltigen, zu den Gouverneuren und geringeren Menschen reisten und um Schutz baten. Er kommt zu einer insgesamt (wohl zu) pessimistischen Einschätzung des Erfolgs dieser Bemühungen, den er als gleich null bezeichnet. »Die Juden fühlten sich wie im

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der Polizei verfassten Bericht überein. – Dies beides zusammen führte wohl zu einem Gefühlsausbruch des zuständigen Militärgouverneurs v. Drenteln, der bei seinem Besuch in Balta am . August die Juden der Stadt beschuldigte, sich mit ihren ökonomischen Aktivitäten verhasst zu machen, und die kommunalen Führer einer Diffamierung der russischen Regierung bezichtigte. Bis zum Ende des Jahres waren viele Beamte Baltas in den Ruhestand gegangen oder aber versetzt worden. Es gab mehrere Prozesse gegen die Pogromisten. Zwei von ihnen wurden wegen des Mordes an einem Juden zum Tode verurteilt, doch wurde die Strafe später abgemildert.188 Ein Bauer und zwei ehemalige Soldaten wurden wegen Vergewaltigung angeklagt. In einer Darstellung des ersten Prozesses von Balta wurde ein Mann beschuldigt, am . März  zusammen mit anderen Tätern in das Haus von Baruch Flickstein eingedrungen zu sein, wohin sich mehrere Juden gerettet hatten. Das Haus wurde ausgeraubt, und der Angeklagte soll dabei den Juden Schmierl Tepliztki derart misshandelt haben, dass er an seinen Verletzungen starb. Dies soll unter den Augen eines Offiziers mit etwa fünfzig Soldaten und der Frau von Baruch Flickstein, die mit dem Täter seit Jahren bekannt war, geschehen sein.189 In der abgedruckten Rede des »geschworenen Advokaten« äußerte dieser seine Verwunderung darüber, dass die Tat nicht als gewöhnlicher Mord angeklagt worden sei, sondern als »Verursachen schwerer Wunden, welche den Tod herbeiführten«. Er will dies zwar nicht anfechten, macht in seiner Rede aber deutlich, dass er die Rede von Pogromen im Sinne von »Volksrache«, »Erhebung der Volkskräfte« oder als »Protest gegen die »Judengleichheit« für eine Verharmlosung von verbrecherischen Tätigkeiten von Räubern und Mördern hält. Er macht stattdessen auf die Gefahr aufmerksam, die für die Gesellschaft insgesamt in den Pogromen liegt. Das Geschworenengericht verurteilte den Täter wegen erwiesener Schuld zu zwei Jahren und neun Monaten zur Einstellung in die »Arrestantenkompagnie«. Auf dem Lande rings um Balta kam es zwischen dem . April und dem . August  zu ca. vierzig Vorfällen, die Klier jedoch kaum als Pogrome einstufen will, da es sich eher um Rauferien in der Geschäftsstraße und in Wirtshäusern sowie um kleinere Fälle von Vandalismus handelte. Es gab bei diesen Schlägereien einige Tote und Fälle von Vergewaltigung, jedoch keine Todesopfer durch Militäreinsatz, da an diesen Orten kein Militär stationiert war. Viele dieser Fälle wären nach Klier der zarischen Regierung und der Öffentlichkeit nicht bekannt geworden, wenn nicht eine erhöhte Aufmerksamkeit wegen der Pogromangst vorhanden gewesen wäre.190 Über die Dynamik, die Gerüchte über ein bevorstehendes Pogrom entfalten und Bauern der Umgebung eines Städtchens zur Teilnahme motivieren konnten, zeigt der Bericht eines Korrespondenten der slawophilen Zeitung Moskowskija WodoFeindeslager«. Er hebt aber als Besonderheit hervor, dass die russische Geistlichkeit während der ersten Pogromepoche der er Jahre »in weit höherem Maße als in jüngster Zeit auf Seiten der Bedrückten gestanden hat«.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. , FN .  L. Judavics-Paneth, Pogromprozesse, S.  ff. und S. .  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .

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mosti. Als in dem kleinen Ort Sacharjewko, Kreis Tiraspol im Gouvernement Cherson (heute Transnistrien), im April ein Markt stattfand, erschien dort eine große Menge Bauern mit leeren Fuhrwerken. Viele Frauen seien mit Säcken versehen gewesen. Auf die Frage eines Polizeioffiziers nach dem Grund ihres Erscheinens gaben sie an, dass man ihnen erzählt habe, dass heute die Juden geschlagen würden und sie hofften, dass dabei auch für sie etwas abfiele. Die Plünderung der Juden würde also von den Bauern als eine Art direkter Erwerb betrachtet, der, wie die geringen Strafen für die Täter in anderen Pogromen zeigten, ohne allzu großes Risiko war.191 Nach der Liste von Klier gab es vom April bis in den Spätsommer  hier und da Pogrome, auch Fälle, in denen Polizei und Militär den Ausbruch von Gewalt verhindern konnten, sowie Fälle von Pogromgerüchten und -androhungen.192 Pogrome gab es an einzelnen Orten in den auch bis dahin hauptsächlich betroffenen Gouvernements Cherson (Pogrom in Moshorino am . und . April , in Aleksandriia am . April), im Aleksandriev-Distrikt bei Elisavetgrad (.-. April), in Podolien (.-. April), aber auch im Königreich Polen (s. o.). Nach dem Pogrom von Balbieriškis (Balwierzyszki) im Bezirk Kowno an Allerseelen (. November )193 gab es  vereinzelt auch antijüdische Ausschreitungen im ländlichen Raum Litauens,194 die etwa in Prienai (Gouvernement Suvałki) am . August  mit  bis zwanzig verletzten Juden pogromartige Züge annehmen konnten.195 Sie entzündeten sich primär an lokalen Ereignissen, etwa einem Ritualmordgerücht, und blieben zumeist auf Gewalt gegen jüdisches Eigentum begrenzt. Zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Juden kam es dort in diesen Jahren noch in Naumiestis (), in Molėtai () und in Plungė () in den Gouvernements Vil’na, in Kovno und in Grodno, doch nicht zu Pogromen mit großer Beteiligung und Todesopfern.196 Im Gouvernement Vil’na gab es in dem Ort Dolginovo am . Juni  noch einen »Nachzügler«, wo wiederum ein  Zit. nach AZJ, Jg. , Heft , . Mai , S.  f. Der Korrespondent gab auf die selbst gestellte Frage, woher der plötzliche Hass gegen die Juden herrühre, die Antwort, dass es sich dabei nicht um eine religiöse Frage handele, sondern es eine Folge der Sittenverderbnis sei.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, Appendix, S. -.  Siehe oben; Markowski, Anti-Jewish Pogroms in the Kongdom of Poland, S. .  Dazu Staliūnas, Anti-Jewish Disturbances.  Klaus Richter, Kišinev or Linkuva? Rumors and Threats against Jews in Lithuania in , in: Revista Românã de Studii Baltice şi Nordice,  () , S. -; ders.: Dusetos, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. , Berlin , S.  f. Siehe auch Markowski, Anti-Jewish Pogroms in the Kingdom of Poland, S. . Vgl. die Langzeitanalyse von  bis  von Vladas Sirutavičius/Darius Staliūnas, Was Lithuania a Pogrom-Free Zone? (-), in: Dekel-Chen et al. (Hrsg.), Anti-Jewish Violence, S. -.  Für die drei letztgenannten Orte spricht Berl Kagan, Yidishe Shtet, Shetlech und Dorfishe Yishuvim in Lite, New York , jedoch von mehreren getöteten Juden und von Verletzen. Zitiert bei Richter, Antisemitismus in Litauen. Bei Sirutavičius/Staliūnas, Was Lithuania a Pogrom-Free Zone?, werden diese Orte nicht aufgeführt, d. h. die Angaben von Kagan werden nicht bestätigt (S. ).

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Ritualmordgerücht zu Ausschreitungen führte. Darius Staliūnas hat diesen Fall detailliert beschrieben.197 Das Verschwinden eines zwölfjährigen Jungen und das Auffinden seiner Leiche am . Mai löste erste Ritualmordgerüchte in der Umgebung aus. Obwohl die medizinische Untersuchung eindeutig Tod durch Ersticken und das Fehlen äußerer Verletzungen nachwies, entstand das Gerücht, der Junge sei erstochen und seine Venen seien geöffnet worden, was von der Presse verbreitet und noch mit vielen grausigen Details angereichert wurde, die eindeutig aus dem »Wissensvorrat« über »jüdische Ritualmorde« stammten, so dass allen klar war, wer die »Täter« waren, obwohl man Juden nicht direkt beschuldigte. Der Junge wurde von einer riesigen »jubelnden« Menschemenge als eine Art Heiliger zu Grabe getragen, ohne dass dies, wie man hätte erwarten könne, in einem Pogrom mündete. Es hatte nach dem Auffinden der Leiche jedoch immer wieder kleinere Konflikte zwischen Christen und Juden gegeben, die dann auf der Dolginover Messe in einem Pogrom eskalierten. Nach Staliūnas konnte es in einem Schtetl nur zu Pogromen kommen, wenn die Bauern der Umgebung an Markt- oder Messetagen oder während religiöser Feste in das Städtchen kamen.198 Direkter Auslöser der Gewalt war eine Schlägerei zwischen einem jüdischen Händler und einem Christen, bei der der Jude mehrere Christen geschlagen haben soll. Dies wurde von den Bauern als Demütigung der gesamten christlichen Gemeinschaft empfunden, die nur durch einen kollektiven Angriff auf die Juden aus der Welt zu schaffen war. Am späten Nachmittag begannen die Ausschreitungen, die drei bis vier Stunden andauerten. Als zentrales Motiv sieht Staliūnas »Rache« für den »Ritualmord«, wie die Slogans der randalierenden Menge verraten (»The Yids beat us and rob us and drink our blood – beat them up !«). Doch zeigen andere Rufe, dass die Antipathie gegen Juden auch anderen unterstellten »jüdischen Verbrechen« (ökonomische Ausbeutung, Drückebergerei vor der Armee) geschuldet war.199 Die Pogromisten zerstörten auf der Messe zunächst die Waren jüdischer Händler, raubten Eisenstangen eines Eisenwarenhändlers und begannen Geschäfte von Juden zu zerstören und zu plündern, teilten sich dann in Gruppen auf und warfen die Fenster jüdischer Häuser ein oder drangen gewaltsam in diese ein. Obwohl die Polizei wegen der Messe auf mehr als fünfzig Mann verstärkt worden war, konnte sie das Pogrom nicht verhindern, sondern sah sich ihrerseits von der Menge bedroht. Die Gewalt endete daher wohl nicht durch einen Polizeieinsatz, sondern weil die Bauern nach Hause abzogen, wobei sie allerdings auf ihrem Heimweg fortfuhren, Häuser von Juden zu plündern. Ein Phänomen, das an vielen kleineren Orten zu beobachten war. Das durchgängige Problem, dass Quellen einander z. T. widersprechende Angaben über die Zahl der Opfer machen, ist in diesem Fall gut fassbar. Nach Staliūnas be Dazu und zum Folgenden: Darius Staliūnas, Enemies for a Day, Kap. : The Blood Libel in Nineteenth Century Lithuiania, S. -.  Ebd., S. .  Siehe entsprechende Belege bei Staliūnas (ebd.): »What! The Yids drink our blood, we go off to the army instead or them, the ruin us and even habe the gall to beat us ! Hoorah, lads, get the Yids«.

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haupten verschiedene jüdische Quellen, dass zwischen zwanzig und dreißig Juden angegriffen worden seien: »They beat many to death. Many were wounded«, and »blood filled the streets«. Andere sprechen von einer getöteten Frau.200 Die offiziellen Quellen geben ein völlig anderes Bild und werfen den Juden vor, ihre Verluste und die Fälle von Körperverletzungen zu übertreiben. »The mob did not beat the Jews themselves, but just destroyed their property; only those who came to hand and showed opposition were hurt«. Viele der noch vorhandenen Quellen belegen, dass es einige wenige Fälle von Körperverletzung gegeben hat.201 Dieser Fall zeigt wiederum, dass die Pogromgewalt in den Schtetln zumeist auf materielle Zerstörungen und Plünderungen beschränkt blieb, dass aber der als »illegitim« angesehene Widerstand von jüdischer Seite häufig zu Angriffen auf Juden selbst führte. Dass es im Nordwesten Russlands, in Litauen und in Weißrussland kaum zu größeren Pogromen gekommen ist, hat man zunächst vor allem mit dem entschiedeneren Eingreifen des Gouverneus Eduard I. Totleben erklärt, während man etwa dem Gouverneur in Südwestrussland (Gouvernements Kiew, Podolien und Wohlhynien), Alexander R. Drenteln, als bekanntem Judenfeind Inaktivität unterstellte. Diese Auffassung lässt sich nach Claire Le Foll heute so nicht mehr vertreten, da auch Drenteln, wie alle anderen Gouverneure und Behörden, genauso aktiv gegen die Pogrome vorging wie Totleben.202 Für Litauen, wo es ja durchaus, wenn auch einige wenige und nicht sehr ausufernde, Pogrome und wachsende interethnische Spannungen gab, nennt Darius Staliūnas zwei wesentliche Gründe: Einen Grund sieht er weiterhin im entschiedenen Eingreifen des General-Gouverneurs Totleben und der lokalen Behörden, die Pogrome verhindert oder aber schnell gestoppt hätten. Nachdem es in den südwestlichen Gouvernements zu Pogromen gekommen war, gab es entsprechende Befehle der Regierung in St. Petersburg, die der Gouverneur der nordwestlichen Gouvernements umsetzte, indem er bei drohenden Konflikten die örtliche Polizei verstärken ließ und auch Militär in Bereitschaft hielt. Im Nordwesten hatte man also länger Zeit, um Vorkehrungen zu treffen. Zum anderen gab es im Vergleich mit den südwestlichen Provinzen weniger ethnosoziale Spannungen zwischen den Gruppen. Den Grund dafür sieht er in der ökonomischen Unterentwicklung des Nordwestens, so dass die alltäglichen Beziehungen in den zumeist kleinen Orten zwischen Juden und Christen weiterhin eingelebten Traditionen folgten und sozial seit langem institutionalisiert waren.203 Für Staliūnas hat die ökomische und sozialstrukturelle Rückständigkeit das Aufkommen eines ausgeprägten Antisemitismus verhindert, obwohl auch in Litauen religiöser Anti-Judaismus (Ritualmord-Legende, Christenfeindlichkeit des Talmud, geringer Respekt gegenüber dem Christentum) und ökonomische Ausbeutung,  Staliūnas, ebd., S.  f.  Ebd.  Claire Le Foll, The Missing Pogroms of Belorussia, -: Conditions and Motives of an Absence of Violence, in: Jonathan Dekel-Chen et al. (Hrsg.), Anti-Jewish Violence, S. -.  Staliūnas, Anti-Jewish Disturbances.

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aber auch zunehmend ethnische Konkurrenz (Ausbeutung der litauischen Bauern und ihre Schädigung durch den Alkoholausschank; unehrliche Händler) anzutreffen waren. Im späten . Jahrhundert kam noch ein nationalistischer Aspekt hinzu: Juden würden nicht zu Litauern werden wollen und sie würden nicht die litauische Nationalbewegung unterstützen, sondern strebten nach Weltherrschaft.204 Le Foll weist zudem darauf hin, dass zwar in Litauen und Weißrussland die Spannungen zwischen Juden und Christen zunahmen, dass aber die Gewalt, der man Einhalt gebieten musste, weit weniger schwerwiegend war als in Südwestrussland. Ihre These ist ebenfalls, dass es sozioökonomische Stagnation, also die Fortdauer des halbfeudalen ökonomischen Systems in Weißrussland war, die die hergebrachten sozialen und interethnischen Beziehungen unverändert ließ und so zu einer Verhinderung von Pogromgewalt führte.205 Die drei ökonomischen Faktoren Industrialisierung, Urbanisierung und Konkurrenz zwischen Juden und Nicht-Juden werden heute als mitentscheidend für den Ausbruch der Pogrome in Südwestrussland angesehen. Alle drei waren nach Le Foll in Weißrussland nur schwach ausgeprägt, da die noch bestehende feudale Struktur diese Entwicklung gehemmt habe. Es habe deshalb dort auch keine freien Arbeitsplätze in der Industrie gegeben, die wie im Südwesten ein heimatloses, entfremdetes Proletariat angezogen habe, was ein wesentlicher Faktor in den Pogromen war. Es fand ebenfalls nur ein geringer Zuzug von proletarisierten Bauern der Umgebung in die Städte statt, da ja der Urbanisierungs- wie Industrialisierungsgrad nur gering waren. Dies bedeutete deutlich weniger Konkurrenz zwischen Juden und Nicht-Juden, und es gab auch – anders als in Kiew oder Odessa, wenig ökonomisch aufstrebende jüdische Unternehmer in der Region, die den Neid der Nicht-Juden auf sich gezogen haben könnten.206 Le Foll weist zudem darauf hin, dass in vielen Orten Weißrusslands die zahlenmäßige Stärke der jüdischen Bevölkerung, die zum Teil sogar die Mehrheit stellte, ebenfalls ein Faktor gewesen sei, der die Anwendung von Gewalt gegen Juden riskanter gemacht habe. Pogrome in den späteren Jahren - Die beiden Wellen antijüdischer Gewalt in den Jahren  und in geringerem Ausmaß auch  setzten sich in den Folgejahren nicht fort. Doch gab es  und  jeweils ein wenn auch isoliert bleibendes schweres Pogrom. Warum diese Ereignisse nicht zum Ausgangspunkt neuer Pogromwellen wurden, ist schwer zu  Darius Staliūnas, Lithuanian Antisemitism in Late Nineteenth und Early Twentieth Centuries, in: Polin , , S. -.  Le Foll, The Missing Pogroms, S. .  Ebd., S.  f. Nach Le Foll waren antijüdische Vorurteile verbreitet und äußerten sich auch verbal und in physischen Angriffen. »Der Jude« in Weißrussland wurde als religiöser Fanatiker und Ausbeuter der Bauern gesehen (S.  ff.). Insgesamt seien die Bürokratie, die Intelligenz und die Presse in Weißrussland negativ gegenüber Juden eingestellt gewesen und hätten die religiösen, ökonomischen und moralischen Vorurteile der Bevölkerung geteilt und sogar legitimiert.

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sagen, doch spielten sicherlich die größere Aufmerksamkeit der Behörden, die Vorkehrungen treffen konnten und die Einwohner vor der Teilnahme an Gewalttaten warnten, sowie die  erlassenen sog. »Mai-Gesetze« (s. u.) eine Rolle, die primär die Rechte der Juden einschränkten und so der Bevölkerung entgegenkamen. Bei Nishnii Nowgorod spielte sicher die Lage weit außerhalb des Ansiedlungsrayons eine Rolle. In der Stadt Ekaterinoslav, im gleichnamigen Gouvernement im Südosten des Ansiedlungsrayons gelegen, kam es am . und . Juli  nach einem Streit im Bazar, wonach eine Frau schreiend aus einem jüdischen Laden gelaufen kam, da der Verkäufer ihrem Sohn wegen eines Diebstahls eine Ohrfeige verpasst hatte, zu einem Pogrom seitens der Eisenbahnarbeiter. Die Menge attackierte erst den betreffenden Laden, verprügelte den Verkäufer so, dass er am nächsten Tag starb, und zerstörte und plünderte die Einrichtung. Der an sich unbedeutende Vorfall einer Ohrfeige konnte so ein massives Pogrom auslösen, da der . Juli im russischorthodoxen Festkalender der Tag des Heiligen Elias war, an dem die Stadt mit Arbeitern und Bauern gefüllt war, die zum Einkaufen und Trinken gekommen waren.207 Die Pogromisten plünderten nun zunächst die angrenzenden Geschäfte, betranken sich an den Vorräten von Schnapsläden und unter Rufen »Schlagt die Juden !« zog die Menge, die durch ungefähr dreitausend Eisenbahnarbeiter verstärkt worden war, in das Viertel der Stadt, in dem die Juden ihre Geschäfte und Werkstätten hatten. In Gruppen zu hundert und mehr Personen, bewaffnet mit Schlagstöcken und Hämmern, stürmten sie Geschäfte und Häuser der Juden sowie die Synagoge. Stadtbewohner und Bauern, darunter viele Frauen, folgten den Pogromisten, um Beute zu machen. Die schwach bemannte Polizei, die versuchte, die Gewalt zu stoppen, wurde überwältigt. In Ekaterinoslav waren zwar Truppen stationiert, doch befanden sich viele Soldaten im Sommerlager oder arbeiteten außerhalb der Stadt, so dass es eine Zeit dauerte, bis sie eingreifen konnten. Die Truppen, die hart bedrängt wurden, feuerten bei drei Gelegenheiten in bzw. über die Menge, die sich immer wieder sammelte und wütend über die getöteten Christen die Ordnungskräfte mit Steinwürfen erneut attackierte. Die Pogromisten konnten nicht glauben, dass russische Soldaten ihre Landsleute töten würden, um Juden zu schützen.208 Die zweite volle Salve führte zur Auflösung der Menge, doch gingen die Ausschreitungen an anderen Stellen der Stadt weiter, so dass die Soldaten ein weiteres Mal in die Menge schossen. Während der Unruhen soll am . Juli sogar der Gouverneur angegriffen worden sein.209 Wir finden hier ein typisches Muster  Wynn, Workers, Strikes, and Pogroms, S. .  Ebd., S. .  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . Der Gendarmerie-Bericht spricht dagegen am . Juli  von sechs Toten, darunter ein unbeteiligter Zuschauer. Dies zeigt, wie schwierig es ist, genaue Angaben über die Zahl der Opfer zu erhalten. Der Gouverneur gab daraufhin detaillierte Pläne zur Verhinderung von Pogromen bekannt. Vgl. dazu den Bericht der AZJ, Heft , .., S.  (Berichte aus Petersburg vom . und . August), wo ebenfalls von zehn Toten und  Verletzten die Rede ist. Es sollen  Personen wegen

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der Gewalteskalation: Schwache Ordnungskräfte tendierten dazu, sich entweder passiv zu verhalten oder aber von der Waffe Gebrauch zu machen, was dann zu Todesopfern und Verletzten unter den Pogromisten führte, die darauf dann wieder mit verstärkten Angriffen auf die Ordnungskräfte reagierten, da man diesen eine Parteinahme für die Juden und gegen die »eigenen Leute« besonders übelnahm, und so eine Gewaltspirale in Gang setzten, wobei auch Polizisten und Soldaten verletzt werden konnten. Die Zahl der Opfer geht in den verschiedenen Berichten auseinander. Es soll zehn Tote und  Verwundete gegeben haben, von denen später drei starben (in einem späteren Telegramm war sogar von zwölf Toten und sieben später gestorbenen Verwundeten die Rede). Laut des offiziellen Berichts vom ./. August  gab es elf Tote und  Verletzte, von denen weitere neun starben. Es waren zudem drei Alkoholtote zu beklagen.210 Die jüdische Gemeinschaft in Ekaterinoslav, eine der reichsten im südlichen Russland, war vernichtet.  Wohnungen waren zerstört oder geplündert worden, nahezu zweitausend jüdische Familien waren verarmt, Der Schaden wurde auf sechshunderttausend bis eine Million Rubel geschätzt. Da viele Juden zu Beginn der Unruhen aus der Stadt geflohen waren, gab es abgesehen vom Verkäufer des zuerst attackierten Landes keine weiteren jüdischen Todesopfer.211 Im selben Jahr wäre es bei zwei Gelegenheiten fast zum Ausbruch einer größeren Pogroms gekommen, wenn die Behörden nicht präventive Maßnahmen ergriffen hätten. So blieb es bei geringen Schäden.212  wurde zwar von einigen kleineren Vorfällen berichtet, die sich meist aus Streitigkeiten auf der Geschäftsstraße entwickelten, doch blieb es im Ansiedlungsrayon ansonsten ruhig.213 Das schwere Pogrom vom ./. Juni  ereignete sich weit außerhalb des Ansiedlungsrayons in der Stadt Nischni Nowgorod. Der Auslöser war untypisch für die Pogromwellen der frühen er Jahre, da die Gewalt von einer Ritualmordbeschuldigung, dem Gerücht, Juden hätten ein vermisstes christliches Kind entführt, ausging und es zu einem brutalen Mord an zehn Juden kam, die mit Äxten attackiert und vom Dach gestoßen wurden. Dies lässt Klier von einem Massaker an der kleinen, gut integrierten jüdischen Gemeinde sprechen. Dieses Ereignis hinterließ nach Klier einen tiefen Eindruck in der russischen Öffentlichkeit.214 Möglicherweise war diese Beschuldigung auch durch die

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des Widerstands und der Angriffe auf das Militär verhaftet worden sein – und nicht wegen der Angriffe auf Juden. Klier spricht vom mindestens zwanzig toten Pogromisten (Russians, Jews, and the Pogroms, S.  und ). Wynn, Workers, Strikes, and Pogroms, S. . Ebd., S. . Klier führt in seiner Übersicht unter dem . Juli  noch ein Pogrom in Dombrovitske, Provinz Wolhynien, auf, bei dem sich einige Juden heftig mit Äxten und Spießen gewehrt hätten. Siehe: John D. Klier, Imperial Russia’s Jewish Question -, Cambridge , S. ; auch Klier/Lambroza, Pogroms, S.  f. Obwohl die Ritualmordbeschuldigung in

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breite Berichterstattung über die Tiszaezlár-Affäre in Ungarn in den Jahren / beeinflusst worden, ein Fall, in dem Geständnisse zweier Söhne des jüdischen Hauptangeklagten vorlagen und  Juden auch tatsächlich angeklagt wurden (s. u. .). Das Ritualmordmotiv erklärt möglicherweise auch das Auftreten einer derart mörderischen Gewalt, die für die meist aus kleineren Konflikten resultierenden Pogrome im Ansiedlungsrayon untypisch war. Zu besonders blutigen Ausschreitungen kam es  im Donbass-Becken (das zum Gouvernement Ekaterinoslav gehörte), wo eine Cholera-Epedemie zum Auslöser von Unruhen wurde.215 Bei den im Zarenreich zahlreich auftretenden Cholera-Epidemien wurden die präventiven Maßnahmen der Behörden, etwa die Kranken in Cholera-Baracken zu separieren, als Übergriff gewertet, so dass häufig Hospitäler überfallen, Kranke »befreit« und Ärzte verprügelt oder vertrieben, selten aber getötet wurden. Die Übergriffe konnten sich aber auch wie in Iuzovka auf die Juden ausweiten, doch waren die meisten Toten und Verletzten unter den Tätern selbst und unbeteiligten Passanten zu beklagen.216 Unter den . Einwohnern der Stadt, die mehrheitlich russische Bauern waren, die im Industriegebiet Arbeit gesucht hatten und unter haarsträubenden Lebens- und Arbeitsbedingungen litten, war Gewalt ein Alltagsphänomen.217 Nach Theodore H. Friedgut waren weder die Cholera, die  von arbeitslosen Arbeitsmigranten mitgebracht wurde, noch Unruhen im Donbass-Becken etwas Überraschendes. »The new arrivals did bring with them the horror of cholera, rumors, and stories of the riots that spread so widely through Russia with every cholera outbreak. In addition, destitute and uprooted as they were, the migrants had every reason to be totally unrestrained when the rioting broke out, plundering food and drink and venting their frustration violently on the cossacks«.218 Versuche, das Einschleppen der Cholera durch repressive Maßnahmen zu verhindern, waren trotz eines massiven Einsatzes von Kosaken fehlgeschlagen. Über die Ursachen und den Verlauf der nicht-organisierten Ausschreitungen bestand und besteht keine Einigkeit, obwohl sich Charters Wynn auf die Arbeit

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den er Jahren in Russland von einigen Autoren zum Thema ihrer Bücher und Zeitungsartikel gemacht wurde und die Kutaisi-Affäre in Georgien von , wo neun Juden beschuldigt wurden, ein christliches Mädchen ermordet und verstümmelt zu haben, aber schließlich freigesprochen wurden, die Aufmerksamkeit auf dieses Thema gelenkt hatte, spielten Ritualmordbeschuldigungen nach Klier als Auslöser von Pogromen / eine geringe Rolle (S.  ff.). Wynn, Workers, Strikes, and Pogroms, spricht vom »bloodiest industrial conflict in Russia in the s« (S. ). Dazu und zum Folgenden: Theodore H. Friedgut, Labor Violence and Regime Brutality in Tsarist Russia: The Iuzovka Cholera Riots of , in: Slavic Review /, , S. . Insgesamt zu Cholera-Unruhen im Zarenreich siehe Wiese, Pogrome im Zarenreich, Kap.  (Gewalt als Epidemie). Der Gouverneur des Gourvernements Ekaterinoslav machte in seinem Bericht an den Innenminister für das Pogrom die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen der Bergarbeiter verantwortlich (Wynn, Workers, Strikes, and Pogroms, S. ). Friedgut, Labor Violence, S. .

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von Friedgut bezieht. Während Ersterer den Antisemitismus unter den Arbeitern benennt und die Juden als eine frühe Zielscheibe der Gewalt sieht, richteten sich nach Friedgut die Ausschreitungen zunächst gegen eine Fabrik und die nichtjüdischen Geschäfte im Zentrum des Ortes, bevor sie sich am folgenden Tag auf das Viertel mit den Läden und Häusern von Juden ausweiteten. Bei Wynn waren die Juden nicht nur das erste Ziel, auch der Auslöser hatte einen judenfeindlichen Hintergrund. Als eine Frau in eine Cholera-Baracke verlegt werden sollte, wurden »jüdische Ärzte« als Urheber der Epidemie angeschuldigt, da Juden und Engländer angeblich durch die Krankheit nicht betroffen waren.219 »The combination of workers’ anti-Semitism, recent death tolls, and fear of doctors ignited long-standing grievances«.220 Die Stimmung sei gegen Abend des . August  in dem Wohnviertel immer aggressiver geworden und eine Menge aus Arbeitern hätte sich auf den Weg zu den Cholera-Baracken gemacht, wurde aber auf dem Marktplatz von der Polizei gestoppt, die die Menge aber nicht zerstreuen konnte, die nun begann, die jüdischen Läden und Kneipen plündern. Ein Brand erfasste dann Teile des Marktplatzes. Der Einsatz der Kosaken wird ähnlich wie bei Friedgut beschrieben, nur dass die Zahl der Todesopfer unter den Arbeitern höher angesetzt wird: zwischen fünzig und zweihundert Toten, dazu kam noch eine vielfach höhere Zahl von Verletzten. Nach Wynn war dies »the worst civilian massacre until der Bloody Sunday«.221 Am nächsten Tag habe sich eine riesige Menschenmenge von .-. Personen auch aus der gesamten Umgebung versammelt und andere Läden und Kneipen in anderen Stadtvierteln zerstört, habe sich dann auch auf den gesamten Distrikt von Iuzovka ausgebreitet: »Iuzovka briefly found itself at the mercy of rioting miners and unskilled factory workers«.222 Die Kosaken schossen nicht wieder in die Menge, sondern begrenzten sich auf den Schutz einiger öffentlicher Gebäude und auf das Zerstreuen von Tumultuantengruppen, während sie auf Verstärkung warteten. In der Version von Friedgut durchliefen die Ausschreitungen die Phasen in anderer Reihenfolge. Zunächst wurden die Geschäfte und Kneipen in der Nähe der Fabrik von etwa fünftausend Menschen geplündert, wobei die anreitenden Soldaten mit Steinen vom Sattel geholt wurden und der Rest von ihnen flüchtete.223 Der Kommandant der Kosaken ließ daraufhin seine Soldaten mehrere Salven auf  Die Episode wird auch bei Friedgut erwähnt, die für ihn aber nur eine der möglichen auslösenden Faktoren für die Unruhen darstellt (Labor Violence, S. ). Demnach sei es in der geschilderten Situation nicht zum Ausbruch der Gewalt gekommen, vielmehr habe es einen Angriff seitens einiger Dutzend Arbeiter auf ein neu eröffnetes Teehaus gegeben, wonach man anschließend zu den Cholera-Baracken ziehen wollte.  Wynn, Workers, Strikes, and Pogroms, S. .  Ebd.  Ebd., S. .  Friedgut erwähnt aber auch für die erste Phase, dass bei der Plünderung und Zerstörung der Läden am ersten Abend der Ruf »Zerschmettere die Juden« (Razbivai zhidov) ertönt sei, was für eine frühe antijüdische Ausrichtung der Übergriffe spräche (Labor Violence, S. ).

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die Menge feuern. Die beim Plündern zerstörten Schnapsfässer gerieten in Brand, der sich ausbreitete und einen Teil des Stadtzentrums vernichtete. In den Kellern einiger Häuser wurden später neun (oder zehn) Leichen gefunden.  Pogromisten wurden von den Soldaten verhaftet. Am nächsten Morgen verfolgte die Menge, die vor allem aus »fremden« Bergleuten von außerhalb bestand, denen sich einige Bauern angeschlossen hatten, unterschiedliche Ziele: Ein Teil der nun auf . Personen angewachsenen Menschenmenge erzwang die Freilassung der am Abend zuvor verhafteten Pogromisten, während sich die Masse, da sie an einem neuerlichen Sturm auf die Fabrik gehindert worden und die zentrale Einkaufsstraße bereits eine rauchende Ruine war, nun auf einen anderen »Bazar« warf, wo sich die Häuser und Läden von Iuzovkas jüdischer Bevölkerung befanden. Das Pogrom dauerte bis zum Abend an, bevor die Menge vor den nun aus Ekaterinoslav eintreffenden Truppen die Flucht ergriff.224 Nach Friedgut bedeuteten diese gewalttätigen Ausschreitungen eine Katastrophe für Iuzovka, da sie die Existenz des Ortes selbst bedrohten und die Verluste an Menschenleben und Besitz schockierend hoch waren. Über die Zahl der Toten und Verletzten existieren unterschiedliche Angaben: Während der offizielle Bericht von  toten Zivilisten, sieben verbrannten Personen, einem Vermissten und nur fünf Verletzten spricht und auch  zum Teil schwerer verletzte Soldaten zählt, schreiben andere Quellen von achtzig bis hundert oder mehreren Dutzend Toten. Das Geschäftsviertel der Stadt war völlig zerstört, mehr als  Läden und Schänken, sieben Wohnhäuser und eine Synagoge waren ausgebrannt, geplündert oder beschädigt worden. Von den  Geschädigten waren  Juden, der Schaden belief sich auf eine Summe zwischen , und , Millionen Rubel. Vier- bis fünfhundert Pogromisten waren festgenommen worden, von denen der Gouverneur auf Befehl des Zaren , darunter  Frauen, auspeitschen ließ.  Personen wurden später angeklagt und zu harten Strafen zwischen drei Wochen Haft und dreißig Jahren Zwangsarbeit verurteilt,  wurden freigesprochen. Fünf Personen waren als Rädelsführer zum Tode verurteilt worden, was aber in lange Haftstrafen umgewandelt wurde.225 Anders als im Fall der zuvor beschriebenen antijüdischen Unruhen im Zarenreich zielte das Iuzovka-Pogrom nicht primär gegen Juden, die erst im Laufe der Ausschreitungen, als andere Ziele nicht mehr zur Verfügung standen, Opfer der Gewalt wurden. Die Tatsache, dass Ausschreitungen im Donbass-Becken, die zumeist mit Streiks und Übergriffen gegen Fabriken begannen, sich dann aber häufig gegen die Betreiber von Schänken und gegen Juden richteten, zeigt, dass die Gewalt zwar nicht direkt von Judenfeindschaft angetrieben war, Juden aber als Ladenbesitzer und Schankwirte als ein geradezu »traditionelles« Ziel für Plünderungen

 Nach Wynn hätten die Unruhen am Nachmittag des . August plötzlich aufgehört, die Arbeiter hätten begonnen, nach Hause zu gehen, noch bevor die Truppen aus Ekaterinoslav eingetroffen seien (Workers, Strikes, and Pogroms, S. ).  Friedgut, Labor Violence, S. -; Wynn, Workers, Strikes, and Pogroms, S. .

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angesehen wurden.226 In der Provinz Ekaterinoslav kam es zwischen  und  zu  Streiks und sechs Pogromen, wobei beide Aktionsformen häufig ineinander übergingen: »Work stoppages in the Donbass-Dnepr Bend during this period commonly includes some destruction, rocks thrown through windows, personal attacks, and looting shops, or, to look conversely, working-class riots often began as nonviolenct work stoppages.«227 Antijüdische Unruhen in Litauen im Jahre  Antijüdische Ausschreitungen waren im Nordwesten des Zarenreiches relativ selten und verliefen, wie in den Jahren /, nicht sehr gewalttätig.228 Umso überraschender ist es, dass es im Jahre  dort zu einer Welle antijüdischer Gewalt kam, während es im übrigen Zarenreich in dieser Phase ruhig blieb. Darius Staliūnas nennt spezifische Vorfälle, nämlich religiös motivierte Konflikte, als Auslöser, weist aber auch auf die seit den er Jahren veränderten gesellschaftlichen Umstände hin, die zum Ausbruch der Gewalt beitrugen, darunter ein wachsender litauischer Nationalismus, antisemitische Tendenzen in der litauischen Untergrundpresse sowie Veränderungen in den wirtschaftlichen Strukturen, die Juden und Christen verstärkt in Konkurrenz zueinander brachten. Auch spielte es eine Rolle, dass es seit der russischen Pogromwelle / so etwas wie ein Modell, ein PogromParadigma gab, das Gewalt gegen Juden als irgendwie legitim erscheinen ließ.229 In der ersten Hälfte des Sommers  kam es in den Distrikten Panevėžys und Šiaulai im Gouvernement Kaunas zu zwanzig Fällen von kollektiven Übergriffen auf Juden, die aber nicht die Form von Massengewalt annahmen.230 Die Pogrome dieser Welle gehörten Staliūnas zufolge ihrem Typ nach noch zu den kommunalen Unruhen der frühen er Jahre im Zarenreich und unterschieden sich damit von den Pogromen, die in den Jahren - zu stark politisch unterfütterten, heftigen Gewaltausbrüchen gegen Juden führen sollten: »In June , anti-Jewish violence in Konstatinovo, Linkuva and Pašvitynė was, to some extent, a form of entertainment and not consistently an act in which rioters sought to cause as much damage as possible.«231 Für die Welle von  betont Staliūnas gerade die Abwesenheit einer besonderen politischen oder ökonomischen Krise, wie  und , und auch eine verstärkte nationalistische oder antisemitische Agitation war  Friedgut, Labor Violence, S. . »Riots, as they emerged repeatedly in the Donbass, were aimed at specific individuals and groups (certain foremen, tavern keepers, Jews) and specific immediate grievances« (ebd.).  Wynn, Workers, Strikes, and Pogroms, S.  f.  Vgl. Le Foll, The Missing Pogroms of Belorussia, -; Staliūnas, Enemies for a Day, Chapter : Comparative Perspective, S. -.  Staliūnas, How insulted religious feelings, S. ; dazu auch Richter, Antisemitismus in Litauen.  Klaus Richter, Kišinev or Linkuva? Rumors and Threats against Jews in Lithuania in , in: Revista Românã de Studii Baltice şi Nordice, , , S. -, hier S. -.  Staliūnas, How insulted religious feelings, S. .

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nicht zu verzeichnen. Es waren vielmehr drei ganz konkrete Vorkommnisse, die zum Ausgangspunkt der Unruhen in den genannten Distrikten wurden. Sie ereigneten sich typischwerweise zumeist an Markttagen und christlichen Feiertagen, an denen sich größere Menschenmengen bilden konnten und zudem die Bauern der Umgebung in die kleinen Städte kamen. In den Distrikten Panevėžys und Šiaulai kam vor Ostern  ein Ritualmordgerücht auf, als ein Dienstmädchen für kurze Zeit vom Hof ihres Taufpaten verschwunden war und als Grund angab, von Juden gekidnappt und in einem Keller in Konstantinovo festgehalten worden zu sein, von wo sie am Abend angeblich hatte fliehen können. Bei der Untersuchung des Falles veränderte das Mädchen seine Darstellung der Geschehnisse immer wieder. Ihre Instrumentalisierung des Ritualmordvorwurfs zeigt, dass sie dieses Gerücht kannte und voraussetzen konnte, dass ihr Wissen darüber von den anderen geteilt wurde.232 Dieser Vorfall erhöhte nach Staliūnas zwar die ethnischen Spannungen und es kam zu einzelnen Angriffen auf Juden, Pogrome blieben aber aus, obwohl aus Vilnius ein ähnlicher »Ritualmord-Fall« gemeldet worden war, der ähnliche Gerüchte auch in den genannten Distrikten in Umlauf setzte. Doch wurde der Fall von Konstantinovo nicht vergessen.233 Als eine Prozession betrunkener Juden, die den Abschluss ihrer Talmud-Studien feierten, als eine Verhöhnung der Passion Christi interpretiert wurde und als einem bei einem Priester beschäftigten Arbeiter, der Juden mit dem Gewehr bedrohte, die eine Herde auf den Wiesen des Priesters grasen lassen wollten, von einem Polizisten unter Mithilfe der Juden das Gewehr abgenommen wurde, heizte dies die antijüdische Stimmung in den Bezirken an, wo sich die Christen durch die Handlungen der Juden in ihren religiösen Gefühlen beleidigt fühlten. »Rumors about Jews ridiculing the Catholic faith were spread and updated regularly«.234 Aus diesem Gefühl heraus erwuchs der Wunsch nach Rache.235 Der Übergang in kollektives Gewalthandeln wurde in diesem Fall, ähnlich wie in anderen Fällen, durch zwei Gerüchte erleichtert. Das erste Gerücht kolportierte die Schädigungen und Beleidigungen, die Christen durch Juden angeblich erfahren hätten, das zweite ist das typische, handlungsleitende Pogromgerücht, wonach Zar und Zarin, die für die Bauern die höchste moralische und politische Instanz darstellten, einen Ukaz erlassen hätten, wonach man die Juden straflos »schlagen«, ja sogar aus dem Lande treiben dürfe, dass aber jüdischer Besitz von den Kosaken geschützt würde.236 Die von einigen Beobachtern und den Behörden unterstellte Annahme, es handele sich um politisch organisierte Gerüchte, trifft  Zur Verbreitung der Ritualmordlegende in diesem Raum vgl. Żyndul, Kłamstwo krwi; auch Staliūnas, Enemies for a Day, Kapt. : The Blood Libel in Nineeenth Century Lithuania, S. -.  Staliūnas, How insulted feelings, S. .  Richter, Kišinev or Linkuva?, S. .  Staliūnas, How insulted feelings, S. .  Ebd., S. ; Richter, Kišinev or Linkuva?, S. . Nach Richter soll in Gerüchten sogar behauptet worden sein, dass man für jeden getöteten Juden einen Rubel, für jeden Rabbiner sogar vier Rubel Belohnung bekäme (ebd.)

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nicht zu. Es handelte sich nach Staliūnas um eine spontane Verbreitung, die auch dem Zweck diente, die Juden des Ortes, denen man die Gerüchte weitererzählte, in Angst und Schrecken zu versetzen. Die folgenden Pogrome dieser Welle zeigen alle ein ähnliches Muster wie das erste: ein auslösendes Vorkommnis, das sich im Schtetl von Konstantinovo am Sonntag, dem . Juni , während der Fronleichnam-Feiern ereignete. Dort begannen einige Bauern am Morgen Juden, die ihre Waren auf einem Platz nahe der Kirche verkauften, zu attackieren, indem sie die Waren verstreuten und Juden mit Steinen bewarfen. Die Beruhigung der Bauern durch den Ortspolizisten hielt nur kurz an, bevor eine größere Menschenmenge nach Ende des Gottesdienstes begann, Läden anzugreifen und auszuplündern, wobei auch Privathäuser und Beträume angegriffen wurden. Der Polizist hatte sich, selbst in aussichtsloser Lage, in Sicherheit gebracht. Die Gewalt dauerte bis nachmittags um  Uhr an und verursachte einen Schaden von . Rubeln. Zwei Wochen später ereignete sich am . Juni in Girbutkiai im nahe gelegenen Volost Linkuva ebenfalls nach dem Gottesdienst ein Pogrom, bei dem ca. hundert Personen die Handel treibenden Juden auf dem Marktplatz angriffen, sie schlugen und ihre Waren verstreuten. Anschließend zog man durch die Straßen, attackierte Häuser von Juden und versprügelte sie, wobei mehrere der Opfer leichte Verletzungen davontrugen. Ein Polizist wechselte die Seiten, nachdem er die Vergeblichkeit seines Einsatzes erkannt hatte, und beteiligte sich an den Ausschreitungen.237 Am . Juni folgten Ausschreitungen in Pašvitynė nach demselben Muster, wobei die Menschenmenge tausend Personen umfasst haben soll. Die örtliche Polizei hatte in allen drei Fällen versucht, der Gewalt Einhalt zu gebieten, war aber damit jedesmal gescheitert, ja hatte sich dann fallweise sogar an den Ausschreitungen beteiligt. Die bäuerliche Bevölkerung gehorchte der Polizei nicht, die man auf Seiten der Juden sah. Aus diesem Versagen der Polizei, das auch daher rührte, dass die Behörden den Ausbruch von Gewalt nicht erwartet hatten, zog man jedoch Konsequenzen und schickte zur Unterdrückung weiterer Unruhen Kosaken, die zwei weitere Unruhen in Žeimelis am . Juni und in Konstantinovo am . Juli erfolgreich unterdrücken konnten. Ein weiterer kleinerer Vorfall ereignete sich in Pamūše am . Juni, der sich nicht zu einem ausgewachsenen Pogrom entwickelte. Dort griff eine Gruppe von zehn bis zwanzig Bauern mit Stöcken bewaffnet einen Juden an und verletzte in so schwer, dass er später starb, während sie zu Hilfe kommende Juden schwer verprügelten. Anschließend warfen sie alle Fenster eines jüdischen Hauses und eines Bethauses ein.238 Es gab in diesem Sommer noch weitere Gewaltereignisse, in denen Juden tätlich angegriffen wurden, die aber nach Staliūnas nicht über die Konflikte hinausgingen, die sich auch in »friedlichen« Zeiten immer wieder ereigneten und die nun in den offiziellen  Zur Schilderung der Vorgänge Staliūnas, How insulted feelings, S.  f.; siehe auch Richter, Kišinev or Linkuva?, S. , demnach soll auch hier der Vorwurf von Bauern, ein jüdisches Kind habe ein Kruzifix an einen Faden gebunden und es damit herumschwingend gequält, die Gewalt ausgelöst haben (S. ).  Richter, Kišinev or Linkuva?, S. .

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Berichten auch Erwähnung fanden, was in »normalen« Zeiten zuvor nicht der Fall gewesen wäre. Was die Zusammensetzung der Pogrommenge angeht, so sprachen die offiziellen Verlautbarungen von Jugendlichen, Arbeitern und Schafhirten, die Presse schrieb von »Bauernburschen oder Bürschchen«.239 Aus den Befragungen der angeklagten Täter wird nach Staliūnas deutlich, dass es sich tatsächlich um junge, unverheiratete, des Lesens unkundige und besitzlose junge Männer aus den umgebenden Dörfern handelte, die an den Marktorten das Gewalthandeln trugen. Es gab aber auch einen, wenn auch geringen Anteil von Personen über dreißig Jahren.240 Beteiligt waren auch bekannte Kriminelle und als geistig verwirrt geltende Männer. Die kollektive Identität dieses »Mobs« bestand nach Staliūnas primär in ihrem christlichen Glauben, der in Litauen zusammenfiel mit einer sozioökonomischen Struktur, wonach die Bauern katholisch, die Handwerker und Händler aber jüdisch waren.241 Verstärkt wurde diese religiöse Komponente noch durch die Haltung des lokalen Klerus, da die Priester ihrerseits an die Ritualmordlegende glaubten.242 Doch waren es andererseits die lokalen Priester in Konstantinov und Linkuva, die den Fortgang des Pogroms stoppten oder es zumindest (wie in Pašvitynė) versuchten, da sie Gewalt bei allen eigenen religiösen Vorbehalten gegenüber Juden als moralisch nicht vertretbar betrachteten und zudem die folgende Bestrafung ihrer bäuerlichen Klientel fürchteten. Staliūnas zitiert die Antwort, die die Tumultuanten einem Priester gaben, der sie zurückhalten wollte: »How can we not beat Jews when in the town of Konstantinovo they murdered a christian girl, when Jews desecrated our Church and our faith, when they are starting to beat us up here, burn us with vitriol and shoot us!! And the police do not defend us or our faith, we must defend ourselves and our faith ourselves !«243 Wir haben hier also die typische Situation, dass die kollektive Gewalt als Selbsthilfeaktion verstanden wird, wenn die eigene Gruppe physisch wie religiös als bedroht erscheint und die staatlichen Organe keinen Schutz bieten. Die Aktionen gegen die Juden sollten also das Recht, so wie es die Täter verstanden, wiederherstellen, und zugleich hatte man Spaß daran, den Juden einen »Denkzettel« zu verpassen. Dafür spricht nach Staliūnas, dass ein Teil der Menge zuschaute und sich bei den Aktionen amüsierte, zumal diese insgesamt keinen sehr gewalttätigen Verlauf nahmen, obwohl man im Vorfeld den Juden, in einigen Fällen auch den Polizisten mit dem Tode gedroht hatte. Staliūnas kommt deshalb zu dem Schluss, dass jüdischer Besitz während der  Staliūnas, How insulted feelings, S. , zitiert hier aus der Zeitung Varpas , , S.  (übersetzt aus dem Englischen: farm »lads or striplings« WB).  Nach Staliūnas, How insulted feelings, S. , FN , stimmen alle Quellen darin überein, dass es sich um einen Mob von Bauern gehandelt habe. Nur in wenigen Fällen wird von christlichen Händlern als Anstiftern gesprochen.  Ebd., S. .  Staliūnas (ebd., S.  f.), schreibt als Fazit: »There can hardly be any doubt that Catholic clerics were the strongest source of religious animosity toward Jews. At the run of the twentieth century, it was the Catholic periodical press that fostered anti-Jewish stereotypes most consistently«.  Ebd., S. .

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Gewaltaktionen mehr gelitten habe als jüdische Personen. Die Art der gegen Juden ausgeübten Gewalt legt es seiner Meinung nach nahe, dass kaum die Absicht bestand, Juden zu verprügeln oder gar zu töten, sondern dass die Gewalt eher auf eine symbolische Kontrolle des öffentlichen Raumes zielte: »In other words, by such actions the mob sent the Jews a message, namely that they might dwell there, but in public spaces they must obey local Christians.«244 Die Angriffe auf den Besitz hatten zudem auch eine weitere symbolische Dimension, da sie in den Augen der Menge der Wiederherstellung einer gedachten ökonomischen Gerechtigkeit, eines Ausgleichs dienten, da man Juden unfaire Geschäftspraktiken und die Ausbeutung der Bauern zur Last legte. Da es abgesehen von einem Toten nur leichte Verletzungen unter den Juden gab, sieht Staliūnas das Motiv der Unruhen darin, den Juden eine »Lektion zu erteilen«, sie also symbolisch zu degradieren, sie auf »ihren Platz« in der ländlichen Gesellschaft Litauens zu verweisen. Die Antwort der Politik auf die Pogrome Die politische Antwort auf die Gewaltwelle hing von deren Interpretation ab. Zunächst machte man in Regierungskreisen die Anarchisten, Nihilisten bzw. die Sozialrevolutionäre verantwortlich, die das Volk auf die Juden hetzten, um damit Unruhe zu schüren und letztlich einen Umsturz herbeizuführen.245 Auch von jüdischer Seite wurde den Sozialrevolutionären vorgeworfen, »gegenüber dem grausamen Momente« ganz und gar versagt zu haben, da sich die Narodnovoltsy in »abstrakten Betrachtungen darüber« ergangen hätten, ob die Pogrome eine Übergangsetappe und somit einen Anfang der sozialen Revolution bilden könnten.246 Die revolutionäre Partei wandte sich im Juni gegen diese Anschuldigung einer Anstiftung der Progrome, indem sie erklärte, »daß die Angabe des Kaisers und der Regierung, die Angriffe gegen die Juden seien der Aufhetzung politischer Propagandisten zuzuschreiben, durchaus unwahr sei«, da es durchaus nicht ihre Politik sei, das Volk gegen eine Rasse oder Religion im Reiche aufzuhetzen und Privatpersonen  Staliūnas, How insulted feelings, S. .  Vgl. Berk, Year of Crisis, S.  f.; Klier (Russians, Jews, and the Pogroms, S. ) zitiert einen Satz des Zaren Alexander III. auf dem Empfang einer Delegation jüdischer Honoratioren, wonach die Juden bloß als ein Vorwand dienten. Die Pogrome seien das Werk von Anarchisten. Allerdings fügte er später noch hinzu, dass es »sicherlich auch einige ökonomische Gründe gäbe, die dazu beigetragen hätten, so wie die Ausbeutung der Bauern durch die Juden (AZJ, Jg. , .., S. ).  Narodnovoltsy – Name für eine populistische sozialrevolutionäre Gruppierung. Linden, Prototyp des Pogroms, S. , der der Rolle der Sozialrevolutionäre ganze zwanzig Seiten widmete (S. -), schreibt zwar, dass man Angaben über eine »direkte Anteilnahme von Sozialisten an den Pogromen in ihren späteren Phasen« nicht mehr nachprüfen könne, wirft ihnen aber vor, keinerlei Sympathie für die Betroffenen und keine Proteste gegen das Vorgehen der Behörden, die die Pogrome gestützt hätten, geäußert zu haben. Stattdessen habe man die Anwendung von Gewalt gegen die Unterdrückung der Pogrome kritisiert (S. ).

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zu berauben.247 Als sich der revolutionäre Hintergrund nicht erhärten ließ, begann die Regierung die Schuld bei den Juden selbst zu suchen, in deren ökonomischer Ausbeutung der Bauern sie die Ursache für deren gewaltsamen »Protest« sah.248 Es gab auch noch eine dritte Sichtweise, die sich nach Klier schon im Begrifflichen offenbarte, so sprach etwa der Gouverneur von Odessa nicht von Pogromen, sondern von »Zusammenstößen zwischen Russen und Juden«, sah die Gewalt also nicht als eine Einbahnstraße, sondern als einen Konflikt zwischen gleich starken Kontrahenten. Es gab etwa in Odessa eine lange Tradition solcher Zusammenstöße insbesondere an Feiertagen, so dass die Behörden darüber zunächst nicht beunruhigt waren. Für diese Sichtweise sprach, dass Juden in vielen Orten einen großen Bevölkerungsanteil, manchmal sogar die Mehrheit stellten, und dass es ihnen mancherorts erlaubt war, sich in Selbstwehrgruppen zu organisieren. Zudem verfügten Juden zum Teil auch über Waffen.249 Berichte über Pogrome nennen denn auch häufig jüdische »Provokationen« als Anlass für die Ausschreitungen, während andere allerdings genau das Gegenteil behaupteten und den Juden Feigheit vorwarfen. Zwar erhöhte sich die Aufmerksamkeit der Obrigkeit für Gewaltereignisse und es wurden Maßnahmen für einen besseren und schnelleren Schutz getroffen, doch richteten sich die gesetzlichen Maßnahmen schließlich primär gegen die Juden, da die Berichte hoher Regierungsbeamter die Schuld bei ihnen sahen und die gemäßigt liberale Politik Alexanders II. für gescheitert erklärten. »Jüdische Ausbeutung« und »jüdischer Fanatismus« bildeten ja ohnehin die Grundüberzeugungen der hohen russischen Beamten vom Innenminister über die Gouverneure bis hinunter auf

 Zit. in AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Die AZJ schenkte dieser Verteidigung der Sozialrevolutionäre jedoch keinen Glauben und sah Beweise für das Gegenteil vorliegen, etwa, dass man unter zweitausend Verhafteten in Odessa ganze elf zur Sozialistischen Partei gehörige Personen festgenommen habe, in deren Taschen man an das Volk gerichtete Proklamationen gefunden habe, in denen dazu aufgefordert wurde, die »Juden und Herren totzuschlagen« (ebd.).  Die revolutionären sozialistischen und populistischen Parteien, der viele junge Juden angehörten, teilten die Auffassung von der Ausbeutung der Bauern durch die Juden, die sie auf die »ungesunde« Berufsstruktur der Juden im Zarenreich zurückführten, und beurteilten die Pogrome teilweise durchaus positiv, da sie in ihnen – fälschlicherweise – den Beginn einer gegen die Herrschenden gerichteten Umsturzbewegung sehen wollten, zumal es vereinzelt auch Übergriffe gegen den Adel gegeben hatte. Die Pogrome waren aus ihrer Sicht gegen die Juden als parasitäre Klasse und nicht als religiöse Gruppe gerichtet gewesen. Haberer sieht die Erwartung, dass sich aus den Pogromen eine soziale Revolution entwickeln könnte, als nicht völlig unrealistisch für die damalige Situation im Zarenreich an. Die Regierung teilte die Erwartung ja ebenfalls. Viele der Revolutionäre verabschiedeten sich allerdings bald von dieser Hoffnung bzw. hatten sie von Beginn an nicht geteilt. Vgl. dazu: Haberer, Jews and the Revolution, S.  ff.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f. So wurde nach Klier für die Übergriffe zunächst das Wort »Unruhen« (bezporiadki) verwendet, mit dem man den Aufruhr von Bauern oder städtische Unruhen bezeichnete, bevor sich der Begriff Pogrom durchsetzte, der sich spezifisch auf Angriffe gegen Juden bezog (S. ).

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die Ebene der städtischen Verwaltungen sowie der Polizei und des Militärs.250 Klier zitiert aus den Quellen den Militärgouverneur von Kharkov, der diese Anklagen auf den Punkt bringt: »In all areas of public life, the Jews appear as a dark force, directed against the Russian people and the existing state order, against whom, the local population is helpless to employ legal matters, either as individuals or through the agency of the city.« Die Juden wurden als »an organized band of robbers« angesehen.251 Graf Kutaisov, der bereits im Juli  durch den Ansiedlungsrayon gereist war und die Berichte der örtlichen Stellen zur Kenntnis genommen hatte, wies in seinem mehrere hundert Seiten umfassenden Bericht die von Seiten der Juden aufgestellte These zurück, die Probleme lägen vor allem in ihrer Rechtlosigkeit, er sah die Schuld ebenfalls auf ihrer Seite: Er war der Meinung, dass die Ursache für die Feindseligkeit gegenüber den Juden in deren Verhalten selbst zu suchen sei, das er in den schwärzesten Farben malte. Die Juden würden gehasst wegen ihrer Exklusivität, ihrem Bemühen, Verpflichtungen zu entgehen (wie dem Militärdienst), ihrer Forderungen nach mehr Rechten und Vorrechten als die russische Bevölkerung genieße, wegen des Meidens anstrengender Handwerke (Steinmetz, Zimmermann, einfacher Arbeiter), der Ausbeutung besonders der ländlichen Bevölkerung und schließlich wegen ihres »Nationalcharakters«, der sich durch Unterwürfigkeit in Zeiten der Schwäche und extremer Arroganz in Situationen, in denen sie Schutz von außen genössen, auszeichne.252 Die Ablehnung der Juden durch die Bevölkerung hatte durch die Pogrome noch zugenommen, sie wurden für alle Probleme und Vorkommnisse verantwortlich gemacht.253 A. Linden beklagte, dass »die gesamte Wirksamkeit der Regierung […] nach allen Seiten hin eine fortlaufende Rehabilisierung der Pogromanstifter« gewesen sei und dass die »moralisch Beschuldigten […] eigentlich die Juden [waren] und nicht ihre Mörder und Räuber«.254 Neben den kurzfristigen Maßnahmen, die Pogromkrise durch die Stationierung von Truppen und die Bestrafung der Bauern (durch Prügel) oder gar – oft im Rückgriff auf alte, lange nicht mehr angewandte Bestimmungen –, durch die Vertreibung von illegal in der Stadt lebenden Juden (z. B. in Kiew, Orel und Moskau) zu lösen, musste die Regierung für die offensichtlich bestehenden Probleme auch eine langfristige und grundsätzliche Lösung finden. Innenminister Ignatiev etablierte mit Zustimmung des Zaren in jedem Gouvernement eine Kommission, die die »Judenfrage«, d. h. die »unnormalen Beziehungen«, die zwischen der russischen und  Vgl. dazu mit zahlreichen Belegen Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff.; ebenso Berk, Year of Crisis, Kap. III.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f. Dieser Eindruck wurde nach den Pogromen noch dadurch verstärkt, dass die Behörden bei der Untersuchung der den Juden entstandenen Schäden auf sehr viel geringere Summen kamen, als die geschädigten Juden angegeben hatten. Z. T. versuchten Juden durch private Übereinkommen mit den Bauern, etwa durch Zusicherung, sie nicht vor Gericht zu bringen, zu Entschädigungen zu kommen, was von den Behörden als versuchter Betrug gewertet wurde (S. ).  Ebd., S. ; siehe auch Berk, Year of Crisis, S. .  Year of Crisis, S. .  Linden, Prototyp des Pogroms, S. .

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jüdischen Bevölkerung bestanden, untersuchen sollte. Es sollten drei Fragen untersucht werden: ) Welche Aspekte der ökonomischen Tätigkeit von Juden sind besonders schädlich für die einheimische Bevölkerung? ) Welche praktischen Schwierigkeiten ergeben sich aus der bestehenden Rechtslage an den Orten, wo es um den Ankauf bzw. Verkauf von Land an Juden, den Alkoholhandel sowie Wucher geht? ) Welche Gesetzesänderungen sind nötig, um sicherzustellen, dass die Juden die Gesetze nicht umgehen können und welche gesetzlichen und Verwaltungsmaßnahmen sind zu treffen, um den negativen Einfluss der jüdischen Wirtschaftstätigkeit zu hemmen? Dazu sollten noch statistische Daten zum Anteil der jüdischen Bevölkerung, zu ihrer Rolle im Alkoholhandel, zur Zahl bei Juden angestellter Personen usw. erhoben werden.255 Kritiker wandten zu Recht ein, dass es hier allein um die Verurteilung der Juden gehe,256 doch geben die Untersuchungsberichte ein ungeschminktes Bild vom Stand der christlich-jüdischen Beziehungen aus Sicht der christlichen Bevölkerung und Verwaltung. Tatsächlich zeichnete sich die Arbeit der ganz unterschiedlich zusammengesetzten Kommissionen, wobei in den meisten Gouvernements auch (zumeist ein bis zwei) Juden daran teilnahmen, durch eine große Offenheit aus, so dass sich Bürger ermutigt fühlten, eigene Vorschläge an die Kommissionen einzusenden. Es gab sogleich Forderungen, dass die Arbeit der Kommissionen in den Monaten September und Oktober  der Presse und Öffentlichkeit bekannt gemacht würde. In vielen Provinzen wurden die Sitzungsberichte auch veröffentlicht. Zwar hatten die jüdischen Kommissionsmitglieder einen schweren Stand, doch nach Berk gab es in einigen Fragen durchaus auch Unterstützung für jüdische Belange seitens nicht-jüdischer Mitglieder.257 Führende jüdische Vertreter trafen sich zweimal in St. Petersburg (September  und April ) zur Beratung über die Vorschläge der Regierung. Auch die jüdische wie nichtjüdische Presse nahm regen Anteil an der Debatte. Nach Klier hatten diese Erörterungen den paradoxen Effekt, dass die Judengegner wie die Philosemiten darin übereinkamen, dass Juden eine separierte Minderheit seien, die von ihrer christlichen Umwelt entfremdet sei. Daraus resultiere ein schädlicher ökonomischer Einfluss der Juden im Zarenreich. Dies ist nach Klier ein Zeichen dafür, dass der Optimismus der Akkulturation und Integration der er Jahre verflogen war und seit den er Jahren einer zunehmenden Judenfeindlichkeit bis hin zur ideologischen, von der Presse angefeuerten Judeophobie Platz gemacht hatte. Damit erschien die antijüdische Gewalt als letzte logische Steigerung dieser negativen Entwicklung.258 Dennoch gab es in den Kommissionen in den Fragen der praktischen  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f.  Zur skeptischen Reaktion auf diese Befragung von Zünften und Gesellschaften siehe im Ausland auch die AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Berk (Year of Crisis, S.  f.) beschreibt den schwierigen Stand dieser jüdischen Kommissionsmitglieder, die sich mit Unwissenheit, Vorurteilen und Anschuldigen gegenüber den Juden konfrontiert sahen. In manchen Kommissionen wurden sie und nicht-jüdische Fürsprecher der Juden auch benachteiligt.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f.

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Lösungen ganz unterschiedliche Positionen, da man durchaus die Nachteile von Restriktionen des jüdischen Handels für die ländliche Ökonomie erkannt hatte oder für die Abschaffung der Ansiedlungsbeschränkungen für Juden plädierte. Anfang Dezember nahm eine Kommission unter Leitung von D. V. Gotovtsev ihre Arbeit auf, die die Berichte der Provinzkommissionen durchsehen und die »Judenfrage« in ihrer Totalität erörtern sollte. Als eine grundlegende Veränderung in der Haltung zur »Judenfrage« sieht Klier die Abkehr von der Annahme, dass die Reformpolitik die Juden zu produktiven Staatsbürgern im Sinne der Regierung und Bevölkerung machen würde. Man berief sich dabei auch auf die in dieser Zeit hervortretende antisemitische Bewegung in Deutschland, Österreich und Frankreich und sah deren Forderungen als Beleg für ein Scheitern der Emanzipation selbst in diesen fortgeschrittenen Ländern.259 Diese Einstellung hatte problematische Konsequenzen, da es nun nicht mehr nur um den Schutz der Landbevölkerung vor jüdischer Ausbeutung ging, sondern sich Einschränkungen auch auf die emanzipierten gebildeten Juden in den Städten bezogen, etwa auf die Rechtsanwälte. Auch gab man die Unterscheidung zwischen den schädlichen jüdischen Ausbeutern auf dem Lande und der nützlichen gebildeten jüdischen Elite auf und verfocht nun ein Konzept der einigen Judenheit, der man zudem konspiratorische Absichten unterstellte. Durch diesen veränderten Ansatz sah die Gotovtsev-Kommission für sich zwei Aufgaben: einmal die Einführung kurzfristiger, temporärer Regelungen, um die aktuelle Krise auf dem Lande zu beheben und Pogrome zu verhindern, zum anderen eine nur langfristig zu realisierende vollständige Reformierung des rechtlichen Status der Juden. Die Kommission schlug sieben Sofortmaßnahmen vor, die auf die Entfernung der Juden vom Lande zielten (Ansiedlungsverbot; Möglichkeit der Vertreibung; Einschränkung der Tätigkeit von Juden auf dem Lande durch das Verbot, Land zu kaufen und mit Alkohol zu handeln, usw.) und deren Tätigkeit ganz auf die Städte einschränkte. Bestehende Verträge sollten jedoch für ihre Laufzeit weiterhin gelten, doch wurde der Abschluss neuer Verträge verboten. So einschneidend sich diese Empfehlungen der Gotovtsev-Kommission an den Innenminister ausnahmen, so war ihr Geltungsbereich doch schon dadurch begrenzt, dass der Begriff »kleine Stadt« (mestechko) sehr unscharf war und zudem gerade die kleineren Orte betraf, in die sich die bäuerliche Bevölkerung an Markttagen begab und wo sich am häufigsten Pogrome ereignet hatten. Zur Gewaltprävention konnten also die vorgeschlagenen Maßnahmen kaum beitragen. Da diese aber den Vorstellungen des Innenministers Ignatiev entsprachen, nutzte dieser sie für seinen Entwurf der sog. Mai-Gesetze vom März , dem er noch zwei eigene Punkte hinzufügte, nämlich, dass Handwerker, die sich außerhalb des Ansiedlungsrayons niederließen, ihren Beruf nur in Städten und nicht auf den Dörfern ausüben dürften, und dass Juden nicht an Sonntagen und christlichen Feiertagen Handel treiben dürften. Klier beschreibt den Versuch des Ministers, seinen Entwurf möglichst zügig und ohne allzu genaue Prüfung seitens des Staatsrates (in dem noch viele von  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  f.

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Alexander II. berufene hohe Beamte aus der Reformzeit saßen) oder seiner Ministerkollegen durchzusetzen. Dies gelang jedoch nicht, da einige Minister die Belange ihres Ressorts, etwa der Justiz und der Wirtschaft, betroffen sahen und zudem nicht die judeophobe Sicht des Innenministers teilten.260 Sie wiesen auf die fatalen wirtschaftlichen Folgen dieser Restriktionen für die ökonomischen und sozialen Beziehungen zwischen Juden und Christen auf dem Lande sowie für den Staatshaushalt hin, der einen nicht geringen Teil seiner Steuereinnahmen aus dem Alkoholhandel bezog, und sie machten rechtliche Bedenken etwa gegen die Vertreibung von Juden geltend und verwiesen auf die Nachteile für die Gutsbesitzer. Im Ministerrat bestand Konsens darüber, den Entwurf von Ignatiev in dieser Form nicht zu ratifizieren.261 Am . April  entschied sich der Rat, drei der vier Vorschläge von Ignatiev anzunehmen, wenn auch nur in Form zeitlich begrenzter Maßnahmen. Das Prinzip, Juden vom Lande in die Städte zu schaffen, wurde abgelehnt, da diese einen solchen Zustrom nicht verkraften würden. Man stimmte aber zu, Juden eine neue Ansiedlung auf dem Lande zu verbieten. Damit hatte Ignatiev doch einen nicht geringen Teil seiner Pläne durchsetzen können. Allerdings konnte er sein Kernanliegen, die Juden aus dem Handel mit Alkohol auszuschalten, nicht durchbringen, obwohl bekanntlich viele der Unruhen aus Konflikten in von Juden betriebenen Schänken entstanden waren.262 Der Ministerrat schlug dem Zaren folgende »zeitlich begrenzten Verordnungen« vor: ) Es ist den Juden verboten, sich außerhalb von Städten und Kleinstädten niederzulassen, eine Ausnahme sollten die bereits bestehenden jüdischen landwirtschaftlichen Kolonien bilden. ) Kauf- und Pachtverträge im Namen von Juden außerhalb von Städten und Kleinstädten werden zeitweilig außer Kraft gesetzt. ) Juden dürfen an Sonntagen und an den zwölf höchsten kirchlichen Feiertagen keinen Handel treiben. ) Diese drei Verordnungen sollen nur im Ansiedlungsrayon gelten. ) Innen- und Finanzministerium sollen die lokalen Behörden anweisen, die Regeln für das Betreiben von Lokalen durch Juden strikt durchzusetzen. ) Der Zar wurde gebeten, eine spezielle Kommission einzusetzen, die alle Fragen besprechen sollte, die im Ministerrat im Zuge der Diskussion über die neuen Gesetze aufgekommen waren. Die vom Zaren am . Mai  ratifizierten und am . Mai verkündeten Gesetze umfassten dann allerdings nur die ersten vier Punkte. Diese Gesetze wurden beglei Vgl. Berk, Year of Crisis, S.  ff., zu den Einwänden der anderen Ministerien gegen den Entwurf des Innenministeriums.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff.  Trotz dieses Erfolges musste Ignatiev noch Ende Mai zurücktreten, da sein Vorschlag, eine beratende Volksversammlung einzuberufen, ihn beim Zaren und beim Ministerpräsidenten Pobedonovtsev in Ungnade fallen ließ (ebd., S. ).

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tet durch eine Resolution, in der die Bevölkerung und die verantwortlichen lokalen Behörden vor Übergriffen gegen die Juden bzw. vor Inaktivität gewarnt wurden.263 Über die tatsächlichen Wirkungen dieser Gesetze gehen die Meinungen bis heute auseinander. Zeitgenössische jüdische Stimmen hielten sie gar für schlimmer als die Pogrome selbst. Der bekannte Historiker Simon Dubnow nannte sie »gesetzliche Pogrome«, doch waren die Gesetze so schlampig verfasst worden, dass viele Unklarheiten über ihre zeitliche Geltung, den Adressatenkreis usw., die zu verhängenden Strafen bei Übertretungen, über ihre Durchsetzung (z. B. Vertreibungen durch die Polizei) bestanden, die ihre Anwendung erschwerten. Nach Klier legten die Provinzialbehörden die Gesetze möglichst strikt zuungunsten der Juden aus, während sie zugleich die Kategorie des »illegalen jüdischen Einwohners« möglichst weit auslegten, was oft zu empörenden Entscheidungen führte.264 Die unklaren Formulierungen des Gesetzes sowie die unter Juden eingübte Praxis, sich den Gesetzen zu entziehen, führten jedoch dazu, dass sie, wie Berichte der Gouverneure beklagten, nicht voll durchgesetzt werden konnten, zumal Juden die Hilfe der lokalen Einwohner erhielten.265 Noch weiter erleichtert wurde die Umgehung der Gesetze durch einen Beschluss des Senats (März  und Juli ), dass Juden keiner förmlichen Registrierung bedurften, um den Status eines permanenten Einwohners nachzuweisen, dazu reichten informelle Übereinkommen zwischen den beteiligten Parteien. Wie es die judeophobe Presse von Anfang an vorausgesagt hatte, blieben die Mai-Gesetze weitgehend wirkungslos bzw. hatten eher nicht intendierte negative Nebenwirkungen, etwa eine große Zahl von Juden ohne erkennbare Mittel zum Lebensunterhalt (Luftmenschen) oder die Tatsache, dass viele Schänken zwar formal keine jüdische Besitzer hatten, aber von ihnen verdeckt betrieben wurden usw. – Dennoch blieben die Mai-Gesetze, eigentlich als »zeitlich begrenzte Verordnungen« erlassen, bis zur Revolution im März  in Kraft. Zwar ebbte die Pogromwelle nach dem Aufflackern im Sommer , kurz nach dem Erlass der Gesetze, in den Folgejahren ab und es kam im restlichen . Jahrhundert nur noch zu vereinzelten weiteren Ausschreitungen im Zarenreich,266 doch  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .  Ebd., S. -. Es kam in vielen Orten neben Ausweisungen auch zu weiteren Einschränkungen für bestimmte Berufsgruppen, etwa gegen jüdische Apotheker in St. Petersburg und Moskau, die ihre Geschäfte zwangsweise aufgeben mussten, gegen jüdische Studenten und Eisenbahnbeamte in Kiew, Musiker und Dienstboten, deren Verträge gekündigt oder deren Wohnung in bestimmten Stadtvierteln untersagt wurde (Jg. , Heft , .., S. ).  Die Juden erfuhren jedoch in vielen Orten die Unterstützung aus der Bevölkerung, etwa seitens der Kaufmannschaft, der christlichen Kommilitonen usw. (vgl. AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Jg. , Heft , .., S.  f.).  Neben den oben beschriebenen Pogromen in Ekaterinoslav, Rostow am Don () und Nischni Nowgorod () kam es vereinzelt auch in den er Jahren zu Pogromen, so  in Starodub (Gouvernement Chernigov),  in Schpola/Spola (Gouvernement Kiew) und Kantakusenka (Gouvernement Cherson) und zu Ostern  in Nikolajew

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dürfte dies nicht auf die Wirkung der Mai-Gesetze zurückgehen, sondern eher auf die größere Aufmerksamkeit der Behörden unter dem neuen Innenminister, Graf Dimitri Tolstoi, sowie auf die restriktivere Politik gegenüber Juden unter Zar Alexander III., die eher auf Segregation von Juden und Christen sowie auf eine Einschränkung der ökonomischen Beziehungen zwischen beiden abzielte.267 Eine wichtige Rolle spielten dabei auch die Reaktionen auf Seiten der Juden. Die Pogromwelle hatte nicht nur eine kurzfristige Flucht- und Emigrationswelle unter ihnen ausgelöst, sondern führte auch zu einer langfristigen und grundsätzlichen Umorientierung weg von der Assimilation an die russische Kultur und Gesellschaft hin zu einer stärkeren innerjüdischen Ausrichtung.268 Politischer Druck der internationalen Gemeinschaft auf das Zarenreich Unterstützung erhielten die russischen Juden durch die internationale Gemeinschaft, da die Pogrome international Empörung, Proteste und Petitionen an die russische Regierung auslösten. Bereits im Juni  berichtete die AZJ, dass die »Judenverfolgungen in Rußland« die europäischen Regierungen veranlasst hätten, über die Frage zu verhandeln, ob ein diplomatischer Schritt in St. Petersburg dahingehend unternommen werden sollte, auf die störende Rückwirkung der Unruhen auf die internationalen Geschäfts- und Handelsverbindungen hinzuweisen. Allerdings erreichten die Berichte Westeuropa und die USA oft mit großer Verspätung, was den Höhepunkt der Proteste und Kritik Anfang  erklärt.269 Die AZJ konstatierte im Mai , dass, abgesehen von einigen ultramontanen und reaktionären Blättern, die internationale Presse gegen die »russischen Barbareien von oben und von unten entschieden Front gemacht« habe.270 Es gab überall auf der Welt antirussische Protestdemonstrationen, das Problem wurde in nationalen Parlamenten





 

(Gouvernement Ekaterinoslav). Siehe dazu: Golczewski, Pogrome in der Ukraine, S. ; Linden, Prototyp des Pogroms, S. , spricht für die er Jahre ebenfalls von den Pogromen in Starodub , Schpola und Nikolajew, zusätzlich auch von Łodz . Klier erwähnt nur den Fall Starodub. »Instead of ›merging‹ the Jews with the wider Christian community, the state must endeavour to protect the Gentiles from the myriad forms of Jewish exploitation. Such a goal was best secured by isolating and restricting the Jews …« (Klier, The Concept of ›Jewish Emancipation‹, S. ). Damit wurde die Basis für neue kollektive Gewalt gelegt, wie sie dann in den Pogromen von  bis  in Erscheinung trat. Die Jahre / werden oft als Wendepunkte in der modernen jüdischen Geschichte angesehen, doch warnen Klier und andere davor, den Zäsurcharakter dieser Jahre überzubetonen, da die Pogromwelle eher bereits bestehende Tendenzen verstärkt habe und diese nicht derart umfassend waren wie angenommen, dennoch waren sie der Ausgangspunkt einer »new Jewish politics« (Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff.). Vgl. dazu den Abschnitt: Foreign Outrage bei Berk, Year of Crisis, S.  ff.; zu den Reaktionen aus dem Ausland vgl. bereits im Jahre : Linden, Prototyp des Pogroms, S.  ff. Die Großmächte und die Judenverfolgungen in Russland II, in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. -.

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debattiert und es bildeten sich Hilfsorganisationen bzw. es gab Hilfsangebote für die Pogromopfer und die auswanderungswilligen Juden.271 Hinzu kamen wegen der Emigrationswelle Probleme an den Grenzen zu den Nachbarstaaten. Die russischen Obligationen und Kapitalanlagen verloren an den internationalen Börsen an Wert, und große ausländische Bankhäuser brachen ihre Verbindungen zu den russischen Instituten ab.272 Die Pogrome boten den westlichen Staaten auch einen Vorwand, sich in die inneren Angelegenheiten des Zarenreiches einzumischen.273 Dazu trug zum Teil auch die Sensationsberichterstattung über die Ausschreitungen in den jüdischen Zeitungen im Lande sowie in der ausländischen Presse bei.274 Angefeuert und weit verbreitet wurden diese Proteste vor allem durch Sonderkorrespondenten der britisch-jüdischen Zeitungen – mit Horrorgeschichten von Juden, die lebendig verbrannt worden seien; von einer riesigen Zahl an Morden und Vergewaltigungen, zum Teil mit Todesfolge; Geschichten von einer großen Zahl von Pogromisten, die von jüdischen Selbstwehreinheiten getötet worden seien; mit Pogromberichten aus Städten, in denen es gar keine Unruhen gegeben hatte, usw.275 Insbesondere die Serie sensationalistisch aufgemachter Reportagen über Vergewaltigungen in der »Jewish World«, die die Londoner Times für ihre Reihe anklagender Berichte über die Pogrome Anfang  nutzte, die in viele Sprachen übersetzt sowie von der Times noch in einer Broschüre zusammengefasst wurden, prägte in Westeuropa und den USA das Bild der Pogrome und führte zu Protestdemonstrationen in europäischen Städten und weltweit zur Einrichtung von Fonds zur Unterstützung der Opfer und der Flüchtlinge.276 Die britische Regierung agierte diplomatischem Brauch folgend zurückhaltend, lehnte eine Parlamentsdebatte über die Lage der Juden ab und sah die Pogrome als innere Angelegenheit Russlands an, zumal dieses äußerst empfindlich auf diplomatische Einmischungen  Siehe: »Schmach des Jahrhunderts«, in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. -.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; die AZJ beschreibt , wie sich die »Macht des öffentlichen Credits« zunehmend negativ auf alle Sparten der Handelstätigkeit, der Industrie und der Finanzwirtschaft Russlands auswirkte (Jg. , Heft , .., S.  f.).  Die AZJ beklagte allerdings in ihrem Leitartikel »Die Großmächte und die Judenverfolgungen«, dass die Regierungen der USA und Großbritanniens zögerten, sich zugunsten der Juden in die inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen (Jg. , Heft , .., S. -).  Berk schreibt sogar, dass in den jüdischen Wochenzeitungen Russkii Evrei und Raszvet sowie Nedel’naia khronika Voskhoda neben den dramatischen Schilderungen der Pogromgewalt auch jede Woche Berichte über individuelle Übergriffe gegen Juden zu lesen waren, die von ermordeten jüdischen Familien, von Schlägen und Vergewaltigungen sprachen (Year of Crisis, S.  und  f.). Die jüngste und gründlichste Darstellung von Klier vermittelt dagegen ein anderes Bild.  Vgl. zu diesen Übertreibungen auch die Berichterstattung in der AZJ zur »Verfolgung der Juden in Südrussland« ab dem Heft , vom ... Klier geht im Epilog seines Buches auf diese Übertreibungen ein und gibt dafür zahlreiche Beispiele (Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff.).  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  und  ff.

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reagierte.277 Das britische Außenministerium veröffentlichte daraufhin, um den politischen Druck seitens jüdischer Abgeordneter im britischen Parlament zu verringern, auf der Basis von Berichten seiner Konsuln in Südwestrussland im sog. »Blue Book« ein ganz anderes Bild vom Ausmaß der Gewalt. Vor allem die Berichte von Vergewaltigungen und die Verschwörungstheorien wurden weitgehend zurückgewiesen, so dass auch die Times »zurückrudern« musste. Dies bedeutete einen erheblichen Rückschlag für die internationale Protest- und Hilfsbewegung.278 Das Russisch-Jüdische Komitee legte mit neuen Brutalitätsberichten nach und zog die Aussagen der Konsuln in Zweifel, was diese zu erneuten detaillierten Darstellungen veranlasste, die das Außenministerium als zweites »Blue Book« publizierte. Darin räumten die Konsuln zwar ein, dass es schwierig sei, an genaue Informationen zu kommen, dass aber die Berichte der Times weit übertrieben und in einigen Fällen völlig aus der Luft gegriffen seien. Die russische Regierung hatte bereits Ende , alarmiert durch die britischjüdische Petitionskampagne, eine Aufstellung der zur Verhinderung von Pogromen ergriffenen Maßnahmen zur Publikation erarbeitet, um die Ernsthaftigkeit der eigenen Anstrengungen zu dokumentieren. Es wurde auf die hohe Zahl der Verhafteten und der Angeklagten verwiesen. Der publizierte Bericht warnte zudem davor, dass ausländische Interventionen die Beziehungen von Juden und Christen im Zarenreich noch weiter verschlechtern würden. Im Ausland kam dieser Bericht jedoch schlecht an und wurde geradezu als Beleg für die Unfähigkeit und Passivität der russischen Behörden angesehen, was das russische Innen- wie Außenministerium zu weiteren Rechtsfertigungskampagnen motivierte, um diese Kritik zu entkräften.279 Besonders die groß aufgemachten Berichte über grausame Vergewaltigungen führten zu internationaler Empörung und zum Anlaufen von Hilfsbemühungen für die Opfer, was wiederum die Polizeiführung dazu veranlasste, einen genauen Bericht, insbesondere über den Fall von Balta, wo Mutter und Tochter gleichzeitig vergewaltigt worden sein sollen, anzufordern. Die Welle von Petitionen, Protestveranstaltungen und Gründungen von Hilfsfonds vor allem in England und den USA übte Druck auf die russische Politik aus, während andere Länder, die auf gute Beziehungen zum Zarenreich setzten, wie Frankreich, das Deutsche Reich und die Habsburgermonarchie, sehr viel zurückhaltender agierten.280 Die Beziehungen zu den Nachbarländern wurden allerdings durch die anhaltende Emigration von Juden belastet, während es in Russland selbst zu Konflikten darüber kam, ob die Regierung die Auswanderung der jüdischen Untertanen nun erlauben sollte oder ob sie weiterhin verboten bliebe, zumal das Innenministerium unter Ignatiev dazu eine schwankende Haltung einnahm, während jüdische Gemeindevertreter und die jüdische Presse auf eine offizielle Erlaubnis zur Emigration drängten. Ignatiev    

Berk, Year of Crisis, S. . Vgl. Klier, The atrocity debate, ebd., S.  ff. Ebd., S.  f. Vgl. dazu ausführlich ebd., S.  ff.

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berief im April  eine »Konferenz jüdischer Gemeindevertreter« ein, um über die Lage der Juden zu beraten. Die Konferenzmehrheit lehnte es ab, von der Regierung die Konstituierung eines Auswanderungskomitees zu verlangen. So blieb die Konferenz letztlich ergebnislos.281 Der Nachfolger von Ignatiev, D. A. Tolstoi, war für die Aufrechterhaltung des Emigrationsverbots und akzeptierte auch die Repatriierung von Juden durch Hilfsorganisationen wie die Alliance Israélite Universelle und das britische Russisch-Jüdische Komitee, verbot aber gleichzeitig auch die Austreibung von »illegalen Juden« aus den Städten.282 Klier betont aber vor allem den schweren finanziellen Schaden, den das Zarenreich durch die Pogrome erlitt. Dies betraf sowohl die direkten internen Folgen wie den Schaden durch die Zerstörung und den Raub jüdischen Besitzes, die Absage von Messen und Märkten, den Zusammenbruch des Handels in Südwestrussland, die massenhafte Abwanderung283 sowie die externen Folgen, etwa den Stopp von Warenlieferungen britischer Firmen, den Verfall der Kreditwürdigkeit Russlands, Verluste an den internationalen Aktienbörsen sowie den Rückzug ausländischer Investoren.284 Klier spricht von einer außenpolitischen Krise des Zarenreiches, zumal die »Russophoben« nun einen Anlass hatten, Russland als rückständige, unzivilisierte Gesellschaft zu brandmarken. So berichtete in Deutschland die AZJ in sehr abschätziger Weise über »die Russen«, insbesondere den zivilisatorischen Rückstand der Bauern.285 Etwas Luft verschaffen konnten sich die russische Regierung und auch die liberalen Zeitungen, als es im Sommer  ausgehend von Neustettin auch im  Lingen, Prototyp des Pogroms, S.  f.  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. .  So zählte zu den Nebenfolgen der Ausweisung bzw. der Abwanderung von Juden, dass nun Hausbesitzer ihre Mieter verloren und bei den Banken in Zahlungschwierigkeiten gerieten, so dass viele Häuser zwangsversteigert werden mussten. An vielen Orten kam es zu einer Entwertung von Immobilien, die Neubautätigkeit brach ein usw. (AZJ, Jg. , .., S. ).  Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S.  ff. Die Juden bekamen aber auch Unterstützung durch ihre christlichen Handelspartner. So überreichten die Moskauer Kaufleute Mitte Mai  dem Finanzministerium eine Denkschrift zur »Judenfrage«, in der sie auf den durch die »Judenhetzen« entstandenen »empfindlichen Schaden« im gesamten russischen Handel hinwiesen, der bei weiteren Unruhen noch bedrohlichere Folgen haben würde (abgedruckt in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  »Bekanntlich wird Ostern von den Russen als größtes Fest gefeiert. Es geht dann regelmäßig etwas bunt zu […]. Dann wird gewöhnlich der letzte Heller durch die Kehle gejagt und schließlich alles versetzt, was nicht niet- und nagelfest ist. Der Bauer zieht sich den Rock vom Leibe, verkauft ihn, bezecht sich und taumelt in Hemdsärmeln heim« (AZJ, . Jg., Heft , .., S.  f.). Doch ging es nicht nur gegen die Bauern. Die Zustände in Russland werden insgesamt äußerst negativ geschildert: »Alles, was in der letzten Zeit in Rußland geschehen, zeugt von den wilden Leidenschaften, die nach allen Seiten hin in diesem Reiche rege sind und in der Tiefe noch viel mehr und viel Ärgeres zu decken scheinen, als bis jetzt zu Tage getreten, so daß in der Reihe der Verbrechen und Schandtaten auch eine Judenverfolgung erscheinen zu sehen, kaum auffallen kann, noch dazu, da auf eine solche seit Jahren von Seiten der Presse mit der ungestörtesten Offenheit gedrängt worden ist« (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).

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Deutschen Reich und  während der Tisza-Eslar-Affäre auch in Ungarn zu antijüdischen Ausschreitungen kam, da man den an Russland gerichteten Vorwurf des »Barbarentums« nun an diese Länder zurückverweisen konnte.286

 Klier schreibt, dass der Ritualmordprozess und die ungarischen Ausschreitungen von  der liberalen Presse in Russland Gelegenheit gaben, ihren Patriotismus zu demonstrieren und die Kritiker Russlands nun ihrerseits im Namen liberaler Prinzipien zu attackieren (Imperial Russia’s Jewish Question, S. ).

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. Antijüdische Ausschreitungen in Mitteleuropa Die weltweit Empörung und Entsetzen auslösende Welle der russischen Pogrome war in den er Jahren aber nicht ohne Parallele in anderen Regionen Europas, in denen sich Ausschreitungen gegen Juden, teils ebenfalls wellenförmig, ereigneten, wenn auch zumeist auf niedrigerem Gewaltniveau als in Russland. In diesen Jahren tauchte der Ritualmordvorwurf wieder auf und wurde zu einem weit verbreiteten Phänomen, das in den /er Jahren immer wieder den Anlass zu antijüdischen Ausschreitungen bildete. Antisemitische Agitation und die Welle antijüdischen Ausschreitungen in Pommern und Westpreußen  In der Erforschung der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland ist die Facette der kollektiven Gewalt gegen Juden im »langen . Jahrhundert« bis in die frühen er Jahre kaum beachtet worden. Dies hat sich seitdem geändert, und es finden sich eine ganze Reihe von Fallstudien zu diesem Thema.1 Noch vor Ausbruch der Pogromwelle im Zarenreich kam es im Deutschen Reich zu zwei kleineren antijüdischen Ausschreitungen im Zentrums Berlins, über die allerdings wenig bekannt ist. In der Silvesternacht / ereigneten sich in den Cafés Bauer und National in der Friedrichstraße antisemitische Tumulte, als dort eine Anzahl von Leuten mit dem Ruf »Hie Antisemiten, nieder mit den Juden« hineinstürmte und es zu Prügeleien mit den Gästen und der schnell eingreifenden Polizei kam, die ein Café und an einigen Stellen auch eine Straße abgesperrt haben soll. Jüdische Gäste waren jedoch gar nicht anwesend.2 Die AZJ berichtet weiter, dass die Ruhe erst am nächsten Morgen wiederhergestellt war, und vermutet, dass die Antisemiten einen »allgemeinen Volkstumult« beabsichtigt hätten. Sie sieht einen klaren Zusammenhang mit der seit  anschwellenden antisemitischen »Berliner Bewegung«. Nach einem Bericht der AZJ aus Berlin vom . Januar wurden die tumultuarischen Auftritte im Wesentlichen von Studenten veranstaltet, wobei sich eine antisemitische Fraktion und eine anti-antisemitische gegenüberstanden hätten, die sich in ihren Losungen pro und contra auf die damals prominenten Berliner Antisemiten Heinrich von Treitschke, Ernst Henrici und Adolf  Erb/Bergmann, Die Nachtseite, ; Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, ; Hoffmann, Politische Kultur; Hoffmann, Bergmann, Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence.  Bericht vom . Januar in der AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; vgl. auch Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt a. M. , S. . Massimio Ferrari Zumbini zitiert eine Darstellung des SPD-Politikers Eduard Bernstein, wonach »organisierte Banden« in der Silvesternacht »vor die besuchten Cafés« zogen, »brüllten, nachdem allerhand Schimpfreden gehalten worden, taktmäßig immer wieder ›Juden raus !‹, verwehrten Juden oder jüdisch aussehenden Leuten den Eintritt und provozierten auf diese Weise Prügelszenen, Zertrümmerung von Fensterscheiben und ähnliche Wüstheiten mehr« (Wurzeln des Bösen, S. ).

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Stöcker bezogen.3 Tatsächlich hatte es am . Dezember  in Berlin eine große Antisemitenversammlung gegeben, auf der viele führende Antisemiten gesprochen hatten. Laut AZJ hoffte die Vossische Zeitung, dass dieser der Reichshauptstadt im In- und Ausland zur Schande gereichende Vorfall die Berliner Bürgerschaft aufrütteln werde, um sich gegen das »rohe Treiben dieser wüsten Horden, welche die Straßen der Stadt und einzelne Lokale unsicher machen« zu wehren. Damit waren primär die Studenten gemeint, die die Hauptträger dieser antisemitischen Krawalle gewesen waren.4 Immerhin sollen sich nach dem Bericht der offiziösen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, die das Ausmaß der Unruhen eher herunterspielte, fünfhundert Personen an diesem Tumult beteiligt haben.5 Über diese Vorfälle soll, so zitiert die AZJ die Vossische Zeitung, dem Kaiser Bericht erstattet worden sein, und dieser würde wohl den Innenminister dazu veranlassen, solche Vorfälle künftig zu verhindern. Mehrere der Tumultuanten sollten sich vor Polizei- bzw. Kriminalrichtern zu verantworten haben.6 Tatsächlich gab das Berliner Polizeipräsidium eine Weisung an Cafés, kleinere Theater usw. heraus, keine Vorträge zu veranstalten, die »unliebsame Reibereien unter den Zuschauern hervorzurufen« geeignet seien. Stöcker, die Germania, die Kreuzzeitung und der Reichsbote waren laut der AZJ bemüht, sich von der Agitation Henricis und den Gewalttätigkeiten zu distanzieren.7 Zu Unruhen kam es einem Bericht der AZJ zufolge, die sich auf die Posener Zeitung stützte, in der Osternacht  in dem Städtchen Argenau (polnisch Gniewkowo), das in der damals preußischen Provinz Posen zwischen Thorn und Inowraclaw liegt. Dort sollen Plakate an Straßenecken und an der Synagoge angeschlagen worden sein, in denen die Vertreibung der Juden gefordert wurde. Am . April gab es daraufhin bei einer jüdischen Beerdigung Störungen durch Lärmen und Steinwürfe.8 Dabei  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; allerdings gab die Zeitung zu bedenken, dass die die Zeitungen füllenden Berichte über die Vorfälle von zwei Reportern stammten, die für Zeitungen mit nicht sehr hoher Glaubwürdigkeit schrieben. Dass hier möglicherweise sehr direkte Beeinflussungen vorlagen, legt ein Bericht der AZJ vom . Januar nahe, wonach es sich bei den Ruhestörern um Teilnehmer einer wenige Tage zuvor stattgefundenen Volksversammlung gehandelt habe, auf der Ernst Henrici gesprochen hatte. Die »Aufreizungen dieses Herrn« hätten insbesondere die »pöbelhaften Auftritte Unter den Linden und in der Friedrichstraße hervorgerufen« (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  Ebd. Die AZJ machte offenbar vor allem die antijüdische Berichterstattung über die »Judenfrage« in der katholischen ultramontanen Presse, wie der Germania, den Historischpolitischen Blättern und dem Bonifacius-Kalender von , für dieses antisemitische Klima verantwortlich. Zur Rolle der Studentenschaft in der antisemitischen Bewegung siehe Norbert Kampe, Studenten und ›Judenfrage‹ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Ebd.  Ebd. Bericht vom . Januar , S. . Die AZJ beurteilt dies als eine Maßnahme gegen die »Judenwühlerei«.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Solche Aktionen gehörten vom . bis ins frühe . Jahrhundert in Deutschland gewissermaßen zum ländlichen »Brauchtum« (vgl. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S.  ff.)

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sollte es aber nicht bleiben. In einem Bericht vom . April wird von »bedauerlichen Streitigkeiten« zwischen Teilen der jüdischen und christlichen Bevölkerung des Ortes berichtet, wobei in einer Prügelei mehrere Personen verletzt und die Fenster jüdischer Häuser eingeworfen wurden. Dies ereignete sich offenbar bei einer Versammlung am . April, auf der es zu einer Schlägerei zwischen Juden und Reservisten kam, bei der zwei Reservisten blutig geschlagen wurden und ein Jude einen Hieb auf den Kopf bekam. Es sollen an den folgenden Abenden und in den Nächten die Scheiben und Läden von  Häusern durch Steinwürfe zertrümmert worden sein. Man habe Schwärmer und Raketen in die Wohnungen geworfen und Schüsse abgegeben. Ein Jude soll dabei aus dem Fenster ebenfalls geschossen haben. Der Bürgermeister soll sich auf dem Marktplatz befunden haben und ebenso wie die Polizisten keine Hilfe geleistet haben. Laut AZJ versuchten die konservativen und katholischen Blätter die Schuld auf die Juden abzuwälzen, doch berichtete eine andere Zeitung, es habe schon seit einigen Wochen Belästigungen von Juden und antijüdische Plakatanschläge in Argenau gegeben, auf denen sie zur Auswanderung aufgefordert worden seien, andernfalls drohten ihnen »Stricke um den Hals«.9 Der Text der Plakate macht deutlich, wie sehr die Agitation der antisemitischen Bewegung, insbesondere des radikalen Ernst Henrici, hier – wie auch in Neustettin – zur Legitimation des eigenen Gewalthandelns genutzt werden konnte, das als Gegengewalt gegen die jüdische Unterdrückung dargestellt wurde. Der Bezug auf den Reichskanzler Bismarck ist hier von besonderem Gewicht, erscheinen die Übergriffe doch so als staatlich sanktionierte, »loyale Pogrome« (»ein guter Held geht uns voran«).10 Der Bezug auf Bismarck, den wir einige Wochen später auch  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Der Text eines Plakats wurde wiedergegeben: »Aufruf an die Christenheit ! Wachet auf ihr Christen alle und schüttelt ab das Judenjoch. Treibt sie heraus nach ihrem Palästina, die Unterdrücker der Christenheit, sammelt, sammelt euch; zu Hilfe Alle, Alle aus Dörfern und Städten, Alle insgesamt. Haut die Juden, haut die Hunde, haut die Betrüger, stürmet die Höllenbrut. Fürchtet nichts, ihr unterjochten Christen, denn ein guter Held geht uns voran. Nun, so seid nicht feig, es gilt ja nur zu retten unser bischen [sic] Hab und Gut. Raus mit den Juden. Bismarck lebe hoch, Dr. Henrici lebe hoch, Dr. Stöcker lebe hoch !«. Der Israelit (Nr.  vom .., S. ) druckte einen in der Volkszeitung publizierten und an den Hofprediger Stöcker gerichteten Brief eines Kreisgerichts-Bureau-Assistenten ab, in dem dieser Stöcker vorwarf, seine Brandreden hätten ihn zur Beteiligung an den antijüdischen Exzessen verleitet, die ihm ein Jahr und drei Monate Haft eingebracht hätte. Stöcker habe ihn vorher brieflich zum Kampf für die gute Sache aufgefordert, beantworte aber seinen Hilferuf aus dem Gefängnis nur mit salbungsvollen Worten, sich auf Gott zu verlassen.  In der AZJ (Jg. , Heft  vom .., S. ) wird ein Bürger der Stadt Jastrow mit den Worten zitiert: »Dieses Treiben […] wird ja ›von oben herab‹ gewünscht. – Bismarck ist Henrici´s Freund«. Seine Schlussfolgerung daraus war: »also kann und wird uns niemand bestrafen, wenn wir die Juden vertreiben«. Nach der Begründung für seine Meinung gefragt, verwies der Gefragte auf Bismarcks Beantwortung der Telegramme der Antisemiten. Ein ehemaliger Redakteur der Berliner Nachrichten (Emil Eppenstein), der scharfe Kritik am Treiben von Antisemiten wie Henrici u. a. geübt und Bismarck eine Mitschuld daran gegeben hatte, wurde von Bismarck verklagt. Über diesen Prozess berichtete die AZJ (Jg. ,

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bei den Ausschreitungen in Neustettin finden, geschah nicht zufällig und war nicht ohne eine gewisse Berechtigung, waren doch einige Monate zuvor die von  bis  gehaltenen Parlamentsreden Bismarcks veröffentlicht worden, in denen er die Gleichstellung der Juden abgelehnt hatte und die »von den Antisemiten auch wacker ausgenutzt« wurden.11 Antisemitische Organisationen wie der Deutsche Reformverein in Dresden oder der Verein deutscher Studenten gingen mit Antworten auf ihre Schreiben an den Reichskanzler in die Öffentlichkeit, in denen er zustimmende Worte zur Tätigkeit dieser Vereine fand. Eine gerichtliche Untersuchung zu den Vorfällen in Argenau wurde eingeleitet.12 Die radikale antisemitische Agitation Henricis, deren Wirkung schon im posenschen Argenau zu spüren gewesen war, sollte wenig später auch in Hinterpommern ein Mitauslöser einer sehr viel weitreichenderen Welle antijüdischer Ausschreitungen im Sommer  sein. Der Ausgangspunkt war der Brand der Neustettiner Synagoge am . Februar , die innerhalb kurzer Zeit bis auf die Grundmauern niederbrannte.13 Vor allem die jüdische Gemeinde, die liberale und die jüdische Presse, aber auch viele pommersche Bürger machten Henrici dafür mitverantwortlich, der am . Februar im Ort auf Einladung eines stadtbekannten antisemitischen Unternehmers vor mehreren hundert Zuhörern, unter denen sich neben vielen anderen Adligen auch der Landrat Bogislaw von Bonin befand, eine aufwiegelnde »Brandrede« im Zuge seiner Werbung für die Unterzeichnung der

Heft  vom .., S.  ff.). Das Gericht sprach den Angeklagten frei. Dazu auch Bernhard Vogt, Antisemitismus und Justiz im Kaiserreich: Der Synagogenbrand von Neustettin, in: »Halte fern dem ganzen Land jedes Verderben …« Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, hrsg. von Margret Heitmann/Julius H. Schoeps unter Mitwirkung von Bernhard Vogt, Hildesheim , S. -, hier S.  f. Die Zeitung Die Post veröffentlichte einen Artikel »Der Kanzler und die Judenhetze«, in dem sie Bismarck gegen diesen Vorwurf in Schutz nahm und umgekehrt die jüdische Presse beschuldigte, den Kanzler zu verleumden. Dies wurde kommentarlos abgedruckt in: Der Israelit, Nr.  vom .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. : Fürst Bismarck und die Juden.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Vgl. dazu: Hoffmann, Politische Kultur; Barnett Hartston, Sensationalizing the Jewish Question. Anti-Semitic Trials and the Press in the Early German Empire, Leiden, Boston , Kap. : Arson in Neustettin: The Limits of Anti-Jewish Violence in the New Reich; Gerd Hoffmann, Der Prozess um den Brand der Synagoge in Neustettin: Antisemitismus in Deutschland ausgangs des . Jahrhunderts, Schifferstadt . Für eine Übersicht über die Entwicklung der jüdischen Gemeinden in den einzelnen Städten Hinterpommerns zu dieser Zeit siehe: Gerhard Salinger, Jüdische Gemeinden in Hinterpommern, in: »Halte fern dem ganzen Land jedes Verderben …«. Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, hrsg. von Margret Heitmann/Julius H. Schoeps unter Mitwirkung von Bernhard Vogt, Hildesheim , S. -. Die Zahl der jüdischen Einwohner betrug um  in Neustettin: ; in Köslin: ; in Pollnow ; in Stolp: . (); in Tempelburg: ; in Schivelbein: ; in Bärwalde: ; in Ratzebuhr: ca. ; in Falkenburg: ; in Lauenburg: . Prozentual waren dies ca. -  der Gesamtbevölkerung.

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»Antisemitenpetition« gehalten hatte.14 Sie beschuldigten aber auch ultrakonservative und katholische Politiker, vor allem den protestantischen Hofprediger Adolf Stöcker, doch reichte die Kritik bis hinauf zum Reichskanzler Bismarck.15 Die AZJ ging von einer Brandstiftung »von ruchloser Hand« aus und machte Ernst Henrici und seine Brandreden und -schriften, die dieser selbst als »Dynamitpatronen für Israel« bezeichnet haben soll, sowie die anderen Antisemiten dafür mitverantwortlich: »Die intellektuellen Thäter sind bekannt«.16 Dass Henrici und die antisemitische Bewegung in Hinterpommern und Westpreußen große Resonanz in der weit überwiegend national-konservativen Bevölkerung fanden,17 zeigen der massenhafte Besuch (von einigen hundert Neustettinern) und die Begeisterung der Zuhörer während des Auftritts von Henrici fünf Tage vor dem Synagogenbrand. Entsprechend wurden dessen örtliche Anhänger in der Presse als Brandstifter verdächtigt, und die israelitische Gemeinde der Stadt sowie einige christliche Bürger aus dem benachbarten Ratzebuhr setzten eine hohe Belohnung für die Ermittlung der Täter aus.18 Eine offene und völlig skrupellose antisemitische Hetze wurde zuvor allerdings auch von ortsansässigen Vereinen wie dem Conservativen Verein und dem Deutschen Bürgerverein, und von der regionalen Presse wie der in Neustettin erscheinenden Norddeutschen Presse und der Deutschen Landeszeitung betrieben,  Die Rede Henricis wurde von der Norddeutschen Presse (Nr. , ..) wiedergegeben. Henrici hat darin die örtliche Bevölkerung zu einem gewaltsamen Vorgehen gegen die jüdischen Einwohner aufgefordert (Boykott jüdischer Zeitungen und Geschäfte), um durch diesen Druck die Juden zum Verlassen des Landes zu zwingen. Am nächsten Tag hielt er eine weitere Hetzrede im benachbarten Ratzebuhr. Über weitere Stationen geben die Quellen keine Auskunft (vgl. Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. ).  Hoffmann, Politische Kultur, S. ; Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. , erwähnt einen Artikel der lokalen, stramm antisemitischen Norddeutschen Presse, die ein halbes Jahr zuvor am .. einen Artikel veröffentlicht hatte (Dr. Martin Luther und die Judenfrage), in dem sie die Aufforderung Luthers wiedergab, man müsse die Schulen und Synagogen der Juden niederbrennen und jüdische Häuser zerstören. Die AZJ schreibt auch von der Existenz eines antisemitischen Deutschen Bürgervereins, der entsprechende Ideen verbreitet habe (Jg. , Heft , .., S. ). Vgl. auch Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. .  Der Synagogenbrand in Neustettin, AZJ, Jg. , Heft , .. , S. . Die AZJ (Jg. , Heft , .., S.  f.) zitiert die Neue Stettiner Zeitung, die es voraussehbar nannte, »dass die systematische Aufhetzung des gebildeten und ungebildeten Pöbels, wie sie der Brandredner Henrici in unserer Provinz soeben zu allgemeiner Empörung zu beginnen gewagt hat, solche Früchte zeitigen würde«. Für die unruhige antisemitische Stimmung dieser Zeit spricht ein Bericht der AZJ, wonach es Mitte Februar auch in einigen Ortschaften Rheinhessens »arge Excesse gegen die Juden« gegeben und die Behörde eine Untersuchung eingeleitet habe (Jg. , Heft , .. , S. ).  Von den  Mandaten der pommerschen Wahlkreise im preußischen Abgeordnetenhaus errangen die Konservativen , die Sozialdemokraten nur zwei Sitze (Kyra T. Inachin, Die Geschichte Pommerns, Rostock , S. ). Dies ist auf die dominante Stellung der adligen Gutsbesitzer zurückzuführen, die zumeist auch die hohen Verwaltungsposten eines Landrates oder Oberpräsidenten bekleideten.  Ebd.

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die brutale Mordfälle an Juden als Ausdruck innerer Empörung gegen das »Semitentum« rechtfertigten und die pommerschen Bauern offen zur Anwendung von Gewalt (Prügel) gegen Juden ermunterten.19 Die AZJ fragte deshalb an, ob man dieses nicht als »Aufreizung zum Verbrechen« ansehen müsse. Andererseits gab es wohl auch viel öffentliche Empörung, so zitiert jedenfalls die AZJ die Neue Stettiner Zeitung, die von einem »Schrei der Empörung« in Neustettin schreibt, und dass man Henrici nicht raten könne, noch einmal Pommern zu besuchen.20 Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft konnten den Sachverhalt nicht aufklären, doch blieb sie bei der Brandstiftungsvermutung und verfolgte trotz entsprechender Hinweise nicht die Möglichkeit, der Brand könnte unbeabsichtigt entstanden sein. Dies lag nach Christhard Hoffmann nicht nur an den schleppenden Ermittlungen, sondern auch an der extrem polarisierten öffentlichen Meinung.21 Die einheimischen Christen sahen sich zu Unrecht angeschuldigt, und für sie wurde die Judenhetze nur als Ableiter benutzt, der Brand sei aber nicht von Christen gelegt worden.22 Gegen die allgemeine öffentliche Empörung und den für die antisemitische Bewegung fatalen Verdacht, für den Brand verantwortlich zu sein, reagierten auch Henrici selbst und die antisemitische Presse wie etwa die Deutsche Landeszeitung mit der Anschuldigung an die Juden, diese hätten den Brand selbst gelegt, um damit Henrici und der antisemitischen Bewegung zu schaden und eine hohe Versicherungssumme zu kassieren,23 obwohl die kleine, nur aus neunzig Personen bestehende jüdische Gemeinde tausend Reichsmark als Belohnung für Hinweise auf den Täter ausgesetzt hatte.24 Eine Version, die auch von konservativen und katholischen Blättern wie der Germania übernommen wurde, die z. T. die »Judenpresse« wegen ihrer Anschuldigung der Antisemiten kritisierte.25 Den Neustettiner Antisemiten gelang es sehr geschickt, das breite negative Echo, das der Brand gefunden hatte, für sich zu nutzen, indem sie nun die Juden als »Nestbeschmutzer« und sich selbst als patriotische Verteidiger der Stadt hinstellten. Durch eigene »Ermittlungen« haben sie nach Christhard Hoffmann, ein Gewebe aus Lügen, Gerüchten, Verdächtigungen und manipulierten Zeugenaussagen ge AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. .  Ebd.; die jüdische Gemeinde Neustettins war im April  mit einer Klage gegen die Hetze der Norddeutschen Presse beim Reichsgericht gescheitert.  Hoffmann, Politische Kultur, S.  ff.  National-Zeitung, ...  Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S.  f.; Hoffmann, Politische Kultur, S. .  Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. . Für die Renovierung der Synagoge hatte sich die Gemeinde verschulden müssen, und sie erhielt im Übrigen nur ein Viertel der Versicherungssumme von der Versicherung ausbezahlt. Zwar bekam die Gemeinde Spenden vieler jüdischer Gemeinden und Einzelpersonen sowie Spenden von Kultgegenständen, doch gestaltete sich der Wiederaufbau schwierig, zumal die Regierung sich nicht kooperativ verhielt, einen staatlichen Zuschuss ablehnte und die Abhaltung einer Lotterie nicht genehmigte (ebd., S. ).  Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. .

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woben, um die Täterschaft der einheimischen Juden zu beweisen. Man kann die Wirkung dieser Agitation daran ermessen, dass sich die lokalen Behörden und die Staatsanwaltschaft davon beeinflussen ließen und die antisemitische Version von der jüdischen Täterschaft übernahmen und trotz des dünnen und widersprüchlichen Beweismaterials fünf Neustettiner Juden anklagten.26 Die Bitte der jüdischen Gemeinde um die Entsendung eines Kriminalisten aus Berlin wurde vom Innenministerium abgelehnt, ebenso der Versuch, Henrici und seine Mitstreiter wegen Beleidigung anzuklagen.27 Der Synagogenbrand und der anschließende Meinungskampf führten nicht unmittelbar zum Ausbruch kollektiver Gewalt, doch verschlechterten sie die alltäglichen Beziehungen zwischen Juden und Christen in Neustettin und Umgebung deutlich, die zuvor friedlich miteinander ausgekommen waren, zumal die schon lange ansässigen Juden gut integriert waren. Es kam zu Drangsalierungen jüdischen Gymnasiasten durch ihre Mitschüler, zum Boykott jüdischer Geschäfte, zum Ausschluss von Juden aus örtlichen Vereinen. Die AZJ brachte einen Artikel über Neustettin, in dem sie zwei Fälle beschreibt, die das feindselige Meinungsklima thematisieren. Diese Vergrößerung der sozialen Distanz ist eine Voraussetzung für die Anwendung kollektiver Gewalt.28 Die jüdische Gemeinde versucht dieser Entwicklung zu begegnen, indem sie einerseits aufklärende Schriften über die Natur des Antisemitismus an die gebildeten und noch zugänglichen Mitbürger versandte, andererseits gegen Henrici und einige antisemitische Zeitungen wegen Religionsverbrechens bzw. Beleidung gerichtlich vorging und sich beim zuständigen Konsistorium über einen Pfarrer beschwerte, der judenfeindliche Schmähungen auf der Veranstaltung Henricis geäußert hatte.29 Große Bedeutung kommt jedoch dem Meinungskampf der beiden lokalen Zeitungen zu, der antisemitischen Norddeutschen Presse30 und der liberalen Neustettiner Zeitung, die das Thema weiter am Leben hielten, als die übrige Presse darüber nicht mehr berichtete.31 Diese liberale  Hoffmann, Politische Kultur, S. .  Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S.  f.  In einem Fall wendete sich ein Angeklagter zunächst verbal gegen den Staatsanwalt, einen getauften Juden, da er sich nicht von einem Juden verurteilen lassen wollte. Er zog dabei sogar ein Messer, und als man ihm dieses entwand, riss er sich einen Stiefel vom Fuß, um mit diesem auf den Staatsanwalt loszugehen. Zum theoretischen Aspekt der Bedeutung sozialer und kultureller Distanz für kollektive Gewalt vgl. Senechal de la Roche, Collective Violence, S. .  Hoffmann, Politische Kultur, S.  f.  Nach dem Synagogenbrand veröffentliche die Norddeutsche Presse weiterhin aufhetzende Artikel, in denen die bäuerliche Bevölkerung mit der Parole »Jagt die Juden von euren Höfen !« offen zur Gewaltanwendung ermuntert wurde (Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. ).  Die Neustettiner Zeitung war eine Übernahme der liberalen Cösliner Zeitung mit einem eigenen, von einem jüdischen Redakteur gestalteten Lokalteil und wurde von jüdischer Seite unterstützt, um sich im Konkurrenzkampf mit der Norddeutschen Presse behaupten zu können. Vgl. Hoffmann, Politische Kultur, S.  f.; Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. .

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Lokalzeitung wurde nach Christhard Hoffmann auch wegen der wirtschaftlichen Konkurrenz um Werbeanzeigen von den einheimischen Antisemiten als Bedrohung (»jüdische Provokation«) wahrgenommen und sie versuchten die beiden Herausgeber des Blattes, die Gebrüder Cohn, durch Drohungen und Übergriffe einzuschüchtern. Seiner Meinung nach bildete »diese Konstellation den unmittelbaren Anlass der Ausschreitungen«, die am . Juli  in der Stadt ausbrachen und bis zum . Juli andauerten.32 Den Anlass bildete – wie wir es auch aus dem Kontext der russischen Pogrome kennen – eine tätliche Auseinandersetzung: Der Vorsitzende der örtlichen Antisemiten-Liga, der Bauunternehmer Luttosch (z. T. auch Lutosch), hatte am . Juli den jüdischen Redakteur Adolf Cohn auf offener Straße verprügelt,33 woraufhin sich dieser am folgenden Tage revanchierte und Luttosch zusammen mit seinem Bruder angriff und ihm mehrere Kopfwunden beibrachte.34 Laut der österreichischen Zeitung Die Presse (Abendblatt) rief der Verletzte anschließend auf der Straße mit Hinweis auf seinen verwundeten Kopf: »Seht, nun hauen uns schon die Juden; kommt, deutsche Bürger, nun wollen wir diese Kerls nach Jerusalem austreiben; also auf Menschen und Mitbürger!« Vor dem Haus eines jüdischen Kaufmanns hielt er an und rief: »Hier, Leute, schlagt den Judenkönig todt!«35 In der nur leicht abweichenden Darstellung von Hoffmann habe Luttosch verschiedene Gasthöfe der Stadt mit seinem blutigen Kopf aufgesucht und dort die wie jeden Sonntag zechenden Handwerker und Arbeiter dazu aufgerufen, die Juden zu vertreiben und totzuschlagen. Durch diese Aktion des Antisemiten Luttosch versammelte sich im Laufe des Sonntagnachmittags – »begreiflicherweise«, wie Die Presse (Abendblatt) schrieb – »eine nach hunderten zählende Volksmasse, meistens Handwerker«, auf dem Markplatz. Dem stellvertretenden Bürgermeister gelang es zunächst die drohende Menge zu beschwichtigen und Luttosch und - »Haup Hoffmann, Politische Kultur, S. .  Laut einem Bericht der Berliner Volkszeitung war es am . Juli  zu einem schweren Angriff auf Adolph Cohn gekommen, der von Luttosch am . Juli mit den Worten »Sind Sie der Cohn, der die Artikel in der Zeitung schreibt« schwer niedergeschlagen worden sei, so dass der Angegriffene bewusstlos liegen blieb und anschließend einen Arzt aufsuchte. Er hatte jedoch nur Beulen, aber keine offenen Wunden davongetragen. In dem Artikel wird auch erwähnt, dass Cohn schon zahlreiche Morddrohungen erhalten hatte (Neue Freie Presse. Morgenblatt, . Juli ; auch Die Presse erwähnt diesen Vorfall am .., S. ).  Hoffmann, Politische Kultur, S. ; gestützt auf einen »Detailbericht« der National-Zeitung vom . Juli stellte die Neue Freie Presse am .., S.  (ebenso: Der Israelit, Nr. , .., S. ) die Sache so dar: Demnach hätte ein Rencontre zwischen Luttosch und dem Personal der Adolph Cohnschen Buchdruckerei, jüdischen jungen Männern, stattgefunden, bei dem L. »nicht unerhebliche Kopfwunden« zugefügt worden seien. Auch die AZJ (Jg. , Heft  vom .., S.  f.) sieht die Schlägerei am . Juli als Revanche für den Angriff von Luttosch auf einen der beiden Cohn-Brüder am Vortag, die sich am . dann dafür rächten, indem sie ihrerseits nun Luttosch verprügelten. Die Brüder Cohn wurden wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt, doch in beiden Fällen von den Stettiner Gerichten freigesprochen, da Luttosch der Angreifer gewesen sei und die beiden Angegriffenen in Notwehr gehandelt hätten (AZJ, Jg. , Heft , ..).  Die Presse. Abendblatt vom .., S. ; Hoffmann, Politische Kultur, S. .

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texcedenten« festzunehmen, so dass das Arrestlokal vollzählig belegt war. Dies beruhigte die Lage jedoch nur kurzfristig. Die Menschenmenge von fast tausend Personen verharrte bis in den späten Abend vor dem Rathaus, warf dort Fenster ein, attackierte auch die Polizei und den Bürgermeister mit Steinen, skandierte »Hepp-Hepp«-Rufe und verlangte die Freilassung von Luttosch. Gegen Mitternacht konnten der Bürgermeister und die zu schwachen Polizeimannschaften die Lage nicht mehr beherrschen und die vielköpfige Menge begann nun durch die Straßen Neustettins zu ziehen und unter »Hepp-Hepp«-Rufen und Rufen wie »Die Juden müssen raus, schlagt die Juden!« die Schaufester von  jüdischen Geschäften mit Steinen zu bewerfen und zwei davon zu demolieren, wobei auch einige Häuser von Christen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Polizei ließ Luttosch wieder frei, wohl um die Lage zu beruhigen, doch »nun bekam das Zerstörungswerk einen Leiter und Mittelpunkt«, wie die AZJ schrieb.36 Schließlich zog man vor die Neustettiner Zeitung, die man regelrecht belagerte und deren Redaktions- und Druckereiräume verwüstet und die Druckmaschinen beschädigt wurden.37 Laut Bericht der österreichischen Neuen Freien Presse, die sich allerdings auf einen Bericht der liberalen Berliner Tageszeitung Nationalzeitung stützte, soll das Personal der Zeitung sich zunächst auf einen Kampf eingelassen haben, indem es die Volksmenge aus den Fenstern heraus beworfen habe, dass es sich dann aber auf das Dach des Hauses habe flüchten müssen.38 Es kam wohl nicht zu Plünderungen, doch zitierte eine Zeitung, dass Polizisten versichert hätten, dass vor einem der angegriffenen Geschäfte Frauen und Kinder mit Körben bereitgestanden hätten.39 Die Polizei holte zwar Verstärkung herbei, doch kam es am folgenden Abend wiederum zu noch heftigeren Ausschreitungen, bei denen nun die Fenster fast aller jüdischen Wohnhäuser eingeworfen wurden, deren Bewohner aus Angst vor Verletzungen im Freien übernachten mussten.40 Die Stadtverwaltung hatte die Ruhe an diesem Abend zunächst durch eine originelle Idee bewahren können, indem sie nämlich angesichts des neuen Auflaufs abends gegen  Uhr eine Musikkapelle durch die Stadt ziehen und vor einem Lokal aufspielen ließ, wo zwei Sponsoren Freibier ausgaben, um so, wie es hieß, eine »gemütliche Stimmung« zu erzeugen. Dies gelang wohl zunächst auch, doch als die Kapelle gegen Mitternacht wieder abmarschierte, blieb die Menge nicht »gemütlich«, sondern es kam zu erneuten, noch heftigeren Ausschreitungen, bei denen sich die Polizei wiederum als zu  AZJ, Jg. , Heft  vom .., S. ; zum Vorstehenden siehe auch Die Presse. Abendblatt, .., S. ; Hoffmann, Politische Kultur, S. .  Neue Freie Presse. Morgenblatt, . Juli , S. ; ähnlich Hoffmann, Politische Kultur, S. ; Der Israelit unter Bezugnahme auf die Nationalzeitung (Nr.  vom .., S. ); andere Darstellungen sprechen nur von der versammelten Menge, die die Polizei zu zerstreuen suchte (Die Presse. Abendblatt, .., S. ). Die AZJ (Heft  vom .., S. ) spricht von einer Menge von ca. fünfhundert Menschen.  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. .  Ebd.; vgl. auch AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Hoffmann, Politische Kultur, S.  f.

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schwach besetzt erwies und sogar der Landrat von Bonin angegriffen wurde, als er drei Personen festnahm.41 Auch am dritten Abend kam es noch zu Menschenansammlungen, doch konnten die nun noch weiter verstärkte Polizei sowie ein Regierungsvertreter, der Oberregierungsrat Graf d’Haussonville aus Köslin, weitere Gewalt verhindern.42 Dieser konferierte mit Landrat v. Bonin und dem Neustettiner Bürgermeister, und man kam überein, die Mitglieder des Magistrats, die Stadtverordneten und Mitglieder des Synagogenvorstands zu einer gemeinsamen Sitzung einzuladen. Der Oberregierungsrat drückte sein Bedauern über die Exzesse aus, teilte mit, dass er eine erhebliche Verstärkung der Gendarmerie angeordnet habe, und schlug die Bildung eines Sicherheitsausschusses aus wohlgesinnten Neustettiner Bürgern vor.43 Als der ansässige Rechtsanwalt Scheunemann, der später im Konitzer Prozess die angeklagten Juden vertreten sollte, dies für nutzlos hielt und stattdessen auf die Hetzereien der Norddeutschen Presse und von »Reisepredigern« wie Ernst Henrici verwies, die eine Gefahr für erneute Unruhen darstellten, wurden die gegensätzlichen politischen Überzeugungen der Anwesenden offenbar, da der konservative Graf d’Haussonville »dem Vorredner auf politischem Gebiet nicht folgen konnte«.44 Am . Juli  nahm dann der Staatsanwalt aus Köslin die Ermittlungen in Neustettin auf. Luttosch war bereits verhaftet worden, und die Untersuchung richtete sich gegen eine größere Zahl von Personen. Eine erheblich verstärkte Gendarmerie sorgte für Ruhe in der Stadt.45 Zwar beruhigte sich die Stimmung in Neustettin anschließend, doch zeigt ein am . Juli aufgegebener Drohbrief an Adolf Cohn, der an die der Hep-Hep-Unruhen von  erinnerte, wie aufgeladen die Stimmung war. Im Wortlaut: »An den Juden Adolf Cohn, Neustettin. Warnung. Wegen gemeiner Vergehen gegen Christen und Hetzereien zur Bestrafung notiert. Verein zur Ausrottung der Juden«. Es folgten noch drei  Die Presse, .., S.  – nach einem Bericht der Nationalzeitung; ähnlich die AZJ (Jg. , Heft , .., S. ), die dies als »seltsames Mittel« kritisierte, zumal wohl für die sich in Lokalen sammelnde Menge auch Alkohol ausgeschenkt wurde. Dort auch ein Bericht über die angerichteten Zerstörungen.  Hoffmann, Politische Kultur, S.  f.; der Vorstand der Synagogengemeinde hatte eine Depesche an den Regierungspräsidenten abgesandt und um energische Hilfe gebeten (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Scheunemann schlug stattdessen vor, die über Aufruhr und Landfriedensbruch handelnden Paragraphen des Strafgesetzbuches öffentlich anschlagen zu lassen, zudem mit dem Hinweis, dass die Kommune den entstandenen Schaden ersetzen müsse. Dieser Vorschlag wurde angenommen.  Der Israelit, Nr. , .., zweite Beilage S. . Gestützt auf die Vossische Zeitung schreibt Der Israelit (Nr. , .., Erste Beilage, S. ).  Ebd.; interessant ist ein Bericht der Weser-Zeitung, in dem darauf verwiesen wird, dass durch den Bau mehrerer Eisenbahnlinien in der Gegend »neues, unruhiges, vielbewegtes Leben« in die abgelegene Stadt gekommen sei. Diese Arbeiter seien nun arbeitslos, so dass hier die Saat von Henrici und Genossen auf fruchtbaren Boden gefallen sei. Es sei zudem kein Zufall, dass der Rädelsführer ein Bauunternehmer sei (Der Israelit, Nr. , .., S. ). Die Parallele zur Rolle der Eisenbahnarbeiter in Südwestrussland ist auffällig.

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schwarze Kreuze und ein Siegel mit der Inschrift »Tod allen Juden« sowie ein Kreuz mit Glorienschein.46 Die Ausbreitung der Unruhen in der Umgebung Neustettins Die Unruhen in Neustettin waren damit vorüber, doch breitete sich nun die antijüdische Gewalt, ähnlich wie zur selben Zeit im Zarenreich, in den nächsten sechs Wochen auf  weitere Orte der Umgebung aus. Wie in Südwestrussland lässt sich auch hier eine ringförmig um Neustettin in immer weitere Entfernung ausufernde Gewaltwelle beobachten: Die Ausschreitungen begannen in den Nachbarorten Hammerstein (.-. Juli), wo schwere Unruhen bis zum . August noch zweimal wiederaufflammten,47 in Dallentin, einem Nachbardorf Neustettins (. Juli), und Bärwalde (.-. Juli),48 um sich dann etwas weiter entfernt von Neustettin, von Baldenburg (. August), Jastrow (.,. und . August)49 ins weitere Umland nach Konitz (.-. August)50 und Schivelbein (.-. August)51 auszudehnen. Es folgten die noch weiter entfernten Orte Pollnow (.-. August),52 Falkenburg (. August), Stettin (.-. August)53 und Stolp (. September).54 An allen diesen Orten kam es nach Hoffmann zu zum Teil »erheblichen Ausschreitungen«, während sie in einigen anderen Städten wie Bublitz (..),55 Rummelsburg i. P. (..), Lauenburg (..),56 Polzin (..), Zippnow (..), Tempelburg (./..),57 im posenschen Rogasen (..) und an weiteren Orten (Schlochau,58 Friedland, Ratzebuhr) geringfügiger waren und schnell unterbunden werden konnten.59 An anderen Orten,  Der Israelit, Nr. , .., Erste Beilage, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Der Israelit, Nr. , .., Erste Beilage, S. ; AZJ, Jg. , Heft , .. zit. nach der Cösliner Zeitung vom . Juli ); vgl. auch Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. , der den Ausbruch in Hammerstein abweichend auf den .. datiert.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.; vgl. ähnlich: Der Israelit, Nr. , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. ; Der Israelit, Nr. , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Heft , .., S. ; Der Israelit,  Jg., Heft , .., S.  f.; AZJ, Jg. , Heft , .., S. -; und Heft , .., S. ; AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; dazu auch: Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S.  und Nr. , .., S. .  Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. , und Heft , .., S.  f.; AZJ, Jg. , Heft , .., S. : »Die Excesse in Schivelbein«.  AZJ, Jg , Heft , .., S. ; Der Israelit, Jg. , Heft , .., S. , und Nr. , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; vgl. Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , ..; ebenso: Der Israelit, Nr. , .., S. , zitiert die Zeitung für Hinterpommern.  Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; ebenso: Der Israelit, Nr. , .., S. .  Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. .  Hoffmann, Politische Kultur, S.  ff.

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wie in Danzig, wurden Ende August Anstifter von Gerüchten oder Ansammlungen schnell verhaftet, so dass es nicht zum Ausbruch von Gewalt kam.60 Dass man das Übergreifen auf andere Provinzen fürchtete, zeigt ein Erlass des Landrates aus dem brandenburgischen Arnswalde vom . August , in dem dieser unter Hinweis, dass auch hier einzelne Personen versuchten, Exzesse gegen die Juden anzuzetteln, die Schützen- und Kriegervereine zur Mobilisierung und Unterstützung der Polizei aufrief und ein scharfes Einschreiten bei Exzessen forderte. Insbesondere Schanklokale sollten beim Entstehen von Aufläufen ihre Lokale sofort schließen.61 In der Presse, vor allem in den jüdischen Zeitungen, finden sich Schilderungen über den Ablauf der Ausschreitungen in den genannten Orten und geben so einen Eindruck vom Charakter der Geschehnisse: – In Hammerstein richteten die von einem heruntergekommenen Adligen ausgelösten Unruhen laut AZJ noch größere Verwüstungen an als in Neustettin.62 Man attackierte auch die sechs (andere sprechen von vier) Gendarmen zu Pferde, die man zu Fall zu bringen suchte. Die Gendarmen durften sich nicht ihrer Säbel bedienen. Bereits am . Juli hatten ca. fünfzig junge Handwerker und Arbeiter das Geschäft eines jüdischen Kaufmanns angegriffen, doch konnten sie von einem anwesenden Polizeisergeanten gestoppt werden.63 – In Bärwalde fanden am . Juli, getragen von Handwerkslehrlingen und Gesellen, Ausschreitungen statt, die sich auch gegen die Synagoge richteten. Die Menge soll etwa tausend Personen betragen haben, doch blieb das Ausmaß der Gewalt aufgrund des Einsatzes von Polizei und einigen christlichen Bürgern relativ gering. Die AZJ schreibt, dass hinter der Gewalt Plan und System steckten. Es sei stadtbekannt, dass der Pöbel nur das Exekutivorgan der »anständigen« Bürger Bärwaldes sei, von ihnen inspiriert und angefeuert. Eine führende Rolle weist die Zeitung dabei dem einheimischen Antisemitenclub zu.64 – Über Jastrow schrieb die AZJ, dass dort ein sehr gutes Einvernehmen zwischen Juden und Christen geherrscht habe, das erst durch das Eindringen der Norddeutschen Presse und eine Rede Henricis am Ort gestört worden sei. Dies habe dazu geführt, dass die christlichen Kaufleute und Gewerbetreibenden der vor allem von den Schuhmachergesellen ausgehenden Gewalt nicht Einhalt geboten hätten. Bürgermeister und Polizei hätten erfolglos versucht, den Pöbel zu bremsen, der auch die Synagoge attackierte. Erst das Eintreffen und energische Eingreifen des Landgrafen Freiherr von Ketelhodt aus Deutsch-Krone habe die Lage beruhigt. Obwohl der protestantische wie der jüdische Geistliche »von der Kanzel herab zum Frieden mahnten«, kam es am nächsten Abend wiederum zu    

AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

Vgl. Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. .

AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Der Israelit, Nr. , .., Erste Beilage, S. . AZJ, Jg. , Heft . .., zit. nach der Cösliner Zeitung vom . Juli ; vgl. auch

Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. .  Siehe AZJ, Jg. , Heft  vom .., S. ; AZJ, Heft  vom .., S. .

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tumultuarischen Szenen, ja zu einem regelrechten Kampf zwischen der Menge und der verstärkten Gendarmerie, die vom Kriegerverein unterstützt wurde. Es wurden einige der Tumultuanten verhaftet.65 – Die AZJ berichtet vom . August aus Konitz, dass der Krawall acht Tage gedauert habe und zwanzig Personen verhaftet und zu geringen Geldstrafen verurteilt worden seien.66 Es mussten die marodierenden, teilweise mit Äxten bewaffneten Gruppen von berittener Gendarmerie bekämpft werden.67 Einen ausführlichen Bericht, datiert vom . August, über die andauernden Unruhen in Konitz brachte auch Der Israelit. Darin wird auch deutlich, dass in einigen Fällen alte Rechnungen zwischen Konkurrenten im Zuge dieser Gewaltstimmung beglichen werden sollten, so wenn ein christlicher Fleischer mit einer bezahlten Horde von Jungen das Haus eines jüdischen Händlers, mit dem er im Streit lag, attackierte.68 – Für Schivelbein berichtete die AZJ über umlaufende Gerüchte: So sei es Stadtgespräch gewesen, dass man sich am Sonntagnachmittag in den dortigen Anlagen versammeln und es dann am Abend »losgehen« würde. Das Eingreifen der Polizei konnte hier aber ernstere Unruhen unterbinden. Der Bürgermeister hatte versucht, durch ein Ausgehverbot für Gesellen und Dienstboten die Gefahr von Unruhen zu vermindern.69 Ein späterer Bericht vom .. vermittelt allerdings ein ganz anderes Bild. Demnach kam es am Sonntagabend (..) nach der Verhaftung eines zugereisten Unruhestifters zu Angriffen auf die Polizeibeamten und das Rathaus, um den Arretierten freizubekommen, was ihnen auch gelang. Anschließend begann die Menge dann die Läden und Häuser von Juden zu demolieren und zu plündern, wobei sich vor allem Frauen hervortaten. Dabei sollen auch jüdische Einwohner des Ortes sowie Polizeibeamte mit Steinen und Knüppeln angegriffen und verletzt worden sein. Der Israelit druckte einen sehr dramatischen Bericht der Nationalzeitung über die Ausschreitungen ab. Danach hätten sich Rotten zu zehn bis zwölf Mann mit Brecheisen und Äxten bewaffnet und zum Teil mit geschwärzten Gesichtern, begleitet von einer tobenden Volksmenge, zunächst zum Rathaus begeben, dieses so attackiert, dass sich Polizisten und Gendarmen zurückziehen mussten. Danach begann eine systematische Zerstörung von zwölf bis  jüdischen Geschäften, wobei alles kurz und klein geschlagen und auf die Straße geworfen wurde. Auch wurden hier, wie sonst selten, Privatwohnungen angegriffen und sogar in einem Spiritusgeschäft Feuer gelegt. Die Stadt habe für vier bis fünf Stunden »das Bild der vollständigen Anarchie« geboten. Die Bewaffnung und das Vorgehen deuten darauf hin, dass es sich hier um vorab organisierte Gruppen gehandelt hat, was auch das höhere Maß an Gewalt erklärt.70 Die Mobilisierung der örtlichen Feuerwehr, der Landwehr und      

AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.; vgl. ähnlich: Der Israelit, Nr. , .., S. . AZJ Jg. , Heft , .., S. .

Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. . Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. .

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des Kriegervereins gelang lange Zeit nicht. Erst als der Kriegerverein des Ortes eingriff, der mit aufgepflanztem Bajonett gegen die Menge vorging und Wachen vor den zerstörten jüdischen Geschäften aufstellte, konnten die Ausschreitungen eingedämmt und schließlich beendet werden. Bis zum Morgen wurden  Personen verhaftet.71 Wie angespannt die Situation war, zeigt dass der Abtransport von  gefesselten Tatverdächtigen am . August nach Köslin von fünfzig Soldaten begleitet wurde, da der Bürgermeister sonst neue Unruhen befürchtete.72 Der Berichterstatter der AZJ rechnete mit einem Schaden von -. Talern, da zehn Geschäfte zerstört und geplündert worden waren. Auch für den nächsten Tag kündigte der Krieger- und Schützenverein an, der Polizei beim Patrouillieren zu helfen. Er kommt zudem zu dem Fazit, dass man nach diesen Exzessen nicht mehr sehe, welcher Unterschied zwischen den Zuständen in Südrussland und Pommern bestehe. Bei dem späteren Prozess waren unter den  Angeklagten auch vier Frauen, die vor allem wegen »Freibeuterei« angeklagt wurden. Angeklagt waren auch ein Grundbesitzer und ein vermögender Rentier, der als eigentlicher Unruhestifter galt.73 Nach Meinung der AZJ erreichten die Exzesse in Schivelbein »den höchsten Grad der Roheit«. In dem abgedruckten Bericht eines einheimischen Juden vom .. wird das gute Zusammenleben von Juden und Christen am Ort hervorgehoben: »Von Rischus war im Volke nichts zu merken«. Er führt die »verabscheuungswürdigen Pöbelexcesse« auf die Hetze antisemitischen Zeitungen sowie von »Hetzemissären« zurück. Der Bericht schildert die Gewalt als das Hausen von Vandalen und den Horden Attilas in schwärzesten Farben. Der lutherische Pfarrer soll zudem, nachdem die Verhafteten Täter nach Köslin abgeführt worden waren, in seiner Predigt am darauffolgenden Sonntag die Juden des Ortes beschuldigt haben, dies mit einem »triumphierenden und höhnischen Gaffen« begleitet zu haben. Dies bestreitet der Berichterstatter ganz energisch.74 – Nach einem Bericht der Danziger Zeitung vom . August hatte man in Pollnow aufgrund der erregten Gemüter und der »Reibereien der Antisemiten« schon länger mit Unruhen gerechnet, zumal sich nun allabendlich auf den sonst ausgestorbenen Straßen des Ortes Menschen versammelten, obwohl die Polizei angeordnet hatte, Gesinde, Lehrlinge und Gesellen am Abend nicht mehr aus den Häusern zu lassen. Es gab an diesen Abenden schon erste Verhaftungen.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Dies berichtete Der Israelit, Jg. , Heft , .., S.  f.; AZJ, Jg. , Heft , .., S. -; und Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; dazu auch: Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. . Nach Vogt war es in Hammerstein ebenfalls der Einsatz von Bürger- und der Kriegerverein, der die Lage beruhigen konnte (Antisemitismus und Justiz, S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. : »Die Excesse in Schivelbein«. In dem Bericht ist davon die Rede, dass man die Juden fälschlich durch Verleumdungen und Verdächtigen angeschuldigt habe, sie hätten die Christen oder die Deutschen geschmäht, religiöse Gebräuche verspottet usw.

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Am . August war es dann so weit. Von der Menge wurden das Warenlager und der Geldschrank eines jüdischen Kaufmanns ausgeraubt und zerstört sowie in einigen Nebenstraßen die Fenster jüdischer Häuser eingeworfen. Die Polizei und Gendarmerie seien machtlos gewesen. Am folgenden Tag wurden trotz verstärkten Polizeiaufgebots weitere Häuser von Juden attackiert. Einwohner bezeugten sogar fälschlich, der angegriffene Kaufmann habe aus dem Fenster Steine auf die Menge geworfen. Ein im Laden anwesender Kunde half dem Angegriffenen, sein Haus zu verrammeln und seine Familie im Haus eines christlichen Nachbarn in Sicherheit zu bringen.75 In Stettin waren zwar antijüdische Schlachtrufe zu hören, doch konnten die von Arbeitern, Lehrjungen und Schülern getragenen Unruhen dort aufgrund eines massiven Einsatzes von Polizei und Militär unterdrückt werden, eine Zerstörung jüdischen Eigentums gab es nicht. Stattdessen lieferten sich die Demonstranten heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei, was zur Verhaftung einer größeren Zahl von Personen () führte.76 In Bublitz versammelte sich eine Anzahl von Leuten aus der Stadt und aus umliegenden Orten, die auf Gewalt gegen Juden aus waren. Die Polizei versuchte dies zu verhindern, doch wurden Fenster der Synagoge und einiger jüdischer Wohnungen eingeworfen. Die Polizei nahm daraufhin zwölf Unruhestifter fest und konnte so spät in der Nacht die Ruhe wiederhergestellen.77 In Lauenburg gab es wie an anderen Orten eine längere Vorlaufphase, in der Drohbriefe und Gerüchte über einen Krawalltermin im Ort kursierten, an dem die Juden angegriffen und »mit Musik wegtrieben« werden sollten. Zwei der bedrohten Juden verließen daraufhin die Stadt, gleichzeitig wurden aber die Polizeimannschaften am Ort verstärkt. Tatsächlich versammelte sich am angekündigten Termin (Sonntagabend) eine große Menschenmenge auf dem Marktplatz und skandierte »Hepp ! Hepp ! Juden raus!«, doch kam es dank der Präsenz der Gendarmen nicht zu Übergriffen.78 Aus dem Kreis Schlochau, in dem es schon wiederholt zu Tumulten gekommen war, meldete Der Israelit, dass der Kreis in »hellem Aufruhr« zu sein scheine. Täglich würden neue Krawalle gemeldet, »die wie Vorboten des Bürgerkriegs aussehen«. Es folgt dann ein Bericht über einen Tumult am . August in Baldenburg, der um neun Uhr abends begann und bis nachts um ein Uhr andauerte, wobei man sich mit dem Einwerfen von Fensterscheiben »begnügte«, dabei allerdings eine Jüdin am Kopf verletzte. Die Drohungen der Menge waren radikaler, so drohte man, die Synagoge anzuzünden, als die tatsächlichen Aktionen. Verhaftet wurde niemand. Der Bericht sah es als bemerkenswert an, dass »besonders die

 Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S.  f.  Vgl. AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Der Israelit, Jg. , Heft , .., S. , und Nr. , .., S. . Hoffmann, Politische Kultur, S. .  Dazu der Bericht in der AZJ, Jg. , Heft , .. (ebenso: Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. ), zitiert er die Zeitung für Hinterpommern.  Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. .

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Weiber sich hervorthun, wie dergleichen stets bei revolutionären Bewegungen bemerkt wurde«.79 – Die wohl schwersten Unruhen ereigneten sich in Stolp. Dort gab es seit Mitte August Gerüchte und weitere »antisemitische Wühlereien«, wobei die Polizei jedoch ein wachsames Auge auf die Unruhestifter hatte und es sogar Verhaftungen gab.80 Es kam dann am frühen Abend des . September aus einer auf dem Marktplatz versammelten zweitausendköpfigen Menge heraus zu »Hep-Hep«Rufen und »Juden raus!«-Parolen, die schließlich in erste Angriffe auf einen jüdischen Laden übergingen. Das Militär griff sofort mit gezogenen Säbeln ein, so dass es Verwundete gab und Verhaftungen vorgenommen wurden. Dennoch kam es in den Seitenstraßen zu schweren Zerstörungen und Plünderungen von Läden und Häusern der Juden, die sich in diesem Fall mit Steinen und anderen Wurfgeschossen wehrten. Die Situation nahm bürgerkriegsähnliche Formen an, da die Tumultuanten Barrikaden errichteten, um Polizei und Militär abzuwehren. Durch die Unruhen entstand ein erheblicher Sachschaden, und mindestens fünf Täter und einige unbeteiligte Bürger wurden schwer verletzt. Erst gegen Mitternacht konnte die Ordnung wiederhergestellt werden. Militär und Polizei mussten aber noch mehrere Tage in der Stadt patrouillieren.81 Die AZJ schrieb, gestützt auf einen Bericht der Danziger Zeitung vom .., dass sich die Gemüter in Stolp durch die Maßnahmen der Behörden nun sehr abgekühlt hätten. Nun müsse man sich mit dem von der Gemeinde zu bezahlenden Schaden befassen. Entsprechend suchte man nach »Aufhetzern und Agitatoren«.82 Aufgrund dieser Gewaltwelle setzte sich zeitweilig auch in Pommern und bei den politischen Verantwortlichen bis hin zum preußischen Innenminister die Auffassung durch, es handele sich nicht um Ausbrüche des »Volkszorns«, wie zunächst für Neustettin angenommen worden war, sondern dahinter stünden Agitation bzw. sogar ein von außen gelenktes Komplott. Hierfür wurde vor allem die Agitation von Ernst Henrici in dieser Gegend verantwortlich gemacht.83 Dies ist eine typische Annahme, die wir in vielen Fällen antijüdischer Gewaltwellen antreffen. Wenn auch der antisemitischen Hetze und Agitation erkennbar eine mobilisierende Rolle zukommt, so konnten die Untersuchungsbehörden – wie im Zarenreich – keine direkte Verursachung der Krawalle durch auswärtige Antisemiten nachweisen. Nach Christhard Hoffmann deutet auch der Verlauf der Ausschreitungen nirgends darauf hin, dass es sich um von langer Hand geplante Aktionen handelte, vielmehr     

Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. . Bericht der Danziger Zeitung, in: Der Israelit, Nr. , .., S. . Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Hoffmann, Politische Kultur, S. . Dass diese in Hinterpommern auf fruchtbaren Boden fiel, lag laut Preußischer Lehrerzeitung auch an den schlechten Schulverhältnissen in dieser Gegend mit zu großen Klassen und vielen »schulflüchtigen« Kindern (Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. ).

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muss man diese Vorfälle als Nachahmungstaten mit geringem Organisationsniveau und diffusem Täterkreis betrachten.84 Hoffmann hat den Verlauf dieser Gewaltausbrüche zusammenfassend analysiert.85 Demnach gab es in fast allen Fällen eine längere Vorbereitungs- oder Inkubationsphase, in der die Nachrichten aus Neustettin und später auch aus den Nachbarorten oder persönliche Mitteilungen nicht unmittelbar in Gewalt mündeten, sondern Menschen in größerer Zahl auf die Straße brachten und Gerüchte über bevorstehende Unruhen die Runde machten sowie vereinzelte »Hep-Hep«-Rufe zu hören waren.86 An manchen Orten tauchten auch Drohbriefe gegen Juden oder Plakate mit Aufrufen zur Gewalt gegen Juden zu einem bestimmten Termin auf. Griff die Polizei in dieser Mobilisierungsphase nicht massiv ein, kam es zur Eskalation der Gewalt, die häufig durch Maßnahmen der Behörden ausgelöst wurde, z. B. durch Festnahmen von Störern, ein Verbot von Festen, die Verhängung einer Ausgangssperre, durch selbsternannte, oft nicht ganz zurechnungsfähige »Anführer« oder aber wie in Neustettin durch verbale oder physische Auseinandersetzungen zwischen christlichen und jüdischen Ortsbewohnern. Dies geschah meist an Sonntagabenden, wenn sich viele Menschen auf den Straßen oder in den Wirtshäusern befanden, so dass eine ausgelassene Stimmung herrschte. Die zumeist von jugendlichen Lehrlingen, Gesellen und Gymnasiasten ausgehende Gewalt beschränkte sich gewöhnlich auf das Einwerfen der Fenster von jüdischen Läden und Wohnungen sowie der Synagoge, nur fallweise kam es zu größerem Vandalismus, der sich zumeist gegen exponierte oder unbeliebte jüdische Bürger, etwa Amtsrichter, Redakteure oder bestimmte Kaufleute als Repräsentanten der vermeintlichen »Judenherrschaft«, richtete.87 Dann waren zumeist auch erwachsene Männer (Handwerksmeister, Arbeiter, Knechte), aber auch Frauen beteiligt, die teils selbst aktiv mitmachten, teils als Zuschauerinnen die Akteure ermunterten.88 Nach getaner Zerstörung verlief sich die Menge häufig von selbst  Hoffmann, Politische Kultur, S. .  Zum Folgenden: ebd., S.  ff.  Die AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) bestätigt diesen Eindruck: Tagelang würden Haufen schreiend und schimpfend durch die Straßen ziehen und daran nicht gehindert werden. Dadurch kühner geworden, fingen sie an zu demolieren und die zu wenig vorbereitete Polizei konnte sie daran nicht hindern. Die Exzesse wiederholen sich mehrere Tage lang und verliefen sich erst dann, wenn die Polizei mit der nötigen Strenge eingreife.  In einem Artikel über »Die Pöbelexcesse in Pommern« zog die AZJ am . August  (Jg. , Heft , .., S. ) eine Parallele zu den Vorgängen in Südrussland, betonte aber, dass es bislang nur Türen, Fenster und Läden gewesen seien, die man angegriffen habe, während Personen eher selten verletzt wurden. Die Zeitung fürchtete aber, die Gewalt gegen Sachen könne sich leicht auf Personen ausdehnen, wenn die Täter nicht sofort und nachdrücklich bestraft würden. Sie beklagt, dass dies im »strammen, polizeistrengen Preußen« nicht ausreichend geschehe.  Beim Judenkrawall in Pollnow waren  Tumultuanten festgenommen worden, darunter waren drei Frauen (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Nach Vogt werden in der jüdischen Presse als Täter vor allem Angehörige der unteren Mittelschicht genannt (Handwerksgesellen, kleine Angestellte und Kaufleute, Metzger, Friseure, Volksschullehrer, sehr häufig auch Schüler und Lehrlinge) sowie Landarbeiter und nur selten Angehörige höhe-

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oder aber wurde durch die Polizei oder das Militär aufgelöst. Nur wenn die Aktionen entweder länger vorbereitet worden waren oder sich feste, bewaffnete Gruppen gebildet hatten, kam es zu einem höheren Grad an Gewaltausübung mit Plünderungen, Zerstörungen und auch Körperverletzungen. Hoffmann betont zu Recht den ritualisierten Charakter der Aktionen, die häufig die Form von Volksumzügen hatten und eine gewalthafte Form von Rügebräuchen waren, mit denen den Juden ein »Denkzettel« verpasst werden sollte. Es handelte sich also um die für ethnische Unruhen typischen Demütigungs- und Einschüchterungsrituale, mit denen die Juden auf »ihren Platz« in der Gesellschaft verwiesen werden sollten. Die – häufig ja jugendlichen Täter – konnten bei diesen »loyalen Pogromen«, in denen man ausagierte, was in den antisemitischen Vereinen und Zeitungen sowie in Teilen der »guten Gesellschaft« vorgedacht worden war, auf die Nachsicht der Behörden und die stillschweigende Zustimmung vieler Mitbürger rechnen. Hoffmann weist allerdings auch darauf hin, dass diese Form der gewalthaften Auseinandersetzung im Kaiserreich letztlich kontraproduktiv war und die Sache des Antisemitismus eher schädigte.89 Die Reaktionen von Presse und Politik Die Reaktion der Presse fiel gemäß der politischen Lagergrenzen völlig gegensätzlich aus.90 Während die liberale Presse wie das Berliner Tageblatt die Gewaltwelle als »Pommerschen Bürgerkrieg« bezeichnete und die führenden antisemitischen Agitatoren Stöcker, Henrici und Förster als die eigentlichen »Brandstifter« attackierte,91 verteidigte die antisemitische und konservative Presse ihre Sache, indem sie der liberalen »Judenpresse« vorwarf, das Ausmaß der Gewaltaktionen aufzubauschen, und die Neustettiner Juden selbst dafür verantwortlich machte, die durch ihre Ausbeutung die Wut der Bevölkerung hervorgerufen hätten. Die Unruhen seien zwar bedauerliche, aber verständliche Vorfälle gewesen – wie es das antisemitische Blatt Ottos Glagaus, Der Kulturkämpfer, formulierte.92 Auch die christlich-soziale Partei Stöckers beklagte zwar die Unruhen in Pommern, beschuldigte aber die Juden, diese provoziert zu haben, da die Gewalt der Sache der Antisemiten schade, wäh-

   

ren Schichten, doch wurden diese sicher durch die antijüdische Stimmung auch unter den Letzteren ermuntert (Antisemitismus und Justiz, S. ). Hoffmann, Politische Kultur, S. . Vgl. dazu Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S.  ff. Berliner Tageblatt vom .., zit. nach ebd., S.  f. Der Kulturkämpfer, Heft , .., S. -; zit. nach ebd., S. . Der Ort Jastrow wurde Ende August durch ein Ritualmordgerücht in Unruhe versetzt, das ein über Nacht verschwundenes Dienstmädchen am nächsten Tage in die Welt setzte, wonach der jüdische Kaufmann L. sie in seine Wohnung gelockt, über Nacht eingesperrt und ihr mit einem großen Messer gedroht habe den Hals abzuschneiden. Sie habe schwören müssen, nichts davon zu erzählen. Ihre Geschichte wurde aber schnell als Lüge entlarvt, was aber die Jastrower nicht davon abhielt, die Fenster jüdischer Wohnungen einzuwerfen. Vgl. Der Israelit, Nr. , .., S. .

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rend man ihren materiellen Schaden ja ersetzen müsse.93 Antisemitische Zeitungen versuchten diese Behauptung in den nächsten Wochen mit Anschuldigungen gegen die Juden zu untermauern.94 Die Behörden, die von der liberalen Öffentlichkeit beschuldigt wurden, wegen der Duldung der antisemitischen Umtriebe und des zögernden polizeilichen Eingreifens eine Mitschuld an den Ausschreitungen zu tragen, übernahmen zunächst die konservative Lesart, indem sie die Krawalle als Werk von asozialen Elementen und »dummen Jungs« hinstellten und der These von den Wirkungen des »jüdischen Wuchers« beipflichteten.95 Man wollte die Unruhen als rein kriminelle Handlungen behandeln, die man mit Mitteln der Gerichte bearbeiten könnte, und wollte den politischen Zusammenhang von antisemitischer Agitation und Gewalt nicht wahrhaben. Als ein Behördenvertreter aus Köslin diesen Zusammenhang ansprach und auf die Hetzereien der Norddeutschen Presse verwies, stieß er damit auf Unverständnis bei den Neustettiner Behörden, die gerade umgekehrt die liberale Neustettiner Zeitung einstellen lassen wollten, da diese die öffentliche Stimmung erregt und den »gemeinen Mann« zu den Exzessen angeregt habe. Wie sehr die politische Sympathie vieler Behördenvertreter bei der Sicht auf die Ereignisse durchschlug, zeigt der Fall des Neustettiner Bürgermeisters, der von der Neustettiner Zeitung die Richtigstellung eines Artikels über die Unruhen verlangte und dabei als Muster gerade die antisemitisch gefärbte Darstellung des Konkurrenzblattes, der Norddeutschen Presse, empfahl.96 Von jüdischer Seite wurde die Haltung der staatlichen Organe deutlich kritisiert. So veröffentlichte die AZJ einen Leitartikel mit dem Titel »Was ist die erste Pflicht des Staates«, in dem sehr deutlich gemacht wurde, dass Behörden ungeachtet ihrer eigenen Ansichten zum Gegenstande eines Übergriffs, in jedem Fall Leben und Eigentum der Bürger zu schützen hätten. Damit übte die Zeitung heftige Kritik am mangelnden Einsatzwillen von Polizei und Militär. Sie beschuldigte diese, sich zu Teilnehmern eines Verbrechens zu machen und damit sogar die Anarchie und Gesetzesverletzung  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Die jüdischen Zeitungen wie die AZJ und Der Israelit berichteten in den folgenden Monaten von zahlreichen Anschuldigen seitens der antisemitischen Zeitungen Norddeutsche Presse und Germania gegen die Juden, wie Ritualmordvorwürfe, Vorwürfe der Wahlfälschung, der Warenhortung und des Wuchers etc. (vgl. dazu Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. ).  Hoffmann, Politische Kultur, S.  ff.; auch: Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. .  Die AZJ (Jg. , Heft , .., S.  f.) berichtete von diesem Vorgehen des Bürgermeisters als von einem »Curiosum ersten Ranges«. Dieser richtete am .. ein Schreiben an die »geehrte Redaktion« der Neuen Stettiner Zeitung und legte ein Exemplar der Norddeutschen Presse bei, »in welcher ein sachlicher Bericht über die Ausschreitungen am . und . d. M., wenn auch mit mehreren Übertreibungen, enthalten ist, mit dem ergebenen Ersuchen, danach eine Berichtigung des Artikels in der Stargarder Zeitung vom . Juli gefälligst zu veranlassen. Die Polizei-Verwaltung Zingler«. Die AZJ fügte dem noch einen längeren Bericht dieses von der Behörde empfohlenen, mit antisemitischen Invektiven gespickten Artikels an. Vgl. auch Hoffmann, Politische Kultur, S. .

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zu sanktionieren, indem sie die Majestät des Gesetzes und des Staates mit Füßen träten. In Anspielung auf die Pogrome in Russland wurde das zögernde Eingreifen der Behörden im eigenen Lande kritisiert sowie das Abschieben der Schuld auf die Geschädigten.97 Juden begannen aber auch, sich gegen die Anschuldigung zu wehren, an den Unruhen selbst schuld zu sein, indem sie Denkschriften verfassten und Prozesse gegen die sie verleumdenden Zeitungen anstrengten.98 Hatten also einige Politiker und Beamte zunächst die Unruhen und die vorherrschende Volksstimmung als politisches Kampfmittel gegen den Liberalismus gewendet, so ließ sich diese Position angesichts der mehrwöchigen Gewaltwelle in Pommern und Westpreußen nicht mehr halten und man war gezwungen, die antijüdischen Ausschreitungen auch als Resultat der »förmlichen Agitation« der Antisemiten zu begreifen und begann nun, eine härtere Gangart gegenüber antisemitischen Hetzern einzuschlagen.99 Wie sehr die antisemitische Agitation bei der einfachen und wenig gebildeten Landbevölkerung verfing, dokumentiert eine in der AZJ abgedruckte Zeugenaussage eines nichtjüdischen Bürgers, der auf die Frage des Schwurgerichts in Köslin Ende November  »Wer ist von den Angeklagten der Anführer?«, zur Antwort gab: »Niemand von denen, das sind alles nur arme bethörte Leute, die kenne ich von Jugend auf und noch kann ich es nicht fassen, dass sie so furchtbar verblendet handeln konnten […]. Der Aufruhr in Schivelbein ist eine Folge der wüsten Agitation gegen die Juden, von der die gemeinen Leute glaubten, dass sie von oben herab begünstigt werde […] Milde beurteilen sollte man die Ausschreitungen der Angeklagten […] Die Leute haben schließlich geglaubt, sie thäten dem Staat einen Gefallen«.100 So gerieten nun die Antisemiten immer mehr in die Defensive, und es kam zu einer Verstärkung der internen Differenzen in der antisemitischen Bewegung zwischen den Radikalen um Ernst Henrici und den Gemäßigteren um Adolf Stöcker, der sich gegen die Vorwürfe der geistigen Urheberschaft von liberaler Seite wehren musste und Gewalt ablehnte. Der preußischen Innenminister ordnete  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.  Es waren jüdische Bürger aus Neustettin und Stolp, die sich mittels der Justiz zur Wehr setzten, indem sie Prozesse gegen Redakteure bzw. Redaktionen von Blättern wie dem Bayrischen Landboten und der Norddeutschen Presse anstrengten, in denen die Juden beschuldigt wurden, die Synagoge selbst angesteckt zu haben bzw. Christen bei den Unruhen mit Flaschen und Kot beworfen zu haben (vgl. Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. ). Delegierte aus zwanzig jüdischen Gemeinden Pommerns und Westpreußens richteten eine Denkschrift an die Provinzial- und Zentralregierungen, in der sie forderten, alle zur Verfügung stehenden polizeilichen, militärischen und juristischen Mittel einzusetzen, um die Unruhen zu stoppen (ebd.).  Ebd.; auch Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Ein jüdischer Bürger weitete dies aus, indem er in einem Brief an einen Landrat darauf hinwies, dass der Glaube, die Exzesse würden von der Regierung gebilligt, nicht nur von den einfachen Leuten, sondern auch von den bürgerlichen Schichten geteilt wurde. Der Landrat wies den Vorwurf der Billigung von staatlicher Seite in seinem Antwortschreiben energisch zurück (zit. nach Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. ).

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am . August  in einem Erlass an die Regierungspräsidenten der betroffenen Kreise an, dass weitere »Ruhestörungen ›agitatorischer Bestrebungen antisemitischer Führer‹ durch strenge Auslegung des Vereins- und Versammlungsrechtes vereitelt werden sollten.«101 So verbot die Regierung zu Marienwerder das geplante Auftreten Henricis in Hammerstein.102 Da auch dies die weitere Ausbreitung der Gewalt nicht stoppen konnte und Kaiser Wilhelm I. den zu geringen Einsatzwillen der Polizei kritisierte,103 wurden am . August  in einem weiteren Erlass schärfere Maßnahmen und eine genaue Untersuchung der Vorfälle angeordnet.104 Damit machte die Regierung schließlich öffentlich deutlich, dass sie antisemitische Krawalle nicht länger dulden werde.105 Christhard Hoffmann betont zu Recht, dass damit den nach dem Selbstverständnis der Akteure »loyalen Pogromen« ihre Legitimation entzogen war. Dies und der deutlich härtere, ja blutige Einsatz von Militär, wie in Stolp, wo es am . September  erneut zu Unruhen gekommen war, beendete schließlich diese Gewaltwelle (s. o.).106 Nach Bernhard Vogt, der die jüdische Zeitung Der Israelit daraufhin durchgesehen hat, war die staatliche Verfolgung der Straftäter keineswegs sehr entschlossen. In den meisten Fällen wurden die ermittelten Täter freigesprochen, zu geringen Geldstrafen oder zu kürzeren Haftstrafen von zwei bis acht Wochen wegen groben Unfugs verurteilt. Nur in den Fällen, wo es zum Widerstand gegen die Staatsgewalt gekommen war, konnten die Strafen mit ein bis zwei Jahren Haft deutlich höher ausfallen.107 Auch Christoph Jahr kommt zu dem Schluss, dass die juristische  Hoffmann, Politische Kultur, S.  f. Die AZJ begrüßte es am . August, dass nun endlich die offiziöse Provinzial-Correspondenz kritisch zu den Ereignissen Stellung nahm und seitens des Innenministeriums die regionalen Behörden zum energischen Eingreifen aufgefordert worden seien (Jg. , Heft , .., S.  f.; ebenso: Der Israelit, Jg. , Nr. , , .., S. ).  Der Israelit, Jg. , Nr. , .., S. .  Die AZJ berichtete erfreut, dass der Kaiser sich über die Unruhen habe informieren lassen und strengste Untersuchungen gefordert habe. Auch habe man »von hoher Seite« auf energische Maßnahmen gegen die antisemitische Agitation hingewirkt und man sei in »allerhöchsten Kreisen« über die Krawalle in Pommern und Westpreußen sehr verstimmt (Jg. , Heft , .., S. ).  Der Regierungspräsident von Marienwerder hatte schon Mitte August einen Erlass an die Landräte seines Bezirks geschickt, in dem er ein energisches Durchgreifen verlangte. Zur Umsetzung dieses Erlasses durch den Landrat von Arnswalde siehe: AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Die Presse außerhalb Preußens kommentierte diesen überfälligen Sinneswandel der preußischen Behörden ironisch so: »Eins haben die ruchlosen Excesse doch bewirkt und ein Wunder schier; sie haben an der Regierung die Mundöffnung vollzogen und wir vernehmen Worte der Entrüstung, begleitet von der Ankündigung, dass den Ruhestörern die volle Energie der Behörden gezeigt werden soll. Es war hohe Zeit, denn die Hetzsaat, zu der man geschwiegen hatte, begann üppig ins Kraut zu schießen und war frech genug, ihr Wachstum dem Segen des Sonnenscheins von oben zuzuschreiben«, Neue Badische Landeszeitung, zit. nach AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Hoffmann, Politische Kultur, S. .  Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. .

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Aufarbeitung der Ausschreitungen einiges zu wünschen übrig ließ, da die Strafen, zumeist für Landfriedensbruch, insgesamt zu niedrig ausfielen und zudem für dasselbe Verbrechen ganz unterschiedlich ausfielen. Strafen für Landfriedensbruch konnten einmal zwei Wochen, ein anderes Mal sechs Wochen oder gar ein Jahr betragen.108 Empfindlicher wurden jedoch die Gemeinden getroffen, da sie den Juden den entstandenen Schaden bezahlen mussten, der sich z. T. auf erhebliche Summen belief.109 Was die langfristigen Wirkungen angeht, so hatte sich nach Christhard Hoffmann die Haltung der Regierung zum Antisemitismus durch die Unruhen nicht grundlegend geändert, zumal man ihn als Bundesgenossen im Kampf gegen den Liberalismus betrachtete und allenfalls seine gewalttätigen Auswüchse bekämpfte. Nachhaltiger war die Störung der Beziehungen zwischen Christen und Juden in Neustettin und Umgebung, wo die radikalen Antisemiten wie Hermann Ahlwardt eine große Anhängerschaft besaßen und dieser  dem etwas gemäßigteren Antisemiten Stöcker den Wahlkreis abnehmen konnte. Es waren mit Neustettin und Konitz und Umgebung wiederum zwei Städte bzw. Regionen Pommerns und Westpreußens, die  (Neustettin) und  (Konitz) erneut zum Schauplatz antijüdischer Ausschreitungen wurden (s. u.). Das Nachspiel: Der Prozess zum Neustettiner Synagogenbrand und erneute Krawalle  Die antisemitische Gewaltwelle war zwar zu Ende gegangen, doch trat eine Beruhigung in dieser Gegend nicht ein, da die Ermittlungen zum Neustettiner Synagogenbrand und der ab dem . Oktober  in Köslin folgende Prozess die Gemüter erneut erregten. Nach Hartston hatten die Ermittlungen seit dem Frühjahr  außer in Neustettin selbst kaum mehr öffentliches Interesse gefunden.110 Schließlich verhafteten die Ermittler aufgrund von Beschuldigungen lokaler Antisemiten und verschiedener lokaler »Augenzeugen« fünf einheimische Juden als Verdächtige. Aufgrund der Schwere der Anschuldigungen verpflichtete die jüdische Gemeinde den bekannten Berliner Rechtsanwalt Dr. Erich Sello und für den späteren Konitzer Prozess zusätzlich noch den ebenfalls bekannten Berliner Justizrat Dr. Hermann Makower und zwei weitere Juristen aus Pommern.111 Das Interesse  Christoph Jahr, Antisemitismus vor Gericht. Debatten über die juristische Ahndung judenfeindlicher Agitation in Deutschland (-), Frankfurt a. M., New York , S.  f.  Laut AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) kämen »bittere Klagen aus den Gemeinden derjenigen Städte Pommerns und Westpreußens, in welchen Judenkrawalle stattfanden, wegen der den Stadtbehörden zufallenden Entschädigungslast«. Diese konnten sich wie in Schivelbein auf . Mark belaufen.  Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. .  Zur Biographie von Sello und Makower vgl. Hoffmann, Der Prozeß, S. - bzw. .

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an dem Fall nahm wieder zu, als im Sommer und Herbst  der »Ritualmordprozess« von Tiszaezlár die europäische Öffentlichkeit beschäftigte, der in Ungarn zu antijüdischen Ausschreitungen führte (s. u.).112 Dieser Fall ließ die Diskussion über die »Judenfrage« wiederaufleben, und die konservative, die katholische und antisemitische Presse lieferte sich Auseinandersetzungen mit der liberalen und jüdischen Presse. Der Tiszaezlár Prozess endete mit dem Freispruch des jüdischen Angeklagten und bereitete der antisemitischen Seite eine herbe Niederlage, die nun in dem Neustettiner Synagogenprozess die Chance sah, verlorenes Terrain wiedergutzumachen. Deshalb lenkten die entsprechenden Zeitungen wie die Germania und die Kreuzzeitung ihre Aufmerksamkeit nun auf diesen Fall, dies galt aber auch für die Gegenseite, etwa das Berliner Tageblatt.113 Der Prozess vor dem Königlichen Schwurgericht in Köslin dauerte vier Tage (.-. Oktober ). Die fünf Angeklagten wurden von der vorsätzlichen Brandstiftung freigesprochen, zwei wurden aber wegen Mittäterschaft zu vier Jahren Gefängnis bzw. zur Einweisung in eine Besserunganstalt verurteilt, zwei weitere zu drei bzw. sechs Monaten Gefängnis, weil sie Kenntnis von der Brandstiftung erhalten, dies aber nicht angezeigt hätten. Ein Angeklagter wurde freigesprochen.114 Als Motiv nahm der Staatsanwalt an, sie hätten das Aktivwerden der Regierung gegen die antisemitische Bewegung provozieren wollen, womit er der Argumentation der Antisemiten aufsaß. Die Verurteilung geschah auf der Basis einer ganzen Reihe von Zeugenaussagen, die sich zwar stark widersprachen, aber in der Beschuldigung der angeklagten Juden einig waren. Einige Zeugen waren offensichtlich unglaubwürdig, andere sagten aus, obwohl sie bei den ersten Ermittlungen angegeben hatten, nichts über das Verbrechen zu wissen. Auch die Geschworenen waren konservative Landbesitzer mit antisemitischen Neigungen. Wir haben hier ein Phänomen vor uns, das im Ritualmordfall von Konitz zwanzig Jahre später von Helmut Walser Smith und Christoph Nonn detailliert untersucht worden ist, nämlich die Rolle von Gerüchten und Geschichten vom Hörensagen in von einer antisemitischen Stimmung erfassten Kleinstadt.115 Gegen dieses Urteil wurde von der Verteidigung Revision eingelegt, und es kam am . Januar  zur Revisionsverhandlung vor dem Reichsgericht in Leipzig, das das Kösliner Urteil wegen eines verfahrenstechnischen Fehlers, aber nicht wegen der inhaltlichen Einwände der Verteidigung, aufhob und den Fall zur erneuten Verhandlung an das Schwurgericht in Konitz überwies, wo die Verhandlungen am . Februar  begannen.116 Beide Konfliktparteien waren in der Zwischenzeit nicht müßig gewesen. So erklärten die Zeitungen der Antisemiten, dass sich nun entscheidende, bisher schweigende  Die Schreibweise schwankt zwischen der Zusammen- und Getrenntschreibung des Ortsnamens: Tiszaezlár und Tisza-Ezlár sowie der Schreibweise Tisza-Eslár.  Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. .  Vgl. dazu Hoffmann, Der Prozeß; auch Jahr, Antisemitismus vor Gericht, S. .  Smith, Die Geschichte des Schlachters; Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder.  Hoffmann, Der Prozess, S.  und ; zum Prozessverlauf vgl. auch: Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S.  ff.;

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Männer zur Aussage bereit erklärt hätten,117 während die Verteidigung es beim preußischen Innen- und Justizministerium durchgesetzt hatte, einen versierten Berliner Kriminalkommissar zur nochmaligen Untersuchung der Brandstiftung nach Neustettin zu entsenden.118 Der Prozess in Konitz war ein Sensationsprozess und der Andrang des Publikums und das Interesse der Zeitungen entsprechend groß. Nach sieben Verhandlungstagen und der Einvernahme von über  Zeugen wurden am . März  alle vier noch Angeklagten freigesprochen, der inhaftierte Hirsch Lesheim wurde aus der bereits angetretenen Haft entlassen.119 Die antisemitische Presse reagierte wütend auf diese Freisprüche, die sie als Beweis dafür ansah, wie sehr die Juden das deutsche Rechtssystem korrumpiert hätten, während die liberale Presse sie begrüßte.120 Nach diesem Konitzer Freispruch kam es in Neustettin zu »vorhersehbaren Gewalttätigkeiten« gegen die aus Konitz wegen der Sicherheitsbedenken erst am . März heimkehrenden Angeklagten, die Zeugen und andere Neustettiner Juden.121 Obwohl antisemitische Plakate in der Stadt aufgetaucht waren, die zum öffentlichen Protest gegen das Urteil aufriefen, traf die örtliche Polizei keine Sicherheitsvorkehrungen. Als die Heimkehrenden vom Bahnhof mit dem Pferdeomnibus in die Stadt fuhren, wurden sie von einer größeren Menschenmenge mit Schmäh- und Drohrufen wie »Brandstifter raus!« und »Mordbrenner raus!« empfangen. Auf dem Marktplatz umringte die mit Stö Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. , weist hier auf die besondere Rolle des konservativen Landrates Bogislav von Bonin hin, der mit den Antisemiten sympathisierte und aktiv mithalf, nach dem ersten Prozess neue Zeugen für den Konitzer Prozess zu »finden«.  Hoffmann, Der Prozeß, S. . Dazu muss man wissen, dass damals die Polizei der Reichshauptstadt Berlin eine wesentlich bessere, nach moderneren Ermittlungsmethoden vorgehende Kriminalpolizei besaß. Vgl. ähnlich im Fall Konitz, wo schließlich ebenfalls Berliner Kommissare angefordert wurden (s. u., vgl. dazu auch: Johannes Groß, Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im deutschen Kaiserreich -, Berlin , S. ). Dieser Kommissar spielte im Konitzer Prozess eine wichtige Rolle, da er sich immer wieder zu Wort meldete und die belastenden Aussagen von Zeugen in Zweifel zog (Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. ).  Der Verlauf der Verhandlungen einschließlich der Plädoyers ist zusammenfassend wiedergegeben in: ebd., S. -. Der Israelit (Jg. , Heft , .., S.  ff.) druckte die »Verteidigungsreden der Herren Sello und Makower vor dem Konitzer Schwurgericht« in voller Länge ab. Allerdings hielt der Staatsanwalt trotz der im Prozess zu Tage getretenen völligen Unglaubwürdigkeit der Zeugen weiterhin an seinem Strafantrag fest (Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. ).  Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. ; vgl. die Berichte über den zweiten Neustettiner Synagogenbrand-Prozeß in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. -; Heft , .., S. -.  Hoffmann, Der Prozeß, S.  ff.; nach dem siegreichen ersten Prozess in Köslin waren die heimkehrenden Belastungszeugen in Neustettin von der Menge begeistert empfangen worden (Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S.  f.). Bei Hartston finden sich auch die Reaktionen auf das Urteil sowohl einiger antisemitischer Blätter und von Ernst Henrici, die das Urteil bejubelten, als auch von liberalen Zeitungen mit kritischen Kommentaren (ebd., S.  f.).

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cken bewaffnete Menge den Wagen. Ein Gendarm griff ein, während der ebenfalls anwesende Bürgermeister sich entfernte, und ließ den Wagen bis zum Haus eines der zuvor Angeklagten weiterfahren, wo der Wagen mit Steinen beworfen und mit Knüppeln attackiert wurde. Unter der Deckung des Gendarmen gelang es den heimkehrenden Juden ins Haus zu kommen, wobei einer durch Stockschläge bewusstlos geschlagen wurde. Nun griff der Mob die Wohnung an und demolierte sie, während die dort Schutz suchenden Juden sich in einer anderen Wohnung des Hauses in Sicherheit bringen konnten. Einem weiteren jüdischen Fahrgast erging es noch schlechter, denn er wurde beim Aussteigen so zugerichtet, dass er für längere Zeit arbeitsunfähig war. Insgesamt wurden bei den Ausschreitungen mindestens sechs Juden verletzt. Die Menge griff nun andere von Juden bewohnte Häuser mit Steinwürfen an und demolierte alles Erreichbare.122 Die wenigen eingesetzten Polizisten konnten die Gewalt nicht beenden, die zwei Tage bis zum . März andauerte, bis auf Initiative der Juden Militär in die Stadt beordert wurde, das die Ruhe wiederherstellte, die in der Folgezeit allerdings durch einzelne Übergriffe immer wieder gestört wurde, so dass man den Abzug des Militärs aufschob. Als das Militärkommando am . April dann aus Neustettin abrückte, verstärkte die Ortspolizeibehörde die Mannschaften durch einige zusätzliche Gendarmen.123 Diese langanhaltende Militärpräsenz zeigt an, wie vergiftet das Klima zwischen Juden und Christen in Neustettin war.124 Die AZJ schrieb, dass den »Juden in  Basis der Darstellung ist ein Augenzeugenbericht, abgedruckt in: Der Israelit (Jg. , Heft , .., S.  f.), auch abgedruckt in: Hoffmann, Der Prozeß, S. -. Auch die AZJ berichtete davon: Jg. , Heft , .., S.  f. Die Polizeiverwaltung ließ in der Ostsee-Zeitung eine wesentlich harmlosere Darstellung der Vorgänge veröffentlichen, nur geringe Übergriffe und Zerstörungen wurden zugegeben, schwerwiegendere Übergriffe abgestritten, und die Juden selbst wurden beschuldigt, aus einem Haus Steine auf das Publikum geworfen zu haben (Hoffmann, Der Prozeß, S. ). Dem widersprach der angeschuldigte jüdische Bürger in einem Brief an die Neustettiner Zeitung ebenso wie ein Neustettiner Bürger in einem Privatbrief vom . März  (ebd., S. ). Gegen den angeschuldigten Juden wurde sogar ein Prozess angestrengt, wo sich viele Belastungszeugen meldeten, während die antijüdischen Übergriffe keiner gesehen haben wollte. Der Prozess endete aber mit einem Freispruch (ebd., S. ).  Der Israelit, Heft , .., S. , berichtet mit Bezug auf die Neue Stettiner Zeitung von einer Schlägerei, eingeworfenen Fenstern, aber auch von Patrouillen und Verhaftungen. In diesem Fall griff die Justiz etwas härter durch. Mehrere Tumultuanten wurden zu mehrmonatigen Haftstrafen, zwei sogar zu zwei bzw. drei Jahren verurteilt (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  und . Die Verbreitung antijüdischer Überzeugungen wird in einem Vorgang am Rande des Konitzer Prozesses deutlich: Der Verteidiger der jüdischen Angeklagten, Dr. Sello, hatte seinen Eindruck von den Zeugenvernehmungen publiziert, woraufhin zwei der betroffenen Zeugen, der städtische Pastor und der Schulrektor sich zu Wort meldeten. Sie hätten keineswegs von Anfang an an die Schuld der Juden geglaubt, doch hätten sie die Aussagen glaubwürdiger Zeugen überzeugt. Dies glaubten sie auch heute noch. Sie schlossen ihre Antwort mit dem Passus: »Im Uebrigen sind wir der Ansicht, daß es unserem gesammten deutschen Volke nur zum Heile gereichen könnte, wenn es ihm gelänge, sich von dem Banne der Juden-

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Neustettin das Leben sauer gemacht (werde) und zwar nicht weniger durch Personen aus den sog. Gebildeten Ständen als auch von der unteren Masse. Es haben daher auch schon mehrere Familien den traurigen Ort verlassen«. Der im Konitzer Prozess mitwirkende Neustettiner Rechtsanwalt Scheunemann schrieb Hermann Makower, einem anderen Verteidiger in diesem Prozess, im Mai : »Zur Zeit ist alles ruhig; das Verhältnis zwischen den hiesigen Juden und Christen ist aber kaum besser geworden. Der Funke des Hasses und Fanatismus glimmt unter der Asche; es bedarf nur der passenden Gelegenheit, um ihn wieder zur Flamme emporlodern zu lassen«.125 Diese erneuten Krawalle in Neustettin veranlassten die liberale Presse zu scharfer Kritik an Innenminister v. Puttkammer, der nicht die nötigen Sicherheitsvorkehrungen habe treffen lassen, und sie wurden aufgrund einer Interpellation »betreffend die tumultuarischen Vorgänge in Neustettin am . und . März d. J.« seitens des liberalen Abgeordneten Robert Zelle am . März  sogar zum Thema einer Sitzung im Preußischen Abgeordnetenhaus, in der dieser die Regierung um »authentische Auskunft« über die Vorgänge bat, da es offenbar sehr widersprüchliche Berichte über die Geschehnisse in Neustettin und eine große Aufregung darüber in der Öffentlichkeit gab. Zelle erhoffte sich von einer Stellungnahme des Ministers eine Beruhigung der öffentlichen Stimmung.126 Innenminister v. Puttkammer gab eine insgesamt verharmlosende Darstellung der Vorgänge aufgrund der von den dortigen Behörden vorliegenden Informationen, was ihm viel Zuspruch »von rechts« eintrug, und er beschuldigte die Presse einer aufbauschenden Berichterstattung. Die christlich-sozialen Antisemiten Adolf Stöcker und Adolf Wagner nutzten die parlamentarische Bühne für antisemitische Hetzreden. Stöcker hielt die Vorgänge in Neustettin für zu unwichtig, um deshalb eine Interpellation einzureichen. Er vermutete dahinter Parteiinteressen der deutsch-freisinnigen Partei und beschuldigte diese, die Justiz zugunsten der Juden beeinflussen zu wollen. Die erste Provokation im Jahre  wie auch jetzt die neuerliche in Neustettin sei (ebenso wie im Fall Kantorowicz)127 von den Juden ausgegangen. Diese würden die Menschen bis freundlichkeit und Judenabhängigkeit freizumachen. Die Mehrheit unserer Mitbürger ist in diesem Sinne mit uns einig.« Diese Meinung sei nicht durch Zeitungnachrichten oder Volksreden entstanden, sondern »eine Frucht langjähriger Erfahrung« (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses, . Sitzung am . März , S. -; Hoffmann, Der Prozeß, S. ; Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S.  f. Der Israelit brachte einen kurzen Leitartikel zu den »Neustettiner Excessen vor dem Hause der Abgeordneten in Berlin« und druckte die Rede Munckels ab (Erste Beilage zu Jg. , Nr.  des Israeliten vom .., S.  f.). Die AZJ berichtete ebenfalls von der Debatte und bezichtigte die Konservativen, die Interpellation zu antisemitischen Reden ausgenutzt zu haben (Jg. , Heft , .., S.  f.).  Stoecker spielt hier auf einen Konflikt aus dem Jahre  in Berlin an, der sog. Affäre Kantorowicz bzw. den »Fall Förster-Jungfer«, wobei er aber fälschlich statt der Antise-

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aufs Blut quälen, etwa durch ihre Wucherei, und dann im Moment des Konflikts zur Gewalt greifen.128 Die beiden deutsch-freisinnigen Abgeordneten Albert Hänel (-) und August Munckel (-) stimmten der Darstellung des Ministers weitgehend zu, betonten aber den ernsteren Charakter der Unruhen und die Tatsache, dass die Behörden nicht im Stande waren, die Übergriffe zu verhindern. Munckel griff jedoch die Behörden auch direkt an, da die Bevölkerung den Eindruck habe gewinnen können, dass sie eigentlich mit dem Antisemitismus und den Übergriffen ein nicht nur für Stoecker sondern für die Regierung »wohlgefälliges Werk« tun würde. Er griff dabei besonders die eigenständige Zeugenvernehmung des Landrates v. Bonin sowie Stoecker an, dessen Anschauungen die Ausschreitungen motiviert hätten. Minister v. Puttkammer wies die Vorwürfe zurück und vermutete nun als Motiv der Interpellation nichts als einen Angriff auf die Regierung. Diese und die noch folgenden Reden, die am Ende in immer heftigere, gegenseitig beleidigende Wortgefechte mündeten, machen deutlich, wie sehr die Haltung zum Antisemitismus und zu den antijüdischen Ausschreitungen zwischen den liberalen und den konservativen und antisemitischen Kräften im Abgeordnetenhaus polarisiert war.129 Verlierer der Ausschreitungen waren einmal die angegriffenen Juden. So sollen mehrere tausend Juden Pommern verlassen haben, da sie sich sozial isoliert fühlten und neuerliche Ausbrüche von Gewalt fürchteten. Tatsächlich blieb es in der Gegend unruhig, und es kam in den nächsten zwanzig Jahren hier wiederholt zu gewaltsamen Übergriffen.130 Aber auch für den organisierten Antisemitismus hatte die Gewaltwelle negative Folgen, da die Regierung sich kaum der Einsicht verschließen konnte, dass die antisemitische Agitation eines Ernst Henrici eine wesentliche Rolle als Auslöser der Gewalt gespielt hatte. Dies bedrohte das Bündnis der Konservativen mit den Antisemiten, die hofften, gemeinsam Teile der Arbeiterschaft von den Sozialdemokraten zurückgewinnen zu können. Dies führte zwar nicht zur Abwendung der Konservativen von der antisemitischen Rhetorik, aber man versuchte sich der radikalen Antisemiten zu entledigen und nur noch mit gemäßigten antisemitischen Kräften zusammenzuarbeiten. Ende  wurde Henrici gezwungen, das Conservative Central-Comité (CCC) zu verlassen, woraufhin seine Soziale Reichspartei an Einfluss verlor. Auch innerhalb der antisemitischen Bewemiten Bernhard Förster und Carl Jungfer von Ernst Henrici spricht, der an diesem Fall nicht beteiligt war. Dazu: Uffa Jensen, Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im . Jahrhundert, Göttingen , S.  f.; Clemens Escher, Die Kantorowicz-Affäre (), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S.  f.  Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses, S.  f.  Ebd., S.  f. Zur Kritik der Position v. Puttkammers gegenüber den eigenständigen Ermittlungen des Landrates v. Bonin siehe auch AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.  Dazu Vogt, Antisemitismus und Justiz, S. . Im Frühjahr des Jahres  sollte es nach dem »Ritualmordfall« in Konitz zu heftigen Ausschreitungen gegen Juden in diesem Gebiet kommen. Siehe dazu unten Kap. ..

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gung setzten sich die eher konservativen Kräfte um Stoecker und Max Liebermann von Sonnenberg von den Radikalen ab, man erteilte dem Radau-Antisemitismus eine Absage und betonte seine Loyalität gegenüber Staat und Kaiser.131 Hartston betont aber zu Recht auch noch eine andere, von Christhard Hoffmann etwas unterschätzte Folge, nämlich die Tatsache, dass die beiden Prozesse wegen des Synagogenbrandes von allen politischen Lagern, von den Konservativen über die radikalen Katholiken bis hin zur liberalen Politikern und Presseorganen, genutzt wurden, um ihre politische Position zu untermauern. Auch den radikalen Antisemiten wie Henrici boten sie reichlich Stoff, um Publikum bzw. Käufer für ihre Reden und Broschüren zu gewinnen. Neustettin diente ihnen immer wieder als Beispiel für die jüdische Kriminalität und ihre Fähigkeit, die deutsche Justiz zu korrumpieren, um straflos auszugehen.132 Krawalle in St. Gallen im Juni  Ähnlich wie im Deutschen Reich führte der Umbruch in Industrie und Gewerbe auch in der Schweiz zum sozialen Abstieg vieler Handwerker und Gewerbetreibender, die sich der neuen Entwicklung weniger gut anpassten als Juden, die mit neuen Produktions- und Verkaufsmethoden erfolgreich waren.133 Juden galten vielen als Nutznießer der neuen liberalen Wirtschaftsordnung, und vor allem in katholisch-konservativen Kreisen sah man in Liberalismus und Kapitalismus eine zunehmende »Verjudung« der Gesellschaft. Insbesondere in der Textilbranche der Ostschweiz wurden von den christlichen Konkurrenten die »verwerflichen Handelsgrundsätze«, die Gründung von Waren- und Versandhäusern und neue Formen der Kundenwerbung seitens jüdischer Geschäftsleute kritisiert. Juden wurden als Volk von Profiteuren hingestellt, das eine rücksichtslose Macht- und Ausbeutungsprolitik betrieb. Sowohl in der politischen Linken wie Rechten sah man in der Geschäftstätigkeit der Juden eine Gefahr. Nach Sabine Schreiber spielte der wachsende aggressive Nationalismus dabei eine große Rolle, da die konkurrierenden Parteien sich über das Vehikel des Antisemitismus politisch zu positionieren suchten. »Während die katholisch-konservative Seite hemmungslos antisemitische Ressentiments schürte, demontierte die freisinnig-liberale Seite die Lügen der Rechten zwar mit Akribie, doch auch ihre Argumente weisen unterschwelligen oder offenen Antisemitismus auf. Die Blätter aller Lager wurden nicht müde, die Schuld direkt oder indirekt den ›minderwertigen semitischen Elementen‹ anzulasten, gegen die sich die ausgebeuteten Schweizer zu Recht zur Wehr setzten«.134 Hinzu kam nach den Pogromen im Zarenreich der Zustrom osteuropäischer Juden, angesichts deren Kinderreichtums man eine »Überschwemmung« der Schweiz durch 

Hoffmann, Politische Kultur, S. ; Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. .  Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. .  Külling, Bei uns wie überall?, S.  ff.  Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky, S.  f.

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diese »fremden Elemente« befürchtete.135 Man muss dabei berücksichtigen, dass in St. Gallen ausländischen Juden erst mit dem Emanzipationsgesetz von  eine Niederlassungsbewilligung erteilt worden war, auch Schweizer Juden hatten diese erst zwei Jahre zuvor bekommen.136 Entsprechend sahen sich die jüdischen Betreiber von Handelsgeschäften antisemitischen Sticheleien ihrer christlichen Konkurrenten ausgesetzt, so dass manche ihre Geschäfte aufgaben. In St. Gallen musste Louis Bamberger, der dort erst kurz zuvor ein Abzahlungsgeschäft übernommen hatte, dieses für einige Zeit schließen, nachdem es zu Plünderungen seines Geschäfts gekommen war. Auslöser dieser Unruhen war eine Artikelserie Bambergers im St. Galler Stadt-Anzeiger,137 in der er über die große schweizerische Landesausstellung in Zürich, auf deren dort gezeigte Leistungen viele Schweizer sehr stolz waren, in einem teils lobenden, teils aber klassenkämpferisch-sozialkritischen und auch herablassenden sowie gelegentlich schnoddrig-spöttischen Ton berichtete und die sozialen Zustände im Lande kritisierte. Hinzu kam, dass der aus Deutschland stammende Bamberger den Nationalstolz der Schweizer dadurch verletzte, dass er ihnen die kulturelle Überlegenheit der deutschen Nachbarn vorhielt. Gerade gegenüber den Belehrungen aus Deutschland waren die Schweizer in dieser Zeit besonders empfindlich.138 Auf den zweiten Artikel in der Serie vom . Juni  hin gab es einen mit W. S. unterschriebenen zornigen Leserbrief, den das freisinnige Tagblatt der Stadt St. Gallen am . Juni  publizierte, in dem mehrfach auf das Jüdischsein Bambergers verwiesen wurde.139 





 

Vgl. dazu Külling, Bei uns wie überall?, S.  f. u. . In der Allgemeinen Schweizer Zeitung wurde in der Artikelserie »Der Kleinhandel und das Kleingewerbe« vom ... vor diesen Fremden gewarnt, »welche Stadt und Land wie Fluthen überschwemmen […] Israeliten die hereinstürzen, um unser in dieser Hinsicht noch unversehrtes Land zu besetzen«. Ähnlich warnte die antisemitische Zeitung Der Weinländer angesichts »der bekannten Fortpflanzungsfähigkeit dieser asiatischen Rasse« vor einer Überschwemmung des Landes (..). Der Widerstand gegen den Warenverkauf und die Anmietung von Gewerberäumen durch fremde Kauf- und Handelsleute in St. Gallen, insbesondere durch jüdische, findet sich schon seit den er Jahren. Wie im Kanton Aargau fand auch im Kanton St. Gallen das Bundesgesetz von  keine direkte Umsetzung, so dass Aufenthaltsgesuche von Juden bis  weiterhin abgelehnt wurden. Vgl. Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky, S. -. St. Galler Stadt-Anzeiger Nr. , ..; Nr. , .., und Nr. , ... Diese Artikel sowie einige der darauf Bezug nehmenden Artikel aus anderen Zeitungen finden sich wiederabgedruckt in: Aktenstücke zur Orientierung über die Vorgänge in St. Gallen vom . bis , Juni , St. Gallen . Külling, Bei uns wie überall?, S.  ff. Der Leserbriefschreiber irrte sich mit der Betitelung seines Schreibens, da es auf den zweiten und nicht auf den dritten Artikel Bambergers reagierte: »Der III Artikel des Herrn Bamberger über die schweiz. Landesausstellung«, Tagblatt der Stadt St. Gallen, Nr. , ... »Wir möchten wirklich fragen, wie ein ausländischer Jude, der sich eben erst hier ansäßig gemacht hat, […] dazu kommt, das Land, dessen Gastfreundschaft er genießt, zu begeifern?« Zwei Jahre nach dem Krawall sollte sich herausstellen, dass der Schreiber hinter den Initialen W. S. der Tablater Bezirksammann Albert Walliser-von-

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Der Briefschreiber deutete in seinem Schreiben auch an, dass es ihn nicht verwundern würde, wenn man es Bamberger mit Gewalt heimzahlte: »Im Uebrigen würde es wohl Niemanden wundern, wenn einer jener gutpatriotischen handfesten Schweizerarbeiter, deren es auch in St. Gallen viele gibt, dem Bamberger eine runde Summe in währhafter Schweizer Handmünze in seiner ›Abtheilung für Baarzahlung‹ heimzuzahlen versucht wäre«.140 Auch im St. Galler-Stadt-Anzeiger, der ja die Artikel Bambergers veröffentlicht hatte, wurde ein kritischer Leserbrief unter dem Titel »Auch eine Meinung« veröffentlicht, woraufhin sich dessen Verleger von jeglicher Veranwortung für den Abdruck des Bambergerischen Artikels, aber auch des Leserbriefs freisprach.141 Tatsächlich kam es bereits zwei Tage später, am Montagabend, dem . Juni, in Reaktion auf Bambergers Artikel und den Leserbrief im Tageblatt der Stadt St. Gallen vor dem Kaufhaus Bambergers (Tigerhof ) zu einer Katzenmusik mit Trommeln, Pfeifen, Geigen, Gitarren usw., die rasch ein größeres Publikum von ca. dreihundert Personen anzog, dessen Stimmung immer gereizter wurde, so dass schließlich ein Jugendlicher ein Firmenschild Bambergers herunterriss. Dies wiederholte sich am Dienstagabend (. Juni) vor dem Haus des abwesenden Bamberger. An diesem Abend soll die Zahl der Tumultaunten schon auf fünfhundert, durch späteren Zuzug sogar auf zweitausend angewachsen sein, die begannen, die Fenster des »Tigerhofes« einzuwerfen.142 Auf das Einschreiten der Polizei hin, die die Schuldigen festnahm, zog die Menge vor die Polizeiwache, wo ebenfalls unter Drohungen Fensterscheiben eingeworfen und die Freilassung der Verhafteten verlangt wurden. Ein Polizist wurde von Metzgergesellen sehr heftig mit Schlägen traktiert und verletzt. Erst um zwei Uhr morgens soll sich die Menge zerstreut haben.143 Am nächsten Tag wurde ein »Aufruf des städtischen Gemeinderathes« an die Bürgerschaft der Stadt gerichtet, in dem dieser die Bürger unter Verweis auf die stattgehabten Demonstrationen und die Übergriffe auf die Polizei zur

 





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Streng war, der angesehene lokale Führer der katholisch-konservativen Partei. Auch die Aufrufe zur Gewalt in der Ostschweiz und im Weinländer sollen von ihm geschrieben bzw. veranlasst worden sein (Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky, S. ). Tagblatt der Stadt St. Gallen, Nr. , .., zit. nach Aktenstücke, S.  f. St. Galler Stadt-Anzeiger, Nr. , . Juni  (zit. nach: Aktenstücke, S. -). Der Verleger, Th. Wirth, behauptete, der Leserbrief im liberalen Tageblatt sei weniger »gegen den deutschen Juden Bamberger« als gegen den christlichen Stadt-Anzeiger gerichtet gewesen, »den gewisse Herren gerne schädigen möchten« (S. ). Zu den Zahlenangaben Külling, Bei uns wie überall?, S. . Eine kurze Darstellung des »Bamberger Krawalls« findet sich auch bei Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky, S. -. Schreiber verweist auf die bunt gemischte Zusammensetzung der randalierenden Menge, darunter Studenten, Metzgergesellen, Wirte, Leute aus der Nachbargemeinde Tablat und Ortsfremde, sowie auf die ganz unterschiedlichen Motive, aus denen man Bamberger ablehnte, denn dieser verkörperte »diverse zeitgenössische Feindbilder: ein jüdischer Intellektueller, ein arroganter Deutscher, ein ausbeuterischer Kapitalist, ein ›urbaner Salonsozialist‹« (S. ). Tagesneuigkeiten, Schweiz, St. Gallen, in: Tagblatt der Stadt St. Gallen, .., S. .

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Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung aufforderte. Allerdings wandte sich der Gemeinderat auch kritisch gegen Bamberger, indem er schrieb, dass es jedem einleuchten müsse, »daß eine Fortsetzung der Exzesse wohl das ungeeignetste Mittel ist, die Verläumdungen des Bamberger […] zu widerlegen«.144 Die beiden »Katzenmusiken« fanden als typischer Rügebrauch durchaus den Beifall der Presse und einiger Bürger. Die Gewalt wurde als legitime Antwort auf die »Frechheit« und die »Verletzung der Gastfreundschaft« seitens eines Fremden bewertet, auf dessen deutsche und »semitische« Herkunft in einem Artikel der katholisch konservativen Zeitung Ostschweiz deutlich hingewiesen wurde.145 Ein Leserbrief in derselben Zeitung lobte die Katzenmusik als »richtige Würdigung der jüdischen Arroganz des Abzahlungs-Skribifaren« und wünschte dem »Semiten Bamberger« die in dem früheren Leserbrief herbeigewünschte Abreibung.146 Am Ende ihrer Darstellung rückte die Ostschweiz von dem zuvor Gesagten wieder etwas ab, indem sie schrieb, dass man die Exzesse zwar nicht billigen könne und sie verurteilen müsse, dass man aber begreifen könne, dass sich die Schweizer solche »Sottisen« von einem »aus einem fremden Lande hergelaufenen Individuum« nicht gefallen lassen müssten.147 Solche Kommentare waren kaum geeignet, die Tumultuanten von weiteren Aktionen abzuhalten, zumal deren »Selbsthilfe« gegen Bamberger begrüßt wurde. Die Befürchtung des Gemeinderates, dass die Krawalle sich am Mittwochabend fortsetzen würden, erwies sich als berechtigt. Die Polizei hatte zwar vorsorglich Verstärkung bekommen, doch erhoffte man sich einen ruhigen Verlauf der Demonstrationen, wenn sich die Polizei zurückhielte, deren Eingreifen von der Menge offenbar als Provokation gewertet worden war. Dies erwies sich aber als falsche Strategie. Es versammelte sich am Abend eine noch größere Menge »Pöbelvolkes«, wobei die Schätzungen zwischen »über  bis hin zu -. Personen« liegen, die zunächst einem Höllenlärm veranstalteten, bevor sich ein »übelbeleumdeter« Schneider als Agitator hervortat und die Menge zu Einbruch und Plünderung des Bambergerischen Kaufhauses aufstachelte. Laut dem späteren Strafprotokoll bildeten Metzgerburschen (z. T. sollen es Deutsche gewesen sein) den Kern der »Sturmtrupps«, die die Türen aufbrachen und der Menge, darunter vielen Schülern, so den Weg zur Plünderung des Ladens freimachten.148 Die Plünderer warfen Tuche und Kleider aus den Fenstern, die von Personen aus der umstehenden Menge teils  Aufruf des städtischen Gemeinderathes, Mittwoch, den . Juni. An die Tit. Bürgerschaft der Stadt St. Gallen, in: Aktenstücke, S. .  Ostschweiz, Nr. , Donnerstag, . Juni , S. .  Aus dem Publikum, Ostschweiz, Nr. , ...  Ostschweiz, Nr. , ... In einem an diese Darstellung anschließenden Absatz vollzieht die Zeitung dann plötzlich eine Kehrtwende und verurteilt die Exzesse vom Dienstagabend entschieden, vor allem den Angriff auf einen Polizisten.  Külling, Bei uns wie überall?, S.  f. Den Schaden bezifferte der geschädigte Bamberger später auf rund . Franken, was nach Külling einem heutigen Wert von ca. . Franken entspricht.

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davongetragen, teils aber auch – erstaunlicherweise – der Polizei übergeben wurden.149 Zwar gelang es herbeieilenden Mitgliedern des Gemeinderates (nach dem Tagblatt der Stadt St. Gallen bewerkstelligten dies allein zwei Gemeinderäte),150 die Räumung des Kaufhauses durchzusetzen und die Menge zurückzudrängen, doch musste die nachgerückte fünfzig Mann starke Polizei noch einer längeren Belagerung standhalten. Das Zureden, etwa vonseiten einiger herbeigeeilter Elitepersonen, soll mit Steinwürfen, Gelächter, Geschrei und sogar mit tätlichen Angriffen beantwortet worden sein.151 Es kam noch zu einer Zusammenrottung und einer Katzenmusik vor dem Haus der Verlegers Wirth, dessen Zeitung die Beiträge Bambergers gedruckt hatte, und auch vor der Hauptwache der Polizei gab es nach der Verhaftung einiger Haupttumultuanten eine erneute Ansammlung einer großen Volksmenge, aus der wiederum Steine geworfen wurden.152 Aufgrund dieser bedrohlichen Lage alarmierte das kantonale Militärdepartement schließlich das St. Galler Rekrutenbataillon und setzte nach dem Eintreffen der Erlaubnis aus Bern am späten Abend mehrere Kompanien Infanterie und Kavallerie ein, die den Platz vor dem Tigerhof und vor der Polizeiwache räumten. Zwar wurden auch die Truppen mit Geschrei empfangen, doch ereigneten sich angesichts des massiven Aufgebots an Soldaten keine weiteren Übergriffe mehr, so dass sich das Militär gegen Morgen bis auf wenige Patrouillen wieder zurückzog. Auf diese Ausschreitungen hin veröffentlichte der Gemeindrat einen zweiten Aufruf an die Bürgerschaft der Stadt, in dem er betonte, dass die wider Erwarten eingetretenen Ereignisse einen »sehr ernsten und bedenklichen Charakter angenommen« hätten, obwohl man sich von der Zurückhaltung der Polizei und vom »Gewährenlassen der Volksansammlung« einen ruhigen Verlauf versprochen hatte.153 Der Aufruf gibt dann eine kurze Darstellung des Verlaufs der Ausschreitungen, bevor er darauf zu sprechen kommt, dass es der Intervention der Berner Regierung bedurft hätte, die Ordnung in der Stadt aufrechtzuerhalten. Der Rat warnte die Bürger, dass dies weiterhin nötig sein  Tagblatt der Stadt St. Gallen, Nr. , ...  Ebd. So auch der Zweite Aufruf des Gemeinderathes vom .. (Aktenstücke, S. ). In einer späteren Ausgabe des Tagblattes (Nr. , ..) wird aber die Behauptung korrigiert, diese seien mit Steinwürfen überschüttet worden, bestätigt wird aber lautes Geschrei. Auch sei eine der beiden namentlich genannten Personen nicht anwesend gewesen.  So beschrieben im Zweiten Aufruf des Gemeinderathes. Donnerstag, den . Juni, An die Tit. Bürgerschaft der Stadt St. Gallen ! (Aktenstücke, S. ). Die Ostschweiz beklagte später, dass die Gemeinderäte für ihre Forderung nach Ruhe und Ordnung nur Geschrei und Spott geerntet hätten, keinen Einfluss hätten ausüben können und keinerlei Unterstützung aus der Menge gefunden hätten, Männer, die unter den Bürgern Gefolgschaft fänden, wenn es gegen Katholiken und Konservative ginge (Nr. , ..).  Tagblatt der Stadt St. Gallen, Nr. , ...  Zweiter Aufruf des Gemeinderathes, Aktenstücke, S.  f.). Auch abgedruckt im: Tagblatt der Stadt St. Gallen, Nr. , ... Die Ostschweiz warf dem Gemeinderat eine falsche Strategie vor, zumindest hätte man die Wohnung und das Magazin Bambergers absperren müssen, um die Plünderungen zu verhindern (Nr. , ..).

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werde, wenn sich die Bürgerschaft nicht aktiv gegen die Störenfriede wende bzw. sich selbst von diesen Zusammenrottungen fernhielte. Interessant ist, dass der Rat auf die Hilfe der Bürger setzte und einräumte, dass eine Handvoll Polizisten wenig ausrichten und man den Mitgliedern der Behörde kaum zumuten könne, sich Tag für Tag den Beleidungen der Menge auszusetzen, von der ein Teil aus anderen Orten stamme. Der Rat verwies auf die damit anstehenden erheblichen Rechtsstreitgkeiten mit den Nachbargemeinden und auf die Belastung durch die langwierige polizeiliche Ermittlungsarbeit. Der Aufruf warnte zudem davor, dass die Gewalt gegen das Magazin eines Juden morgen auch das eines Christen treffen könne, da für die Tumultuanten die »Hauptsache der Skandal« sei. Damit bestritt der Gemeinderat implizit, dass die Ausschreitungen auch ein judenfeindliches Motiv gehabt haben könnten. In St. Gallen liefen nun Gerüchte um, die Exzesse sollten in eine Judenhetze münden, wobei Namen von Firmen genannt wurden und Beamte und Juden Drohbriefe erhielten. Die Zeitung Ostschweiz zitiert einen an Hausausgängen, insbesondere vor Wirtschaften angebrachten Aufruf: »Laßt euch nicht entmuthigen! Vorwärts! Sei das Losungswort. Zum Lande hinaus mit dem Judenpack. Hoch den Männern des . Juni.«154 Daraufhin traf der Gemeinderat entsprechende Vorkehrungen für den kommenden Tag. Trotz dieses massiven Militäreinsatzes versammelten sich am Donnerstagabend noch einmal mehrere hundert Personen, doch konnte der Auflauf durch Polizei und Militär schnell unterdrückt werden, wobei auch der heftige Regen nachhalf.155 Der Gemeinderat erließ zudem einen Aufruf, in dem er die Rückgabe der geraubten Waren Bambergers forderte, woraufhin »bedeutende Zurückstellungen« erfolgt sein sollen.156 Die Tumulte zeigen einen typischen Ablauf: auf eine Normverletzung hin kommt es zum Einsatz eines niederschwelligen Rügebrauchs. Dieses Ereignis zieht an den folgenden Tagen eine immer größere Menschenmenge, teils auch von außerhalb an, und damit steigt auch das Gewaltniveau, zumal sich auch die zahlenmäßig verstärkte Polizei angesichts der Zahl der Tumultuanten als zu schwach erwies und selbst zum Ziel der Gewalt wurde. Der Versuch, Verhaftete mit Gewalt freizupressen, gehört zum typischen Handlungsrepertoire dieser Form kollektiver Gewalt. Erst der Einsatz von Militär führte dann zur Beendigung der Unruhen. Erst gegen Ende des Krawalls tauchen Aufrufe auf, die explizit ein gewaltsames Vorgehen gegen Juden generell fordern.

 Die Ostschweiz, Nr. , ...  Külling, Bei uns wie überall?, S.  f. Es sollen sich wiederum um die fünfhundert Personen versammelt haben (ebd., S. ); Die Ostschweiz, Nr. , ... Auch am Samstag versammelten sich auf dem Marktplatz wieder Neugierige, da offenbar Gerüchte umliefen, es würde am Abend wieder Exzesse geben, doch blieb alles ruhig (Die Ostschweiz, Nr. , ..).  Tagblatt der Stadt St. Gallen, Nr. , .., Die Ostschweiz betonte aber auch, dass dennoch ein Teil verschwunden bleibe und seinen Weg in bestimmte Viertel der Stadt bzw. in die angrenzenden Gemeinden gefunden hätte (Nr. , ..).

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Die Polizei hatte im Verlauf der Unruhen einige Rädelsführer und weitere Mittäter verhaftet, die später vor Gericht gestellt wurden. In Haft blieben zunächst aber nur drei Personen, die übrigen wurden nach kurzem Verhör wieder freigelassen.157 Der Prozess dauerte ein Jahr, wobei sich der Hauptangeklagte, ein badischer Metzger, einer Bestrafung durch Selbstmord entzog. Bis auf den als Einpeitscher aufgefallenen Schneider, der ein halbes Jahr ins Arbeitshaus kam, erhielten die Übrigen milde Strafen oder wurden freigesprochen.158 Insgesamt blieb das Gewaltniveau der Krawalle niedrig. Abgesehen von der Plünderung des Kaufhauses und den Steinwürfen kam es offenbar nur zu einem tätlichen Angriff der Metzgergesellen auf einen Polizisten, ansonsten wurde niemand verletzt. Allerdings war der angerichtete Sachschaden erheblich. Zur Deutung der Krawalle: Der Meinungskampf in der Presse Nach dem Ende der Krawalle wurde in der Öffentlichkeit die Frage nach deren Ursachen und den daraus zu ziehenden Lehren diskutiert.159 Die Konfliktlinie verlief zwischen den freisinnigen und den konservativ klerikalen Blättern, während nach Sabine Schreiber die direkt betroffenen Juden sich auffällig still verhielten. Dies galt auch für die Israelitische Religionsgesellchaft (IRG).160 Das freisinnige Tagblatt, das mit dem Abdruck des zu Gewalt anreizenden Leserbriefs ja in die Sache verwickelt war, wollte den Unruhen keinen generell judenfeindlichen Charakter zuschreiben, sondern sah in ihnen allein einen gerechtfertigten Angriff auf die »gemeine rücksichtslose Blutsaugerei« Bambergers und eine Reaktion auf seine Kränkung des schweizer Patriotismus: »Eine Reaktion des beleidigten moralischen und patriotischen Gefühls musste erfolgen.«161 Zwar lehnte das Blatt die Krawalle ab, entschuldigte sie mit dieser Formulierung aber letztlich als »begreiflich«. Die Zeitung bestritt die von anderer Seite gegen sie erhobenen Vorwürfe, dass der genannte Leserbrief die Absicht gehabt habe, ein Signal zu Massenkrawallen zu geben, doch räumte sie ein, dass die zur Gewalt gegen Bamberger aufrufende Stelle des Leserbriefs besser ungeschrieben bzw. unveröffentlicht geblieben wäre.162 Das  Die Ostschweiz, Nr. , ... Neben dem Metzger aus Baden waren es zwei Italiener, die in Haft blieben. Wiederholt wurde auf die starke Beteiligung von Deutschen und Italienern an den Unruhen hingewiesen.  Külling, Bei uns wie überall?, S. .  Die Krawalle vom .-. Juni in St. Gallen: Verlauf, Ursachen und Lehren I, in: Tagblatt der Stadt St. Gallen, Nr. , ... In den Ausgaben ,  und  folgten die Teile II, III und IV.  Vgl. Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky, S. . Es gab offenbar die Tendenz, die antisemitischen Motive des Krawalls herunterzuspielen und zu betonen, dass Bamberger als Fremder, als Deutscher und Sozialist angegriffen worden sei. Von Judenhetze könne keine Rede sein. Nach Schreiber war diese Einschätzung für die jüdischen Bürger der Stadt wohl nötig, um sich als akzeptiert wahrzunehmen (ebd., S. ).  Tagblatt der Stadt St. Gallen, Nr. , ...  Tagblatt der Stadt St. Gallen, Nr. , ...

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Tagblatt verwahrte sich gegen die von konservativ klerikalen Blättern erhobenen Vorwürfe über die »antisemitische Brutalität« des Tagblatts, indem es auf Artikel in diesen Zeitungen (z. B. die Allgemeine Schweizer Zeitung, der Rorschacher Bote oder Die Ostschweiz) verwies, in denen diese Prügel für Bamberger, ja sogar für die Juden generell befürwortet hätten.163 Im dritten und vierten Teil seiner Analysen sah das Tagblatt im Artikel Bambergers nurmehr den Auslöser für die erste, noch zu rechtfertigende Katzenmusik am Montagabend, während es als Ursache für die sich verschärfende Gewalt und die Plünderung »gewisse Erwerbs- und Gewerbsverhältnisse« ansah, in die zwar auch christliche Kaufleute involviert waren, die aber primär durch »minderwertige semitische Elemente«164 vorangetrieben wurden. Es sei dieses Gefühl, dem Schwindlertum und der Ausbeutung wegen der »Ohnmacht des Gesetzes« schutzlos ausgeliefert zu sein, das die Menge letztlich zu gewaltttätiger Selbsthilfe getrieben habe.165 Im abschließenden Teil seiner Analysen wies das Tagblatt die Behauptung zurück, bei den Krawallen hätte es sich um »Judenhetzen« gehandelt, die »unter den Gesichtspunkt einer antisemitischen Bewegung zu stellen« seien.166 Es sah darin einen Versuch, die freisinnige Stadt St. Gallen zu schmähen.167 Auch andere freisinnige Blätter, die die Ausschreitungen scharf verurteilten, sahen in ihnen keine Judenkrawalle, da außer Bamberger kein Jude angegriffen worden sei, räumten andererseits aber ein, dass Bambergers Artikel den Anlass geboten habe, nicht allein gegen ihn vorzugehen, sondern dass dieser von den »niedersten Kreisen« und der Landbevölkerung als »lang ersehnte Gelegenheit« genutzt wurde, um ihrer Abneigung gegen die Juden Ausdruck zu geben.168 Dies spricht dafür, dass in der Ostschweiz durchaus eine latente judenfeindliche Stimmung verbreitet war. Auf konservativ klerikaler Seite »mimte man allergrößte Entrüstung« darüber, dass hier mit Gewalt gegen Juden vorgegangen worden sei, doch habe man nach Meinung Friedrich Küllings seine Genugtuung darüber nur schlecht verbergen  Ebd.  Tagblatt der Stadt St. Gallen, Nr. , ... Auch die Neue Zürcher Zeitung räumte ein, dass »Verkaufsmethoden wie Bamberger sie betrieb, von den Konsumentinnen und Konsumenten als ›unfair‹ wahrgenommen würden«. Gemeint war damit der Verkauf von Fertigwaren zu »provozierend niedrigen Preisen« mit der Möglichkeit des Ratenkaufs (zit. nach Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky, S.  f.).  Tagblatt der Stadt St. Gallen, Nr. , ...  Ebd., Nr. , ... Das Blatt konnte sich aber eines antijüdischen Seitenhiebs nicht enthalten, indem es anfügte: »Damit wollen wir nicht in Abrede stellen, dass einzelne Zweige des hiesigen israelitischen Stammes sich allerdings geringer Popularität erfreuen – und zwar gewiß mit Fug und Recht«.  Dass dies nicht aus der Luft gegriffen war, belegt die Äußerung des konservativen Pfarrers von Ah: »Die freisinnige Hauptstadt St. Gallen hat ihren Judenkrawall trotz Ungarn und Russland«, in der er auf die Judenpogrome im Zarenreich und die Ausschreitungen im Kontext der Tiszaezlár-Affäre in Ungarn anspielt. Zit. bei Külling, Bei uns wie überall?, S. .  Neue Züricher Zeitung, Nr. , .. u. , ..; Thurgauer Zeitung, Nr. , ..; , .., zit. nach Külling, Bei uns wie überall?, S. .

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können. Man nutzte die Krawalle im freisinnigen St. Gallen vor allem zur Kritik am Freisinn generell, den man aufforderte, den Kulturkampf gegen die Kirchen endlich einzustellen.169 So kritisiert die Ostschweiz, dass man andernorts Bamberger die »Etablierung seines Blutsaugergeschäfts nicht gestattet [hätte], aber in St. Gallen!«170 Die Zeitung wollte hinter dem Krawall sogar Sozialisten sehen, obwohl Bamberger selbst Sozialdemokrat war. Sie sah die Hauptursache für die Krawalle auch nicht in Bambergers Artikel, sondern in der Existenz einer großen Anzahl von Personen in der Stadt, die auf Skandal und Unordnung aus seien und von dem Leserbrief im Tagblatt gerade dazu ermuntert worden seien.171 Die Zeitung forderte deshalb eine strenge Bestrafung der Ruhestörer. Nach ihrer Kritik an der freisinnigen Politik wendeten sich die konservativ klerikalen Blätter später ihrerseits deutlich gegen die Juden, indem sie die bisher den Juden gegenüber geübte Toleranz verurteilten und Restriktionen forderten. Es war von »jüdischer Überschwemmung«, von »Blutsaugern erster Klasse«, von »jüdischer Arroganz« und Anmaßung die Rede.172 Zudem rechtfertigte man nun in einem Blatt sogar die Tumulte, indem man Parallelen zur historischen Erhebung der Urschweiz zog und sogar den Einsatz des Militärs als Maßnahme zur »Unterdrückung empörten Rechtsgefühls« kritisierte.173 Die Vorgänge in St. Gallen begannen als Katzenmusik, mit diesem Brauch sollte zunächst der herabsetzende Artikel eines Ausländers wie Bamberger »gerügt« werden.174 Külling ist zuzustimmen, wenn er darauf verweist, dass ja zwischen dem Erscheinen des zweiten Artikels von Bamberger und der Katzenmusik fünf Tage verstrichen waren und dass deshalb dem Gewalt androhenden Leserbrief, der zwei Tage vor Ausbruch der Krawalle veröffentlicht worden war, eine entscheidende mobilisierende Rolle zukam.175 Allerdings rief dieser Brief allein zu einem Vorgehen gegen Bamberger und nicht gegen Juden generell auf. Die gezielte Katzenmusik war dann m. E. wiederum der Ausgangspunkt für die weitere Eskalation am zweiten Abend, als sich eine größere Menge versammelt hatte und bereits mit Steinwürfen gegen das Kaufhaus Bambergers und gegen die Polizei vorging.

 Külling, Bei uns wie überall?, S. .  Die Ostschweiz, Nr. , ...  Die Ostschweiz, Nr. , ... In einem ironisch gehaltenen Artikel (In der Nähe herum) sprach der St. Galler Stadt-Anzeiger zwar zunächst auch vom »Hepp«, »Hepp« als Losungswort der Krawalle, die sich gegen Juden und Schwaben (Deutsche) gerichtet hätten, doch sei vielen Tumultuanten das Ziel der Unruhen keineswegs klar gewesen und man habe es eher auf Skandal und »Fischen im Dunkeln« abgesehen (Nr. , ..).  Külling, Bei uns wie überall? S.  f. Külling zitiert aus: Der Rheintaler Nr. , Der Weinländer, Nr. , .., Berner Volkszeitung Nr. , .., St. Gallisches Volksblatt (Uznach), Nr. , ...  Der Rheintaler Nr. , zit. nach Külling, Bei uns wie überall?, S. .  Hier blieb es noch offen, ob die Tatsache, dass Bamberger Jude war oder dass er ein »Schwabe«, also ein Deutscher war, die Empörung auslöste.  Külling, Bei uns wie überall?, S. .

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Zeitgenössisch lassen sich drei Annahmen zu den Ursachen der Unruhen unterscheiden: ) Der Aufruhr habe sich allein gegen Bambergers Verletzung des Schweizer Patriotismus gewandt und nicht gegen Bamberger als Juden. ) Der Aufruhr habe sich gegen wirtschaftliche Missstände gerichtet, an denen Juden maßgeblich beteiligt waren, doch sei der Aufruhr gegen die Juden als Kaufleute und nicht als Juden gerichtet gewesen. ) Der Aufruhr richtete sich gegen die Juden als solche, weil sie das Wirtschaftsleben »insbesondere Handwerker und Arbeiter ruinierten«. ) Der Aufruhr richtete sich gegen die Juden als solche, doch seien die wirtschaftlich notleidenden Schichten von antiliberalen Kreisen aufgehetzt worden.176 Was die Katzenmusik des ersten Abends angeht, so räumt Külling dafür der ersten Annahme eine gewisse Berechtigung ein, vertritt aber insgesamt die These von einer antiliberalen Aufhetzung von Teilen der Bevölkerung. Zwar hätten auch Bambergers Artikel, die wirtschaftliche Notlage weiter Kreise, jugendliche Lust am Randalieren eine Rolle gespielt, doch weist er dem Hass gegen die liberale Regierung St. Gallens, den Polemiken gegen jüdische Firmen und der Verumglimpfung der St. Galler Juden auf sittlichem Gebiet durch Zeitungen wie den »Weinländer« oder den »Rheintaler« die Hauptschuld zu. Für ihn ist die »geistige Urheberschaft entscheidend gewesen«.177 In der Tat hatte, wie die auftauchenden Drohbriefe und Anschläge an Häusern zeigen, im Zuge der Konflikteskalation eine antisemitische Agitation eingesetzt, d. h., einige nationalistische und antisemitische Blätter betätigten sich als »Trittbrettfahrer«, um die Situation in St. Gallen für sich zu nutzen und zu weiterer, nun gegen alle jüdischen Geschäftsleute St. Gallens gerichteter Lynchjustiz aufzurufen.178 Külling weist auf den »Chor konservativer Organe und des nationalistischen und antikapitalistischen ›Weinländers‹ hin«, die ein »Halali auf die Juden« angestimmt hätten.179 Im Zuge der Eskalation des Krawalls durch die immer weiter anwachsende Zahl der Teilnehmer kam es zwar zu einer antisemitische Aufladung der Stimmung, doch spricht gegen diese These eines antisemitisch motivierten Krawalls, dass die Gewalt sich auf das Kaufhaus Bambergers beschränkte und andere jüdische Geschäfte oder Wohnhäuser nicht attackiert wurden. Auch die Tatsache, dass sich unter den Tumultuanten und Plünderern viele Ausländer (Deutsche und Italiener), »Aufgebote aus den Nachbargemeinden« sowie viele Schüler befanden, spricht eher dafür, dass viele der Beteiligten durch  So bei Külling zusammengestellt: ebd., S.  ff.  Ebd., S. .  Dies waren allerdings nicht mehr die einheimischen St. Galler Blätter, sondern in- und außerkantonale Zeitungen, die den Aufruhr zu einem »Volksaufstand« hochschrieben und forderten, den »schuldigen Hebräer« auszuweisen. Die Juden hätten längst eine »Judenhetze« verdient, die als notwendige Bestrafungsaktion hingestellt wurde (Der Weinländer, Nr. , .., hier zit. nach Külling, Bei uns wie überall?, S.  f.). Es finden sich bis in den Juli hinein in einschlägigen Zeitungen zu Gewalt gegen Juden aufrufende Leserbriefe und Kommentare.  Külling, Bei uns wie überall?, S. .

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die Katzenmusik des ersten Abends zur Teilnahme an einem öffentlichen Spektakel motiviert wurden, d. h., es überwogen wohl eher die Freude am Spektakel, am Herausfordern der Polizei sowie an Plünderungen als judenfeindliche Motive. Der Krawall wurde umgekehrt als Anlass für die öffentliche Kundgabe judenfeindlicher Überzeugungen und Drohungen mit zukünftigen Aktionen genommen, wie sie in einer Reihe einschlägiger schweizerischer Blätter (Der Weinländer, Der Rheintaler) publiziert wurden. Bamberger und andere jüdische Geschäftsleute und Banken nahmen die Ereignisse durchaus als »allgemeine Judenhetze« wahr, mehrere von ihnen bekamen auch entsprechende persönliche Drohbriefe zugesandt.180 Der St. Galler Krawall zeigt klar den Charakter einer gewalthaften Selbsthilfe, mit der eine Verletzung sozialer Normen gerügt werden sollte. Man griff auf den Rügebrauch der »Katzenmusik« zurück, die offenbar in St. Gallen zuvor schon in einem Streit zweier Wirte zum Einsatz gekommen war. Zu Beginn finden wir eine gemischte Motivlage vor, in der ein antisemitisches Motiv vorherrschend war: gerügt wurde die »Beleidung« der Eigengruppe seitens eines Fremden, eines Juden und Deutschen, dessen Geschäftspraktiken von Teilen der Bevölkerung kritisch gesehen wurden. Da diese Praktiken vor allem jüdischen Geschäftsleuten vorgeworfen wurden, lag hier ein Einfallstor für eine antisemitische Aufladung des Konflikts. Diese spielte sich allerdings primär verbal ab, indem Drohbriefe auftauchten und einige Zeitungen die Krawalle zum Anlass für zunehmend antijüdische Stellungnahmen nutzten. Die Gewalt der Menge weitete sich jedoch nicht über das Zielobjekt, das Geschäftshaus Bambergers, auf andere jüdische Läden aus, auch sind keine antisemitischen Parolen seitens der Tumultuanten überliefert. Trotz der einsetzenden antisemitischen Zeitungsartikel blieben in St. Gallen erneute Krawalle aus. Ausschreitungen im Kronland Kroatien-Slawonien  Auch im habsburgischen Kronland Kroatien-Slawonien, das zum von Ungarn beherrschten Reichsteil der k. und k.-Monarchie gehörte, kam es im Sommer  zu antijüdischen Ausschreitungen, die zwar nicht in direktem Zusammenhang mit der Tiszaeszlár-Affäre standen (siehe Kap. ..), sondern nach Marija Vulesica Ausdruck politischer und sozialer Krisen waren und sich primär gegen die ungarische Herrschaft wandten, sich dann aber zu Übergriffen gegen Juden ausweiteten.181 Sie waren also eher ein »Nebenprodukt« des kroatisch-slawonischen Protests, der sich  zu einem Bauernaufstand ausweitete.  sollten sich diese Unruhen in ähnlicher Form wiederholen. Damit unterschied sich die antijüdische Gewalt in Kroatien-Slawonien von den direkt gegen die Juden gerichteten Übergriffen in  Ebd., S.  f.  Dazu und zum Folgenden: Marija Vulesica, »An Antisemitic Aftertaste«. Anti-Jewish Violence in Habsburg Croatia, in: Robert Nemes, Daniel Unowsky (Hrsg.), Sites of European Antisemitism in the Age of Mass Politics, -, Waltham, London , S. -, hier S. .

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anderen Teilen der Habsburgermonarchie, etwa Galizien, Ungarn und dem slowakischen Gebiet (Oberungarn). Obwohl es  zwischen Ungarn und dem Kronland Kroatien-Slawonien zum sog. »kleinen Ausgleich« gekommen war, der dessen Autonomie in den Bereichen der Verwaltung, Religion und Erziehung sowie der Amtssprache stärkte, blieben die Beziehungen bis  angespannt, da man im Kronland eine Magyarisierungspolitik seitens der Ungarn am Werke sah. Dies galt insbesondere für die Haltung der kroatischen Oppositionsparteien.182 Diese sahen aus Gründen des politischen Kalküls in den oft deutschsprachigen Juden (: . Personen) eher Parteigänger Österreichs bzw. Ungarns sowie des Liberalismus, so dass sie als nationale und kulturelle Außenseiter und ökonomische Ausbeuter angesehen wurden, obwohl sie sozial wie auch im politischen und öffentlichen Leben des Landes gut integriert waren. Das auslösende Ereignis für die gewalttätigen Demonstrationen im August , die zunächst in Zagreb begannen, um dann auf das ganze Land auszustrahlen, hatte mit Juden nichts zu tun, sondern war Ausdruck der kroatisch-ungarischen Spannungen. Der ungarische Finanzdirektor hatte Anfang August das Wappen mit der kroatischen Inschrift an der Finanzbehörde durch eines mit einer sowohl kroatischen wie auch ungarischen Inschrift ausgetauscht, was vor allem die Oppositionspresse als Verletzung des kroatisch-ungarischen Ausgleichs vehement kritisierte und zum Anlass für eine Mobilisierung der Bevölkerung gegen die ungarische Hegemonie nahm. Hier bestand Einigkeit über alle Parteigrenzen hinweg. Marija Vulsica weist allerdings zu Recht darauf hin, dass den zumeist illiteraten kroatischen Bauern die Inschriften wohl ziemlich gleichgültig gewesen sein dürften, ihnen ging es eher um die hohe Besteuerung und die für sie spürbaren Auswirkungen der Agrarkrise.183 Bereits am . August wurden Fenster des Finanzgebäudes eingeworfen, am . begannen Protestdemonstrationen. Bei den Zusammenstößen von Polizei und Demonstranten wurde am . August eine Person getötet. Demonstrationen fanden auch in anderen Städten statt, und zum Ende des Monats hatte sich die Gewalt über das ganze Land ausgebreitet. Laut einer Privatmitteilung vom . August , die die AZJ am . September abdruckte, hätten die jüngst in Zagreb (Agram) und anderen Städten Kroatiens ausgebrochenen Unruhen mit Antisemitismus nichts gemein, sondern seien rein »nationaler Natur«.184 Ende August  nahmen die Unruhen jedoch auch einen antijüdischen Charakter an.185 Es kursierten antisemitische Gerüchte, Plakate forderten die Vertreibung der Juden, und deren Häuser, Kneipen und Läden wurden beschädigt und geplündert. Die von Vulesica für die einzelnen Orte genannten Zahlen zeigen allerdings, dass sich an den Ausschreitun Vgl. zur Politik dieser Parteien Marija Vulesica, Die Formierung des politischen Antisemitismus in den Kronländern Kroatien-Slawonien -, Berlin .  Vulesica, »An Antisemitic Aftertaste«, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Dabei verbanden sich, wie der Slogan »Nieder mit den Juden, den Führern und Ungarn!« zeigt, antijüdische mit antiungarischen und gegen politische Führer gerichteten Protesten (Vulesica, »An Antisemitic Aftertaste«, S. ).

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gen zumeist keine sehr große Zahl von Menschen beteiligte, die Angaben liegen bei vierzig bis fünfzig Teilnehmern. Dennoch wurde von den Bürgermeistern in vielen Fällen recht schnell das Militär zur Hilfe gerufen. Der nach Kroatien entsandte General Hermann Ramberg konstatierte ab Mitte September einen Anstieg der Plünderungen, gegen die das Militär mit aller Härte vorging. So wurden in Bednja, einer kleinen Stadt im Nordwesten Kroatiens mit . Einwohnern, darunter nur wenige Juden, bei Angriffen auf die jüdischen Läden und Gastwirtschaften vier Bauern von Soldaten erschossen.186 Die AZJ gab jedoch eine Meldung der Ungarischen Post wieder, wonach die Bauern in der Gemeinde Bednja zwar, durch Hetzer verleitet, das Haus eines jüdischen Bürgers verwüstet, danach jedoch »als Beweis der friedlichen Eintracht« Steine, Ziegel, Kalk und Sand zum Wiederaufbau des Hauses unentgeltlich zur Verfügung gestellt hätten.187 Die Ausschreitungen zeigen das für die zumeist ländlichen und kleinstädtischen antijüdischen Unruhen in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts typische Muster:188 Es kursierten antijüdische Gerüchte und Vorwürfe,189 es gab beleidigende Schmierereien an jüdischen Häusern und es kam zu Angriffen auf Häuser, Läden und Wirtshäuser, die von Steinwürfen bis hin zu Zerstörungen und Plünderungen reichten, wobei Juden selbst selten physisch attackiert wurden. Auch wurden keine Übergriffe auf Synagogen berichtet. Tote und Verletzte gab es nur unter den Tumultuanten, die bei Einsätzen des Militärs getötet oder verletzt wurden. Die Regierung trat der antijüdischen Gewalt entschieden entgegen, die ja zugleich als gegen die ungarische Oberhoheit gerichtet verstanden wurde, so dass in den anschließenden Prozessen viele Beteiligte verurteilt wurden, darunter auch zu Gefängnisstrafen. Die oppositionellen Zeitungen des Landes wendeten sich gegen die antijüdische Stoßrichtung der Unruhen und versuchten diese herunterzuspielen, da sie den Zielen der Opposition zuwiderliefen. Sie ließen die Kroaten als unzivilisiert erscheinen und untergruben damit die Ansprüche gegenüber Ungarn, demgegenüber man sich wegen der dortigen antijüdischen Gewaltwelle im Zuge der Tiszaeszlár-Affäre, über die man ausführlich berichtete, als zivilisatorisch überlegen gerieren konnte. Die antijüdische Stoßrichtung verdeckte ihrer Meinung nach zudem die wahre Ursache der Unruhen, die gegen die ungarische Politik gerichtet und der Wirtschaftskrise geschuldet waren. Die politisch Verantwortlichen wiederum, wie der Präfekt des Bezirks Varaždin, unterstrichen in ihren Berichten an die Regierung in Budapest wiederholt gerade umgekehrt, die Unruhen seien nicht gegen die Regierung und die politische Verwaltung gerichtet, sondern der Unmut der Bevölkerung richte  Ebd., S. .  AZJ, Jg. , Heft , ...  Zu den Ausschreitungen an den einzelnen Orten siehe: Vulesica, »An Antisemitic Aftertaste«, S. -.  In seinem Bericht an die ungarische Regierung gab ein Präfekt diese gegen die Juden kursierenden Beschuldigungen ganz unkritisch wieder: sie seien exzessive Wucherer und Ausbeuter, sie hätten eine Bäuerin angegriffen, Gott, Jesus und die Jungfrau Maria verflucht usw. (ebd., S. ).

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sich gegen das Eintreiben der Steuern, den exzessiven Wucher der Israeliten und gegen die Bürokraten.190 Den Reichstag in Budapest konnte das offenaber nicht beruhigen, denn die AZJ berichtete, dass dieser nach der Sommerpause wieder zusammentrete und dass wegen der zerrütteten Lage im Lande stürmische Sitzungen zu erwarten seien. »Die kroatischen Unruhen und die Judenhetzen haben den ungarischen Staat in eine heftige Bewegung versetzt, und das Ministerium selbst ist zerrüttet und zwar nicht bloß wegen des Antisemitismus«.191 Auch wenn dieser Vorwurf des exzessiven Wuchers übertrieben gewesen sein dürfte, so weist er auf einen möglichen Konfliktpunkt zwischen jüdischen Kreditgebern auf dem Lande und der bäuerlichen Bevölkerung hin. Zwar vergaben auch Christen solche Kredite an die Bauern, doch waren Juden leichte Ziele und gehörten zudem zu den etwas bessergestellten Landbewohnern in Kroatien. Nach Vulesica zeigen die kursierenden Flugblätter dieser Zeit, dass sich dort einerseits die Anschuldigungen des traditionellen katholischen Antijudaismus und Wuchervorwürfe finden, zum anderen aber auch die damals transnational kursierenden Vorstellungen über jüdische Ritualmorde sowie der Vorwurf, die Juden würden loyal zu Ungarn stehen.192 Die Tatsache, dass  antijüdische Presseberichte, Flugblätter und Gewalt in Kroatien-Slawonien weit verbreitet waren, deutet nach Vulesica darauf hin, dass auch antisemitische Überzeugungen und Forderungen weit verbreitet waren, auch wenn die Presse eifrig bemüht war, dies eher herunterzuspielen oder gar auf jüdische Provokationen zu verweisen. So blieb es umstritten, wer die bäuerliche Bevölkerung zur Gewalt gegen Juden aufgehetzt haben könnte. Während die Behörden in Kroatien und die einheimische Presse die ungarischen Antisemiten als Urheber ansahen und damit die Schuld abschoben, betonten ungarische Zeitungen, die Kroaten seien für die Ausschreitungen selbst verantwortlich. Man braucht jedoch keine direkte personelle Einflußnahme von ungarischer Seite anzunehmen, hatten doch die in Ungarn lang anhaltende und zeitlich parallel laufende antijüdische Gewaltwelle im Zuge der Tiszaeszlár-Affäre und die aus Ungarn

 Vulesica, »An Antisemitic Aftertaste«, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Wobei die Zeitung Justizminister Tivadar Pauler vorwarf, den Antisemitismus großgezogen zu haben, was von seinem Ministerium untätig toleriert worden sei.  Vulesica, »An Antisemitic Aftertaste«, S.  f., so wurden die kroatischen Behörden Anfang  auf die kursierende deutschsprachige, in Budapest verlegte Zeitung Rebach aufmerksam, die offenbar viele Abonnenten hatte. Die AZJ druckte einen Bericht aus Pest vom .. ab, wo auf diese grenzüberschreitende Agitation hingewiesen wurde: »Kann es da Wunder nehmen, daß die Agitation in allen Theilen des Gebietes der Stephanskrone, selbst in Kroatien und Slawonien eifrig und geradezu mit Verschwendung von Geldmitteln betrieben wird. Aus Kroatien zurückkehrende Geschäftsreisende brachten von dort antisemitische Preßerzeugnisse in großer Anzahl, welche ihnen von dortigen Committenten eingehändigt wurden. Diese Preßerzeugnisse in ungarisch-deutscher Sprache kamen ausnahmslos aus Ungarn« (Jg. , Heft , .., S. ).

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einströmende antisemitische Publizistik gewiß einen gewissen Anreizcharakter für die kroatisch-slawonische Bevölkerung.193 Zwanzig Jahre später sollte sich  eine ähnliche Gewaltwelle wiederholen. Wieder bildete der ungarisch-kroatisch-slawonische Konflikt den Ausgangspunkt. In diesem Fall war es die enttäuschte Hoffnung, bei den österreichisch-ungarischen Verhandlungen um einen neuen Finanzausgleich bessere Bedingungen für das Kronland zu erreichen. Als Ende Februar  klar wurde, dass dies nicht der Fall war, riefen die kroatischen Oppositionspartien zum politischen Protest auf, der von Zagreb aus sich über die gesamte Provinz ausbreitete und  noch einmal wiederauflebte. Der Protest nahm schnell einen gewalttätigen Charakter an und ging an vielen Orten in antijüdische Ausschreitungen über.194 Das ganze Jahr über kam es immer wieder sowohl zu Angriffen auf Symbole ungarischer Herrschaft, wie Bahnhöfe, Gaststätten und die Häuser von Regierungsvertretern, sowie von Menschen, die die regierende Nationalpartei unterstützten, als auch, oft gleichzeitig, auf Häuser und Geschäfte von Juden, die geplündert und mit antisemitischen Parolen beschmiert wurden. Da Juden zu den Wählern der Nationalpartei gehörten und oft bei der Eisenbahn arbeiteten und Wirtshäuser und Läden betrieben, wurden sie umso eher zu »natürlichen Zielen« der Protestierer.195 Marija Vulesica hebt aber hervor, dass im Unterschied zur Situation von  weder die kroatischen Politiker noch nationale Bewegung, auch wenn sie den politischen Protest begrüßten, zu Angriffen auf Juden angereizt hatten, und auch die Presse verhielt sich ihnen gegenüber deutlich ablehnend oder verschwieg den gewalttätigen Charakter der Proteste, wie die oppositonelle Presse, fast gänzlich. Dennoch lassen sich die Unruhen von  nicht, wie frühere kroatische Historiker gemeint haben, als Ausdruck eines Klassenkampfes oder als aus ökonomischen und politischen Gründen allein gegen die Ungarn gerichteten Protest verstehen, sondern man muss nach Vulesica den antisemitischen Charakter der Angriffe auf Juden und ihr Eigentum anerkennen, obwohl anders als , wo in Kroatien-Slawonien wegen der Tiszaeszlár-Affäre eine antisemitische Stimmung herrschte, es  eine solche Stimmung nicht gab, auch wenn die intensive antisemitische Rhetorik der Oppositionsparteien in den Jahren zuvor ihre Wirkung nicht verfehlt haben dürfte.196 Wie  aber versuchte die nationale Presse die antijüdischen Unruhen herunterzuspielen, zumal die internationale Presse mit Entsetzen auf das Pogrom von Kishinew zu Ostern  regiert hatte, und man befürchtete, dass sie den legitimen politischen Protest diskreditieren könnten, an den man große politische Hoffnungen knüpfte. Die antijüdischen Unruhen in Kroatien-Slawonien zeigen ein Muster, das wir auch in anderen Gegenden der Habsburgermonarchie vorfinden, wo wie in Böh Vgl. dazu »Excesse in Ungarn« in der AZJ, Jg. , Heft , ... Auch aus Prag und dem ukrainischen Ekaterinoslav wurden antijüdische Unruhen gemeldet. Ähnlich auch Vulesica, »An Antisemitic Aftertaste«, S.  f.  Dazu und zum Folgenden Vulesica, »An Antisemitic Aftertaste«, S.  ff.  Ebd., S. .  Ebd., S.  ff.

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men und Mähren oder in Oberungarn (Slowakei) die einheimischen Juden für die Tschechen oder Slowaken als Parteigänger der Deutschen bzw. der Ungarn galten und so zwischen die Fronten eines Konflikts um nationale Autonomie gerieten, der mit ihnen selbst wenig zu tun hatte. Sie wurden damit wie in Kroatien auch für die bestehenden Probleme (mit-)verantwortlich gemacht. Antisemitische Propaganda von jenseits der Grenzen wie von nationalen Oppositionsparteien hatte den Boden dafür vorbereitet. »The image of the Jew was a symbol for all Croatian problems and difficulties has been promoted for decades and was transformed into concrete anti-Jewish action in times of crisis.«197

 Ebd., S. .

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. Ritualmordbeschuldigungen und antijüdische Gewalt - Das Zarenreich, das Deutsche Reich und die Schweiz waren jedoch nicht die einzigen Staaten, in denen es in den frühen er Jahren zu antijüdischen Ausschreitungen kam. Die letzten drei Jahrzehnte des . Jahrhunderts waren durch ein Wiederaufkommen der Ritualmordlegende gekennzeichnet, so dass sich an Fällen, in denen Kinder oder Jugendliche ermordet aufgefunden wurden, leicht ein Ritualmordvorwurf gegen die Juden des Ortes entzünden konnte. Georg Schroubek spricht davon, dass die Zahl der von der zeitgenössischen antisemitischen Presse aufgrund ungeklärter Morde, Selbsttötungen, Vermisstenanzeigen, entlaufenen Kindern usw. ausgerufenen »Ritualmordfälle« zwischen  und  ein »Mehrfaches der Beschuldigungen gegen die Juden in allen vorausgegangenen Jahrhunderten beträgt«.1 Nachdem sich die Ritualmordbeschuldigungen aus Mittel- und Westeuropa zunächst vom . bis . Jahrhundert nach Osteuropa ins Königreich Polen-Litauen und in die Ukraine verlagert hatten, finden wir nach vereinzelten Vorläufern im frühen . Jahrhundert (s. u. Kap. : Neuenhoven ; Damaskus ) seit den er Jahren eine Rückkehr nach Ostmittel- und Mitteleuropa.2 Stefan Lehr kam in einer Publikation von  bereits auf eine Zahl von  Fällen zwischen  und , doch sind neuere Regionalstudien seitdem auf zahlreiche weitere Fälle gestoßen,3 die jedoch, anders als einige spektakuläre Fälle, nicht über den lokalen oder regionalen Rahmen hinaus bekannt wurden. Hinzu kommt, dass auch nach  bis zum Ersten Weltkrieg weitere Fälle auftraten, vor allem der international Aufsehen erregende Beilis-Fall in Russland -.4 Wurden die Ritualmordbeschuldigungen von den Zeitgenossen, insbesondere von den Kritikern, zumeist als Relikte mittelalterlichen Blutaberglaubens angesehen, so hat neben Georg Schroubek vor allem Hillel J. Kieval auf die Modernisierung des traditionellen religiösen Vorwurfs hingewiesen, wobei nun eine Konvergenz von »myth, irrationality, traditonal wisdom and rational discourse in the production of knowledge« festzustellen sei.5 An dieser Wissensproduktion wirkten Zeitungsberichte, Pamphlete, Berichte polizeilicher Untersuchungen, ärztliche Befunde,  Georg Schroubek, Der »Ritualmord« von Polná. Traditioneller und moderner Wahnglaube, in: Rainer Erb/Michael Schmidt (Hrsg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte, Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin , S. -.  Für Osteuropa (Zarenreich/Polen) vgl. die neue umfassende Studie von Jolanta Żyndul, Kłamstwo krwi. Legenda modrdu rytualnego na ziemiach polskich w XIX i XX wieku (Blutanklage. Die Ritualmordlegende in den polnischen Gebieten im . und . Jahrhundert, Warschau ).  Stefan Lehr, Antisemitismus – religiöse Motive im sozialen Vorurteil. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland -, München , S. -.  Als Übersicht: Frank Golczewski, Beilis-Affäre (-), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -.  Vgl. dazu auch das Buch von Żyndul, Kłamstwo krwi, in dem der Bedeutungswandel der Legende seit dem Mittelalter rekonstruiert wird.

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wissenschaftliche Belege und gerichtliche Anklageschriften mit.6 Insbesondere was die Ritualmordprozesse angeht, spielten nach Kieval weniger Augenzeugenberichte oder populäre Vorurteile eine Rolle, vielmehr herrschten in diesen Prozessen klare legale Regeln über das, was juristisch anerkannt wurde: »It could only be articulated through the epistemological categories and idioms of a culture, that understood itself to be both rational and scientific.«7 Vor allem kriminaltechnische Untersuchungen und die forensische Medizin mit ihren Untersuchungsprozeduren bildeten einen zentralen Gegenstand dieser Prozesse, wobei es häufig zum Streit zwischen Anklage und Verteidigung aufgrund sehr unterschiedlicher Befunde der Ärzte und Pathologen kam, was dann wiederum Raum für Spekulationen und Verschwörungstheorien auf Seiten der Bevölkerung und der öffentlichen Meinung eröffnete.8 Demnach traten die älteren religiösen Motive, vor allem das der Wiederholung der Kreuzigung Christi, sowie der Glaube an die Magie des Blutes hinter einer eher säkularen kriminellen Anschuldigung und der Vorstellung von einer besonderen jüdischen Grausamkeit (Schächtschnitt) zurück, die allerdings immer noch von einem kollektiven jüdischen Verbrechen ausging. Ansatzpunkt, Juden zu verdächtigen, war einerseits die Brutalität des Mordes, andererseits die Tatsache, dass es sich nicht erkennbar um einen Raub- oder Sexualmord handelte, so dass herkömmliche Motive ausfielen. Hinzu kam zumeist noch der Zeitpunkt, da die Osterzeit noch das religiöse Motiv des wiederholten Christusmordes aktivierte, obwohl dieses religiöse Motiv ansonsten im Narrativ keine weitere Rolle mehr spielte, zumal nun sehr häufig junge Frauen die Mordopfer waren. Es waren zumeist zwei Indizien, die den Verdacht auf die Juden lenkten: die ärztliche (wenn auch fast immer irrtümliche) Diagnose, es handele sich um einen ausgebluteten Leichnam, wenn an Ort und Stelle kaum Blut gefunden wurde, und die Tatsache, dass die/der Tote durch Beibringen einer Schnittwunde getötet worden war, die an das jüdische Schächten von Tieren erinnert haben soll. Hinzu trat schnell noch die Annahme, untermauert durch entsprechende »Augenzeugen« oder Indizien, dass der hauptverdächtige Täter nicht allein gehandelt habe. Die Darstellung des Mordes entspricht nicht der des religiösen Opfers sondern der des Abschlachtens, die Juden selbst erscheinen dabei nicht mehr als religiöse Feinde, sondern als barbarische Mörder.9 Eine moderne Variante war zudem, dass Vertreter der Ritualmordthese dazu übergingen, nicht mehr das Judentum generell verantwortlich zu machen, sondern es auf die Prakti Hillel J. Kieval, Representation and Knowledge in Medieval and Modern Accounts of Jewish Ritual Murder, in: Jewish Social Studies, , Heft , S. -, hier S. ; vgl. auch dessen Handbuchartikel: ders., Ritual Murder (Modern), in: Antisemitism. A Historical Encyclopedia of Prejudice and Persecution, Bd. , hrsg. von Richard S. Levy, Santa Barbara , S. -.  Hillel J. Kieval, The Rules of the Game: Forensic Medicine and the Language of Science in the Structuring of Modern Ritual Murder Trials, in: Jewish History , , S. -, hier S. .  Ebd., S. : zum Fall Tiszaeslár und Xanten (s. u.).  Kieval, Representation and Knowlede, S. -.

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ken jüdischer Sekten zurückzuführen. Oder aber sie klagten die Juden kollektiv an, sie würden Einzeltäter aus ihren Reihen vehement verteidigen, was man als Beleg für ihren engen, verschworenen Zusammenhalt wertete. Von den zahlreichen Fällen interessieren uns hier jedoch nur diejenigen, die z. T. in tage- bis wochenlange antijüdische Ausschreitungen mündeten. Nach Hillel Kieval fungierte das Thema des jüdischen Ritualmordes in den letzten Jahrzehnten des . Jahrhunderts als Definition und Ausdruck der generell unterstellten »jüdischen Gefahr«, die sich hier in deren Kriminalität, Brutalität und sexuellen Bedrohung offenbarte. Die Beschwörung der »jüdischen Gefahr« im Bild des Ritualmordes sollte dazu dienen, die inzwischen in fast allen europäischen Ländern vollzogene Emanzipation der Juden als Fehler zu entlarven und ihre negativen kulturellen und sozialen Wirkungen zu akzentuieren und die eigene Toleranz als falsch zu behaupten.10 Der erste Fall war die Ritualmordbeschuldigung von Tiszaezlár in der Osterzeit des Jahres , die in der Habsburgermonarchie, genauer gesagt in Ungarn, zu einer Welle antijüdischer Gewalt führte: »All began with small-town murder investigations and ended with widespread communal violence, angry newspaper debates, and sustained anti-Semitic agitation and organization.«11 Dieser Fall bildete den Auftakt einer ganzen Kette von Ritualmordbeschuldigungen in Mittel- und Osteuropa, die in einigen Fällen zum Auslöser antijüdischer Ausschreitungen wurden: so in Xanten (/); im böhmischen Polná (/), im westpreußischen Konitz () sowie in Kiew (der Fall Beilis /). Der »Ritualmordfall« von  in Tiszaezlár und die Welle antijüdischer Ausschreitungen in Ungarn Es hatte in Ungarn auch vor  Konflikte im Zusammenleben von Juden und Christen gegeben, die sich etwa in den antijüdischen Ausschreitungen während der Revolution von / manifestiert hatten, doch waren diese nach Rolf Fischer »von anderer Qualität und Quantität als jene des ausgehenden . Jahrhunderts«.12 Seiner Ansicht nach lässt sich der Zeitpunkt genau datieren, an dem die »Judenfrage« zum Gegenstand öffentlicher Debatten und der Antisemitismus zu einem politischen Faktor wurden, nämlich in den Monaten Mai und Juni . Zwar waren die Elemente des modernen Antisemitismus in einer Reihe antisemitischer Schriften auch in Ungarn schon vor dieser Zeit vorhanden gewesen, doch erst die Tiszaezlár-Affäre und ihre politische Instrumentalisierung seitens einiger antisemitischer Politiker wie Géza Ónody und Gyözö Istóczy machten die »Judenfrage« zu  Hillel J. Kieval, Languages of Community. The Jewish Experience in the Czech Lands, Berkeley , S.  f.  Robert Nemes, Hungary’s Antisemitic Provinces: Violence and Ritual Murder in the s, in: Slavic Review ,, , S. -.  Hierzu und zum Folgenden Rolf Fischer, Entwicklungsstufen des Antisemitismus in Ungarn -. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Symbiose, München , S.  ff.

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einem politischen Thema auch im Parlament sowie in der nicht-antisemitischen Presse und führten zu einer Organisierung des antisemitischen Bewegung auf parteipolitischer Ebene. Nach Fischer kann man für die Jahre  bis  von der ersten Welle des organisierten Antisemitismus in Ungarn sprechen.13 Die Öffentlichkeit beschäftigte die Tiszaezlár-Affäre in hohem Maße, so hatten die Titelseiten der ungarischen Zeitungen über Monate eigene Rubriken für »Neues aus TiszaEslár« eingerichtet. In der ausländischen Presse sah man in diesen Ereignissen vor allem ein Indiz für die Rückständigkeit dieser ungarischen Regionen, in denen die Idee von Toleranz und Fortschritt noch keinen Einzug gehalten habe.14 Worum ging es in der Tiszaezlár-Affäre? Kurz vor Ostern, das in diesem Jahr auf den . April fiel (Pessach fiel auf den . April), verschwand am . April  die -jährige calvinistische Magd Ezter Solymosi aus dem Dorf Tiszaezlár.15 Dass Mägde und Dienstmädchen verschwanden, war nun keineswegs ein seltenes Ereignis, doch kamen in diesem Fall schnell Gerüchte auf, die Juden des Ortes hätten das Mädchen entführt und in der Synagoge ermordet, und man drohte ihnen, sie aus dem Ort zu vertreiben. Diese Anschuldigung wurde von der Mutter des Mädchens in die Welt gesetzt. Edith Stern lokalisiert den Ausgangspunkt dieses Gerüchts in einem zufälligen Zusammentreffen der Mutter und der Arbeitgeberin des Mädchens, die ihre Suche nach dem ausbleibenden Mädchen begannen, mit einem jüdischen Nachbarn, dem Synagogendiener Josef Scharf, der sie damit zu beruhigen suchte, dass er von einem christlichen Mädchen aus seinem Heimatdorf berichtete, das verschwunden war, woraufhin man die Juden verdächtigte, sie getötet zu haben, doch fand man sie später wohlbehalten auf einer Wiese. Dies habe die Mutter auf den Gedanken gebracht, ihre Tochter könnte von Juden entführt worden sein, was sie sogleich dem örtlichen, später auch dem Richter des Distrikts mitteilte.16 Dieser Verdacht wurde auch vom katholischen Priester des Ortes und einigen Abgeordneten des ungarischen Parlaments geäußert. Bereits am . Mai  Ebd., S. .  Ein deutsch-jüdischer Beobachter kam zu dem Urteil, dass sich dieses nur noch »in der Halb-Kultur der ungarischen Pussta« habe ereignen können (Paul Nathan, Der Prozess von Tisza-Eslár. Ein Antisemitisches Culturbild, Berlin , S. ). Ein vorschnelles Urteil, denn in den Jahren / und  sollte das Deutsche Reich in Xanten und Konitz zwei ähnliche Fälle erleben (s. u. Kap. .). Vgl. Fischer, Entwicklungsstufen, S. .  György Kövér (Budapest), der dazu  das Buch: A tiszaeszlári dráma. Társadalomtörténeti látószögek, veröffentlicht hat, hat  in einem Konferenzbeitrag »Ländliche Migranten, Katholiken und Juden in Tiszaeslár in der zweiten Häflte des . Jahrhunderts« zeigen können, dass der Ort keineswegs so unterentwickelt und isoliert gewesen ist, wie damals behauptet. Nach  hatte eine massive Zuwanderung von römisch- bzw griechischkatholischen Christen und von Juden stattgefunden, die die ortsansässige protestantische Mehrheit marginalisierte, die ab  zur Minderheit wurde. Siehe: Tagungsbericht von Uwe Müller web.fu-berblin.de/bkvge/Peasant-Tagungsbericht.pdf (eingesehen am ..). Hinter dem Ritualmordvorwurf standen hier also möglicherweise interreligiöse Spannungen.  Edith Stern, The Glorious Victory of Truth: The Tiszaezlár Blood Libel Trial, -. A historical-legal-medical Research, Jerusalem , S.  f.

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 griff der antisemitische Abgeordnete Géza Ónody, in dessen Wahlkreis das Dorf Tiszaezlár lag und der vor Ort agitierte und für Unruhe sorgte, das Thema zum ersten Mal während einer Debatte im Parlament auf, das sich bis zum Ende des Gerichtsprozesses im August  immer wieder damit beschäftigten sollte.17 Er erntete für seine Schilderung des angeblichen Ritualmordes, den er geschickt mit dem Problem der Zuwanderung von russischen Juden nach der Pogromwelle / in die östlichen ungarischen Provinzen verknüpfte,18 im Parlament jedoch »stürmische Heiterkeit«.19 Ónody hatte schon zu diesem frühen Zeitpunkt erkannt, welche großen Chancen ein Ritualmordfall für die ungarischen Antisemiten bieten würde. Ein Prozess in Tiszaezlár würde in aller Welt zu einer »cause célèbre« werden und für das Los der Judenheit für Jahrhunderte entscheidend sein.20 Aber die lokalen Behörden zögerten mit einer Untersuchung der Anschuldigungen. Erst als die beiden fünf bzw.  Jahre alten Söhne des jüdischen Tempeldieners Josef Scharf, Schamu und Moritz, aussagten, gesehen zu haben, wie ihr Vater mit teils ortsfremden Erwachsenen das Blut des Mädchens in Töpfe abgezapft hätte, ordnete der Magistrat die Aufnahme der Ermittlungen an und der Untersuchungsrichter  Bereits am nächsten Tag verlas der antisemitische Abgeordnete Gyözö Istóczy in dieser Sache einen langen Brief voller unwahrer Behauptungen, in dem ihn ein Bürger Tiszaezlárs über den »Ritualmordfall« in Kenntnis setzte, und richtete eine Interpellation an den Innen- und den Justizminister (vgl. Nathan, Der Prozeß, S.  ff.).  Die Zentren der antijüdischen Unruhen und auch die Erfolge der »Antisemitenpartei« lagen aber weniger in den angeblich betroffenen nordöstlichen Provinzen, sondern im Westen und Südwesten Ungarns in den Komitaten Pozsony und Nyitra sowie in dem Gebiet Transdanubien zwischen der Donau und der Steiermark (Komitate Somogy, Moson, Tolna, Zala, Vas, Baranya). Eine dritte Gruppe bildeten Komitate südöstlich der Hauptstadt: Pest, Pilis, Solt und Kiskun, sowie Békés, Csongrád und Csanád; außerdem das Komitat Hajdu nördlich von Debrecen (vgl. Fischer, Entwicklungsstufen des Antisemitismus, S.  und Karte Nr. ).  Fischer, Entwicklungsstufen, S. ; Paul Nathan sprach hingegen von einer geteilten Stimmung: einige sahen die Rede als schlechten Scherz, andere sahen »die Sache von Anbeginn ernst an« (Der Prozeß, S. ). Im österreichischen Abgeordnetenhaus gab es kaum eine Reaktion auf die Ritualmordbeschuldigungen von Tiszaezlár. Als Georg von Schönerer eine Diskussion um den jüdischen Abgeordneten und Herausgeber der Zeitung Dr. Bloch’s Östereichische Wochenschrift, Josef Bloch, eröffnen wollte, machte er auch einen Exkurs über den Fall Tiszaezlár, erregte damit aber bei den anderen Abgeordneten Heiterkeit und Widerspruch, nur von der äußersten Linken kam ein »Bravo« (Albert Lichtblau, Die Debatten über Ritualmordbeschuldigungen im österreichischen Abgeordnetenhaus am Ende des . Jahrhunderts, in: Rainer Erb (Hrsg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigungen gegen Juden, Berlin, , S. -, hier S. ).  Vgl. Nathan, Der Prozeß, S. . Nathan beschreibt den großen Widerhall der Affäre in den antisemitischen Zeitungen in Deutschland und das Verteilen von »Extrablättern« zu dem Fall. Auch antisemitische Agitatoren, wie Ernst Henrici nutzten den Fall sofort für ihre Zwecke aus (S. -). Ungarische Bücher vom Sommer bzw. Dezember  zum Fall wurden schnell auf Deutsch publiziert (Georg von Marcziány, Esther Solomosi, oder der jüdisch-rituelle Jungfrauenmord in Tisza-Eszlár; Géza von Ónody, Tisza-Eszlár in der Vergangenheit und Gegenwart – Ueber die Juden im Allgemeinen – Jüdische Glaubensmysterien – Rituelle Mordthaten und Blutopfer – der Tisza-Eszlárer Fall).

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nahm zehn jüdische Dorfbewohner in Untersuchungshaft.21 Die von einem subalternen und unerfahrenen Untersuchungsrichter durchgeführte Befragung der beiden Kinder, von denen das jüngere immer phantastischere Geschichten auftischte, und die die einzigen Belastungszeugen waren, verstieß gegen alle Verfahrensregeln, wie der spätere Prozess zeigen sollte.22 Aber wie im Fall Dreyfus verfolgten die lokalen Justizbehörden von vornherein eine antjüdische Linie. Die Leiche von Eszter Solymosi wurde am . Juni aus dem Fluss Theiß geborgen, sie wies keine Verletzungen auf. Die Tote wurde von einer Freundin und dem Apotheker des Ortes als Eszter Solymosi identifiziert, nicht jedoch von ihrer Mutter und ihrer Tante. Die fachlich überhaupt nicht kompetenten vier Gemeindeärzte unterstützten diese Meinung, da sie bei ihrer Obduktion zu dem Schluss kamen, die Leiche sei erst zehn Tage zuvor gestorben und habe nur vier Tage im Wasser gelegen, weshalb es sich nicht um die Gesuchte handeln könne. Man beschuldigte daraufhin die Juden, eine andere Leiche in die Kleider von Eszter Solymosi gesteckt zu haben. Man sieht hier wieder, wie widersprechende Fakten in judenfeindlicher Weise passend gemacht wurden. Die später im Prozess vom Strafverteidiger Karl Eötvös aus Budapest, Prag, Berlin und Paris hinzugezogenen Experten stellten anhand der am . November  exhumierten Leiche klar, dass es sich um die Leiche eines jungen Mädchens handele, die schon länger im Wasser gelegen hatte.23 Die Untersuchungen des Falles zogen sich über mehr als ein Jahr hin und wurden ab Mai  von grellen, einander widersprechenden Presseberichten in Ungarn,  Es sollen jedoch darüber hinaus weitere Verhaftungsbefehle gegen angeblich am . April in den Ort gekommene vier auswärtige Schächter herausgegeben worden sein. Die Verhafteten bestritten den Besuch der auswärtigen Schächter, nur der -jährige Sohn des Tempeldieners bestätigte ihn (vgl. AZJ, Jg. , Heft , .., S.  (Bericht vom . Juni).  Stern, The Glorious Vicory of Truth, S.  ff. Der ältere Sohn Moritz hatte bei seiner ersten Vernehmung am . Mai gar nichts zu dem Fall aussagen können, gab dann aber zwei Tage später eine perfekte Mordgeschichte zu Protokoll. Stern führt dies einmal darauf zurück, dass er von zwei sehr erfahrenen und skrupellosen Befragern in die Mangel genommen worden sei, zum anderen darauf, dass ihm nicht gesagt worden war, dass er nicht gegen seine Familie aussagen müsse. Das unterschriebene Protokoll hält Stern aufgrund der verwendeten juristischen Fachsprache für einen vorfabrizierten Text, wofür auch die fehlende Datierung spricht (S. ). Man wollte Moritz, wohl um eine Meinungsänderung zu verhindern, anschließend sogar in Arrest behalten, was aber von vorgesetzter Stelle verboten wurde. Daraufhin gab man ihn bis zum Prozessbeginn in die Hände eines Kastellans im Komitat-Haus, wo er eine gute Pflege und eine christliche Erziehung bekam, um so aus ihm einen willfährigen Zeugen zu machen. Stern schreibt von der »systematic estrangment of Moritz from Jewry« (Kap. III).  Franz Sz. Horváth, Ritualmordvorwurf in Tiszaezlár (), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S.  f. Zu den wiederholten Untersuchungen der Leiche und den unterschiedlichen Schlussfolgerungen auch Kieval, Rules of the Game, S.  ff. Zum Verlauf der gerichtsmedizinischen Untersuchungen der Leiche Eszter Solymosis siehe ausführlich Stern, The Glorious Victory of Truth, Kap IV, V, X-XVII, sowie die deutsche Zusammenfassung: Gerichtsmedizinische Bezüge zu dem Ritualmordprozeß von Tiszaeszlár, Ungarn, /, S. -.

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aber auch im übrigen Europa begleitet und auch – wie schon gesagt – im ungarischen Parlament wiederholt von den Antisemiten zur Sprache gebracht, die zudem mit der Zuwanderung von russischen Juden ein weiteres Konfliktthema präsentieren konnten.24 Zwischen Juni  und Dezember  standen eine Reihe von Petitionen und Gesetzentwürfen im Parlament zur Debatte: Im Juni  war es die »Petition des Szatmárer Komitats« bezüglich der Einwanderung russischer Juden, die sich gegen diese Einwanderung stellte und zahlreiche Restriktionen für ein Niederlassungsrecht forderte; im Januar  die von antisemitischen Kreisen eingebrachte »Tapolcaer Petition«, die die Rücknahme der rechtlichen Emanzipation der Juden forderte, und schließlich der »Gesetzentwurf betreffend die Ehe zwischen Juden und Christen und die im Ausland geschlossenen Zivilehen« von Ende , in dem es um die Einführung der Zivilehe zwischen Juden und Christen und damit die völlig Gleichstellung der Juden ging.25 Die Tiszaezlár-Affäre wurde von der Politik als so wichtig angesehen, dass sie sogar Gegenstand von Verhandlungen im Ministerrat war, der sich eingehend auch mit der »Judenfrage« und der antisemitischen Agitation im Lande befasste.26 Antisemitische Organisationen begannen sich in dieser Zeit zunehmend zu formieren.27 Im Dezember  beklagte das Organ der jüdischen Gemeinde, Egyenlöség, dass »die Judenfrage [unbestreitbar] zur Zeit das beliebteste Thema im weiten Ungarn« sei. So sei der Antisemitismus zwar nicht zu einem politischen, wohl aber zu einem gesellschaftlichen Faktor geworden.28 Dies sollte seinen Ausdruck auch in den Wellen antijüdischer Ausschreitungen finden. Ab Juli  kam es in Ungarn zu drei Wellen antijüdischer Ausschreitungen: im Juli  waren es spontane Aktionen, die allenfalls auf lokaler Ebene organisiert wurden; die Unruhen im Oktober des selben Jahres wurden von den heftigen Ausschreitungen in Preßburg (Bratislava) ausgelöst, und gegen Ende des Jahres kam es  Die beiden Politiker warnten vor allem vor der Zuwanderung russischer Juden, hinter der sie den Plan der russischen Regierung vermuteten, die innere Lebenskraft der österreichisch-ungarischen Monarchie auf diese Weise zu zerstören. Vgl. auch die AZJ, Jg. , Heft , .., S. , die von der »Furcht vor den einwandernden russischen Juden« in Ungarn schreibt. Zur Biographie von Istózy und Ónody siehe Fischer, Entwicklungsstufen, S.  ff. Siehe auch Franz Sz. Horvaáth, Istóczy, Gyözö, in: Handbuch des Antisemitismus, Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. /, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -; ders., Ónody, Géza, in: ebd., Bd. /, S. .  Während die beiden ersten Petitionen vom Parlament ohne große Diskussion mit klarer Mehrheit abgelehnt wurden, entbrannte um letzteren Gesetzentwurf ein heftiger parlamentarischer Streit, dem zwar das Abgeordnetenhaus mit deutlicher Mehrheit zustimmte, den das Oberhaus aber zweimal ablehnte und der offenbar auch in der Bevölkerung nicht populär war. Vgl. Fischer, Entwicklungsstufen, S.  und  ff.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Vgl. die Darstellungen von Andrew Handler, Blood Libel at Tiszaezlár, Boulder, Col. ; Stern, The Glorious Victory of Truth, S. . Vgl. auch die zeitgenössische deutsche Darstellung von Nathan, Der Prozess von Tisza-Eslár.  Egyenlöség, . Dezember , zit. nach Fischer, Entwicklungsstufen, S. .

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zu kleineren Vorkommnissen im westlichen Ungarn.29 Der ab . Juni  stattfindende Prozess, der mit einem Freispruch der jüdischen Angeklagten am . August  endete,30 aber von angereisten antisemitischen politischen Führern unter Beifall des Prozesspublikums als Bühne für ihre Weltanschauung genutzt wurde, sollte die Spannungen noch weiter erhöhen. Zwar erlitten die Antisemiten durch das Urteil eine Niederlage, doch verschaffte der Prozess ihnen öffentliche Aufmerksamkeit und bot die Gelegenheit, die Liberalen als »Philo- oder besser gesagt Trinkgeldantisemiten« anzugreifen, indem man die Regierung als von jüdischen Finanziers abhängig hinstellte.31 Wie andere sog. »Ritualmordfälle« (z. B. Xanten, Korfu, Konitz) wurde auch dieser Fall niemals aufgeklärt und bot damit für die Antisemiten die Möglichkeit, weiterhin an ihren Anschuldigungen festzuhalten. In antisemitischen wie auch katholischen Blättern wurde auch nach dem Urteil die Ritualmordaffäre so dargestellt, als habe es den Freispruch und den Beweis der Unschuld der angeklagten Juden niemals gegeben.32 Man kann die Tiszaezlár-Affäre also als den Ausgangspunkt des ungarischen Antisemitismus der er Jahre betrachten, der in dieser Zeit in die politische Debatte des Landes Eingang fand, wenn auch nur am politischen Rand, obwohl auch die der katholischen Kirche nahestehenden Zeitungen sich offen auf die Seite der Antisemiten stellten und ihre antijüdischen Vorurteile nicht verbargen.33 Die Antisemitische Partei (Országos Antiszemita Párt), die Istóczy zusammen mit Ónody und anderen am . Oktober  gründete,34 blieb zwar politisch erfolglos, doch war die Frage der Judenemanzipation durch die Tiszaezlár-Affäre durchaus zu einem wichtigen politischen Thema geworden.35

 Nemes, Hungary’s Antisemitic Provinces, S.  und .  Im Prozess konnte gezeigt werden, dass die Aussagen des Schächtersohnes unter Druck zustande gekommen waren, womit die Anklage hinfällig wurde. Die Richter erklärten die Angeklagten jedoch nicht für »nicht schuldig«, sondern urteilten lediglich, dass der Mordvorwurf nicht bewiesen werden konnte (Nemes, Hungary’s Antisemitic Provinces, S. ).  Zitat aus der Zeitung Rebach vom Februar , zit. in Fischer, Entwicklungsstufen, S. ; auch S. . Die meisten führenden Politiker der Antisemitenpartei kamen aus den Reihen der oppositionellen Unabhängigkeitspartei (extreme Opposition), ihnen diente der Antisemitismus als populäres Mittel für ihren Kampf gegen die regierende Liberale Partei (er), wobei der Weg von der allgemeinen politischen Opposition zum Antisemitismus führte und nicht umgekehrt (dazu Fischer, Entwicklungsstufen, S.  f.).  Ebd., S. .  Ebd., S. ; z. B. die Zeitung Magyar Àllam, . August .  Franz Sz. Horváth, Országos Antiszemita Párt (Ungarn), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. . Der Schwung der Tiszaezlár-Affäre brachte sie bei den Wahlen von  mit  Abgeordneten ins Parlament, doch zerstritt sich die Fraktion und es kam zu einer Abspaltung, die allmählich auch zerfiel.  Nemes, Hungary’s Antisemitic Provinces, S. . Istóczy hatte den Wert der Ritualmordaffäre von Tiszaezlár genau erkannt, als er im August  schrieb: »Nun ist es schon für jedermann eine einsichtige Sache, dass es sicherlich eine Judenfrage gibt, und zwar in ihrer

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Laut einem Bericht aus Budapest vom . Juni , abgedruckt in der AZJ vom . Juni , soll der Innenminister an alle Jurisdiktionen eine »Circular-Verordnung betreffs Hintanhaltung etwaiger Ausschreitungen gegen die Juden« gerichtet und angeordnet haben, etwaige Vorfälle sofort zu melden. Der Minister soll sich überzeugt gezeigt haben, dass keine »Judenhetzen« in Ungarn stattfänden, doch könne eine Minderheit die Tiszaeszlár-Affäre für ihre Zwecke ausbeuten.36 Noch Ende Juni  zeichneten die Berichte der Obergespänne über die antisemitische Bewegung ein beruhigendes Bild, nur aus zwei Komitaten (Zemplin und Szabolcs) wurde über eine erregte Stimmung der Bevölkerung berichtet, doch zeigen spätere Berichte, dass überall im Lande antisemitische Schriften kursierten.37 Wie angespannt die Lage war, zeigte ein kleiner Vorfall in einem Dorf des Tresciner Komitats, wo eine Magd schreiend aus dem Haus eines jüdischen Schächters lief, bei dem sie arbeitete, und behauptete, dieser wolle ihr Blut abzapfen. Es bildete sich schnell eine erregte Menschenmenge, doch konnte sie durch den Amtsrichter beruhigt werden. Im Verhör gestand das Mädchen, zwei Einwohner des Ortes hätten ihr Geld für diese Lüge versprochen.38 Obwohl die Behörden Vorsichtsmaßregeln trafen und die Munizipalbehörden die Verbreitung antisemitischer Schriften zu unterbinden suchten, kam es in der Nacht auf den . Juli  zu ersten antijüdischen Ausschreitungen in Pápa (Bezirk Veszprém), das eine größere jüdische Gemeinde besaß und wo massenhaft antisemitische Pamphlete kursiert sein sollen.39 Auslöser soll ein blutiger Zusammenstoß einer Gruppe junger Juden mit einer größeren Zahl christlicher Handwerksgesellen (Stiefelmacher) gewesen sein, die die Fenster der Synagoge, eines Bethauses, der Rabbinerwohnung und einiger jüdischer Wohnhäuser einwarfen und dabei einige christliche Bewohner misshandelten. Die Randalierer sollen laut Bericht der AZJ von Gerber- und Fleischhauergesellen auseinandergetrieben worden sein. Laut Nemes sollen ca. vierzig Handwerksgesellen drei Nächte lang vierhundert Fenster jüdischer Häuser und Läden eingeworfen haben. Die lokalen

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allerakutesten Form. Und zur Demonstration dessen bedurften wir hauptsächlich des Ezlárer Prozesses« (zit. und übersetzt von Fischer, Entwicklungsstufen, S. ). AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Zwei Wochen später lobte die AZJ Ungarn dafür, dass es dort im Unterschied zu Deutschland trotz aller »antisemitischen Wühlereien« und der zur Staatsaffäre aufgebauschten Tiszaeslár-Affäre zu keinem einzigen Fall »thatsächlicher Ausschreitungen« gekommen sei. Am Ende des Artikels kamen dem Verfasser allerdings doch einige Zweifel, ob die in den unteren Schichten angefachten Gelüste nicht doch zu Gewalt führen könnten (Jg. , Heft , .., S.  f.). Eine Konferenz orthodoxer Rabbiner veröffentlichte eine Proklamation, die auf das große Ausmaß antisemitischer Agitation verwies, die Gegenmaßnahmen erfordere. Sie wiesen insbesondere auf das Kursieren des »Märchens vom rituellen Blutopfer« hin (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Ähnlich äußerte sich eine Konferenz der Amtsrichter im Komitat Szabolcs, doch betonte sie zugleich, dass diese die Landbevölkerung in ihrer besonnenen Haltung nicht wankend machen werde, obwohl sie auch das Vorkommen kleinerer Ausschreitungen gegen Juden im Bezirk zugeben musste. AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Ebd., Bericht vom . Juli; Nemes, Hungary’s Antisemitic Provinces, S. .

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Orte antijüdischer Ausschreitungen im Königreich Ungarn im Zuge der Tiszaeslár-Affäre größere Städte

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Verantwortlichen sollen trotz Bitten einer jüdischen Abordnung nichts zu ihrem Schutz unternommen haben. Erst als Soldaten als Verstärkung eintrafen, wurden energische Schritte zur Beendigung der Unruhen unternommen. Es wurden nächtliche Wachen aufgestellt und ein Öffnungsverbot für Restaurants, Kneipen und Kaffeehäuser verhängt. Damit konnten zwar die Ausschreitungen in Pápa beendet werden, doch folgten nun Ausschreitungen in weiteren Städten und Dörfern der Region. In Komáron kam es zu Kämpfen zwischen jüdischen Handwerkern und jungen christlichen Männern, die in jüdische Läden eindrangen, antisemitische Plakate aufhängten und Slogans an die Wände der katholischen Kirche schmierten.40 Die Behörden reagierten angesichts der angespannten Situation einerseits mit Verhaftungen der Unruhestifter, aber auch mit der Ausweisung von Fremden, die ihren Aufenthaltszweck nicht legitimieren konnten, sowie mit der Konfiszierung aufwiegelnder Schriften und mit der gerichtlichen Verfolgung ihrer Verbreiter. Zudem sollten die christlichen Seelsorger aufgefordert werden, ihren Gemeinden Frieden und Toleranz zu predigen.41 Die Oberstaatsanwaltschaft strengte gegen eine Reihe von Verfassern und Herausgebern antisemitischer Zeitungen und Schriften Prozesse in Budapest und Debreczin an. Sie stützte sich dabei auf ein Gesetz, das die »Aufreizung gegen eine Glaubensgemeinschaft« unter Strafe stellte.42 Die Unruhen ebbten im Juli ab, doch blieb die Agitation weiterhin auf einem hohen Niveau. »Der Aufstand in Preßburg«43 Nachdem es am . September  in Elbe-Kosteletz, einem unweit Prag gelegenen Städtchen, einen antijüdischen Tumult gegeben hatte,44 begannen am . September  dann heftige Ausschreitungen gegen die Juden in Preßburg (Bratislava),45  Nemes, Hungary’s Antisemitic Provinces, S. ; die AZJ berichtet von einem Fall in dem Ort Steinamanger, wo ein Fackelzug zu Ehren des neuen Obergespans zu antijüdischen Ausschreitungen führte, bei denen die Fensterscheiben und Laternen der Synagoge eingeworfen wurden (Jg. , Heft , .., S. ).  So ein Beschluss der Amtsrichterkonferenz im Komitat Szabolcs (AZJ, Jg. , Heft , .., S. , Bericht vom . Juli.  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  (Bericht vom . Juli).  So der Titel eines Beitrags in der AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.  Laut AZJ (ebd., S. ) war es Ende September in Elbe-Kosteletz, einer Stadt ca.  km nordöstlich von Prag, zu Ausschreitungen gegen die dortigen Juden gekommen, nachdem es dort schon im Mai  Unruhen gegeben hatte. Laut AZJ habe sich eine »Rotte verwahrloster Individuen« vor der Synagoge versammelt und diese mit Steinen beworfen. Der Bürgermeister reagierte schnell und beorderte Dragoner zum Schauplatz, die die Menge zerstreuten und einige der Tumultuanten verhafteten.   lebten in Preßburg knapp . Juden ( waren es ca. . bei einer Gesamtzahl von . Einwohnern Preßburgs) und . deutschsprachige und . ungarischsprachige Einwohner (ohne die Juden gerechnet), dazu noch . Slowaken und einige kleinere Minderheiten. Die Juden lebten mehrheitlich in der Altstadt und in den angrenzenden inneren Stadtbezirken und waren zu knapp   im Handel und im Kreditwesen tätig (Eleonóra Babejová, Fin-de-Siècle Pressburg. Conflict and Cultural Coexistence in

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einer zu Ungarn gehörenden, aber mehrheitlich von Deutschen bewohnten Stadt, die schon  heftige Konflikte erlebt hatte (s. o. Kap. ).46 In Preßburg war die ungarische antisemitische Bewegung auf große Resonanz gestoßen, so dass sich hier die erste antisemitische Vereinigung gegründet hatte, der ab  mit dem seit  existierenden Westungarischen Grenzboten auch ein Sprachrohr zur Verfügung stand, das auch während der Unruhen nicht mit antijüdischen Invektiven sparte. Diese Zeitung richtete am . September  »Einige herzliche Worte an unsere Mitbürger«, in denen von einem ersten, noch relativ geringfügigen Krawall am . September, bei dem auf dem Komitatsplatz Fenster jüdischer Häuser eingeschlagen und ein Wachmann von einem Steinwurf verletzt wurde, berichtet wurde. Dieser Krawall hatte eine typische Entstehungsgeschichte. Eine Veteranenkapelle brachte verschiedenen Persönlichkeiten der Stadt, von denen das Publikum glaubte, es handele sich um Antisemiten, ein Ständchen, was viele Jugendliche und andere Neugierige anlockte, wobei »Eljen Istóczy« und »Eljen Ónody«- Rufe (also die Namen der beiden führenden Antisemiten Ungarns) zu hören waren. Der Krawall sei durch das Eingreifen zweier »Kommissäre« und weiterer Bürger beendet worden. Der Verfasser des Artikels verurteilte zwar die Gewalt gegen Juden, doch sah er sie lediglich als das falsche Mittel an, die anstehende »Judenfrage« zu lösen: »Doppelt und dreifach verdammenswürdig sind die Ausschreitungen, jetzt, wo wir eben in gesetzlicher Weise durch die Sammlungen dieser Frage Bahn gebrochen haben, und verschiedene gesetzliche Wege zur Lösung derselben offenstehen.«47 D. h., die antijüdische Gewalt wurde als für die antisemitische Bewegung kontraproduktiv angesehen, so dass der Westungarische Grenzbote wiederholt Aufrufe zu Ruhe und Ordnung veröffentlichte, zumal die Unruhen auch das Ansehen Preßburgs stark schädigen würden.48 Die antijüdischen Ausschreitungen sollten sich am folgenden Tag in weit größerem Umfang fortsetzen. Die Preßburger Zeitung gab am . September einen eindrücklichen Original-Bericht über den Ablauf dieser Übergriffe.49 Bereits am Vormittag des . September gab es Zusammenrottungen des »Sackträgerpöbels«, der vorbeigehende Juden verhöhnte und sich für den Abend verab-

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Bratislava -, New York , Tab. ,  und );  sprachen in Preßburg ,  Einwohner Ungarisch als Muttersprache, ,  Deutsch (darunter wohl die Mehrzahl der ca. . Juden) und ,  Slowakisch. Siehe Monika Glettler, Ethnische Vielfalt in Preßburg und Budapest um , in: Ungarn-Jahrbuch , , S. -, hier S.  und ). Laut AZJ verwiesen die ungarischen Blätter nach den Unruhen darauf, dass es sich zum allergrößten Teil ja um eine deutsche Stadt handele, um so, wie die Zeitung vermutet, das »Magyarentum reinzuwaschen« (Jg. , Heft , .., S. ). Westungarischer Grenzbote, .., Titelseite. Westungarischer Grenzbote, .., S. . Preßburger Zeitung, .., S. ; die AZJ berichtete, gestützt auf einen Bericht der Kölner Zeitung, ebenfalls über diese Unruhen am .. (Jg. , Heft , .., S. ). Auch der antisemitische Westungarische Grenzbote gab in seiner Darstellung über die »Details vom gestrigen Krawall« den Verlauf der sehr gewalttätigen Unruhen in ähnlicher Weise wieder (.., S. ).

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redet habe. Lehrjungen sollen Wachleuten mit einem »Fortsetzung folgt« weitere Unruhen angekündigt haben. Dennoch hätten die Behörden keine Vorsichtsmaßregeln getroffen.50 Am Abend sei dann eine Gruppe von Männern unter »Eljen Istóczy« und »Eljen Ónody«-Rufen durch die Straßen gezogen, denen sich eine stetig wachsende Menschenmenge anschloss, die begann, das Tedecosche Stiftungshaus mit den mitgebrachten Steinen zu bombardieren. Der einschreitende Stadthauptmann wurde misshandelt, bis zwei Wachsoldaten eingriffen und die Menge mit Säbelhieben abdrängten, sich aber heftiger Gegenwehr ausgesetzt sahen. Der größte Teil der Menge warf, ausgerüstet mit den tagsüber von Lehrjungen zusammengetragenen Steinen, auf dem Komitatsplatz die Fenster der jüdischen Läden ein. Die Menge zog dann, alles auf dem Weg demolierend, im Laufschritt zum Schlossberg in Richtung der Synagoge. Als die Menge mit der Zerstörung der Synagoge begann, wurde Alarm gegeben und das Militär griff mit gefälltem Bajonett ein, konnte die Menge zwar von der Synagoge zurück in die Kapuzinergasse abdrängen, wo ein Teil der Tumultuanten eingekesselt wurde, konnte aber nicht verhindern, dass viele Tumultuanten in die Judengasse eindrangen und dort die Fenster und Türen einschlugen. Die Preßburger Zeitung hebt besonders den Widerstand hervor, den die Menge auch gegen das Militär richtete, das mit blanker Waffe vorging, so dass es zu Verwundungen kam und schließlich zwanzig Randalierer verhaftet wurden, wobei keine der Arretierungen glatt verlief, da die Menge Widerstand leistete. Die Unruhen konnten erst gegen zehn Uhr abends weitgehend beendet werden, wenn es auch an einigen Stellen, so im Stadteil Blumenthal, in der Nacht noch zu besonders gewalttätigen Übergriffen kam. So wurde eine jüdische Gastwirtschaft demoliert und ausgeraubt, ein Warenlager geplündert, bei einem Spirituosenhändler wurde eingebrochen und der Flaschenvorrat zertrümmert oder ausgegossen und einer Fabrik wurden alle Fenster eingeworfen. Die Tumultuanten hatten sich offenbar mit Hämmern, Eisenstangen usw. bewaffnet.51 Die Polizei konnte dreißig weitere Tumultuanten verhaften. Unter den Verhafteten waren mehrheitlich Arbeiter, aber auch »betrunkene Individuen«.52 Die Tumultuanten rekrutierten sich offenbar aus Arbeitern der umliegenden Steinbrüche sowie aus kleinen, zu Grunde gegangenen Handwerkern, Häuslern und den slowakischen Saisonarbeitern der oberen Gebirgsgegend, die zur Weingärtnerarbeit in die Gegend kamen. Neben diesem Preßburger Proletariat seien, wie die AZJ vermutete, die »Leiter« jedoch Leute aus der Intelligenz, Pensionisten und dergleichen gewesen.53 Da der Beginn der Unruhen  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Preßburger Zeitung, .., S. ; Westungarischer Grenzbote, .., S. .  Preßburger Zeitung, .., S. . Am .., S. , veröffentlichte die Zeitung eine Liste mit den Namen von  verhafteten Männern mit überwiegend deutschen Namen, doch waren auch ungarische und slowakische darunter.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Der Westungarische Grenzbote (.., S. ) beklagte zwar die Exzesse als den falschen Weg im Kampf gegen die Juden, wandte sich dann aber gegen die verbreitete Meinung, dass das Zusammenströmen von viertausend Leuten nur Folge einer Organisation gewesen sein könne, indem er höhnte, es müsse doch für

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durch »Eljen Istóczy«, und »Eljen Ónody-Rufe« begleitet wurde, also eine klar antisemitische Ausrichtung hatte, ist es in diesem Fall plausibel, wenn nicht von einem organisierten Pogrom, so aber doch von einer Anstiftung seitens der Anhänger der antisemitischen Bewegung in Preßburg auszugehen.54 Der Preßburger Magistrat tagte in Permanenz und veröffentlichte mehrere Aufrufe, in denen größere Menschenansammlungen verboten und die Haushaltsvorstände angehalten wurden, die Hausangehörigen abends zu Hause zu halten. Zudem wurde ein scharfes Durchgreifen der Ordnungskräfte angedroht und der nächste Jahrmarkt am . Oktober abgesagt.55 Man beließ das Militär in der Stadt. Am Abend des . September hätten sich die Ausschreitungen möglicherweise wiederholt, sie wurden jedoch durch heftigen Regen beeinträchtigt. Die AZJ berichtete davon, dass eine Menge, angeführt von Studenten (was Professoren und Studenten der Rechtsschule später dementierten), versucht hätte, die Synagoge anzugreifen, sie sei jedoch vom Militär zurückgeschlagen worden. Es habe wiederum Verwundete und Verhaftungen gegeben.56 Es ist aber auffällig, dass trotz der heftigen Ausschreitungen und des Eingreifens des Militärs keine Todesopfer zu beklagen waren.57 Der Bürgermeister hatte einen Bericht über die Ausschreitungen an den ungarischen Ministerpräsidenten Koloman von Tisza geschickt, woraufhin dieser in einer Depesche den Bürgermeister für weitere Ausschreitungen persönlich verantwortlich machte, »allerstrengste Maßregeln« forderte und bei Wiederholung der Unruhen die Verhängung des Standrechts androhte.58 Am . September traf ein Ministerialrat aus Wien in Preßburg ein, der weitere Vorsichtsmaßnahmen treffen ließ. So wurden alle Kaffeehäuser und Kneipen nach  Uhr geschlossen, jede Zusammenrottung von mehr als drei Personen wurde verboten und es rückten

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die Polizei ein wahres Kinderspiel sein, die »Arrangeure und Kommandanten zu eruieren. Man eruiere sie und bestrafe sie exemplarisch, dies einfach unsere Antwort !« Die Preßburger Zeitung (.., S. ) veröffentliche einen Ohren- und Augenzeugenbericht, wonach ein Mann in einem Einspänner auf Ungarisch und Deutsch gegen die Juden gehetzt und den »Pöbel« zur Gewalt aufgerufen habe. Dieser Gewährsmann schloss daraus, dass die Unruhen von langer Hand vorbereitet worden seien. Preßburger Zeitung, .., S. . Das Präsidium der Distrikts-Gewerbe- und Handelskammer veröffentlich am selben Tag ebenfalls einen Aufruf in der Preßburger Zeitung, in dem er die Bürger zu Ruhe und Ordnung aufrief. AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; die AZJ berichtete später von  Verhafteten, darunter  wegen Diebstahls. Von den Verhafteten stammten  aus Preßberg, die anderen  von auswärts (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Die AZJ vertrat in dem Artikel »Das Charakteristische an den Exzessen gegen die Juden in der letzten Zeit« die These, die Unruhen seien von antisemitischer Seite angezettelt worden, während im Volk »kein wirklicher Hass« und keine »Volkswuth« gegen die Juden vorhanden sei. Als Beleg führt sie an, dass »die Exzesse gegen das Eigenthum und die Ruhe der Juden, nicht aber gegen ihr Leben gerichtet war« (Jg. , Heft . .., S. ). Preßburger Zeitung, .., S. ; AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.

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abends Soldaten zur Patrouille aus. Tatsächlich blieben weitere Unruhen aus.59 In ihrer folgenden Ausgabe gab die AZJ eine Interpretation der Preßburger Vorfälle, die sie als Aufstand gegen die gesellschaftliche Ordnung insgesamt einstufte, wobei die Juden nur Mittel zum Zweck, also »Sündenböcke« gewesen seien.60 Bei der Antisemitenagitation in Österreich-Ungarn handele es sich eigentlich nicht um die Juden und ihre soziale Stellung, sondern um »niederträchtiges Demagogentum« der radikalen Antisemitenpartei. Teile der gebildeten Schicht stünden hinter dieser Agitation, sie gewönnen die Kleinbürger, die in Konkurrenz zu den Juden standen, als Helfershelfer für ihre Umtriebe, die die Raub- und Plünderungssucht und die Lust an Krawall des Pöbels anstachelten und für ihre Zwecke einsetzten. Diese Übergriffe würden durch die Nachlässigkeit der Ortsbehörden erleichtert. Die Zeitung berichtete, gestützt auf den Pester Loyd, davon, dass es eine Spendensammlung für die Antisemitische Internationale in Preßburg gegeben habe, gegen die die Behörden nichts unternommen hätten, und die zu einem Auslöser der Unruhen wurde. Der Bürgermeister der Stadt und auch der militärische Platzkommandant mussten sich öffentliche Kritik wegen ihrer Nachlässigkeit zu Beginn des Krawalls anhören.61 Ministerpräsident Tisza verschickte einen Runderlass an alle Munizipien des Komitats, in dem diese aufgefordert wurden, ähnlichen Vorfällen wie in Preßburg und einigen anderen Orten vorzubeugen bzw. Unruhen mit »voller Strenge niederzuschlagen« und die Schuldigen streng zu bestrafen. Dieses Vorgehen gelte auch für antisemitische Agitation.62 Auch die meisten Pester Zeitungen forderten ein hartes  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; »Vom Juden-Krawall. Maßregeln zur Verhütung weiterer Exzesse«, Westungarischer Grenzbote, .., S. ; Preßburger Zeitung, .., S. .  »Wo Plünderung, Raub, Brandstiftung fessellos auftreten, wo diese von den Agitatoren befohlen werden, wo in der Hitze des Tumults Mord und Schändung stattfinden und der Widerstand gegen die obrigkeitliche und militärische Gewalt so weit geübt wird wie die Kräfte reichen – da ist doch der Umsturz aller gesetzlichen Macht und Ordnung, […] so handgreiflich, dass es Blödsinn ist, darin einen Unterschied zu finden, das zunächst das Objekt des Aufstandes die Juden sind« (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Im Westungarischen Grenzboten (.., S. ) wurde diese offenbar verbreitete Meinung in dem Artikel »Revolution …« affirmativ aufgegriffen, indem auf zahlreiche soziale Missstände hingewiesen wurde, doch wurde gleichzeitig versichert, dass sich diese Revolution nur gegen die Juden richten werde. Es sei aber möglich, dass sie sich auch gegen die höheren Klassen richten werde, wenn diese es mit den Juden hielten.  Die Preßburger Zeitung nahm jedoch die Behörden und das Militär gegen die Anschuldigung seitens auswärtiger Zeitungen in Schutz, sie hätten sich nicht energisch genug zum Schutz der Juden eingesetzt (.., S. ). Die Zeitung veröffentlichte an gleicher Stelle auch eine »Erklärung«, in der sie sich gegen den Vorwurf verwahrte, Einfluss auf die Redaktionen Wiener und Budapester Zeitungen genommen zu haben, die sie aber zugleich vor einer übertriebenen Berichterstattung über die Vorgänge in Preßburg warnte. Der Vorwurf, die Wiener Journalisten, die natürlich alle Juden seien, würden das Ausmaß der Ausschreitungen übertreiben und ihre Lügen in die Welt hinausposaunen, findet sich etwa im Westungarischen Grenzboten, .., S.  (im Fettdruck).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Der Westungarische Grenzbote beteiligte sich an dieser Hetze, indem er am .. auf S. . einen Leserbrief (»Löbliche Redaktion«) ver-

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Vorgehen nicht nur gegen die proletarischen Täter, sondern auch die intelligenten Hetzer. Diese Ausschreitungen lösten unter den Preßburger Juden eine Panik aus, viele flüchteten nach Wien. Laut einer Meldung in der Preßburger Zeitung hätten am . September  vierhundert Juden Preßburg mit der Bahn in Richtung Wien verlassen, um dort die Beruhigung der Lage abzuwarten.63 Die Unruhen hatten für Preßburg negative wirtschaftliche Folgen, da der Inhaber der größten Kleiderfirma, Leopold Todesco, dessen Haus zuerst attackiert worden war, seiner Belegschaft kündigte, was zweitausend Menschen ihren Arbeitsplatz kostete. Todesco wollte nach Wien übersiedeln. Auch eine weitere Kleiderfirma entließ fünfhundert Arbeiter, und weitere jüdische Fabrikanten und Großhändler siedelten nach Wien über oder gaben ihr Geschäft auf.64 Die Vorstände der israelitischen Gemeinden Preßburgs veröffentlichten in der Preßburger Zeitung einen Aufruf an die israelitischen Bewohner der Stadt, in denen diese aufgefordert wurden, ein »zurückhaltendes Benehmen« an den Tag zu legen und alle Menschenansammlungen zu meiden.65 Nachdem in Preßburg Ruhe eingekehrt war, griffen »Banden« und Bauern, in vielen Fällen von Preßburger Agitatoren aufgehetzt, in zwanzig der umliegenden Orte wie Wartberg, Rethe, Lanschütz, St. Georgen, Horvath-Gurab, Bösing und Ivanka jüdische Häuser an und plünderten sie, legten Brände und misshandelten Juden, wobei in Lanschütz (ungarisch Cseklész) eine Jüdin, die sich den Plünderern widersetzte, niedergestochen und so schwer verletzt wurde, dass sie verstarb.66 Dort war es der katholische Ortspfarrer, dessen Eingreifen den Tumult beendete. Ministerpräsident Tisza verhängte deshalb für einen Monat das Standrecht über das Komitat Preßburg und richtete am . Oktober einen weiteren Erlass an die Munizipien des Komitats, den die AZJ abdruckte. Ein Bericht des Vizegespanns des Komitats sprach von  Unruhen in den dreihundert Gemeinden und fünf Städten des Komitats, wobei in drei Städten und in drei Gemeinden Waffengewalt

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öffentlichte, in dem den Juden vorgeworfen wurde, sie selbst hätten sich als Einpeitscher der Unruhen hervorgetan, um dann als Märtyrer dazustehen. Dort ist noch eine Reihe weiterer Berichte abgedruckt, in denen von gewaltsamen Übergriffen von Seiten der Juden die Rede ist. Auf S.  wird noch berichtet, die Juden hätten, nachdem das Militär auf dem Komitatsplatze die Ruhe wiederhergestellt hatte, die abziehenden Christen geschmäht und versucht, einen Taglöhner zu verprügeln, der von ihnen beim Einwerfen der Fenster bemerkt worden war. Preßburger Zeitung, .., S. . Jg. , Heft , .., S. ; auch an anderen Orten weigerten sich Juden, in die Städte und Dörfer zurückzukehren, in denen es zu Ausschreitungen gekommen war. Preßburger Zeitung, .., S. . Ebd., S. . Die AZJ berichtete ausführlich über Vorfälle in Bösing, Wartberg, MagyarBel, Magendorf, Nadas, Groß-Schützen. An einigen weiteren Orten konnte die Gewalt begrenzt werden, wie in Szered und Dioßegh. In Cseklész (Lanschütz) war es die jüdische Bürgerwache selbst, die sich heftig wehrte und einige Tumultuanten verletzte, da die einheimischen Polizeikräfte zu gering waren. An einigen Orten musste Militär gerufen werden, um die Unruhen zu stoppen (AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.).

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zur Wiederherstellung der Ordnung angewendet werden musste, während in den übrigen die Behörden und die Einwohner die Unruhen beendeten.67 In der Presse Ungarns werde in diesen Tagen jedes »klirrende Fenster an dem Hause eines Juden und jedes Schimpfwort eines betrunkenen Lumps […] als ein Krawall ausposaunt«, kritisierte die AZJ, da dies Angst und Schrecken verbreite und dazu führen könne, in einem wirklichen Notfall nicht entschieden einzugreifen.68 Die Verhängung des Standrechts erzeugte bei den Munizipien Unwillen, und man verlangte dessen Aufhebung. Da sich die Gemeinden nun tatsächlich stärker um die Aufrechterhaltung der Ordnung bemühten und tatsächlich Ruhe einkehrte, nahm Tisza von der Verhängung des Standrechts wieder Abstand.69 Die Unruhen hatten ein politisches Nachspiel im ungarischen Abgeordnetenhaus, wo in der am . Oktober  eröffneten Sitzung die Preßburger Unruhen und die Tiszaeszlár-Affäre zur Diskussion standen.70 Von einem Abgeordneten der äußersten Linken wurde eine Anfrage an den Innenminister gerichtet, warum in Preßburg überhaupt das Standrecht verhängt worden sei, obwohl das Komitat keinen entsprechende Antrag gestellt habe, wie es nach einer Verordnung von  vorgeschrieben war. Der Minister stellte dies als bloße vorausschauende Sicherheitsmaßnahme hin und betonte zudem, die Berichte über die »Judenkrawalle« in Preßburg seien stark übertrieben worden, denn die amtlichen Berichte hätten nur »unbedeutende Unruhen« konstatiert. Die AZJ erklärte diesen Vorstoß der Linken, deren Fraktion jedoch in dieser Sache offenbar nicht einig war, damit, dass diese auf Seiten der Antisemiten stünde, um auf diese Weise ein Mittel zur Bekämpfung der Regierung zu haben.71 Einer der drei antisemitischen Abgeordneten, Iván Simonyi, schloss sich dem denn auch mit einer gleichlautenden Anfrage an den Ministerpräsidenten an, nutzte seine Rede zur Kritik an der Macht der Juden und führte die Erbitterung der Bevölkerung auf Fehler der Politik zurück. Sein Kollege Ónody attackierte den im Tiszaeszlár-Prozess tätigen Staatsanwalt, was den Abgeordneten Czsernatony zu einer Gegeninterpellation veranlasste, die sich gegen die »Wühlereien« gegen die Verteidiger der Juden im Prozess wandte.72 Die Antisemiten hatten während der laufenden Ermittlungen systematisch Gerüchte ausgestreut, die Juden würden durch finanziellen Druck auf die Regierung  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  (Bericht datiert vom ..). Die Summe der vierzig eingereichten Schadensmeldungen aus Preßburg betrug fast . Florin.  Ebd. Doch es kam vereinzelt auch noch Mitte Oktober  zu kleineren Ausschreitungen gegen Juden in Ungarisch-Altenburg und in Rakospalota, wo Fenster eingeworfen und Läden geplündert bzw. beschädigt wurden (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  ff.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Ebd., S.  f.  Die AZJ wertete (Jg. , Heft , .., S. ) die Interpellation Czernatonys sowie die Stellungnahme des Ministerpräsidenten Tisza als einen Sieg über die Antisemiten, zumal das Abgeordnetenhaus ihnen, abgesehen von einigen Abgeordneten der Linken, folgten. Die Tiszaeslár-Afffäre beschäftige das Abgeordnetenhaus auch weiterhin (AZJ, Jg. , Heft , .., S. -).

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ein gerechtes Urteil verhindern wollen, und der liberalen Regierung wurde vorgeworfen, sie unterstütze die jüdische Seite. Umgekehrt geriet der leitende Untersuchungsrichter in Verdacht, Kontakt zu führenden Antisemiten zu haben. Unter welchem Druck die Verteidiger der Juden standen, zeigt die Tatsache, dass der zunächst vorgesehene Rechtsanwalt aus dem Gerichtsort im Juni  von der Verteidigung zurücktrat, da er sich am Ort isoliert und diffamiert sah. Die Verteidigung wurde dann von einer Gruppe von Juristen unter Führung des bekannten Politikers der Unabhängigkeitspartei, Karóly Eötvös, übernommen, die sich der Unpopularität ihrer Aufgabe durchaus bewusst waren, so dass es zu weiteren Niederlegungen der Verteidigung kam.73 Aufgrund der Erfahrungen beim Tiszaeszlárer-Prozess beschloss die Staatsanwaltschaft in Preßburg, der Presse keine Informationen über die Verhandlungen gegen die Pogromtäter zukommen zu lassen. Die AZJ unternahm Ende Oktober  in dem Artikel »Das Charakteristische an den Exzessen gegen die Juden in der letzten Zeit« den Versuch, die Pogromwelle in Russland, die Ausschreitungen in Pommern und in Ungarn vergleichend zu betrachten.74 Die Ursache für diese Unruhen sieht die Zeitung in der jahrelangen antisemitischen Hetze und in der Tätigkeit von Agitatoren, die das Volk aufhetzten und es glauben machten, die Regierung würde diese Gewalt billigen. Überall habe man die Aktivitäten solcher Personen der höheren Klassen beobachtet, die den Pöbel aufgehetzt hätten, der dann seine Zerstörungs- und Plünderungswut auslebte. Die AZJ behauptete, dass die Exzesse nirgendwo spontan aus dem Volke hervorgegangen seien, d. h. ein wirklicher Hass gegen die Juden, eine Volkswut bestehe nicht, sondern die Pöbelmasse sei durch das Schüren von Konkurrenzneid, Missgunst und die Aussicht auf Plünderungsgewinne motiviert worden. Dass Juden zumeist nicht körperlich attackiert wurden, sprach nach der AZJ auch für die Abwesenheit von Judenhass. Ebenso die Tatsache, dass die Unruhen bei energischem Einschreiten von Regierung und Justiz sofort ein Ende hatten. Damit sei die Grundannahme der Antisemiten widerlegt, dass in der Bevölkerung massenhaft ein Vorurteil gegen die Juden bestehe und damit ein Zündstoff, den ein Funke entzünden könne. Ihnen sei es nur gelungen, an bestimmten Orten einen Brand zu entfachen, ansonsten hätten sich genügend bedeutende Stimmen gegen sie erhoben. Die Zeitung musste jedoch auch einräumen, dass sich aus den Vorgängen die Beobachtung aufdränge, »dass ein großer Teil des Volkes noch immer bereit

 Fischer, Entwicklungsstufen, S. . Dabei war es nicht, wie Fischer betont, der »Druck der Straße«, da die einfache Bevölkerung kaum judenfeindlich eingestellt war, sondern die Angriffe kamen aus dem Mittelstand (S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. -. Auch Nemes, Hungary’s Antisemitic Provinces, S. , ist der Meinung, dass die Unruhen in Ungarn letztlich dieselben Züge aufwiesen wie die gleichzeitigen Unruhen in Russland, Deutschland (Pommern und Westpreußen), Böhmen und Frankreich (). Er sieht auch einen transnationalen Einfluss, da man in Ungarn den deutschen Slogan »Hep-Hep« und andere bekannte antisemitische Slogans verwendete.

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ist, die Juden als ein besonderes, fast als ein fremdes Element anzusehen«.75 Dieses Freisprechen des »Volkes« und das Abschieben der Verantwortung auf gebildete Agitatoren finden wir in vielen Interpretationen antisemitischer Unruhen. Dahinter steht einerseits das Bild einer leicht verführbaren und ungebildeten Masse, andererseits wäre es viel bedrohlicher sowohl für die Juden selbst wie auch für die Politik, wenn man von einer weiten Verbreitung judenfeindlicher Einstellungen quer durch die Bevölkerung ausgehen müsste. Für viele Fälle lässt sich die Anstiftungsthese nicht belegen, zumal dann nicht, wenn mit einem »Ritualmordfall« ein konkreter Erregungsanlass gegeben war und sich, wie in diesem Fall, eine breite antisemitische Stimmung entwickelt hatte. Das Wiederaufleben der Unruhen nach der Urteilsverkündung im Tiszaeszlár-Prozess  Die antijüdischen Ausschreitungen im Kontext der Tiszaeszlár-Affäre sollten nach der Urteilsverkündung im Prozess, der nach  Verhandlungstagen (. Juni-. August ) mit einem Freispruch der  Angeklagten endete, die in- und ausländische Presse beschäftigt und die antisemitische Agitation in Form von Plakaten, Pamphleten und Zeitungen in den Provinzen angeheizt hatte, in noch größerem Umfang als im Sommer  wieder aufleben.76 In  Bezirken Ungarns kam es nun zu Unruhen, die in der Hauptstadt Budapest sogar fünf Tage andauerten.77 Auch im Kronland Kroatien-Slawonien gab es ab Ende August  antijüdische Ausschreitungen (s. o., .). In Prag findet sich eines der wenigen Beispiele, dass ein vorausschauendes Handeln der Sicherheitsorgane ein drohendes Pogrom verhindern konnte. Mitte August  stoppte ein Polizeiaufgebot von siebzig Mann den Angriff einer großen Menschenmenge (von ca. fünfhundert Personen) auf  Ebd., S. .  Eine Darstellung des Prozesses, die bereits  in Wien erschien (Der Prozeß von TiszaEszlár. Verhandelt in Nyiregyhaza im Jahre ) bot nicht nur eine »genaue Darstellung der Anklage, der Zeugenverhöre, der Verteidigung und des Urtheils«, sondern hob vor allem die Außergewöhnlichkeit dieses Prozesses hervor: »Eine Reihe sensationeller Momente drängt sich zusammen, um der Verhandlung in der Affaire um Tisza-Eszlár das Gepränge des Ungewöhnlichen zu verleihen. Ein scheinbar unentwirrbares Knäuel von Intrigen und Machinationen harrte der starken Hand, die ihn lösen sollte; persönliche Tücke, religiöser Hader, nationales Vorurtheil, läppischer Aberglaube – das Alles und noch mehr vereinigte sich zu einem Ganzen von ungewöhnlicher Art. Wir übertreiben nicht, wenn wir sagen, daß seit Jahrzehnten kein Prozeß in solchem Maße wie der von Nyiregyhaza, die ganze zivilisierte Welt in atemloser Spannung erhalten hat. Die Presse aller Nationen verfolgte die Verhandlungen mit gespanntester Aufmerksamkeit …« (Einleitung, S. ). Vgl. auch Nathan, Der Prozeß von Tisza-Eszlár, von .  Vgl. dazu Nemes, Hungary’s Antisemitic Provinces, S.  ff., AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.; Heft , .., S. , dort wird anhand der Liste der während der Pester Unruhen Verhafteten festgestellt, dass es sich in der Mehrzahl um »Knaben von  Jahren, meist Handwerkslehrlinge« handelte, dazu »beschäftigungslose Böhmen und Slovaken – von Profession Maurer und Tagelöhner«. Letztere seien zumeist schon polizeibekannt gewesen.

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die von Juden bewohnte Josephstadt durch ein entschiedenes Eingreifen.78 In Preßburg kam es am . und . August  erneut zu gegen Juden gerichteten »Straßendemonstationen« bzw. »Straßentumulten«, die aber durch frühen Militäreinsatz schon im Ansatz unterbunden werden konnten.79 Für die westungarischen Bezirke Somogy und Vezprém beschreibt Nemes den typischen Fall so: Größere Menschenmengen warfen die Fenster jüdischer Läden und Häuser ein, plünderten Läden, trugen antisemitische Insignien und sangen antijüdische Lieder. In dem Ort Gyékényes (Bezirk Somogy) etwa beteiligten sich von den zweitausend Einwohnern zwischen dreihundert und vierhundert Personen, die in jüdische Läden eindrangen, Geld und Alkohol stahlen und dabei einen Schaden von . Florin anrichteten.80 Häufig lieferten sich die Tumultuanten Gefechte mit der Polizei, die sie mit Steinen bewarfen. Obwohl die Regierung sich scharf gegen die Gewaltausbrüche wandte und die Polizei häufig Tumultuanten verletzte oder gar tötete, brauchten die städtischen Autoritäten häufig mehrere Tage, um mit Hilfe der Ortspolizei, des Militärs und bewaffneter Gutsbesitzer die Unruhen niederzuschlagen. Die AZJ berichtete unter dem Titel »Excesse in Ungarn« noch Ende August und Anfang September seitenlang von heftigen Ausschreitungen mit Raub, Mord und zunehmend auch Brandstiftungen in zahlreichen ungarischen Städten, die trotz des verhängten Standrechts und der massiven Militärpräsenz ausbrachen. »Der Schrecken zieht sich von Ort zu Ort und erstreckt sich bereits über mehrere Komitate«.81 Offenbar waren ganze Banden auf Raubzügen unterwegs, und die  Die Wachleute gingen mit gezücktem Säbel vor, verwundeten einen Tumultuanten leicht und nahmen drei Personen fest, siehe: AZJ, Jg. , Heft , .., S.  (Bericht vom . August). Zu gewalttätigen antisemitischen Demonstrationen und Straßenexzessen kam es auch in der Stadt Vesprim (heute Vezprém, deutsch: Wesprim oder Weißbrunn), wohin zwei Bataillone beordert werden mussten, um die Ruhe wiederherzustellen. Es wurden die Fenster jüdischer Häuser bzw. eines Cafés eingeworfen. Der Bürgermeister der Stadt rief daraufhin die Bürgerschaft zu einem Treffen auf, um eine Bürgerwehr aufzustellen (AZJ, Jg. , Heft , .., S.  – Bericht aus Pest vom . September).  Preßburger Zeitung, .., S. ; .., Beilage S. , .., S. . Die Zeitung spricht lediglich von Menschansammlungen, in denen die Namen prominenter ungarischer Antisemiten gerufen wurden, in denen es aber nicht zu Angriffen auf Häuser von Juden gekommen sei. Der Bürgermeister hatte aber sofort ein Telegramm an den Inneminister abgeschickt, wonach »die judenfeindlichen massenhaften Ansammlungen durch die städtische Polizei nicht bewältig werden konnte(n) und das Militär in Anspruch genommen werden mußte« (.., S. ). Die Zeitung hielt diese Reaktion für überzogen. Vgl. auch AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Michael K. Silber schreibt in seinem Artikel »Bratislava« in der OnlineAusgabe der Yivo Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, dass es im Frühjahr der Jahre  und  aufgrund von Ritualmordgerüchten wiederum zu antijüdischen Ausschreitungen gekommen sei (http://www.yivoencyclopedia.org/printarticle.aspx?ide= – eingesehen am ..). Diese haben aber etwa in der AZJ keinen Niederschlag gefunden.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .. (Bericht vom .. aus Pest), S. -; Heft , .., S. - (Bericht vom .. aus Pest). Aus mehreren Orten wird von jüdischen Todesopfern bzw. auch von Schwerverletzten berichtet, was für diesen Typ der Unruhen eher untypisch wäre. Nach Nemes, Hungary’s antisemitic provinces, S.  ff., hat

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Bauern wurden von agitierenden Handwerksgehilfen und »besitzlosen Dorflumpen« aufgehetzt. So komme allabendlich das Volk aus der Umgebung, versehen mit Säcken, Körben und Rucksäcken, nach Nova (Zalaer Komitat) und fragte an, »ob sie die Judenhetze schon beginnen könnten«. Offenbar sind viele der Unruhen nicht durch die Ortsbewohner selbst begangen worden, sondern durch Fremde, zumeist durch Bauern und Handwerker aus der Umgebung, teils durch Knechte von den umliegenden Gütern.82 Besser situierte Bauern und Gutsbesitzer, die zum Teil auch bedroht wurden, flüchteten in die Städte. Doch deutete die AZJ an, dass auch »hervorragende Persönlichkeiten« zu den Aufwieglern gehörten, und mahnte an, auch gegen diese vorzugehen.83 Verhaftungen der Täter84 und die Verhängung von Ausgangssperren beruhigten schließlich bis Herbst  die Lage. Dennoch blieb die öffentliche Stimmung albtraumartig, wie eine regionale Zeitung schrieb,85 und es gab noch späte Ausläufer im slowakischen Oberungarn, wo es nach Miloslav Szabó im März  durch ein von einem Dienstmädchen verbreitetes Ritualmordgerücht in dem Ort Deutschliptsch (Németlipcse/Nemecká Lupča) im Liptauer Komitat zu heftigen antijüdischen Ausschreitungen kam.86 Handel und Wandel lagen darnieder. Als begünstigende Bedingungen für die Unruhen sieht Nemes die langen Öffnungszeiten der Kneipen, wenige Polizeikräfte vor Ort, eine hohe Zahl von unverheirateten Handwerkern, Tagelöhnern, Bediensteten und Landarbeitern, die für ihn das wesentliche Unruhepotential bildeten. Junge Männer bildeten den Kern der Tumultuanten, doch beteiligten sich auch Frauen und alte Männer. Im Hintergrund standen jedoch Angehörige der mittleren und oberen Schichten, wie die Dorflehrer und Priester/Pfarrer, Mitglieder der Christlichen Abwehrliga, die Briefe an die antisemitischen Blätter schrieben, deren Herausgeber und Journalisten sowie zudem alle jene, die in die Ritualmordbeschuldigung öffentlich einstimmten.87 Der Herbst  war in Ungarn bestimmt durch die Vorbereitungen für die Wahlen des Jahres  sowie von den Prozessen gegen die gefassten Täter, die laut den lokalen

     

es keine Todesopfer unter den Juden gegeben, wohl aber unter den Tumultuanten. Eine Aufstellung über die Gesamtzahl der Opfer liegt m. W. nicht vor. AZJ, Jg. , Heft , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Die AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) schrieb, dass die Zahl der Verhafteten von Tag zu Tag wachse. Die Täter seien leicht zu fassen, da man nur nach der geraubten Beute suchen müsse. Nemes, Hungary’s Antisemitic Provinces, S. , zitiert die Zeitung Komáromi Lapok vom . . . Miloslav Szabó, »Von Worten zu Taten«. Die slowakische Nationalbewegung und der Antisemitismus -, Berlin , S. . Nemes, Hungary’s Antisemitic Provinces, S. , zitiert den Artikel »Tumulte« aus dem Abendblatt des Pester Lloyd vom . August , S. , wonach in dem Ort Csurgó (Bezirk Somogy) Folgendes vertreten wurde: »A greater part of the so-called intelligentsia made all sorts of comments about the trial, which culminated in [the observation that] peace could not be restored until at least three or four Jews were hanged«.

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Zeitungsberichten als arm und ungebildet dargestellt wurden, viele seien zudem Roma gewesen. Die Angeklagten hätten einen schlechten Eindruck gemacht, man habe Hunger, Elend und vor allem Müßiggang feststellen können. Es wurde bemängelt, dass die geistigen Brandstifter nicht zur Rechenschaft gezogen würden. Die Täter wurden zu kurzen Gefängnis- oder Geldstrafen verurteilt. Die Prozesse machten den großen Umfang der kommunalen Unruhen sichtbar, was aber der Attraktion der Antisemiten bei den Wahlen offenbar keinen Abbruch tat, da sie  Sitze in den  Wahlkreisen errangen, in denen sie kandidiert hatten.88 Robert Nemes interpretiert die Unruhen als eine Antwort der Bevölkerung auf Tiszaeszlár, die weitgehend ungeplant und unkontrolliert abliefen, während in der Presse vielfach eine Agitationsthese vertreten wurde.89 Nemes sieht in ihnen »Rituale der Degradierung«, in denen den Juden symbolisch klargemacht wurde, in welch einer prekären Lage sie waren. Die Menge wusste genau, wo die Juden des Ortes wohnten, und sie attackierte ihre Läden, Geschäftsräume und Wohnhäuser, aber seltener Synagogen. Juden, die sich auf der Straße blicken ließen, wurden ebenfalls angegriffen, es gab aber keine Todesopfer unter den Juden, wohl aber unter den Tumultuanten durch den Einsatz der Polizei. Die Unruhen waren also Ausdruck eines bestehenden Antagonismus, der gespeist wurde aus religiösen Vorurteilen, ökonomischer Frustration und Ressentiments gegen die Herrschenden, doch waren sie eingebettet in eine hochpolitisierte Atmosphäre, die nach Auffassung von Nemes der antijüdischen Gewalt eine weitere Bedeutung gab, indem sie die Verwundbarkeit der Juden in der ungarischen Gesellschaft offenbarte. Die lokalen und regionalen Verantwortlichen, zumeist ja liberal und national orientiert, waren in ihren Stellungnahmen zu Tiszaeszlár und zum Antisemitismus selbst nicht frei von Stereotypisierungen. Doch selbst judenfeindliche Stellungnahmen machten einen Unterschied zwischen den Juden insgesamt, die als fremd und unloyal charakterisiert wurden, und der guten lokalen jüdischen Gemeinde. D. h., man maß dem friedlichen lokalen Zusammenleben mit Juden einen hohen Stellenwert zu. Nemes beobachtete aber ein Auseinanderfallen von Worten und Taten: So wurden die Unruhen verbal von den lokalen Autoritäten verurteilt, auf der Straße jedoch blieben die Aktionen zweideutig, da man häufig zögerte, entschieden gegen die Täter vorzugehen oder Militär in die Stadt zu beordern. Es schien so, als könnte man nicht glauben, dass die eigene Bevölkerung zu kollektiver Gewalt fähig war,  Nemes, Hungary’s Antisemitic Provinces, S.  f.  Ebd., S.  ff. Der Pester Lloyd vom .. vertrat eher die Agitationsthese, wonach es sich bei den Unruhen nicht um »konfessionelle Agitation« handele, sondern »dass die demagogische Aufwiegelung die Früchte getragen hat, die sie tragen musste, und dass wir vor einer sozialen Umsturzbewegung stehen, die keinen Menschen in diesem Lande unberührt lassen kann« (zit. nach Nathan, Der Prozeß, S. ). Auch die AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) hatte unter Berufung auf eine ungarische Zeitung keinen Zweifel mehr daran, dass die »ganze Bewegung von langer Hand vorbereitet gewesen« sei. Die Regierung habe es durch ihre zu große Rücksichtnahme gegenüber den Verdächtigungen der Antisemiten zugelassen, dass während des fast anderthalbjährigen Tiszaezlár-Prozesses Aufruhr gepredigt worden sei.

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weshalb man dazu tendierte, sie auswärtigen Agitatoren, dem untersten Pöbel oder aber Angehörigen anderer Nationalitäten, den Roma, den Deutschen oder den Kroaten, zuzuschreiben. Oder man nannte die Täter schlichtweg Verräter, nicht Ungarn.90 Seitens der religiösen Führer, ob Calvinisten oder Katholiken, wurde die Gewalt verdammt, und auch viele lokale Kirchenmänner intervenierten gegen die antijüdische Gewalt und gegen den Antisemitismus vor Ort, während andere, insbesondere aus dem niederen Klerus, den politischen Antisemitismus offen unterstützten. Zugleich darf man sich die Juden nicht als passive Opfer vorstellen, vielmehr petitionierten die Führer der jüdischen Gemeinden bei den Behörden, veröffentlichten Pamphlete und Artikel in Zeitungen (sogar in antisemitischen) und hielten Reden, in denen sie zur Ritualmordbeschuldigung Stellung nahmen und Schutz vor Übergriffen und eine Beschränkung der antisemitischen Presse einforderten.91 Ritualmordglaube und antijüdische Ausschreitungen in Bulgarien - Die Legende vom jüdischen Ritualmord war bereits in den Jahren vor der Befreiung Bulgariens von der osmanischen Herrschaft im Lande verbreitet, gewann aber vor allem mit dessen staatlicher Selbständigkeit nach  größere Bedeutung.92 Ritualmordgerüchte nahmen nach Stefan Troebst ab Mitte der er Jahre auch in Bulgarien sprunghaft zu, nachdem das jüdisch-bulgarische Verhältnis in den Jahren bis  relativ »reibungsfrei« gewesen war.93 Er sah aber mit dem Aufkommen des europäischen Antisemitismus eine Intensivierung der latent bestehenden bäuerlichchristlichen Judenfeindschaft.94 Dagegen spricht allerdings die Tatsache, dass sich die Ritualmordanschuldigungen und Ausschreitungen nur in den Städten finden, dass kaum Juden auf dem Lande lebten und dass die entscheidenden antijüdischen Akteure unter ihren Konkurrenten in Handel und Handwerk zu suchen sind. Angefacht wurde die Judenfeindschaft durch eine ganze Reihe von Publikationen, die  Nemes, Hungary’s Antisemitic Provinces, S. .  Ebd., S.  f.  Kulenska, Judenfeindschaft, Kap. , S.  ff. Zu entsprechenden Publikationen in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts (S.  f.). Nach Kulenska wurde der soziale Frieden zwischen Christen und Juden in einigen bulgarischen Städten durch Ritualmordgerüchte gestört, so in Samakov , Sofia  und Kjustendil  (S. ).  Troebst, Antisemitismus im »Land ohne Antisemitismus«, S.  f. Nach Kulenska verfolgte aber bereits das nach dem Staatsstreich von  regierende »Regime der Vollmachten« unter russischem Einfluss eine antijüdische Politik (Judenfeindschaft, S.  f.). Diese Auffassung findet sich auch bei Wolf Oschlies, Bulgarien – Land ohne Antisemitismus, Erlangen , S.  ff., er will allerdings, anders als Troebst, auch für die weiteren Jahre bis zum Ersten Weltkrieg nur einen geringen Einfluss der antisemitischer Strömungen erkennen (S. ). Diese Auffassung übersieht allerdings, dass es im Zuge des russisch-türkischen Krieges zu antijüdischen Pogromen gekommen war, an denen sich auch bulgarische Soldaten und Teile der städtischen Bevölkerung beteiligt hatten (s. o. Kap. .).  Troebst, Antisemitismus im »Land ohne Antisemitismus«, S.  f.

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sich mit Themen wie Ritualmord, Blutbeschuldigung und jüdischer Weltherrschaft befassten, gegen die die bulgarischen Juden aber mit heftigen Gegenangriffen Stellung bezogen.95 Zahlreiche antisemitische Klassiker wurden aus dem Deutschen und Russischen übersetzt, etwa August Rohlings Der Talmudjude.96 Bereits  wurden um Ostern herum Ritualmordgerüchte ausgestreut, um in Sofia wie im Zarenreich der Jahre / einen »Aufstand gegen die Juden« herbeizuführen, was durch militärische Schutzmaßnahmen aber verhindert werden konnte. Ein Jahr später kam es dann  in Varna aufgrund von Ritualmordbechuldigungen zu antijüdischen Ausschreitungen.97 Im Sommer  wurden die Juden in Vraca (Vratska), wo  jüdische Familien lebten, des Ritualmordes verdächtigt, und es kam zu Ausschreitungen und zu einem Prozess gegen die vermeintlichen jüdischen Täter.98 Der Fall nahm den typischen Verlauf von Ritualmordvorwürfen: Ein achtjähriges, geistig zurückgebliebenes Mädchen verschwand am . Juli . Die Suche der Mutter blieb erfolglos, und die alarmierte Polizei begann am nächsten Morgen ihre Suche direkt in den Häusern der Juden. Die Leiche des Mädchens wurde am . August in der Nähe der Stadt entdeckt. Auch hier ergab die Autopsie (fälschlich) einen gewaltsamen, durch Messerschnitte herbeigeführten Tod, der nun das Gerüchtekarussell in Vraca in Gang setzte. Augenzeugen wollten das Kind bei einer jungen Studentin gesehen haben, die dann auch ihrerseits bestätigte, von einem jüdischen Ehepaar Geld dafür bekommen zu haben, das Kind drei Tage lang zu pflegen, bevor sie es wieder abgeholt hätten. Wie das »Wissen« um »Ritualmorde« die Phantasie der Zeugen anregte, zeigt die Aussage der Studentin, sie wüsste, dass die Juden das Kind totgeschlagen hätten, da die Jüdin, die ihr das Kind gebracht habe, gesagt habe, »dass man ihm auf den Kopf einen Dornenkranz aufgesetzt und es gequält habe, bis sie ihm das Blut abgenommen hätten«.99 Zwar widerrief die Studentin ihre Aussage einige Tage später, doch nun fanden sich viele weitere Zeugen, die ihre Aussage bestätigten und sich in ihren Anschuldigungen als äußerst kompetent hinsichtlich der typischen Merkmale von »Ritualmorden« zeigten. Alle Zeugen machten unisono die Juden des Ortes verantwortlich und scheuten sich auch nicht, Namen zu nennen, so dass ein jüdisches Ehepaar und ein weiterer Jude angeklagt wurden. Die Studentin wurde als Komplizin ebenfalls angeklagt. Der Staatsanwalt schenkte den Anschuldigungen der »Zeugen« offenbar Glauben und vermutete in der An Siehe die entsprechenden Buchtitel bei Tamir, Bulgaria. S. . Dazu auch Kulenska, Judenfeindschaft, S. -. Sie hebt hervor, dass sich unter den Aktivisten der stark religiös geprägten antisemitischen Agitation auch Geistliche befanden (S.  f.).  Troebst, Antisemitismus, S. .  Ebd., S. ; Tamir, Bulgaria, S. . Kulenska erwähnt das Pogrom von Varna aber nicht.  Über diesen Fall ist relativ viel bekannt, da sich im Privatnachlass des bedeutenden bulgarischen Politikers und ehemaligen Ministerpräsidenten Konstantin Stoilov detaillierte Zeugnisse erhalten haben. Er hatte die angeklagten Juden im Prozess als Anwalt verteidigt (diese Quelle wurde ausgewertet von Kulenska, Judenfeindschaft, S.  ff.).  Zit. nach Kulenska, Judenfeindschaft, S. .

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klageschrift als Motiv des Verbrechens, »dass das Kind Mica Giorgieva Opfer eines grausamen religiösen Fanatismus geworden ist«.100 Stefan Troebst spricht von einer »antisemitischen Befangenheit der bulgarischen Staatsanwaltschaft in […] krasser Form«.101 Der zwei Jahre dauernde Strafprozess gegen die drei angeklagten angeblichen Ritualmörder wurde durch antjüdische Ausschreitungen in Vraca begleitet. Veselina Kulenska zitiert in ihrer Arbeit die Rede eines Regierungsvertreters in Vraca, die am . August  in der vielgelesenen Zeitung Balkanska Zora (Balkanischer Morgen) erschien. Derzufolge herrschte in der Stadt eine »besondere Reizbarkeit und sehr feindselige Einstellung der Bürger«, die sich gegen »die jüdischen Mitbürger richtete«. In der Nacht zum . August sei es daraufhin zu einem Angriff einer Menschenmenge von etwa dreißig bis vierzig Personen auf das jüdische Viertel gekommen, der trotz des Eingreifens der Polizei nicht habe verhindert werden können.102 Auch der Gouverneur von Vraca berichtete von täglichen Drohungen gegen Juden, die zudem Steinwürfen von Kindern ausgesetzt waren. Juden würden zudem gehindert, ihrem Gewerbe nachzugehen, und ließen ihre Kinder aus Furcht vor Übergriffen nicht zur Schule gehen. Die Behörden bemühten sich sehr, Ruhe und Ordnung am Ort aufrechtzuerhalten. Der Bezirksgouverneur verbot den Bürgern in einer Anordnung Schmähungen und Steinwürfe gegen Juden und trug der Polizei auf, diese Anordnung strengstens zu überwachen. Die Juden aus Vraca wandten sich an andere jüdischen Gemeinden in Bulgarien um Hilfe, aus deren Reihen sich ein Komitee bildete, das Geld für einen guten Verteidiger der Angeklagten sammelte und dabei die Sammeltätigkeit sogar auf die Hauptstädte westeuropäischer Staaten ausdehnte. Mit Konstantin Stoilov konnte man dann einen bekannten Anwalt verpflichten. Die drei angeklagten Juden wurden vom Gericht freigesprochen,103 da sich im Prozess herausstellte, dass das Mädchen auf dem Grundstück seines Onkels ertrunken war und die Familie dies hatte verheimlichen wollen.104 Im Prozess kam deshalb auch die Frage auf, warum gerade die Juden beschuldigt wurden, von denen es in der Stadt ja nur wenige gab. Aufschluss darüber gibt ein Brief des Vertreters der örtlichen jüdischen Gemeinde, Salomon Levi, an den Oberrabbiner, den Veselina Kulenska im bulgarischen Staatsarchiv gefunden hat.105 Darin weist Levi auf seit längerem bestehende Spannungen zwischen Christen und Juden hin, deren Hauptgrund er in der ökonomischen Konkurrenz sieht. Während des russisch-türkischen Krieges hätten die Juden den Ort aus Furcht vor Pogromen seitens der russischen Truppen und der einheimischen Bevölkerung vorübergehend verlassen und bei ihrer Rückkehr ihre     

Ebd., S. . Troebst, Antisemitismus, S. . Kulenska, Judenfeindschaft, S. . Tamir, Bulgaria, S. . Kulenska, Judenfeindschaft, S. . Der Verteidiger Stoilov äußerte in seinen Unterlagen mehrfach die Vermutung, die Familie des toten Mädchens habe den Zeugen Geld gezahlt, damit sie bei ihren Anschuldigungen gegen die Juden blieben (S.  f.).  Ebd., S. .

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Häuser und Geschäfte geplündert und die Synagoge zerstört vorgefunden. Gegen die Wiederansiedlung der Juden hätten . Bürger Vracas bei der provisorischen russischen Regierung protestiert. Levi geht sogar so weit, dass, nachdem diese Einschränkung der Rechte der Juden nach den Bestimmungen des Berliner Kongresses als nicht zulässig erklärt worden war, die Bürger Geld gesammelt hätten, um umherziehende Räuber dafür zu bezahlen, dass sie nachts in die Geschäfte der Juden eindringen, dort Waren stehlen oder die Häuser anstecken und dabei angetroffene Juden töten sollten, um so die Juden zum Verlassen Vracas zu veranlassen. Für Kulenska müssen die Ereignisse in Vraca als Ausdruck einer schon lange bestehenden Feindschaft zwischen christlichen und jüdischen Kaufleuten gesehen werden, da Erstere um ihren Lebensunterhalt fürchteten.106 Im Jahre  waren es wiederum Ritualmordgerüchte, die in den thrakischen Städten Tatar Pazardžik, Plovdiv und Jambol in antijüdische Ausschreitungen zu münden drohten. wobei nach Troebst und Tamir staatliche Stellen, genauer der bekannte Judenhasser Gouverneur Stoilchev, eine zwielichtige Rolle gespielt und Bauern der Umgebung zur Plünderung jüdischen Eigentums in der Stadt Pazardžik animiert haben sollen.107 Während Troebst schreibt, dass die Pogromwelle alle drei Städte überrollte, konnte nach Tamir in Tatar Pazardžik durch die Intervention des Premierministers, der den Gouverneur für etwaige Unruhen persönlich verantwortlich machte, und in Plovdiv durch die seitens eines jungen Leutnants getroffenen Schutzmaßnahmen im jüdischen Viertel der Ausbruch von Gewalt gerade noch verhindert werden.108 In Jambol jedoch genügte am . März 109 allein die Anschuldigung einer elfjährigen Schülerin, Marija Todorova, ein Jude habe sie in sein Haus zu ziehen versucht, wobei andere Juden zugeschaut, aber nicht eingegriffen hätten und sie nur durch das Eingreifen eines Bulgaren gerettet worden sei, um antijüdische Übergriffe auszulösen. Die Schülerin hatte, wie sie später zugab, mit dieser Geschichte vor der Lehrerin nur ihre Verspätung rechtfertigen wollen.110 Allein diese erfundene Geschichte reichte als Auslöser für Übergriffe aus. Am Mor   

Ebd., S. . Troebst, Antisemitismus, S. . Tamir, Bulgaria, S.  f. Ebd. Dies entspricht nach dem gregorianischen Kalender Mittwoch, dem . April . Bei Tamir wird der Vorfall auf den . April und damit auf zwei Tage vor Pessach datiert, so dass die Unruhen am Vorabend des Pessachfestes stattgefunden haben sollen (Bulgaria, S. ). Nun fiel aber Pessach  auf Donnerstag, den . April. Doch druckte die AZJ einen Bericht der bulgarischen Zeitung Mir (Friede) ab, die als Organ des Innenministers galt. Demnach habe sich am . März das Gerücht in Jambol(i) verbreitet, »daß ein Israelit ein heranwachsendes Mädchen habe rauben wollen; dies genügt, um Zusammenrottungen herbeizuführen, die Juden wurden angegriffen und die Scheiben im Judenviertel eingeworfen. Durch das Eingreifen der Polizei hatte der Vorgang weiter keine Folgen. Es wurden einige Ruhestörer festgenommen und eine Untersuchung eingeleitet« (Jg. , Heft , .., S. ). Dies bestätigt also die den Gerichtsakten von Veslina Kulenska entnommene Datierung auf den . März.  Dazu und zum Folgenden: Kulenska, Judenfeindschaft, S.  ff.

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gen des folgenden Tages begann eine wütende Menge zunächst an verschiedenen Stellen der Stadt vorbeikommende Juden zu bedrohen, bevor sie zur Synagoge zog und auf dem Weg dorthin Fensterscheiben jüdischer Häuser und Läden einwarf und Juden angriff. Das Einschreiten der Polizei konnte die Ausschreitungen beenden. Sie bewachte dann die Nacht über das jüdische Viertel. Veselina Kulenska und Vicki Tamir schreiben das energische Eingreifen der Polizei der schnellen Reaktion des bulgarischen Innenministers Belinov zu, der auf Bitten des jüdischen Konsistoriums in Sofia den Bezirksvorsteher in Jambol entsprechend angewiesen hatte. Zwei angeschuldigte Juden wurden am nächsten Morgen verhaftet, beschuldigten aber das Mädchen, die Geschichte erfunden zu haben, worauf sie freigelassen wurden. Die Geschichte war damit aber nicht abgeschlossen, da die Ermittlungsakten des Falles an das Bezirksgericht ins benachbarte Sliven geschickt wurden, wo der Staatsanwalt das Mädchen sowie zwei Zeugen befragte, die etwas beobachtet haben wollten, aber angaben, keinen der Juden wiedererkennen zu können. Obwohl die drei Versionen des Vorfalls seitens des Mädchens und der beiden Zeugen nicht übereinstimmten, erhob der Staatsanwalt Anklage wegen versuchter Entführung gegen die beiden beschuldigten Juden. Auf Intervention des jüdischen Konsistoriums in Sofia intervenierte die bulgarische Regierung und stellte bei der Beweiserhebung (es waren z. B. keine Entlastungszeugen gehört worden) und der überhöhten Kautionsforderung Unregelmäßigkeiten fest, woraufhin der Staatsanwalt aus Sliven wegversetzt wurde.111 Die Regierung hatte sich zu diesem Schritt offenbar entschlossen, weil es, angestoßen durch das Gerücht von der Entführung eines christlichen Mädchens und die Ausschreitungen in Jambol, in Sliven bereits am . März (eine andere Datierung nennt den . März) ebenfalls zu antijüdischen Unruhen gekommen war. Eine Menge von siebzig bis achtzig Schülern und Lehrlingen hatte die Syngoge und die angrenzenden Häuser mit Steinen angegriffen, war aber durch das rasche Eingreifen der Polizei schnell zerstreut worden.112 Nach Kulenska spielten antisemitische Zeitungen und Broschüren, die sich in jeder Ausgabe der Ritualmordlegende widmeten, sowohl für die Verbreitung von Wissen über die Typik von Ritualmorden sowie für das Anheizen der interreligiösen Spannungen eine zentrale Rolle. Es gab aber auch Gegenkräfte, so ließ der  Ebd., S.  ff.  Ebd., S. ; die AZJ gibt die Darstellung des in Sliven (Slivno) erscheinenden Oppositionsblattes Fraki wieder, derzufolge ein Mädchen in Sliven seine Abwesenheit am . März damit begründet hatte, von den Juden entführt, in einen Keller gesperrt und dort in eine mit Eisenspitzen ausgeschlagene Tonne geworfen worden zu sein. Es habe dann mitten in der Nacht fliehen können. Auf diese Erzählung hin griff eine Menschenmenge jüdische Läden an, warf die Fensterscheiben ein und verstreute die Waren auf der Straße, wo diese aber von »guten Christen« aufgesammelt wurden. Die Polizei stellte, unterstützt von der Armee, die Ruhe wieder her und die Schuldigen wurden dem Gericht übergeben. Das Mädchen gestand im Verhör, dass seine den Kameraden erzählte Geschichte nur ein Spaß gewesen sei (Jg. , Heft , .., S. ). Tamir gibt eine abweichende Schilderung der Ausschreitungen in Sliven, die durch die Intervention christlicher Bürger gestoppt worden seien (Bulgaria, S. ).

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Metropolit in den Kirchen Slivens gegen die Ritualmordlegende predigen, und auch prominente Bürger wandten sich gegen diesen Aberglauben. Eine wichtige Rolle als Gegenkraft spielte auch die vielgelesene regierungsnahe Zeitung Mir (Frieden), die sich im April  in einem Leitartikel gegen die Ritualmordlegende wandte.113 Der Prozess gegen die beiden beschuldigten Juden wurde wegen der unruhigen Stimmung in Sliven nach Burgas verlegt, wo ein noch weit stärker antijüdisch gesonnener Staatsanwalt die Anklage vertrat, der im Gerichtssaal sogar selbst die Ritualmordthese vertrat. Zudem war am Ort ein antisemitischer Klub mit der Zeitung Golgatha aktiv, die dem Thema zahlreiche Artikel widmete. Gegen den offenen Antisemitismus des Staatsanwalts protestierten die Juden beim Innenministerium, woraufhin der Staatsanwalt wegen Hetze disziplinarisch belangt und ebenfalls versetzt wurde. Dennoch verurteilte das Gericht in Burgas einen der beiden Angeklagten wegen versuchter Entführung zu vier Monaten Haft. Gegen das Urteil legten dessen Anwälte Berufung ein, aber es dauerte vier Jahre, bis Marija Todorova endlich zugab, die Entführungsgeschichte erfunden zu haben, und das Gericht das Verfahren  endlich einstellte.114 Diese Ausschreitungen und die Ritualmordprozesse verschlechterten in den er Jahren die Beziehungen zwischen bulgarischen Christen und Juden. Troebst sieht eine auffällige Koinzidenz der antijüdischen Ausschreitungen der Jahre  bis  mit der  einsetzenden schweren und andauernden Wirtschaftskrise, in der eine Krise der Staatsfinanzen, die aufgrund zu groß dimensionierter Rüstungs- und Eisenbahnprojekte sowie des Ausbaus der Hauptstadt Sofia kollabierten, sowie mit einer Agrarkrise in Nordbulgarien, die durch Missernten und Viehseuchen derart katastrophale Ausmaße annahm, dass es zu einer Hungersnot kam und viele Bauern ihren Hof verkaufen mussten. Im Jahr  kam es deshalb zu einer Agrarrevolte, die sich anders als bei der stark antijüdisch motivierten Agrarrevolte in Rumänien  nicht direkt gegen die Juden richtete, diese spielten als Pächter keine Rolle, doch besteht sicher ein Zusammenhang mit den Pogromen in den nordbulgarischen Städten an der Donau (Lom, Vidin, Pleven).115 Gegen Ende des . Jahrhunderts wurde Antisemitismus in der orthodoxen Kirche, die sich nun antisemitisch engagierte, und anderen gesellschaftlichen 

Kulenska, Judenfeindschaft, S.  f. In Jambol hatten die Verbreitung der Broschüre mit dem Titel »Glaubenslehre des Talmud oder die Ehrlichkeit der Juden« sowie eine kursierende Abbildung, die die Schlachtung eines christlichen Kindes durch jüdische Geistliche zeigen sollte, die Pogromstimmung angefacht. Zur Rolle der antisemitischen Presse siehe ausführlich auch: Veselina Kulenska, The Antisemitic Press in Bulgaria at the End of the th Century, in: »Quest. Issues in Contemporary Jewish History. Journal of Fondazione CDEC«, n. , July , S. - (www.quest-cdecjournal.it/focus.php?id=).  Wie weit das »Wissen« verbreitet und das Thema Ritualmorde präsent war, zeigt die Aussage von Marija Todorova, die angab, als sie verspätet in der Schule angekommen sei, gehört zu haben, wie Schüler auf dem Schulhof über die Entführung christlicher Kinder vor dem Passahfest sprachen. Sie habe das dann zur Erklärung ihrer Verspätung benutzt (Kulenska, Judenfeindschaft, S.  f.).  Troebst, Antisemitismus, S. .

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Gruppen, wie Ärzten, Juristen und Offizieren, spürbar. Mit den er Jahren begann in Bulgarien die Verbreitung antisemitischer Broschüren und Zeitungen wie die des Verlegers Nikola Mitakov, der entsprechende Blätter wie Bălgarija za bălgarite (Bulgarien den Bulgaren) – ab , ab  weitergeführt als Bălgarija bez evrei (Bulgarien ohne Juden) – und die Tageszeitung Narodna svoboda (Freiheit des Volkes) herausgab, die im Zeitungskopf ihre Ausrichtung als »politisch und antisemitisch« kennzeichnete. Ähnliche Auffassungen vertraten Zeitungen wie die schon erwähnte Golgata und die Boulevardblätter des aktiven antisemitischen Verlegers Stojan Šangov Novotziv (Neues Echo – ab ) sowie Večerna pošta (Abendpost – ab ). Antisemitismus verband sich dabei mit einer antisozialistischen und großbulgarisch-nationalistischen Ausrichtung. Hinzu kamen lokale, noch offener antisemitische Blätter.116 Insgesamt muss man aber Veselina Kulenska folgen, die auf den winzigen Anteil der antisemitischen Blätter an der bulgarischen Presse, ihre geringe Auflage und meist kurze Erscheinungsdauer hingewiesen hat.117 In dem so geschaffenen Klima kam es in den ersten Jahren des . Jahrhunderts sowohl zur Emigration von Juden118 als auch mehrfach zu Pogromen, sogar Sofia war nun davon betroffen, wo eine geplante Eheschließung zwischen einem bulgarischen Christen und einem jüdischen Mädchen zu Massendemonstrationen führte.119 Dennoch ist es m. E. übertrieben, wenn Stefan Troebst behauptet, dass die antisemitische Welle so stark geworden sei, »dass die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts hindurch Pogrome an der Tagesordnung waren«.120 Die schwersten Pogrome ereigneten sich wieder in Kjustendil (. April ), in Lom und Vidin (April ).121 Kjustendil, eine kleine Stadt,  km von Sofia entfernt, war schon vor  Schauplatz eines durch Ritualmordanschuldigungen ausgelösten geringfügigen antijüdischen Krawalls gewesen, als ein christlicher Junge  durch Stiche getötet aufgefunden worden war.122 Die Gewalt beschränkte  Ebd., S.  f.; Oschlies, Bulgarien, S.  f.; vgl. auch weitere Titel bei Tamir, Bulgaria, S. ; Kulenska, Judenfeindschaft, Kap. : Die antisemitische Agitation und Presse in Bulgarien. Dort Näheres zu Mitakov, Šangov und anderen Autoren.  Kulenska, Judenfeindschaft, S. ; Kulenska, The Antisemitic Press, S.  ff.  Die AZJ, Jg. , Heft , .., S. , berichtet, dass die »Verbreitung der antisemitischen Agitation in Bulgarien und die Gründung antisemitischer Vereine in den größeren Städten […] zahlreiche jüdische Bewohner [veranlaßt hat], daß Land zu verlassen und in der Fremde Zuflucht zu suchen«.  Ebd.  Troebst, Antisemitismus, S. .  Eine verharmlosende Darstellung findet sich bei Oschlies, Bulgarien, S. , der leugnet, dass es Pogrome wie in Rumänien oder Russland gegeben habe. Er konzediert lediglich einige Tumulte, »die eher grotesk waren«, womit er die Unruhen  und  in Lom meinte, wo einige Wirrköpfe Ritualmordgerüchte in Umlauf gesetzt hätten, doch seien die angeblich verschwundenen Personen wieder aufgetaucht und das zum Schutz der Juden aufgebotene Militär habe wieder abziehen können.  Im Jahr  soll der Metropolit von Plovdiv, Erzbischof Metodij Kusevič, der eine antisemitische Zeitung herausgab (Otbrana – Verteidigung) selbst ein Pogrom im südwestbulgarischen Kjustendil initiiert haben, das  Nachfolgetaten in Dupnica, Lom und

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sich damals auf Steinwürfe bulgarischer Einwohner auf die Häuser ihrer jüdischen Nachbarn. Durch das schnelle Eingreifen der türkischen Behörden konnte die Ruhe schnell wieder hergestellt werden.123 Kurz danach war es im Zuge des russisch-türkischen Krieges wiederum zu Angriffen und Plünderungen jüdischer Häuser gekommen (siehe Kap. .).124 Kulenska geht davon aus, dass sich nach der Rückkehr der im Krieg aus der Stadt geflohenen Juden nach Kjustendil die Spannungen zwischen Juden und Christen etwas gelegt hätten, doch sei dies nur die »Ruhe vor dem Sturm« von  gewesen.125 Kulenska hat den Verlauf des Pogroms von Kjustendil vom . April 126 anhand von Berichten der großen bulgarischen Zeitungen rekonstruiert.127 Anders als in den bisherigen, von Ritualmordgerüchten ausgelösten Unruhen scheint es sich hier um ein mehr oder minder geplantes Vorgehen gegen die Juden gehandelt zu haben. Ausgangspunkt waren am Vormittag des . April, einem Sonntag, einmal ein unvermittelter Angriff einer Gruppe von zehn bis zwanzig Personen auf das Café eines Juden, der herausgezerrt und verprügelt wurde, und zur selben Zeit eine weitere Prügelattacke gegen einen anderen Juden. Die Polizei nahm die Täter zwar fest, ließ sie aber nach ein paar Stunden wieder laufen. Diese Attacken hatten zunächst keine weiteren Folgen. Dass es sich um ein geplantes Pogrom handelte, wurde erst klar, als sich am Nachmittag in einem Gasthaus antisemitisch gesonnene Personen trafen und am späten Nachmittag wiederum eine kleine Gruppe von zehn bis zwanzig Personen begann, auf einem Platz antijüdische Rufe zu skandieren, was die Menge schnell auf etwa einhundertfünfzig Personen anwachsen ließ,

 

 



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Pleven nach sich zog (Troebst, Antisemitismus, S. ); ebenso Tamir (Bulgaria, S.  f.), wonach in Kjustendil ein Mob an einem Sabbat die Synagoge gestürmt, die Besucher angegriffen und die heiligen Bücher zerstört habe. In Stara Zagora soll der Versuch des Metropoliten fehlgeschlagen sein, eine Menge zur Gewalt gegen Juden anzustacheln. Troebst stützt sich als Quelle auf Berichte der sozialistischen Zeitung Rabotničeski vestnik. Diese Pogrome werden bei Veselina Kulenska nicht erwähnt. Kulenska, Judenfeindschaft, S. . Interessant ist dabei, wie Kulenska gezeigt hat, dass auch Vertreter der sich im Exil in Bukarest befindlichen revolutionären bulgarischen Bewegung, wie der berühmte Hristo Botev, die These eines Ritualmordes in der Zeitung Zname (Fahne) vehement unterstützten und die angeblichen Vorgänge der brutalen Ermordung des Kindes detailliert ausmalten. Juden wurden als Mörder von Christenkindern und verhasstes Volk hingestellt, und die Türken galten als deren »gekaufte« Verbündete. Die bulgarisch-orthodoxe Kirche nahm im Gegensatz dazu gegen die Ritualmordlegende Stellung (ebd., S.  f.). Ebd., S. . Der julianische Kalender hinkt  Tage hinter dem gregorianischen her, d. h., der . April  in Bulgarien entspricht dem . April des gregorianischen Kalenders. Der Wochentag war somit ein Sonntag. Der ebenfalls als Termin genannten . April wäre somit ein Freitag gewesen. Die AZJ nennt den . April nach dem gregorianischen Kalender als Pogromtermin, was die Datierung von Kulenska bestätigt. Dazu und zum Folgenden: ebd., S. -. In einer anderen Darstellung wird der . April als Termin genannt (Jens Hoppe, Bulgarien, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, München , S. -, hier S. ).

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die das Haus eines Juden belagerten und ihn herauszerren wollten, was aber durch Gendarmen verhindert werden konnte, die das Haus anschließend bewachten. Wie in vielen anderen Fällen auch, blieb der Versuch eines Vertreters der Bezirksverwaltung und der Gendarmen, die Menge zu beruhigen bzw. zu zerstreuen, erfolglos. Vielmehr wandte sich die Menge nun auch gegen die Polizei und die Ausrufe »Nieder mit den Juden!« und »Nieder mit der Polizei!«, wechselten sich ab. Nachdem die inzwischen auf etwa dreihundert Personen angewachsene Menge die Scheiben des belagerten Hauses eingeworfen hatte, machte sich sie sich auf den Weg zur Synagoge, was die Polizei nicht mehr verhindern konnte. Man drang in die Synagoge ein, zerstörte das Inventar und verprügelte die anwesenden Juden so schwer, dass einer von ihnen starb.128 Juden, die zu fliehen versuchten, wurden verfolgt. Einer von ihnen wurde schwer zugerichtet und konnte nur durch den Einsatz von Gendarmen gerettet werden. Der für die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständige Bezirksvorsteher, der durchaus über Autorität in der Stadt verfügte, ließ sich erst am Abend blicken, doch gelang es ihm zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, die nun auf ca. tausend Menschen angewachsene Menge zu beruhigen, die in das jüdische Viertel zog und dort Häuser demolierte und ausgeraubte. Kaum ein Haus entging dem Vandalismus der Tumultuanten. Für die bewusste Anzettelung der Gewalt spricht, dass nun einige sich als Anführer aufspielten und einer eine judenfeindliche Rede hielt, in der er die »christlichen Brüder« aufforderte, dem Evangelium zu gehorchen und das Judentum auszurotten. Obwohl sich die Polizei als machtlos erwies, wandte man sich offenbar erst spät an die Armee, die erst abends gegen neun Uhr erschien, als sich die Menge wegen des einsetzenden Regens sowieso schon zu zerstreuen begann. Das Pogrom forderte ein Todesopfer und zahlreiche krankenhausreif geschlagene jüdische Männer.129 Zudem waren fast alle jüdischen Häuser beschädigt und geplündert, Möbel, Kleidung und Lebensmittel waren auf die Straße geworfen worden. Bemerkenswert ist die Reaktion eines Teils der Bürger Kjustendils, die empört auf die Ausschreitungen reagierten und die Reaktion der staatlichen Organe, vor allem das späte Eingreifen des Bezirksvorstehers, heftig kritisierten und dies in einem Telegramm an den Innenminister und wichtige Zeitungen auch öffentlich zum Ausdruck brachten. Ähnliche Aufrufe gab es auch von Bulgaren und Juden aus anderen Landesteilen. Unterstützt wurde diese Kritik auch von dem für die Region im Parlament sitzenden Abgeordneten, der vom Innenminister die Abberufung des Bezirskvorstehers forderte. Aufgrund dieses öffentlichen Drucks begannen die  Dazu gibt es auch eine kurze Notiz in der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ), wonach es am . April in Kjustendil Ausschreitungen gegen jüdische Einwohner gegeben habe. Die Teilnehmer seien ins Bethaus eingedrungen und hätten die dort Anwesenden misshandelt, fünf seien dabei schwer verletzt worden. Die Ruhestörungen hätten den ganzen Tag angedauert und erst durch den Einsatz von Militär beendet werden können.  Sie finden sich namentlich aufgelistet bei Kulenska, Judenfeindschaft, S. . Damit weichen diese Angaben über Opfer unter den Juden deutlich von der Angabe bei Jens Hoppe ab, der von sechs gelynchten Juden spricht (Bulgarien, S. ).

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örtlichen Ermittlungsbehörden mit einer Untersuchung und verhafteten eine ganze Reihe namentlich bekannter Täter.130 Es wurde eine Enquete-Kommission eingesetzt, die die materiellen und immateriellen Schäden ermitteln sollte. Die Frage, wie es in Kjustendil zu diesem Pogrom kommen konnte, wurde in den Zeitungen unterschiedlich beantwortet. Nach einer Lesart – in der Zeitung Mir (Fahne) vom . April 131 – war nach einer Prügelei von zwei (allerdings beides jüdischen) Jungen von den Antisemiten das Gerücht in Umlauf gesetzt worden, die Juden hätten ein Kind in der Synagoge eingesperrt, das von einem christlichen Schmied befreit worden sei. Mit diesem »Ritualmordgerücht« hätten die Antisemiten Bauern zu Angriffen auf die Juden anstacheln wollen, was aber nicht gelungen sei. Daraufhin hätten sie sich zusammen mit Anhängern der Regierung und anderen in einem Gasthaus zusammengefunden. Als sich dreißig bis vierzig Personen dort versammelt hatten, hätten die Antisemiten Geld dafür geboten, vorbeikommende Juden zu verprügeln. Die Zeitung machte aber den Bezirksvorsteher als Hauptschuldigen aus, der nach den Übergriffen am Vomittag die Feuerwehrleute angewiesen habe, die Wache nicht zu verlassen, woraufhin er selbst die Stadt verlassen habe. Obwohl er von Gendarmen mehrfach zum Eingreifen aufgefordert worden sei, sei er erst am Abend in die Stadt zurückgekehrt. Eine zweite Lesart, die von der Zeitung Izgrev (Sonnenaufgang) vom . April  verbreitet wurde, erwähnte die Geschichte des eingesperrten Kindes nicht, sondern machte die Anhänger der antisemitischen Bewegung in der Stadt ganz direkt für das Anzetteln des Pogroms verantwortlich.132 Nach Kulenska fehlen leider archivalische Quellen, die eine Überprüfung dieser Lesarten ermöglichten, doch ist immerhin sicher, dass mehr oder weniger gut organisierte Antisemiten des Ortes für die Auslösung der Gewalt und der Bezirksvorsteher durch sein spätes Eingreifen an dem sich immer weiter eskalierenden Geschehen mitverantwortlich waren, das als das größte Pogrom in Bulgarien gilt. Kulenska sieht die Ursachen in der ökonomischen Konkurrenz zwischen Christen und Juden, vor allem im größeren wirtschaftlichen Erfolg der Letzeren, verbunden mit dem Ritualmordglauben, der angeheizt durch Agitation von Boulevardblättern bei der ungebildeten Bevölkerung Gehör gefunden hätte. Auch die im April  in der bulgarischen Hauptstadt Sofia ausbrechenden Ausschreitungen entzündeten sich an einem religiösen Motiv: an dem Wunsch eines  Der Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Kjustendil bedankte sich allerdings bei der Regierung für das schnelle Eingreifen der Gendarmen und der später noch angerückten Armee, die weitere Opfer und Schäden verhindert hätten, eine Aktion, die wiederum von prominenten Juden im Lande scharf kritisiert wurde, die der Polizei völlige Untätigkeit vorwarfen. Der Gemeindevorsteher stellte daraufhin klar, dass er die nach den Unruhen ergriffenen Maßnahmen gemeint habe, und nahm expressis verbis den Bezirksvorsteher aus, dessen Belassen im Amt er der Regierung zum Vorwurf machte (Kulenska, Judenfeindschaft, S. ).  Die Zeitung war das Hauptorgan der Opposition im Parlament.  Zit. nach Kulenska, Judenfeindschaft, S. .

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-jährigen und damit minderjährigen jüdischen Mädchens, einen -jährigen christlichen Bulgaren zu heiraten. Veselina Kulenska hat den Fall anhand der Berichte aus drei Zeitungen (Mir [Frieden], Rabotničeski vestnik [Arbeiterzeitung] und Nov vek [Neues Jahrhundert]), folgendermaßen rekonstruiert:133 Das Mädchen lief von zu Hause fort, um bei ihrem Freund zu leben. Die Eltern ließen sie mit der Begründung, sie sei noch minderjährig, von der Polizei zurückholen. Das Mädchen war jedoch fest entschlossen, ihren Freund zu heiraten und äußerte gegenüber der Polizei und geistlichen Behörden sogar die Bereitschaft, sich taufen zu lassen. Der Rabbiner verwies aber darauf, dass Taufe und Heirat bei dem minderjährigen Mädchen nur mit Zustimmung der Eltern möglich seien, die dies kategorisch ablehnten (zu einem ähnlichen Fall in Geseke/Westfalen von  siehe Kap. .). Diese Ablehnung von jüdischer Seite stieß nicht nur auf Empörung bei dem Freund des Mädchens und dessen Freunden, sondern auch in Teilen der christlichen Bevölkerung, die sich, wie die Zeitung Mir am . April  schrieb, in ihrem »nationalen und christlichen Ehrgefühl« verletzt fühlten. Am folgenden Tag, einem Sonntag, versammelte sich eine Menge von etwa hundert Personen vor dem Haus des Rabbiners und forderte die Herausgabe des Mädchens, was dieser ablehnte.134 Auch der auf der Szene erscheinende Vorsteher und der Staatsanwalt, die ebenfalls erklärten, das Mädchen könne nicht aus dem Haus geholt werden, konnten die Menge nicht beruhigen, die nun über Stunden begann, das Haus des Rabbiners mit Steinen zu bewerfen und »Nieder mit den Juden !« zu rufen. Der Vorsteher versuchte am Nachmittag noch einmal die Menge zu beruhigen, was aber nicht gelang, im Gegenteil eskalierte die Lage so, dass schließlich die Kavallerie gerufen werden musste. Die Menschenmenge, die die Zeitung Rabotničeski vestnik auf zwei- bis dreitausend Personen schätzte, legte sich auch mit der Polizei an und leistete Widerstand gegen die herbeigerufenen Soldaten. Eine weitere Eskalation wurde wohl nur dadurch verhindert, dass das Mädchen aus dem Haus des Rabbiners auf die Polizeiwache gebracht wurde. Dies war nur dadurch zustande gekommen, dass der Freund des Mädchens zum Innenminister zitiert worden war, woraufhin er die Menge bat, auseinander zu gehen, da der Minister versprochen habe, das Mädchen würde im Gegenzug aus dem Rabbinerhaus zur Polizeistation gebracht werden. Die Menge folgte diesem Aufruf aber nicht, so dass das Mädchen schließlich vom Staatsanwalt und dem Stadtkommandanten aus dem Haus des Rabbiners geholt wurde, ohne dass die Menge die Bedingung, auseinanderzugehen, erfüllt hatte. Erst nachdem das Mädchen weggeführt worden war, zerstreute sich die Menge. Der Staatsanwalt

 Ebd., S. -.  Siehe dazu auch den kurzen Bericht in der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) zu der Demonstration vor dem Haus des Großrabbiners. Demnach sei es dem energischen Einschreiten der Behörden und dem überlegten Vorgehen des Poizeipräfekten zu verdanken gewesen, dass »die Demonstration der sich wie rasend geberdenden [sic] Menge ohne Blutvergießen verlaufen ist«.

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kündigte an, zu untersuchen, ob das Mädchen sich ohne Erlaubnis der Eltern taufen lassen und heiraten dürfe.135 Obwohl die genannten Zeitungen das Vorgehen der Tumultuanten als »schändlich« kritisierten und ihnen Doppelmoral vorwarfen, da die christlichen Bulgaren selbst häufig gegen eine Heirat mit Muslimen waren (sie sahen darin eine »Vertürkung«), blieb die Stimmung in Sofia hochgradig angespannt. Der Aufruf des Stadtkommandanten sowie das Verschwinden des Falles aus der Zeitungsberichterstattung führten schließlich aber zur Beruhigung der Lage. Es dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass sich die genannten Zeitungen gegen das Vorgehen der Menge wandten, auf den Schaden hinwiesen, den dieser Fanatismus für das Bild Bulgariens im Ausland bedeutete und eine strenge Bestrafung der Schuldigen forderten.136 Auffällig an dem Verlauf des Tumults ist, dass die Aktionen der Menge auf den Ort des konkreten Anlasses beschränkt blieben und sich nicht auf Angriffe gegen andere Häuser und Läden von Juden oder gar gegen die Synagoge ausweiteten, obwohl sie in ihren »Nieder mit den Juden«-Rufen auf die Juden als Kollektiv zielten. Dies vereinfachte den Einsatz der Kavallerie und bot zudem die Chance für die staatlichen Autoritäten, den Anlass für die Gewalt mit einem Kompromiss so zu lösen, dass sich die Menschenmenge tatsächlich beruhigte. Dies spricht, wie auch von Kulenska erwähnt, eher für ein insgesamt friedliches Zusammenleben von Juden und Christen in Sofia.137 Weniger glimpflich entwickelten sich die antijüdischen Unruhen drei Jahre später im  km entfernten, an der Donau gelegenen Lom, über das die bulgarischen Zeitungen und Organe der politischen Parteien ausführlich berichteten.138 Hier war es wieder das Verschwinden eines christlichen jungen Mannes, das zum auslösenden Ereignis wurde. Ein Bürger Loms, Ivan Dimitrov, erklärte am . Februar , dass der Sohn seines Onkels, der bei ihm arbeitete und den er mit Briefen zur Post geschickt hatte, nicht zurückgekommen sei. Dimitrov zeigte sich gegenüber dem Bezirksvorsteher von vornherein überzeugt, dass der Verschwundene von den Juden gefangen gehalten werde, die ihn für ihre religiösen Zwecke benutzen 

Laut AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) lag die Entscheidung über das Schicksal des Mädchens beim Großrabbiner, da es nicht zu seinen Eltern zurückkehren wollte. Dieser habe noch keine Entscheidung gefällt, werde es aber wahrscheinlich nach der Beruhigung der Gemüter dem Mädchen selber überlassen, entweder zu ihren Eltern oder zu ihrem Geliebten zurückzukehren. Es war zudem nach den vorliegenden Informationen wohl unklar, wann das Mädchen  Jahre alt wurde.  Kulenska, Judenfeindschaft, S. . Über den weiteren Verlauf des Falles wird leider nichts berichtet.  Nach Jens Hoppe soll es  infolge einer Ritualmordbeschuldigung auch in Vraca zu antijüdischen Ausschreitungen gekommen sein (Bulgarien, S. ). Dazu findet sich bei Kulenska allerdings keine Angabe.  Dazu und im Folgenden: Kulenska, Judenfeindschaft, S. -. Nach Hoppe hat es im April  auch Ausschreitungen in Vidin gegeben, wo es eine lokale antisemitische Zeitschrift Zaštititnik (Verteidiger – Organ der kleinen bulgarischen Geschäftsleute gegen die Juden) gab (Bulgarien, S. ), die bei Kulenska nicht erwähnt werden.

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wollten. Letzterem war klar, wie gefährlich diese Anschuldigung war, und er drohte Dimitrov, er werde für die möglichen Folgen einstehen müssen, wenn er dieses Gerücht in Umlauf bringe. Dimitrov und einige Verwandte hielten sich nicht daran, und da der Verschwundene trotz intensiver Suche nicht gefunden wurde, wuchs die antijüdische Stimmung in der Stadt immer stärker an. Die Behörden versuchten, die Bevölkerung zu beruhigen, trafen aber auch auf Anweisung der Zentralregierung hin Maßnahmen zum Schutz der Juden. Da sich das Oster- bzw. Passahfest näherte, genügten nur Andeutungen, um den Ritualmordglauben in der Bevölkerung zu aktualisieren.139 Wie in anderen Fällen auch, etwa in Konitz, gaben aber die Behörden dem öffentlichen Druck nach und führten auf eine anonyme Anzeige hin eine Haussuchung bei einem Juden durch, während sich sofort eine gewaltbereite Mengemenge vor dem Haus versammelte, die durch das Eingreifen von Behördenvertretern aber zerstreut werden konnte. Die gewünschte Beruhigung der Gemüter durch diese Maßnahme trat erwartungsgemäß nicht ein, im Gegenteil bestärkte sie eher den gegen die Juden gehegten Verdacht. Als am . März die Leiche des vermissten jungen Mannes von der Donau angespült und in einem Dorf unweit von Lom aufgefunden wurde, lebte der Vorwurf gegen die Juden wieder auf, obwohl in diesem Fall – anders als in vielen typischen »Ritualmordfällen« – der Staatsanwalt und die drei hinzugezogenen Ärzte keine Verletzungen an der Leiche feststellten. Als der Tote am . März in einem Trauerzug in die Stadt geleitet wurde, empfing ihn eine große Menschenmenge, die durch die flammende antijüdische Rede eines Agitators, der Vergeltung forderte, aufgehetzt wurde. Die Initiatoren wollten den Trauerzug durch das jüdische Viertel ziehen lassen, was aber durch die dort postierte Kavallerie verhindert wurde, die daraufhin von den Teilnehmern des Trauerzuges mit Steinen beworfen und beschimpft wurde. Die Soldaten räumten die Straße, konnten die Menschenmenge aber nicht auflösen, die Steine gegen ein jüdisches Geschäft warf. Physische Übergriffe gegen Juden gab es aber nicht. Am Nachmittag des nächsten Tages sollte das Begräbnis stattfinden, doch schon morgens waren viele Menschen auf den Straßen. Die Behörden hatten aber vorgesorgt, indem sie das Kriegsrecht ausgerufen und viel Kavallerie vor Ort stationiert hatten, die alle Eingänge zum jüdischen Vietel absperrte. Es war befohlen worden, dass der riesige Trauerzug zum Friedhof am Nachmittag durch die Hauptstraße ziehen sollte, doch wollte die Menge unbedingt durch das abgesperrte jüdische Viertel ziehen. Es kam zu Wortgefechten, das Militär gab Warnschüsse ab und die Menge begann, den Pferden Blechteile zwischen die Beine zu werfen, so dass ein Offizier abgeworfen wurde und eine Panik ausbrach, die einige Tumultanten dazu nutzten, ins jüdische Viertel einzudringen und eine ganze Reihe jüdischer Häuser und die Synagoge mit Steinen zu bewerfen und auszuplündern. Es soll auch einige Verletzte unter den Juden gegeben haben, doch gehen die  Kulenska, Judenfeindschaft, S. , zitiert die Zeitung Nov vek vom . April , die es als Schande ansah, dass diese Legende auch von intelligenten Leuten wie Beamten, Lehrern und prominenten Bürgern geglaubt werde.

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Angaben in den Zeitungen darüber weit auseinander. Dem Militär gelang es dann, die Menge zu zerstreuen. Damit fanden die Ausschreitungen am . März ihr Ende, doch stellte sich nun für die Öffentlichkeit die Frage nach deren Ursachen. Die Zeitungen der verschiedenen politischen Richtungen waren sich keineswegs darüber einig, wie sich die Ereignisse an den beiden fraglichen Tagen genau abgespielt hatten, wie groß die Teilnehmerzahl gewesen war und wo die Ursachen für die Unruhen zu suchen waren. Für die Arbeiterzeitung Rabotničeski vestnik gab es heimliche Aufwiegler, die sie offenbar in den Reihen der Geschäftsleute vermutete, da die Juden in Lom den Kornmarkt und andere Handelszweige beherrschten und das Ostergeschäft schlecht lief (Kornkrise), so dass für die Kaufleute und Kleineigentümer von Lom das Verschwinden und der Tod des jungen Mannes die Gelegenheit boten, die Juden anzuschuldigen, ihren Besitz zu zerstören und die Öffnung jüdischer Geschäfte zu Ostern unmöglich zu machen, ja vielleicht die Juden sogar zu vertreiben.140 Die Zeitung veröffentlichte in der gleichen Ausgabe unter dem Titel »Gegen den Antisemitismus« noch eine umfassendere politökonomische Analyse über die tieferen Ursachen des Antisemitismus, die sie einerseits in der schlechten Lage der kleineren Betriebe in Bulgarien und vor allem in Lom sah, da sich die alten Erwerbsformen überlebt hatten und auch durch Reformen nicht zu retten wären, andererseits in der raschen Bereicherung seitens der bulgarischen Bourgeoisie. Der Antisemitismus sei nur der letzte »Strohhalm«, an den sich die im Abstieg befindlichen kleinen Handwerker, Kaufleute und Bauern klammerten. In anderen Zeitungen wurde gar nicht nach einem Anlass für die Unruhen gefragt oder man machte die Machtlosigkeit des Staates verantwortlich, da die gegenwärtigen Vertreter der Staatsmacht in Lom keinerlei Autorität besäßen.141 Uneinigkeit gab es zwischen den Zeitungen auch hinsichtlich der Zahl der Tumultanten, die zwischen dreihundert, tausend und fast allen Einwohnern der Stadt schwankten, und ob und wie viele Verletzte es gegeben habe. Einig war man sich aber darin, dass an dem Umzug als Aufwiegler »Beamte, Lehrer, gebildete und überhaupt intelligente Leute« teilgenommen hätten.142 Veselina Kulenska hält es für schwieig, konkrete Gründe für den Ausbruch der Unruhen um die Jahrhundertwende zu benennen. Als mögliche Ursachen sind religiöse Gegensätze, die Ausbreitung antisemitischer Einstellungen und wirtschaftliche Konkurrenz bzw. ökonomischen Krisen (Kornkrise, sozialer Abstieg) zu nennen.143 Doch Kulenska ist zuzustimmen, dass offenbar alle vorstehend behandelten Fälle nach dem gleichen Schema abliefen, das wir auch in vielen der anderen zeitgenössischen Fälle in Europa beobachten können. In der Osterzeit verschwindet ein Kind oder Jugendlicher (und wird in einigen Fällen später tot aufgefunden), wodurch  Rabotničeski vestnik (Arbeiterzeitung) vom . April , zit. nach Kulenska, Judenfeindschaft, S. .  So in der Zeitschrift Mir (Frieden) vom . April , zit. nach Kulenska, Judenfeindschaft, S.  f.  Rabotničeski vestnik vom . April , zit. nach Kulenska, Judenfeindschaft, S. .  Kulenska, Judenfeindschaft, S. .

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das in dieser Zeit offenbar weit verbreitete »Wissen« um »jüdische Ritualmorde« aktualisiert wird, das dann durch Gerüchte verbreitet und intensiviert wird. In den bulgarischen Fällen treten in dieser Phase Personen auf, die als »Volkstribune« die Mitbürger aufwiegelten und auf ein Ziel lenkten. Nicht ganz klar entscheidbar ist, ob sich diese Agitatoren spontan zu ihren Hetzreden aufschwangen oder ob es sich um überzeugte oder gar organisierte Antisemiten handelte. Es scheint in einigen Fällen jedoch Personen oder Gruppen gegeben zu haben, die als Initiatoren der antijüdischen Mobilisierung fungierten. Sie konnten offenbar auf eine latent vorhandene antijüdische Einstellung bauen, die in diesen Situationen hervortrat, in denen sich die christliche Mehrheit von Seiten der Juden angegriffen und bedroht sah, und die sich im Gewalthandeln manifestieren konnte. Hier brachen ansonsten verdeckte Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen auf. Deutlich erkennbar ist aber auch, dass sich die Behördenvertreter wie auch die Presse entschlossen gegen antijüdische Einstellungen und vor allem gegen die kollektive Gewalt stellten. In den behandelten Fällen zeigt sich fast durchgängig ein adäquates und konsequentes Handeln der staatlichen Organe, die präventiv tätig wurden und so dafür sorgten, dass es nur zu relativ kurz andauernden Übergriffen auf niedrigem Gewaltniveau kam (Vraca, Jambol, Sofia, Lom) – eine Ausnahme bildete Kjustendil , wo die staatlichen Organe versagten. Die von Troebst für die Jahre von  bis  benannte Zahl von  Pogromen in  Städten, die ca. zwanzig jüdische Todesopfer gekostet haben sollen,144 scheint doch zu hoch gegriffen. In den hier behandelten größeren Ausschreitungen gab es nur in Kjustendil einen Toten. Mit den Unruhen in Lom und Vidin war der Höhepunkt der Pogromwelle überschritten, wenn es auch zwischen  und  noch vereinzelte Ausschreitungen gab. Einen Grund für dieses Abebben sieht Troebst darin, dass die ethnische Gewalt nun ein neues Ziel gefunden hatte: die Griechen. In den Schwarzmeerstädten kam es zu antigriechischen Ausschreitungen, die eine Emigrationswelle unter den bulgarischen Griechen auslöste, von denen ca. die Hälfte nach Griechenland auswanderte.145 Der Tod eines jüdischen Mädchens und ein Pogrom auf Korfu  Ritualmordbeschuldigungen waren auch in Griechenland vom . bis weit ins . Jahrhundert hinein weit verbreitet. Maria Margaroni zählt für die Jahre  bis  mehr als sechzig Fälle, dabei schreibt sie vor allem dem Fall auf der damals noch zum Osmanischen Reich gehörenden griechischen Insel Rhodos () als erstem Fall in einer ganzen Reihe folgender Blutbeschuldigungen in der griechischen Bevölkerung eine besondere Bedeutung zu. Die Ursache sieht sie in ökonomischer Konkurrenz und traditionellen religiösen Spannungen zwischen der christlichen, der muslimischen und der jüdischen Bevölkerung der Insel, zumal  Troebst, Antisemitismus im »Land ohne Antisemitismus«, S. .  Ebd.

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Letztere im Verdacht stand, auf Seiten der Muslime zu stehen und als Spione für die osmanische Regierung zu arbeiten. Dieses Bild von Juden als Kollaborateuren und Feinden der griechischen Unabhängigkeit existierte schon seit dem griechischen Unabhängigkeitskampf in den er Jahren, in dessen Frühphase / neben den Türken auch die jüdischen Bewohner der Peloponnes, die von den Griechen als Parteigänger der Türken betrachtet wurden, von den Aufständischen in großer Zahl (zwischen zweitausend und fünftausend Toten reichen die Angaben) niedergemetzelt wurden,146 so dass in den Städten des »befreiten« Südens so gut wie keine Juden mehr lebten.147 Viele der den Massakern entgangenen Juden flüchteten teils nach Saloniki, Istanbul oder Smyrna, teils aber auch auf die unter britischer Verwaltung stehenden Ionischen Inseln Korfu und Zakynthos.148 In der Phase der Reform des Osmanischen Reiches (Tanzimat, -) drohten sich, ähnlich wie in der Emanziptionsphase in den europäischen Gesellschaften, zudem die sozialen Machtverhältnisse in der Wahrnehmung der Christen zugunsten der Juden zu verschieben.149 Trotz der Vielzahl der Beschuldigungsfälle kam es nur auf Korfu, das niemals, ebenso wie die anderen Ionischen Inseln, unter osmanischer Herrschaft  Von fünftausend Opfern spricht Bernard Pierron, Juifs et chrétiens de la Grèce modern Histoire des relations inter-communautaines de  à , Paris , S. -.  K. E. Fleming, Greece. A Jewish History, Princeton, Oxford , S. -, schreibt, dass die Juden sich in dem Konflikt zunächst auf die Seite der Türken schlugen, da sie mit einem Fehlschlagen des griechischen Aufstandes rechneten und weil sie unter osmanischer Herrschaft einen besseren rechtlichen Status genossen als in den christlichen Staaten Europas. Diese Parteinahme sollte verheerende Folgen haben. Auf der Peloponnes wurden die Juden Opfer zahlreicher Pogrome von Seiten der brigantischen Kämpfer (Klephtic). Augenzeugen sprachen von einem Massaker, von Hunderten, ja Tausenden Toten allein in der Stadt Tripolis. Aus dem Zorn über die Parteinahme der Juden für die türkische Seite entstand ein langanhaltendes antijüdisches Ressentiment. Das gesamte . Jahrhundert hindurch wurde die pro-osmanische Rolle der Juden im Freiheitskrieg, ob real oder imaginiert, von den griechischen Christen bei vielen Gelegenheiten in Erinnerung gerufen und diente als Paradigma für die fehlende jüdische Loyalität gegenüber Griechenland.  Vgl. Fleischer, Griechenland, S. -.  Maria Margaroni, The Blood Libel on Greek Islands in the Nineteenth Century, in: Robert Nemes/Daniel Unowsky (Hrsg.), Sites of Antisemitism in the Age of Mass Politics -, Waltham, Hanover, London , S. -, hier S.  ff. Fleming, Greece, S.  ff., zeigt am Fall der »Pacifico Affäre« von Ostern , bei der das Haus eines reichen jüdischen Geschäftsmanns britischer Nationalität (Don Pacifico) am helllichten Tag vor aller Augen in Athen von einer Menge von mehreren hundert Personen geplündert wurde, wie sehr wohlhabende Personen, die mit den Westmächten in Verbindung standen, das Ressentiment und die Paranoia der orthodoxen Griechen auf sich zogen. Don Pacifico beschuldigte die Athener Elite wie die Griechen generell eines fanatischen Ressentiments und eines gewalttätigen Verhaltens gegen Juden. Die Einmischung der europäischen Mächte in die griechischen Angelegenheiten produzierte dort nach Fleming ein »xenophobic environment« (S. ). Auslöser der Gewalt war das erstmals Ostern  erlassene Verbot der griechischen Regierung, das traditonelle Verbrennen einer JudasFigur in effigie, das häufig zu wochenlangen Übergriffen gegen Juden Anlass gab, zu verbieten. Das Verbot wurde einer Initiative Don Pacificos zugeschrieben.

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gestanden hatte, zu einem derartig schweren Ausbruch kollektiver antijüdischer Gewalt.150 Die Beziehungen zwischen den Christen und Juden Korfus Auf Korfu, wo sich von  bis  durch die Flucht von Juden von der Peloppones im Unabhängigkeitskrieg die Zahl jüdischer Einwohner von . auf fast sechstausend erhöht hatte, sahen sich Letztere der Ablehnung der griechischorthodoxen Mehrheit (ungefähr achtzigtauend Einwohner) ausgesetzt.151 Sakis Gekas spricht von »long-established manifestations of judeophobia in Corfu urban society«.152 Auch Bernard Pierron konstrastiert den Philosemitismus und Liberalismus der griechischen Zentralregierung bis in die er Jahre mit dem bereits seit der Vereinigung der sieben Ionischen Inseln mit Griechenland im Jahre  herrschenden Antisemitismus, der auch in der lokalen Presse Korfus, teils auch verbunden mit einer antikatholischen Stoßrichtung, vertreten wurde. Für Katherine E. Fleming war der Übergang von der venezianischen und der folgenden französischen Herrschaft zur britischen auf Korfu mit einer deutlichen Verschlechterung der Position der Juden verbunden, die ihre alten Privilegien verloren und für die die gleichen Rechte einen geringeren Schutz bedeuteten. Unter britischer Herrschaft nahmen die antijüdischen Übergriffe dramatisch zu. So gab es zahlreiche Berichte über Friedhofsschändungen, die Störung von jüdischen Begräbnissen durch höhnische Zuschauer sowie die regelmäßig zur Osterzeit einsetzende Eskalation physischer Angriffe auf Juden, so dass diese sich nicht aus ihren Häusern trauten. Man warf ihnen die Ermordung Christi vor.153 Die Juden Korfus, die  Fleming erwähnt aber, dass es in Volos, das  zu Griechenland gekommen war,  im Zuge einer Blutbeschuldigung zu einer Serie kleinerer Pogrome (»minipogroms«) kam (Greece, S. ).  Vgl. ebd., S. . Nach  sank die Zahl jüdischer Einwohner allerdings wieder. Die Zahlenangaben zeigen eine gewisse Schwankungsbreite, was auch darin begründet ist, dass nicht alle Juden Korfus die griechische Staatsbürgerschaft angenommen hatten. In der Stadt Korfu stellten die Juden allerdings nach der AZJ, Jg. , Heft ., .., S. , mit ca. fünftausend Personen ungefähr ein Fünftel der Gesamtbevölkerung von .. Maria Margaroni, Blood Libel, S. , schreibt von dem Brauch, den Juden als eine Art Wiederholung der Steinigung von Judas aus den Fenstern heraus Geschirr an den Kopf zu werfen. Misstrauen und der Vorwurf des Christusmordes waren weit verbreitet, so dass es auf den griechischen Inseln seitens der bäuerlichen Bevölkerung unter Anleitung von Priestern gelegentlich zu Ausbrüchen von Gewalt gegen Juden kam.  Sakis Gekas, The Port Jews of Corfu and the ›Blood Libel‹ of : A Tale of Many Centuries and of One Event, in: David Ceserani/Gemma Romain (Hrsg.), Jewish Culture and History, Vol. , Jews and Port Cities -. Commerce, Community and Cosmopolitanism, Southampton , S. -, hier S. ; auch Fleming, Greece, S. , spricht für Korfu von einer Geschichte von »marked tensions between Christians and Jews«, die durch den Übergang unter griechische Oberhoheit noch verstärkt wurden.  Fleming, Greece, S.  f. Fleming weist aber auf einen weiteren Konfliktpunkt hin, dass sich nämlich  Tage nach Ostern der jüdische und christliche Festkalender mit Shavuot

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lange zum Schweigen verurteilt gewesen waren, mussten nun ihren Platz in der Gesellschaft Korfus finden, die ihre Positionen mit dem Rückgriff auf das Arsenal des Antisemitismus verteidigte. So wurde den Juden ihr »Partikularismus« sowie »Günstlingswirtschaft« vorgeworfen.154 Antisemitisch orientierte zeitgenössische Politiker sprachen denn auch von einem »sehr natürlichen Gefühl« und einer alten Antipathie gegenüber den Juden auf Korfu. Eftychia Liata ist der Auffassung, dass auf Korfu alle gesellschaftlichen Klassen unter dem Deckmantel der Religion einen rabiaten Antisemitismus verbargen. Dies galt sowohl für die Eliten wie für die einfache Bevölkerung, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: »The plebeian lower classes, the poor, wished the Jews to disappear for religious reasons, although at the heart of the matter was the calculation and claim of expropriating their labour in the lower, humble occupations where the Jews operated quasi a closed shop. The élite of the adiministration, the local bigwigs of the intellectual and financial world on the other hand, were reactionary because they saw, in the equality of citizinship and the involvement of Jews in the administrative and political sectors, a threat to their exclusive primacy therein, and, of course, in the administration of the local economy. They therefore desired, with perhaps even greater eagerness than the simple people, that the Jews should quit the island«.155 Wir treffen hier wieder auf das aus der frühen Phase der Emanzipation aus anderen europäischen Ländern bekannte Muster, dass die seit dem Anschluss Korfus an das griechische Festland im Jahre  gewährte staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden zu gewalttätigen Abwehrreaktionen seitens der christlichen Bevökerung führen konnte.156 Zuvor war die Position der Juden auf den Ionischen Inseln ganz und gar marginalisiert, ihre Aktivitäten beschränkten sich auf ihr eigenes Viertel und den Export von Olivenöl. Vor diesem Hintergrund ist die Gleichstellung offenbar als illegitimer

bzw. Christi Himmelfahrt überlappten. Christen wie Juden begingen den Tag sehr ähnlich mit ausgiebigem Essen und Trinken, so dass die christliche Seite glauben konnte, die Juden würden Himmelfahrt mitfeiern, während die Führer der Juden befürchteten, die Nähe zu den Christen würde die jüdische Gemeinschaft verderben. Die physische Nähe an diesem Tag führte also zu Besorgnissen zwischen und innerhalb der beiden Gruppen.  Juifs et chrétiens de la Grèce modern, S. .  Eftychia Liata, Anti-Semitic Disturbances on Corfu and Zakynthos in  and their Socio-Political Consequences, in: The Historical Review , , S. -, hier S. . Gekas zitiert aus einer Quelle des Jahres , in der bereits ebenfalls davon gesprochen wird, dass die Griechen die Juden aus den »lower classes« gehasst und jede Möglichkeit genutzt hätten, diese zu verletzen und schlecht zu behandeln, so dass deren Lage Mitleid erregend gewesen sei (The Port Jews of Corfu, S. ).  Maria Margaroni, Antisemitic Rumours and Violence in Corfu at the End of the th Century, in: Werner Bergmann/Ulrich Wyrwa (Hrsg.), http://www.quest-cdecjournal. it, , S. -, S.  f., auch S.  ff. Es hatte auf Korfu noch unter französischer Herrschaft  und  zwei Blutbeschuldigungen gegeben, wobei  drei Juden wegen der Ausführung eines Menschenopfers an christlichen Kindern zum Tode verurteilt worden waren (S. ).

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Machtgewinn der Juden wahrgenommen worden.157 Nach Sakis Gekas wurden vor allem diejenigen Juden, die die griechische Staatsbürgerschaft gewählt hatten, zur Zielscheibe eines antisemitischen Diskurses, in dem die Auffassung vertreten wurde, die Juden seien der griechischen Bürgerrechte nicht würdig.158 Den Juden wurden Gleichberechtigung und Bürgerrechte abgesprochen. Damit lassen sich die Ausschreitungen auch als Mittel begreifen, die Juden in ihre Grenzen zu verweisen und ihnen keine Privilegien zuzugestehen und ihrer Ansiedlung am Ort jeweils erbitterten Widerstand entgegenzusetzen. Gekas berichtet jedoch andererseits davon, dass die jüdische Bevölkerung nach  im liberalen griechischen Staat zunehmend eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben der Insel spielte, dass Juden in den Stadtrat gewählt wurden und dass die Vereinigungen der Arbeiter ein Beispiel für die gute Kooperation von Christen aller Konfessionen und Juden darstellten. Erst die er Jahre hätten zu Brüchen und zu einer Krise in den christlich-jüdischen Beziehungen geführt, als der griechische Staat die unteren sozialen Schichten ideologisch ansprechen wollte und immer stärker auf einen irredentistischen Nationalismus setzte, der die Andersartigkeit von Nicht-Griechen gegenüber der griechischen Mehrheit betonte: »This schism in the relations of the two communities was apparent in the late s.«159 Dies widerspricht aber seiner eigenen These von den seit langem üblichen antisemitischen Manifestationen auf Korfu (s. o.). Griechische Politiker bestritten später, dass die Übergriffe ihre Ursache in ökonomischer Konkurrenz und wirtschaftlichem Neid gehabt hätten, obwohl Juden und Christen im Exporthandel miteinander konkurrierten, sondern betonten, dass die Bevölkerung die Juden aus nationalen Motiven heraus hasse, weil sie keine »richtigen Griechen« seien.160 Der antisemitische Herausgeber der korfiotischen Zeitung Rigas O Feraios, Iakovos Polylas,161 warf den Juden in einem Interview mit der Athener Zeitung Akropolis am . Mai  vor, sie sprächen kein Griechisch, schickten ihre Kinder nicht auf griechische Schulen,  Nach Liata hat diese Gleichstellung nach Meinung vieler Korfioten aber auch von Mitgliedern der jüdischen Elite bei vielen Juden zu Arroganz und Unverschämtheit geführt, was den Zorn ihrer christlichen Mitbürger hervorgerufen habe (Anti-Semitic Disturbances, S. ). Diesen Vorwurf finden wir in vielen Fällen, und er bildet offenbar ein Motiv bzw. eine Rechtfertigung für die Anwendung von Gewalt als Mittel der Degradierung.  Gekas, The Port Jews of Corfu, S. .  Ebd., S.  f.  Auch Gekas nennt als Grund für den Anstieg des Antisemitismus auf Korfu einen »aggressive nationalism, which culminated in the riots of  …« (ebd., S. ).  Iakovos Polylas (-) war ein bekannter Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer, der lange Jahre als Mitglied der liberalen Partei für Korfu im griechischen Parlament saß, später zur konservativen Partei von Deliyannis wechselte, aus der er  wieder austrat. Er blieb aber auch danach auf Korfu einflussreich und attackierte die Juden in der politischen Zeitschrift Rigas O Feraios (benannt nach einem hellenischen Helden) (Margaroni, The Blood Libel, S. ) und in weiteren führenden Zeitungen Peripaiktis (Spötter) und O Kodon (Die Glocke). Sein Denkmal steht heute auf dem Platz vor dem Rathaus in Korfu.

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sähen Griechenland nicht als ihr Vaterland an und würden ihr Geld unpatriotisch bei ausländischen Banken anlegen.162 Trotz der ihnen gewährten Vorteile und ihrer Gleichstellung blieben sie Fremde. Sie seien keine Griechen und wollten auch keine sein.163 Dieser Meinung von Polylas schloss sich auch der liberale Politiker und spätere Ministerpräsident Georgios Theotokis, dessen Bruder Michail Theotokis zu dieser Zeit Bürgermeister in Korfu war, an, wonach der vaterlandsliebende Korfiote die Juden nicht aus niederen Motiven hasse, sondern nur, weil sie keine Griechen seien.164 Die beiden genannten einflussreichen Persönlichkeiten Korfus führten die Unruhen also primär auf nationale Motive zurück. Maria Margaroni schreibt den Aktivitäten der genannten einflussreichen Persönlichkeiten eine zentrale Rolle in der Erzeugung einer antijüdischen Stimmung auf Korfu zu.165 Von jüdischer Seite, die den Vorwurf des mangelnden Nationalismus energisch betritt und auf die Beteiligung am Befreiungskampf verwies, wurden finanzielle Motive ebenfalls nicht als Ursache für die Ausschreitungen betrachtet, hier machte man eher religiösen Aberglauben dafür verantwortlich.166 Nach Margaroni gab es jedoch durchaus auch ökonomische Motive, da die Juden eine sichtbare Rolle im Wirtschaftsleben der Insel gespielt hätten.167 Das Feudalsystem auf Korfu führte dazu, dass christliche Bauern ihr Land von größeren Landbesitzern pachten mussten. Dafür mussten sie sich Geld bei jüdischen Bürgern auf der Insel leihen. Da die Bauern häufig Pacht und die Zinsen für das geliehene Geld nicht aufbringen konnten, wurden sie ins Gefängnis gesteckt. Sie beschuldigten deshalb die Landbesitzer, aber auch die Juden des Wuchers und der Verschiebung von Kapital ins Ausland.168 Zudem gab es eine Konkurrenz im Exporthandel. Eine zweite Gruppe, die finanziellen Nutzen aus den Unruhen zog, waren Polizisten, die den Besitz von Juden, die aufgrund der Unruhen die Insel verließen, öffentlich versteigerten. Margaroni verweist auch auf einen politischen Grund, da man den Juden aufgrund ihrer guten sozialen Organisation starken Einfluss auf die Regierung zuschrieb, womit sie sich Privilegien und poli Vgl. auch Pierron, Juifs et chrétiens de la Grèce modern, S.  f.  Liata, Anti-Semitic Disturbances, S. . Während der Unruhen schrieb Iakovos Polylas, der Antisemitismus sei eine »natürliche Reaktion jüngerer Gesellschaften gegen die Invasion, gegen die Vorherrschaft der Juden«. Juden seien Parasiten am sozialen Körper, sie würden sich alles aneignen, aber nichts selbst hervorbringen. Das Volk wisse dies alles, und religiöse wie politische Gründe würden es zu diesen Ausschreitungen drängen. Text in Tolmiros Nr.  vom . Juli , Ausschnitt in englischer Übersetzung in Gekas, The Port Jews of Corfu, S. .  Margaroni, Antisemitic Rumours, S.  f.; Liata, Anti-Semitic Disturbances, S. .  Margaroni, Blood Libel, S. .  Margaroni, Antisemitic Rumours, S.  f.  Zwar sei eine Hälfte der Juden als einfache Arbeiter beschäftigt gewesen, doch seien   der registrierten Kaufleute, ,  Prozent der Kleinhändler und   der Handwerker in Korfu Stadt Juden gewesen. Hinzu seien jüdische Fabrikanten, Makler sowie einige Rechtsanwälte und Ärzte gekommen (Margaroni, Blood Libel, S. ). Vgl. dazu auch die entsprechenden Statistiken in Gekas, The Port Jews of Corfu, S.  ff.  Margaroni, Blood Libel, S.  f.

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tische Macht sicherten. Die Juden Korfus standen loyal zu der bei vielen Griechen verhassten und bei den letzten Parlamentswahlen im November  abgelösten griechischen Regierung unter Ministerpräsident Charilaos Trikoupis, die ihre  erreichte Gleichberechtigung mit den Griechen garantiert hatte.169 Liata sieht denn auch drei Motivbündel als Ursache der Unruhen an: ökonomische Motive aufgrund der finanziellen Aktivitäten der Juden, deren rechtliche Gleichstellung sowie deren politische Positionierung.170 Man hatte nach dem Sturz der Regierung schon den Beginn von »Judenhetzen« erwartet, für die der Ritualmordvorwurf nun den Anlass abgab.171 Der griechische Ministerpräsident Theodoros Deliyannis (auch: Delijannis), dessen Regierung den Juden durchaus wohlgesonnen war, stellte die Unruhen als politisch motiviert hin, allerdings sah er die Ursachen in der Lokalpolitik, da im Juli  Kommunalwahlen auf Korfu stattfinden sollten. Die Unruhen seien von der ihm feindlich gesonnenen Partei des Bürgermeisters Michail Theotokis ausgegangen, der durch die Unruhen die Wählerschaft der Partei Deliyannis, zu der viele Juden zählten, bei den bevorstehenden Stadtwahlen habe einschüchtern wollen.172 »Die Judenhetze sei einzig und allein erregt, um das Kabinett Deliyannis vor Europa zu compromittieren«.173 Deliyannis versprach, sich für die politische und soziale Gleichberechtigung und den Schutz der

 Margaroni, Antisemitic Rumours, S.  f.; vgl. auch AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Gestützt auf einen Bericht der Neuen Freien Presse nennt auch Der Israelit, Heft , .., S. , neben dem »Brotneid« als Ursache für die Unruhen die Unterstützung der Juden für die bei den letzten Parlamentswahlen abgewählte und ihnen wohlgesonnene Regierung unter Trikoupis, der sie ihre verfassungsrechtliche Gleichstellung verdankten, die sie bei der christlichen Bevölkerung verhasst gemacht habe. Unter dem Kabinett Trikoupis seien die Juden vor Gewalt geschützt gewesen, aber der Regierungswechsel habe die »aufgeregten Elemente« zu den Ausschreitungen ermutigt, da diese nur einen Anlass gesucht hätten.  Liata, Anti-Semitic Disturbances, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Nach Margaroni hatten die Juden lange Zeit die sich in der Opposition befindende Liberale Partei unterstützt, sich aber langsam auf die Konservative Partei hin umorientiert. Dies mag zusätzlich dadurch motiviert worden sein, dass Georgios Theotokis, der aus Korfu stammte und der Liberalen Partei angehörte, zunehmend eine antisemitische Haltung einnahm. Da der Bürgermeister Korfus der Bruder von Theotokis war, der seinerseits die Juden attackierte und zum Verlassen der Insel drängte, unterstützten diese den Kandidaten der Konvervativen Partei, was die politische Situation zusätzlich belastete. Die Wiederwahl von Michail Theotokis im Juli  veranlasste viele Juden, die Insel zu verlassen (Blood Libel, S.  f.).  Der Israelit, Heft , .., S. . Dieser Bericht und der ähnlich in der AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage, S. , abgedruckte, stammt vom Korrespondenten des Berliner Tageblatts, Dr. Hans Barth, der ein längeres Gespräch mit dem Ministerpräsidenten und dem griechischen Außenminister geführt hatte. Tatsächlich gewann die lokale Oppositionspartei unter Theotokis im Juli erneut die Wahlen (Margaroni, Antisemitic Rumours, S.  f.).

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Juden einzusetzen.174 Nach Liata waren es politische und zugleich aber auch finanzielle Allianzen in der Lokalpolitik Korfus, die die Unruhen, die durch einen Kriminalfall ausgelöst worden waren, sehr schnell von der eigentlichen Ursache hin zu einer soziopolitischen Konfrontation eskalieren ließen, die sich zwischen den Anhängern Deliyannis und denen von Trikoupis mit Blick auf die anstehenden Kommunalwahlen im Juli  abspielte.175 Die historischen Darstellungen von Pearl L. Preschel und Kostas Dafnis folgen dieser zeitgenössischen Linie und gehen von primär politischen Ursachen der Unruhen aus, die aber auch ökonomische, nationalistische und religiöse Untertöne gehabt hätten. Hier fiel der Verdacht primär auf die griechische Geschäftswelt der Insel, die mit den Ausschreitungen die Position ihrer jüdischen Konkurrenten habe schädigen wollen.176 Demgegenüber schlägt Gekas eine andere Interpretation vor, die den Fall Korfu in eine Reihe stellt mit den antiemanzipatorischen Ausschreitungen des frühen . Jahrhunderts etwa in Deutschland.177 Er verweist auf den seit Beginn der er Jahre auf Korfu virulenten Diskurs, verbreitet durch die lokale Presse, den er als Katalysator der Unruhen von  ansieht.178 Der zentrale Punkt der Agitation vor allem in der städtischen Elite war die Ablehnung der Gleichstellung der Juden in sozialer, ökonomischer und schließlich auch politischer Hinsicht seit . Gekas zitiert einen Artikel aus der Zeitung Tolmiros Nr.  vom . Juli , der schon im Titel, der notwendige Einschränkungen der Juden fordert, dessen Tenor widerspiegelt und offen einen Kampf gegen die Juden ankündigt: »We do not deny that we fight the Jews. In fact, we consider this an essential part of our mission. We fight them in order to restrict them … We should not permit anymore the Jews having more priviliges and rights than the Christians. This is a very important issue and we should all deal with it.«179 Autor des Textes war der bereits erwähnte  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Eine etwas andere Version, die die Verantwortung für die Unruhen in einer Intervention aus dem Ausland ablud, bietet ein Bericht aus Athen in der AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage, S. : Die Unruhen seien durch das Ausland künstlich geschürt worden und politisch motiviert. Man habe der Regierung Deliyannis international Schwierigkeiten machen wollen.  Liata, Anti-Semitic Disturbances, S.  f. Welcher Art die Verknüpfungen politischer und finanzieller Beziehungen zwischen jüdischen und christlichen Honoratioren waren, führt Lita aber leider nicht aus.  P. L. Preschel, The Jews of Corfu, Ph. D thesis, New York University ; Kostas Dafnis, Oi Israelites tis Kerkyras, Korfu .  Er schließt aber ökonomische Ursachen, die aus dem Bedeutungsverlust des Hafens von Korfu resultierten, nicht aus. Nach Abzug der Briten verlor der Hafen seine Bedeutung für den Getreidehandel, der primär von christlichen Kaufleuten betrieben wurde, während der Olivenölhandel, der eine Domäne jüdischer Kaufleute war, eher einen Aufschwung nahm. Da der Hafen für Korfus Wirtschaft bedeutsam war, waren neben den Kaufleuten auch viele andere Berufsgruppen vom wirtschaftlichen Rückgang betroffen. Dies wird auch zu Spannungen zwischen den christlichen und jüdischen Kaufleuten geführt haben. Gekas, The Port Jews of Corfu, S.  f.  Ebd., S.  f.  Text aus Tolmiros Nr.  vom . Juli , englische Übersetzung von Gekas, The Port Jews of Corfu, S.  f.

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antisemitische Schriftsteller, Journalist und Politiker Iakovos Polylas, der einer der Hauptakteure des Kampfes gegen die Juden war. Er warf ihnen Undankbarkeit gegenüber dem griechischen Staat und Volk vor, deren schlimmste Feinde sie seien. Er unterstellte ihnen separatistische Absichten hinsichtlich Korfus.180 Dass Polylas die Ausschreitungen als eine natürliche Reaktion moderner Gesellschaften legitimierte, zeigt nach Gekas die Schärfe des antisemitischen Diskurses im Vorfeld der Unruhen. Gekas räumt schließlich auch ein, dass der strittige Punkt derzeit noch nicht geklärt werden kann, ob reale ökonomische Interessen einen derartigen Gewaltausbruch hervorrufen können oder nicht. Dies müsse weiter untersucht werden. Auch wenn der Niedergang des Hafens von Korfu eine Rolle gespielt haben könnte, sieht er den entscheidenden Faktor doch eher im Anstieg des griechischen Nationalismus. Es überschnitten sich im Vorfeld des Pogroms also langfristige religiöse, nationalistische und ökonomische judenfeindliche Motive mit einer aktuellen politischen Konfliktlage. Ausbruch und Verlauf des Pogroms Der Ritualmordfall von Korfu war in doppelter Hinsicht ungewöhnlich, da das Opfer abweichend vom üblichen Schema weiblich und zudem selbst jüdisch war. Am . April  (. April nach dem julianischen Kalender) verließ die achtjährige Tochter der jüdischen Familie Sarda, Rubina, das Haus, um Backwaren zu kaufen. Da sie am Abend nicht zurückgekehrt war, benachrichtigten die besorgten Eltern die Polizei.181 Das Verschwinden des Mädchens wurde durch den örtlichen Ausrufer bekannt gemacht, und die Bewohner des jüdischen Viertels, Christen sowie Polizisten begannen nach dem Mädchen zu suchen, während zugleich viele neugierige Christen in das Viertel strömten. Das Mädchen wurde zunächst aber nicht gefunden. Erst nach Mitternacht, also früh am . April, bemerkten der Vater des Mädchens, ein armer Schneider, und seine jüdischen Freunde hinter der angelehn Ebd., S. . Bernard Pierron hebt insbesondere die Rolle von Jakovos Polylas in dieser antijüdischen Propaganda hervor (Juifs et chrétiens de la Grèce modern, S.  f.).  Zum Ablauf der Ereiginisse: Liata, The Anti-Semitic Disturbances, S.  ff. Der Israelit, Heft , .., S. -, druckte die im Berliner Tageblatt publizierte Tageschronik der Ereignisse ab, die auf dem Bericht des Konsulats einer (nicht näher benannten, mit Deutschland verbündeten) europäischen Großmacht beruhte und die Datierung nach dem gregorianischen Kalender benutzte. Ebenfalls abgedruckt in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Ich stütze mich im Folgenden auf diese Tageschronik. Die Datierung der Ereignisse ist etwas verwirrend. Maria Margaroni und auch Eftychia Liata nennen den . April als Beginn der Ereignisse, da sie in der Datierung dem damals in Griechenland gültigen julianischen Kalender folgen. Pierron (Juifs et chrétiens de la Grèce moderne, Kap. : Le Pogrom de Corfou en , S. ) nennt entsprechend als Tag des Auffindens des Mädchens Dienstag, den . April . Geht man vom . April aus, wäre dies nach gregorianischem Kalender der . April. Der Israelit gibt entsprechend als Datum des Verschwindens des Mädchens den . April an, das Wiederauffinden geschah dann in der Nacht zum . April. Die Berichterstattung in den deutschen und deutsch-jüdischen Zeitungen folgt dem gregorianischen Kalender, wonach der griechisch-orthodoxe Ostersonntag auf den . Mai  fiel (nach dem julianischen Kalender auf den . April).

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ten Tür eines jüdischen Hauses neben der Synagoge182 einen blutigen Sack, in den die Leiche des Mädchens eingenäht war.183 Der Vater nahm den Sack, um ihn nach Hause zu tragen, was von dem Polizisten Michael Kouvaras beobachtet wurde, der den Vater und zwei seiner jüdischen Freunde sofort als Mörder beschuldigte und festnahm, was aber die Staatsanwaltschaft nicht überzeugte, so dass die Arretierten schnell wieder freikamen.184 Andere Polizisten, die die Anschuldigung von Kouvaras kannten, verbreiteten in der Stadt das Gerücht, dass die Juden das Mädchen, das die Polizisten als Christin ausgaben, die als Säugling von den Juden entführt worden sei, ermordet hätten und auf frischer Tat ertappt worden seien, dass aber die Ermittlungsbehörden der Justiz ein Auge zugedrückt und sie freigelassen hätten.185 Vita Sarda und sein Sohn wurden daraufhin verhaftet und verhört, die Familie unter Hausarrest gestellt. Die Juden wiederum suchten den Schuldigen unter den Christen.186 Bernard Pierron stellt den Vorwurf seitens der jüdischen Gemeinschaft, Christen hätten das Mädchen ermordet, geradezu an den Anfang der Kausalkette. Seiner Ansicht nach hätte es, trotz des Klimas der gegenseitigen Toleranz, das, wie es schien, zwischen den Juden und Christen herrschte, dennoch viel weniger als dieser Anschuldigung bedurft, um den alten Groll wieder zu entzünden.187 Was die Haltung der christlichen Seite angeht, so sehen wir hier eine Spaltung im Vorgehen der Behörden zwischen der Polizei, die den Juden den Mord unterstellte und dies auch öffentlich kundtat, und den Justizbeamten, die davon nicht überzeugt waren. Der Staatsanwalt und ein Rechtsanwalt forderten deshalb eine  Nach Liata wurde die Leiche im Eingang eines Hauses außerhalb des Ghettos gefunden (Anti-Semitic Disturbances, S. ).  Im Bericht des Israeliten (Heft , .., S. ), der sich auf griechische Zeitungen stützt, wurde die Leiche als schrecklich zugerichtet beschrieben: »der Körper wie zerhackt, die Stirne mit Nägeln durchbohrt; die Augen waren mit Kalk eingerieben«. Das Gerücht machte aus dem jüdischen Mädchen ein Christenmädchen und statt des Sacks war von einem mit Nägeln gespickten Fass die Rede, in dem das Mädchen aufgefunden worden sei. Die Nägelmale am Kopf wurden als Beleg dafür gesehen, dass die Juden sich auf diese Weise Christenblut beschaffen wollten. In der Tageschronik stellen sich die schweren Verletzungen anders dar: »Der Leichnam zeigte drei schwere Hiebe (mit einem stumpfen Instrument) auf den Kopf; die Beine sind zusammengeschnürt; am Kopf sind sieben Messerstiche zu sehen, die Halsader und die sämmtlichen Venen am Halse sind mit einem chirurgischen Instrumente (wie sich dessen Ärzte bedienen !) völlig durchschnitten und in einer Tiefe von  Centimetern. Ebenso durchschnitten sind die Pulsadern und die Venen der Arme.« (Der Israelit, Heft , .., S. ).  Liata, Anti-Semitic Disturbances, S. ; abweichend Margaroni, Antisemitic Rumours, S.  f., wonach es aufgrund der Intervention des Staatsanwaltes nicht zu einer Verhaftung kam.  Als sich nicht mehr bestreiten ließ, dass die Ermordete aus einer jüdischen Fmilie stammte, wurde das Gerücht von einem von der Familie Sarda adoptierten christlichen Waisenkind aus Ioannina verbreitet, um so die Stimmigkeit der Legende aufrechtzuerhalten. Da half es auch nichts, dass der Oberrabbiner von Korfu die jüdische Identität des Mädchens bestätigte (Margaroni, Blood Libel, S. ).  Liata, Anti-Semitic Disturbances, S. .  Pierron, Juifs et chrétiens de la Grèce moderne, Kap. .

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weitere genauere Untersuchung und ordneten trotz des Widerstandes der Polizei die Entlassung der beiden Verhafteten an. Der Ritualmordverdacht wurde, wie in vielen anderen Fällen, auch dieses Mal von den Untersuchungen der Ärzte bestärkt, die beim Opfer irrtümlich eine Wunde im Nacken und eine Blutleere festgestellt haben wollten. Dieser Befund und das Gerücht, das Mädchen sei eine Christin gewesen, was vom Rabbiner mehrfach öffentlich bestritten wurde, bestärkten den Ritualmordverdacht. Das Ritualmordgerücht blieb jedoch pogromtypisch nicht das einzige Gerücht. Margaroni beschreibt eine ganze Fülle von Gerüchten, die sich um den Mord zu ranken begannen: neben der Ritualmordgeschichte waren dies eine Liebesgeschichte und die Geschichte eines Familiendramas.188 Auf diese Gerüchte hin, die von vielen weitergetragen wurden, begann die christliche Bevölkerung gegen die Juden vorzugehen.189 »Local Christians had no doubts about the Jews’ collective guilt. They took the law into their own hands, meting out the ›justice‹ the state would not.«190 Man unterstellte den Verantwortlichen, sie würden nichts gegen die Juden unternehmen, um sich deren Stimmen bei der bevorstehenden Lokalwahl zu sichern. Eine einige Tage später durchgeführte Untersuchung durch einen bekannten Arzt und weitere Wissenschaftler aus Paris stellte hingegen fest, dass das Mädchen durch den Schlag mit einen stumpfen Gegenstand zu Tode kam, die Wunde am Nacken nach ihrem Tod zugefügt worden sei und dass sie kaum geblutet habe, doch konnte diese Nachricht auch in diesem Fall das bereits verfestigte Ritualmord-Narrativ nicht mehr erschüttern.191 Heimlich angestachelt durch die politische Opposition (Liberale Partei), die durch das Versenden von Mitteilungen an die Athener Oppositionspresse die feindselige Stimmung im Land weiter verbreiten wollte, fielen am Mittwoch, dem . April , große Gruppen von Christen in das jüdische Viertel ein, prügelten mit Fäusten und Stöcken auf die Juden ein und schossen auf sie. Man attackierte auch religiöse Einrichtungen.192 Dies dauerte den ganzen Tag über an. Juden, die  Margaroni, Antisemitic Rumours, S.  ff.  Der Israelit, Heft , .., S. ; Margaroni, Antisemitic Rumours, S. .  Margaroni, Blood Libel, S. ; Liata, Anti-Semitic Disturbances, S. , betont, dass nicht nur die einfachen Leute, sondern auch die gebildeten in gleichem Maße an die Ritualmordlegende glaubten. Die nur wenigen und zögernden Gegenstimmen reichten nicht aus, den antisemitischen Furor zu stoppen, der auf Korfu und Zakynthos wütete.  Liata weist ebenfalls darauf hin, dass Polizei und Öffentlichkeit sofort von Mord ausgingen und andere Möglichkeiten nicht in Betracht gezogen wurden, etwa, dass das Mädchen von einem Familienmitglied so heftig geschlagen worden sein könnte, dass es daran starb. Das Verstecken des Mädchens habe so dem Verdecken dieser so nicht beabsichtigten Straftat gedient (Anti-Semitic Disturbances, S. ). Der Mordfall musste später unaufgeklärt zu den Akten gelegt werden.  Der Israelit, Heft , .., S. . Die Tageschronik im Israeliten (Heft , .., S. ) spricht von einer zu Tausenden zählenden Menschenmenge, die mit Messern, Revolvern und Pistolen bewaffnet gewesen sei und versucht habe, das Judenviertel zu stürmen. Sie konnte vom Militär nur mit Mühe abgedrängt werden. Die Menge griff daraufhin einen außerhalb gelegenen jüdischen Club an. Vgl. auch einen kurzen Bericht dazu in der AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

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ins Judenviertel zurückkehren wollten, wurden außerhalb ihres Viertels angegriffen und schwer misshandelt, und man warf andere, die per Schiff Korfu verlassen wollten, ins Meer. Andere Christen agitierten in Kaffee- und Gasthäusern und auf öffentlichen Plätzen gegen die Juden. Alle diese Aktionen fanden unter den Augen der Polizei statt, die eigentlich zum Schutz der Juden im Viertel stationiert worden war, aber wohl eher die Tumultuanten anspornte und deren Übergriffe deckte. Die Übergriffe am . April gingen nach Maria Margaroni in einen regelrechten Aufruhr über. Die Juden blieben daraufhin auf obrigkeitlichen Befehl bis zum . Mai  in ihrem Viertel (Ebraica) eingeschlossen. Außerhalb des Judenviertels wohnende Juden begaben sich zu ihrer Sicherheit ebenfalls in das Viertel. Dies brachte viele, vor allem die ärmeren Handwerker und Tagelöhner, wegen des Verdienstausfalls in eine prekäre wirtschaftliche Lage. Obwohl der Präfekt (Nomarch) das Viertel absperren ließ und starke militärische Einheiten und Gendarmerie im Judenviertel patrouillierten, hörten die Übergriffe einen ganzen Monat lang nicht ganz auf und Christen drangen immer wieder in das Viertel ein, ja versuchten gar es anzuzünden, so dass schließlich weiteres Militär aus Patras geholt werden musste.193 Die AZJ schrieb von einem »über  Tage fast ununterbrochen tobenden Krawalle«.194 Von einem ins Judenviertel eingedrungenen Mann wurde eine Jüdin hinterrücks niedergeschossen. Der Israelit schrieb am . Mai  über die Lage auf Korfu, dass diese sich verschlimmert habe und das jüdische Stadtviertel regelrecht belagert werde. Es drohe eine Hungersnot auszubrechen und es hätten seit drei Tagen keine Beerdigungen mehr vorgenommen werden könnten.195 Am . und . April wurden von  Margaroni, Antisemitic Rumours, S. , ; auch: Der Israelit, Heft , .., S. . Ein Augenzeuge schilderte die Situation und betonte, dass Soldaten zwar Tag und Nacht im Viertel Wache hielten, dass aber »der griechische Soldat […] in Bezug auf Disziplin kein Muster« sei, der ununterbrochene Dienst zum Schutz der verachteten Juden sie »unwillig und verdrossen« machte und sich Soldaten auch von ihren Landsleuten anstecken ließen (Neue Freie Presse vom .., S.  f.). Margaroni schreibt aber auch, dass es in den Kämpfen zwischen Soldaten und den Tumultuanten mehrere Tote und Hunderte Verletzte gegeben habe, was doch eher für einen engagierten Einsatz der Soldaten spricht (Blood Libel, S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  (»Die Zustände in Corfu«).  Der Israelit, Heft , .., S. ; in einer Meldung vom . Mai wurde die Lage als unverändert kritisch geschildert, zwei Juden seien getötet und der Präfekt Korfus, L. Vlachos, abberufen worden (eine andere Version besagt, er sei plötzlich aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten, Margaroni, The Blood Libel, S. ). Der Israelit meldete am . Mai noch, unter Berufung auf eine Triester Zeitung (Picolo), die Juden würden seit dem . April in ihren Häusern quasi gefangen gehalten und müssten sogar die Fenster schließen. Seit dem . April seien die Synagogen geschlossen. Die Juden könnten nur ganz früh morgens einkaufen und müssten dabei höhere Preise zahlen. Die Not sei außerordentlich. Etwas später berichtet Der Israelit (Heft /, .., S. ) von zwei bis neun Toten. Die Gesamtzahl der getöteten Juden lässt sich schwer ermitteln. Die höchste Zahl von annähernd zwanzig Toten findet sich bei Fleming, Greece, S. , die sich auf die Dissertation von Preschel, The Jews of Corfu, S.  ff., stützt. Auch im Artikel »Greece« von Simon Marcus/Yitzchak Kerem (nd edition), in: Encyclopaedia Judaica, Vol. , . Aufl. Detroit , S. , ist die Rede von »some  Jews died«.

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auswärts zum Pessachfest am . April anreisende Juden schwer misshandelt und einige sogar ins Meer geworfen. Sie konnten nur durch die Mannschaft eines griechischen Kriegsschiffes in Sicherheit gebracht werden.196 Vom . bis . April kam es auf Korfu zu neuen Tumulten, so dass sich die Juden nicht aus dem bewachten Viertel herauswagen konnten, ohne mit Steinwürfen empfangen zu werden. Außerhalb des Viertels angetroffene Juden wurden bedroht.197 Der jüdische Friedhof wurde völlig zerstört. Am . April wurde im Flur eines jüdischen Hauses Blut gefunden, was ein neues Ritualmordgerücht auslöste, woraufhin sieben jüdische Schächter von der Menge verschleppt wurden, um sie zu lynchen, was aber durch den Einsatz von Militär verhindert werden konnte. Das Blut erwies sich später als Hühnerblut. Die wütende Menge aber zog vor den Palast des Präfekten, um die Freilassung verhafteter Christen zu fordern.198 Die Schutzmaßnahmen der Behörden erweckten bei der Bevölkerung den Eindruck, die Behörden schützten die schuldigen Juden. Als der Präfekt und der Staatsanwalt das ihnen vom Rabbiner übergebene Geburtszeugnis der Rubina Sarda veröffentlichten, das ihre jüdische Herkunft belegte, wurden sie von der Bevölkerung als von den Juden gekauft angegriffen.199 Dies ist ein typischer Effekt in vielen der »Ritualmordfälle«, in denen das korrekte rechtsstaatliche Vorgehen als Parteinahme des Staates zugunsten der Juden gewertet wurde und Affekte gegen die Obrigkeit weckte. Die Regierung in Athen verbot daraufhin die Berichterstattung per Telegraph von der Insel, um eine weitere Verbreitung in ganz Griechenland zu unterbinden. Dennoch griffen die Unruhen auf die Nachbarinsel Levka (Leukada), auf das Festland nach Patras (Peleponnes) und Trikala, insbesondere aber auf die Nachbarinsel Zakynthos (auch Zante genannt) über, die eine etwas größere jüdische Gemeinde besaß, die allerdings nur aus weniger als dreihundert Personen bestand, die bis dahin mit den Christen der Insel – im Unterschied zur Situation auf Korfu – in bestem Einvernehmen gelebt haben soll.200 Nach Liata hätten aber die Unruhen    

Der Israelit, Heft , . ., S. . Neue Freie Presse. Morgenblatt, . Mai , S. . Der Israelit, Heft , .., S. . Ebd. Die AZJ, Jg. , Heft , .., S. , berichtete, dass die christliche Bevölkerung trotz aller Dementis des Staatsanwalts und des Präfekten nicht von der Ritualmordlegende bzw. von dem Gerücht vom entführten Christenmädchen ablassen wollte. Gekas berichtet unter Bezugnahme auf die Arbeit von Dafnis, dass der Bürgermeister am . April die Identität des toten Mädchens bestätigt habe, was von der Bevölkerung nicht geglaubt wurde. Man hielt dies für eine bewusste Irreführung seitens der Behörden und beantwortete dies mit Ausschreitungen und einer Belagerung des Judenviertels bis Mitte Mai  (The Port Jews of Corfu, S. ).  Der Israelit, Heft , .., S. , spricht noch von planmäßig angezettelten Unruhen auf der Nachbarinsel St. Maura (Levkas) und in Chalcis/Chalkis auf Euböa, deren Ziel die Abwanderung der Juden aus ökonomischen und politischen Gründen sei. Die AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage, S. , schreibt, dass auch die jüdischen Gemeinden in Larissa, Volos und Asta in großer Gefahr seien. Zur Bevölkerungszahl: Liata, Anti-Semitic Disturbances, S. . Pierron betont ebenfalls, dass sich die These vom Ritualmord durch die Zeitungen in ganz Griechenland verbreitet habe. Die Zeitung der politischen Op-

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auf Korfu sowohl unter den Christen wie den Juden der Insel für Aufregung gesorgt, zumal auf Zakynthos noch der Fall eines am Palmsonntag  ertrunken aufgefundenen christlichen Jungen in Erinnerung gewesen sei, dessen Tod man den Juden auch nach  Jahren noch anlastete. Während nach Liata die Unruhen auf Korfu schnell einen politischen Charakter angenommen hätten, seien die Gründe für deren Ausbrechen auf Zakynthos schwer auszumachen, man muss sie wohl in religiösen Vorstellungen vermuten.201 Obwohl erkennbar war, dass Unruhen auch auf Zykynthos bevorstanden, trafen die zuständigen Behörden keine Maßnahmen zur Dämpfung der Emotionen und zum Schutz der Juden, außer, dass diese aufgefordert wurden, sich freiwillig auf ihr Ghetto zu beschränken. Eine Gruppe von Christen startete am . April einen ersten Angriff auf das Judenviertel, woraufhin man Truppen aus Patras anforderte. Fünfzig Soldaten kamen zwei Tage später auf der Insel an.202 Nach einer Phase heftiger antijüdischer Agitation kam es anlässlich der Karfreitagsprozession am . Mai (nach gregorianischem Kalender, . April nach dem griechischen Kalender) mit ca. siebentausend bis achttausend Teilnehmern, darunter Politiker und Offiziere, zum Angriff auf das jüdische Viertel.203 Es hatte damit begonnen, dass am Morgen Gruppen von Christen versucht hatten, ins Ghetto einzudringen, woraufhin die militärischen Schutzmannschaften, die das Judenviertel abgeriegelt hatten, in Panik auf die Menge zu feuern begannen, wobei drei Tumultuanten und zwei Soldaten getötet und viele weitere verletzt wurden.204 Es zirkulierten sofort wilde Gerüchte über diesen Vorfall, und eine aufgebrachte Menge stürmte das jüdische Viertel. Bei diesem Angriff kam es zur Zerstörung von jüdischem Besitz, zu Vandalismus und der Terrorisierung der jüdischen Bevölkerung innerhalb und außerhalb des Ghettos.205 Am Nachmittag ebbte die Gewalt ab, und die Ordnung wurde wiederhergestellt. Die jüdische Bevölkerung verließ im Folgenden die Insel. Liata betont, dass sich nicht alle christlichen Bewohner der Insel an diesen Ausschreitungen

    

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position, L’Efimeris, habe sich aber während der ganzen Zeit gegen diese These gewandt und die zu Unrecht beschuldigten Juden veteidigt (Juifs et chrétiens de la Grèce moderne, S. ). Liata, Anti-Semitic Disturbances, S. . Ebd., S.  f. Der Israelit, Heft , .., S. , berichtete über diese Unruhen in Zakynthos, gegen die die Truppen mit Waffengewalt einschritten. Ein Panzerschiff wurde zur Insel entsandt. Die Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. , schrieb von drei durch die Soldaten getöteten Personen und vier Verwundeten. Eine anschauliche Schilderung der Vorgänge auf Zakynthos am . Mai gibt ein Bericht in der AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage, S. . Er schildert die Panik im Ghetto und die schweren Verwüstungen mehrerer jüdischer Häuser, die sich am Rande des Viertels befanden, weshalb hier der sonst konsequente militärische Schutz versagte. Auch hier musste zusätzlicher militärischer Schutz angefordert werden.

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beteiligten, dass manche vielmehr Juden halfen und sie heimlich in ihren Häusern versteckten.206 Die Vorgänge auf Korfu wurden zum Thema der lokalen, nationalen wie auch internationalen Presse. Einerseits wurden in der nationalen Presse der Antisemitismus und die »jüdische Frage« zum Thema gemacht, zum anderen ließen die Vorgänge auf Korfu eine innergriechische Konfliktlinie erkennen, da man versuchte, die erst vor kurzem an Griechenland angeschlossene Bevölkerung der Ionischen Inseln als zurückgeblieben und mittelalterlich zu kritisieren, die dem griechischen Vaterland schade. Dies diente vor allem dazu, ein positives Bild Griechenlands als zivilisierte Nation in der europäischen öffentlichen Meinung wiederherzustellen.207 Wie auch in den anderen »Ritualmordfällen« wurden im Zuge der Korfu-Affäre sich wissenschaftlich gebende Bücher publiziert, die das Vorkommen von Ritualmorden bejahten oder bestritten.208 Die Unruhen auf Zakynthos am . Mai ließen auch auf Korfu die Gewalt am . Mai wieder aufflammen. Erneut wurde versucht, Feuer im Judenviertel zu legen. Dabei ließen sich drei Tätergruppen identifizieren: der größte Teil waren durch die Opposition organisierte Täter, die zweite bestand als Dieben und Räubern,209 die dritte war religiös motiviert.210 Am . Mai wurde der Präfekt Leonidas Vlachos wegen »Energielosigkeit« abberufen, und dem neu ernannten Präfekten, der am . Mai sein Amt antrat, und einem neu ernannten militärischen Kommandeur gelang es, die Ruhe durch energische Maßnahmen wiederherzustellen, was offenbar auch auf den Druck von Seiten des griechischen Königs zurückging.211 Die Abriegelung des jüdischen Viertels hatte insgesamt fünf Wochen gedauert, doch wurden weiterhin die Zugänge zum Viertel bewacht und es gab Patrouillen, da die äußere Ruhe zwar wiederhergestellt war, die Spannungen aber fortdauerten.212 Es gab zudem noch dreißig weitere Verhaftungen aus den Reihen der christlichen Be Liata, Anti-Semitic Disturbances, S. .  Zu den Ritualmordbeschuldigungen auf den griechischen Inseln: Margaroni, Blood Libel, S.  ff.  Margaroni, Antisemitic Rumours, S. : etwa das antisemitische Werk von Petros Kassimatis, Aima, Evraioi, Talmud (Blut, Juden und Talmud), Athen ; contra von Georgios Zanitsianos, Aktis Photos. O katagiogmos ton Evraion en ti istoria (Der Lichtstrahl. Die Verfolgung der Juden in der Geschichte), Korfu .  Ein Beispiel dafür bildet ein Fall, den Der Israelit, Heft , .., S. , auf den . Mai datiert: Ein mehrfach vorbestrafter Mann drang ins Ghetto ein, verletzte einen Juden schwer, schoss einen anderen nieder und verwundete durch einen Revolverschuss einen Soldaten. Die beiden Juden starben an ihren Verletzungen. Der Mörder entkam, stattdessen wurde ein Jude verhaftet, bei dem der Mörder die Tatwaffen versteckt hatte.  Margaroni, Antisemitic Rumours, S.  f.; Der Israelit, Heft , .., S. .  Zur Abberufung von Vlachos, der durch Y. Bouklaklos ersetzt wurde, der sogleich in einer Verhaftungwelle  Personen festnehmen ließ, von denen einige auch verurteilt wurden, siehe Pierron, Juifs et chrétiens de la Grèce moderne, S. . Erst am . Mai, mehr als einen Monat nach Beginn der Unruhen, beendeten die energischen Maßnahmen des neuen Präfekten die Gewalt.  Der Israelit, Heft /, .., S. , der Bericht stammt vom . Mai aus Korfu.

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völkerung, was die Situation etwas beruhigte. Die Regierung hatte inzwischen viel Militär auf der Insel stationiert, und im Hafen ankerten englische und französische Kriegsschiffe.213 Auch die sonst zahlreich auf die Insel kommenden Reisenden aus Italien und Österreich blieben aus Furcht vor den Zuständen auf Korfu aus, und auch der Handel lag darnieder.214 Erst Ende Mai öffneten auch die jüdischen Geschäfte wieder, sie wurden aber von den Christen weiterhin boykottiert. Nach Bernard Pierron bestätigten die Agitation und das politische Unbehagen, die sich bei den Wahlen vom . Juli (. Juli nach dem julianischen Kalender) zeigten, dass das, wenn auch prekäre, Gleichgewicht zwischen Christen und Juden, das vor Ausbruch der Unruhen geherrscht hatte, in so kurzer Zeit nicht wiederhergestellt werden konnte. Entsprechend blieb das politische Klima auf Korfu angespannt.215 Internationale Reaktionen und justizielle Aufarbeitung Die Ereignisse auf Korfu und Zakynthos, die man mit den Pogromen in Russland verglich, lösten überall in der europäischen Öffentlichkeit Empörung aus, der die Regierungen in Stellungnahmen an die griechische Regierung Ausdruck verliehen.216 Die Vertreter der Großmächte England, Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn drangen auf eine Besserung der Lage der Juden auf Korfu,217 und die Regierungen in Paris, London und Rom wollten zum Schutze ihrer Staats AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Pierron, Juifs et chrétiens de la Grèce moderne, S.  f. In einer Rede vor seinen Anhängern am Abend des Wahltages plädierte Polylas, einer von drei Kandidaten, für nicht mehr und nicht weniger, als die Juden von der Insel zu verjagen, die er mit einem Krebsgeschwür verglich, das das Fleisch der wahren orthodoxen Gesellschaft Korfus zerfresse. Bei dieser Rede war auch der Wahlsieger G. Theotokis anwesend, der gekommen war, um Polylas dafür zu danken, dass er so erfolgreich zum Sieg seines Parteiführers beigetragen hatte.  Der Israelit, Heft /, .., S. , berichtet sogar, dass europäische Regierungen bereits Kriegsschiffe in das Ionische Meer schickten, um den Mangel an Macht oder Tatkraft der Griechen zu kompensieren. Es gab jedoch keineswegs nur empörte Ablehnung in Europa. Vgl. ähnlich AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage, S. . Die konservative deutsche Kreuzzeitung nahm den Fall zum Anlass, die Legende vom Ritualmord wieder aufzutischen, indem sie von einem erwiesenen rituellen Mord auf Korfu sprach (Der Israelit, Heft , .., S. ). Auch die antisemitische Staatsbürgerzeitung veröffentlichte einen völlig erlogenen Bericht eines vorgeblich ehemaligen griechischen Abgeordneten, der offenbar aber nicht existierte (Der Israelit, Heft , ... S. ). Vgl. ähnliche Vorwürfe gegen »gewisse Berliner Blätter Stöckerscher Richtung« in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage, S. , Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. . Die jüdischen Bankiers aus dem Ausland wurden zudem beschuldigt, aufgrund ihrer Unzufriedenheit Druck auf die Börse auszuüben, um damit die griechische Regierung zu zwingen, die Situation in Korfu selbst in die Hand zu nehmen (Pierron, Juifs et chrétiens de la Grèce moderne, S. ).

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angehörigen Kriegsschiffe in das Ionische Meer entsenden.218 Laut einem Bericht der AZJ seien eingeweihte Kreise in den Konsulaten europäischer Großmächte überzeugt, dass »die Judenrevolte […] nicht ausschließlich das Resultat des Fanatismus gewesen (sei), sondern es hätten sehr einflußreiche Elemente intriguiert, die aus pol it is c h e n Gr ü n d e n wie aus Gründen mat eriell er Art, den Pöbel zu seinen Gewaltakten aufgehetzt und – be z ahlt hätten.«219 Wir begegnen also auch in diesem Fall, wie bereits in vielen anderen, der Tendenz, die Ausschreitungen nicht als spontanen Aktionen der lokalen Bevölkerung, sondern als Werk sei es lokaler oder aber auswärtiger Drahtzieher anzusehen. Die Ereignisse führten zu einer starken jüdischen Abwanderung von der Insel, was die Regierung zu verhindern suchte. Bis zum . Mai sollen ca. sechshundert Juden abgewandert sein.220 Die Zahlenangaben zu den Emigranten variieren sehr stark: Insgesamt hat etwa knapp die Hälfte der fünftausend bis siebentausend Einwohner (also zweitausend bis dreitausend) die Insel verlassen,221 vor allem waren dies die ärmeren Juden. Die Juden wanderten teils ins Osmanische Reich (Alexandria, Tunis, Smyrna. Konstantinopel), teils auf das griechische Festland, aber auch die Adria hinauf nach Venedig und Triest aus.222 Der Leitende Staatsanwalt in Korfu erklärte, man werde hart gegen die Täter der Unruhen vorgehen und fünf der Hauptangeklagten würden zum Tode verurteilt werden.223 Ende /Anfang  fand die Verhandlung vor dem Gerichtshof in Patras gegen die wenigen Täter statt, gegen die schwere Anklagen erhoben wurden. Gegen Täter von Zakynthos wurde in Pyrgos (Peleponnes) ebenfalls Anfang  verhandelt. Die verhängten Strafen reichten von fünf bis zwölf Jahren Haft. Im Laufe des Prozesses zeigte sich eine Spaltung in der Gesellschaft Korfus: Einige hielten an der Überzeugung fest, dass die Juden die Schuldigen seien und dass es Ritualmorde gebe, während andere, aufgeklärtere die Christen wegen ihres mittelalterlichen Aberglaubens kritisierten.  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Der Israelit, Heft , .., S. ; aus Zakynthos und St. Maura sollen alle Juden abgewandert sein, vgl. AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage, S. , zur Zahl von  abgewanderten Juden auch Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S.  f. (Die Judenhetze auf Corfu).  Nach Liata, Anti-Semitic Disturbances, S. ), sollen von den siebentausend Juden der Insel nach den Ereignissen von  nur zweitausend auf der Insel verblieben sein. Gekas (The Port Jews of Corfu, S. ) nennt die Zahl von zweitausend Abwanderern und bezieht sich dabei auf die unpublizierte Dissertation von Preschel, The Jews of Corfu, an anderer Stelle (S. ) spricht er aber auch von zweitausend bis dreitausend und bezieht sich dabei auf die Arbeit von Kostas Dafnis, Oi Israelites tis Kerkyras, Corfu . Im Artikel Greece von Simon Marcus/Yitzchak Kerem, S. , ist dagegen nur von eintausendfünfhundert abgewanderten Juden die Rede.  Detailliertere Angaben finden sich bei Pierron, Juifs et chrétiens de la Grèce moderne, S. .  Der Israelit, Heft , .., S. ; die AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage, S. , schrieb von einem verhafteten Mörder und weiteren  Teilnehmern an den Unruhen, die verhaftet worden seien.

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Natürlich wurde auch über die Ursachen der Unruhen und die Frage der Verantwortlichkeit diskutiert, ohne dass es möglich war zu entscheiden, welches der ausschlaggebende Faktor gewesen war: die Religion, die Politik oder die Wirtschaft.224 Die Suche nach den Mördern von Rubina Sarda blieb erfolglos. Die Juden wurden trotz einiger Versuche, dies gerichtlich feststellen zu lassen, nie offiziell rehabilitiert und von der absurden Anklage des Mordes entlastet. Die griechische Regierung beschloss die Zahlung von Entschädigungen an die durch die Unruhen auf Korfu verarmten Juden.225 Sie wies ihre Auslandsvertreter am . Mai an, den jeweiligen Regierungen mitzuteilen, dass die Ruhe auf Korfu wiederhergestellt sei.226 Dass auch in anderen mehrheitlich von Griechen bewohnten Städten, die noch unter osmanischer Herrschaft standen, Ritualmordbeschuldigungen zu allerdings schnell unterdrückten Gewaltausbrüchen gegen Juden führten, zeigen die Vorfälle in Kavala () und Smyrna ().227 Nach Liata setzten die Ausschreitungen auf Korfu und den Nachbarinseln die orthodoxe Kirche Griechenlands unter Druck, die sich bis dahin nicht ernsthaft gegen den weit verbreiteten Ritualmordglauben in der griechischen Bevölkerung gewandt hatte. Der Brauch, am Ostertag eine Judasfigur zu verbrennen, wurde vom Klerus ebenso wie von Repräsentanten der Politik durch ihre Teilnahme legitimiert. Die zu Ostern aufgeheizte Stimmung gegen die »Christusmörder« hatte schon in der Vergangenheit in griechischen Städten immer wieder zu kleineren und schwereren Ausschreitungen gegen Juden geführt, auch wenn diese nicht das Ausmaß der Unruhen auf Korfu erreicht hatten.228 Diese machten es nun der Kirche unmöglich, das Problem weiter zu ignorieren, da sie wegen dieses Ausbruchs von Antisemitismus international hart attackiert wurde und das Ansehen Griechenlands beschädigt worden war. Die Heilige Synode veröffentlichte deshalb am . April ein Zirkular, in dem der Brauch der Judasverbrennung getadelt und dessen weiteres Praktizieren verboten wurde.229 Liata betont aber auch, dass sich die Kirche gegenüber den Vorkommnissen auf Korfu und Zakynthos völlig neutral verhielt und schwieg: »On the question of the Corfu and Zakynthos ›Jewish affairs‹, however, the Church maintened absolute neutrality and silence; not even the local authorities of the     

Pierron, Juifs et chrétiens de la Grèce moderne, S. . AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage, S. ; Neue Freie Presse vom .., S. . Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. . Margaroni, Blood Libel, S.  ff. Liata, Anti-Semitic Disturbances, S.  f. In Smyrna kam es  in der Zeit des Passahfestes zu heftigen antijüdischen Unruhen, nachdem das Gerücht aufgetaucht war, die Juden hätten einen -jährigen Griechen zu rituellen Zwecken ermordet. Das türkische Militär konnte ein größeres Ausmaß an Gewalt durch einen konsequenten Militäreinsatz, der viele Verletzte und einen Toten gekostet haben soll, verhindern, obwohl die Menge, die das Judenviertel stürmen wollte, auf zehntausend Personen geschätzt wurde. Die Polizei fand den vermissten Jungen in Gesellschaft seiner Freunde. Die Mutter, die davon nichts wusste, hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, die Juden hätten ihr Kind ermordet (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ).  Liata, Anti-Semitic Disturbances, S. .

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clergy evinced the slightest reaction nor intervention, albeit of different reasons on each island«.230 Am . Mai meldete sich allerdings der griechisch-orthodoxe Erzbischof von Zakynthos zu Wort, der bestätigte, dass das Mädchen eine Jüdin gewesen sei und dass das Märchen vom rituellen Mord, an das die Bevölkerung nach wie vor glaube, Unsinn sei. Er hielt den Mord für einen »Lustmord«. Er nahm die Juden Korfus als anständige und arbeitsame Leute in Schutz.231 Diesem Dementi und ähnlichen Dementis des Präfekten und des Staatsanwaltes zum Trotz ließ sich die christliche Bevölkerung den Ritualmord an einem Christenmädchen nicht ausreden. Präfekt und Staatsanwalt mussten sich für ihr Eintreten für die misshandelten Juden als von den Juden gekaufte Verräter beschimpfen lassen, ja seien sogar mit dem Tode bedroht worden.232 Dies alles spricht für ein tiefgreifend gestörtes Verhältnis zwischen Juden und Christen auf Korfu, das auch nach den Unruhen fortdauerte. So wurde Ostern  erneut ein Ritualmordvorwurf erhoben, allerdings ohne schwerwiegende Folgen.233 Das griechisch-jüdische Verhältnis blieb vergiftet, wie sich während des griechisch-türkischen Krieges von  zeigen sollte, in dem die Juden als Spione und Verräter, die das Spiel der Türken spielten, heftiger antisemitischer Propaganda ausgesetzt waren.234 In den thessalischen Städten Trikala und Larissa kam es  zu antijüdischen Übergriffen. In Trikala wurden Juden belästigt, es gab Steinwürfe gegen ihre Häuser und man versuchte, die Synagoge anzuzünden. Auch in Larissa wurden Juden beleidigt und geschlagen. Man hatte ihnen vorgeworfen, die Häuser derjenigen Griechen geplündert zu haben, die beim Herannahen türkischer Truppen geflohen waren, und das Plünderungsgut an ihre jüdischen Mitbürger billig verkauft zu haben. Daraufhin startete die Polizei Hausdurchsuchungen, an denen sich auch die Menge mit Billigung der Behörden »beteiligte« und dabei aus den Reisekoffern der Juden stahl, was sie finden konnte.235  Ebd., S. . Der Metropolit von Korfu sei während der Dauer der Unruhen verschwunden gewesen, der Erzbischof von Zakynthos sei am Karfreitag nicht auf der Insel gewesen, sondern erst einen Tag später aus Athen dorthin zurückgekehrt.  AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage, S. . In einem späteren Bericht der AZJ, Jg. , Heft , .., S. , beklagte die Zeitung aber, dass im Gegensatz zum katholischen der orthodoxe Klerus seinen Einfluss zum Schutz der Juden nicht eben geltend gemacht habe. Der Staatsanwalt Bensis beklagte später, dass nicht nur das Volk und die Polizei, sondern auch der Bischof von Korfu keine Mithilfe bei der Aufklärung des Mordes geleistet hätte. Zwar wurde die Ritualmordbeschuldigung von der griechisch-orthodoxen Kirche offiziell abgelehnt, doch in der Korfu-Affäre herrschte in der Kirche, insbesondere in ihren unteren Rängen, eine starke antijüdische Stimmung, dazu gehörte auch die in der Osterzeit übliche Verbrennung und Steinigung einer an einem Baum aufgehängten und mit Schwarzpulver gefüllten Judaspuppe in effigie zwei Tage vor Beginn der Unruhen (Margaroni, Antisemitic Rumours, S. ; Margaroni, Blood Libel, S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Pierron, Juifs et chrétiens de la Grèce moderne, S. .  Ebd., S.  ff.  Ebd., S. .

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Der »Fall Buschhoff« – Der Ritualmordvorwurf in Xanten (/) Der »Fall Buschhoff« fällt insofern aus dem Rahmen, als Xanten der einzige Ort im westlichen Mitteleuropa ist, an dem sich ein solcher Fall mitsamt einem Ritualmordprozess ereignete. Ein Vorkommnis, das von den Zeitgenossen gewöhnlich mit dem geringeren Zivilisationsstandard im »barbarischen Osten Europas« verbunden wurde.236 Allerdings gab es in diesem katholischen Gebiet am Niederrhein eine gewisse Tradition, so hatte es schon  in diesem Gebiet eine Gewaltwelle wegen eines angeblichen Ritualmordes in Neuenhoven gegeben (siehe Kap. .). In Xanten lebten . überwiegend katholische Einwohner, darunter ungefähr hundert Juden. Am frühen Abend des . Juni  wurde in Xanten die Leiche des fünfjährigen Johann Hegmann von Nachbarn, ausgeschickt von der besorgten Mutter, in der Scheune des Gastwirtes und Stadtverordneten Wilhelm Küppers gefunden. Der Hals wies eine klaffende und, wie man meinte, von »gewandter Hand« ausgeführte Schnittwunde auf. Der Arzt Dr. Steiner, der die Leiche am Fundort untersucht hatte, fand dort wenig Blut, das man als »Nachblutung« identifizierte, so dass man annahm, Fund- und Tatort seien nicht identisch – was sich später als falsch herausstellte. Aufgrund dieser Indizien und Verdachtsmomente kam im Ort schnell das Gerücht auf, Juden hätten den Jungen zu rituellen Zwecken ermordet, zumal Ritualmordbeschuldigungen seit den er Jahren von antisemitischen Agitatoren verbreitet wurden und die bereits genannten »Fälle« das Thema ins öffentliche Bewusstsein gerückt hatten.237 Zu dem schnell aufkommenden Verdacht eines »Ritualmordes« mag beigetragen haben, dass man die im April  aus Korfu berichtete Ritualmordbeschuldigung kannte. Der Verdacht fiel auf den früheren Schächter der jüdischen Gemeinde, den gut in die kleinstädtische Gesellschaft integrierten und durchaus beliebten Schlachter Adolf Buschhoff, der unweit des Fundortes wohnte. Bernd Kölling macht zu Recht darauf aufmerksam, dass zwar auch andere Personen in Verdacht gerieten, diese Spuren aber von der Strafverfolgungsbehörde nicht ernsthaft geprüft wurden, und dass einige Verdächtige sogar als (unvereidigte) Zeugen im Prozess gegen Buschhoff aussagen konnten, den man aufgrund sehr viel  Dazu Bernd Kölling, Blutige Illusionen. Ritualmorddiskurse und Antisemitismus im niederrheinischen Xanten am Ende des . Jahrhunderts, in: Wolfgang Neugebauer/Ralf Pröve (Hrsg.), Agrarische Verfassung und politische Struktur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte Preußens -, Berlin , S. -, S. .  Julius H. Schoeps, Ritualmordbeschuldigung und Blutaberglaube. Die Affäre Buschhoff im niederrheinischen Xanten, in: Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica -, hrsg. von Jutta Bohnke-Kollwitz et al., Köln , S. -; Johannes T. Groß, Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im deutschen Kaiserreich (-), Berlin ; Werner Bergmann, Ritualmordvorwurf in Xanten (), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -; eine zeitgenössische Darstellung des Falles »Der Xantener Knabenmord vor dem Schwurgericht in Cleve. Thatbestand und Untersuchungszeit« ist abgedruckt in: Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S.  ff.

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vagerer Verdachtsmomente vor Gericht gebracht hatte.238 Tatsächlich war es sogar eine der hoch verdächtigen Personen, der Viehhändler Heinrich Junkermann, der als Erster am Tatort als Fachmann einen jüdischen Schächtschnitt erkannt haben wollte, da er sich auf seine früheren Erfahrungen als Metzger berufen konnte. Möglicherweise hat er ganz bewusst den Verdacht auf die Juden gelenkt, um von sich selbst abzulenken. Junkermann verbreitete seine Anschuldigungen in den Gaststätten des Ortes und soll auch antisemitische Flugschriften verteilt haben. Er berief sich als Autorität im Übrigen auf seinen Sohn, der als Medizinstudent wisse, dass Juden zu ihrem Osterfest Blut von Christenkindern brauchten. Kölling zitiert aus dem Berliner Tageblatt (vom . Juli ), das in dieser Aussage Junkermanns den Wendepunkt hin zur antisemitischen Interpretation des Mordes sah, da das von ihm lancierte Gerücht nun mit der Autorität eines »Mediziners« untermauert wurde.239 Dies wurde durch die »wissenschaftliche Überzeugung« des untersuchenden Arztes Dr. Joseph Steiner bekräftigt, der vor allem auf das fehlende ausgetretene Blut hinwies. Kölling weist zu Recht daraufhin, dass in diesem wie in vielen der anderen Ritualmordanschuldigungen die Ärzte und ihr Befund einer Blutleere der Leiche, die für sie auf das für rituelle Zwecke nötige Abzapfen des Blutes hinwies, eine zentrale Rolle für die Ausbreitung und Beglaubigung des Ritualmorddiskurses spielten.240 Nach Kölling wirkten sich diese Vorannahmen im weiteren Verfahren dahingehend aus, dass auch die Justiz bis hinauf zum Justizministerium einen sehr großen zeitlichen Aufwand und große Aufmerksamkeit auf die Erörterung der Frage verwandte, wieviel Blut in der Erde vorhanden war, also implizit die Ritualmordthese zur Grundlage machte. Er sieht darin eine »Macht des Blutes«.241 D. h., die Blutmenge wurde zum Beweis oder aber zur Widerlegung der Ritualmordtheorie, die man also nicht rundheraus für abwegig hielt. Kölling sieht darin eine Akzeptanz gewisser Elemente antisemitischer Mentalitäten auch in den gebildeten Schichten und widerspricht damit der auch damals vertretenen Einschätzung, in diesem Verfahren kämpfe eine fortschrittliche Kultur gegen geistig und sittlich rückständige Elemente der Nation. Zwar gab es in Xanten und Umgebung durchaus antisemitische Stimmungen, doch war die Basis dafür weniger der unterstellte Volksaberglauben, als vielmehr die antisemitische Propaganda seitens der Germania, der Kreuzzeitung und der Neuen deutschen Zeitung sowie dem von einem anti-

 Neben Buschhoff gerieten  und  auch weitere Personen in Verdacht. Kölling vermutet, dass Buschhoff das Opfer eines Komplotts wurde, in dem die beiden Täter und weitere mit ihnen bekannte Belastungszeugen den Verdacht auf die Juden und auf Buschhoff gelenkt hätten (Blutige Illusionen, S.  ff.).  Ebd., S. . Das Tageblatt habe zudem noch angemerkt, dass es sich in diesem Fall nicht um den Rückgriff auf einen populären Volksaberglauben handele, sondern dass der studierte, »gebildete« Sohn mit seinem elitären Antisemitismus den ungebildeten Vater belehrte (S.  f.).  Kölling, Blutige Illusion, S. . Vgl. dazu auch Kieval, Representation and Knowledge.  Kölling, Blutige Illusion, S. .

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semitischen Kaplan redaktionell betreuten Xantener Boten für Stadt und Land, die die Stimmung anzuheizen suchten.242 Die Antisemitenpresse griff diese Xantener Gerüchte sofort auf. Die AZJ publizierte am . Juli  einen Bericht aus Berlin vom . Juli, in dem sie die »Antisemitenpresse«, namentlich die Kreuzzeitung, die katholische Zeitung Germania und die Staatsbürgerzeitung,243 beschuldigte, »Blut geleckt« zu haben und »die rituellen Morde lustig weiter« zu pflegen. In Xanten und Umgebung sei das Volk in Erregung. »Die Straße, in der der Jude wohnt, musste abgesperrt, und das Haus sowie der Jude polizeilicherseits geschützt werden. Wenn das Volk den Juden erwischt, wird er gelyncht«.244 Auch in den folgenden Ausgaben finden sich immer wieder Vorwürfe der AZJ gegen die »antisemitische Partei«, die das Geschehen in Xanten zu »judenhetzerischen Zwecken« ausbeute.245 Um die Todesursache zu klären, ordnete der Amtsrichter die Obduktion der Leiche an, wobei die beiden Kreisärzte Tod durch Verbluten und »außerordentliche Blutleere« der inneren Organe feststellten, aber die Frage des Tatorts offenließen, während der Kreisphysikus Dr. Bauer in einem weiteren Gutachten (vom . Juli) Fundort und Tatort als identisch nachwies (der Junge hatte in seiner Hand dasselbe Stroh festgehalten, das sich auch auf dem Boden der Scheune befand) und eine größere Menge von Blut in den Kleidern des Toten, in der Erde und auf dem Stroh gefunden hatte, was der Theorie von der geringen Menge aufgefundenen Blutes explizit widersprach.246 Da auch weitere Vernehmungen keine Anhaltspunkte boten, sah der Amtsrichter keinen Grund, Buschhoff zu verhaften oder sein Haus durchsuchen zu lassen, wie es von der Xantener Bevölkerung gefordert wurde. Nach und nach meldeten sich immer mehr Zeugen, die indirekt etwas gesehen haben wollten und von denen einige Buschhoff schwer belasteten, ein Vorgang, den wir auch in anderen Fällen wie Neustettin und Konitz beobachten können. Daraus entwickelte sich ein Pogromklima, das sich am . Juli sowie am . und . August während eines Schützenfestes, das die notwendige Menschenmenge auf die Straße brachte, in Ausschreitungen gegen Wohnungen und Läden sowie in Misshandlungen einheimischer Juden offen entlud.247 Der Xantener Magistrat sah sich gezwungen, eine Erklärung zu veröffentlichen, in der er auf die überaus rege Ermittlungstätigkeit der Polizei hinwies und es bedauerte, »dass diese Bemühungen durch Ausschreitungen Einzelner sehr gestört und behindert werden«. Der Magis Ebd., S. . Als Hinweis darauf, dass es weniger der im Lande herrschende Ritualmordglaube als die antisemitische Hetze war, die Buschhoff zum Täter machen wollte, wertet Kölling den Hinweis des Kölner Polizeipräsidenten, der zwei Jahre später aufgrund einer Bestandsaufnahme feststellte, dass man in Xanten zwar an die Täterschaft Buschhoffs glaubte, aber nicht, dass es ein Ritualmord gewesen sei (ebd., S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage »Der Gemeindebote«, S. . Die Zitate der AZJ stammen wörtlich aus der Xantener Zeitung Volk.  AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. .  Kieval, Rules of the Game, S.  f.  Schoeps, Ritualmordbeschuldigungen, S. .

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trat mahnte, »sich nicht vom Gefühl zu straf baren Äußerungen oder Ausschreitungen hinreissen zu lassen« und drohte »ungeahnt harte Strafen« für diesen Fall an.248 Als am . Juli das Haus Buschhoffs demoliert und mit dem Wort »Mörderhaus« beschmiert wurde, suchte Buschhoff um seine Verhaftung nach. Als dies von den Behörden abgelehnt wurde, flüchtete er mit seiner Familie nach Köln, was viele in Xanten als Schuldeingeständnis werteten. Es wurde eine amtliche Aufforderung erlassen, die vor Ausschreitungen gegen die Juden warnte. Am . Februar  kam es in Xanten zu einer Verurteilung mehrerer Personen »wegen Ruhestörung und wegen Beschimpfung jüdischer Einwohner«.249 Antisemitische Agitatoren, wie der bekannte westfälische Antisemit Dr. Adolf König aus Witten, reisten nach Xanten, um dort die Bevölkerung aufzuhetzen.250 Der Vorstand der jüdischen Gemeinde bat das preußische Innenministerium – auf eigene Kosten – um die Entsendung eines qualifizierten Polizeibeamten zur Aufklärung des Falles. Der aus Berlin daraufhin entsandte erfahrene Kriminalkommissar Wolff, der seine Recherchen Ende September  aufnahm, kam aufgrund von Zeugenaussagen zu dem Schluss, Buschhoff habe das Kind, das zuvor Grabsteine, die Buschhoff für die Gemeinde herstellte, beschädigt hatte, in Anwesenheit seiner Gattin Sibilla und seiner Tochter Hermine geschlagen und später das bewusstlose Kind aus Angst vor Entdeckung in der Küpperschen Scheune getötet. Daraufhin wurde am . Oktober die Familie Buschhoff verhaftet, obwohl das vorgebrachte Tatmotiv ja äußerst schwach war, was auch dem ermittelnden Staatsanwalt auffiel.251 Nach Prüfung der Zeugenaussagen entließ sie der Untersuchungsrichter Brixius jedoch aus Mangel an Beweisen nach zwei Monaten am . Dezember  wieder aus der Haft.252 Gegen die Freilassung erhob sich ein »Sturm der Entrüstung« in der antisemitischen und christlich-konservativen Presse,253 für die    

AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. .

Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S. . Schoeps, Ritualmordbeschuldigungen, Anm. , S. . Nach Auffassung Köllings habe man mit der Entsendung Wolffs den »Bock zum Gärtner« gemacht, da dieser »in der gebotenen Kürze und Oberflächlichkeit Indizien gegen den jüdischen Metzger« fand. Wolff hielt zwar die Ritualmordthese für falsch, sah aber genügend Verdachtsmomente gegen Buschhoff (Blutige Illusion, S. ). Kölling sieht den Vorzug der Ritualmordbeschuldigung darin, dass damit weitere plausible Tatmotive nicht mehr vorliegen mussten. Kieval bewertet diesen Fall anders, da Wolff zwar eine eigene, Buschhoff belastende Theorie aufgestellt, das Vorliegen eines Ritualmordes aber klar zurückgewiesen habe. Er sieht darin einen Beleg für seine These von der großen Bedeutung wissenschaftlicher und kriminaltechnischer Belege gegenüber Augenzeugen und anderen Zeugenaussagen (The Rules of the Game, S. ).  Hugo Friedländer, Der Knabenmord in Xanten vor dem Schwurgericht zu Cleve vom . bis . Juli . Ausführlicher Bericht, Cleve ; Paul Nathan, Xanten-Cleve. Betrachtungen zum Prozeß Buschhoff, Berlin . Die Broschüre Nathans wurde als Separatdruck den Mittheilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus als Beilage angefügt (AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage: Der Gemeindebote, S. ).  Schoeps spricht von antisemitischer Propaganda und Massenpsychose (Ritualmordbeschuldigungen, S. ). Es erschienen zahlreiche Zeitungsartikel und antisemitische »Ju-

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Buschhoff als Täter feststand und die eine antisemitische Kampagne entfachte, in der sie insinuierte, die preußische Justiz würde auf jüdischen Druck hin nicht gegen Buschhoff vorgehen und behandele das Judentum zu nachsichtig. Das Justizministerium ordnete unter diesem Druck und wegen eines neu aufgetauchten Belastungsmoments die Fortführung der Ermittlungen an, und dem entsandten Geheimen Justizrat Blietsch gelang es Mitte Januar , den skeptischen Untersuchungsrichter Brixius auszuschalten, indem er ihm Befangenheit vorwarf, da sein Schwiegersohn einer der Verteidiger Buschhoffs war. Das Gericht verneinte zwar eine Befangenheit, aber Brixius, zu einer »freiwilligen« Versetzung gedrängt, ging in den Ruhestand. Ein weiteres ärztliches Gutachten durch Dr. Bauer kam zu dem Ergebnis, nur ein großes Schächtermesser, wie man es bei Buschhoff gefunden hatte, könne die Tatwaffe sein. Obwohl der Tatverdacht nicht hinreichte, wollte man seitens der Justiz die Vorwürfe der Antisemiten entkräften, der Tatverdächtige werde als Jude begünstigt. Dieser Vorwurf veranlasste die staatlichen Behörden in vielen »Ritualmordfällen«, wider besseres Wissen Anklage gegen Juden zu erheben, in der – allerdings vergeblichen – Hoffnung, durch eine öffentliche sachgerechte Aufklärung des Falles die aufgeheizte antisemitische Stimmung zu beruhigen. Deshalb ordnete der preußische Justizminister Hermann von Schelling am . Februar  die erneute Verhaftung Buschhoffs und die Fortführung des Verfahrens an. Der »Fall Buschhoff« erreichte sogar die offizielle politische Arena. Am . Februar kam es im Preußischen Abgeordnetenhaus zu einer hitzigen Debatte, in der der linkslinksliberale Abgeordnete Heinrich Rickert den öffentlichen antisemitischen Druck verurteilte, die Konservative Partei attackierte, weil sie das »Märchen vom Ritualmord« auftische, und die Unabhängigkeit der Gerichte verteidigte.254 Der antisemitische Politiker Adolf Stoecker, der sich zwar dem Ritualmordvorwurf nicht direkt anschloss, allerdings das Abschlachten von Christenkindern durch jüdische Fanatiker nicht ausschließen wollte (ein in dieser Zeit von Antisemiten häufig gewählter »Ausweg«), kritisierte vor allem, dass bei Prozessen »wegen jüdischer Morde« Beschuldigte stets freigesprochen oder Täter nie gefunden würden. Dass sie unschuldig waren, war mit Stoeckers antisemitscher Perspektive offenbar unvereinbar. Seine konkreten Vorwürfe von Ermittlungsmängeln konnte Justizminister v. Schelling klar widerlegen, der keinen Grund zur »Beunruhigung des öffentlichen Rechtsbewusstseins« sah. Das Abgeordnetenhaus war in zwei Lager gespalten: während die Linksliberalen der Ritualmordlegende und den antisemitischen Andenlieder«, die auf den Straßen gesungen wurden und zur Pogromstimmung beitrugen. Bei Schoeps sind Textauszüge aus der Neuen Deutschen Zeitung und der Kreuzzeitung abgedruckt, S.  f.  Eine weitere Debatte darüber folgte am ... Siehe: Stenographische Berichte des Preußischen Abgeordnetenhauses, . Sitzung vom .. und . Sitzung vom .., S.  ff. und  ff. Vgl. dazu den ausführlichen Bericht mit langen Redeauszügen aus der Sitzung des Preußischen Abgeordnetenhauses auf den ersten Seiten der AZJ, Jg. , Heft , . März , S. -; eine zusammenfassende Darstellung bei Schoeps, Ritualmordbeschuldigungen, S.  ff.

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griffen scharf widersprachen und die Nationalliberalen sowie die Regierung sich darauf beschränkten, die Korrektheit des Verfahrens zu betonen, unterstützten die konservativen Parteien und einige Zentrumsabgeordnete die Ritualmordthese und kritisierten die preußischen Justizbehörden als parteiisch und von jüdischer Seite beeinflusst. Auch außerhalb des Parlaments schürten konservative, antisemitische und katholische Zeitungen mit einer ausführlichen Berichterstattung über den »Fall Buschhoff« den Verdacht des Ritualmordes und monierten die Nachlässigkeit der Behörden und die dahinter vermutete »Macht der Juden«.255 Begleitet wurde diese Presseberichterstattung von einer Flut antisemitischer Broschüren, in denen der »Xantener Knabenmord« abgehandelt wurde, gegen die aufklärerische Gegenschriften schwer ankamen. Der »Fall Buschhoff« vor Gericht Beim Landgericht Kleve erhob am . April  der Staatsanwalt, gestützt auf dubiose Zeugenaussagen, gegen Buschhoff Anklage wegen Mordes, seine Frau und Tochter wurden der Beihilfe angeklagt. Wie auch in anderen Fällen meldeten sich immer mehr Zeugen, die angeblich etwas gesehen oder gehört haben wollten.256 Vom . bis . Juli fand dann die in der deutschen Öffentlichkeit mit Spannung erwartete Hauptverhandlung statt, in der  Zeugen vernommen und unüblicherweise immer neue, z. T. in anonymen Briefen aufgestellte Behauptungen als Beweismittel zugelassen wurden, was den enormen Druck auf die Justiz belegt,257 was man aber zugleich als ein Indiz für eine verbreitete antisemitische Mentalität nehmen kann, da sich aus der Fülle der Falschaussagen mit der Zeit ein »kleinstädtischer Konsens über den Täter und seine Motive« herstellte, da sich Zweifel mit der Zeit in Gewissheiten verwandelten.258 Da Adolf Buschhoff, gegen Frau und Tochter wurde kein Verfahren eröffnet, jedoch ein lückenloses, bezeugtes Alibi für  Da sich die Anschuldigungen der Presse auch gegen staatliche Stellen und sogar gegen den Justizminister Hermann von Schelling richteten, wehrte sich der Staat und zwang etwa die Kreuzzeitung, eine Gegendarstellung des Justizministers abzudrucken, und verklagte zugleich deren Quelle, die Neue Deutsche Zeitung, ein Leipziger antisemitisches Winkelblatt (AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. -). Auch das Xantener Antisemitenblatt Bote für Stadt und Land musste ein Dementi des Oberstabsarztes Dr. Steiner abdrucken, in dem dieser bestritt, den Ausdruck »Schächtschnitt« für die Halswunde des Knaben Johann Hegemann gebraucht zu haben, da er gar nicht wisse, wie ein solcher Schnitt aussehe (AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. -).  Vgl. bei Schoeps, Ritualmordbeschuldigungen, S.  ff.  Die AZJ druckte unter dem Titel »Die Blutlüge vor Gericht« bzw. »Der Knabenmord in Xanten« das Protokoll der Verhandlung ab (Jg. , Heft , . Juli , S. -); die Fortsetzungen in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. -, und Heft , .., S. -; ein vollständiger Abdruck der Gerichtsverhandlung findet sich auch in: Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S. -.  Kölling, Blutige Illusion, S. , der von einem mit dem zeitlichen Abstand von der Tat zunehmenden »Schleier von Vermutungen und Lügen« schreibt, der sich über die Realität legte. Wer sich als Entlastungszeuge gegen diesen kleinstädtischen Konformitäts-

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den Mordtag besaß, das Gericht die Unglaubwürdigkeit vieler Zeugen aufdecken konnte und ein Ortstermin auch die Aussagen der Hauptbelastungszeugen als zweifelhaft erwies, wurde er von den Geschworenen freigesprochen, nachdem sogar der Staatsanwalt diese gebeten hatte, auf »nicht schuldig« zu erkennen. Rückblickend zeigte sich der Vorsitzende des Schwurgerichtshofes, Landgerichtsdirektor Kluth, zu Recht darüber befremdet, dass man gegen Buschhoff trotz seines lückenlosen Alibis ein Hauptverfahren eröffnet habe, was schließlich normalerweise das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts erfordere. Er sah den Grund in dem Irrglauben, die Sache »in öffentlicher Verhandlung vor den Augen der Welt zum Austrage« bringen zu müssen, um so den Blutbeschuldigungen den Boden zu entziehen.259 Tatsächlich hat sich die Hoffnung, eine gerichtliche Klärung mit Freispruch der angeklagten Juden würde den Ritualmordglauben entkräften, in keinem Fall bestätigt. Auch die von der AZJ am Ende des Prozesses geäußerte Ansicht, dessen Ausgang stelle eine moralische Niederlage des Antisemitismus dar, hat dieser Bewegung in keiner Weise geschadet.260 Auch der im Fall mitverhandelte Ritualmordvorwurf musste nach entsprechenden Gutachten der Ärzte und dem Vortrag des Sachverständigen, des Orientalisten Professor Theodor Nöldecke, fallen gelassen werden. Der Freispruch Buschhoffs brachte die Antisemitenblätter wie die Kreuzzeitung und die Germania nach Aussage der AZJ »völlig außer Fassung«. Man betrieb heftige Urteilsschelte und hielt gegen alle Vernunftsgründe an der Ritualmordthese fest und beschuldigte Richter, Staatsanwälte und Geschworene als von der »Alliance Israèlite« »bezahlte Judenknechte«.261

zwang wandte, riskierte den sozialen Ausschluss und die Stigmatisierung als unzuverlässiger Charakter (ebd., S. ).  Kölling, Blutige Illusion, S. . In dem Kommentar »Juristische Anmerkungen zum Proceß Buschhoff« übte die Allgemeine Zeitung, Abendblatt (München), . Jg., .., S. , ebenfalls Kritik an dem Verfahren, das aufgrund der Indizienlage nicht hätte eröffnet werden dürfen. Dass solche Verfahren ein völlig untaugliches Mittel waren, zeigte das Sammel-Gutachten über die Ritual- und Blutmordfrage von gebildeten deutschen Männern aller Stände, Küstrin , S. , sowie ein Artikel in der Kreuzzeitung vom .. (beides zit. in Kölling, Blutige Illusion, S. , FN ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. : »Was nun?« »Buschhoff ist freigesprochen, sein Mitangeklagter aber ist verurtheilt, moralisch verurtheilt, von der gebildeten Welt auf das Schärfste verurtheilt und dieser Angeklagte ist bekanntlich der deutsche Antisemitismus, der die ganze schmähliche Hetze veranstaltet hat …«  AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage: Der Gemeindebote, S. ; in einer Meldung vom . Juli aus Berlin schreibt die AZJ unter Bezugnahme auf das Clever Kreisblatt, dass der Justizminister beabsichtige, gegen »sämmtliche antisemitische Zeitungen, die Verleumdungen des Gerichtshofs, der Staatsanwälte und Geschworenen gebracht haben, klagbar vorzugehen« (Heft . .., Der Gemeindebote, S. ); die erfundenen Berichte zum Fall Buschhoff sollen zum Teil von dem katholischen Xantener Kaplan Bresser stammen, vgl. Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S. ; vgl. auch ähnliche Anschuldigungen gegen den Gutachter Professor Dr. Nöldicke und den österreichischen

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Der Prozess hatte deshalb noch eine ganze Reihe gerichtlicher und öffentlicher Nachspiele.262 Die Enttäuschung über den Ausgang des Verfahrens entlud sich im Rheinland in erneuten antisemitischen Ausschreitungen. Im Kreis Grevenbroich kam es zu Ausschreitungen »bedenklicher Art gegen Eigenthum und Leben der israelitischen Einwohner«, wie die AZJ schrieb.263 Es wurden nach dieser Darstellung Grabsteine umgestürzt, Fenster eingeworfen und ein mit Pulver gefülltes Bleirohr wurde in die Synagoge geworfen, um dort eine Explosion herbeizuführen. Personen wurden aber nicht attackiert. Durch entschiedenes staatliches Eingreifen hätten aber die Exzesse fast gänzlich aufgehört. In Gerichtsprozessen wurde eine ganze Reihe von verhafteten Tätern zu ein bis zwei Wochen oder einigen Tagen Haft verurteilt. Da die Familie Buschhoff trotz des Freispruchs ihre Existenzgrundlage in Xanten verloren hatte, siedelte sie nach Neuss über. Sprachenstreit und Nationalismus: Antijüdische und antideutsche Ausschreitungen in Prag und Umgebung  Um die Zielrichtung der Unruhen in Prag und Umgebung zu verstehen, muss man nach Michal Frankl die Jahre von  bis  in den Blick nehmen, in denen sich in Böhmen und Mähren ein ausgesprochen antisemitisches Klima ausgebreitet hatte und wo es bereits vor der Polná-Affäre zu antijüdischen und antideutschen Ausschreitungen gekommen war.264 Für die Stärke antisemitischer Strömungen im politischen Leben und in der Presse verweist Frankl einerseits auf die typischen, gesamteuropäischen Ursachen des modernen Antisemitismus, der durch die ökonomische und ideologische Krise des Liberalismus, die Desorientierung einiger sozialer Schichten (Bauern, Kleinhändler, Ladenbesitzer), die Fragmentierung und Polarisierung der politischen Landschaft durch die Gründung neuer Parteien und Reichsratsabgeordneten Dr. Kopp in der Germania und in österreichischen Antisemitenblättern, in: Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, , ... S.  f.  Z. B. Prozess gegen eine Anzahl antisemitischer Führer, AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. . In zwei Gerichtsverfahren wurden zwei Publizisten, der Redakteur der antisemitischen Wochenschrift Rheinische Wacht, ten Winkel, und der Verleger (und wohl auch Autor) Heinrich Oberwinder (andere Angabe Theodor Oberwinter), in dessen Verlag im Januar  die Broschüre Der Fall Buschhoff. Die Untersuchung über den Xantener Knabenmord. Von einem Eingeweihten anonym erschienen war, zu Gefängnisstrafen wegen ihrer Vorwürfe verurteilt, Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter hätten nicht ordnungsgemäß gearbeitet. Zum Prozess gegen den Inhaber der Vaterländischen Verlagsanstalt Heinrich Oberwinder in Berlin siehe: AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. ; zu diesen Prozessen auch Schoeps, Ritualmordbeschuldigungen, S.  ff.; Bergmann, Ritualmordvorwurf in Xanten, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. .  Michal Frankl, The Background of the Hilsner Case. Political Antisemitism and Allegations of Ritual Murder -, in: Judaica Bohemiae , , S. -; Michal Frankl, From Boykott to Riot. The Moravian Anti-Jewish Violence and Its Background, in: Robert Nemes/Daniel Unowsky (Hrsg.), Sites of European Antisemitism in the Age of Mass Politics -, Hanover, London , S. -.

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die Politisierung der Massen sowie durch sozialen und demographischen Wandel begünstigt wurde. Er verweist andererseits auf den durch den Nationalitätenkonflikt befeuerten Antisemitismus, der sich vor allem im sog. Sprachenstreit zwischen Tschechen und Deutschen manifestierte, in den die zumeist deutschsprachigen Juden hineingezogen wurden. In den genannten Krisenmomenten sieht Frankl auch die wesentlichen Faktoren, die zu den zahlreichen Unruhen und nationalistischen antijüdischen Ausschreitungen der späten er Jahre führten. Er schreibt von einer fast automatischen Identifikation von Juden mit der Germanisierung, obwohl sich diese in Böhmen primär tschechisch assimiliert hatten, während in Mähren die Assimilation an das Deutsche vorherrschte, wobei die beiden jüdischen Bevölkerungsgruppen sich ebenso erbittert gegenüberstanden wie die Deutschen und Tschechen.265 Frankl wendet sich allerdings gegen die bis heute gängige Interpretation der antijüdischen Ausschreitungen als bloßes Nebenprodukt des Protests gegen die deutsche Dominanz und den repressiven Habsburger Staat und sieht einen eigenständigen Zusammenhang zwischen dem tschechischen Nationalismus und dem politischen Antisemitismus.266 Auch für Martin Wein waren es die von Ministerpräsident Badeni durchgesetzten Sprachverordnungen für Böhmen und Mähren, durch die die beiden slawischen Sprachen gleichrangig neben dem Deutschen als zweite Amtssprache für die staatlichen Beschäftigten verpflichtend gemacht wurden, sowie die Einführung der Fünften Kurie, die die große »Fin-de-Siècle«-Krise zwischen  und  auslösten.267 Insbesondere während der Wahlkampagne für die er Reichsratswahlen, an der mit der Einführung einer Fünften Kurie (eine allgemeine Wahlklasse für  Helena Krejčová/Alena Mišková, Anmerkungen zur Frage des Antisemitismus in den Böhmischen Ländern Ende des . Jahrhunderts, in: Jörg K. Hoensch/Stanislav Biman/ Lubomír Lipták (Hrsg.), Judenemanzipation – Antisemitismus – Verfolgung in Deutschland, Österreich-Ungarn, den Böhmischen Ländern und der Slowakei, Essen , S. , hier S. ; vgl. dazu auch die Darstellung in der AZJ, Heft , .., S. ; Michal Frankl analysiert die Bedeutung des Census von , in dem die Befragten angeben sollten, welche Umgangssprache sie sprächen. Dies wurde von deutscher wie tschechischer Seite als Ausweis nationaler Identifikation genommen. Auch wenn sich Juden in Böhmen zunehmend mit der tschechischen Seite identifizierten, so gab die Mehrheit doch weiterhin Deutsch als Umgangssprache an. Vor allem in der tschechischen Presse wurden nun die Juden als Feinde der Nation angegriffen, indem ihnen nahezu alle Vorwürfe aus dem antijüdischen Repertoire vorgehalten wurden (»Sonderweg« of Czech Antisemitism? Nationalism, National Conflict and Antisemitism in Czech Society in the Late th Century, in: Bohemia /, , S. -, hier S.  ff.). Auch Martin Wein schreibt, dass die tschechische, aber auch die deutsche Presse für eine Ausbreitung des Antisemitismus in den böhmischen Ländern die zentrale Rolle spielten. Zu seinen Analysen sowohl der alldeutschen wie tschechischen antisemitisch agierenden Zeitungen: History of the Jews in Bohemian Lands, Leiden , S. -.  Frankl, From Boykott to Riot, S. ; Frankl, »Sonderweg« of Czech Antisemitism? Zu den Sprachenverordnungen siehe Berthold Sutter, Die Badenischen Sprachenverordnungen von , . Bände, Köln, Graz  und .  Wein, History of the Jews, S.  ff.

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Männer ab  Jahre) erstmals auch ärmere Wählerschichten an der Wahl teilnehmen konnten und sich die Zahl der Wähler um   erhöhte hatte,268 war in Prag seitens jungtschechischer radikaler Führer wie Jan Vašarý, Václav Březnovský269 und Václav Klofáč die Stimmung durch eine maßlose antideutsche und antisemitische Hetze aufgeheizt worden.270 Zwar war der Antisemitismus als eigene politische Bewegung nicht sehr erfolgreich, doch spielte er in der öffentlichen Meinung und dem aufgeheizten ethnischen Konflikt eine ausgesprochen wichtige Rolle. Bei den Reichsratswahlen errang die jung-tschechische Partei (Nationalpartei – Národní strana svobodomyslná) einen überwältigenden Wahlerfolg, während das deutschliberale Lager dramatisch verlor und sich mit der antisemitischen Alldeutschen Partei zusammentat. Zu den ersten Gesetzen der neuen Regierung, die sich aus Jung-Tschechen, polnischsprachigen Parteien und deutschsprachigen Katholiken zusammensetzte, gehörten die bereits genannten Böhmischen und Mährischen Sprachverordnungen. Dies führte zu einem heftigen Sprachenstreit, da die geplante Reform des Ministerpräsidenten Graf Casimir Badeni von Seiten der deutschen Abgeordneten im Wiener Reichsrat durch eine Obstruktionspolitik torpediert wurde, was den Reichsrat ebenso wie den Böhmischen Landtag zum Stillstand brachte. Badeni beendete daraufhin die Frühjahrssitzungsperiode des Reichsrates vorzeitig, woraufhin die in ihre Wahlkreise zurückgekehrten deutschsprachigen Abgeordneten eine Kampgane gegen die Sprachenverordnungen lostraten. Die zum Teil wüsten Auseinandersetzungen im Reichsrat gingen mit Beginn der Herbstsitzungsperiode im November weiter und führten schließlich zur vorzeitigen Beendigung der Reichsratssaison durch Kaiser Franz Josephs I. und am . November  zum Rücktritt Badenis.271 Zu einer weiteren Zuspitzung des Konflikts kam es, weil der Kaiser nun einen neuen Ministerpräsidenten bestimmte, der die Sprachenverordnungen so ändern sollte, dass sie auch für die deutsche Seite akzeptabel waren. Hatte man in den deutschsprachigen Gemeinden zunächst gegen die Regierung demonstriert, so ließ der Rücktritt Badenis die Stimmung ins Gegenteil umschlagen, und es kam zu Festparaden und Feiern, die von Ausschreitungen gegen Tschechen und seltener auch gegen Juden begleitet wurden.272 Bei Polizeirazzien  Ebd., S. .  Frankl schreibt, Václav Březnovský sei als »scharfer Antisemit« bekannt gewesen, der insbesondere in der unteren Mittelschicht der Handels- und Geschäftsleute großes Ansehen genoss (»Sonderweg« of Czech Antisemitism? S. ).  Gary B. Cohen, The Politics of Ethnic Survival: Germans in Prague, -, Princeton, NJ , S. . Für Michal Frankl war es, wie ja auch in anderen Ländern Europas, diese Wahlrechtsänderung, die neue Wählerschichten zu den Wahlen zuließ und das politische Leben radikalierte, was sich sogleich in der heftigen antisemitischen Wahlkampagne der nationalen tschechischen Parteien auswirkte (»Can We, the Czech Catholics, Be Antisemites?« Antisemitism at the Dawn of the Czech Christian-Social Movement, in: Judaica Bohemiae , , S. -, hier S. ).  Wein, History of the Jews, S. -.  Frankl, Hilsner Case, S. . Ein Redner vor einer Versammlung von jüdisch-nationalen Vereinen in Wien brachte die prekäre Zwischenposition angesichts der »Judenkrawalle

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kam es zu Verletzten, häufig von unbeteiligten Zuschauern.273 Dies löste auf der tschechischen Seite Enttäuschung und Wut aus, und die Hochstimmung schlug im November und Dezember  in Protestdemonstrationen und Gewalt gegen die deutsche Minderheit und gegen Juden in Nordböhmen und Prag um, während  dann vor allem Mähren zum Schauplatz heftiger antijüdischer Unruhen wurde.274 Zwischen den Reichsratswahlen von  und der Agitation rund um die Polná-Affäre gehörte antijüdische Propaganda zum Standardrepertoire der nationalistischen tschechischen Parteien (Nationalpartei [Jung-Tschechen], Nationalsoziale Partei [strana národně sociální], Radikale Staatsrechtspartei [strana statoprávni radikalně], Christlich-Soziale Partei [Křestansko-sociální strana]), agrarischer Gruppen, die sich  in die Bauernvereinigung – Sdruženi zemědělců – organisierten, der antisemitischen Organisationen sowie der nationalen Presse.275 Nach Frankl waren die letzten Jahre des . Jahrhunderts charakterisiert »by a strong presence of antisemitic propaganda in Czech politics and journalism, where ›the Jew‹ became a symbol of all allegedly destructive forces working against the integrity of the Czech nation be it Social Democracy or German centralism«.276 Es blieb aber nicht bloß bei der antisemitischen Hetze, sondern Juden sahen sich vor allem seit den er Jahren auch ökonomischen Boykottaufrufen »Kauft nur bei Christen, jeder für sich« ausgesetzt.277 Diese sich immer mehr aufheizende »Fin-de-Siècle«-Krise führte schließlich zu drei größeren Wellen von Ausschreitungen, von denen die letzten beiden primär gegen Juden gerichtet waren. War die erste Welle von Deut-

    

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in Böhmen und Mähren« im Rückblick auf  klar zur Sprache: »Als man die Sprachenverordnungen erließ, wurden die Juden in Eger und Asch [Städten mit überwiegend deutscher Bevölkerung, W. B.] gezüchtigt. Als die Sprachenverordnungen aufgehoben wurden, plünderte man die Juden in den tschechischen Städten« (Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., Abendblatt S. ). Vgl. zu den Übergriffen von deutscher Seite in Eger kurz vor, aber auch kurz nach der Demission Badenis (Sprachen- und Judenkrawalle, Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift , .., S. ), zu Übergriffen in Karlsbad, Saaz und anderen Orten mit deutschsprachiger Mehrheit (Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift , .., S.  f.). Da Juden von Tschechen wie Deutschen gleichermaßen attackiert wurden, war es nach Meinung der Zeitung keineswegs die vermeintliche Parteinahme für die eine oder andere Seite der beiden streitenden Nationalitäten, sondern ein Hass auf die Juden als solche. Wein, History of the Jews, S. . Krejčová/Mišková, Anmerkungen zur Frage des Antisemitismus, S. ; Frankl, From Boykott to Riot, S. . Frankl, The Background, S. ; Wein, History of Jews in the Bohemian Land, S.  f. Frankl, »Sonderweg« of Czech Antisemitism?, S. . In Böhmen wurde von tschechischer Seite der Slogan »svůj k svému« (jeder für sich) zum Schlachtruf des Boykotts gegen Juden, christliche Deutsche und andere »innere Feinde«, während die alldeutschen Nationalisten  ihre eigenen Boykottaufrufe starteten, indem sie christlich-deutsche Cafés, Restaurants und Hotels drängten, »Tschechen, Juden und Hunde« auszuschließen. Als Gegenmaßnahme erwog man von jüdischer Seite einen Boykott christlicher Geschäfte, was sich aber angesichts der geringen Zahl jüdischer Käufer als untaugliches Mittel erwies (Wein, History of the Jews, S.  f.).

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schen gegen die Tschechen ausgegangen, so waren in der zweiten, der massivsten Welle in Prag und Umgebung vom . November bis . Dezember  Deutsche und Juden das Ziel. In Prag sorgte die Rückkehr der jung-tschechischen und der sozialistischen Abgeordneten von der Reichsratssitzung in Wien für Aufregung, die sich insbesondere gegen die Sozialisten richtete, da diese die Obstruktionspolitik der deutschen Seite im Reichsrat mitgetragen hatten. Die einen Tag später, am . November , ausbrechenden antideutschen Demonstrationen und Unruhen waren neben der Zuspitzung des nationalen Konflikts zwischen Tschechen und Deutschen zusätzlich durch einen Konflikt zwischen den nationalistischen Sozialisten (Čzeská strana národně sociální) und den deutschen Sozialisten angeheizt worden, die Versammlungen mit anschließenden Demonstrationen abhielten.278 Am . November erregten deutsche Studenten der Deutschen Technischen Universität in Prag bei ihrem Freudenmarsch durch die Prager Innenstadt den Unmut des tschechischen Publikums, das dies als Provokation auffasste. Als auslösendes Ereignis beschreibt Michal Frankl den Angriff eines jüdischen Studenten der Universität auf einen tschechischen Studenten, woraufhin er von der Menge attackiert wurde und krankenhausreif abtransportiert werden musste. Dies war das Startzeichen für Ausschreitungen gegen die Büros der beiden deutschsprachigen Zeitungen (Prager Tagesblatt, Bohemia), Geschäfte, Schulen, wissenschaftliche Institute, Theater, Vereinslokale, seltener gegen Wohnungen.279 Am folgenden Tag versammelten sich, provoziert durch den Marsch der deutschen Studenten am Vortag, Studenten der Tschechischen Technischen Universität zu einem Protestmarsch, dem sich zwanzigtausend Personen anschlossen, der in Angriffen auf deutsche und nun auch jüdische Wohnungen mündete.280 Mit Beginn der Nacht vom . November auf den . Dezember entwickelten sich diese Übergriffe nach Frankl zu einem regelrechten antijüdischen Pogrom im Královské Vinorahdy, dem die ca. siebenhundert Mann starke Prager Polizei nicht gewachsen war, so dass am Folgetag das Militär in Aktion treten musste. Ihren Höhepunkt erreichten die Ausschreitungen am . Dezember, als deutsche und jüdische Geschäfte, Wohnungen und Unternehmen  Frankl, The Background, S. ; vgl. zu den Unruhen in Prag und ihren politischen Ursachen auch: Cohen, The Politics, S.  ff.; Helena Krejčová, Pražský prosincový pogrom roku  (Das Prager Pogrom von ), in: Documenta Pragensia , , S. -.  Frankl, Hilsner Case, S. ; Cohen, The Politics, S. .  »German schools, theatres, and nearly one hundred businesses, some of them Czech, suffered assault in « (Cohen, The Politics, S. ). Er bezieht sich dabei auf die konservative tschechische Zeitung Politik vom .. sowie auf die sozialdemokratische Zeitung Pràvo lidu vom . Dezember. Cohen berichtet auch von Quellen, die die unter Tschechen verbreitete Identifizierung von Juden mit den Deutschen belegen. Er zitiert aus einem Buch des Journalisten Willy Haas (Die literarische Welt. Erinnerungen, München , S. ), der sich später an die Schreie der Pogromisten erinnerte: »Deutsche! Juden!« – beide seien für die Tschechen in Prag damals nahezu identisch gewesen und man habe beide gleichermaßen gehasst.

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überall in Prag angegriffen und geplündert wurden.281 In dieser Phase gerieten die sich immer stärker auf die Juden konzentrierenden Unruhen völlig außer Kontrolle, da nun der Prager »Pöbel« die Chance nutzte, wahllos den Besitz von Bürgern zu zerstören oder zu stehlen. Am schlimmsten waren allerdings die Juden betroffen, da die Polizei sie nicht vor den Angriffen schützte. Nach Cohen heizten die führenden tschechischen nationalistischen Politiker und die örtlichen Verantwortlichen während der Unruhen durch antideutsche und z. T. auch antijüdische Bemerkungen die Gewalt weiter an. Am ersten Tag der Unruhen wandte sich der jungtschechische Prager Bürgermeister Jan Podlipný auf einer Versammlung der Stadtverordneten gegen die deutschen Studenten, die von ihren Professoren angestiftet worden seien.282 Am . Dezember gingen die Unruhen weiter, als sich eine große Menschenmenge (an die zweitausend Personen) am Nachmittag versammelte und begann, über sechs Stunden lang jüdische Geschäfte zu plündern und die Synagogen der Josephstadt zu demolieren. Der Einsatz von Militär führte in den engen Gassen der Josephstadt zu »förmlichen Straßenkämpfen«, wobei es zahlreiche Verletzte gab.283 Erst als am . Dezember die Regierung in Wien gegen den Willen des Böhmischen Gouverneurs Coudenhove das Standrecht verhängte, das auch kleinste Übergriffe mit der Todesstrafe bedrohte, ließen die Unruhen nach, doch wurde am Abend des . Dezember noch die Fassade der Synagoge in der Prager Vorstadt Smíchov beschädigt, wo es auch zu Auflehnungen gegen das Standrecht und zu Angriffen auf das Militär kam.284 Damit kamen die Unruhen in Prag zu einem Ende. Erst am . Dezember wurden die Truppen von den Straßen abgezogen, doch kamen weitere Truppenverstärkungen in die Stadt, wo nun das Standgericht gebildet wurde, das am . Dezember seine Tätigkeit aufnahm.285 Nach Krejčová und Mišková hatte es  Vgl. dazu das Telegramm aus Prag vom .. in: Der Israelit, Heft , .., S. , und der Bericht über weitere Vorkommnisse in Prag und seinen Vorstädten (z. B. Weinberge, Smíchow), »Die antisemitisch-czechischen Putsche in Böhmen« (Der Israelit, Heft , .., S.  f.).  Cohen, The Politics, S. . Cohen zitiert aus den Zeitungen Bohemia und Politik vom .. aus dieser Sitzung: »I have heard complaints that the German students are conducting themselves provocatively in the streets and squares (Calls: For shame ! Březnovský; Jewish rabble !), that they themselves were purportedly incited by the professors (Calls: The knife to the professors!), that with their uniforms they provoked our peaceful people in a daring, indeed impudent manner, and in Czech Prague, on this Slavic soil, they dare to sing the Wacht am Rhein!«  Der Israelit, Heft , .., S.  f.; zur Plünderung und Zerstörung seien am . Dezember noch Brandlegungen und Misshandlungen von Deutschen und Juden getreten (Der Israelit, Heft , .., S.  f.).  Frankl, The Background, S. ; Der Israelit, Nr. , .., Beilage S.  f.  Der Israelit, Heft , .., S. , die Zeitung schreibt von der Stationierung von  Bataillonen Infanterie und zwölf Schwadronen in Prag. Vgl. auch Die Welt, Nr. , .., S. , sie berichtet von der Verurteilung von sechs Angeklagten wegen Auflaufs, öffentlicher Gewalttat und Diebstahls zu Freiheitsstrafen von drei Wochen bis zu einem Jahr schweren Kerkers. Die Behörden lösten mit der Vereinigung »Nardoní obrana« (Nationaler Widerstand) auch eine der institutionellen Zentren tschechischer

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einige Tote, viele Verletzte und eine hohe Zahl von Verhaftungen gegeben. Deren Zahl und die Zahl der schließlich Verurteilten soll mehrere Hundert betragen haben.286 Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift schrieb in ihrem »Facit der Prager Excesse«, dass die europäischen Zeitungen immer nur vom »czschechischen Mob« schrieben, dass aber die Anstifter, wie die Rede des Bürgermeisters Podlipny zeige, in den höheren Kreisen zu suchen seien: »Man weiß heute, dass die Anstifter und Führer der Pöbelrotten Angehörige der sogenannten besseren Stände waren, die im Vordergrund der nationalen Agitation stehen und mit den leitenden Persönlichkeiten der jungczechischen Partei intimste Fühlung haben. In den letzten Tagen sind denn auch zahlreiche Verhaftungen in den czechischen Bürgerkreisen vorgenommen worden und man hat damit endlich die wahren Schuldigen gegriffen«. Die Zeitung machte vor allem die jungtschechische Partei für die Übergriffe verantwortlich: »In den Prager Ereignissen ist auch noch etwas Anderes vernichtet worden als das Eigenthum der Juden: der gute Name der junczechischen Partei«.287 Sicher spielten in diesem Fall Politiker und nationalistische Zeitungen als Stichwortgeber für die Unruhen, zumal diese als Antwort auf vorausgegangene Provokationen der Gegenseite legitimiert wurden, eine wichtige Rolle, als Anführer der »Pöbelrotten« hingegen düften die »besseren Stände« kaum fungiert haben. Nachdem die Unruhen in Prag gerade beendet waren, griffen sie nun zwischen dem . und . Dezember  auf andere tschechische Orte wie Beraun, Gitschin, Königgrätz, Melnik und Tabor über, in denen die Läden, Wohnungen und Schulen von Juden angegriffen wurden. Die tschechischen Zeitungen legten in ihrer Berichterstattung über die Ausschreitungen ihren Schwerpunkt ganz auf die Behauptung einer deutschen Provokation, nur das sozialdemokratische Blatt Pràvo lidu verurteilte am .. die Unruhen insgesamt.288 Diese Unruhen hatten einen doppelten Effekt. Einmal gelang den tschechischen Nationalisten nach den Unruhen eine »nationale Säuberung«, da nun viele deutschsprachige Schilder in Prag verschwanden und auch die gegen jüdische und deutsche Nationalisten und Antisemiten auf, da man ihr – wohl eher zu Unrecht – die Organisation der Unruhen unterstellte (Frankl, »Sonderweg« of Czech Antisemitism? S. ).  Krejčová/Mišková, Anmerkungen zur Frage des Antisemitismus, S. ; auch Wein, History of the Jews, S. , schreibt von Verletzten und mehreren Toten, ohne sie einer der Konfliktparteien zuzuordnen.  Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Nr. , .., S.  f.  Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift (»Aus Prag«, Nr. , .., S.  f.) schreibt von den durch und durch parteiischen Berichten aller tschechischen Zeitungen, von denen außer der Pràvo lidu kein einziges Blatt die Ausschreitungen verurteilt und zur Ruhe gemahnt hätte. In allen habe es eine kaum verhohlene Schadenfreude und schüchterne Aufmunterungen gegeben. Die Zeitung berichtet dann weiter über die Berichterstattung einzelner dieser Blätter. Auch die Zeitung Die Welt, Nr. , .., S. , schreibt, dass die Unruhen nach den Vorstellungen der tschechischen Blätter nur die Antwort auf die Provokationen gewesen seien, die es bisher gegeben habe. Die Zeitung fragt sich allerdings, wieso jüdische Trödler und kleine Kaufleute für die Demonstrationen deutscher Studenten verantwortlich sein sollen.

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Geschäfte gerichtete Kampagne »Jedem das Seine« bei diesen zu einem Rückgang des Weihnachtsgeschäfts führte. Nach Cohen waren die Unruhen von  und die neuen Aufrufe zu einem antideutschen Boykott für die Deutschen in Prag eine traumatische Erfahrung, die viele um die Sicherheit ihrer Person und ihres Besitzes in Prag fürchten ließ, zumal es offenbar, unterstützt von den städtischen Behörden, einen täglichen Kampf gegen alles Deutsche in Prag gab und die tschechischen Nationalisten die Deutschen aus Prag verdrängen wollten.289 Andererseits sah sich die böhmische Regierung durch Beschwerden von jüdischer Seite gezwungen, in den Bezirken auf die Unterbindung antisemitischer Propaganda und entsprechender Versammlungen zu dringen und diese genau zu beobachten. Insbesondere in den Schulen sollte man auf die Gefahr der Verbreitung antijüdischer Stimmungen achten.290 Dennoch führten die antijüdischen Ausschreitungen und die Tatsache, dass diese von den Tschechen als »Muster nationaler Selbstbehauptung« gefeiert wurden und die nationale und christlichsoziale Presse antijüdische Stimmungen weiterhin schürte, zu einem wachsenden Zweifel der tschechisch-assimilierten Juden an der Natur des tschechischen Nationalismus, der seinem Selbstbild nach dem Antisemitismus keinen Raum lassen wollte.291 So zitierte die AZJ am Jahresende  aus einem Bericht des »Verbandes der tschechischen Juden«, in dem dieser auf die Parteinahme vieler Juden für die tschechische Sache in der Schul- und Wirtschaftspolitik sowie im Reichsrat und im Landtag hinweist und seiner Enttäuschung darüber Ausdruck verleiht, dass das tschechische Volk es zugelassen habe, »daß einige seiner aufgehetzten Schichten in unsere Wohnungen eingedrungen sind, unsere Gesundheit und unser Leben bedroht haben, unser Vermögen geplündert und geraubt und Niemanden verschont haben.« Der Bericht fragt weiter, wodurch die Juden diesen Hass und Neid herauf beschworen hätten.292 Die Ursache für die Dezember-Unruhen von  sieht Cohen in der Krise der Jungtschechischen Partei, die die Alttschechische Partei als Führer der nationalen Sache abgelöst hatte. Ende  wurde durch die Blockade des Reichsrates deutlich, dass sie ihre nationalen Ambitionen nicht hatte erfolgreich durchsetzen können. Zudem verlor die Partei in den er Jahren gegenüber der neuen Massenbe Cohen, The Politics, S.  f.; Der Berliner Vereinsbote (Nr. , .., S. ) schrieb unter der fett gedruckten Überschrift »Welcher Schandtaten der tschechische Antisemitenpöbel in Prag fähig ist« von einem geplanten Bombenanschlag auf das deutsche Landestheater in Prag. Seitdem würden die deutschen Institute in Prag bewacht.  Frankl, The Background, S. .  Krejčová/Mišková, Anmerkungen zur Frage des Antisemitismus, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f. Unter den Mitgliedern des Verbandes herrschte aber offenbar Uneinigkeit darüber, ob es sich nur um den Hass Einzelner handelte und man die tschechischen Abgeordneten und die tschechische Partei ausnehmen sollte oder ob diese nicht auch involviert waren. Einigkeit schien aber über das Versagen der tschechischen Journalistik zu bestehen, »die kein Wort der Verdammung gegen diese Gewaltthaten gehabt« habe. Aus Sicht der deutschen Juden stünden die Juden in Böhmen und Mähren allerdings vollständig auf der deutschen Seite, die zugleich mit Kultur assoziiert wird, während dem Slawentum Unkultur nachgesagt wird (Berliner Vereinsbote, Nr. , .., S.  f.).

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wegung der tschechischen Sozialdemokratie an Boden, die das nationalistische Programm der Jungtschechen nicht teilte. Auch verlor die Partei Anhänger unter den kleineren und mittleren Bauern. Nach Cohen waren die Dezemberunruhen von  ebenso wie die späteren Ereignisse von / und  Reaktionen auf politische Misserfolge oder aber auf eine Phase besonderer Frustration ihres nationalistischen Programms.293 Die Unruhen in Prag und Nordböhmen von  waren jedoch nur das Vorspiel zu der großen Welle von Ausschreitungen, die sich im Zuge der Hilsner-Affäre zwischen Oktober und Dezember  ereigneten. Noch ohne direkten Bezug zur HilsnerAffäre kam es am . April  in Náchod zu Streikunruhen gegen einen jüdischen Fabrikbesitzer, die sich dann auch aufgrund antisemitischer Hetze in antijüdische Unruhen ausweiteten, bei denen vom frühen Abend bis morgens früh unter den Augen der Behörden und der »fördernden Anteilnahme der bürgerlichen Bevölkerung« der Besitz ansässiger jüdischer Kaufleute geplündert oder zerstört wurde. Erst das Militär aus Josephstadt (Jaroměř) machte den Unruhen dann am Morgen ein Ende, obwohl es von dort für Kürassiere nicht länger als vierzig Minuten nach Náchod gedauert hätte.294 Wein spricht davon, dass es über das Jahr  und zu Anfang  in tschechischen Gemeinden ist Ostböhmen zu vereinzelten lokalen Unruhen gekommen sei, ohne dazu allerdings nähere Angaben zu machen.295 Die antijüdische Gewaltwelle im Zuge der »Hilsner-/Polná-Affäre«  In den Ausschreitungen im Kontext der Hilsner/Polná-Affäre verband sich die Erregung über einen angeblichen Ritualmordfall mit den seit den späten er Jahren bestehenden ethnisch-nationalen Spannungen. So gab der Patriotische Klub von Jičín im Dezember  die Parole aus: »Wer nicht an den Ritualmord glaubt, ist kein Patriot«.296  Cohen, The Politics, S. ; insbesondere die Unruhen von  ähnelten in ihrem Ablauf, ihrer Zielrichtung und ihrer Schwere denen von  (S.  f.).  Bei Josephstadt (Josefov) handelt es sich in diesem Fall um einen Ortsteil der Kleinstadt Jaroměř (Jermer) im Bezirk Náchod. Vgl. AZJ, Jg. , Heft , .. , S. ; gleiche Ausgabe, Beilage Der Gemeindebote, S.  f.  Personen seien unter dem »Verdacht der Teilnahme an den Exzessen« beim Kreisgericht in Königgrätz eingeliefert worden (AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage: Der Gemeindebote, S.  f.). Davon wurden mehrere Personen verurteilt, einzelne sogar zu zwei Jahren Haft (AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage: Der Gemeindebote, S.  f.). Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift (Heft , .., S.  f.) widmete einer Zuschrift zum Thema »Judenplünderungen in Oesterreich« sogar die Titelseite, in der vor allem die Unruhen in Náchod dargestellt wurden. Der Israelit berichtet ebenfalls über die Unruhen in Náchod, geht aber auch auf die Vorgeschichte des Streiks ab Februar  ein (Heft , .., S. ; Heft , .., S.  f.), und er thematisierte auch die »Nachwehen der Exzesse«, d. h. den Boykott jüdischer Geschäfte in Náchod (Heft , .., S. ).  Wein, History of the Jews, S. .  Schroubek, Der »Ritualmord« von Polná, S. .

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Seit der Tiszaezlár-Affäre von  und dem Xantener Fall Buschhoff von / flammten Ritualmordgerüchte in Ost-Mitteleuropa immer wieder auf, so  auch in Böhmen. Zahllose Anschuldigungen führten immerhin zu zwölf Ritualmord-Prozessen im Fin-de-Siècle-Habsburgerreich, doch nur im Fall Hilsner sollte es zu einer Verurteilung des jüdischen Angeklagten kommen.297 Es gab Ritualmordanschuldigungen im zentralböhmischen Nové Benátsky und im mährischen Kojetín und Holleschau (Holešov). Im März/April  gab es in der Osterzeit solche Beschuldigungen in Kolín und Kladno, im ostböhmischen Choceň,  folgten dann Ritualmordgerüchte in Moravská und Třebova im nördlichen Mähren.298 Nur in Kolín mündete die Ritualmordbeschuldigung in gewalttätige Ausschreitungen gegen die Juden des Ortes, die vom Militär unterdrückt werden mussten.299 Die Blutbeschuldigung von Polná, die häufig nach dem vermeintlichen Täter Leopold Hilsner, einem jüdischen Hausierer, auch als Hilsner-Affäre bezeichnet wird, beschäftigte ab  für längere Zeit die Öffentlichkeit in Cisleithanien und in ganz Europa. Im Zuge der Affäre kam es von Mitte Oktober bis Anfang Dezember  zu einer ganzen Kette von  mehr oder minder schweren Demonstrationen und Ausschreitungen in  Orten in Böhmen () und Mähren (), wobei  eine rein antijüdische Stoßrichtung aufwiesen.300 Diese Liste ist nicht ganz vollständig, da kleinere Krawalle in den Dörfern oft von der Presse nicht erfasst wurden.301 Als man in der kleinen Stadt Polná (ca. fünftausendEinwohner, davon etwa fünfzig jüdische Familien), an der böhmisch-mährischen Grenze im Bezirk DeutschBrod (Havlíčkův Brod) gelegen, am Karsamstag, dem . April , die Leiche der Häusler-Tochter Anežka Hrůzovás fand, die schon seit dem . März verschwunden war, deren Verschwinden aber weder Mutter noch Bruder bis dahin angezeigt hatten, fiel der Verdacht bald auf den jüdischen Hausierer Leopold Hilsner, obwohl angesichts des ortsbekannten Erbschaftsstreites zwischen Anežka und ihrem Bruder bei ihrem Verschwinden sich der Tatverdacht zunächst gegen die Familie gerichtet hatte.302 Martin Wein hält die örtlichen Spannungen zwischen der tschechischen Mehrheit des Ortes mit den deutschen und jüdischen Einwohnern für einen wich-

   

Wein, History of the Jews, S. . Kieval, Languages of Community, S. -. Ebd. Eine chronologische tabellarische Übersicht über die antijüdischen und antideutschen Vorfälle mit Kurzcharakteristiken geben: Krejčová/Mišková, Anmerkungen zur Frage des Antisemitismus in den Böhmischen Ländern, S. . Laut Volkszählung von  stellten die Juden in Böhmen in  Gemeinden mit . Personen ,  der Bevölkerung, in Mähren machten . Juden   aus, die fünfzig Gemeinden bildeten.  Frankl, From Boykott to Riot, S. .  Schroubek, Der »Ritualmord« von Polná, verweist darauf, dass, abgesehen von der erhöhten religiösen antijüdischen Stimmung an Karfreitag und Ostern, der . April im Volksaberglauben als Geburtstag von Judas und somit als Unglückstag galt (S. ). Eine genaue Darstellung der Umstände der Auffindung der Leiche und ihres Zustandes findet sich bei Kieval, Representation and Knowledge, S. .

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tigen Faktor für die Wahl Hilsners als »Sündenbock«.303 Wie in vielen anderen »Ritualmordfällen« war es die klaffende, etwa acht Zentimeter lange Wunde am Hals der schließlich auf dem Weg von ihrer Arbeitsstelle nach Hause aufgefundenen, halbnackten und angeblich blutleeren Leiche,304 die die Betrachter an koscheres Schächten erinnerte, was den Verdacht auf die Juden umlenkte, den Ritualmordtopos aktivierte und sogleich Polnáer Zeugen, die Belastendes gesehen oder gehört haben wollten, zur Verbreitung von Gerüchten animierte. Dies zeigt nach Georg Schroubek, wie lebendig der Blutaberglaube in Polná auch  noch war. Er spricht von einer hochgradigen »Exspektanz« für neue »Ritualmordfälle«, verbunden mit dem entsprechenden »Wissen«.305 Man verhaftete drei Tage nach Auffinden der Leiche Leopold Hilsner, dessen Täterschaft bereits am Tag der Auffindung der Leiche als Gerücht im Ort umlief, obwohl es überhaupt keinen Beleg für seine Verbindung mit diesem Verbrechen gab und eine Hausdurchsuchung bei ihm ergebnislos verlaufen war.306 Wie in den anderen Fällen auch, wurde letztlich die jüdische Gemeinschaft insgesamt verantwortlich gemacht, denn nach Hilsners Verhaftung am Osterdienstag  kam es in Polná zu Unruhen. Eine vielköpfige Menge schlug unter den Rufen »Auf gegen die Juden!«, »Nieder mit den Juden« und »Die Juden haben Hruza ermordet« Fenster jüdischer Läden und Wohnungen ein und sang beim Umzug durch die Stadt ein nationalistisches Kampflied.307 Die Vorgänge in Polná lösten eine Anzahl von lokalen Unruhen in der Umgebung  Es gab in Polná eine deutsch-jüdische Grundschule, die zugleich als Unterkunft für durchreisende Juden genutzt wurde. Sie wurde als Quell der »Germanisierung« von den tschechischen Einwohnern abgelehnt, und ihre Schließung war bereits geplant gewesen. Hilsner hatte diese Schule besucht, und seine Mutter wohnte dort im Souterrain. Die Schule war also eine deutsche Einrichtung, die in einem tschechischsprachigen Ort in einer deutschsprachigen Exklave im tschechischsprachighen Ostböhmen ein Ärgernis darstellte (Wein, History of the Jews, S.  f.).  Vgl. eine detaillierte Beschreibung der Leiche und des Tatortes in der jüdischen Zeitung Die Welt, Heft , .., S.  f.  Schroubek, Der »Ritualmord« von Polná, S.  ff. Er gibt eine kurze Übersicht über die  in den zehn Jahren vor dem Polná-Fall in den böhmischen Ländern behaupteten Ritualmorde bzw. entsprechenden Versuche (S. ).  Kieval vermutet, dass »his generally unsavory personality seems to have been one important factor working against him: he was a barely literate Luftmensch who at time exhibited bizarre behavior.« (Representation and Knowledge, S. ). Hilsner hatte zudem die Angewohnheit, in dem Wald herumzuwandern, in dem die Leiche des Mädchens gefunden wurde. Ein Dorfbewohner wollte ihn dort am . März, allerdings am Vormittag, gesehen haben. Auch Schroubek hebt hervor, dass die örtlichen Zeugen das abstoßende Äußere Hilsners betonten und dieses mit negativen Verhaltensweisen verknüpften, was wiederum einen Vertreter der Nebenklage im Prozess zu rassenantisemitischen Ausführungen über die Juden (»widerwärtige Rasse«) motivierte (Der »Ritualmord« von Polná, S. ).  Die Welt, Heft , .., S.  f., spricht von dreihundert stummen Zuschauern aus den besseren Kreisen (vgl. auch Schroubek, Der »Ritualmord« von Polná, S. ). Nach Schroubek waren es diese Unruhen und die Volksstimmung, die den Untersuchungsrichter Friedrich Reichenbach, der nicht an die Richtigkeit der Ritualmordbeschuldigung

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aus,308 und auch in Polná sollten dies nicht die letzten gewesen sein. Im Zuge der Welle antijüdischer Gewalt von Oktober bis Dezember  kam es Ende Oktober auch dort zu Unruhen größeren Ausmaßes, an denen sich auch die Bewohner der Umgebung beteiligten.309 Der Fall erregte bald überregionale Aufmerksamkeit, vor allem durch die Aktivitäten des Antisemiten und Redakteurs des Prager Blattes České zájmy (Tschechische Interessen), Jaroslav Hušek, dem es über den antisemitischen Abgeordneten Ernst Schneider gelang, den Fall vor den Justizminister zu bringen.310 Schroubek hebt neben der Bedeutung der publizistischen Initiative Hušeks auch dessen Rolle bei der Gründung eines örtlichen, sehr großen Einfluss ausübenden Rechtskomitees hervor, das durch die Mitwirkung von führenden Gemeindevertretern einen offiziellen Anstrich erhielt und durch die Teilnahme von antisemitischen in- und ausländischen Journalisten in die nationale wie internationale Öffentlichkeit hineinwirkte. Wein weist zudem auf die wichtige Rolle des Anwalts der Opferfamilie, Karel Baxa, hin, der als Mitglied der antisemitischen radikalen Staatsrechtspartei ebenfalls maßgeblich daran beteiligt war, den Fall zu einem Ritualmordfall gegen Hilsner zu machen, sah er darin doch eine gute Chance zur Förderung seiner Anwaltskarriere.311 Zudem übernahm das Komitee, wie wir es ähnlich auch im Fall der Unruhen in Pommern und Westpreußen  gesehen hatten und  auch in Konitz wiederfinden werden, die Rolle einer privaten Ermittlungsinstanz, die eigenmächtig Zeugenaussagen sammelte. So wurde es zur »Schaltstelle für den sich im Kreise drehenden Informationsfluss«.312 Dies fachte den Antisemitismus in der mährischen Gesellschaft neu an, zumal Hilsner, der allerdings nicht wegen eines »Ritualmordes« angeklagt worden war, in einem aufsehenerregenden und unter verstärkter Gendarmeriebewachung stattfindenden Prozess in Kutná Hora (Kuttenberg, vom .-.) am . September  wegen Mittäterschaft und wegen eines weiteren Mordes313 zum Tode verurteilt

 

 

 

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glaubte, dazu veranlassten, die eigenmächtige Verhaftung Hilsners durch den örtlichen Gendarmeriepostenführer zu bestätigen. Wein, History of the Jews, S. . Dem Bürgermeister, der bei der antisemitischen Agitation selbst eine führende Rolle spielte, wurden dabei Ovationen dargebracht, und er ließ die Dinge am Abend mehrere Stunden ungestört laufen. Es blieb aber im Wesentlichen beim Einwerfen der Fenster jüdischer Häuser. Erst am nächsten Tag kamen weitere Gendarmen zur Verstärkung in den Ort (Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. ). AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.; Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S.  f. Näheres zur Person und späteren großen politischen Karriere Baxas, dem Wein vorwirft, Hilsner fast umgebracht und die Fäden hinter den antijüdischen Unruhen im November  gezogen zu haben, siehe: Wein, History of the Jews, S.  bzw. -. Es gab jedoch auch Gegenkräfte, so traten die Sozialdemokratische Partei und die Tschechische Fortschrittspartei (Česká strana pokroková) von Tomáš G. Masaryk, aber auch die Juden Cisleithaniens als Verteidiger Hislners auf. Schroubek, Der »Ritualmord« von Polná, S.  ff. Man schob Hilsner noch den Mord an dem jungen Mädchen Marie Klima in die Schuhe, das seit Juli  verschwunden war und dessen Leiche man im Oktober  in einem

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wurde.314 Dies war das erste und einzige Mal in der Serie der Blutbeschuldigungen Ende des . Jahrhunderts, dass der vermeintliche jüdische Täter verurteilt wurde, allerdings wegen Mittäterschaft bei einem Meuchelmord und nicht bei einem »Ritualmord«, auch wenn über den Verhandlungen der »wahnwitzige Glaube an die Blutlüge« schwebte.315 Bereits während und kurz nach dem Prozess kam es aufgrund der »antisemitischen Verhetzung« seitens antisemitischer Zeitungen und Flugzettel vielerorts zu »starker Erregung«, so dass die Gendarmerie verstärkt werden und im »Judenviertel« patrouillieren musste. Es gab auch immer wieder geringfügige Angriffe auf jüdische Läden und Wohnungen, deren Firmenschilder beschmiert und Fenster eingeworfen wurden, wobei die dabei gerufenen Slogans »Gehen wir gegen Hilsner« (Pojdme na Hilsnera) einen deutlichen Bezug zur Polná-Affäre zeigten.316 Hilsner wurde zum Objekt zahlreicher reißerischer Biographien, es wurden Gipsfiguren und Bildkarten verbreitet. Die Ritualmordanschuldigung fokussierte die Kommunikation in der Bevölkerung vielerorts auf die Juden, und Gerüchte und ein erstes gewaltsames »Probehandeln« erzeugten die für den Ausbruch von Unruhen nötige Pogromstimmung. Zu dieser ohnehin aufgeheizten Stimmung kam hinzu, dass antijüdische Stimmungen in den böhmischen Ländern durch den anhaltenden Streit um die Sprachenverordnungen, der zu wenig tragfähigen Lösungen, dem Sturz von Regierungen, bald wieder aufzuhebenden Verordnungen und einer Obstruktionspolitik der tschechischen Abgeordneten führte, weiter verstärkt wurden. Die nationaltschechischen Zeitungen, wie die Národní listy, riefen schon vor Beginn der Wiedereröffnung der Parlamentssaison von  zur Begleichung der »offenen Rechnungen mit den Feinden« auf,317 und der Israelit Wald bei Polná aufgefunden hatte. Vgl. dazu Arthur Nussbaum, Der Polnaer Ritualmordprozess. Eine kriminalpsychologische Untersuchung auf aktenmässiger Grundlage, Berlin , S.  f. (Text verfügbar unter: https://archive.org/details/derpolnaerritualiszgoogle).  Zum Prozessverlauf in Kuttenberg AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. -; Heft , .., Der Gemeindebote, S. . Nachdem Hilsners Todesurteil auch im Berufungsverfahren Bestand hatte, begnadigte ihn Kaiser Franz Joseph I. zu zwanzig Jahren Haft, die Hilsener dann auch fast ganz absaß. Eine vernichtende Kritik des Hilsner-Verfahrens findet sich in der Publikation des Berliner Anwalts Arthur Nussbaum: Der Polnaer Ritualmordprozess.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; gegen diese von antisemitischer Seite in den Prozess hineingetragene Beschuldigung erhoben mehrere jüdische Kultusgemeinden Protest beim Ministerpräsidenten und Justizminister (AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. ).  Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S.  (erwähnt werden hier die Orte Prag, Groß-Meseritsch und Mährisch-Ostrau, in Heft , .., S.  auch Czaslau).  Krejčová/Mišková, Anmerkungen zur Frage des Antisemitismus, S. ; bereits am . Oktober  wandte sich ein Trupp betrunkener Rekruten plötzlich dem Judenviertel zu und begann Juden unter dem Ruf »Ihr Hilsners! Ihr müsste alle hin werden! Erschlagt sie !« zu misshandeln und Kleidungsstücke in die Luft zu werfen. Gerade noch rechtzeitig erschien eine Wachabteilung, die die Tumultuanten aus der Gasse hinausdrängte (AZJ,

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schrieb am . Oktober , dass der Polnaer Prozess und die Aufhebung der Sprachenverordnungen in der »slavischen Bevölkerung Mährens eine hochgradige Erregung auslösten, die durch Agitatoren genährt, ihren Ausdruck in wüsten Demonstrationen gegen die jüdische Bevölkerung unseres Kronlandes fand.«318 Schon am ersten Tag der neuen Reichsratssitzungsperiode, am . Oktober , kam es zu ersten antideutschen Demonstrationen in Prag, Josephstadt (Josefov) und Proßnitz (Prostějov), wobei sich in Prag die Übergriffe auch schon auf Juden ausweiteten, während sich in Prerau (Přerov), Jaroměř, Kuttenberg und Laun die Unruhen am . Oktober bereits ausschließlich gegen Juden richteten.319 Da sich Deutsche wie Juden gleichermaßen angegriffen sahen, konnte es dazu kommen, dass in Orten mit einer deutschen Gemeindevertretung diese sich besonders für die Sicherheit auch der Juden am Ort verantwortlich fühlte und wie in Mährisch-Weißkirchen energische Vorsorgemaßnahmen traf.320 Die erste Welle der  Ausschreitungen, die sich ausschließlich gegen Juden richteten, davon  in Böhmen, dauerte von Mitte Oktober bis Anfang November,321 als die Vorfälle immer seltener wurden und die Stationierung von Militär, das zum Teil aus Österreich herbeigezogen wurde, zunahm.322 An einigen Orten, wie in Brünn, gab es vier Tage lang antideutsche Kundgebungen und Umzüge, die dann vom . bis . Oktober in primär

 

 

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Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S.  f.). Die AZJ sah die Aufhebung der Sprachenverordnungen nur als ein Signal »zum Losbruch der nach Gewaltthaten, Plünderungen, Brand und Blutvergießen lüsternen Pöbelmassen, die eigentliche Triebkraft ist der Haß gegen die Juden, der durch die agitatorische Ausbreitung des Mädchenmordes in Polna […] bis zum blindwütigen Fanatismus erhitzt worden ist« (Jg. , Heft , .., S. ). Der Israelit, Heft , .., S.  f. Krejčová/Mišková, Anmerkungen zur Frage des Antisemitismus, S. ; in der chronologischen Übersicht finden sich noch weitere Orte wie Boskovice, Brünn u. a. (S. ). In der Darstellung der Neuen Freien Presse, .., S.  f., Abendblatt, S.  f., richteten sich die frühen Unruhen in Böhmisch-Brod, Jungbunzlau, Zizkov und Prag vor allem gegen die Obrigkeit. Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. , und .., Abendblatt S. . Vgl. die Übersicht über die antijüdischen und antideutschen Vorfälle mit Kurzcharakteristiken in: Krejčová/Mišková, Anmerkungen zur Frage des Antisemitismus, S. . In den jüdischen Zeitungen in Österreich und Deutschland finden sich immer wieder kleinere Meldungen zu Ausschreitungen in einzelnen Orten, z. B. aus Ušzšcki, von wo sechzig abgebrannte Häuser und  obdachlose Familien gemeldet werden, in Gaja soll der jüdische Tempel in Flammen stehen. Diese ersten Meldungen enthalten allerdings in vielen Fällen weit übertriebene Angaben (Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S. ) oder es handelt sich gar um Falschmeldungen, z. B. im Falle der Stadt Göding, wo zunächst Unruhen gemeldet, dann aber später wieder dementiert wurden (Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. ). Dabei zeigen die Berichte, dass Polizei, Gendarmerie und Militär wirkungsvoll zur Unterdrückung weiterer Unruhen beitrugen, häufig aber beim erstmaligen Auftreten von Unruhen durch den Mangel an Einsatzkräften vor Ort überfordert waren und diese nicht zu stoppen vermochten (vgl. zum Erfolg solcher Einsätze der Ordnungskräfte etwa in Prag, Weinberge, Ungarisch-Hradisch am .. Neue Freie Presse vom .., S. ).

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antijüdische Versammlungen und Ausschreitungen übergegangen sein sollen, gegen die Militär aufgeboten werden musste.323 An anderen Orten waren die Umzüge und Kundgebungen, die sich gegen die Aufhebung der Sprachenverordnungen wandten, sogleich gegen die Juden gerichtet.324 An vielen Orten blieb es aber auch bei Protestumzügen von mehreren hundert Personen, die sich gegen die Aufhebung der Sprachenverordnung richteten und bei denen es zu keinerlei Übergriffen kam.325 Ein Redner auf einer Versammlung jüdisch-nationaler Vereine in Wien am . November  erkannte in diesen Unruhen ein gewisses Muster: »Erst Gerüchte, dann Ansammlungen, Absingung tschechischer Hetzlieder, hierauf das Geklirr eingeschlagener Fenster in jüdischen Wohnungen, endlich Brand und Plünderung«.326 Krejčová und Mišková betonen, dass zwischen der nationalen Zusammensetzung der jeweiligen Ortsbevölkerung und dem Ausmaß der Krawalle kein Zusammenhang zu erkennen ist, doch zeigt ihre Liste sehr deutlich, dass es sich um ganz überwiegend von Tschechen bewohnte Orte handelte, in denen sowohl die Deutschen wie auch die Juden eine z. T. sogar verschwindend kleine Minderheit bildeten: So lebten, um ein typisches Beispiel zu nehmen, in Böhmisch-Trübau (Česká Třebová) . Tschechen,  Deutsche und  Juden.327 Für die beiden Autorinnen war  Vgl. Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., Abendblatt, S.  f. In der Brünner Zeitung vom . und .. (S.  bzw. ) finden sich allerdings nur zwei knappe Berichte über eine »Demonstration« einiger hundert tschechisch-nationaler Arbeiter, die nach einer turbulent verlaufenen Versammlung durch die Straßen zogen und Fensterscheiben einwarfen, u. a. die des Geschäfts der deutschen Firma Thonet. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen. Von einer antijüdischen Zielrichtung des Krawalls ist in der Zeitung nicht die Rede.  Vgl. zu dieser Auflistung Krejčová/Mišková, Anmerkungen zur Frage des Antisemitismus, S. .  Siehe viele Beispiele (Przibram, Chotibor, Senftenberg, Rokitzan) in: Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., Abendblatt S. ; weitere Beispiele waren Starkenbach, Klinsko, Dobruska (ebd. am ..); reine Protestumzüge soll es auch in Gaya, Kolin, Czaslau (Čáslav), Münchengrätz, Prerau am .. gegeben haben. Offenbar gab es zunächst in manchen Orten, wie Prerau, friedliche politische Demonstrationen, die einige Tage später in heftige antijüdische Unruhen übergingen, während es laut eines Berichts von Protestversammlungen und Umzügen in Pilsen, die sich wegen der Aufhebung der Sprachenverordnungen primär gegen die Regierung richteten, zwar auch zu antijüdischen Schmährufen vor dem jüdischen Tempel gekommen sein soll, die aber nicht in Ausschreitungen gegen Juden mündeten (Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S.  f.).  Neue Freie Pressse, .., Abendblatt S. .  Krejčová/Mišková, Anmerkungen zur Frage des Antisemitismus, S. . Dabei finden sich z. T. allerdings auch sehr unwahrscheinliche Konstellationen: So sollen in dem Ort Deutsch-Gabel (Jablonné v Podještědí im Kreis Böhmisch Leipa) nur zehn Tschechen und sechs Juden, aber . Deutsche gewohnt haben. Trotzdem soll es zu antideutschen und antijüdischen Kundgebungen und Umzügen gekommen sein, was bei den Mehrheitsverhältnissen sehr unwahrscheinlich klingt (S. ). Laut Zensus des Jahres  lebten in Mähren .. Menschen tschechischer Sprache (, ), . Deutsche (, ) und . Juden (, ) (vgl. Frank, From Boykott to Riot, S. ).

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der Antisemitismus zunächst primär ökonomisch bedingt, doch rückte der Ritualmordvorwurf im Zuge des aufsehenerregenden Hilsner-Prozesseses immer mehr in den Vordergrund, was sich in den mit Tierblut ausgeführten Schmierereien an den Türen jüdischer Häuser bemerkbar ausdrückte. Als weiteres Motiv neben der Judenfeindschaft sehen die beiden Autorinnen den Patriotismus, den man auf diese Weise demonstrieren wollte. In vielen mährischen Städte schwelten nämlich seit den er Jahren intensive Konflikte zwischen den deutschsprachigen Liberalen, die ökonomisch, sozial und politisch dominierten, und den tschechischen Nationalisten um die Macht in den Gemeinden, wobei die Juden zu einem Faktor in diesen Machtkämpfen wurden, was von Seiten der tschechischen Nationalisten mit Boykottkampagnen gegen jüdische Geschäfte beantwortet wurde.328 Angefacht und weiter verbreitet wurde diese Gewaltwelle auch durch die antijüdisch ausgerichtete Berichterstattung und Kommentierung in den Zeitungen, in denen die Schuld im Benehmen der Juden gesehen wurde, das alle Tschechen ohne Unterschied habe zu Antisemiten werden lassen. Von jüdischer Seite wurde beklagt, dass bei dieser »Aufreizung gegen eine gesetzlich anerkannte Religionsgenossenschaft« die vorhandenen Strafgesetze nicht angewandt würden.329 Die Zeitungen verwiesen auch immer wieder auf herumziehende Agitatoren, die die Bevölkerung insbesondere auf dem Lande aufzuhetzen suchten.330 So führte die Národní listy bereits ab dem . Oktober  eine spezifische Rubrik (»Demonstrationen in Böhmen und Mähren«) ein, in der jeweils kurze Schilderungen der antijüdischen Vorkommnisse gegeben wurden.331 Die meisten dieser Unruhen wiesen ein relativ geringes Gewaltniveau auf, sie beschränkten sich auf durch Johlen und Gesänge begleitete Umzüge, bei denen häufig Fensterscheiben eingeworfen wurden, die aber oft auch durch rechtzeitigen Gendarmerie- und Militäreinsatz gestoppt werden konnten (Brünn, ..,332 Kremsier, ..; Napajedla, -/..; Neustadt a. d. Mettau (Nové Město nad Metují), .-.. u. a.),333 doch gab es auch einige, süd Michal Frankl, »Jerusalem an der Hana«. Nationaler Konflikt, Gemeindewahlen und Antisemitismus in Mähren Ende des . Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung , , S. -; auch Frankl, From Boykott to Riot, S. .  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., Abendblatt S. .  Z. B. Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S.  (Bericht zu Ungarisch-Hradisch).  Ebd., S. .; die Neue Freie Presse aus Wien berichtete ab dem .. ebenfalls täglich unter der bezeichnenden Rubrik »Czechische Excesse« über diese Unruhen  Vgl. den Artikel »Czechische Exzesse« in der Neuen Freien Presse, .., S. , wonach das sofortige energische Einschreiten der städtischen Polizei die Ausschreitungen schnell unterband,  Personen verhaftet und sofort abgeurteilt wurden. Die Berufe der Verhafteten belegen, dass sich ein recht breites soziales Spektrum an den Unruhen beteiligt hatte: neben Lehrlingen und Handwerksgehilfen waren darunter auch Handwerksmeister, Techniker, Bauunternehmer, Gymnasiasten usw. Ähnlich in der Brünner Zeitung vom . und .., S.  und .  Die Neue Freie Presse gab Kurzberichte über kleinere Vorkommnisse in Pardubitz, Rakonitz, Adler-Kosteletz und Pecek (.., S. ), Czaslau, Rožnow, Zubři (Zubern), Leipnik, Lettowitz, Boskowitz (Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. ), so ging es Tag für Tag in der Zeitung weiter. Der Israelit, Heft , .., S. , widmete

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Antijüdische Ausschreitungen in Böhmen und Mähren im Zuge der Hilsner/Polná-Affäre  (Auswahl aus  Orten)

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östlich von Olmütz/Olomouc gelegenen Orte, wie Prerau (Přerov, ..), Holleschau (Holešov, ./..) oder Wsetin (Vsetín, ..), wo es zu schweren Unruhen kam,334 an denen große Menschenmengen von fünfhundert bis zu dreitaused Personen teilnahmen und bei denen durch Militäreinsatz Tumultuanten getötet und schwer verletzt wurden, da die unterbesetzten Ordnungskräfte selbst zum Ziel massiver Angriffe wurden und sich nur noch durch den Gebrauch von Schusswaffen oder Bajonetten zu helfen wussten. In allen drei Fällen gingen die Unruhen aus tschechisch-nationalistischen Versammlungen hervor, an denen Mitglieder der tschechischen Elite wie der Bürgermeister und andere örtliche Honoratioren teilgenommen hatten.335 Am Beispiel von Holleschau, wo es am . und . Oktober  zu den schwersten Unruhen kam, lassen sich einige Eskalationsbedingungen erkennen.336 Nach Frankl widersprechen sich in diesem Fall die Berichte von Augenzeugen, Offiziellen, Journalisten und Politikern in besonders hohem Maße. Die Berichte tschechischer und jüdischer Zeugen stimmen zwar, was Ort und Zeitangaben betrifft, überein, divergieren aber in der Beschreibung der Ursachen und des Verlaufs der Ereignisse.337 Als ein Beispiel für die Schwierigkeiten, vor der eine Darstellung antijüdischer Ausschreitungen steht, werden im Folgenden einmal die in der Presse zu findenden Darstellungen und zum anderen die Rekonstruktion von Michal Frankl wiedergegeben, der seine Darstellung vor allem auf die offiziellen Berichte in den Archiven stützt.

 





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den »Brandstiftungen und Plünderungen in den jüdischen Gemeinden Mährens« in einer Beilage einen langen Leitartikel, in dem er diese als »praktischen Antisemitismus« hinstellte. Vgl. dazu Frankl, From Boykott to Riot, S. -. Ebd., S. . Siehe die chronologische Übersicht, S.  ff.; Berichterstattung der Neuen Freien Presse ab dem ..; siehe insbesondere die offizielle Darstellung, die der Innenminister in der Beantwortung einer Interpellation zu den Ereignissen in Wsetin gab (ebd., .., S.  f. Dort soll es zwei Tote und  Verletzte gegeben haben; vgl. Neue Freie Presse. Morgenblatt, ebd., Abendblatt S. , in derselben Ausgabe ist später von sechs Toten und  Verwundeten die Rede (Abendblatt S. ). Einen ausführlicheren Bericht findet man in der Neuen Freien Presse, .., S. , in dem von zwei, dann von drei Toten gesprochen wird. Die sich ändernden Angaben hängen zumeist damit zusammen, dass einige der Schwerverletzten später noch ihren Verletzungen erlagen. Zu Wsetin auch: Der Israelit, Heft , .., S.  f., in dem auch besonders das hohe Maß an Gewalt der aus ca. sechshundert bis siebenhundert Personen bestehenden Menge gegenüber den Gendarmen betont wird, die mit Steinen beworfen und verhöhnt wurden. Frankl, From Boykott to Riot, S. , spricht von drei Toten, zwei Schwerverletzten und zwölf leichter verletzten Personen. Nach Auffassung des Israeliten, Heft , .., S.  f., hatte sich in Holleschau schon seit dem Kuttenberger Mordprozess gegen Hilsner eine feindselige Stimmung bemerkbar gemacht, die den Bürgermeister hätte zu Sicherheitsvorkehrungen veranlassen müssen, was aber nicht geschah. Vgl. Berichte zu den heftigen Ausschreitungen in Holleschau auch in: Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S.  f.; .., S. , und dort auch im Abendblatt S.  ff. (»Plünderung und Brandstiftung in Holleschau«), .., S. . Frankl, From Boykott to Riot, S. .

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– Nach der Darstellung eines jüdischen Flüchtlings, der aus Holleschau338 nach Wien geflüchtet war, in der Neuen Freien Presse spielten offenbar der »czechische Antisemit«, Journalist und Druckereibesitzer des Ortes Lambert Klabusay und seine Arbeiter, die sich Samstagnacht ins Judenviertel begaben, wo sie mit Gewalt drohten, eine Schlüsselrolle. Ausgangspunkt der Unruhen war dann die Intervention eines jüdischen Polizisten bei einer Schlägerei, woraufhin er von zwei Angreifern verprügelt wurde. Damit begannen erste kleinere Ausschreitungen.339 Zwar waren zuvor Gendarmerie und Polizei (zusammen nur acht Mann) alarmiert worden und sollten patrouillieren, doch beteiligten sich einige von ihnen wohl an Zechgelagen mit dem Druckereibesitzer. So konnte es in der Nacht zu ungehinderten, wenn auch nur punktuellen Ausschreitungen im Judenviertel kommen. Am nächsten Morgen erschienen überall in der Stadt Plakate, die die Bevölkerung aufforderten, am Sonntagabend gegen die Juden loszugehen. Der Druckereibesitzer stellte Literatur zur Hilsner-Affäre aus und seine Arbeiter agitierten mit Flugblättern zur »Blutlüge« in den Straßen, wobei nun offenbar auch Bauern aus der Umgebung in die Stadt gekommen waren. Tatsächlich begann am Nachmittag gegen  Uhr das Steinewerfen gegen jüdische Häuser, an dem sich, angeführt von Erwachsenen, auch Schuljungen sowie weitere »intelligentere Elemente«, darunter auch bessergekleidete Frauen und Mädchen, beteiligten. Mit ausschlaggebend für die weitere Eskalation war, dass der Bezirkshauptmann die Bitte zweier Vertreter der jüdischen Gemeinde ablehnte, Militär in die Stadt zu beordern. Bald nach  Uhr begannen die Plünderungen und Zerstörungen der jüdischen Geschäfte und Wohnhäuser, für die sich die Täter zuvor mit dem entsprechenden Werkzeug versehen hatten, sowie das Erpressen von Geld. Man  Holleschau war eine Stadt von siebentausend überwiegend tschechischen Einwohnern, darunter mit ca. eintausend Personen eine große jüdische Minderheit, wobei die ärmeren Juden in einer aus mehreren Gassen bestehenden »Judenstadt« wohnten, die ihren eigenen Bürgermeister und auch eigene Polizeikräfte hatte. Die wohlhabenderen Juden waren in die Christenstadt gezogen (Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., Abendblatt, S. ). Seit den er Jahren wurde Juden in den mährischen Städten ein eigener Bezirk zugewiesen, so dass hier separate christliche und jüdische politische Gemeinden entstanden, wobei Letztere eher einen deutschen Charakter aufgewiesen haben sollen. In den er Jahren gab es noch  solcher jüdischen Communities. Insgesamt kam es aber in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts zu einer Verwischung der Trennlinien, zumal viele jüdische Kaufleute ihre Läden im christlichen Teil der Orte eröffneten, was zu Animositäten mit den christlichen Einwohnern führte und diese Läden zu den primären Zielen der Ausschreitungen machte, und die alten Judenstädte von den jüdischen und christlichen Unterschichten bewohnt wurden. Diese ethnoreligiöse Topographie der Orte war allen Beteiligten bekannt (Frankl, From Boykott to Riot, S.  f.)  Dazu und zum Folgenden: Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S.  ff.; auch die tabellarische Übersicht bei Krejčová/Mišková, Anmerkungen zur Frage des Antisemitismus, S. . Es gab wohl Hinweise, dass diese Unruhen planmäßig vorbereitet worden waren, da Bauern aus der Umgebung erzählten, sie hätten schon vor acht Tagen gehört, dass bestimmte Judenhäuser in die Luft gesprengt und geplündert werden sollten (Neue Freie Presse. Abendblatt, .., S. ).

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ging sogar daran, das Haus des Rabbiners völlig abzureißen.340 In dieser kritischen Situation griffen gegen halb acht Uhr die wenigen örtlichen Gendarmen ein und eröffneten, nachdem die Menge sich nicht zerstreuen wollte, das Feuer und verletzten einen letztlich Unbeteiligten schwer.341 Die Menge wandte sich nun gegen die Gendarmen und ihre Kaserne, doch konnte die nun eingetroffene Infanterie die Unruhen beenden. Durch den Militäreinsatz waren weitere Tote und Verletzte zu beklagen (Bilanz: vier Tote, wobei zwei von ihnen Frauen gewesen sein sollen, zehn schwer- und zehn leichtverletzte Teilnehmer). Das Begräbnis von dreien der Getöteten fand unter massenhafter Beteiligung von ca. dreitausend Personen, was immerhin zwei Dritteln der gesamten nichtjüdischen Bevölkerung des Ortes entsprach, und unter Militärschutz statt. Als die Menge versuchte, den Militärkordon zu durchbrechen, wurden mehrere Personen durch Bajonettstiche bzw. Schüsse schwer verletzt, von denen später drei starben. Die Menge zerstreute sich erst nach »wiederholten Mahnungen des Bezirkshauptmanns«.342 Letzterer ordnete aufgrund der anhalten Spannungen die Schließung von Gasthäusern ab  Uhr an und ließ den Wochenmarkt absagen.343 In der folgenden Darstellung Frankls wird dem Verhalten auf jüdischer Seite in der angespannten Lage eine gewisse Mitverantwortung für die Auslösung der Unruhen zugeschrieben, da die Verletzung eines christlichen Bürgers einen provokativen Normbruch darstellte, den dieser zu Eskalation der Lage zu nutzen wusste. – Nach der Darstellung, die Frankl auf der Basis von Archivberichten gibt, spielt Klabusay ebenfalls eine Schlüsselrolle, doch liest sich der auslösende Vorfall nun etwas anders.344 Am Samstagabend, dem . Oktober , kam eine Gruppe von Personen zusammen und sang nationalistische tschechische Lieder, wor Wie auch schon in anderen berichteten Fällen gab es auch hier eine Anschuldigung, in diesem Fall gegen den Polizeikommissar der Judengemeinde, er habe aus seinem Haus auf die Tumultuanten geschossen. Er wurde daraufhin in Haft genommen.  Der zunächst als ein Hauptbeteiligter bezeichnete Mann hatte nur seine zwei Kinder nach Hause bringen wollen und war dabei erschossen worden (Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. ).  Neue Freie Presse. Abendblatt, .., S.  (»Czechische Demonstrationen und Excesse«); auch .., S. .  Immer wieder ordneten Behörden bei kritischen Vorkommnissen Vorsorgemaßnahmen an. So z. B. bei sog. Kontrollversammlungen für Reservisten, wo sich eine große Menge junger Männer versammeln musste. Das verantwortliche Militär in Gaya handelte verantwortungsvoll, so dass die befürchteten Ausschreitungen unterblieben (Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. , und .., S.  f.; man wollte Gewalt auch dadurch verhindern, dass man eine Kontrollversammlung bei schwieriger Lage absagte bzw. verschob, bis genügend Militär zum Schutz vor Ort war, wie in Polička geschehen (Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. ).  Frankl, From Boykott to Riot, S.  ff.

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aufhin zwei Personen wegen aggressiven Verhaltens in der Judenstadt verhaftet wurden. Die Führer der jüdischen Gemeinde befürchteten bevorstehende antijüdische Übergriffe und verstärkten ihre Ordnungskräfte. In dieser Situation begleitete der besagte Journalist und Druckereibesitzer Klabusay einen seiner Angestellten, der im jüdischen Viertel wohnte, aus einer Gastwirtschaft nach Hause. Hier trafen die beiden auf den Bürgermeister der jüdischen Stadt, Salomon Zwillinger, und jüdische Polizisten. Über das, was in diesem Augenblick geschah, gehen nun die Darstellungen auseinander. Während die tschechische Seite behauptete, Klabusay und sein Begleiter seien ohne jede Vorwarnung blutig geschlagen worden, habe nach Darstellung eines jüdischen Zeugen Zwillinger Klabusay zunächst aufgefordert, sich ruhig zu verhalten. Vermutlich wurde Letzterer erst attackiert, als er der Aufforderung nicht nachkam. Nach Frankl deutet dies auf den hohen Grad der Spannungen hin, die durch die antisemitische Propaganda in der Stadt entstanden waren. Klabusay wurde zu einem Arzt gebracht, der einige leichtere Verletzungen behandelte. Klabusay behauptete aber, so schwer verletzt worden zu sein, dass er mehrere Wochen nicht habe arbeiten können (Zwillinger und seine Begleiter wurden später zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt). Zudem wurde sein blutiges Hemd in einem Hotel am Hauptplatz öffentlich präsentiert. Dies lockte am nächsten Tag zahlreiche Schaulustige an, und es kursierten Flugblätter, die für den kommenden Abend Ausschreitungen gegen Juden ankündigten, woraufhin sich sowohl im jüdischen Viertel wie auf dem Hauptplatz von Holleschau eine große Zahl von Menschen einfanden. Zum direkten Startsignal wurde eine typische Wirtshaussituation, als eine betrunkene Person aus einem jüdischen Wirtshaus hinausgeworfen wurde. Der Wirt beschloss angesichts der Menschmenge auf dem Hauptplatz, sein Lokal zu schließen. Als sich  Studenten vor seinem Lokal versammelten, antijüdische Slogans skandierten und versuchten, in das Haus einzudringen, flüchtete der Wirt, um sich Hilfe vom bis dahin passiven Distriktpolizisten zu holen. Dem Sohn des Wirtes gelang es, die Eindringlinge aus dem Lokal zu vertreiben, während zwei Polizisten dem Treiben tatenlos zusahen. Die Menge zog nun in die Judenstadt, und es folgte ein großer Angriff auf Geschäfte, Lokale und Häuser der Juden. Die fünf Gendarmen, die die Gewalt unterbinden sollten, feuerten in die Menge und töten zwei Menschen, ein weiterer starb wenig später an seinen Schussverletzungen. Dies schreckte die Menge aber nicht ab, im Gegenteil wurde die Gewalt nur noch heftiger und die Menge kehrte schließlich zum Hauptplatz zurück und setzte das Lokal des jüdischen Wirtes in Brand. Die überforderten Gendarmen zogen sich in ihre Kaserne zurück. Erst mit der Ankunft von Militär konnte die Gewalt beendet werden. Die Gendarmen wurden später beschuldigt, unbeteiligte Zuschauer erschossen und der Menge den Rückweg versperrt zu haben, während zugleich unklar blieb, wer noch in die Menge geschossen hatte, da auch Munition gefunden wurde, die nicht von den Gendarmen stammen konnte, wobei der Verdacht auf einen jüdischen Polizisten fiel. – Auch in der Darstellung der Ereignisse während der Beerdigung der Opfer gibt es einen klei627

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nen Unterschied. Nach Frankls Darstellung habe zunächst lediglich ein junger Mann versucht, den militärischen Kordon zu durchbrechen, wobei er von einem Bajonettstich verletzt worden sei (woran er später starb). Erst daraufhin sei es zu neuen Ausschreitungen gegen die Gendarmen und die Juden gekommen. Das christlich-jüdische Verhältnis in Holleschau war seitdem nachhaltig beschädigt, und mehrere hundert Juden verließen den Ort zumindest für eine gewisse Zeit. Die beiden Darstellungen weichen auch hinichtlich der Opferzahlen voneinander ab. Während es bei Frankl mit dem bei der Beerdigung Getöteten insgesamt drei Todesopfer gab, waren es laut den Zeitungen fünf.345 Dass z. T. abwartende oder aber sogar gänzlich passive Verhalten der Verantwortlichen vor Ort,346 das dann häufig zur Eskalation der Unruhen beitrug, war sicher auch darin begründet, sich nicht durch einen vorschnellen oder energischen Einsatz von Gendarmerie und Polizei die Kritik seitens der christlichen Mehrheit zuzuziehen, wobei es durchaus nicht selten solche Fälle gab.347 Insgesamt gesehen, bemühten sich die Verantwortlichen jedoch, durch öffentliche Warnungen, das Schließen öffentlicher Lokale, das Bewachen gefährdeter Gebäude und das Zusammenziehen von Gendarmerie und Militär die Ordnung aufrechtzuerhalten.348 Wie es schon im Kontext der Unruhen im Zarenreich zu Sprache kam, war ein konsequenter Einsatz der Ordnungskräfte für die Verantwortlichen vor Ort keineswegs ohne Risiko, denn wenn es Tote und Verletze unter der »eigenen« Bevölkerung gab, sah man sich der Kritik seitens der Politik ausgesetzt. So zeigt der Fall in Prerau, dass ein konsequentes, frühzeitiges Eingreifen und das Herbeirufen von Militär dem Bezirkshauptmann eine Interpellation beim Minister des Innern eintrug, wobei sich der Minister allerdings voll hinter den Bezirkshauptmann stellte. Eine andere Interpellation wiederum erhob gerade die gegenteilige Beschwerde, dass die Behörden nicht »den guten Willen oder die Kraft zeigten, solche Excesse hintan  In der Beantwortung einer Interpellation zu Holleschau gab der Minister des Innern eine Darstellung der Vorgänge und nannte die Zahl von zwei Toten und elf Verwundeten, von denen aber noch zwei starben (.., S.  f.). Dagegen meldete die Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. , dass ein weiterer Verwundeter gestorben sei, so dass die Zahl auf vier Tote angestiegen sei.  Ein solcher Fall wird aus Neubidschow (Nový Bydžov) vom .. berichtet, wo die »Demonstration« schon zwei Tage vorher angekündigt worden war und die Unruhen bereits am helllichten Nachmittag begannen und sich bis in die Nacht hinzogen, ohne dass sich Ordnungskräfte sehen ließen (Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. ). Eine Neuauflage der Unruhen gab es dort am . November  im Zuge einer Kontrollversammlung für Reservisten (Neue Freie Presse. Abendblatt, .., S. ).  Nachdem es in Ungarisch-Ostra (Uherský Ostroh) Ende Oktober zum Scheibeneinschlagen seitens einiger »Trunkenbolde« gekommen war, die von Gendarmen schnell verhaftet werden konnten, ließ der Bürgermeister für den nächsten Tag Militär kommen, obwohl es im Ort ruhig geblieben war (Neue Freie Presse. Abendblatt, .., S. )  Vgl. »Czechische Excesse« Neue Freie Presse. Abendblatt, .., S.  f.

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zu halten«. Bei der Beantwortung einer weiteren Interpellation zu den Vorgängen in Prerau, Wsetin und Holleschau wird an den Zwischenrufen der jungtschechischen Abgeordneten, in denen die Juden angeschuldigt und die Polizisten als Mörder hingestellt wurden, deutlich, wie sehr die Aktionen der Bevölkerung den Intentionen der tschechischen nationalistischen Parteien entsprachen. Polizei und Gendarmerie sahen sich anschließenden Untersuchungen über die Gesetzmäßigkeit ihres Vorgehens ausgesetzt. Dies verdeutlicht die prekäre Lage, in der sich die Sicherheitskräfte in diesem Nationalitätenkonflikt befanden. Ein Bericht über »Die Excesse in Prerau« vom .. in der Neuen Freien Presse349 zu den »Ruhestörungen in Mähren vor dem österreichischen Abgeordnetenhaus« zeigt, wie sehr von Seiten der Alt- und Jungtschechen die eigene Bevölkerungsgruppe entlastet und als Opfer von Übergriffen seitens der Juden und der Gendarmerie hingestellt wurde. Der Führer der mährischen alttschechischen Partei und Reichsratsabgeordnete Dr. Jan Žaček (Zaczek) protestierte dagegen, die Ereignisse in Prerau, Holleschau und Wsetin »einfach als Judenhetzen zu klassifizieren«, er sah die Schuld vor allem in dem überzogenen Einsatz von Gendarmerie und Militär, die in Zwischenrufen von Abgeordneten als »gemeine Mörder« beschimpft wurden, sowie in Übergriffen seitens der Juden. »Provoziert haben die Organe der Regierung, gemordet haben die Organe der Regierung, und Schuld an der nachträglichen Plünderung tragen ebenfalls die Organe der Regierung«. Diese Äußerung des Abgeordneten Žaček fand lebhafte Zustimmung unter seinen Parteigenossen. Die Übergriffe gegen die Juden, die der Parteinahme für das Deutschtum bezichtigt wurden, seien nur der durch das Vorgehen des Militärs entstandenen Erregung geschuldet. »Es ist dies kein gewöhnlicher Antisemitismus. Das czechische Volk und die slavischen Völker überhaupt sind nicht so veranlagt«. Žaček wandte sich damit auch kritisch sowohl gegen die Darstellung der Unruhen seitens der Regierung wie auch der östereichisch-deutschen Presse, indem er sie als weitgehend friedliche Demonstrationen hinstellte, die von der ungerechten Aufhebung des Sprachengesetzes ausgelöst worden seien.350 Auffälligerweise erwähnte er mit keinem Wort die Hilsner-Affäre, die für viel Aufregung gesorgt und die antijüdischen Ressentiments hatte deutlich hervortreten lassen. Der sozialdemokratische Abgeordnete Berner schlug ebenfalls einen regierungskritischen Ton an, indem er an das Vorgehen gegen die Arbeiterschaft in Galizien erinnerte, während er die Übergriffe auf die jüdischen Häuser und Warenlager als nebensächlich behandelte. Deutlich ist bei den sozialdemokratischen Abgeordneten ein Ressentiment gegen »reiche Juden« und gegen das Festhalten der Juden am Deutschtum zu spüren. Es werden auch rassistische Argumentationsmuster erkennbar, etwa ist von der Zähigkeit der jüdischen Rasse die Rede. Im Unterschied zum Alttschechen Žaček sieht Berner durchaus eine deutliche Abneigung der tschechischen Bevölkerung Mährens gegen die Juden, hält diese  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S.  f.  Frankl, From Boykott to Riot, S.  f. So bestritt Žaček, dass es in Holleschau zu einer Beschädigung von jüdischem Eigentum gekommen sei, bevor die Ordnungskräfte eingegriffen hätten, was völlig im Widerspruch zu den offiziellen Berichten stand.

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aber aufgrund des Verhaltens der Juden für gerechtfertigt. Er bekommt dafür die Zustimmung von antisemitischer und christlich-sozialer Seite, etwa von Dr. Karl Lueger.351 Andere Reichsratsabgeordnete, wie der Wiener Christlich-Soziale Ernst Schneider, ein bekennender Antisemit, gaben ihrerseits nun eine antisemitische Erklärung der Unruhen ab, verwies auf die laufende Ritualmordaffäre und lobte die Einstellung der mährischen Bevölkerung. Es besteht aber kein Zweifel, dass viele der Unruhen als nationalistische Demonstrationen begannen, sich aber zumeist sehr schnell in antijüdische Ausschreitungen verwandelten.352 Michal Frankl wendet sich gegen die tschechische Historiographie, die z. T. bis heute dem Narrativ Žačeks folge und die dem Nationalitätenkonflikt nach wie vor höheres Gewicht für die antijüdischen Unruhen von  und  beimesse als dem tschechischen Antisemitismus. Frankl sieht im Nationalitätenkonflikt zwar einen wichtigen Faktor, doch reiche dieser für eine Erklärung nicht aus. Zwar seien auch früher antijüdische Übergriffe die Begleitmusik antideutscher Demonstrationen gewesen, doch zeige die Heftigkeit der Ausschreitungen gegen Synagogen und Häuser und Läden von Juden von  und  eine neue Qualität und verweise auf eine besondere Intensität und mobilisierende Kraft der antisemitischen Propaganda. Dabei ist natürlich auch die mobilisierende Wirkung der Ritualmordbeschuldigung in der Hilsner-Affäre und im nachfolgenden Prozess zu berücksichtigen, die nach Frankl die Wirkung eines Katalysators für den tschechischen Antisemitismus gehabt habe. Er sieht den tschechischen Antisemitismus der er Jahre weniger in der Verbindung von Nationalismus und Antisemitismus begründet als in der Korrosion der alten nationalliberalen Parteien und in der Wendung gegen die Bedrohung seitens der Sozialdemokratie. »Antisemitism was now coded as a Czech nationalist program, in opposition to the international and allegedly antinational social democracy.«353 Erst mit der antiliberalen Wendung des tschechischen Nationalismus sei eine neue Vereinbarkeit von Nationalismus und Antisemitismus entstanden, die für die neue Intensität der Ausschreitungen verantwortlich gewesen sei, die neben der antijüdischen auch eine antigouvernementale Stoßrichtung gehabt hätten. Dieser antiliberale Nationalismus legitimierte nun die antijüdischen Übergriffe.354 Aus Sicht der rebellierenden Tschechen waren die Ausschreitungen Teil des Kampfes um Gleichberechtigung im deutsch dominierten cisleithanischen Teil der Habsburgermonarchie, zielten sie doch auf die Wiedergeburt (obrození) der tschechischen Nation. Insofern waren die antijüdischen Unruhen einerseits unauflöslich mit dem Kampf gegen den Staat verbunden, was das gewalttätige Vorgehen gegen die Ordnungskräfte erklärt, andererseits fanden sie als Kampf um die nationale Emanzipation zugleich den Beifall der nationalen 

Der Israelit, Heft , .., S.  f., in der Beilage; das Protokoll der Debatte über die Interpellation auch in: Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. ; auch Abendblatt S.  f.; die weitere Verhandlung: .., S. ; .., S.  ff.  Frankl, From Boykott to Riot, S.  ff.  Ebd., S.   Frankl, From Boykott to Riot, S.  f.

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tschechischen Elite, was wiederum die Intensität des Vorgehens gegen die Juden erklären kann.355 Als Mitte November  der bekannte Rechtsanwalt, Politiker und spätere Präsident der Tschechoslowakei, Tomas G. Masaryk, die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Hilsner forderte, wurde seine Broschüre konfisziert, er wurde als Verräter angegriffen und die antijüdische Stimmung lebte wieder verstärkt auf.356 Angesichts des Umfangs der antisemitischen Ausschreitungen von Seiten der tschechischen Bevölkerung befasste sich Mitte November  auch der Reichsrat in Wien mit den Unruhen, die vom Innenminister verurteilt, von Abgeordneten des jungtschechischen Klubs und der Sozialdemokratie als antideutsche Unruhen entschuldigt bzw. zum Teil auch den Juden zugerechnet und von den Antisemiten sogar begrüßt wurden. Jüdische Abgeordnete wiesen die Blutbeschuldigung zurück.357 Das Ergebnis der sieben Wochen anhaltenden Ausschreitungen waren ca. zwanzig Tote und viele Schwerverletzte.358 Der Sachschaden ist kaum genauer zu beziffern. Die AZJ spricht allein in Prag von achthundert beschädigten Wohnungen und  geplünderten Läden, dabei sei ein Schaden entstanden, der in die Hunderttausende gehe.359 Die Spannungen zwischen Tschechen und Juden hielten in der Folgezeit an.360 Die Beziehungen wurden durch zweierlei weiter belastet. Zum einen sorgten die Gerichtsprozesse gegen die Pogromtäter, die sich über den gesamten Herbst des nächsten Jahres erstreckten, für Unmut. Die Zeugenaussagen der jüdischen Opfer und die Verurteilung einer nicht geringen Zahl von Tätern zu Haftstrafen zwischen einigen Tagen Arrest und zwei Jahren Kerker schürten erneut antijüdische Ressentiments, da man die Täter als Märtyrer der tschechischen Sache feierte und zur Unterstützung ihrer Familien Geld sammelte.361 D. h., wir finden hier den typischen Fall, dass gewaltsame »Selbsthilfe« seitens der Täter keineswegs als abweichendes Verhalten kritisiert, sondern sogar als im Sinne der Mehrheit legitmiert wird. Zum Unmut gegen die Juden trug weiterhin bei, dass die zur Verstärkung herbeigerufenen Gendarmen noch eine Weile nach dem Ende der  Ebd., S. .  Vgl. die Interpellation des Abgeordneten Dr. Kronawetter beim Justizminister, in der er die Konfiszierung kritisierte.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Nach Wein, History of the Jews, S. , gab es ca. zwei Dutzend Todesopfer, hauptsächlich tschechische Christen, die durch den Einsatz von Militär getötet worden waren.  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.  Die AZJ berichtet vom Boykott jüdischer Läden, vom Vermeiden privater Kontakte, von Schmähungen und Drohungen (Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. ). Die AZJ formulierte auch sehr klar das Problem der Juden in Böhmen: »Für die Juden in Böhmen ist die Situation eine sehr schwierige. Gehen sie mit den Deutschen, so werden sie von den Tschechen geplündert, würden sie mit den Tschechen gehen, so würden sie die Deutschen verfolgen, bei denen der Antisemitismus […] wahrlich kaum geringer ist. Wo ist da der Ausweg?« (Jg. , Heft , .., S. ).  Krejčová/Mišková, Anmerkungen und Fragen des Antisemitismus, S. .

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Unruhen stationiert blieben, was den Gemeinden Unkosten für deren Unterbringung verursachte. Man war der Meinung, die Juden selbst sollten für ihren Schutz aufkommen, d. h., Juden wurden nicht als schutzbedürftige Mitbürger akzeptiert. Damit war die Polná-Affäre aber noch nicht zu Ende. Auf Betreiben Tomas G. Masaryks, damals Professor an der Universität Prag, hob der oberste Gerichtshof in Wien das Kuttenberger Urteil im Frühjahr  auf, und es begann im südböhmischen Písek ein neuer Prozess gegen Hilsner.362 Er sollte jedoch zu demselben Urteil kommen, wobei man ihm trotz seines Alibis sogar noch einen weiteren unaufgeklärten Mord an einer jungen Frau in der Nähe von Polná anhängte. Die Hoffnung, dass wenigstens das Oberste Kassationsgericht in Wien die Urteile revidieren würde, erfüllte sich nicht, beide Urteile wurden bestätigt. Der Fall Hilsner war aber inzwischen zu einer Angelegenheit der europäischen Öffentlichkeit geworden, und Kaiser Franz Joseph I. sah sich unter dem Druck des Auslandes genötigt, das Urteil  in lebenslange Haft abzumildern.363 Erst im März  wurde Hilsner von Kaiser Karl I. begnadigt, aber niemals rehabilitiert. Ritualmordgerüchte und die Welle antijüdischer Krawalle im westpreußischen Konitz und Umgebung im Jahre  Fast ein Jahrzehnt nach dem »Ritualmordfall« Buschhoff in Xanten erlebte die westpreußischen Kleinstadt Konitz (polnisch Chojnice) im Frühjahr des Jahres  durch einen Mordfall ausgelöste antijüdische Ausschreitungen, in die sicherlich auch die Berichterstattung über die Polná-Affäre hineinspielte. Allein zwischen  und  soll es in Ostmitteleuropa  Ritualmordbeschuldigungen gegeben haben, die öffentlich bekannt wurden,364 so dass das Wissen um »jüdische Ritualmorde« präsent war, d. h., man muss die Konitzer Ereignisse nicht unbedingt auf das ungebrochene Fortwirken einer lang überlieferten religiösen Tradition zurückgeführen.365 Die österreichisch-jüdische Zeitung Die Welt veröffentlichte am .. einen Leitartikel »Konitz«, in dem der Autor Max Aram das Leben der Juden in den »kleinen Städten des preussischen Ostens« beschrieb, wo Juden  Zur ambivalenten Haltung auf Seiten der tschechischen Nationalisten, zu denen auch Masaryk zu zählen ist, gegenüber einer tschechisch-jüdischen Partnerschaft vgl. das Kapitel: Masaryk and Czech Jewry. The Ambiguity of Friendship, in: Kieval, Languages of Community, S. -. Zwar habe Masaryk sich als klarer Gegner des Antisemitismus gezeigt, sei gegen die »Blutlüge« und die Beschneidung jüdischer Rechte eingetreten, doch offenbarten seine Haltung gegenüber Führern des Judentums und seine Schriften über Juden für Kieval eine sehr ambivalente, bisweilen sogar offen negative Sichtweise (S. ).  Leopold Hilsner wurde  im Zuge einer Generalamnestie von Kaiser Karl I. begnadigt. Er nahm einen anderen Namen an und starb  in Wien.  Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, . Jg., Nr. , . August , S. .  Helmut Walser Smith gibt dem Aspekt der langen historischen Überlieferung in dem Kapitel »Geschichte und Vorbilder« in seinem Buch: Die Geschichte des Schlachters, S. -, breiten Raum.

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vom geselligen Verkehr mit der christlichen Bevölkerung ausgeschlossen seien, so dass der Fall nichts mit der antisemitischen Bewegung in den größeren Städten Deutschlands zu tun habe. Die Ereignisse in Konitz nennt Aram deshalb »ein locales Ereignis von sinnloser Zufälligkeit« und nicht eine notwendige Folge aus der sozialen Stellung der Juden innerhalb des dortigen Lebens. Die Verfolgung konnte deshalb nur aus dem blinden verächtlichen Aberglauben entstandenen Hasse des Pöbels entspringen.366 Nonn weist ebenfalls auf die weitgehende Beschränkung der christlich-jüdischen Beziehungen auf den geschäftlichen Umgang hin, während private Kontakte selten und enge familiäre Bindungen für beide Seiten kaum denkbar waren. Damit war eine Situation gegeben, die sowohl durch die Unkenntnis der Lebensweise der anderen Gruppe wie auch durch soziale Distanz das Entstehen von Gerüchten, Konflikten und Gewalt begünstigte.367 Ein »Ritualmordfall« in Konitz? Am . März  wurde im Mönchsee der westpreußischen Kreisstadt von etwas über zehntausend Einwohnern, darunter  Juden, der Torso des Gymnasiasten Ernst Winter geborgen, der am Tag zuvor als vermisst gemeldet worden war.368 Die präzise Zerstückelung des Opfers lenkte den Verdacht auf die entsprechenden Fachleute. Der Staatsanwalt ließ denn auch bereits einen Tag später das Haus des christlichen Fleischers Hoffmann durchsuchen, zumal der ermordete, als Frauenheld bekannte junge Mann ein Auge auf die Tochter des Fleischers geworfen hatte, was dieser hatte unterbinden wollen. Die Untersuchung verlief aber ergebnislos. In den nächsten Tagen fanden sich weitere Leichenteile des Jungen, was die Konitzer Bevölkerung zu ersten Mutmaßungen anregte, der jüdische Schlachter Adolph Lewy könnte der Mörder sein, da die Leichenteile in der Nähe seines Hauses gefunden worden waren. Wie in den anderen »Ritualmordfällen« spielte auch hier der voreingenommene Obduktionsbefund der Ärzte eine wichtige Rolle, die wiederum nur eine sehr geringe Blutmenge in den Leichenteilen gefunden haben wollten, was als typisch für »jüdische Ritualmorde« galt.369 Auch dass sich dieser  Die Welt, Nr. , .., S.  f. Allerdings waren Konitz und Umgebung bereits im Jahre  Schauplatz antisemitischer Ausschreitungen geworden, deren Epizentrum damals in Neustettin gelegen hatte (s. o. .).  Vgl. das Kapitel »Fremde Nachbarn« in Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S.  ff.  Ich folge hier der knappen zusammenfassenden Darstellung von Marion Neiss, Ritualmordvorwurf in Konitz (), in Handbuch des Antisemitismus, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, S. -; zu den Einwohnerzahlen vgl. Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. ; Helmut W. Smith spricht von »etwas über dreihundert Juden« (Die Geschichte des Schlachters, S. ). Eine Rekonstruktion des Mordfalles und des Auffindens der Leichenteile findet sich in dem Bericht über den Prozess gegen den der Beihilfe des Mordes angeklagten Wolf Israelski: Mord in Konitz, Die Welt, Nr. , .., S. - (Bericht, Wien . September ).  Nonn spricht von einem dilettantischen Gutachten des angesehenen Kreisarztes (Eine Stadt sucht einen Mördere, S. ). Im Nachhinein zog im Oktober  ein Professor

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höchst ungewöhnliche Mord kurz vor Ostern bzw. dem jüdischen Pessach ereignet hatte, passte in diese Typik. Nur vier Tage nach dem Mordfall sprach man in der Konitzer Bevölkerung vom Verdacht eines jüdischen Ritualmordes,370 was von der antisemitischen Staatsbürger-Zeitung ab dem . März in mehreren groß aufgemachten Artikeln sofort aufgegriffen wurde, womit das Thema in die regionale und überregionale Presse gelangte, d. h., dass das Gerücht in Konitz selbst aufkam und nicht, wie jüdische Zeitungen mutmaßten, von der antisemitischen Presse erst lanciert werden musste.371 Bereits am . März machte die Zeitung im Titel des Beitrags »Polná – Konitz« die Parallele zu dem früheren »Ritualmordfall« auf, in dem der angebliche jüdische Täter verurteilt worden war. Wie in Xanten und Polná seien auch in Konitz »o f f enb ar fremde Personen betheiligt [gewesen] und zwar fremde Juden«.372 Dennoch gab es in den ersten Tagen auch Gerüchte über andere Mordmotive. Da Ernst Winter als »Frauenheld« galt, wurden verschiedene Szenarien eines Sexualmordes diskutiert. Es war vor allem der unkoordinierten und stümperhaften Ermittlungsarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft in den ersten Tagen nach Auffinden der Leichenteile geschuldet, dass »im Anfange die Sache verfahren worden sei«,373 was zur Durchsetzung des Ritualmordmotivs beitrug. Wie schon in Tiszaezlár, Polná und Xanten findet sich das Zusammenspiel von lokaler Gerüchtekommunikation, die vergangene Beobachtungen nun im Lichte dieses Falles reinterpretierte, und ihrer Verstärkung seitens der antisemitischen, dann aber auch der allgemeinen Presse, die die »Konitzer Affäre« zu einem Thema im gesamten Deutschen Reich wie auch im Ausland machte. Es waren zunächst aber überwiegend die Journalisten antisemitischer Zeitungen, die sich für Wochen in Konitz einnisteten, da sie hier ihre Chance sahen, einen Mordfall für ihre Sensationsberichterstattung auszunutzen, wobei sie nicht nur Beobachter blieben, sondern aktiv an der Lokalpolitik und in der Gerüchteküche in der Stadt mitmischten. D. h., sie schrieben nicht nur ihre Artikel für die auswärtigen bzw. die regionalen Zeitungen,

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für forensische Medizin in Berlin den Autopsiebefund in Zweifel, da vieles auf einen Tod durch Ersticken hindeutete (Smith, Die Geschichte des Schlachters, S. ). Nach Nonn hätten schon kurz nach dem Bekanntwerden des Verschwindens von Ernst Winter und dem Fund seiner Leiche junge Kaufleute das Gerücht ausgestreut, dieser sei einem »jüdischen Ritualmord« zum Opfer gefallen. Sie hätten dies einem geistig zurückgebliebenen jüdischen Lumpenhändler weisgemacht, der es am nächsten Tag dann in Konitz weitererzählte (Zwischenfall in Konitz, S. ; siehe auch Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. ). Der Israelit war der Meinung, die Idee des Ritualmordes sei nicht aus der Konitzer Bevölkerung gekommen, sondern erst seitens der Berliner antisemitischen Blätter auf den Mordfall übertragen worden, was die Polizei auf die falsche Fährte gelockt habe (Zum Konitzer Mord, Der Israelit, Erste Beilage zu Nr. , ..). Auch die AZJ druckte in ihrer Ausgabe vom . April  (Jg. , Heft , S. -) auf dem Titelblatt einen Beitrag »Zur Psychologie der Ritualmord-Lüge« ab, in dem die antisemitische Presse beschuldigt wurde, diese Lüge in Umlauf gebracht zu haben. Zit. bei Horwitz, »Konitz«, S. . So nach Nonn der Vorwurf der Vorgesetzten gegen die Konitzer Ermittler (Eine Stadt sucht einen Mörder, S. ).

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sondern saßen am Abend mit Konitzer Bürgern in den Gasthäusern zusammen, wo sie die umlaufenden Gerüchte hörten oder gar selbst welche in Umlauf brachten.374 Dies nahm wiederum auf die Ermittlungsarbeit der Justiz Einfluss. In Konitz ließ sich der Staatsanwalt nun die Akten früherer »Ritualmordfälle« (Skurz , Xanten /) bringen und ordnete Durchsuchungen der Synagoge und des jüdischen Schlachthauses an, wo man Blutproben nahm, die aber ebenfalls ergebnislos verliefen. Diese Hausdurchsuchungen wurden aber von der Konitzer Bevölkerung als Bestätigung ihres Verdachts aufgefasst, zumal die Behörden diesen Verdacht weder bestätigten noch zurückwiesen. So schrieb die AZJ am . März : »Es ist nicht in Abrede zu stellen, daß diese Schritte dem wahnwitzigen Gerede von einem ›Ritualmord‹ Raum gegeben haben«.375 Die regionalen Danziger Neuesten Nachrichten, aber vor allem die Staatsbürger-Zeitung schürten den Verdacht weiter, doch nahmen auch Blätter des katholischen Zentrums und polnische Zeitungen diese Beschuldigung auf.376 Die Attraktivität des Ritualmordgerüchts hat nach Meinung von Christoph Nonn weniger mit dessen ideologischem Gehalt zu tun als mit seiner Funktion als Kleinstadtklatsch, da es als bizarre Mordgeschichte besonders spektakulär war.377 Dies und die ausgesetzte hohe Belohnung von . Reichsmark intensivierten die örtliche Gerüchtekommunikation, und es meldeten sich nun vermehrt Zeugen, die vor allem den jüdischen Schlachter Lewy,378 aber auch den örtlichen Synagogendiener und die Juden des Ortes insgesamt belasteten, da ja zur Ritualmordphantasie wesentlich das verschwörerische Vorgehen der Juden als religiöse Gemeinschaft zählt, die das Blut zu rituellen Zwecken benötige. Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass der örtliche Sanitätsrat der Auffassung war, bei der Zerlegung der Leiche hätten mehrere Personen mitwirken müssen. Die Gerüchte heizten die antisemitische Stimmung im Ort immer mehr auf, und es kam am . März zu ersten antijüdischen Vorkommnissen.379 Die AZJ druckte  Helmut, W. Smith, Konitz : Ritual Murder and Antisemitic Violence, in: Christhard Hoffmann/Werner Bergmann/Helmut W. Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History, Ann Arbor , S. -, S.  f.  AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage: Der Gemeindebote, S. . Der abgedruckte Bericht eines Mitglieds der jüdischen Gemeinde in Konitz datiert vom . März.  So die AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f. Die Erwartung, dass die Ritualmordlegende unter den Katholiken in diesen konfessionell gepaltenen Regionen eher auf fruchtbaren Boden gefallen sei, lässt sich nach Nonn nicht erkennen. Die Ausschreitungen fanden ebenso in protestantisch dominierten wie in überwiegend katholische Orten statt. In Konitz hielten sowohl der evangelische Pfarrer wie der katholischen Priester Predigten, die dem Antisemitismus Auftrieb gaben (Nonn, Zwischenfall, S.  f.).  Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. .  Ein Böttcher zeigte den Fleischermeister Lewy an, dieser habe ihm am Mittwoch nach dem Mordtage eine Fleischsäge zum Schärfen gebracht, ein Auftrag, den er von einem Fleischer noch nie bekommen habe. Die daraufhin von der Polizei beschlagnahmten Fleischsägen von Lewy waren aber nach einer Untersuchung des örtlichen Sanitätsrates nicht die Tatwaffen (AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage: Der Gemeindebote, S. ).  Bereits am . März  richtete der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens ein Schreiben an den Innenminister, in dem er darauf hinwies, dass Teile der

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einen Bericht aus Konitz vom . März, wonach seit mehreren Tagen »ganze Banden mit wüstem Gejohle und ›Hep-Hep‹ oder ›Jud‹-Rufen die Straßen der Stadt« durchzogen, Fensterscheiben einwarfen, jüdische Gräber schändeten und dabei auch jüdische Bürger belästigten.380 Bei den Tätern handelte es sich vor allem um Abendschüler, also halbwüchsige Jugendliche. Daraufhin wurden noch am . März auswärtige Polizeikräfte nach Konitz gerufen, und nach Aussage der AZJ taten die Behörden, vor allem der Konitzer Bürgermeister Georg Deditius und der Landrat Baron von Zedlitz alles, um die Ruhestörungen zu unterbinden. Zur Ergreifung des Täters wurde eine Prämie ausgesetzt, und das Berliner Ministerium des Innern schickte zur Aufklärung des Verbrechens den Berliner Polizeikommissar Arthur Wehn nach Konitz, da man dort der Meinung war, die Ermittlungen hätten sich zu einseitig auf mögliche jüdische Täter gerichtet.381 Mitte Mai sandte die preußische Polizei einen weiteren speziellen Ermittler, Inspektor Braun, nach Konitz, um den Fall endlich aufzuklären. In der Folgezeit mehrten sich die Aussagen von Zeugen, so dass bei der Polizei achthundert Anzeigen eingegangen sein sollen, die teils Lewy, teils auch Hoffmann, immerhin den Obermeister der Metzgerinnung, betrafen. Das Ritualmordgerücht wurde noch dadurch bestärkt, dass man bei der nochmaligen Autopsie der Leiche zu der Überzeugung kam, dem Opfer sei der Hals bei lebendigem Leibe durchschnitten worden. Da die Behörden aber nicht gegen Lewy und die Juden vorgingen, richtete sich das Misstrauen nun gegen die Behörden selbst, denen man eine Vertuschung zugunsten der Juden unterstellte – auch dies ein Muster, das wir schon aus Xanten kennen. Inzwischen waren immer mehr antisemitische Agitatoren in die Stadt gekommen, die hier ihre Chance witterten. Auf ihre Anregung hin bildete sich eine eigene »Neben-Untersuchungskommission« aus Konitzer Bürgern und auswärtigen antisemitischen Aktivisten, darunter der Verleger die Staatsbürger-Zeitung, Wilhelm Bruhn, und der Redakteur Paul Bötticher,382 die eigene Ermittlungen anstellte. Sie vernahm eigenmächtig »Zeugen« und gab ihre Ergebnisse sowohl an die Staatsbürger-Zeitung wie Konitzer Bevölkerung seit etwa einer Woche eine drohende Haltung gegen die Juden eingenommen hätten. Gruppen Jugendlicher durchzogen abends die Innenstadt und rüttelten an den Türen jüdischer Häuser, warfen gelegentlich Fensterscheiben ein und grölten die traditionellen »Hep-Hep«-Rufe (zit. bei Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage: Der Gemeindebote, S. . Wie Nonn richtig schreibt, richtete sich die Gewalt gegen jüdisches Eigentum, nicht oder nur selten gegen Personen (Zwischenfall, S. ).  Wie bereits in Neustettin  und in Xanten / wurden Fachleute der Berliner Kriminalpolizei zur Ermittlungsarbeit auch nach Konitz beordert. Arthur Wehn gab an, sein Vater sei ein Antisemit gewesen, und auch er selbst, als er nach Konitz kam, habe aber dann aufgrund seiner Ermittlungen und wegen der Ritualmordhysterie in Konitz und den ihm aufgetischten Lügen aufgehört, ein Antisemit zu sein (Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. ).  Zu Bruhn vgl. Marion Neiss, Wilhelm Bruhn, in: Handbuch des Antisemitismus, Bd. ,: hrsg. von Wolfgang Benz, München , S.  f.

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an die Justizbehörden weiter, womit sie massiven Einfluss auf die staatsanwaltlichen Ermittlungen ausüben wollte, zumal sie bei der Bevölkerung mehr Glaubwürdigkeit besaß als die staatlichen Behörden.383 Die Tatsache, dass der Fall nicht aufgeklärt werden konnte, öffnete Tür und Tor für Verdächtigungen, Denunziationen und Befürchtungen, an denen sich viele Konitzer beteiligten, konnten sie damit doch an den umlaufenden Gesprächen teilnehmen bzw. durch eigene Behauptungen auch kurzfristig Aufmerksamkeit erregen. Da die Polizei kaum konkrete Spuren hatte, ging sie ihrerseits allen Gerüchten und Anzeigen nach, was wiederum die Phantasie der Bürger zu neuen Behauptungen anregte.384 Die Bedeutung der organisierten antisemitischen Agitation, die in Konitz und Umgebung ja sehr präsent war, ist schwer abzuschätzen, zumal auch sehr schnell Journalisten anderer Zeitungen, darunter auch jüdischer, nach Konitz kamen, so dass es durchaus eine widerstreitende Berichterstattung gab. Da die StaatsbürgerZeitung zufällig im März  mit fünfzigtausend Freiexemplaren in Westpreußen um Abonnenten warb, dürften diese eine gewisse Wirkung entfaltet haben, doch zirkulierten Ritualmordgerüchte in Konitz schon vor dem Eingreifen der Zeitung und breiteten sich schnell in der Umgebung der Stadt aus. In der Region sollen auch schon vor dem Mord an Ernst Winter beim kurzfristigen Verschwinden von Kindern solche Ritualmordgerüchte umgelaufen sein. Christoph Nonn ist beizupflichten, dass »in der ländlich-kleinstädtischen Welt des preußischen Ostens das geschriebene gegenüber dem gesprochenen Wort nur eine untergeordnete Rolle für Kommunikation« spielte.385 Den Wendepunkt hin zu den Ausschreitungen in den folgenden Wochen bildete das Auffinden des Kopfes von Ernst Winter durch zwei spielende Kinder am Ostersonntag, dem . April, und die kurz darauf erfolgte Verhaftung des jüdischen Lumpenhändlers und Pferdeschlächters Wolf Israelski. Die Ermittlungen der »Neben-Untersuchungskommission« hatten zu dieser ersten Verhaftung geführt. Ein Zeuge hatte ausgesagt, er habe Israelski am Karfreitag mit einem Sack mit einem runden Gegenstand auf dem Rücken in die Richtung gehen sehen, wo am Ostersonntag die Kinder den abgetrennten Kopf Ernst Winters gefunden hatten. Israelski sei später mit verschmutzten Stiefeln und einem leeren Sack zurückgekehrt.386 Es  Die AZJ (Jg. , Heft , .., S.  f.) druckte einen Bericht des Konitzer Tageblatts ab, der beklagte, dass die erwachsene Konitzer Bevölkerung mit Verdächtigungen und Verleumdungen gegen die ermittelnden Justizbeamten einen verderblichen Einfluss auf die Volksstimmung ausübe. So sollen in Vandsburg größere Unruhen, bei denen neben den Juden auch dem Bürgermeister die Fenster eingeworfen wurden, dadurch ausgelöst worden sein, dass der Bürgermeister einen Aufruf gegen die »Hep-Hep«-Rufe erlassen hatte, in dem zu lesen war, dass nur ein »verdorbener Pöbel« Gefallen an solchen Unruhen haben könne. Vgl. zur Etablierung des privaten »Untersuchungsausschusses« auch: Die Welt, Heft , .., S.  f.  Vgl. Smith, Konitz , S.  ff. Smith präsentiert dann einige der Gerüchte, die in Konitz kursierten (S.  ff.).  Nonn, Zwischenfall, S. .  Smith, Die Geschichte des Schlachters, S.  f.

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fanden sich nun weitere Belastungszeugen, die Israelski gesehen haben wollten, wie er und zwei andere Männer in der Mordnacht aus dem Hause Lewy einen schweren Sack in Richtung Mönchsee getragen hätten. Israelski wurde verhaftet, ins Polizeigefängnis eingeliefert und es wurde ein Verfahren gegen ihn wegen Verdachts der Beihilfe zum Mord eröffnet. Eine Hausdurchsuchung erbrachte aber kein Ergebnis.387 Diese Verdächtigungen führten bereits am Ostermontag in Prechlau, dem Heimatort Winters, zu Unruhen, denen einen Tag später am . April  erste, nun pogromartige Ausschreitungen in Konitz folgten.388 Die Wellen antijüdischer Tumulte in Konitz und Umgebung Das folgende Wochenende vom . bis . April bildete den ersten Höhepunkt der antijüdischen Ausschreitungen in Konitz und Umgebung, die am Montag mit dem Beginn der Arbeitswoche wieder abflauten – mit Ausnahme von Konitz, wo es fast täglich zu »Zwischenfällen« kam. Am Freitagabend, dem . April, zog eine Gruppe Jugendlicher durch die Straßen und neckte einen unbeliebten Polizeikommissar durch »Hep-Hep«-Rufe, was die in der Nachtruhe aufgeschreckten Bürger dazu veranlasste, sich über die Ruhestörung zu beschweren und schließlich ihre Nachttöpfe über die Randalierer auszugießen, was allerdings nur dazu führte, dass die Jugendlichen nun begannen, die Fensterscheiben von Juden, aber auch von Christen bewohnter Häuser einzuwerfen. Ein ähnlicher Vorgang spielte sich in dieser Nacht auch in der benachbarten Kleinstadt Flatow ab.389 In ca. einem Dutzend westpreußischer Orte kam es an diesem Wochenende zu antijüdischen Ausschreitungen. – In Hammerstein, wo bei einer Einwohnerzahl von dreitausend nur rund einhundert Juden wohnten, kam es zu »groben Ausschreitungen«, als eine große Menschenmenge durch die Straßen zog und zahlreiche Fenster jüdischer Häuser mit Steinwürfen zertrümmerte. Am nächsten Abend wiederholten sich die Vorgänge, nun wurden Steine und Flaschen in die Schaufenster jüdischer Geschäfte geworfen, wobei sich nun hier und da Anführer hervortaten. Nach Smith sei die Polizei in Hammerstein der Unruhen nicht mehr Herr geworden und habe die Armee zur Hilfe gerufen. Der Kreiskommandant habe achtzig Soldaten dorthin beordert. Noch bevor die Soldaten eingetroffen waren, plünderten und verwüsteten Tumultuanten die Synagoge.390 Der Israelit gab eine davon abweichende Darstellung. Demnach hätten dort weder Bürgermeister noch Polizei eingegriffen, angefordertes Militär konnte nicht eingreifen, da ein Telegramm der

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AZJ, Jg. , Heft , vom ...

Neiss, Ritualmordvorwurf, S. ; Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. . Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. . Smith, Geschichte des Schlachters, S. .

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jüdischen Gemeinde im Telegraphenamt in Stettin nicht weitergeleitet worden war.391 – In Baldenburg hinderten die Tumultuanten die Juden am Besuch des Gottesdienstes und verwüsteten schließlich das Innere der Synagoge, woraufhin weitere Gendarmen dorthin beordert wurden. Zu großen Ausschreitungen soll es auch in Schlochau und anderen Orten wie Vandsburg, Bütow, Tuchel, Stegers. Preußisch Friedland und in Prechlau gekommen sein.392 In Prechlau soll laut der Zeitung Im deutschen Reich eine »wahre Rebellion geherrscht« haben. Fast sämtliche Schaufenster und Türen jüdischer Geschäftsleute seien dort zertrümmert worden. Die Ortspolizei wurde der Lage nicht Herr, so dass der Gemeindevorsteher wiederholt Militär anfordern musste. Auch in dem Ort Stegers seien jüdische Einwohner hart bedrängt worden.393 In einigen Dörfern wurden die Fensterscheiben von Synagogen eingeworfen. – In Czersk begannen die Unruhen am . April aus einem völlig nichtigen Anlass. Sie wurden durch den Rausschmiss eines betrunkenen polnischen Arbeiters aus einer Wirtschaft ausgelöst, der in seiner Wut begann, die Fenster des Wirtshauses einzuschlagen. Diese Szene lockte eine kleine Menschenmenge an, die auf den Ruf »zur Synagoge !« sich dorthin aufmachte, aber von der Polizei gestoppt wurde, die einen der Rädelsführer verhaftete. Daraufhin wuchs die empörte Menge nun auf mehrere hundert Einwohner der Stadt an, die die Polizisten, jüdische Häuser und die Synagoge mit Steinen bewarfen. Es fielen sogar Schüsse. Die Polizei griff weiterhin konsequent ein und zog ihre Pistolen, so dass sich die Menge wieder zerstreute.394 Die AZJ berichtet sogar davon, dass die Gendarmen den Säbel zogen und mehrere Personen verletzt hätten. Die Rädelsführer seien verhaftet worden.395 Ein ähnliches Bild boten nach Smith auch die Unruhen in Neustettin, wo es  ja bereits zu antijüdischen Ausschreitungen gekommen war.396 Typisch für fast alle Vorfälle waren das Einwerfen der Fenster der Synagoge und jüdischer Häuser, die Plünderung von Geschäften, tätliche Angriffe auf Juden waren aber eher selten. Laut Nonn sollen oftmals auch Polizisten und Bürgermeister zum Ziel von Angriffen geworden sein. Die Polizei habe in vielen Fällen Mühe gehabt, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.397 Smith weist darauf hin, dass in vielen Orten die Synagoge zum »symbolischen Ziel« des Volkszorns geworden sei. Da  Der Israelit, Heft , .., S. , vgl. dazu die Berichte in: Die Welt, Heft , .., S.  f.  AZJ, Jg. , Heft , vom .., S. ; Heft , .., S. .  Im deutschen Reich, Jg. , Heft , , S. .  Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S.  f.; vgl. auch die damit übereinstimmende Darstellung bei Smith, Die Geschichte des Schlachters, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Smith, Die Geschichte des Schlachters, S. .  Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. .

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dies bei antijüdischen Unruhen des . Jahrhunderts keineswegs typisch war, kann man vermuten, dass es hier durch das Gerücht des Ritualmordes zu einer religiösen Aufladung des Konflikts gekommen war. Diese Welle von Unruhen veranlasste das Innenministerium dazu, einen Geheimen Oberregierungsrat nach Konitz und Schlochau zu schicken, um dort die geeigneten Maßnahmen zum Schutz der jüdischen Bevölkerung anzuordnen. Es wurden zumeist weitere Polizeikräfte in die gefährdeten Gemeinden entsandt.398 Bis zum . April, dem Tag der Wahlen zum Preußischen Landtag, kam es in Konitz immer wieder zu antijüdischen Zwischenfällen, die sich mit der Nähe zum Wahltag immer weiter steigerten. Obwohl ein großes Polizeiaufgebot am Wahltag weitere Unruhen verhindern sollte, wurden in Konitz am Abend die gerade neu eingesetzten Fensterscheiben der Synagoge eingeworfen und das Privathaus eines Juden angegriffen. Die Befürchtung, dass viele Juden, die überwiegend deutsche Kandidaten wählten, aus Angst vor Tätlichkeiten zu Hause bleiben würden, bestätigte sich nicht, und der deutsche Kandidat gewann in Konitz ganz knapp vor dem polnischen Konkurrenten.399 Zwar regte die Konitzer Affäre die antijüdische Phantasie vieler Menschen in Konitz und Umgebung an, wie die zahlreichen angezeigten Beobachtungen und Verdächtigungen belegen,400 doch darf damit nicht auf eine politisch motivierte antisemitische Einstellung geschlossen werden. Das zeigt das Ergebnis der Landtagswahl für den Kreis Konitz. Dort hatten die Antisemiten kurz vor der Wahl den bekannten Antisemiten Max Liebermann von Sonnenberg nominiert und versucht, durch Agitation und die Beeinflussung der Wahlmänner Stimmen zu gewinnen. Man forderte selbst die polnische Bevölkerung des Kreises, für die man ansonsten als deutsche Nationalisten wenig Sympathie hegte, mit  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Die AZJ druckte hier einen Artikel der halbamtlichen Berliner Korrespondenz vom .. ab. Die AZJ lobte denn auch im Heft , vom .., S. , dass die Regierungsbehörden in diesem Fall Energie und Tatkraft gezeigt hätten. Der Innenminister setzte noch einmal . Mark als Belohnung aus. Den Juden wiederum machte man zum Vorwurf, ihrerseits keine Belohnung ausgesetzt zu haben, obwohl sie doch, wenn sie denn unschuldig wären, großes Interesse an der Ermittlung des Täters haben müssten (so schrieb das agrarische Berliner Blatt am . Mai , zit. in der AZJ). Dieser perfide Vorwurf war auch sachlich falsch, da der Gemeindeverband der westpreußischen Synagogengemeinden der jüdischen Gemeinde in Konitz Geld zum Aussetzen einer Belohnung zur Verfügung gestellt hatte, das die Gemeinde den Behörden zur Aufstockung der Belohnung überlassen hatte.  Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S.  f.  Das Konitzer Tageblatt beklagte, dass die Ausschreitungen zumeist nur Unbesonnenheiten und Flegeleien halbwüchsiger Burschen seien, dass sich aber »vorzugsweise das reife Alter an einem anderen Unfug beteiligte, der weniger geräuschvoll auftritt, aber umso gefährlicher auf unser öffentliches Leben und umso verderblicher auf die Volksseele einwirkt. Wir meinen die Verdächtigungen und Verleumdungen der mit der Verfolgung des Verbrechens betrauten Beamten«. Als Beispiel bringt die Zeitung ein absurdes Gerücht, das einen der ermittelnden Polizeikommissare verdächtigte, im Skurtzer »Ritualmordfall« für die Entlastung des jüdischen Schlachters Geld für den Kauf einer Villa in Stettin bekommen zu haben (zit. in: Die Welt, Heft , .., S. ).

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Hinweis auf den Mord an dem polnischen Jungen Cybulla in Skurz (), den sie ebenfalls als Ritualmord deuteten, zur Wahl ihres Kandidaten auf. Das Ergebnis war aber enttäuschend, da dieser nur zwei Stimmen erhielt, wie die AZJ genüsslich berichtete.401 Nach den Wahlen kam es für vier Wochen im Kreis Konitz nicht mehr zu nenneswerten antijüdischen Übergriffen. Nonn führt deren vorläufiges Abklingen auf das Ende des Landtagswahlkampfes zurück, da die Zeitungen und Vereine der Zentrums- und der Polenpartei nach der Niederlage ihres Kandidaten nun keinen Anlass mehr hatten, die Ritualmordlegende unter den Katholiken weiter zu verbreiten, die ein wichtiges Motiv für die Gewalt seitens der katholischen Lehrlinge und Arbeiter gewesen war. Hinzu kam, dass der Schockeffekt nach dem Auffinden des Kopfes von Ernst Winter zu verebben begann und die ermittelnden Kommissare durch die Auswertung weiterer Funde am Fundort des Kopfes eine neue Spur verfolgten.402 Derweil tauchten in Konitz, aber inzwischen auch aus der weiteren Umgebung Zeugenaussagen auf, die irgendwelche Wanderburschen beschuldigten, die Besitztümer des Ermordeten zu besitzen, oder es wurden Schächter und jüdische Händler denunziert. All diesen Verdachtsmomenten musste die Staatsanwaltschaft nachgehen,403 zumal die antisemitische Presse die Behörden, die den Zeugenaussagen stark misstrauten, beschuldigte, die Aufklärung des Falles zugunsten der Juden zu hintertreiben, und die Stimmung gegen die Justiz mit Schlagworten wie »Judenknechte« schürte. Ein Muster, das wir schon vom »Fall Buschhoff« her kennen. Die Häufung von Zeugenaussagen, die Israelski, Lewy und andere ansässige Juden der Täter- oder Mittäterschaft beschuldigten, führten schließlich zu einer erneuten Hausdurchsuchung bei Lewy und zu Nachforschungen bei etwa siebzig jüdischen Familien sowie Schächtern und Kultusbeamten Westpreußens.404 Auch diese Untersuchungen blieben ergebnislos. Durch diese auch durch die Antisemiten mitverursachte Anzeigenflut (es sollen allein vierhundert anonyme Denunziationen eingegangen sein, dazu gab es achtzig Haussuchungen) wurde, wie die AZJ schrieb, die Aufklärung des Falles und die Ergreifung des wirklichen Täters faktisch erschwert.405 Wenn anonyme Anschuldigungen nicht zu den gewünschten Verhaftungen der angeschuldigten Personen führten, machte man in der Presse Druck gegen den verantwortlichen Beamten oder beschwerte sich beim Innenminister.406  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S.  f.  AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage: Der Gemeindebote, S. . Die AZJ schrieb Ende Juni , Zeitungen hätten berichtet, dass in Konitz »seit Jahren nicht so viele Meineide geleistet worden (seien) wie in den letzten Monaten« (Jg. , Heft , .., S. ).  Neiss, Konitz, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; auch »nicht philosemitische Blätter« – wie die AZJ schrieb – sahen durchaus, dass das Publikum die Ermittlungen nach Kräften erschwerte. Es gab auch Anschuldigungen gegen nicht-jüdische Personen, vor allem gegen Wanderburschen und Schlachter.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

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Die offiziöse Norddeutsche Allgemeine Zeitung beklagte, dass die unparteiischen Ermittlungen der Behörden durch die parteiliche Agitation und die skrupellose Tätigkeit gewisser Presseorgane dazu geführt hätten, dass ein Teil der Bevölkerung sich habe in den »Bann bestimmter Vorstellungen zwingen lassen«, die die Ermittlungen stark erschwert hätten.407 Wegen der umlaufenden falschen Verdächtigungen kam es zum Abbruch der sozialen Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden in Konitz.408 Die Juden waren täglich Beleidigungen und Übergriffen auf den Straßen ausgesetzt und erhielten Zuschriften, in denen mit Mord und Totschlag gedroht wurde. Auch Der Israelit berichtet über die gesellschaftliche Isolierung der Konitzer Juden: die Kaufleute hätten keine christlichen Kunden mehr, keiner dürfe sich im örtlichen Gasthaus sehen lassen und bei einem Gang durch die Stadt würde man von »Hep-Hep«Rufen verfolgt und liefe Gefahr, misshandelt zu werden. Die jüdische Gemeinde in Konitz bat die Regierung um Schutz vor den sich allabendlich wiederholenden Übergriffen.409 Für das Wiederaufflammen der Unruhen Ende Mai macht Nonn auch die antisemitische Wende der einzigen Lokalzeitung, des Konitzer Tageblatts, mitverantwortlich, die nun zu den am Ort bereits aktiven Vertretern antisemitischer Parteien und Zeitungen hinzutrat.410 Es gab Ausschreitungen in vier Kreisen des westpreußischen Bezirks Marienwerder (Konitz, Schlochau, Tuchel, Flatow), in den Kreisen Karthaus und Berent im Bezirk Danzig, in den benachbarten Teilen des pommerschen Regierungsbezirks Köslin (Bütow, Neustettin, Stolp und Schlawe) sowie in einigen Kreisen (Wirsitz, Kolmar, Czanikau) im Norden des Bezirks Bromberg in der Provinz Posen.411 Helmut Walser Smith spricht von drei Wellen von Mitte April bis Mitte Juni mit insgesamt rund dreißig antijüdischen Krawallen.412  Artikel: »Ermordung oder Todtschlag des Gymnasiasten Winter in Konitz«, zit. nach: Im deutschen Reich, Jg. , Heft , , S. , Bericht vom . Juni. Die Antisemiten beuteten den Konitzer Fall für ihre Zwecke aus. So hielt der antisemitische deutsche Volksbund in Berlin eine große Versammlung ab, in der eine wissenschaftliche Untersuchung der Geheimlehren der Juden gefordert wurde, da angeblich jährlich fünf bis sechs Dutzend Ritualmorde zu verzeichnen seien (Der Israelit, Heft , .., S. ).  Vgl. den Bericht vom . April: Im deutschen Reich, Jg. , Heft , , S. . In der Beilage zu Nr.  (..) berichtet der Korrespondent des Israeliten auch darüber, dass die christlichen Dienstmädchen die jüdischen Haushalte verließen, da sie dem Gerücht Glauben schenkten, sie könnten dort geschlachtet werden. AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Zum Konitzer Mord, Der Israelit, Erste Beilage zu Nr. , ...  Die Wendung hatte einen ganz banalen Grund: Am . Mai war der alte Redakteur der Zeitung, der mit einer Frau aus einer jüdischen Familie verheiratet gewesen war, verstorben, und sein Nachfolger hatte sich mit der Tochter des ebenfalls unter Verdacht stehenden christlichen Schlachters Hoffmann verlobt. Siehe: Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. .  Nonn, Zwischenfall, S. , FN .  Smith, Die Geschichte des Schlachters, S. .

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Orte antijüdischer Ausschreitungen größere Städte der Provinzen Eisenbahnlinien Provinzgrenzen

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Die staatlichen Behörden befürchteten vor allem anlässlich der Beisetzung Ernst Winters am . Mai  neue Ausschreitungen und beorderten zwei Infanterieregimenter aus Bromberg in die Stadt. Tausende Menschen begleiteten den Leichenzug, doch es blieb ruhig, obwohl die Antisemiten mit dem Verkauf von Ansichtskarten mit dem Bild Winters, der Aussetzung einer Belohnung sowie einer Karte mit dem Text »Den Mördern zur Warnung, den Christen zu Wahrung ihrer teuersten Güter«, aus deren Einnahmen ein Denkmal für den Ermordeten errichtet werden sollte, die Stimmung gegen die Juden zu schüren versuchten. Eine Karte zeigte sogar die fiktive Mordszene, in der Ernst Winter von einer Gruppe von Juden, darunter Moritz Lewy, hingeschlachtet wird, wobei man sein Blut in einem Eimer auffängt. Der Text auf der Karte beschuldigte die Juden offen des Ritualmordes: »An diesem Tage fiel der Gymnasiast Winter in Konitz dem Schächtmesser zum Opfer«.413 Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen lieferten keine Lewy belastenden Ergebnisse, stattdessen gerieten der christliche Schlachter Hoffmann und seine Tochter Martha Ende Mai erneut in Verdacht. Als sie am . Mai von Inspektor Johann Braun, der Hoffmann für den Täter hielt, im Rathaus vernommen wurden, versammelte sich dort eine große Menschenmenge, die an eine Verhaftung der beiden glaubte, und die »Neben-Untersuchungskommission« drängte den Arbeiter Bernhard Masloff zur Wiederholung seiner belastenden Aussage gegen Lewy, der die Behörden aber keine Beachtung schenkten. In Konitz entstand eine feindselige Stimmung gegen die aus Berlin entsandten Kriminalbeamten, denen man vorwarf, die Juden zu schützen. Obwohl beide Hoffmanns am Abend wieder freigelassen wurden, begann spät am Abend eine ca. tausendköpfige Menge Konitzer Bürger, verstärkt durch Personen von außerhalb, unter »Hep-Hep«-Rufen das Haus Lewys und anderer Juden zu attackieren, Häuser städtischer Autoritäten mit Steinen zu bewerfen und Fenster der Synagoge zu zerstören.414 Der Bürgermeister versuchte vergeblich, die Menge zu beruhigen. Erst der Einsatz von berittenen Gendarmen mit gezogenem Säbel konnte nachts um drei Uhr die Menge zerstreuen.415 Die Heftigkeit dieser nächtlichen Ausschreitungen bewog die lokalen wie regionalen Behörden dazu, Militär anzufordern, so dass eine Kompanie Soldaten nach Konitz verlegt wurde, die allerdings nur vier Tage in der Stadt blieb. Bürgermeister, Stadrat und Polizei riefen am . Juni  in öffentlichen Verlautbarungen (»An unsere Mitbürger« bzw. »Warnung«) die Konitzer Bürger auf, nach Sonnenuntergang zu  Abgedruckt in Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. .  Smith betont, dass abends um halb elf Uhr Wagenladungen von Menschen aus der Umgebung eingetroffen seien, so dass die lokalen Behörden annahmen, dass die Unruhen in dieser Nacht einen gewissen Grad von Organisiertheit aufgewiesen hätten (Konitz , S. ).  Landrat von Zedlitz betonte, die Unruhen hätten nun einen »gefährlichen Charakter« angenommen. Eine Gruppe von Antisemiten soll zudem mit Stöcken bewaffnet bereit gewesen sein, den Schlachter Hoffmann mit Gewalt aus dem Arrest zu befreien. Der Landrat hatte zudem keinen Zweifel, dass es dann zur Lynchjustiz gegen die Familie Lewy gekommen wäre (ebd.).

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Hause zu bleiben, und drohten mit dem Einsatz von Schusswaffen.416 Hoffmann und seine Familie versuchten nun den Verdacht von sich abzulenken, indem sie Lewy anschuldigten. Christoph Nonn schreibt diesen »Intrigen Hoffmanns« eine wichtige Rolle zu: »Doch die Intrigen Hoffmanns übertrafen die Wirkung aller Steinwürfe. […] Hoffmann gab den Anstoß für das Ausufern der antisemitischen Krawalle in bisher unbekannte Dimensionen«.417 Obwohl der Fall nicht abgeschlossen war und die antisemitische Presse, darunter neben der Staatsbürger-Zeitung auch das Deutsche Volksblatt und die katholische Zeitung Germania, durch Anschuldigungen gegen die Justiz und das Militär weiterhin Stimmung gegen die Juden machte, aber eben auch gegen den sie schützenden Staat, wurde das Militär am . Juni  abgezogen, was sich als schwerer Fehler erwies. Nach Smith war die Atmosphäre in Konitz nun so »thick with anticipation«, dass etwas passieren würde,418 eine vor Ausbruch von Unruhen typische Situation. Angeheizt wurde die Stimmung gegen die preußische Polizei durch die Verhaftung von Bernard Masloff und seiner Schwiegermutter wegen des Verdachts des Meineides sowie durch die Falschmeldung des Konitzer Tageblatts vom . Juni, dass die Ermittlungen gegen den Schlachter Hoffmann wieder aufgenommen werden sollten. Am Freitagabend steckten Antisemiten den Zaun an der Synagoge und ein paar benachbarte Schuppen an, so dass die Feuerwehr ausrücken musste. Die Zeitungen beschuldigten die Juden der Brandstiftung, um sie belastende Beweise zu vernichten. Bereits am nächsten Abend kam es zu erneuten Übergriffen gegen von Juden bewohnte Häuser. Am folgenden Tag, dem . Juni, einem Sonntag, an dem die Landbevölkerung zum Gottesdienst nach Konitz strömte, ereigneten sich durch deren Mitwirkung die bis dahin schwersten Ausschreitungen. Die Danziger Zeitung berichtete von Tausenden Teilnehmern, die sich auf dem Marktplatz vor dem Rathaus versammelten, um die Freilassung von Masloff und seiner Schwiegermutter zu fordern. Der Israelit druckte am . Juni  einen in der Nationalzeitung veröffentlichten Privatbrief eines christlichen Konitzer Bürgers vom . Juni über die Vorgänge am . Juni ab.419 Der Schreiber hatte beobachtet, dass an diesem Tag zu dem normalen, an Sonntagen in die Stadt strömenden Landvolk auffällig viele Personen in »organisierter Weise« in die Stadt kamen, angeheuert durch in die Umgebung ausgeschwärmte Radfahrer. Er berichtet weiter, dass die Lage ihm und anderen besonnenen Christen so bedrohlich  Ebd., S.  f.  Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. . Seiner Meinung nach vertrieben diese Intrigen »letzten Endes seinen jüdischen Nachbarn und über Hundert von dessen Glaubensgenossen aus Konitz«. Hoffmann setzte mit seiner am . Juni verfassten Eingabe an die Staatsanwaltschaft noch einen drauf, in der er schwere Anschuldigungen gegen Lewy erhob. Vgl. dazu das Kapitel »Die Geschichte des Schlachters« im gleichnamigen Buch von Smith, S. -.  Smith, Konitz , S. .  Der Israelit, Heft , .., Erste Beilage, S. .

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zu werden schien, dass sie ihre jüdischen Nachbarn aufsuchten und sie baten, in ihren Häusern zu bleiben. Er betonte, dass diese am Abend sowieso ihre Häuser nicht mehr verlassen konnten, ohne sich Insultierungen, Beschimpfungen oder gar tätlichen Angriffen auszusetzen. Am Sonntagmittag (ab  Uhr, nach anderen Berichten um  Uhr) waren einige Straßen von einer großen Menschenmenge gefüllt, und unter »Hep-Hep«-Rufen begann der übliche Steinhagel auf die Häuser jüdischer Geschäftsinhaber und schließlich auch auf die Synagoge, wobei hier die Polizei ein Eindringen der Tumultuanten zunächst verhindern konnte, bevor dann das Innere der Synagoge doch demoliert wurde.420 Landrat v. Zedlitz und Bürgermeister Dedetius versuchten vergeblich, die Menge zu beruhigen, sie wurden niedergeschrien und Letzterer musste vor der Menge flüchten und sich im Rathaus verbarrikadieren. Die Menge ließ sich weder durch die mit gezogenem Säbel ausrückenden Gendarmen noch durch den in der Stadt ausgelösten Feueralarm beeindrucken.421 Die Tumultuanten machten auch vor Übergriffen gegen Polizisten nicht halt422 bzw. befreiten bereits verhaftete Personen. Insgesamt sollen  Personen verhaftet worden sein. Der Schreiber spricht von »an Aufruhr grenzenden Excessen«, die nur durch die Verhängung des Belagerungszustandes durch den Landrat und mit dem Einsatz von Militär, das abends um halb zehn in Konitz eintraf und die Straßen im Laufschritt mit aufgepflanztem Bajonett säuberte, beendet werden konnten. Dabei wurden einige Tumultuanten verletzt. Aufgrund der schweren Ausschreitungen kehrte der bereits zuvor entsandte Geheime Oberregierungsrat wieder nach Konitz zurück, und Militär in Bataillonsstärke wurde in die Stadt beordert, das nun so lange dort stationiert bleiben sollte, bis die Ordnung vollständig gesichert erschien. Das Militär wurde denn auch erst im Januar  wieder abgezogen. Durch Anschläge wurde in Konitz bekannt gemacht, dass das Bataillon mit sechshundert Mann am . Juni  »auf telegraphischen Befehl des Kaisers eingerückt sei« und auf den Straßen Posten bezogen habe, um besonders das Haus Lewys und die Synagoge zu schützen. Mit dieser Berufung auf die kaiserliche Autorität hoffte man, den antisemitischen Agitatoren den Wind aus den Segeln zu nehmen.423 Die Intervention des Kaisers zeigt aber, dass man in den Unruhen nicht zu Unrecht auch eine Revolte gegen die staatliche Autorität sah. Wie schlimm man die Lage in Konitz von Seiten der AZJ, aber auch seitens der Regierung einschätzte, zeigt, dass Erstere Ende Juni  vom »Kriegsschauplatz« in Konitz sprach und Letztere das Militär auf unbestimmte Zeit in Konitz belassen wollte.424 Auch in den  Neiss, Konitz, S. ; dazu kurz auch Nonn, Zwischenfall, S. .  Smith, Konitz , S. .  Dabei wurden auch die Berliner Polizeikommissare Wehn und Block attackiert, wobei Letzterer nach einem Bericht der Berliner Korrespondenz durch einen Steinwurf verletzt wurde. Zit in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Solche Einquartierung von Militär kam die Orte teuer zu stehen. Der Israelit schrieb von täglich . Mark, die Konitz zu tragen hatte (Heft , .., Erste Beilage, S. ); in der Zweiten Beilage, S. , war allerdings nur von  Mark täglich zu lesen.  Vgl. den Abdruck der Bekanntmachung des Magistrats vom . Juni  in: Der Israelit, Heft , .., Zweite Beilage, S. . Das königliche Garnisonskommando machte ferner als Warnung an die Bürger die Einsatzregeln des militärischen Vorgehens bei

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unruhigen Orten der Umgebung erhielt die lokale Polizei Verstärkung, und berittene Gendarmen patrouillierten am Abend durch die Straßen. Doch nicht nur in Konitz, auch an anderen Orten Westpreußens kam es ab Ende Mai erneut zu antijüdischen Krawallen. So berichtete die AZJ am . Mai und am . Juli  von Ruhestörungen am . und . Mai in Stolp, die einen antisemitischen Charakter angenommen hätten, wobei die Schaufenster mehrerer jüdischer Läden zerstört wurden. Die Polizei habe lange Zeit nicht eingegriffen, dann sei aber ein Husarenregiment angefordert worden, das von der Waffe Gebrauch machte, wobei es viele Verwundete gegeben habe. Ausgangspunkt des Krawalls war aber wohl ein Konflikt zwischen einem Arbeiter und einem Polizisten, der Ersteren mit einem Säbelhieb verletzt hatte, woraufhin der Polizist von Freunden des Angegriffen mit mehreren Messerstichen verletzt worden sei. Erst später habe der starke Krawall, bei dem die Polizei vor der nach »Tausenden zählenden Menge« zurückweichen musste, eine antijüdische Ausrichtung genommen, als aus der Menge der Ruf »Raus mit den Juden« und »Hep! Hep!« erhoben worden sei. Dies zeigt, wie schnell in dieser Zeit jede größere erregte Menschenmenge in antijüdische Richtung umschwenken konnte. Zur Bewältigung der »starken Ausschreitungen« musste zweimal militärische Hilfe in Anspruch genommen werden.425 Übergriffe gegen die Häuser und die Synagoge wurden Ende Mai bis Mitte Juni auch aus Bütow und Rummelsburg i. Pommern (am .. bzw. am ..), Krojanke (. Juni) Schlochau (. Juni), Berent (./. Juni) und Janowitz (. Juni) gemeldet.426 Es Unruhen bekannt. Die Regierung sah sich veranlasst, in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung einen Artikel zu publizieren, in dem die unparteiische Ermittlungsarbeit der Behörden dargestellt wird, die durch die häufig unwahren Aussagen der Konitzer Bevölkerung leider eher behindert als gefördert würde (Der Israelit, Heft , .., Erste Beilage, S. ). Ein Journalist der konservativen Zeitung Die jüdische Stimme nannte die Lage »fast revolutionär« (, Nr. , , S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage: Der Gemeindebote, S. ; Der Israelit, Heft , .., S.  (laut Bericht der Ostsee Zeitung). Die Zeitung machte die Berichte der örtlichen konservativen Zeitung über die Konitzer Affäre für diese antijüdische Wendung verantwortlich. AZJ, Jg. , Heft , .., Beilage: Der Gemeindebote, S. . Die AZJ berichtet, es habe sich bei den Krawallen nach Ansicht der Anklagebehörde um ein planmäßiges Vorgehen hiesiger antisemitischer Kreise gehandelt, die die Jugend durch Hetzrufe (»Hep-Hep«) angereizt hätten. Es seien fünfzig Personen verhaftet worden, wovon  wegen Aufruhrs, Hausfriedensbruchs, Sachbeschädigung, Widerstands gegen die Staatsgewalt und groben Unfugs angeklagt wurden. Die zwischen  und  Jahre alten Angeklagten waren hauptsächlich Lehrlinge, Gesellen und Arbeiter. Der Israelit (Heft , .., S. ) stellte eine Liste von Urteilen zusammen, die das Konitzer Landgericht über die Vorfälle im Mai in Hammerstein und Prechlau wegen Landfriedensbruch erließ. Während die angeklagten christlichen Täter freigesprochen wurden, wurden zwei Juden, die sich gewehrt hatten, zu einer Geld- bzw. einer kurzen Freiheitsstrafe verurteilt.  Im deutschen Reich, Jg. , Heft , Juni , S. ; Heft , September , S. ; ein Bericht zum zweistündigen Krawall in Bütow, bei dem den Juden die Scheiben eingeworfen wurden und man die Synagoge vollständig demolierte, wobei acht Personen verhaftet wurden. Als Vorsichtsmaßnahme ließ die Polizeiverwaltung die Gaststätten am nächsten Abend früher schließen und forderte die Meister auf, ihre Leute, die Herrschaften ihre

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kam in dieser Zeit auch zu Angriffen auf einzelne Juden, die unterwegs attackiert und misshandelt wurden.427 Neben dem Geheimen Oberregierungsrat, der sich über die Lage gründlich informieren sollte, um bei einer späteren Interpellation im Reichstag Auskunft geben zu können, wurde vom Innenministerium noch ein weiterer Kriminalkommissar aus Berlin nach Konitz entsandt.428 Für die AZJ hatten nun die »fortgesetzten Hetzereien […] blutige Früchte getragen, und jetzt beginnt den Hetzern selbst Angst und Bange zu werden«.429 Denn nun sah sich selbst ein nationalliberales Blatt dazu veranlasst, die antisemitische Hetze in Konitz als Verursacher eines Geisteszustandes der Konitzer Bevölkerung anzusehen, den das Blatt als »Tollheit« bezeichnete. Nachdem vor allem die Beteiligung von jungen Polen an den auch gegen die Staatsmacht gerichteten Ausschreitungen sichtbar geworden war, ruderten sogar die Konitzer konservativen Honoratioren, die mit den organisierten Antisemiten sympathisiert hatten, zurück und wandten sich gegen deren Agitation. Selbst die nun in die Kritik geratenden Parteiantisemiten um die Staatsbürger-Zeitung schwenkten um und warnten vor einem illegalen gewalttätigen Vorgehen gegen die Juden, die man mit legalen Mitteln wie einem Einkaufsboykott bekämpfen könne. Christoph Nonn kommt zu dem Schluss, dass »das Engagement der Polen auf Seiten des Antisemitismus diesen unter den Deutschen weitgehend« diskreditiert habe.430 Mit diesem Höhepunkt antijüdischer Gewalt kam die Kette der Unruhen in Konitz, jedoch nicht überall in Westpreußen zum Erliegen. In Schlochau kam es am . Juni, in Schlawe am . Juni  zu kleineren Unruhen,431 und nach Smith waren in der Gegend eine ganze Reihe antisemitischer Übergriffe zu verzeichnen, bei denen Friedhöfe geschändet (Hammerstein), in die Synagoge eingebrochen (Janowitz) oder Juden schwer verprügelt wurden.432 Eine antijüdische Stimmung blieb in der Gegend weiterhin spürbar. Als einen Beleg dafür kann man nehmen, dass bei den Reichstagswahlen  der im an Konitz angrenzenden Kreis

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Mädchen zu Hause zu halten, da man neue Unruhen befürchtete. Vgl. Die Welt, Heft , .., S.  f. In der von M. Horwitz veröffentlichten Statistik wurden in Berent dagegen neun Personen verurteilt. Die Strafen lagen zwischen Geldbußen und der Höchststrafe von einem Jahr Gefängnis (»Konitz«. Im deutschen Reich, Jg. /Nr. , , S. -, hier S. ). Vgl. den Bericht über den Angriff auf einen -jährigen jüdischen Handelsmann in der Nähe des westpreußischen Ortes Kamin, der schwer verletzt und hilflos aufgefunden wurde (Im deutschen Reich, Jg. , Heft , Juni , S. , nach einem Bericht der Volkszeitung). AZJ, Jg. , Heft , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. . Der Israelit, Heft , .., S. ; die österreichisch-jüdische Zeitung Die Welt datiert die Ausschreitungen in Schlawe auf den . Juni. Dort kam es zu Unruhen, nachdem das Militär zum Manöver ausgerückt war. Die Menge nutzte dies sofort aus, um wiederum die Scheiben jüdischer Geschäfte und Häuser unter »Hep-Hep«-Rufen zu zertrümmern (Heft , .., S. ). Smith, Konitz , S.  f.

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Schlochau-Flatow (Regierungsbezirk Marienwerder ) aufgestellte Kandidat der antisemitischen Deutschen Reformpartei, Otto Heinrich Böckler, ein Drittel der Stimmen bekam, um in der Stichwahl gegen die Polnische Partei sogar mit einer Zweidrittelmehrheit ein Reichstagsmandat zugewinnen.433 Auch die Tatsache, dass einerseits der in Verdacht geratene Schlachter Gustav Hoffmann, der seinen jüdischen Konkurrenten Lewy weiterhin anschuldigte, vom Stadtrat eine Ehrenerklärung bekam, diejenigen aber, die sich gegen den Antisemitismus gestellt hatten, wie der Bürgermeister und sein Stellvertreter sowie der Gymnasiallehrer und Gründer des Konitzer Bürgervereins, Dr. Praetorius, die Stadt verließen bzw. gezwungen wurden, ihre Position aufzugeben, spricht ebenso für das Fortbestehen einer polarisierten, antisemitischen Stimmung in der Stadt, wie auch, dass ein Konitzer Gasthaus sich als »judenfreie« Unterkunft anpries.434 Der Täterkreis Was die Täter betrifft, so waren es laut Zeitungsberichten und amtlichen Darstellungen sowie den Angaben zu Verhaftungen vor allem junge Arbeiter, Lehrlinge und Handwerksgesellen, bisweilen auch Schüler. Diese jungen Männer aus der Unterschicht, denen Nonn eine »diffuse Gewaltbereitschaft« zuschreibt, stellten wohl vor allem die Steinewerfer, die sich auch mit den Ordnungskräften anlegten und damit zum »Kristallisationskern« der Unruhen wurden. Diese Aktivisten bei den Unruhen, die sich mit der preußischen Polizei und dem Militär anlegten, waren laut Nonn fast ausnahmslos Polen. Dies galt in besonderem Maße für die heftigen Ausschreitungen am . Juni , als Teile der Landbevölkerung nach Konitz geströmt waren, so dass die Behörden in diesen Ereignissen fast eine Rebellion gegen die Staatsmacht sahen.435 Nach Nonn lässt sich aus den Berichten aber auch erkennen, dass vor allem bei den größeren Tumulten Ende Mai und Anfang Juni in Konitz auch weitere Kreise beteiligt waren, darunter Frauen und Kinder, Ärzte, Handwerksmeister und Gutsbesitzer.436 Den Frauen in Konitz und  Böckler gewann im ersten Wahlgang . von . Stimmen. In der Stichwahl gegen den zweitplazierten polnischen Kandidaten erreichte er mit . zu . Stimmen eine klare Mehrheit (Stefan Scheil, Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen  und . Eine wahlgeschichtliche Untersuchung, Berlin , S. ). Böckler arbeitete seit  als Redakteur u. a. bei der antisemitischen Staatsbürger-Zeitung und war von  bis  Führer der antisemitischen Bewegung in Pommern. Im Wahlkreis Konitz-Tuchel stellten die Antisemiten keinen eigenen Kandidaten auf, da hier die Polen die Bevölkerungsmehrheit stellten und jeweils den Kandidaten (Wiktor Kulerski) der Polnischen Partei durchbringen konnten.  Smith, Konitz , S. .  Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S.  und S. .  Nonn, Zwischenfall, S. . Nonn zitiert aus einem Bericht des Landrates von ZedlitzNeukirch an den preußischen Innenminister Rheinbaben, in dem der Landrat einräumte, dass »auch das bessere Konitzer Publikum teils durch die Teilnahme an der Aufhetzung des Volkes, teils durch Nichtgeltendmachung seines Einflusses auf Arbeiter und Dienst-

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Umgebung wird eine bedeutende Mitwirkung an der Aufhetzung zugeschrieben. Zu den überzeugten Antisemiten in Konitz gehörten mehrere Lehrer, der spätere Herausgeber der Lokalzeitung und weitere Elitepersonen, die auch den Kern der Neben-Untersuchungskommission bildeten.437 Zwar waren wie auch in den meisten anderen Fällen antisemitischer Ausschreitungen die Träger der gewalttätigen Übergriffe junge Männer aus den unteren Schichten, doch lagen der Gewalt keine klassenspezifischen Motive zugrunde, vielmehr teilten sie mit Menschen aus allen Schichten und Altersgruppen die Auffassung, die Juden dürften wegen des Mordes nicht ungestraft davonkommen und genössen zudem den Schutz seitens der Justiz und der Berichterstattung. »The outstanding impression, then, is that antisemitic sentiment, […], cut across lines of class and gender, religion and ethnicity«.438 Nonn sieht einen weiteren, die Spannungen in der Region verschärfenden Punkt in der Germanisierungspolitik des Deutschen Reiches, die die Konflikte zwischen den polnischen Katholiken und den deutschen Protestanten anheizte. In diesem Nationalitätenkonflikt standen die Juden zumeist auf der deutschen Seite. Angesichts der im Frühjahr anstehenden Landtagsersatzwahl war die Stimmung zusätzlich politisch aufgeladen, so dass eine systematisch geschürte antisemitische Hetze zu beoachten war.439 Der polnische Antisemitismus habe deshalb in den Grenzregionen eine besondere Schärfe angenommen, da sich der religiöse Gegensatz mit dem »nationalen« verband. Seiner Meinung nach speiste »das Spannungspotential beider Konfessionen den Ausbruch der antisemitischen Ausschreitungen mit«, wobei die Eliten des polnischen Katholizismus und die mit ihr verbündete nationalpolnische Bewegung »den Funken für das Feuer antisemitischen Raserei zündeten oder anfachten«.440 Was als antijüdische Ausschreitungen begonnen hatte, entwickelte sich vor allem in den polnisch dominierten Bezirken Westpreußens und Posens zu Auseinandersetzungen zwischen den polnischen Demonstranten und dem preußischen Militär.441

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boten, zu einem kleinen Teil sogar durch positive Anteilnahme an den Aufläufen zu Mitschuldigen gemacht« hätte (Eine Stadt sucht einen Mörder, S. ). Smith, Konitz , S.  ff. Ebd., S. . Nonn spricht von »gezieltem Wahlterrorismus« gegen Juden, mit dem das polnisch-katholische Lager, darunter häufig die Pfarrer, die wahlenentscheidenden jüdischen Wähler abzuschrecken suchte, woraufhin bei den Wahlen deutsche Sicherheitskräfte zum Schutz der Juden abgestellt wurden (ebd.). Ebd., S.  f. In seinem früheren Aufsatz zu Konitz hatte Nonn noch die Annahme, dass der Antisemitismus eine Begleiterscheinung des in dieser Region virulenten Nationalitätenkonflikts zwischen Deutschen und Polen gewesen sei, nicht bestätigt gefunden (Zwischenfall, S.  ff.). Er wies zudem darauf hin, dass Zusammenstöße mit Körperverletzungen bis hin zum Mord zwischen Polen und Deutschen wesentlich häufiger waren als zwischen Juden und Christen (ebd., S. ). Beispiele für den z. T. auch gewaltsam ausgetragenen deutsch-polnischen Konflikt siehe Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. .

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Die Aufarbeitung des Falles: eine Prozesswelle Aufgrund des ernsten Charakters der Ausschreitungen, die sich nun über Westpreußen und Hinterpommern bis nach Oberschlesien auszuweiten drohten, wurde keine Interpellation, wie ursprünglich beabsichtigt, im Preußischen Abgeordnetenhaus eingebracht, weil man dadurch nur »neuen Zündstoff zur Verhetzung der Massen« geliefert hätte. Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung veröffentlichte einen Artikel, in dem die energische und unparteiische Ermittlungsarbeit der Justizbehörden gelobt und die parteipolitische Agitation und die skrupellose Tätigkeit gewisser Presseorgane getadelt wurde. Die Konitzer Bevölkerung wurde zur objektiven Unterstützung der Ermittlungen und zur Besonnenheit aufgerufen, da die Ausschreitungen der letzten Tage auch »für die gesammte Einwohnerschaft von Konitz von den schwersten Folgen begleitet sein müßten«.442 Die Danziger Zeitung druckte eine vom Landrat des Kreises, Baron v. Zedlitz-Neukirch, in einer Bürgerversammlung gehaltene Rede ab, in der dieser von einer schweren Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Konitz und Umgebung durch die Kaltstellung der jüdischen Geschäfte, durch die Aufhebung der Jahrmärkte und durch die Erhöhung der Abgaben der Gemeinde wegen der auf unabsehbare Zeit nötigen Stationierung von Militär sprach.443 Er wies zudem darauf hin, wie sehr das gesellschaftliche Leben und gegenseitige Vertrauen durch die »Verhetzung während der letzten Monate gelitten« hätten. Auch der Landrat schloss sich der damals weit verbreiteten Auffassung an, dass ein Ritualmord seitens der jüdischen Gemeinde selbstverständlich auszuschließen sei, dass aber wohl das Verbrechen »einzelner [jüdischer, W. B.] Fanatiker« vorliegen könne.444 Weniger hervorgehoben wurde allerdings dabei, dass die Existenz jüdischer Geschäftsleute gefährdet oder, wie im Falle des Schlachters Lewy, ruiniert war.445 Die Konitzer Ritualmordaffäre beschäftigte aber die Öffentlichkeit und die Behörden noch bis Anfang . Das Verfahren gegen den christlichen Schlachter wurde Ende Juni  mangels Beweisen eingestellt, was die Antisemiten zur Erneuerung ihrer These von einem jüdischen Ritualmord ermunterte. Auch der immer noch inhaftierte Wolf Israelski wurde im September mangels Beweisen freigesprochen.446 Wegen der antisemitischen Unruhen wurden  Personen wegen  Zit in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. , Zitat gesperrt gedruckt.  Horwitz, »Konitz«, wies ironisch auf die hohen Kosten der Stationierung hin und zitierte aus der Staatsbürger-Zeitung, die geklagt habe, »die Steuerlast in Konitz sei eine ungeheure geworden für das laufende Jahr«, was ihrer Meinung nach »alles um der verfluchten Juden willen« geschehen sei (S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Die AZJ zitiert hier aus der Danziger Zeitung.  Der Israelit, Heft , .., Zweite Beilage, S. .  Mord in Konitz, in: Die Welt, Nr. , .., S. - (Prozessbericht vom ..); die Haltung der Anklagebehörde, die fünf Jahre Gefängnis beantragt hatte, wurde sogar von Seiten der antisemitischen Staatsbürger-Zeitung kritisiert, die die Anklage gegen Israelski, die sie lange selbst unterstützt hatte, nun als Missgriff tadelte, was ihr den Spott der Welt eintrug (Die Welt, Nr. , .., S. ). Vgl. auch zum »Prozess Israelski« Der Israelit,

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Landfriedensbruch, Rebellion, Sachbeschädigung, Belästigung und Körperverletzung angezeigt. Die Strafen reichten von Geldstrafen bis zu kürzeren (vier Wochen) und längeren (drei Jahre) Haftstrafen.447 In Konitz bildete sich eine »Vereinigung zur Aufklärung des Mordes in Konitz«, die in einem Aufruf um Geldspenden bat und ankündigte, »jede Spur rücksichtslos zu verfolgen«. Durch die Hervorhebung von »jede Spur« insinuierte sie, die Behörden seien Juden belastende Spuren nicht genügend nachgegangen.448 Dieser Aufruf war von wichtigen Persönlichkeiten aus Konitz unterzeichnet worden, darunter sämtliche Mitglieder des Stadtrates, der evangelische und der katholische Geistliche und die großen Gutsherren der Umgebung.449 Auch die Antisemiten setzten ihre Agitation bis in den Sommer  fort. Der Redakteur der Staatsbürger-Zeitung, Wilhelm Bruhn, reiste durch Westpreußen und das östliche Hinterpommern, um dort auf Versammlungen seine Hetzreden zu verbreiten.450 Die Stadt Konitz kam aber auch aus einem weiteren Grund nicht zur Ruhe, denn man fand im Januar  Kleidungsstücke Ernst Winters, deren Untersuchung der These widersprach, das Opfer sei durch einen Schnitt durch die Kehle getötet worden. Man nahm nun als wahrscheinliche Todesursache Tod durch Ersticken an, und die Spermaflecken auf der Kleidung ließen auch die bereits bestehende Vermutung eines sexuellen Motivs wiederaufleben. Nun gerieten eine ganze Reihe christlicher Konitzer unter Mordverdacht.451

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Heft , .., Beilage, S.  f.; und Heft , .., Dritte Beilage. Auch AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Vgl. die Übersicht über die Orte, die Anzahl der Verhaftungen und die Höhe der verhängten Strafen bei Horwitz, »Konitz«, S. . Von den insgesamt  Personen wurden in Stolp , in Bütow zehn, in Konitz , in Czersk zehn, in Berent neun, in Rummelsburg vier, in Hammerstein zwei verurteilt. Auch die Presse berichtete von diesen Prozessen gegen die an den Ausschreitungen beteiligten Personen, vgl. etwa den Prozess gegen elf Angeklagte wegen der Judenexzesse in Czersk, in: Die Welt, Nr. , .., S.  f., in denen vier Angeklagte Strafen von vier Monaten Gefängnis, zwei Angeklagte drei Monate, vier Angeklagte je einen Monat bekamen. Einer kam mit einer Geldstrafe davon, ein Mädchen von  Jahren wurde freigesprochen. In einem Prozess gegen neun Angeklagte aus Konitz wegen der Ausschreitungen am . Juni  gab es ebenfalls recht strenge Strafen von neun, fünf und drei Monaten Gefängnis (Im deutschen Reich, Jg. , Heft , Oktober , S. ). Dazu Horwitz, »Konitz«, S. . Horwitz führt dazu weiter aus, der Justizminister habe im Preußischen Abgeordnetenhause dazu erklärt, die Unterzeichner des Aufrufs seien vom Untersuchungsrichter vernommen worden, »um ihm einmal mitzutheilen, was sie denn nun ›aufgeklärt‹ hätten, und da haben die Herren sämmtlich erklärt, daß sie nichts wüßten«. Horwitz bringt eine lange Aufzählung von gegen Juden angestrengte Ermittlungsverfahren und Prozesse (S. ). Smith, Geschichte des Schlachters, S. . Eine Übersicht über die von Bruhn besuchten Orte bei Horwitz, »Konitz«, S. . In Schneidemühl soll er sogar eine antisemitische Partei, den »Antisemitischen Volksbund«, gegründet haben. Smith, Geschichte des Schlachters, siehe das Kapitel: Der Mörder, S.  ff.

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Die Justiz musste nun die zwischen April und Juni in Konitz aufgelaufenen falschen Denunziationen und Strafanträge bearbeiten. Sie war mit einer Kette von Beleidigungs- und Meineidsprozessen gegen Zeugen befasst, die Juden fälschlich bezichtigt hatten. Von den vier Angeklagten wurden zwei freigesprochen, zwei erhielten Gefängnisstrafen von einem bzw. zwei Jahren.452 Als in einem dieser Prozesse Adolph Lewy behauptete, er habe das Opfer Ernst Winter nicht gekannt, konnte ihm dies als Falschaussage nachgewiesen werden. Das Gericht verurteilte ihn deswegen unverhältnismäßig viel härter als die anderen des Meineides Beschuldigten, nämlich zu vier Jahren Gefängnis, weiteren vier Jahren Ehrverlust und dauernder Aberkennung der Eidesfähigkeit.453 Auch der Vater des Ermordeten und die ihn unterstützenden Antisemiten gaben keine Ruhe. Der Vater stellte einen Strafantrag gegen Adolph Lewy und seinen Sohn Moritz sowie gegen einen weiteren jüdischen Metzger, und die weiter agierende »Nebenkläger-Untersuchungskommission« veröffentlichte ein auch vom evangelischen und katholischen Pfarrer der Stadt unterzeichnetes Flugblatt, das zu Geldspenden zugunsten der Familie Ernst Winters aufrief und wiederum eine jüdische Täterschaft suggerierte.454 Es gründete sich auch ein »Komitee für ein dem ermordeten Winter zu errichtendes Denkmal«, das trotz des durch die medizinischen Gutachten widerlegten Vorwurfs, dieser sei durch einen Schächtschnitt ermordet worden, auch einen Grabstein mit der bereits für das geplante Denkmal projektierten Inschrift »Den Mördern zur Warnung – den Christen zur Wahrung ihrer theuersten Güter« errichten lassen wollte, die ganz deutlich den Ritualmordvorwurf fortschrieb.455 Es begann nun ein langer Kampf, in dem Sachverständige immer neue Obduktionsgutachten vorlegten, die teils die Auffassung von Schächtschnitten am Körper des Toten zu belegen suchten, teils aber aufgrund neuer kriminaltechni Vgl. Meineidprozess gegen Speisinger, in: Die Welt, Nr. ,  und , .. bzw. .. und ...  Nach zwei Jahren im Gefängnis wurde Lewy im Oktober  von Kaiser Wilhelm II. begnadigt (Smith, Die Geschichte des Schlachters, S. ). Auch ein anderer jüdischer Kaufmann, Jakob Jacoby aus Tuchel, wurde vom Kaiser zu sechs Monaten Gefängnis begnadigt, nachdem er zuvor vom Schwurgericht in Konitz wegen wissentlicher Falschaussage zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt worden war, weil er in einem Strafverfahren gegen jugendliche »Hep-Hep«-Schreier, fälschlich behauptet hatte, er habe sie nicht als »Lorbaß« und Ähnliches bezeichnet (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Andere Meineidverfahren, so gegen den Konitzer Synagogendiener und einen jüdischen Fleischermeister aus Prechlau, wurden hingegen eingestellt (ebd.). Der Synagogendiener wurde aber wegen Beleidigung des Fleischermeisters Hoffmann und seiner Tochter, die er als Mörder Winters bezeichnet hatte, zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Für das gleiche Delikt, nämlich die Beleidigung des jüdischen Schlachters Lewy, bekam eine christliche Frau hingegen vom Schöffengericht nur eine Geldstrafe von  Mark, die später von der Strafkammer auf  erhöht wurde (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). In dieser Ungleichbehandlung zeigt sich die antijüdische Voreingenommenheit der Schöffen und damit der Konitzer Bevölkerung.  Neiss, Konitz, S.  f.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

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scher Ergebnisse auf einen Tod durch Ersticken des Opfers hindeuteten, weshalb man erwog, die Anklagen gegen die vom Vater Ernst Winters beschuldigten Juden fallenzulassen. Doch die durch die Agitation der Antisemiten aufgeheizte Stimmung veranlasste das Justizministerium dazu, weitere Sachverständigengutachten einzuholen.456 Erst ein weiteres Gutachten der angesehenen Berliner Ärzte Rudolf Virchow und Ernst von Bergmann im Januar , das den Erstickungstod sowie ein Ausbluten des Körpers erst nach dem Tod bestätigte, machte die Anklage gegen Lewy gegenstandslos. Dieses Vorgehen des Staates zeigt, wie sehr seine Vertreter bei ihrem Vorgehen auf das erkennbare Misstrauen der Bevölkerung Rücksicht nehmen zu müssen glaubten. Doch auch für die Antisemiten ging die Affäre nicht ohne negative Folgen aus. Im Oktober  wurden der Herausgeber der Staatsbürger-Zeitung, Wilhelm Bruhn, und der verantwortliche Redakteur Paul Bötticher wegen Beleidigung und Verleumdung zu sechs bzw. zwölf Monaten Gefängnis verurteilt – allerdings wegen Beamtenbeleidigung und nicht wegen ihrer Hetze und Verleumdungen gegen die Juden in Konitz.457 Auch der verantwortliche Redakteur der katholischen Zeitung Germania wurde wegen grober Ehrenkränkung der Behörden und Beamten zu einem Monat Gefängnis verurteilt, weil das Blatt den nicht zu beweisenden Vorwurf erhoben hatte, die Behörden würden das Recht zugunsten der angeblich schuldigen Juden beugen.458 Insgesamt aber beklagten liberale Blätter wie die Kölnische Zeitung und die National-Zeitung, dass die Regierung gegen die »wohl niederträchtigste Beschuldigung, die jemals gegen die Regierung und Justiz eines Landes von den eigenen Landeskindern erhoben worden ist«, nämlich die Verschleierung von jüdischen Mordtaten an den christlichen Untertanen, nicht juristisch vorginge und diese nicht auch öffentlich ausdrücklich zurückweise. Die National-Zeitung unterstellte der Regierung eine »Scheu vor gewissen Gesellschaftskreisen, deren Sympathie für die Konitzer Excedenten keinem Zweifel unterliegt«.459 Im Unterschied zu den Ausschreitungen im nahe gelegenen Neustettin und Umgebung im Jahre , in denen die Tumultuanten davon ausgingen, im Sinne des preußischen Saates zu handeln (»loyale« Ausschreitungen), war dies in Konitz nicht gegeben. Zwar waren in der konservativen Bürokratie Preußens unterschwellig durchaus antisemitische Einstellungen bzw. wenig Sympathie für die jüdische Bevölkerung vorhanden,460 was sich etwa dadurch ausdrücken konnte, dass man  Vgl. dazu AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Horwitz gab in seinem Vortrag »Konitz« eine Darstellung über den Inhalt und Verlauf der ärztlichen Gutachten bis zum November  (Im deutschen Reich, Jg. , Heft , , S.  ff.).  Ebd.; auch: AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Prozessbericht auch in: Der Israelit, Heft , .., Beilage, S.  ff.; Heft , .., S.  und S.  f.; Heft , .., S. -, und Beilage, S. .  Die Welt, Nr. , .., S. .; vgl. »Ein Pressprozeß aus Anlaß d. Konitzer Mords« in: Der Israelit, Heft , .., Erste Beilage, S.  f.  Zit. in: Der Israelit, Heft , .., Zweite Beilage, S. .  Vgl. dazu Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, Kap. : Die Banalität des Beamtentums.

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die Ausschreitungen als von Juden provoziert hinstellte, den Schutz einzelner Juden ablehnte, nur zögernd zum Schutz der Juden eingriff und diese härter betrafte als Christen.461 Nach Nonn erschwerte es diese unentschiedene Haltung des Staates den agierenden Staatsdienern vor Ort, sich selbst eindeutig zu positionieren, da sie im Unklaren darüber waren, was die Vorgesetzten in Marienwerder und Danzig bzw. sogar Berlin von ihnen erwarteten. Einige verhielten sich deshalb seiner Meinung nach häufig opportunistisch.462 Spätestens aber zu dem Zeitpunkt, als die Unruhen sich immer stärker gegen die staatlichen Autoritäten wandten, wurde der preußische Staat zu einem scharfen Eingreifen gezwungen. Einige Akteure, die zunächst durchaus noch mit den Antisemiten sympathisierten, wie der Konitzer Landrat Baron von Zedlitz oder der aus Berlin entsandte Kommissar Wehn, vollzogen im Laufe der Affäre eine Kehrtwendung, teils aus Opportunismus (wie v. Zedlitz), teils aus Überzeugung (Wehn).463 Insgesamt trifft die Einschätzung Christoph Nonns sicher zu, dass es dem preußischen Staat primär um die Aufrechterhaltung seines Gewaltmonopols und der öffentlichen Ordnung ging und nicht um eine Parteinahme für seine jüdischen Bürger. Dennoch war im Fall Konitz durch die klare Haltung des Bürgermeisters und auch der ermittelnden Berliner Kriminalisten, die die Ritualmord-These als »alberndes Märchen« abtaten und sich, wie der Bürgermeister, aktiv gegen die Antisemiten wandten, den Konitzern signalisiert worden, dass sie nicht mit der stillschweigenden Billigung der Behörden rechnen konnten. Tatsächlich nahmen deshalb die Ausschreitungen im Laufe der Zeit immer stärker staatskritische Züge an. So kam es anlässlich der Verhaftung des christlichen Schlachters Hoffmann und seiner Tochter zu Protesten gegen das Vorgehen der Polizei, und es wurden neben dem Hause Lewys auch Polizisten mit Steinwürfen attackiert. Bei dem besonders großen Auflauf am . Juni  wurde auch der Landrat zur Zielscheibe von Gewalt, und man verprügelte Gendarmen und die Berliner Polizeikommissare. Als das bereits aus Konitz abgezogene Militär wieder in der Stadt erschien, rief dies eine neue Gewaltwelle hervor, die sich nun vor allem gegen die Soldaten richtete, die mit Steinen beworfen wurden. Auch in anderen Orten warf man Behördenvertretern, die sich für den Schutz der Juden einsetzten, die Fenster ein.464 Auch die ständigen Vorwürfe, Polizei und Justiz würden den Verdachtsmomenten gegen Juden nicht hinreichend nachgehen und der Staat würde die Juden schützen, zeigen, dass man sich in diesem Fall gegen den Staat positionierte und von ihm keine Unterstützung für das Gewalthandeln erwartete.

 Nonn, Zwischenfall, S.  f. Nach Nonn hat es tatsächlich Fälle jüdischer Selbsthilfe gegeben, in denen Steine werfende Schulkinder verprügelt worden waren.  Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S.  f.  Ebd., S.  ff.  Nonn, Zwischenfall, S. .

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Wissenschaftliche Deutungen der Konitzer Affäre Die Konitzer Affäre ist gleichzeitig von zwei Historikern, Christoph Nonn und Helmut W. Smith, gründlich untersucht worden, die zwar nicht in der Darstellung der Ereignisse, aber sehr wohl in der Interpretation des Falles und seiner Einordnung in die Geschichte der Judenfeindschaft unterschiedliche Auffassungen vertreten.465 Dies betrifft vor allem die Rolle der Ritualmordbeschuldigung. Nonn sieht die Affäre nicht als Ausdruck eines »Überhangs traditioneller Mentalitäten«, da sich die Ritualmordgerüchte seiner Meinung nach nicht ohne weiteres als »das Aufwallen einer ›Barbarei längst verflossener Jahrhunderte‹« verstehen ließen. Er betont umkehrt aber auch, dass der moderne organisierte Antisemitismus, wie er in der Staatsbürger-Zeitung verfochten wurde, die Affäre zwar für seine Zwecke zu instrumentalisieren suchte, dass das Verhalten der Konitzer Bevölkerung aber auch nicht als Ausdruck dieser neuen antisemitischen Ideologie zu betrachten sei, zumal es in Konitz selbst um  keinen organisierten Antisemitismus gab.466 Nonn führt vielmehr als Bedingungen für die Ausgrenzung durch Gerüchte und Gewalt, »stereotypes Denken und Krisensituationen«, »soziale, religiöse und ethnische Gegensätze an, besonders wenn deren gewalttätige Austragung vielfach akzeptiert wird«. Hinzu rechnet er auch das Geltungsbedürfnis von Menschen, wie sie in der hitzigen Gerüchtekommunikation zum Ausdruck kam, auf die sich sein Buch in besonderem Maße konzentriert. Diese Bedingungen sieht Nonn als quasi anthropologische Konstanten an.467 Nonn verweist aber auch auf reale Konflikte und Spannungen in der Region, so etwa den durch die Germanisierungspolitik eskalierten Konflikt zwischen Deutschen und Polen. Er sieht auch einen Zusammenhang der ländlichen Ausschreitungen mit der schlimmen Agrarkrise, die die Region im Frühjahr und Sommer  heimsuchte, die zudem noch durch unwetterbedingte Ernteausfälle verschärft wurde. In den landwirtschaftlich geprägten Kreisen führte das vom Landrat ausgesprochene Verbot von Jahr- und Viehmärkten, die man für die Ausbreitung der Pogromstimmung mitverantwortlich machte und durch das Zusammentreffen vieler Menschen eine Basis für Tumulte bot, dazu, dass die Bauern ihr Vieh nicht verkaufen konnten und so in eine immer größere Notlage gerieten. Die Wut richtete sich dabei auf die Juden, die mit -  einen nicht geringen Bevölkerungsanteil stellten und im Waren-, Produkt- und Viehhandel dominierten  Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder; Smith, Die Geschichte des Schlachters.  Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. . Öffentlich propagierter Antisemitismus galt in der Stadt gegen Ende des . Jahhrunderts als nicht gesellschaftsfähig. Auch das konservative Konitzer Tageblatt war bis zum Tod des konservativen Redakteurs im Frühjahr  kein Sprachrohr des Antisemitismus. Dies änderte sich erst unter dessen Nachfolger. Erst durch die Konitzer Affäre kam es zu einer Verbindung von Konservatismus und Antisemitismus in der Region. Die konservativen Konitzer Stadträte, darunter der Verleger des Konitzer Tageblatts, Carl Gebauer, setzten sich erst an die Spitze der antisemitischen Bewegung, als diese sich durch die Affäre bereits etabliert hatte, um daraus (erfolgreich) politisches Kapitel gegenüber den Liberalen zu schlagen (S.  f.).  Ebd., S.  f.

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und denen man die Schuld daran gab, dass die Jahrmärkte abgesagt wurden und man sein Vieh nicht zu guten Preisen verkaufen und die fälligen Zinsen nicht zahlen konnte.468 Die antijüdischen Übergriffe folgten hier also dem herkömmlichen Muster des »Rügebrauchs«, d. h. es ging nicht um die Vertreibung oder gar Tötung von Juden, sondern um eine Bestrafung für den als jüdischen Angriff oder als Provokation verstandenen »Ritualmord« sowie die Rolle der Juden in der geschilderten Agrarkrise. Nonn spricht hier von »Disziplinierung« und »ritueller Demütigung«, die die Juden auf ihren nicht gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft verweisen sollten.469 Dem entspricht die typische Einhegung der Gewalt auf Sachbeschädigungen und Todes- bzw. Vertreibungsdrohungen. Insgesamt stuft Nonn aber die Erklärungskraft der realen Interessenkonflikte eher als gering ein, vielmehr sieht er angesichts der Tatsache, dass sich Deutsche wie Polen, Ober- wie Unterschichten, Stadt- wie Landbevölkerung an der Gerüchtekommunikation und an den Unruhen beteiligten, die Ursache eher in dem »Willen zu glauben«. Helmut W. Smith konzentriert sich auf das Herausarbeiten des Prozesses, in dem das Zusammenwirken historischer Kräfte in Konitz »einen latenten Antisemitismus manifest werden« ließ.470 Er sieht in den Vorgängen in Konitz eine Art öffentliches Schauspiel, das einem kollektiv entworfenen Skript folgt (der vom ebenfalls unter Verdacht stehenden christlichen Schlachter Hoffmann entworfenen und in der Staatsbürger-Zeitung veröffentlichten Anschuldigung gegen den jüdischen Schlachter Lewy – eben die »Geschichte des Schlachters«),471 in dem der Plot in dem von den Juden gemeinschaftlich begangenen Mord besteht. Er beschreibt die Auseinandersetzung um die beiden Schlachter wie eine antike Tragödie, wobei hinter den beiden Protagonisten jeweils ein Chor steht, der sich beim christlichen Schlachter Hoffmann aus den angesehenen Bürgern der Stadt zusammensetzt, während auf Lewys Seite nur sozial weniger angesehene Juden stehen.472 D. h., neben dem christlich-jüdischen Antagonismus spielen auch Klassenunterschiede sowie unterstellte und bestrittene sexuelle Kontakte eine Rolle, mit deren Hilfe sich die beiden Gemeinschaften voneinander abgrenzten. Im Unterschied zu  Nonn, Zwischenfall, S.  f. Nonn zitiert aus einem Schreiben des Landrates v. ZedlitzNeukirch an den preußischen Innenminister Rheinbaben: »Die Jahrmärkte sollen Abhilfe bringen, einige Stücke Vieh sollen verkauft und mit dem Erlös sollen die Zinsen bezahlt werden. Dieser Möglichkeit fühlen sich die Landwirthe zugunsten der Juden beraubt und das bringt sie zu immer wilderer Erbitterung« (ebd.).  Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder, S. .  Smith, Die Geschichte des Schlachters, S. .  Horwitz (»Konitz«, S.  f.) vertritt die Auffassung, diese Eingabe an die Staatsanwaltschaft sei nicht von Hoffmann, sondern von irgendeiner nach Konitz entsandten »antisemitischen Größe« verfasst worden, da diese eine »Zusammenstellung sämmtlicher antisemitischen Lügen, die diesen Blutmord betreffen, enthält«. Horwitz schwächt seine Behauptung allerdings etwas ab, wenn er schreibt, die Eingabe sei »von den Antisemiten zweifelsohne verfaßt [worden] – jedenfalls von den Antisemiten nachher als ihr Werk in Zehntausenden von Exemplaren verbreitet worden«.  Ebd., S. .

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Nonn räumt Smith der gegen Ende des . Jahrhunderts wieder aufflammenden Verbreitung der Ritualmordlegende einen großen Stellenwert für die Vorgänge in Konitz ein. Die zahlreichen Veröffentlichungen zu diesem Thema, aber vor allem die Ritualmordfälle in Tiszaezlár , Xanten  und Polná  hätten die Bevölkerung emotional empfänglich für die Ritualmordbeschuldigung gemacht und zugleich das »Wissen« über die beim »Ritualmord« angeblich verwendeten Praktiken verbreitet.473 Nach Smith musste also das »antisemitische Ritual – zunächst die Äußerung eines generellen Verdachts, dann der Übergang zu einer spezifischen Beschuldigung und schließlich gewalttätige Ausschreitungen gegen die Juden – nicht erst geprobt werden«.474 Seines Erachtens zielte die antijüdische Gewalt, in der, wie auch andernorts, die Rufe »Juden raus!« Und »Schlagt die Juden tot!« zu hören waren, auf den sozialen Tod der Juden, insofern verübten »nicht die Juden, sondern ihre christlichen Beschuldiger […] einen Ritualmord«. In dieser Umkehrung liegt nach Smith der tiefere Sinn der Ereignisse von Konitz.475 Er betont die in der Stadtgesellschaft vorgegangenen Veränderungen. Einerseits bildete sich unter den Stadtvätern und vielen städtischen Honoratioren ein antisemitischer Konsens heraus, da diese in den – leider nicht zu überführenden Juden – nach wie vor die Täter sahen, während sich die Nichtantisemiten in Schweigen hüllten oder wie ebenso wie viele Juden die Stadt verließen, so einige hochgestellte Unterstützer der Juden wie der Landrat Baron von Zedlitz und liberale Beamte.476 Der Kluft zwischen Christen und Juden vertiefte sich auf diese Weise immer mehr, zumal es weiterhin zu einer Flut von Prozessen kam. Der Tatsache, dass Konitz zum Schauplatz dieses heftigen Ausbruchs antijüdischer Gewalt wurde, haftet aber ein Moment von Kontingenz an. Wie in Xanten und anderen Orten, an denen es zu ähnlichen Ereignissen kam, war es ein unaufgeklärter Mordfall, der als Auslöser fungierte, und nicht unbedingt eine besonders stark verbreitete »antisemitische Mentalität« oder bereits vorher bestehende virulente Spannungen oder eine starke antisemitische Bewegung am Ort.

 Smith zählt die zumeist östlich des Rheins auftretenden Beschuldigungen auf:  in Österreich-Ungarn,  in Deutschland, elf in Bulgarien, fünf in Rußland, zwei in Rumänien, jeweils eine in Serbien und Frankreich. Von den  Beschuldigungen arteten  in mehr oder weniger gewalttätige Unruhen aus (Geschichte des Schlachters, S. ). Die Anschuldigungen wurden ganz überwiegend von Angehörigen der Unterschicht bzw. unteren Mittelschicht erhoben. (S.  f.).  Ebd., S. .  Ebd.  Ebd., S.  ff. Im Herbst des Jahre  bewarben sich sowohl der Erste Bürgermeister Deditius wie auch der Zweite Bürgermeister Dr. Lemm weg aus Konitz auf entsprechende Positionen in anderen Städten. Sie gaben an, dass ihnen wegen der Verwicklungen in Folge der Mordsache Winter die »nötige Schaffenslust und Arbeitsfreudigkeit« fehlten (Im deutschen Reich, Jg. , Heft , Oktober , S. ).

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. Gouvernementaler Antisemitismus und antisemitische Agitation – antijüdische Ausschreitungen in Rumänien - Wie in Kapitel . dargestellt, blieb die Stellung der Juden in Rumänien im Kontext der rumänischen Nationsbildung auch in den er Jahren umkämpft, und Rumänien war eines der wenigen Länder, in denen Juden nicht völlig emanzipiert worden waren. Schuld daran war nach Fink der romantische Nationalismus, der ein Konzept von »romˇanism« (Rumänentum) entwickelte, das sich auf Blut, Boden und Orthodoxie stützte und sich als Gegensatz zu den »negativen« Eigenschaften der Minderheiten im Lande, wie den Türken, Ungarn, Russen, Griechen und insbesondere in Absetzung von den fremden Juden definierte.1 Nach Silvia Marton kann man die Debatte um die nationale rumänische Identität ohne Rekurs auf die »Judenfrage« nicht verstehen.2 Auf dem Berliner Kongress von  nach dem Ende des russisch-türkischen Krieges verpflichteten die europäischen Großmächte Rumänien, Bulgarien, Serbien und Montenegro, die Rechte von Minderheiten, darunter auch die der Juden, zu schützen und diese als gleichberechtigte Staatsbürger anzuerkennen.3 »Among the four now liberated states, Romania was by far the principal object of international concern over the issue of minority rights«.4 Im Artikel  wurde bestimmt, dass in Rumänien die Unterschiede des religiösen Glaubens gegenüber keiner Person als Grund für den Ausschluss von bürgerlichen und politischen Rechten oder öffentlichen Ämtern, Professionen und Berufen dienen dürften. Die Unabhängigkeit Rumäniens, das während des russisch-türkischen Krieges am . Mai  seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erklärt hatte, sollte erst anerkannt werden, wenn der Artikel  umgesetzt war.5 Nach Carole Fink bedeuteten die Entscheidungen auf dem Kongress für Rumänien eine Niederlage in allen Punk Fink, Defending the Right of Others, S. . Juden galten geradezu als »antithesis of authentic Romanianess« (Marton, Designing Citizenship). Dazu grundlegend Dietmar Müller, Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte -, Wiesbaden . Nur in der kurzen liberalen Phase der er Revolution kam es zu einem gemeinsamen Kampf von Juden und Rumänen für die Freiheit. Zur Idee des Nationalstaates in Rumänien siehe auch, Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S. -.  Marton, De la construction de l’Ètat au racism, S.  f.  Dazu ausführlich: William O. Oldson, A Providential Anti-Semitism. Nationalism and Polity in Nineteenth Century Romania, Philadelphia , S. -.  Vgl. dazu Fink, Defending the Right of Others, S.  ff. Fink gibt eine ausführliche Darstellung der Verhandlungen zu dieser Frage auf dem Berliner Kongress, S. -; zum internationalen Engagement für die rumänischen Juden auf dem Berliner Kongress vgl. auch Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S. -.  Dennoch ist Oldson, A Providential Anti-Semitism, S.  f., der Auffassung, dass »the issue of Jewish rights, whether for German citizens working in the Danubian Pricipalities or members of the Romanian Jewish community, assumed a highly visible but distinctly secondary role in the diplomatic reckonings of the Congress«. Bismarck benutzte die Frage der Rechte für Juden als Druckmittel, um die rumänische Regierung dazu zu bewegen, die

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ten von nationaler Bedeutung, und das Land hatte zum ersten Mal die brutale Erfahrung machen müssen, von den Großmächten ausgegrenzt, angeprangert und dominiert worden zu sein. Da ein Protest gegen Letztere unangebracht war, lenkte die Regierung die Frustration innenpolitisch auf den Artikel  und wendete die Wut gegen die Juden im Lande.6 Es war diese Forderung der Großmächte nach einer Verfassungsrevision, die einen starken antisemitischen Groll erzeugte und den Antisemitismus in den Rang staatlicher Politik erhob und zur Frage der nationalen Stolzes und der Verteidigung des Landes machte. Sie ließ nach Silvia Marton alle nationalistisch gesonnenen Rumänen zu Antisemiten werden. War die Judenfeindschaft in Rumanien vor  primär ökonomisch und religios motiviert gewesen, so wurde der Antisemitismus danach nicht nur kohärenter und doktrinärer, sondern geradezu zum Bestandteil der nationalen Identität eines Rumänen.7 Es dauerte ein Jahr mit heftigen Auseinandersetzungen in einer von antisemitischen Mitgliedern dominierten extra eingesetzten Kommission, bis diese zwei Entwürfe vorlegte. Diese wurden teils von den Revisionskammern, teils von der Regierung abgelehnt, so dass es zu einer Pattsituation kam, was die Revision der Verfassung verzögerte.8 Da Neuwahlen keinen Ausweg boten, bildete man eine neue Regierung aus Liberalen und Konservativen, die eine neue Fassung des Artikels  vorlegen wollte, die den Forderungen der europäischen Großmächte entgegenkam, wofür man eigens Sondierungsgespräche in Paris und London führte. Die Regierung entwarf daraufhin eine Vorlage, die dann in einer allerdings modifizierten, restrikiveren Fassung angenommen wurde, womit die Regierung hinter ihren früheren Forderungen zurückblieb.9 In der Verfassung vom Oktober  gestand man den nichtchristlichen »Ausländern« in dem revidierten Artikel  zwar die Möglichkeit der Naturalisierung zu, doch gestaltete man den Prozess derart hindernisreich,10 dass bis  nur  Juden, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs erst . die rumänische Staatsbürgerschaft erhielten, darunter ein großer

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von jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen gehaltenen Beteiligungen an den rumänischen Eisenbahnen zurückzukaufen (S. ). Fink, Defending the Right of Others, S. . Vgl. ähnlich Oldson, A Providential AntiSemitism, S.  ff. Marton, De la construction de l’Ètat au racism, S.  f. Sie spricht für die Jahre - von »L’antisémitisme qua nationalisme« (S. ). Zu den Parlamentsdebatten siehe: Julia Onac, Romanian Parliamentary Debate on the Decision oft he Congress of Berlin in the Years around /, in: Quest. Issues in Contemporary Jewish History, Nr. , July  (http://www.quest-cdecjournal.it/focus. php?id=); zu den widerstreitenden Interessen, dem Taktieren und den politischen Rücksichten zwischen und innerhalb der Parteien siehe: Welter, Die Judenpolitik, S. . Dort sind auch die beiden von der Kommission vorgelegten Vorschläge, die von der Regierung vorgelegte Fassung sowie die schließlich angenommene modifizierte Fassung abgedruckt (S.  f.). Ebd. Zur Ausgestaltung der Revision des Artikels  in der rumänischen Verfassung, siehe: Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S. -.

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Teil jüdischer Veteranen () in einer en bloc-Abstimmung.11 Fink weist auf das Problem hin, dass der auf dem Berliner Kongress verabschiedete Vertrag zur Sicherstellung der politischen und bürgerlichen Gleichberechtigung keine Sanktionen bei Vertragsverletzung vorsah. Die Großmächte, aber auch viele der ausländischen jüdischen Unterstützer gaben, des langen Kampfes müde, ihre Forderung nach sofortiger Emanzipation aller Juden Rumäniens nach und nach auf und akzeptierten ein schrittweises Vorgehen der Rumänen, die ihrerseits erklärten, Europa solle eine »kleine lateinische Nation nicht dazu zwingen, ein so fremdes Element en bloc zu integrieren.« Die Großmächte erkannten Rumänien am . Februar  an, obwohl das Land keine Anstrengungen unternahm, Artikel  auch tatsächlich umzusetzen.12 Rumänische Politiker feierten dies als Sieg über die Großmächte. So schrieb der rumänische Politiker und Publizist Constantin Alexandru Rosetti, Führer der er Revolution in der Walachei und  Erziehungsminister und Ministerpräsident, in der Zeitschrift Romănul (Der Rumäne), dem Sprachrohr der Partidul Naţional Liberal (Nationalliberalen Partei) im Dezember , dass Rumänien seine »brennendste und gefährlichste Frage […] im Gegensatz zum manifesten Willen der Großmächte und sogar entgegen dem Geist des Berliner Vertrages« gelöst habe.13 Dies zeigt, dass die politische wie kulturelle Elite Rumäniens Juden von wichtigen ökonomischen Feldern, aus dem Bildungswesen, dem Militär und den freien Berufen fernhalten wollte. Juden blieben daher auf ihre herkömmlichen Berufe als Kaufleute, Unternehmer, Handwerker und Landpächter beschränkt. Die Politik der rumänischen Regierungen, Julia Onac spricht von einem »gouvernementalen Antisemitismus«, mit ihren antijüdischen Gesetzen, Dekreten und Erlassen und die antisemitische Agitation in den einschlägigen Zeitungen wurde von jüdischer Seite für die Feindschaft gegenüber den Juden in der Bevölkerung wie auch für die antijüdischen Unruhen verantwortlich gemacht.14 Trotz der langsam fortschreitenden  Carol Iancu, Evreii din România, S. ; Lavi/Zeev-Herscovoci/Volovici, Romania, in: Encyclopaedia Judaica, S. .  Die Anerkennung erfolgte, obwohl die Großmächte in einem Begleitschreiben kritisch anmerkten, dass Rumänien die Bestimmungen des Vertrages nicht vollständig umgesetzt habe. Dazu und zur Reaktion der führenden jüdischen Unterstützer auf dieses Scheitern ihrer Bemühungen siehe Fink, Defending the Right of Others, S. -. Vgl. dazu auch Carol Iancu, Bleichröder et Crémieux; le combat pour l’émancipation des juifs de Roumanie au Congrès de Berlin. Correspondence inédite -, Montpellier , S.  f. (rumänische Ausgabe: Bleichröder și Crémieux; lupta pentru emancipaţia evreilor din România la Congresul de la Berlin. Corespondenţă inedită -); Welter, Die Judenpolitik, S.  f.  Romănul, . . , zit. nach Iancu, Juifs en Roumanie, S. . Zu Rosetti, Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S. .  Artikel Mişcareă antisemitică (Die antisemitische Bewegung), in: Revista israelită vom August , zit. nach Julia Onac, »Die antisemitische Bewegung hebt den Kopf«: Aspekte der jüdischen Reaktion auf den Antisemitismus in Rumänien vom Ende des . bis Anfang des . Jahrhunderts, in: Einspruch und Abwehr. Die Reaktion des europäischen Judentums auf die Entstehung von Antisemitismus (-), hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Insti-

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Industrialisierung blieb Rumänien ein Agrarland, in dem vier Fünftel der Bevölkerung auf dem Land lebten und in dem der Export von Getreide für zwei Drittel der Staatseinnahmen sorgte, wovon die Bauern aber nicht profitierten, denn der Landbesitz war sehr ungleich zwischen einer kleinen Zahl reicher Landbesitzer (etwas über viertausend Personen), denen mehr als die Hälfte des Landes gehörte, das sie teils von rumänischen, teils von griechischen und jüdischen Pächtern verwalten ließen, und einer Million Bauern aufgeteilt, die sich damit die knappe andere Hälfte teilen mussten.15 Auf dem Lande blieb die Lage der Bauern prekär, wo ,  der Bevölkerung lebten, doch konnte die rumänische Wirtschaft der Landbevölkerung, die in die stark anwachsenden Städte abwanderte, keine Arbeitsplätze bieten. »Judenfrage« und »Bauernfrage«, die die rumänische Politik seit der Unabhängigkeit umtrieb, hingen insofern eng zusammen, als Juden, die selbst kein Land besitzen durften, durch das Verpachten von Land, das sie von den rumänischen Großgrundbesitzern, den Bojaren, die zumeist in den Städten lebten, gepachtet hatten, in direkten Kontakt mit den Bauern traten, von denen sie das Geld für die Pacht eintreiben mussten, die sie selbst zu zahlen hatten. Die Beziehungen zwischen den jüdischen Pächtern und den Bauern waren keineswegs durchgängig konflikthaft, doch nutzten die Antisemiten das Bild des ausbeuterischen jüdischen Pächters für ihre Zwecke. Sie stellten Juden und Griechen als eine Landplage hin, die sich den Boden der Vorfahren angeeignet hätten. Auch wenn es unter den jüdischen Pächtern regelrechte Monopolisten, wie die Gebrüder Fischer gab, die  . ha gepachtet hatten, so stellten Juden nur etwas unter   der Pächter, die zu zwei Dritteln orthodoxe Rumänen waren.16 In der Walachei waren die Pächter zudem überwiegend griechischer, teils auch rumänischer Herkunft. Neben ihrer Rolle als Pächter beteiligten sich Juden auch aktiv an den aufkommenden industriellen Unternehmungen, so dass ihnen vor allem von Seiten der antimodernistischen orthodoxen Kirche die Schuld an den im Zuge der Industrialisierung auftretenden Problemen gegeben wurde.17 Die Juden konzentrierten sich in den Städten. Der Anteil der Juden auf dem Land, etwa in der Moldau, war sehr gering (: , , : , ), in den Städten lag er aber  bei ,  ,  bei , . Er konnte in bestimmten Städten in den Distrikten der Nordmoldau auch über   liegen.18

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tuts von Ulrich Wyrwa, Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt a. M., New York , S. -, S. . Onac, The Brusturoasa Uprising, S. . In der Neuregelung des Artikels  der Verfassung hatte man besonderen Wert darauf gelegt, Fremden, also vor allem den Juden, den Landerwerb zu erschweren. Das Land sollte in rumänischen Händen bleiben (Welter, Die Judenpolitik, S.  ff.). Die restlichen   waren an andere Fremde verpachtet (die Zahlen gelten für das Jahr : Onac, The Brusturosa Uprising, S. ). In absoluten Zahlen waren von . Landpächtern nur  Juden. Unter den  Pächtern mit über  ha Land waren im Jahre   orthodoxe Rumänen,  Juden und  »Fremde« (ebd.). Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«,  f. Welter, Die Judenpolitik, S.  f.

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Beide Aspekte, die Agrarfrage wie die Auswirkungen der Industrialisierung, spielten eine Rolle bei den im Jahre  in Brusturoasa, einem kleinen, abseits am Osthang der Karpaten gelegenen Dorf in der Moldau, in dem ca. hundert christlich-orthodoxe Familien dreißig jüdischen gegenüberstanden, ausbrechenden schweren antijüdischen Ausschreitungen. Diese gingen nicht auf die Initiative der Bauern zurück, vielmehr standen dahinter die persönlichen Interessen des Priesters Nicolai Teodoreanu, der sich möglichst viel Waldbesitz aneignen wollte und deshalb die Bauern gegen den jüdischen Pächter David Grünberg, der eine Paraffin-Fabrik und ein Sägewerk betrieb, aufhetzte, um den Einsatz von neuen Sägemaschinen zu beenden.19 Dabei halfen ihm sein Bruder, der Bürgermeister war und selbst Sägewerke betrieb, und eine Reihe von Gemeinderäten.20 Teodoreanu konnte zur Mobilisierung der einheimischen Bevölkerung auf einen älteren, vor Gericht schwelenden Konflikt rekurrieren. Grünberg hatte Land von einem rumänischen Großgrundbesitzer gepachtet, gegen den die einheimischen Bauern einen Prozess angestrengt hatten, um das Land zurückzubekommen, das ihnen vierzig Jahre zuvor weggenommen worden war. Die Dorfbevölkerung hatte viel Geld in den Prozess stecken müssen, der auch  immer noch nicht entschieden war. Den Groll darüber nutzte der Priester, um die Bauern aufzuhetzen und den unliebsamen Konkurrenten auszuschalten, indem er sie überzeugte, dass gewaltsame Unruhen ihren Prozess voranbringen und sie ihr Land zurückerhalten würden.21 Anfang Juli  begannen christliche Einwohner von Brusturoasa, unter Führung des Bürgermeisters und Mitgliedern des Gemeinderates die Fenster der Häuser von Juden einzuwerfen und feuerten sogar einen Schuss auf das Haus von Grünberg ab. Die Autoritäten griffen nicht ein, sondern berichteten der Präfektur in Bacâu lediglich, dass Gruppen von Einwohnern durch das Dorf gezogen seien und kriminelle Übergriffe verübt hätten, dass die Polizei sie aber nicht habe stoppen können, da man diese ebenfalls mit Steinen beworfen habe. Auffälligerweise wurden auch keine Täter identifiziert. Der Präfekt sah diese Aktionen als »unstatthaft« an und löste wegen der Beteiligung des Bürgermeisters und der Gemeinderäte den Gemeinderat auf.22  Forstwirtschaft war die Haupteinnahmequelle der einheimischen Bevölkerung (Onac, The Brusturoasa Uprising, S. ).  Laut des Untersuchungsberichts des Präfekten habe die Hetze des Bürgermeisters und des Stadtrates »eine wahre Rebellion hervorgerufen« (Onac, »In der Antisemiten-Citadelle«, S. ). Auch die jüdische Zeitung Fraternitatea (Nr. -, ..) hob hervor, dass die Bauern nicht aus religiösem Hass heraus gehandelt hätten, sondern zu der Gewalt aufgewiegelt worden seien.  Teodoreanu soll zu den Bauern gesagt haben: »If they will provoke disturbances and if the will prevent in one way or another the normal path of things, then they could influence the court case because the landowner would give up the lawsuit and they would thereby gain huge, untouched forests« (Onac, The Brusturoasa Uprising, S.  f., als Quelle für dieses Zitat: Fraternitatea, Nr. - vom ..).  Onac, The Brusturoasa Uprising, S. .

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An Maria Himmelfahrt, dem . August , brachen die Unruhen erneut aus, als einige Einwohner, darunter wiederum der nun abgesetzte Bürgermeister, sich aus dem Wirtshaus angetrunken zum Haus des Juden Iţic Leib aufmachten, das Haus attackierten und ihn und seine Familie zur Flucht zwangen. Am nächsten Tag wurde Moise Adelstein angegriffen, der bei einem Rumänen wohnte, der ihn jedoch mit der Waffe verteidigte und dabei einen der Tumultuanten, der seine Warnungen missachtet hatte, tödlich verletzte. Als daraufhin die Menge in Panik davonlief, wurden sie von dem Schützen und einigen anderen Hausbewohnern verfolgt, denen es gelang, einen der Agitatoren zu fassen und der Polizei zu übergeben, die ihn aber sofort wieder freiließ.23 Dieser Vorfall führte zum Ausbruch einer Bauernrevolte mit dem Höhepunkt am ./. August, an der sich auch Bewohner umliegender Orte beteiligten und die nach Julia Onac dem amtsenthobenen Bürgermeister dazu dienen sollte, die eigene Mittäterschaft an den Ausschreitungen vom . Juli zu verschleiern. Angeführt durch den Priester Teodoreanu wurde die jüdische Minderheit am Ort zwei Tage lang misshandelt, ausgeraubt und schließlich zur Flucht gezwungen. Dreißig Familien mit  Personen wurden am Abend des . August auf einem Platz zusammengetrieben und unter Drohungen und Gewaltanwendung sowie eskortiert von rund zweihundert Tumultuanten gezwungen, den Ort zu verlassen. Die Flüchtlinge mussten die Nacht mit ihrer geretteten Habe buchstäblich auf der Straße zubringen, wurden dabei noch von Passanten verhöhnt und mussten am nächsten Tag auch noch dafür zahlen, in die nächste Stadt gebracht zu werden.24 Die Bewohner Brusturoasas brachten am Ortseingang ein Spruchband an, das jedem Juden verbot, das Dorf zu betreten, sonst komme er nicht unversehrt davon.25 Von Moneşti aus schrieben die Juden einen Beschwerdebrief an die Regierung und einige Zeitungen, in dem sie ihre schrecklichen Erlebnisse schilderten und die ausbleibende Unterstützung durch die Behörden beklagten. Da gleichzeitig auch einige der Saisonarbeiter, die österreich-ungarische Staatsbürger waren, sich bei ihrer Gesandtschaft über eine schlechte Behandlung beschwerten, war die Regierung gezwungen, die Vorgänge in Brusturoasa zu untersuchen, und entsandte dazu einen Vertreter des Innenministeriums, den Präfekten des Kreises Bacâu und ein Magistratsmitglied zur Leitung der Untersuchung dorthin. Auf dem Weg trafen sie auf die geflüchteten Juden und zeigten sich erschüttert von deren Schicksal und apathischen Zustand. Am . August erreichten sie Brusturoasa und nahmen ausgerechnet beim Anstifter der Unruhen, dem Priester Teodoreanu, Quartier, der dies für sich zu nutzen wusste. Die Delegation stellte kaum bohrende Fragen an  Ebd., S. .  Ebd., S.  f.  Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S. ; der Text lautet in der deutschen Übersetzung: »Es ist jedem Juden verboten, das Dorf zu betreten, sonst kommt er nicht unversehrt davon«; Onac stützt sich auf die Zeitung Fraternitatea, Nr. - vom .., und das Buch von Elias Schwarzfeld, Adevărul asupra revoltei de la Brusturoasa, Bukarest , S. VI-IX.

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die Einwohner, und ihre Untersuchung war eng begrenzt. Stattdessen drängte man Grünberg zu Konzessionen gegenüber den Dörflern. Immerhin wurde den Juden die Rückkehr in den Ort erlaubt.26 Hatte die Untersuchungskommission nicht streng ermittelt, um der Presse keinen Stoff für kritische Berichte zu liefern, so wurden die Unruhen doch zu einem Gegenstand internationalen Interesses, da sowohl jüdische Zeitungen wie auch Bukarester Blätter darüber berichteten. Die Tatsache, dass man Grünberg Konzessionen abforderte, zeigt bereits, dass man in dessen unternehmerischem Handeln eine Ursache für den Ausbruch der Unruhen sah. In den zeitgenössischen Erklärungen wurde in den Zeitungen neben einer tiefverwurzelten Judenfeindschaft in Rumäniens Bauernschaft vor allem auf ökonomische Spannungen in Brusturoasa als Ursache rekurriert. Demnach habe die Einführung von modernen Maschinen im Sägewerk von Grünberg viele Bauern arbeitslos gemacht und sie hätten angesichts des schwebenden Gerichtsverfahrens auch ihren Waldbesitz nicht nutzen können. Da sie nicht für Grünberg arbeiten wollten, musste dieser fremde Arbeiter aus Ungarn anwerben. Durch die Anbindung an eine Eisenbahnlinie war zudem der Holzhandel angewachsen, und Grünberg profitierte davon. Andere, vor allem die antisemitischen Zeitungen, warfen Grünberg vor, ein inhumaner Pächter und Ausbeuter zu sein, und rechtfertigten so die Ausschreitungen. Ein Vorwurf, der nach Julia Onac nichts mit der Realität zu tun hatte,27 zumal die vertriebenen Juden selbst in ihrer Petition an die Regierung von gutnachbarschaftlichen Beziehungen zu den orthodoxen Rumänen berichteten und die Schuld einer »gewissen Person« (gemeint war der Pater Theodoreanu) zuschrieben. Auch nach Onac wurden die Unruhen von einigen Elitepersonen des Ortes, dem Priester, dem Bürgermeister, dem Lehrer usw., angezettelt, die die Bauern benutzten, um ihre eigenen Probleme zu lösen, deren Ursache sie vor allem in der Einführung der mechanischen Sägen durch Grünberg sahen.28 Indem sie mit den Unruhen Unordnung stifteten, hofften sie, diese Sägen ausschalten zu können. Die Rolle der dörflichen Führungsschicht, darunter vor allem die der Priester und der Lehrer, ist nach Onac typisch für die Situation in Rumänien, da diese verlässliche Unterstützer der antisemitischen Bewegung waren.29 In Fall von Brusturoasa war der Anstifter und Antreiber der Unruhen Pater Teodoreanu, der Bürgermeister beteiligte sich an der Gewalt und den Plünderungen und auch derjenige, der für die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig gewesen wäre, nämlich der Befehlshaber der Garnison, wurde am . Juli dabei gesehen, wie er Menschen zum Mitmachen  Onac, The Brusturoasa Uprising, S.  f.  Ebd., S.  f.  »We should not assume that the Orthodox Romanian population had a long-cultivated or inborn hatred against Jews or that the village Jews viewed the Romanians with antagonism. Their daily relationships were mostly unremarkable, even if from time to time disturbances occur against Jews in Romania. But these incidents were often organized by village leaders …« (Onac, The Brusturoasa Uprising, S. ). Zu Zeugnissen für die guten nachbarlichen Beziehungen siehe ebd., S. .  Onac, The Brusturoasa Uprising, S.  (ihre Quelle: Fraternitatea, . September ).

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aufforderte, anstatt einzuschreiten. Onac hebt das Ausbleiben jeglicher Unterstützung für die Juden hervor, da sich weder der zuständige Großgrundbesitzer für die Juden verwendete noch die vom Innenministerium entsandte Untersuchungskommission, die die Opfer nicht anhörte und nur eine sehr oberflächliche Untersuchung anstellte, ja sogar Konzessionen für die Bauern erreichte. Für sie ist der Ablauf der Unruhen in Brusturoasa typisch für viele andere Fälle im Rumänien des späten . Jahrhunderts.30 Es wurde keiner der Täter zur Rechenschaft gezogen, vielmehr wurden einige führende Repräsentanten der Juden in Rumänien, von denen zwei Artikel über die Unruhen von Brusturoasa veröffentlicht hatten,31 als ausländische Juden nach dem Ausländergesetz von  des Landes verwiesen. Eine Begründung für die Ausweisung gab die Regierung nicht ab, der Hintergrund waren aber wohl die guten Verbindungen dieser Führungspersonen ins Ausland, das sie zur Unterstützung der rumänischen Juden gedrängt hatten.32 Solche Ausweisungen von Ausländern, darunter ca. ein Fünftel Juden, waren in Rumänien Ende des . Jahrhunderts keine Seltenheit. Im Unterschied zu vielen antijüdischen Ausschreitungen bis in die er Jahre, in denen zumeist spontan entstehende Menschenmengen Träger der Gewalt gewesen waren und ausgeprägt antisemitische Einstellungen kaum eine Rolle gespielt hatten, finden wir in Rumänien nun eine stärker gelenkte und politisch motivierte Form antijüdischer Unruhen. Diese Lenkung konnte wie im Fall Brusturoasa von den Honoratioren des Ortes ausgehen, sie konnte aber auch, wie einige der folgenden Fälle zeigen, direkt von antisemitischen Organisationen in Gang gesetzt werden, d. h., die Ausschreitungen hatten einen dezidiert politischen und ideologischen Charakter. Hinzu kam, dass die politischen Eliten mit nur wenigen Ausnahmen eine antijüdische Politik verfolgten, die Juden also nicht auf einen konsequenten staatlichen Schutz und eine spätere Bestrafung der Täter vertrauen konnten. Nach Julia Onac waren Akte des antijüdischen Vandalismus nach Versammlungen antisemitischer Organisationen keine Seltenheit. In Bukarest tagte mit Unterstützung der rumänischen Regierung vom . bis . September  der »Rumänisch-europäische Antisemitische Kongress«, der ein antisemitisches Aktionsprogramm beschloss, das die Vertreibung der Juden aus Europa zum Endziel erklärte, für die Zeit davor aber ein ganzes Bündel diskriminierender Maßnahmen vorschlug (keine Ämter im öffentlichen Dienst; Verbot von Landkauf; Verbot, Hotels, Restaurants und Kneipen zu betreiben, sowie die Ermunterung von Priestern und Lehrern diese Ideen in Kirchen und Schulen zu verbreiten).33 Der Kongress selbst verlief ruhig, anders hingegen ein zweites, von zweitausend Personen besuchtes Treffen der Antisemiten, das am . September in Craiova (Walachei) stattfand.  Ebd., S.  f.  Die Artikel von Schwarzfeld, Adevărul asupra revoltei de la Brusturoasa, und Moses Ganter (Elisabetha Mănescu, Hrsg., Dr. M. Ganter, Viąta şi opera sa, Bucharest ) stellen nach Onac eine wichtige Quelle für die Ereignisse in Brusturoasa dar.  Onac, The Brusturoasa Uprising, S.  f.  Das Programm ist abgedruckt in: Iancu, Jews in Romania, S. .

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Die Stadt beherbergte eine der größten und wichtigsten sephardischen Gemeinden Rumäniens, bildete aber zugleich einen antisemitischen Unruheherd. Im Anschluss an das Treffen zog die erregte Menge unter Führung des Priesters E. Popescu unter »Tod den Juden !«-Rufen durch das jüdische Viertel, das verwüstet wurde.34 Man warf die Fenster der Synagoge und vieler jüdischer Häuser ein und schlug Juden mit brennenden Fackeln, so dass sie schwere Verletzungen erlitten.35 – Die AZJ berichtete von »wüsten Scenen«, die sich am Sonntag, dem . September, in Krajowa (heute: Craiova) abgespielt hätten, über die aber bisher in keiner europäischen Zeitung zu lesen gewesen sei. Am Abend fand die erste antisemitische Versammlung in Krajowa statt, an der neben dem prominenten Senatsmitglied Dimitrie C. Butulescu, ein früher antisemitischer Agitator in Rumänien, auch ein französischer Priester als Abgesandter der französischen Alliance Anti-Israelite Universelle Drumonts aus Paris, teilnahm, der dort eine scharfe antisemitische Rede hielt und die Parole ausgab, den Juden den Aufenthalt in den antisemitischen Ländern mit allen Mitteln unmöglich zu machen. Das versammelte Auditorium musste dies wohl als Handlungsauftrag verstanden haben und zog nach Schluss der Versammlung sogleich in die Judengasse und begann ihr Zerstörungswerk. Wer Widerstand leistete, wie die deutschen Arbeiter einer Lederfabrik oder ein jüdischer Bankier, wurde misshandelt. Gegenüber der großen Menschenmenge war die Polizei machtlos und schritt nicht ein, so dass die Gewalt erst spät in der Nacht »in Folge der Erschöpfung des Janhagels« ein Ende fand. Die Polizei ergriff jedoch Maßnahmen, um die geplante Fortsetzung der Unruhen für den nächsten Abend zu unterbinden, und nahm auch Verhaftungen vor. Die AZJ schreibt weiter, dass sich antisemitische Unruhen wenig später nach einem Attentat auf den antisemitischen Politiker Ion Brˇatianu, den Gründer der Nationalliberalen Partei, erneuert hätten.36 Dieser Ausbruch antijüdischer Gewalt in Craiova erregte Aufmerksamkeit in der europäischen Öffentlichkeit. Die antisemitische Stimmung im Lande und die genannten Übergriffe veranlassten offenbar viele Juden, das Land zu verlassen. Die AZJ veröffentlichte Berichte aus Krakau und Lemberg, wo die stetige Zunahme der Auswanderung von Juden aus Rumänien beklagt wurde, deren Ansiedlung die galizischen Behörden zu verhindern suchten. Die Zeitung verglich die Vorgänge mit der Vertreibung der Juden aus Spanien .37  Ebd. Julia Onac zitiert den Bericht »Turborˇari antisemite« der Zeitung Neamul Românesc vom .., in dem noch Jahre danach in einer bagatellisierenden Darstellung von Angriffen auf jüdische Häuser, wobei nur einige Türen und Fenster gelitten hätten, berichtet wurde (»In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S.  f.).  Carol Iancu, Evreii din România, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. , und Heft , .., S. .

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Auch in einem weiteren Fall ging die Gewalt von organisierten Antisemiten aus. In Iaşi, in dem der Anteil der Juden bei   lag und in der zwei der umtriebigsten Antisemiten, Alexander C. Cuza und Nicolae Iorga,38 wirkten, kam es am . Mai  zu antijüdischen Ausschreitungen, die durch das Komitee nationaler Studenten ausgelöst wurden, die ein antijüdisches Manifest in der Stadt verteilt hatten, in dem die Rumänen dazu aufgerufen wurden, zusammenzustehen und das »Rumänentum« zu verteidigen. Die nach dem Treffen des Komitees durch die in diesem Fall eigenartigerweise von zwei Frauen gehaltenen Reden aufgehetzte Menge attackierte daraufhin die Wohnungen von Juden in der Stadt.39 Iaşi sollte als ein Hotspot des rumänischen studentischen Antisemitismus auch neun Jahre später wieder zum Schauplatz antijüdischer Übergriffe werden, die von antisemitischen Studenten ausgingen.40 Ein Ort, in dem sich ebenfalls mehrfach antijüdische Unruhen ereigneten, war die in der Wallachei gelegene Hauptstadt Bukarest. Dort wurden  antijüdische Unruhen durch den Gesetzesvorschlag des Kriegsministers Anton Berindei vom Ende November  ausgelöst, alle Fremden, zu denen ja auch die in ihrer großen Mehrheit nicht naturalisierten rumänischen Juden gehörten, vom Militär freizustellen, was ihnen den Weg verbaut hätte, auf diesem Weg ihre Naturalisation zu erreichen. Stattdessen sollten die Juden eine Militärabgabe zahlen. Zum Ausbruch der Unruhen gibt es abweichende Darstellungen. Als der Verein jüdischer Reservisten (der dreißigtausend Mitglieder gehabt haben soll) gegen den Gesetzentwurf Berendeis auf einer Versammlung heftig protestierte, soll es zu einem Handgemenge mit den eingedrungenen rumänischen Studenten gekommen sein, die aber in der nachfolgenden Schlägerei den Kürzeren gezogen hätten. Die Versammlung wurde von der Polizei aufgelöst und der »Skandal« habe sich dann auf der Straße fortgesetzt.41 Die jüdischen Reservisten hätten dagegen in einem scharfen, allerdings, wie die AZJ konzediert, »ungeschickt abgefassten« Aufruf ihrer Entrüstung Ausdruck  Alexandru Constantin Cuza war ein einflussreicher Publizist und Dichter, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Iaşi und zugleich einer der führenden rumänischen Theoretiker des Antisemitismus. Er wollte soziale und volkswirtschaftliche Fragen »auf der Grundlage eines idealisierenden Nationalismus und eines unduldsamen Antisemitismus lösen«. Vgl. Krista Zach, Cuza, Alexandru C., in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. , hrsg. von Mathias Bernath/Felix von Schroeder. München , S. -; Nicolae Iorga, der in Paris, Berlin und Leipzig studiert hatte, war ein promovierter Historiker, Schriftsteller, Verleger und Politiker. Er tat sich mit antisemitischen Schriften hervor. Cuza, Jorga und zahlreiche Studenten gehörten der  gegründeten, judenfeindlich ausgerichteten Liga pentru unitatea culturalˇa a tuturor românilor (Liga für die kulturelle Einheit aller Rumänen) an. Jorga gründete zusammen mit Cuza  die Nationaldemokratische Partei (Partidul National Democrat), in deren Parteiprogramm eine nationalistische Lösung des »Judenproblems« eine zentrale Position einnahm (Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S. -).  Iancu, Jews in Romania, S.  f.  Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S. .  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. .

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verliehen.42 Die gestörte und von der Polizei aufgelöste Versammlung mündete nicht direkt in Gewaltaktionen. Nach der Versammlung folgte zunächst eine Phase antisemitischer Agitation,43 bevor am . Dezember  das antisemitische nationale Studentenkomitee auf die Versammlung der jüdischen Reservisten mit einer Versammlung antwortete, in der es gegen die Einmischung von nicht naturalisierten Juden protestierte.44 Die AZJ schreibt von der »oratorischen Verhetzungsarbeit« des Studentenkomitees, dem eine wesentliche Verantwortung für den Ausbruch der Unruhen zukam.45 Die Versammlung selbst sei in »ausgezeichneter Ordnung verlaufen« und die Studenten hätten sich zerstreut.46 Die anwesende Menge aber startete auf das Gerücht hin, ein Rumäne sei von Juden ermordet worden (eine andere Version sprach nur von einer Misshandlung), eine antijüdische Aktion, bei der sie unter Absingen der patriotischen Hymne »Deşteaptă-te Rom ane« (»Erwache Rumäne!«) durch das jüdische Viertel zog. Gestützt auf einen Bericht des Berliner Tageblatts berichtet die AZJ weiter, dass die Exzesse »furchtbar wild ausgefallen« seien. Auch die Neue Freie Presse berichtete über die »Excesse in Bukarest«, wonach eine »nach Tausenden zählende Menge« zu einem »förmlichen Verwüstungszuge« aufgebrochen sei.47 Nachdem schon während der noch laufenden Versammlung der Studenten der Pöbel der Vorstädte das jüdische Viertel Casea Vacaresci überfallen hatte, um dort die Scheiben jüdischer Häuser einzuwerfen und Juden zu misshandeln, rotteten sich »tausende Menschen aus dem Pöbel […] mit Eisenstangen und Knütteln bewaffnet zusammen, und drangen in die vornehmen Geschäftsviertel der Stadt ein, wo sie die Läden demolirten und plünderten. Namentlich ging es gegen die israelitische Bevölkerung«, aber auch gegen Läden mit »fremden Namen«.48 Die Gewalt beschränkte sich aber nicht nur auf Geschäfte, sondern es wurden auch Wohnungen von Juden und zwei Synagogen attackiert. Die Polizei griff erst spät ein, konnte gegen die »wild gewordenen Massen« aber wenig ausrichten, verhaftete jedoch laut AZJ ca. hundert Personen.49 Die später  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Die Neue Freie Presse.Morgenblatt, .., S. ,, schreibt von einem Flugblatt, das alle Rumänen aufforderte, »die Juden zu vernichten, damit nicht der Talmud die Constitution verdränge«.  Iancu, Jews in Romania, S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.; die Zeitung zitiert einen Bericht des französischen Blattes Le Paix.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S.  f. Allerdings berichtet dieselbe Zeitung einen Tag später, dass die Menge von »einer Anzahl johlender Studenten unter dem Gebrüll ›Nieder mit den Juden!‹ zu einem förmlichen Verwüstungszuge aufgestachelt« worden sei (ebd., .., S. ).  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Die AZJ druckte hier eine Bericht des Berliner Tageblatts ab. Im folgenden Heft  der AZJ, .., S. , druckte die Zeitung einen Bericht von nicht-jüdischer Seite aus Bukarest ab, in dem der Verlauf der Unruhen detaillierter geschildert wird.  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f. Einen absolut verharmlosenden Bericht veröffentlichte die der tschechischen Nationalbewegung nahestehende Zeitung Das Vaterland vom

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eingesetzte berittene Gendarmerie ging mit aufgepflanztem Bajonett vor, und es kam zu blutigen Zusammenstößen mit Verletzten. Der Bericht endete damit, dass die Unruhen so aber nicht unterbunden werden konnten, sondern dass die Menge in den Seitenstraßen weiter wütete. Es war der Einsatz von Militär in genügender Stärke nötig, um die Unruhen zu beenden, die an diesem Sonntag von zwei bis sechs Uhr am Nachmittag andauerten. Gegen diese Ausschreitungen und die passive Haltung der Polizei protestierten auch die Konsuln der europäischen Mächte, die sich die Zerstörungen vor Ort angesehen hatten.50 Auch aus der Stadt Galatz wurden »Judenverfolgungen und Plünderungen« berichtet.51 Wohl aufgrund der Proteste der ausländischen Mächte wurden die Unruhen zum Gegenstand einer Kammer- und Senatsverhandlung, wobei der Innenminister Mihail Pherekyde in seiner Antwort auf eine Interpellation des Deputierten der Konservativen Partei, Alexandru Marghiloman, die Juden selbst für die Ausschreitungen verantwortlich machte, die seit einigen Monaten durch ihre Zeitungen und ein aufrührerisches Plakat eine aggressive Haltung bekundet hätten.52 Die Studenten hätten ein friedliches Treffen abgehalten und erst das von der Polizei nicht vorausgesehene Gerücht über die Misshandlung von Rumänen durch Juden habe dann zu den Gewaltszenen geführt, für die der Minister aber wiederum die Juden verantwortlich machte. Die Kammer billigte diese Erklärung mit großer Mehrheit.53 In der einen Tag später stattfindenden Senatsverhandlung war es Senator Petre Carp, einem der wenigen nicht-antisemitischen rumänischen Politiker, vorbehalten, gegen die zögerliche Haltung der Polizei und gegen die Unterstellung des Innenministers Pherekyde, die Juden seien für die Unruhen selbst verantwortlich, zu protestieren und den geplanten Ausschluss von Juden aus der Armee zu kritisieren, da dies zu noch stärkeren Spannungen zwischen Juden und Rumänen führen würde.54 Carp warf der Regierung Feindschaft gegen die Juden vor, was der Innenminister zurückwies und stattdessen die Juden einer aggressiven und feindseligen Haltung gegenüber der rumänischen Bevölkerung bezichtigte, während die Rumänen ihnen gegenüber zu viel Milde und Toleranz zeigten.55 Immerhin

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    

.., der dem Treffen der Studenten eine »mustergültige Ordnung« attestiert und nur von einem Tumult spricht, bei dem »die Fensterscheiben mehrerer jüdischer Häuser und Magazine eingeschlagen wurden«. Iancu, Jews in Romania, S. . Ein vollständiges Bild der Unruhen veröffentlichte die Zeitung L’índependance Roumaine vom . Dezember . Auch die Neue Freie Presse. Morgenblatt (.., S. ) kritisierte, dass die Polizei trotz des durch die Agitation aufgeheizten Klimas keinerlei Sicherheitsvorkehrungen getroffen habe. Am .., S. , berichtet dieselbe Zeitung, dass das »energielose Verhalten« der Polizei auf Befehle der Regierung zurückgeführt werde, ohne allerdings anzugeben, wer diese Auffassung vertrat. Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. . Iancu, Jews in Romania, S. . Ebd.; vgl. auch den »offiziösen Bericht« in der AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Iancu, Les Juifs en Roumanie, S. . Diese Bemerkung des Ministers wurde im Bericht der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) mit einem doppelten Ausrufungszeichen kommentiert. Die Zeitung nannte die

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verurteilte der Minister anschließend die Ausschreitungen und kündigte Hilfe für die Opfer an. Auch König Carol I. bedauerte die vorgefallenen Unruhen und gab gegenüber einer Delegation der jüdischen Gemeinde die Versicherung ab, auch die geschädigten Juden, die keinen fremden Schutz genössen, würden entschädigt werden.56 Im Namen des diplomatischen Korps teilte der russische Gesandte dem Ministerpräsidenten Dimitrie Alexandru Sturdza mit, man werde für die Schädigung der eigenen Untertanen Schadenersatz verlangen. Die Ausschreitungen kosteten den Bukarester Polizeipräsidenten sein Amt, und auch der Rektor der Universität trat zurück, nachdem er jede Verantwortung »für die von der Regierung und der Regierungspresse entschuldigte Volksverhetzung eines Theils der Studentenschaft« abgelehnt hatte.57 Der Gesetzesvorschlag Berindeis kam letztlich nicht zum Zuge. Die AZJ war der Auffassung, dass diese ganze Militärangelegenheit ohne Probleme geregelt worden wäre, wenn nicht durch die Dreyfus-Affäre der Antisemitismus den Weg in den Zeitungen gefunden hätte und die Ereignisse in Böhmen (s. o.) den »Ehrgeiz« der Bukarester Studenten und des nachfolgenden Mobs geweckt hätten, es den Westeuropäern nachzutun.58 Hier werden transnationale Einflüsse auf antijüdische Gewalt zumindest benhauptet. Die AZJ berichtete im April  in einer Meldung enttäuscht, dass die Geschworenen eines Bukarester Gerichts  der von der Polizei festgenommen Teilnehmer an den Ausschreitungen vom . Dezember  als »nichtschuldig« freigesprochen hatten. Die Angeklagten seien verlotterte Burschen gewesen, die erst gegen Ende der Krawalle von der Polizei verhaftet worden seien, die den Unruhen längere Zeit untätig zugesehen habe. Die Angeklagten verteidigten sich mit der Behauptung, sie seien zu ihrem Verhalten angestiftet worden. Einige sagten aus, dies sei sogar von der Polizei ausgegangen. Die Verteidiger, die zur politischen Opposition gehörten, griffen dieses Argument auf, um die Polizei und die Regierung für die Vorfälle am . Dezember verantwortlich zu machen, während andere Verteidiger, die zur Regierung hielten, ihre Klienten als »willenlose Werkzeuge der die öffentliche Meinung beherrschenden antisemitischen Strömung hinstellten«. Die AZJ wertete es als besonders bedenklich, dass die auf »nichtschuldig« lautende Entscheidung der Geschworenen trotz der nachweislichen Schädigung fremden Eigentums vom Publikum im Gerichtssaal mit Beifall aufgenommen und unter den Geschworenen sogar eine Geldsammlung zugunsten der freigesprochenen Plünderer veranstaltet worden sei. Die Zeitung kommentierte dies sarkastisch mit der Bemerkung, »der Schluß dieses Stückes ist wahrhaftig seines

Unterstellung, die Juden hätten den Krawall angefangen, »die neueste Version des Judenhasses«, doch sei es zum Glück nur »ein rumänischer Minister, der solches behauptet«. Dies wirft ein grelles Licht auf das Bild, das man im Ausland, namentlich unter Juden, von der rumänischen Politik gegenüber den Juden hatte. Vgl. den ähnlichen Bericht (»Rumänischer Senat«) in der Neuen Freien Presse. Morgenblatt, .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Ebd.

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Anfangs würdig !«59 Das Verhalten der Geschworenen und des Publikums zeigen ebenso wie die Strategien der Verteidiger, wie sehr Antisemitismus zum common sense in Rumänien gehörte. Mit Ausnahme des Zarenreichs dürften in keinem anderen Land außer Rumänien antijüdische Ausschreitungen von den politisch Vertantwortlichen als gerechtfertigte Gegenwehr der eigenen Bevölkerung gerechtfertigt worden sein. »Den Höhepunkt der bäuerlichen Protestbewegung und des Agrarantisemitismus in Rumänien« bildete der Bauernaufstand des Jahres ,60 der damit außerhalb unseres Untersuchungszeitraums liegt. Im März  begann in der nördlichen Moldau ein Bauernaufstand, der sich zunächst gegen die jüdischen Pächter wendete.61 Die Unruhen begannen in dem extrem armen Dorf Flămanzi (Hungrige) im Norden der Moldau, wo die Bauern im Februar  neue Pachtverträge von Mochi Fischer, einem der reichsten jüdischen Pächter, gefordert hatten, von diesem aber hingehalten worden waren. Die Unruhen dehnten sich schnell auf die Kreise der Umgebung aus und erreichten ihre stärkste Verbreitung in der Walachei.62 Die revoltierenden Bauern raubten die Häuser von Juden aus und steckten sie zunächst in Flămanzi, dann in den Nachbardörfern in Brand, wobei nun auch Wirtshäuser und Geschäfte angegriffen wurden. Die Bauern begannen sich zu organisieren und griffen nun die Städte an, in denen sie die jüdischen Läden zerstörten.63 Im Laufe der Unruhen änderte sich aber die Stoßrichtung der Bauern, die nun gegen die tatsächlich Verantwortlichen, nämlich die Bojaren, vorgingen. Mehrere tausend Bauern marschieren sogar gegen Bukarest. Die größten Zerstörungen während der Unruhen betrafen Gebiete (vor allem den Westen der Wallachei), in denen nur wenige oder keine Juden lebten.64 Nun nahm der Aufstand eine extrem blutige Wendung, da die neue liberale Regierung, nach einem  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f.  Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S.  ff., siehe dazu: Irina Marin, Peasant Violence and Antisemitism in Early Twentieth-Century Eastern Europe, Basingstoke .  Iancu, Jews in Romania -, S.  ff.; Onac, »In der rumänischen AntisemitenCitadelle«, S.  ff.  Dass sich der Unmut vor allem gegen die jüdischen Pächter richtete, war zum Teil auch der Kampagne der von Nicolae Iorga  gegründeten antisemitischen Zeitung Neamul Romanesc (Die rumänische Nation) geschuldet, die die Juden für die prekäre Lage der Bauern verantwortlich machte, in deren großer Armut Carol Iancu die Hauptursache für die Revolte sieht. Vgl. zu der Zeitung Iancu, Jews in Romania, S.  und .  Dies blieb auch ausländischen Beobachtern nicht verborgen, wie aus einem Telegramm eines deutschen Beobachters an den Prinzen von Bülow hervorgeht: »Die Lage in der Moldau ist sehr ernst. Das Geschehen hat einen entschlossen antisemitischen Charakter und hat sich auf die ganze Provinz ausgebreitet. Die Bauern organisieren sich und gehen auf die Städte zu, um jüdische Läden zu zerstören, was ihnen in manchen Fällen auch gelingt. Vor allem in der Bukowina und in den benachbarten Provinzen richtete sich die landwirtschaftliche Revolte in erster Linie gegen die Juden«. Zit. nach Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S. .  Iancu, Jews in Romania, S. .

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langen Laufenlassen der Gewalt seitens der konservativen Vorgängerregierung, nun nur noch mit Hilfe der Armee, die sogar Artillerie gegen die Dörfer einsetzte, die Unruhen unter Kontrolle bringen konnte, wobei ungefähr . Bauern getötet wurden (die Zahlen schwanken zwischen . bis .).65 Auch die Verluste auf Seiten der Juden waren erheblich. Es waren insgesamt  Gemeinden betroffen. Iancu spricht von  Juden, die getötet oder verletzt wurden. Die materiellen Schäden lagen bei geschätzten vier Millionen französische Franc (über zwei Millionen Lei). . Familien waren betroffen, Tausende verarmter Juden flüchteten in die rumänischen Städte, teils sogar über die Grenzen nach Serbien und Österreich.66 Dass die Beziehungen zwischen den Bauern und den Juden aber keineswegs durchgängig feindselig waren, zeigt die Tatsache, dass Erstere in vielen Dörfern nicht damit einverstanden waren, dass die Regierung ihre Ausweisungspolitik gegenüber Juden aus den Dörfern fortsetzte bzw. Verordnungen erließ, die den Juden die Rückkehr in ihre Häuser verbot. Die Bauern waren auf die Tätigkeiten der Juden angewiesen. Gegen den Protest der Bauern mussten die Juden diese Orte aber dennoch verlassen.67 Die rumänische Regierung führte ihre antijüdische Politik also auch nach den Unruhen ungerührt weiter. Sowohl die Ausschreitungen in Brusturoasa im Jahre  als auch die Bauernrevolte von  waren der schwierigen wirtschaftlichen Lage der Bauern geschuldet, als deren Urheber der Agrarantisemitismus eines Cuza und Iorga die Juden ausmachte, gegen die der gewaltsame Protest kanalisiert wurde, bevor er sich  zu einem Aufstand gegen die Bojaren und die politische Klasse Rumäniens ausweitete.68 Nach Julia Onac hatten die rumänischen Politiker kein Interesse an einer Lösung der Agrarfrage, da sie selbst an den Vorteilen des Großgrundbesitzes partizipierten. Vielmehr schrieben gerade sie den Juden die Schuld an den Problemen der Bauern zu, die sich dadurch wiederum in ihrem gewaltsamen Vorgehen legitimiert fühlten. Die Ausgrenzung der Juden »von oben« durch zahlreiche rechtliche und politische Einschränkungen fand ihr Pendant in den sozialen Ausschreitungen »von unten«, wobei auch hier noch die Rolle von örtlichen Elitepersonen wie Lehrern, Priestern oder Angehörigen des Bildungsbürgertums und die Agitation einzubeziehen ist, nach deren Veranstaltungen es oft zu Akten des Vandalismus gegen  Ebd.; Raphael Vago, The Tradition of Antisemitism in Romania, in: Patterns of Prejudice, , , S. -, hier S. .  Iancu, Les Juifs en Roumanie, S. . Auf Bittbriefe der betroffenen Juden hin veranlasste die Alliance Israèlite Universelle einen Spendenaufruf, der von den Gemeinden aus vielen europäischen Ländern . Franc erbrachten, weitere . kamen von der Alliance und anderen jüdischen Hilfsvereinen (S. ).  Iancu, Jews in Romania, S. .  Die Massivität des Bauernaufstandes verunsicherte die rumänische Öffentlichkeit (»nationales Trauma«), und man verfiel bei der Erklärung auch auf Verschwörungstherorien, die die Schuld beim König oder aber vor allem bei den Juden suchten (Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S. ).

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Juden kam.69 Antisemitismus sollte also auch weiterhin eine wichtige Rolle in der rumänischen Politik spielen. Julia Onac zitiert aus der jüdischen Zeitung Neamul Evreiesc vom . November , die beklagte, dass in Rumänien die Gesetzgebung wie auch die alltäglichen Gewohnheiten und die antijüdische Gewalt den »Pfad des Antisemitismus« eingeschlagen hätten.70 Antijüdische Gewalt hatte in Rumänien einen geradezu endemischen Charakter angenommen. Auf diese Entwicklung reagierten viele rumänische Juden mit Emigration, die im Jahre  einen ersten,  einen weiteren Höhepunkt erreichte, da die fremdenfeindliche Gesetzgebung der rumänischen Regierung im Jahre  drastische Einschränkungen für die Juden brachte, darunter Berufsverbote für Beamte, Ärzte, Apotheker, Hebammen sowie im Bereich von Armee und Justiz. Auch Hunger spielte in Folge der durch eine Dürreperiode ausgelösten Hungersnot dabei eine Rolle. Zwischen  und  sollen . Juden Rumänien verlassen haben.71

 Onac, »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle«, S. .  Ebd., S.   Onac, »Die antisemitische Hydra hebt den Kopf«, S.  ff.; dies., »In der rumänischen Antisemiten-Citadelle, S.  ff.; die AZJ berichtet im Jahre  davon, dass der »Antisemitismus zahrlreiche Juden aus dem Lande« treibe (Jg. , Heft , .., S. ).

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. »À bas les juifs!« – Die Dreyfus-Affäre und die »antisemitischen Manifestationen« in Frankreich und Algerien  In vielen Darstellungen der Dreyfus-Affäre haben die sie begleitende antisemitische Massenmobilisierung und die landesweiten »manifestations antisémites« Anfang  kaum Beachtung gefunden.1 Auch Pierre Birnbaum stellt fest, dass diese Unruhen in der Folgezeit aus dem historischen Gedächtnis ausradiert worden seien. Sie seien durch die Dreyfus-Affäre selbst und später durch die antijüdische Politik des Vichy-Regimes verdeckt worden. So hätten sie Jahrzehnte unentdeckt in den Archiven geschlummert.2 In den bisher zu diesen »Manifestationen« vorliegenden Arbeiten von Stephen Wilson (), Jeanine Bevinetto () und besonders die von Pierre Birnbaum () wurde ein weitverbreiteter Antisemitismus in der französischen Gesellschaft, die Rolle antisemitischer und katholischer und royalistischer Gruppen und die primär judenfeindliche Motivation der Tumultuanten hervorgehoben.3 Nach Birnbaum wurde das Land seit  von einer Flut antisemitischer Hetzerzeugnisse in Form von Karikaturen, Broschüren, Nippes, Spielkarten etc. überschwemmt,4 und antisemitische Gruppen und Organisationen seien in vielen Orten aktiv gewesen.5 Dort seien vor Ausbruch der Gewaltwelle antisemitische Plakate ausgehängt und antisemitische bzw. Anti-Dreyfus-Treffen  Vgl. Wilson, The Antisemitic Riots of  in France, S. , der die Berichte der Polizei und der Präfekten an das Ministerium des Inneren in den »Archives nationales« ausgewertet hat. Vincent Duclert erwähnte noch  die Unruhen nur in zwei Sätzen: »Gewiß gab es in Paris und in Provinzstädten Demonstrationen in den Straßen. Von Februar bis Juli , während der Prozesse gegen Zola, erreichte die antisemitische Gewalt ihren Höhepunkt. Diese Unruhen legten sich sofort, als die Affäre mit der Machtübernahme der Regierung der Republikanischen Verteidigung und den Reformprogrammen der Politik Waldeck-Rousseaus ihren politischen Stellenwert verlor« (Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhaß, Berlin , S. ; franz.: L’affaire Dreyfus, Paris ).  Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S. .  Wilson, The Antisemitic Riots; ders., The Anti-Semitic Moment; Jeanine Bevinetto, Les manifestations antisémites à Paris et en provinces en  et , Paris .  Zur Wirkung der Massenpresse und der massenhaften Produktion von antisemitischen Bildern und Objekten nicht nur in den großen Städten Frankreichs, sondern auch auf dem Lande, siehe: Nancy Fitch, Mass Culture, Mass Parliamentary Politics, and Modern AntiSemitism: The Dreyfus Affair in Rural France, in: American Historical Review , , S. -.  Vgl. zu den Aktivitäten der Ligue Antisémitique und anderer antisemitisch-nationalistischer und royalistischer Organisationen: Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  ff. Neuere Forschungen, etwa von Bertrand Joly, haben aber gezeigt, dass es sich bei den »Manifestationen« um spontane Ereignisse und keineswegs um von nationalistischen und konservativen Gruppierungen organisierte Vorkommnisse handelte. Organisationen, wie die Ligue Antisémitique besaßen Sektionen in nicht einmal zwanzig Provinzen mit kaum mehr als einigen hundert aktiven Mitgliedern in ganz Frankreich (Bertrand Joly, Nationalistes et conservateurs en France, -, Paris , S. -).

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und Tagungen von royalistischen, klerikalen und nationalistischen Gruppierungen abgehalten worden.6 Gegen diese, von ihm als »gelehrte orthodoxe« Lesart der »antisemitischen Manifestationen« kritisierten Darstellungen, die die Verbreitung und die Schwere der Übergriffe gegen Juden, aber auch die Verbreitung des Antisemitismus in Frankreich übertrieben habe, wendet sich Steven Englund mit einem anderen Blick auf die Vorfälle, wobei er den von Stephen Wilson verwendeten Begriff Riots in Anführungszeichen setzt.7 Er vertritt damit die Position derer, die in den letzten Jahren, allen voran Bertrand Joly, eine Neubewertung der Dreyfus-Affäre vorgenommen haben, in der auch die Bedeutung der antisemitischen Organisationen in Frankreich relativiert und den antisemitischen Motiven für die antijüdischen Demonstrationen eine zweirangige Rolle im Vergleich zu den patriotischen Motiven zugewiesen wird.8 Nach Joly stehen die Forschungen zu einzelnen Aspekten der Dreyfus-Affäre manchmal in der Gefahr, ihren Gegenstand zur alleinigen treibenden Kraft der Affäre zu machen. Dies gilt seines Erachtens in besonderer Weise für den Antisemitismus, dessen Verbreitung in Frankreich und dessen Einfluss auf die Affäre heute völlig überschätzt würden. Die Dreyfus-Affäre sei demnach viel mehr als der Fall von Hauptmann Dreyfus gewesen, und die Militärs selbst hätten darin das Symptom einer tiefen Krise der Dritten Republik gesehen.9 Bertrand Joly wirft der bisherigen Forschung vor, unter zwei methodischen Mängeln zu leiden: Sie stütze sich bei der Analyse der Unruhen nur auf die Berichte der Presse, auf Polizeiarchive und auf Aussagen von Zeitzeugen, die nicht genügend quellenkritisch analysiert würden, ignoriere aber die Justizarchive, insbesondere die Berichte der Generalstaatsanwälte und die Militärarchive. Auf der anderen Seite verzichteten die Autoren auf jede Anstrengung der Kontextualisierung oder

 Die Neue Freie Presse berichtete von einer »antisemitischen Zusammenkunft« in Marseille, gefolgt von Kundgebungen mit Beschimpfungen gegen Zola und die Juden sowie Hochrufen auf die Armee. Die Zeitung vermerkte, dass es zu »keinerlei Ausschreitungen« kam (.., S. ).  Steven Englund, Illusionary Violence. Another Look at the French Antisemitic »Riots« of , in: Bilder kollektiver Gewalt. Kollektive Gewalt im Bild. Annäherungen an eine Ikonographie der Gewalt. Festschrift für Werner Bergmann zum . Geburtstag, hrsg. von Michael Kohlstruck/Stefanie Schüler-Springorum/Ulrich Wyrwa, Berlin , S. -. Siehe ähnlich Bertrand Joly, Histoire politique de l’Affaire Dreyfus, Paris , S. : »Les historiens ont aujourd’hui tendance à exagérer et àdresser des tableaux hallunicés d’un Grand Soir antisémite qui ne correspondent nullement à la réalité«.  Bertrand Joly, Histoire politique de l’affaire Dreyfus, Paris ; ders., Nationalistes, S. . Siehe dazu auch Steven Englund, An Affair as We Don’t Know It, in: Jewish Review of Books, Spring , S. -.  Joly, Histoire politique, S. : »Depuis divers traveaux on poursuivi l’enquète sur des aspects particuliers, au risque parfois de faire de leur objet le moteur unique de l’ affaire Dreyfus. L’affaire Dreyfus, on le sait, est beaucoup plus que l’affaire di capitaine Dreyfus et les militaires eux-mêmes y virent sur le moment le symptôme d’une crise très profonde«.

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reduzieren sie wie Wilson auf die nächste Umwelt (»J’accuse«, Antisemitismus, wirtschaftlicher Einbruch).10 Joly will zwar den Nutzen der verfügbaren Arbeiten nicht in Abrede stellen, doch fehlt seiner Meinung nach »immer noch eine zuverlässige, d. h. erschöpfende Studie«, »die auf einer rigorosen und leidenschaftslosen Untersuchung basiert«.11 Obwohl Joly die Bedeutung des Antisemitismus für die Dreyfus-Affäre insgesamt für überschätzt und die patriotische Wut über Zolas Angriff gegen die Armee für zentral hält,12 spricht er für die Monate der »manifestations antisémites« Anfang  davon, dass hier der Antisemitismus in seinem Zenit (apogée) stand, anschließend in Frankreich aber schnell wieder an Bedeutung einbüßte.13 Joly und Englund ist sicher Recht zu geben, wenn sie gegen diejenigen, die Frankreich angesichts der »Manifestationen« im »Bürgerkrieg« wähnten, betonen, dass die meisten der spontanen »manifestations antisémites« nicht in Ausschreitungen ausarteten, sondern dass es bei oft von Studenten angeführten kleineren Demonstrationen blieb, die allerdings neben patriotischen Slogans immer auch »Tod den Juden« oder »Nieder mit den Juden« skandierten. Bertrand Joly hat sicherlich nicht ganz Unrecht, wenn er anmahnt: »Wir müssen Augenmaß bewahren und zweimal hinschauen, bevor wir ›Pogrom‹ schreien. Im Vergleich zu dem, was vorher oder anderswo passiert […], sind die Ausschreitungen in Frankreich  nicht sehr gewalttätig gewesen.«14 Mit Blick auf die in diesem Buch für das . Jahrhundert dargestellten Fälle kollektiver Gewalt gegen Juden erscheint es doch wiederum als in die Gegenrichtung übertrieben, wenn Englund und Joly das Ausmaß der »Demonstrationen« mit dem Argument als gering hinstellen wollen, es habe keine Todesopfer gegeben und auch Gewalt gegen jüdisches Eigentum (die Fenster von Synagogen und Läden wurden oft eingeworfen) und manchmal gegen Personen sei selten vorgekommen, wenn auch sehr real gewesen.15 Als Beleg für die Geringfü Joly, Histoire politique, S. . Englund hingegen lässt die frühe Arbeit von Stephen Wilson über die Unruhen als »consirably more sober and academic account than Birnbaum’s« halbwegs gelten, kritisiert z. T. überzeugend die Überzeichnungen und den Umgang mit den Quellen in Birnbaums Buch The antisemitic moment. »In short, he [Birnbaum] produced a personal, emotional and methodologically whimsical cri de coeur – a curios stance for a sociologist […]« (Illusionary Violence, S. ).  Joly, Histoire politique, S. . Er gibt anschließend eine knappe eigene Deutung der Ereignisse.  Joly wendet sich damit gegen die These von Wilson, der trotz der anderen Ziele und Anlässe für die Demonstrationen und Übergriffe (patriotische Kundgebungen, Unterstützung der Armee oder Opposition gegen Zola) daran festhält, dass die Juden das Hauptziel waren, die zudem ganz direkt materiell angegriffen wurden. Die während der Unruhen zu hörenden Slogans »A bas les Juifs !« und »Mort aux Juifs!« und die kursierenden antijüdischen Lieder markierten seines Erachtens die Hauptstoßrichtung der Übergriffe (Wilson, The Antisemitic Riots, S.  f.).  Joly, Histoire politique, S. .  Ebd., S. .  Englund, Illusionary Violence, S. . Bei Joly heißt es, dass es, auch wenn es sich bei den Demonstrationen zumeist um solche handelte, die nur lärmten, klar sei, dass einige

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gigkeit der Vorfälle sieht Joly auch die Tatsache an, dass Polizei und Armee die Situation immer unter Kontrolle gehabt hätten und nur auf geringfügigen Widerstand gestoßen seien.16 Weiterhin heben Joly und Englund hervor, dass selbst die größten Demonstrationen nur aus einem kleinen oder winzigen Prozentsatz der lokalen Bevölkerung und vielen Zeugnissen zufolge einer großen Anzahl von Zuschauern bestanden hätten.17 Damit unterscheidet sich die Situation in Frankreich aber keineswegs von anderen antijüdischen Ausschreitungen, in denen ein eher kleinerer Kreis von Tätern vor einer weitaus größeren Zuschauermenge agierte. Nach Joly ist es unmöglich, eine zuverlässige Gesamtzahl der mobilisierten Bevölkerung anzugeben, die für ihn zwischen dreißigtausend und achtzigtausend Menschen gelegen haben könnte. Er sieht darin »in jedem Fall einen sehr kleinen Prozentsatz der Bevölkerung und gleichzeitig einen Hinweis auf ein echtes Unbehagen im Land«.18 Die Beteiligung in dieser Größenordnung und die Angaben von einigen hundert, selten von tausenden Demonstranten vor Ort und von höchstens tausend Verhafteten erscheinen im Vergleich zu anderen Gewaltwellen des . Jahrhunderts keinesfalls als besonders gering.19 Die folgende Darstellung wird die in der neueren Forschung herausgearbeitete Sicht auf die Dreyfus-Affäre und die »manifestations antisémites« berücksichtigen und sich primär auf Wilsons Arbeit sowie auf weitere Forschungsliteratur und Zeitungsberichte stützen, aber Ergebnisse Birnbaums fallweise ebenfalls heranziehen.

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gewalttätig waren und einige Franzosen nur deshalb misshandelt wurden, weil sie Juden waren (oder als solche galten), ihre Zahl war vielleicht sehr gering, aber das Phänomen hat es trotzdem gegeben (Nationalistes, S. ). Ebd. Dies scheint aber nicht durchgängig der Fall gewesen zu sein. Die Zeitung des Arrondissements de St. Malo et de Dinan, L’Union malouine et dinnaise, berichtete, dass in Saint-Servan (Bretagne) in den Unruhen vom .-. Januar  eine Artilleriebatterie aufgestellt und eine berittene Gendarmeriebrigade eingesetzt wurde, um erneute Unruhen zu unterbinden (zit. in: Claude Toczé en collaboration avec Annie Lambert, Les Juifs en Bretagne Ve.-XXe. siècles, Rennes , S. ). Auch sonst wird häufig vom Einsatz des Militärs und Widerstand gegen die Polizei gesprochen. Ebd. Auch die von Englund (Illusionary Violence, S. ) vorgenommene Unterscheidung von Aktivisten und Publikum ist keineswegs so klar, da Teile des Publikums zu Aktivisten und Aktivisten wiederum ins Publikum wechseln konnten. Wenn von hunderten oder gar tausenden Teilnehmern die Rede ist, dürften die meisten sich in der ja keineswegs unwichtigen Rolle des Zuschauers beteiligt haben. »C’est en tout cas un pourcentage infime de la population et en même temps l’indice d’un vrai malaise dans le pays« (Joly, Nationalistes, S. ). Englund wählte mit einer Gesamtzahl von höchstens dreißigtausend Demonstranten den niedrigsten Wert (Illusionary Violence, S. ). Dass in einem (west-)europäischen Land im . Jahrhundert eine solch große Zahl von Menschen gegen die Juden und die Dreyfusards, wenn auch überwiegend gewaltfrei, auf die Straße ging, ist als außergewöhnlich zu betrachten und nur aus der enormen Mobilisierungskraft der Empörung über Zolas Angriff auf die Armee im Zuge der Dreyfus-Affäre zu verstehen. Englund, Illusionary Violence, S. .

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Die Dreyfus-Affäre Die Spionage-Affäre um den jüdischen Hauptmann im Generalstab Albert Dreyfus,20 dessen Verurteilung zu lebenslanger Haft auf der »Teufelsinsel« vor Französisch-Guayana durch ein Militärgericht im Jahre  sich über die Jahre zu einer immer weitere Kreise ziehenden Staatsaffäre entwickelte, in welche die Spitzen von Politik, Militär und Justiz involviert waren, spaltete die französische Gesellschaft in zwei Lager: das nationalistische, autoritäre und antisemitische Lager (Anti-Dreyfusards) und das der republikanisch-universalistischen Liberalen und Linken (Dreyfusards), wobei, wie vor allem Birnbaum betont, sich auch Vertreter des linken Lagers gegen Dreyfus, Zola und die Juden positionierten.21 Vincent Duclert sieht in dieser Zeit den Antisemitismus als »bezeichnend für die Armee und Bestandteile der französischen Gesellschaft« an. Er habe sich durch Edouard Drumonts Buch La France Juive von  und seine Artikel in seiner Zeitung La Libre Parole (seit ) im Offizierscorps sehr schnell ausgebreitet, wobei die Beförderung ausgezeichneter jüdischer Offiziere den Hass noch verstärkt habe, der sich in Duellen zwischen christlichen und jüdischen Offizieren manifestierte.22 Der Boulangismus habe dann den Hass auf Freimaurer, Protestanten und alles Fremde ebenso verstärkt wie den auf die ineffektive Republik.23 Drumonts La Libre Parole und andere nationalistische Zeitungen mit hoher Auflage lenkten mit ihren Publikationen, in denen sie Dreyfus schon nach seiner Verhaftung als Hochverräter anprangerten, den Fall von Anfang an in eine antisemitische Richtung und übten politischen Druck aus, indem sie dem Kriegsministerium vorwarfen, es habe die Verhaftung eines Juden verschweigen wollen. Für sie war Dreyfus als Angeklagter bereits überführt und verurteilt.24 Für die nationalistischen Gegner von Dreyfus standen er und seine Anhänger für alles, was sie ablehnten: »Juden, Ausland,  Zur Chronologie der Affäre vgl. Louis L. Snyder, The Dreyfus Case. A Documentary History, New Brunswick, NJ , S. XI-XX.  Ruth Harris, Dreyfus. Politics, Emotion, and the Scandal of the Century, New York , S. , weist aber darauf hin, dass die Rede von den zwei sich erbittert gegenüberstehenden Frankreichs zu stark vereinfacht. In Bezug auf den Antisemitismus etwa blieben einige der entscheidenden Dreyfusards bei ihrer antisemitischen Einstellung, während wichtige Anti-Dreyfusards sich gegen den Rassenantisemitismus wandten, sich aber dennoch an der Kampagne gegen Dreyfus beteiligten, um die Armee zu unterstützen.  Duclert, Die Dreyfus-Affäre, S. . Die französische Armee, die gegenüber der Politik eine große Autonomie besaß, befand sich in einer Umbruchsituation. Sie war sozial nach wie vor sehr stark von der Aristokratie und politisch vom Monarchismus geprägt und stand der Republik innerlich fern. Dennoch setzte ein Wandel hin zu Demokratisierung und Modernisierung ein (ebd., S.  f.).  Zur Rolle des Boulangismus in der Entstehungsgeschichte des modernen Antisemitismus in Frankreich vgl. Zeev Sternhell, The Roots of Popular Anti-Semitism in the Third Republic, in: Frances Malino/Bernard Wasserstein (Hrsg.), The Jews in Modern France, Hanover, NH , S. -; Michael Burns, Rural Society and French Politics. Boulangism and the Dreyfus Affair -, Princeton .  Duclert, Dreyfus-Affäre, S. .

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Geld, Verrat, Revolution und Republik«.25 War bis in die frühen er Jahre der Patriotismus eine Sache der linken Republikaner gewesen, so wurde der Nationalismus nun ein Thema der Rechten.26 Nach der Verurteilung von Dreyfus durch das Oberste Kriegsgericht aufgrund sehr fragwürdiger Indizien, fehlender Motive und eines Prozesses mit schweren Verfahrensfehlern27 stießen Journalisten wie Bernard Lazare,28 aber auch der neue Geheimdienstchef (ab . Juli ) Georges Picquart und andere bei ihren Nachforschungen auf ein ganzes Bündel von Beweisen, die auf einen anderen Täter als Dreyfus hindeuteten, und fanden zudem Hinweise auf ein mehr als fragwürdiges Vorgehen der Militärjustiz gegen Dreyfus, das bis in die höchsten politischen und militärischen Kreise gedeckt wurde.29 Denn Militär, Justiz und Regierung ließen nichts unversucht, die Spuren ihrer Fälschungen und Rechtsbeugungen zu vertuschen und entgegenstehende Beweise zu unterdrücken, um so dem Eingeständnis ihrer schweren Irrtümer und Vergehen zu entgehen und eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Dreyfus zu verhindern. Man leugnete bis hinauf zum Premierminister Felix Jules Méline, dass es eine »Dreyfus-Affäre« gäbe.30 Die antisemitische Presse veröffentlichte unglaubliche Geschichten über eine angebliche Verschwörung eines »Dreyfus-Syndikats«, dessen Pariser Zentralkomitee seine Weisungen aus Köln, Frankfurt, Brüssel und Genf erhalte.31 Den Un Ebd, S. .  Ebd., S. . So antwortete die katholische Zeitung La Croix unter der Überschrift »Le secret de l’amitié Judéo-Socialiste« auf die selbst gestellte Frage nach deren Gemeinsamkeiten, beide seien Kosmopoliten, da die Juden kein Vaterland besäßen, die Sozialisten keines haben wollten (..). Englund sieht denn den Kern des Konflikts besonders darin, dass die sich in der Defensive fühlende katholische Kirche und der säkulare Staat geradezu eine »real paranoia about the other, tending to see the hand of the enemy at every turn« entwickelt hätten, wobei Juden (und Protestanten, Freimaurer usw.) von der Kirche als Vertreter der säkularen Republik gesehen wurden (Englund, An Affair, S. ).  Duclert spricht von der »Fabrikation eines Schuldigen« in einem letztlich illegalen Prozess (Dreyfus-Affäre, S.  ff.). Die Verdächtigung von Dreyfus basierte zunächst keineswegs primär auf seiner jüdischen Herkunft, sondern neben einigen Anzeichen, die auf ihn als Täter deuteten, spielte es eine Rolle, dass seine Vorgesetzten dringend einen Schuldigen in der Spionageaffäre brauchten, die das Gefühl der nationalen Bedrohtheit nach der Niederlage gegen das Deutsche Reich verstärkte hatte. Die vorschnelle Verhaftung musste nun gerechtfertig werden, und so häufte die Militärjustiz Irrtum auf Irrtum und Fälschung auf Fälschung. Mit Dreyfus hatte man einen reichen, arroganten, im Kameradenkreis eher isolierten, auf der säkularen École Polytechnique ausgebildeten und zudem jüdischen Verdächtigen (Englund, An Affair, S. ).  Zu Bernard Lazare, dem »Anführer des Syndikats«, d. h. der Unterstützer Dreyfus’, vgl. Duclert, Dreyfus-Affäre, S.  ff. Er hatte  in seinem Buch L’Antisemitisme eine Gegenposition zu Drumont eingenommen.  Die Dreyfus-Affäre hat bis heute eine unübersehbare Fülle wissenschaftlicher Studien ausgelöst: vgl. Vincent Duclert, Alfred Dreyfus, Paris ; ders., Die Dreyfus-Affäre.  Vgl. die knappe Übersicht über den Gang der Untersuchungen seit Mitte Juli  bei Duclert, Dreyfus-Affäre, S.  ff., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; die Zeitung La Croix berichtete von einer »Agence d’acquittement«, die durch Beeinflussung der Richter und der Geschworenen Freisprüche

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terstützern von Dreyfus gelang es zwar, den wahren Verräter Ferdinand Esterhazy zu identifizieren und öffentlich anzuschuldigen, so dass dieser sich gezwungen sah, gegen sich ein Verfahren vor dem Militärgericht anzustrengen. Doch trotz vorliegender Beweise wurde Esterhazy freigesprochen, was in der französischen Öffentlichkeit aber mit großem Jubel aufgenommen wurde und zu ersten offenen antijüdischen Anfeindungen führte, da man den Freispruch als Schlag gegen die Macht des »jüdischen Syndikats« begriff und nun auf ein Ende der Affäre hoffte.32 In dieser Situation musste der Artikel des berühmten Romanciers Émile Zola wie eine Bombe einschlagen, denn dieser ging in der verfahrenen Situation mit einem offenen Brief an den Präsidenten der Republik mit dem Titel »J’accuse«, der am . Januar  in der Zeitschrift L’Aurore veröffentlicht wurde, in die Offensive.33 In diesem Brief griff Zola die Gegner von Dreyfus bis hinauf in die höchsten Kreise von Militär, Justiz und Politik sowie die Hetze der antisemitischen Presse in extrem scharfer und beleidigender Form an, um damit einen politischen Prozess vor einem Zivilgericht gegen sich selbst zu erzwingen und so auf diesem Umweg den Fall Dreyfus zur Revision zu bringen. Der Artikel löste eine Unterschriftenaktion zur Unterstützung von Zolas Position aus, die in ein »Manifest der Intellektuellen« mündete.34 Die angezielte Wende in der Dreyfus-Affäre gelang Zola und seinen Anhängern jedoch nicht, dennoch kamen in dem am . Februar gegen ihn eröffneten Prozess eine ganze Reihe der Verschleierungen und dunklen Punkte zur Sprache, was das Bild der Affäre in der Öffentlichkeit beeinflusste. Im Kriegsministerium soll sogar ein Freispruch Zolas erörtert worden sein. Letztlich wurde er aber am . Februar  zu einer Haft- und Geldstrafe verurteilt. Der Prozess wurde begleitet von Schlägereien zwischen Nationalisten und Dreyfusards vor dem Palais de Justice.35 In der Kammer des Parlaments kündigte Premierminister Méline die strafrechtliche Verfolgung der Dreyfus-Anhänger an, die Duclert als eine regelrechte Kriegserklärung an die ›inneren Feinde‹ wertet.36 Allerdings hob das Kassationsgericht das Urteil gegen Zola wegen eines Verfahrensfehlers am . April 



   

von Angeklagten erreiche und sich dafür bezahlen lasse. Die »agence Dreyfus« sei nicht die erste dieser Art (..). Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  f., der den Jubel auf den Straßen und das positive Echo in den Zeitungen herausstreicht, aber auch von den begleitenden Gewaltdrohungen gegen Dreyfus, dessen Puppe in effigie verbrannt wurde, und gegen die Juden berichtet. Dieser Brief bescherte der Zeitschrift, deren tägliche Auflage bei ca. dreißigtausend Exemplaren lag, eine Rekordauflage von zweihunderttausend Stück (Duclert, Dreyfus-Affäre, S. ). Maya Balakirsky-Katz, Émile Zola, the Cochonnerie of Naturalist Literature, and the Judensau, in: Jewish Social Studies: History, Culture, Society n. s., /, , S. -, hier S. . Duclert, Dreyfus-Affäre, S.  ff. Tatsächlich wurde der Verteidiger Zolas, Louis Leblois, aus der Anwaltskammer ausgeschlossen und der Chemieprofessor Édouard Grimaux von der Ecole Polytechnique in den Ruhestand geschickt. Siehe Duclert, Dreyfus-Affäre, S. .

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auf. Während des zweiten Prozesses in Rennes im Jahre  floh Zola dann nach England.37 Zolas Angriff auf die Spitzen von Politik, Armee und Justiz löste bei der großen Mehrheit der Franzosen Empörung aus, ließ das öffentliche Interesse an der Dreyfus-Affäre sprunghaft ansteigen und spaltete die Franzosen endgültig in eine Pro- und eine Contra-Dreyfus-Fraktion, die sich nun öffentlich und handgreiflich erbittert bekämpften.38 Zeitungen berichteten von wüster persönlicher Hetze und von erregten Diskussionen, von Tätlichkeiten bis hin zu Degenduellen zwischen Anhängern und Gegnern von Zola und Dreyfus.39 Es gab Versammlungen und Demonstrationen in Paris, auf denen Dreyfusards gegen die Geheimhaltung der Prozesse gegen Esterhazy protestierten40 und »Nieder mit Drumont und Rochefort!«, zwei der prominentesten Antisemiten, gerufen wurde, wie es andererseits Sympathiekundgebungen für die Armee41 mit Schmähungen gegen Zola und die Juden sowie Angriffe auf das vermeintliche Haus Zolas gab.42 Die Publikation des Zola-Artikels wurde zum Auslöser einer nationalistischen Welle von teils gewalttätig verlaufenden Demonstrationen, die sich gegen Juden und gegen Zola und seine Unterstützer richteten, aber zugleich auch für die Armee Partei ergriffen. Joly betont das Spektakuläre dieser »Manifestationen« wegen ihres plötzlichen, spontanen und fast allgemeinen Charakters.43 Es darf deshalb nicht überraschen, wenn  Der Anwalt von Dreyfus, Fernand Labori, wurde am . August  in Rennes auf offener Straße durch einen Schuss in den Rücken verletzt, wobei der nie gefasste Attentäter »Ich habe gerade Dreyfus getötet« gerufen hatte, womit er offenbar meinte, einen Juden getötet zu haben (Englund, An Affair, S. ).  Vgl. Neue Freie Presse. Abendblatt, .., S. .  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. . Nach Englund wurde die Affäre immer stärker politisch aufgeladen: »The affair became politicized, then highly politicized, as it became clear that all sides on the contentious French public scene could use it to do their old business destroying each other’s reputations.« Er sieht den Erfolg einiger weniger AntiDreyfusards nicht darin, die Fanzosen gegen die Juden aufgestachelt zu haben, sondern darin, die Sache einiger krimineller Offiziere in der Militärjustiz zur Sache des ganzen »verwundeten« Landes gemacht zu haben (An Affair, S. ).  Die Zeitung L’Aurore veröffentlichte seit Mitte Januar  täglich eine lange Liste mit Namen von Personen, die gegen die Verletzung der Verfahrensnormen in der Justiz und gegen die Geheimhaltung rund um den Prozess gegen Esterhazy protestierten (Les Protestataires).  Am . Januar  riefen in Paris mehr als hundert Vereinigungen (sociètés) zu einem Protestmarsch in den Tuilerien auf, in dem es um die Unterstützung der Armee und des Generals Saussier ging, darunter vor allem Veteranenorganisationen, Schützenvereine, Turnvereine usw. (La Croix ..).  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. . Bei Rochefort handelt es sich um Henri Rochefort, nach Vincent Duclert ein »ehemaliger Kommunarde, Boulangist und endlich überzeugter Nationalist«; Herausgeber der Zeitung L’Intransigeant (auf Deutsch »Starrsinn«) (Dreyfus-Affäre, S. ).  Joly, Nationalistes, S. , »Les manifestations du début de l’anneé , […] représentent le phénomène le plus spectaculaire de l’époque, par leur caractère soudain, spontané et presque universel«.

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der Historiker Jules Isaac, dem Frankreich  in die Zeiten der Religionskriege zurückversetzt zu sein schien, einschließlich der Möglichkeit einer neuen Bartholomäusnacht gegen Juden und Protestanten,44 und andere französische Juden Befürchtungen hegten, es könnte zu heftigen Ausschreitungen gegen die Juden kommen, da die in vielen Städten Frankreichs stattfindenden Demonstrationen mit ihren »Tod den Juden!«-Rufen Ängste auslösten.45 Im Fall der Dreyfus-Affäre haben wir eine Konstellation vor uns, die sich von den anderen in diesem Buch verhandelten Fällen unterscheidet. In diesem Justizskandal, in den Angehörige von Justiz und Politik bis in die höchsten Ränge involviert waren, trat der schon lange schwelende Konflikt der beiden großen politischen Lager Frankreichs offen zu Tage. Die zahllosen Zeitungsartikel, öffentlichen Versammlungen und Plakate zeugen einerseits von der Virulenz der Judenfeindschaft in dieser Phase nationalistischer Aufwallung,46 doch wurde die Dreyfus-Affäre allgemeiner als Kampf des katholisch-nationalen Lagers (»Frankreich den Franzosen !«) gegen die »unfranzösischen« Kräfte (d. h. die kosmopolitischen Juden, Protestanten, Freimaurer und Sozialisten) gesehen.47 Die AZJ sah die Juden nicht zu Unrecht als Prügelknaben im Konflikt zwischen Klerikalismus und Militarismus auf der einen, Republikanismus und Sozialismus auf der anderen Seite, sie sah in Frankreich sogar einen Bürgerkrieg toben.48 Die Affäre mobilisierte viele Franzosen, die für das klerikal-konservative und antisemitische Lager oder aber – in viel  Jules Isaac, Expériences de ma vie, Paris , S. . In einer Zuschrift an die Zeitschrift Siècle nach den Unruhen habe eine »hochgestellte Persönlichkeit« versichert, »eine jüdische Bartholomäusnacht wäre unvermeidlich gewesen, falls die Geschworenen Zola freigesprochen hätten« (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Wie die AZJ berichtet, würde der Gedanke der Bartholomäusnacht oder Sizilianischen Vesper von französischen Publizisten dem fanatisierten Pöbel geradezu nahegelegt. »Die Idee einer Bartholomäus-Nacht […] habe wie ein Blitz durch den französischen Volksgeist gezuckt« (AZJ, Jg. , Heft , , S. ). Vgl. dort auch den abdruckten radikalen Text eines antisemitischen französischen Publizisten.  In einer Rezension zu Bertrand Jolys Buch, Histoire politique, wird mit einigen Belegen auf diese Wirkung der antisemitischen Manifestationen hingewiesen, auch wenn deren Schaden letztlich begrenzt ausfiel und ihre Anzahl und Dauer geringer waren als angenommen (Blog der Société international d’histoire de l’affaire Dreyfus, http://affairedreyfus. com/des-livres/-. – eingesehen am ..).  Die AZJ zeigte sich im Februar  erstaunt, welche »Fülle von Haß und Gift« die französischen Blätter täglich gegen die Juden ausspritzten (Jg. , Heft , .., S. ).  Die katholische Zeitung La Croix sprach dramatisch von einer Revolution der Juden gegen die Franzosen, nachdem diese die erste, d. h. die Französische Revolution für die Juden gemacht hätten. Dies sei, so schrieb die Zeitung sarkastisch, die jüdische Art Dankbarkeit zu zeigen (Reconnaissance Juive, La Croix ..). La Croix beschreibt in ihren Artikeln als Gegner das »Dreyfus Syndikat«, das häufig auch »Syndicat de la trahison«, »Syndicat de traîtres« oder auch »Syndicat judéo-protestant« genannt wird (..). Auch gegen Logenhäuser der Freimaurer konnte sich der Protest richten (Manifestations, La Croix, ..).  AZJ, Jg. , Heft , ..; Heft , S. ; .., S. . Sie stand damit nicht allein: Auch die in Saint Malo erscheinende Zeitung Le Salut, .., sah in Frankreich seit einigen

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geringerem Umfang – für das liberal-republikanische auf die Straße gingen. Im Unterschied zu den sonstigen Wellen antijüdischer Gewalt, bei denen sich ein Teil der Mehrheitsbevölkerung gegen die Juden und hin und wieder auch gegen staatliche Autoritäten wandte, finden wir in diesem Fall Ausschreitungen, in denen entweder die Angehörigen beider Lager aufeinander losgingen oder in denen neben Juden auch oder sogar primär Parteigänger von Dreyfus und Zola angegegriffen wurden. Durch diese Gemengelage ist in vielen Fällen schwer zu entscheiden, gegen wen sich die Gewalt im Einzelfall konkret richtete. Auch die Form kollektiver Gewalt zeigt ein etwas abweichendes Muster, man könnte von »entarteten« Demonstrationen sprechen. Nach Joly zeigte die Abfolge der Ereignisse ein sich wiederholendes Muster: »Un cortège se forme pour exprimer sa fureur contre Zola et sa sympathie pour l’armée: cette motivation patriotique est fondamentale et n’a au départ rien à voir avec les juifs, mais la connexion se fait très vite, les cris antisémites permettant d’exprimer plus énergiquement la protestation; au niveau national, ce sont les antisémites qui mènent l antidreyfusisme au début d’Affaire et la confusion entre les deux est a ces moment explicable; toutefois, si les cris contre les juifs sont très souvent attestés, certaines manifestations en restent à Zola et aux traîtres.«49 Letztlich haben wir auch hier eine typische, Pogromgewalt begünstigende Konstellation vor uns. Ein großer Teil der französischen Bevölkerung war von Dreyfus’ Schuld überzeugt und sah in Zolas Angriff gegen die Armee und die Politik, hinter dem man ein Dreyfus-Syndikat vermutete, Verrat und eine Bedrohung der Nation, gegen die man sich mit »Protestaktionen« verteidigen musste. Man sah sich also zur Verteidung von Vaterland und Freiheit gegen »die Juden und ihre Freunde« aufgerufen und legitimiert,50 d. h., wir haben es hier mit der Form sog. »loyaler Pogrome« zu tun. Tagen einen »vent de guerre civile« wehen. Zit. nach Toczé/Lambert, Les Juifs en Bretagne, S. .  »Es wird eine Gruppe gebildet, die ihre Wut gegen Zola und ihre Sympathie für die Armee zum Ausdruck bringt. Diese patriotische Motivation ist grundlegend und hat am Anfang nichts mit den Juden zu tun, aber diese Verbindung wird sehr schnell hergestellt, das antisemitische Geschrei erlaubt es, dem Protest umso energischer Ausdruck zu verleihen; auf nationaler Ebene sind es die Antisemiten, die zu Beginn der Affäre den Antidreyfusismus anführen, und die Verwechslung zwischen beiden ist in diesem Moment erklärbar. Allerdings, auch wenn die Rufe gegen Juden sehr oft bezeugt werden, bleiben einige Demonstrationen auf Zola und die Verräter beschränkt« (Joly, Histoire politique, S. ; übersetzt von Werner Bergmann).  Siehe den Aufruf zu einer antijüdischen Demonstration von Studenten in Saint Malo am ..: »Messieurs, En présence des événements scandaleux et antipatriotique, qui désolent le pays, les patriotes ne sauraient trop affirmer leur amour pour France grande et libre. […] Manifestons contre les Juifs e leurs amis, avec la dignité et le calme que donne la cause trois fois juste a la defense de la Patrie et de la liberté« (Toczé/Lambert, Les Juifs en Bretagne, S. ). Vgl. einen ähnlichen Aufruf in Rouen zu einer großen antisemitischen Demonstration zur Unterstützung der Armee (Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S. ).

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Der Verlauf der »manifestations antisémites« An den Tagen nach der Publikation des »J’accuse«-Artikels wurden Anti-Zola-Parolen skandiert, und Personen paradierten als »Zola« oder »Dreyfus« zum Spott der Menge durch die Straßen. In Paris waren »Tod den Juden !«- und »Weg mit Zola!«Rufe zu hören, und immer weiter anwachsende Menschenmengen zogen durch die Straßen, wobei es zu Steinwürfen auf jüdische Geschäfte kam. Vor der Redaktion der »L’Aurore« wurden Exemplare der Zeitung, in denen der Brief Zolas abgedruckt war, verbrannt.51 Nach Darstellung von Pierre Birnbaum gab es ab Mitte Januar  in vielen Regionen und vielen Städten Frankreichs Demonstrationen teils größerer, teils aber auch kleinerer Menschenmengen gegen Zola und die Juden.52 Dabei ist zu bedenken, dass angesichts von damals ca. . im metropolitanen Frankreich lebenden Juden, davon mehr als vierzigtausend in Paris, an vielen Orten gar keine oder nur sehr wenige Juden lebten, gegen die die Demonstranten sich direkt hätten richten können. Die drei Wellen der »antisemitischen Manifestationen« hatten eine beeindruckende geographische Ausdehnung:  Orte in  Departments waren betroffen: eine Welle von  Ausschreitungen gab es unmittelbar nach Publikation des »J’accuse«-Artikels in der Woche vom . bis zum . Januar , eine zweite Welle von  Fällen in der Folgewoche vom .. bis in die erste Februarwoche, eine dritte mit vier Ausschreitungen zwischen dem . und . Februar im Kontext des Zola-Prozesses, zwei ereigneten sich am . Februar. Zusätzlich kam es zu weiteren vereinzelten Vorfällen in den folgenden Monaten des Jahres  und auch noch im Juni  während des zweiten Prozesses gegen Dreyfus in Rennes.53 Die schwerste Welle war die erste, in der oft über mehrere Tage antijüdische Demonstrationen und Übergriffe auf Ladengeschäfte von Juden in Paris, Marseille, Bordeaux, Nantes, Rouen, Chalon-sur-Saône, Lyon, Perpignan, Nancy54 und Angers stattfanden.55 Aus allen größeren Provinzstädten, neben den genannten auch  Das Vaterland, .., S.  f.; vgl. zu der aufgewühlten Atmosphäre in Paris nach der Publikation des »J’accuse«-Artikels, Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  ff.  Im ansonsten eher ruhigen Toulouse waren schon am . Dezember  ca. achthundert Menschen unter Rufen wie »Lang lebe die Armee ! Nieder mit Zola ! Nieder mit den Juden!« durch die Stadt gezogen und hatten mit Stöcken gegen die Fassaden jüdischer Geschäfte geschlagen und einen Laden verwüstet. Auf dem Höhepunkt der Gewaltwellen im Januar/Februar  blieb es in der Stadt aber ruhig (Birnbaum, The Anti-Semitic moment, S. -).  Wilson, The Antisemitic Riots, S. . Da es an einigen Orten zu mehreren Unruhen kam, spricht Wilson von  Riots im Januar/Februar  (ebd.).  Für Nancy berichtet Birnbaum zwar von zahllosen Demonstrationen und einem kurzen Angriff auf die Tür der Synagoge, erwähnt aber sonst keine weiteren Ausschreitungen (The Anti-Semitic Moment, S. -).  Nach Wilson dauerten die Ausschreitungen in Paris vom . bis . Januar; in Marseille vom . bis ..; in Bordeaux vom .-.; in Nantes vom . bis . und Rouen vom . bis ., in Chalon-sur-Saône vom . bis .; in Lyon vom .-; in Perpignan vom . bis ., in Nancy vom . bis . und in Angers vom .-. Januar (The antisemitic riots, S. ).

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aus Montpellier, Rennes,56 Lille und Clermont-Ferrand, trafen laut Neue Freie Presse Mitteilungen über »Demonstrationen gegen Zola ein, welche zumeist einen ausgeprägt antisemitischen Charakter hatten«,57 wobei es in vielen Fällen aber bei Demonstrationen blieb, ohne dass es zu ernstlichen Ausschreitungen gekommen wäre.58 Die Koppelung von Rufen »Nieder mit Zola« und »Nieder mit den Juden« war typisch, zugleich ließ man die Armee hochleben.59 Die französischen Tageszeitungen, wie Le Gaulois, Le Figaro, La Croix und L’Aurore berichteten täglich in den Rubriken »En province. Les manifestations« oder »Faits divers« in Kurzmeldungen über die Demonstrationen und Ausschreitungen in den französischen Städten. Sie berichteten von Demonstrationen von Studenten, beschäftigungslosen Commis und halbwüchsigen Jugendlichen, die nur durch den Einsatz von Polizei gehindert werden konnten, jüdische Läden zu stürmen und zu plündern.60 Viele jüdische Geschäftsleute hielten daraufhin ihre Läden geschlossen, um kein Angriffsziel zu bieten. Die Neue Freie Presse berichtete für Paris und andere größere Städte Frankreichs wohl etwas dramatisierend gar von »anarchischen Zuständen«, da lärmende Banden die Straßen durchzögen, um für oder gegen Dreyfus zu demonstrieren.61  In Rennes kam es ab Januar für längere Zeit zu Protesten vor allem von Studenten, aber auch anderen Einwohnern der Stadt (darunter Priester, Rechtsanwälte und Bürger aller Art) gegen vier Professoren, darunter zwei Juden, die sich öffentlich gegen Esterhazy und für Dreyfus ausgesprochen hatten. Immer wieder zogen Menschenmengen protestierend vor deren Wohnungen. Diese Demonstrationen und auch Angriffe auf jüdische Geschäfte hielten bis in den August an. Die Zeitung Le Salut in Saint-Malo schrieb am . Januar : »À Rennes notamment, et à Nantes, ont eu lieu des manifestations violentes contre les Juifs« (Toczé/Lambert, Les Juifs en Bretagne, S. -).  Neue Freie Presse. Morgenblatt, ..; Abendblatt .., S. ; Der Israelit, .., S. . Die antijüdischen und Anti-Dreyfus-Demonstrationen in Montpellier vom . bis . Januar  führten nicht zu gewalttätigen Übergriffen, siehe Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  ff.  Neue Freie Presse. Abendblatt, .., S. ; vgl. auch die Übersicht in der Zeitung La Croix vom .., in der unter dem Titel »Dans les Departements« über Unruhen bzw. Demonstrationen in Marseille, Nancy, Bordeaux, Rennes, Lyon, Clermont-Ferrand, Grenoble und Rouen berichtet wird. Als Träger werden zumeist Studenten sowie andere junge Leute benannt. Die Zeitung berichtete auch an den folgenden Tagen täglich von »manifestations« in Paris und zahlreichen Orten in Frankreich, z. B. in Agen, Arras, Le Havre, Luxeuil, Lille, Saint-Malo.  Le Gaulois, .., Artikel: »En provence«, dort Beispiele aus Epinal, Lille und Rouen.  Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Nr. , .., S.  (Leitartikel: »Die Krisis in Frankreich«).  Der radikalsozialistische, antiklerikale Politiker, Herausgeber der Zeitschrift L’Aurore und spätere Ministerpräsident Frankreichs Georges Clemenceau sah die Republik in Gefahr und einen »Wind des Wahnsinns« wehen. »Taumel und volle geistige Anarchie herrschen. Man will den Weihwedel verstecken, indem man die Menge gegen die Juden aufruft«. Er sah die Jesuiten am Werk, denen es um die Zerstörung der Republik ginge (Neue Freie Presse. Abendblatt, .., S. ). Nach Englund beschuldigten sich die politischen Lager gegenseitig, dass Jesuiten, Freimaurer, Juden, Anti-Militaristen, Anarchisten, AntiKlerikale, Antisemiten usw. einen Anschlag auf den Staat oder die Gesellschaft vorhätten (An Affair, S. ).

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In Paris endeten mehrere Versammlungen von Dreyfusards und Anarchisten im Tivoli Vauxhall am . Janaur und die von führenden Antisemiten wie Georges Thiébaud, Jules Guerin und Éduoard Drumont am . Januar jeweils in Schlägereien zwischen Dreyfusards und Anarchisten auf der einen und antisemitischen Anti-Dreyfusards auf der anderen Seite. Die Polizei war aber mit einem starken Aufgebot präsent, um die große Menge in Schach zu halten und zu zerstreuen.62 Es gab zahlreiche Verletzte und Festnahmen.63 Die Zeitungen berichteten in dieser Phase für Paris Tag für Tag von kleineren Tumulten und Demonstrationen, die zumeist von Schülern und Studenten getragen wurden, wobei wiederum andere Studenten diesen Anti-Dreyfusards entgegentraten.64 Zwischen dem . und . Januar kam es in Marseille und den umliegenden Städten zu gewalttätigen Ausschreitungen größerer Menschenmengen gegen jüdische Geschäfte und Häuser, bei denen auch Polizisten z. T. heftig attackiert wurden, die diese zu schützen suchten. In Marseille artete am . Januar  eine Demonstration von ungefähr tausend Personen vor jüdischen Geschäften unter den Rufen »Nieder mit den Juden ! Tod den Juden!« in eine Demolierung und Plünderung der Läden aus, deren Fenster eingeworfen wurden, während christliche Geschäftsleute ihre Läden durch entsprechende Hinweise zu schützen suchten. Es kam dabei zu Verletzten und zahlreichen Verhaftungen, zumeist von Handwerkern, aber auch von Händlern, Angestellten und Studenten.65 Der Bürgermeister von Marseillle bat daraufhin um die Stationierung von berittenen Gendarmen, um Ruhe und Ordnung garantieren zu können. Diese Übergriffe wurden in den örtlichen Zeitungen als Ausdruck der Empörung seitens der Jugend und der einfachen Leute über die gegenwärtigen Skandale gerechtfertigt. Dies zeigt das hohe Maß an Akzeptanz, das diese Unruhen fanden.66 Ähnliche Angriffe richteten sich gegen Sympathisanten  Le Figaro, ..: Le meeting de Tivoli; Le Figaro, ..: Novelles diverses; Le Figaro, ..: Les manifestations d’hier. Le meeting antisemite. L’Aurore: Après la Bataille, spricht von  Verletzten, davon einige wenige schwer (..).  Le Figaro, ...  In Lille etwa standen sich am . Januar die Studenten der Faculté de l’État, die mit »Vive Zola«- und »À bas les catholiques !«-Rufen auf Seiten Zolas und Dreyfus’ und Studenten der katholischen Fakultät gegenüber, die mit »À bas les Juifs!«, »À bas Zola !« und »Vive l’armée !« antworteten. Die Polizei musste nicht eingreifen, und die Passanten blieben indifferent (Le Figaro, ..; La Croix, . und ..). Wenn sich Gegner und Unterstützer Zolas bei solchen Demonstrationen begegneten, konnte es vorkommen, dass die Kontrahenten mit Spazierstöcken aufeinander losgingen (so etwa in Paris, vgl. »Faits diverse. L’agitation au Quartier Latin«, Le Gaulois, ..).  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. ; zu hoch gegriffen dürften die Zahlenangaben in anderen Zeitungen sein. So sprach Der Israelit von »Gruppen von Tausenden von Manifestanten« (.., S. ). Le Gaulois sprach von dreitausend Personen, die in Marseille zunächst unter den Fenstern der Offiziere die Armee hochleben ließen, bevor sie dann ins Zentrum zogen und dort die Geschäfte von Juden mit Steinen bewarfen. Die Polizei war nicht schnell genug zur Stelle, um Plünderungen zu verhindern (..). Siehe dazu ohne Zahlenangaben auch Le Figaro, ...  Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  f.

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Zolas. So warfen Studenten in Nantes nicht nur Steine gegen jüdische Geschäfte, sondern demonstrierten auch gegen die Zeitung Le Progrès du Nord, die für Zola eingetreten war, und schlugen dort die Fenster ein, woraufhin das Redaktionspersonal die Angriffe erwiderte und einige Studenten verletzte. Einen Höhepunkt erreichte die erste Welle am Sonntag, dem . Januar, da die Menschen an dem freien Tag Zeit hatten, sich an Demonstrationen zu beteiligen. Allein an diesem Tag gab es Ausschreitungen an , nun auch kleineren Orten, doch hatte sich die Polizei inzwischen auf die Lage eingestellt, so dass diese Fälle minder schwer verliefen und zumeist nur einen Tag dauerten,67 sich aber auch fallweise über mehrere Tage erstrecken konnten. So berichtete die Zeitung Union Malouine et dinnaise über die dreitägigen Unruhen in Saint-Malo. Sie schrieb, dass die Offizierskadetten der Handelsmarine am Anfang der Bewegung standen, »um gegen die jüdische Invasion zu protestieren«. Die »relative Invasion einer Stadt« bestand  aus zwei Geschäften, »die als von Juden geführt galten«: Der Cristal Palace Store, rue de la Poissonnerie, und Au petit Paris, rue de Dinan. Diese Embleme der »Invasion« wurden zum Ziel von Schreien und Schlägen »gegen die Fensterläden der Hausfront«. Auf die Freitagsdemonstration, »die ziemlich ruhig verlief«, folgte am Sonntag, dem . Juni, eine weitere, größere von »etwa . Menschen«, die gewalttätiger verlief. Die Demonstranten griffen hauptsächlich den Cristal Palace Store an. Dieses Mal war die Polizei überfordert, und Truppen mussten eingreifen: Um . Uhr räumten fünfzig Mann aus dem . Infanterieregiment den Laden und beendeten die Demonstration.68 Auch in Dijon dauerten die Unruhen bis zum . Januar an, die von Studenten, denen sich später auch einige als Unruhestifter bekannte Arbeiter anschlossen, getragen wurden, die Steine auf jüdische Häuser und die Synagoge warfen, doch insgesamt gut von der Polizei in Schach gehalten werden konnten, die viele Tumultuanten festnahm.69 Hatte die erste Welle große Städte überall in Frankreich erfasst, so bildete der Osten Frankreichs den Schwerpunkt der zweiten Welle mit Ausschreitungen in Saint-Dié (.-..), Epinal (.-..) und Ligny (Meuse – .-..) und der  Wilson, The Antisemitic Riots, S. .  Zit. nach Toczé/Lambert, Les Juifs en Bretagne, S.  f., die sich auch auf Berichte der Gendarmerie aus den Archives départmentales d’Ìlle-et-Vilaine stützen. Die Zeitung Union malouine befürwortet den Antisemitismus der Protagonisten: »Die Gefühle, die die jungen Anwärter der Marine inspirierten, die diese Demonstrationen begonnen haben, sind sehr ehrenvoll«, aber sie bedauert, »dass sich in einem solchen Fall der Bodensatz der Bevölkerung oft mit den ehrlichen Männern vermischt, die die Straße als Schauplatz für ihre Demonstrationen nutzen«, und sie geißelte »die jungen Schläger, die nur von Verletzungen und Schlägen träumen, die sich mit den Patrioten vermischt hatten« (ebd., S. ). (»Les sentiments qui ont inspiré les jeunes candidats de la marine, promoteurs de ces manifestations, sont fort honorables«, mais elle regrette que »en pareil cas, la lie de la population se mêle souvent aux hommes honnêtes qui prennent la rue comme théâtre de leurs démonstrations«, et fustige »les jeunes voyous ne rêvant que plaies et bosses [qui] s’étaient mêlés aux patriotes«.)  Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  f.

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kleineren dritten Welle während des Prozesses und nach der Verurteilung Zolas am . Februar  (Bar-le-Duc vom .-. .; Dieppe vom .-..).70 Als Beispiel für den Ablauf solcher Ausschreitungen soll hier der Fall Bar-le-Ducs aufgeführt werden, für den es zwei voneinander abweichende Darstellungen gibt, die aber eine ähnliche Geschichte nur in anderer Besetzung erzählen: – Über den Verlauf der Ausschreitungen in Bar-le-Duc berichtete die AZJ, dass dort ein jüdischer Beamter einen Straßenhändler habe verhaften lassen wollen, der mit antisemitischen Schriften hausieren ging, was die Wut einer Menschenmenge erregte. Als am nächsten Tag das in der Stadt stationierte Regiment von einer Übung zurückkehrte, wurde zu dessen Empfang eine große Demonstration veranstaltet, währenddessen sich die Menge unter dem Ruf »Nieder mit Dreyfus, Tod den Juden !« gegen das Haus des jüdischen Beamten wandte, dieses stürmte und eine Reihe benachbarter jüdischer Läden angriff. Die Polizei konnte die Ordnung nur mit Mühe wiederherstellen und wagte es auch nicht, die Rädelsführer zu verhaften. Der jüdische Beamte musste mit seiner Familie aus dem Ort flüchten.71 Birnbaum gibt eine davon abweichende Darstellung: Ausgangspunkt der Unruhen war eine Intervention des örtlichen Rabbiners Taubmann, der auf dem Markt zwei Straßenhändler, die antisemitische Liedtexte verkauften, aufforderte, den Verkauf zu stoppen. Daraufhin wurde er von einer kleinen Menschenmenge bedrängt, woraufhin ein Polizist alle Beteiligten auf die Polizeiwache brachte, wo Taubmann seine Aktion bedauert haben soll. Dennoch brachen am Abend antijüdische Unruhen in der Stadt aus. Eine Menge von ca. tausend Personen (bei . Einwohnern der Kleinstadt) zog durch die Straßen, skandierte die üblichen antijüdischen und Anti-Dreyfus-Slogans, warf die Fensterscheiben jüdischer Geschäfte ein und verbrannte in effigie eine Puppe, die Dreyfus oder den Rabbiner Taubmann dargestellt haben soll. Obwohl berittene Gendarmen in der Stadt waren und die Juden zu schützen suchten, setzten sich die Angriffe auf jüdische Läden mehrere Abende lang fort, an denen Fenster eingeworfen, Läden demoliert und Waren gestohlen wurden. Jüdische Einwohner brachten sich für einige Tage außerhalb der Stadt in Sicherheit. Auch hier wurden die verhafteten Personen von der Justiz später nur milde bestraft. Der Superintendent der Stadt schob die Schuld für die Unruhen auf das arrogante Verhalten Taubmanns in der Öffentlichkeit, den er sogar als »the author of the demonstrations« hinstellte. Zeugen wollten sogar gesehen haben, dass Taubmann die Händler angegriffen habe. Taubmann verließ die Stadt.72  Wilson, The Antisemitic Riots, S. ; zu den Unruhen in Dieppe vom . bis . Februar mit gut tausend Teilnehmern vgl. Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S. -. Es kam in Dieppe zu zahlreichen Verhaftungen zumeist junger Leute, doch wurden die Täter nur mit symbolischen Strafen von einem oder zwei Francs belegt.  AZJ., Jg. , Heft , .., S. .  Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  ff.

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In Paris kam es schon während des dort vom . bis . Februar stattfindenden Prozesses gegen Zola wiederholt zu Angriffen auf Zola und auch zu antijüdischen Ausschreitungen, bei denen Geschäfte und Häuser von Juden, aber auch Synagogen attackiert wurden.73 Neben dem Palais de Justice waren immer wieder die Häuser von Rothschild, Mathieu Dreyfus, Zola sowie die Redaktion von L’Aurore Ziel solcher Aufläufe kleinerer Menschenmengen von wenigen hundert Teilnehmern.74 Nur vereinzelt gab es Pro-Dreyfus- und Pro-Zola-Demonstrationen von zumeist sehr kleinen Gruppen, doch war das nationalistisch-antisemitische Paris ganz deutlich in der Übermacht, auch wenn die Anarchisten, die Confédération Générale du Travail, die Fédération des Bourses du Travail und die Allemanist Parti Socialiste Ouvrier Revolutionaire Demonstrationen für Zola planten.75 Trotz eines großen Aufgebots von Militär und Polizei konnten diese die an vielen Orten immer wieder aufflammenden Gewalttätigkeiten und Demonstrationen nicht völlig unterbinden, die ein höheres Gewaltniveau als bisher üblich hatten.76 Die Unruhen flauten nach dem . Februar ab, auch wenn es immer wieder Versammlungen der Antisemiten gab und es zu kleineren Aufläufen kam.77 Das harte Urteil gegen Zola wurde von der ganz überwiegenden Mehrheit der Franzosen mit Jubel begrüßt, während die Dreyfusards es als Sieg des Generalstabes und der Kirche über die schwachen republikanischen Politiker kritisierten. Man warf der Kirche vor, einen Religionskrieg gegen Juden, Protestanten und Atheisten führen zu wollen, und sah eine große antisemitisch-boulangistische Bewegung auf dem Vormarsch. Die Unruhen blieben ein städtisches Phänomen und dehnten sich nur selten auf das Land aus. »In the end, some villagers might adapt the broad outlines of the Dreyfus Affair to feuds and rivalries, or engage in demonstrations which paralleled Carnival-lent rituals; more often, it seems, they remained indifferent«.78 Die »Ma Ebd., S.  ff. »As the trial progressed, the police informer switched his attention to the streets of Paris and wrote of social unrest and possible civil war. When anti-Semitic posters were plastered over the shopfront, Jewish traders closed down to avoid attack …« (Harris, Dreyfus, S. , zitiert aus einem Report vom ..; Archives Nationales Paris).  Vgl. dazu L’Aurore vom ..: »Les manifestations. Au quartier Latin dans Paris – Devant »l’Aurore« – Devant la maison d’Emile Zola.« Auch vor dem Haus von Mathieu Dreyfus versammelten sich fünfhundert Protestierer.  Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  ff. u. .  Die Zeitung Le Siècle fand sich sogar an die brutalen Unruhen in Algier vom Januar  erinnert. Für Paris vgl. die Berichte über Revolverschüsse oder Hagel von Steinwürfen in die Schaufenster jüdischer Geschäfte: Le Figaro, .. (La soirée). Wie sehr die Affäre auch Familien spalten konnte, zeigt die Zeichnung »Un Diner en Famille« des bekannten Karikaturisten Caran d’Ache (eigentlich Emmanuel Poiré), auf der der Hausvater verbot, über die Affäre Dreyfus zu sprechen. Das nächste Bild zeigt dann, dass sie wohl doch zum Thema wurde, da das Essen in eine große Familienschlägerei ausartete (Le Figaro, ..).  Nach Ruth Harris kam es in vielen Provinzstädten im Lande zu »powerful eruptions of violence« (Dreyfus, S. ).  Burns, Boulangism, S. ; auch Birnbaum betont den Kontrast zwischen dem unruhigen Paris und der Ruhe im ländlichen Zentralfrankreich: The Anti-Semitic Moment, S.  ff. Nach Nancy Fitch verhielt sich das ländliche Frankreich angesichts der Verbreitung der

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nifestationen« verteilten sich zwar über  Departements (ohne Algerien), doch lassen sich Häufungen in Lothringen, im Westen und im Rhonetal feststellen. Dass sich Ausschreitungen hier häuften, war kein Zufall, vielmehr handelte es sich vor allem im Osten (in Lothringen), in einem Streifen von Chalons-sur-Marne im Norden über Nancy, Bar-le-Duc, Dijon und Vesoul bis nach Besançon im Süden79 ( Fälle) und Nordwesten Frankreichs (sieben Fälle in der nordwestlichen Küstenregion, z. B. in Saint-Malo, Rennes, Nantes80 und Cherbourg),81 um Hochburgen rechtsgerichteter und konservativer Wähler,82 während an der politisch linksgerichteten Mittelmeerküste und im Rhonetal ( Fälle) politische Spannungen der Linken mit den Nationalisten und Antisemiten zu einer Häufung der Fälle führten.83 So kam es in Marseille zu Gegendemonstrationen von Anarchisten, die sich mit Rufen wie »Nieder mit der Religion!« oder »Nieder mit dem Besitz !« mehrfach gewalttätig gegen die Anti-Dreyfus-Demonstranten wandten, Szenen, die sich bei der Ankunft oder Abreise von Antisemiten aus dem Departement Algerien mehrfach wiederholten.84 Die antijüdischen Unruhen hatten einen erkennbar nationalistischen Charakter, der sich schon darin zeigte, dass vor allem Grenzregionen im Osten, Nordwesten, Südosten und Süden mit Ausnahme der

 



  

Massenpresse, des Wahlkampfes und der massenhaften Produktion antisemitischer Darstellungen und Objekte gegenüber der Dreyfus-Affäre jedoch keineswegs so indifferent. Im Distrikt Montluçon in der Auvergne kam es zu einigen Ausschreitungen gegen AntiDreyfusards, und in dem Dorf Ronnet wurden kleine Läden attackiert, von denen man annahm, dass sie Juden gehörten (Mass Culture, S. ). Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  ff.; es kam hier überall zu Demonstrationen, doch nicht in allen Fällen zu tätlichen Übergriffen auf jüdische Geschäfte, Häuser oder Synagogen (z. B. nicht in Besançon, S.  f.). Zu den mehrtägigen schweren Unruhen in Nantes, die den Einsatz von Militär erforderten vgl. Birnbaum, The antisemitic moment, S.  ff. Bei Toczé/Lambert, Les Juifs en Bretagne, S. , ist der Abschnitt übertitelt mit: »À Nantes, une atmosphère de pogrom: on recence pour protéger, on recense pour dénoncer.« Dort ließ nämlich die Polizei eine Liste der Mitglieder der »Communauté des Israèlites de Nantes« anfertigen, damit Polizei und Militär deren Läden und Wohnungen besser schützen konnten. Eine antisemitische Zeitung, The Israelite Indicator, veröffentlichte eine eigene Liste mit den Namen der Geschäfte, um ihrerseits die Randalierer auf mögliche Ziele hinzuweisen (Jean Guiffan, La Bretagne et l’affaire Dreyfus, Dinan, , Carte des manifestations antisémites survenues en Bretagne en janvier et février , S. ). Zu den Unruhen in Saint-Malo s. o. Fußnote ; auch Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. . Birnbaum resümiert für die Bretagne insgesamt: »Brittany as a whole was buzzing with anti-Semitic incidents« (The Anti-Semitic Moment, S. ), doch »Brittany did not experience the violent anti-Semitic mobilization that shook several others regions« (S. ). Vgl. Birnbaum, ebd., Kapitel : »In Barrésian Lorraine«, S. -. Ebd., Kap. : »Storm on the Coast: Algerian Marseilles«, S.  ff. »From mid-January to December  and even later Marseilles experience similar largescale anti-Semitic unrest, which met either with a police force firmly committed to maintaining order or with well-established anarchist groups« (ebd., S.  u. ).

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Departements nahe der Pyrenäen besonders betroffen waren.85 Es gab zudem eine deutliche Korrelation zur Präsenz einer größeren örtlichen jüdischen Gemeinde: »The administrative reports confirm the impression that antisemitism was a reaction to a Jewish presence.« So trafen die Unruhen Städte mit den größten jüdischen Gemeinden in Frankreich wie Paris, Marseille, Bordeaux, Besançon, Lille und Reims; eine Ausnahme bildete hier Bayonne; doch gab es Unruhen auch in Orten und Gegenden, wo kaum oder sogar gar keine Juden ansässig waren.86 An vielen Orten richteten sich Demonstrationen auch oder allein gegen den »Verleumder« Zola und wurden von Kundgebungen und Rufen wie »Vive l’armeé!« für die von ihm kritisierte Armee begleitet. Zola und die Dreyfusards wurden antipatriotischer Umtriebe (»menées antipatriotique«) bezichtigt. Zum Charakter der Manifestationen: Dauer, Gewaltniveau, Teilnehmer und Ordnungskräfte Wiederholung, Größe und und Schwere der Ausschreitungen variierten sehr stark, wobei es nach Joly keine klaren Korrelationen zwischen diesen Parametern gibt.87 Sie reichten von kleinen Demonstrationen, in denen ein halbes hundert Gymnasiasten oder Wehrpflichtige antijüdische Slogans skandierten, wie in Saint Brieuc (Bretagne) am . Januar , oder aber ein Dutzend Studenten das Haus eines jüdischen Professors mit Steinen bewarfen, wie in Tournon am . Januar, bis zu großen, mehrere tausend Personen umfassenden Krawallen, die sich oft über mehrere Tage wiederholten.88 In  Fällen konnten sie zwischen fünfhundert und viertausend Teilnehmern

 Wilson, The Antisemitic Riots, S.  f.; »The vast republican Midi-Pyrénées region did not, however, support open anti-Semitic demonstrations« (Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S. ).  Vgl. Wilson, The Antisemitic Riots, S. . Zwar mag die Behauptung der AZJ, dass auch in Frankreich die judenfeindlichsten Provinzen solche waren, wo wenige oder keine Juden lebten – etwa die Bretagne –, zutreffen (Jg. , Heft , .., S. ), doch ereigneten sich die Ausschreitungen überwiegend in den größeren Städten mit einer großen jüdischen Gemeinde. In Städten, in denen keine Juden lebten, kam es zwar auch zu Demonstrationen mit »Tod den Juden«-Rufen, doch konnte es hier naturgemäß nicht zu Angriffen auf jüdischen Besitz kommen. Dazu, dass Demonstranten antijüdische Slogans auch in Orten riefen, in denen keine Juden lebten, siehe Joly, Histoire politique, S. .  Ebd., S. .  Dazu und zum Folgenden Wilson, The Antisemitic Riots, S.  f. In  Fällen dauerten die Unruhen drei oder mehr Tage lang an, in Rennes z. B. sogar vom . bis . Januar  (Le Temps, .., zit. nach Toczé/Lambert, Les Juifs en Bretagne, S. ). Dass es hinsichtlich der Teilnehmerzahlen bei Ausschreitungen angesichts der generellen Schwierigkeit, diese bei größeren Menschenansammlungen genau abzuschätzen, häufig weit auseinandergehende Angaben gibt, ist normal, wobei die offiziellen Zahlen der Behörden keineswegs zutreffender sein müssen, da auch sie eine Konfliktpartei bilden und Gründe haben können, die Zahlen herunterzuspielen.

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umfassen,89 wobei hier auch die zumeist große Zahl von Zuschauern mitgezählt ist.90 Als Beispiel sei hier Rouen genannt, wo die »antisemitischen Manifestationen« mehrere Phasen mit unterschiedlichem Gewaltniveau aufwiesen: – Nachdem die Stadt in der Nacht vom . auf den . Januar mit antisemitischen Plakaten gepflastert worden war, kam es am Abend des . dort zu den angekündigten Übergriffen von ca. hundert Personen auf zwei jüdische Geschäfte, bevor die Polizei die Menge zerstreuen konnte. Am .. folgten ungefähr dreihundert Studenten dem Aufruf zu einer antisemitischen Demonstration zur Unterstützung der Armee; es kam zu einigen Festnahmen durch die Polizei.91 Nach Joly zeichnete die örtliche Zeitung Le Petit Rouennais vom .. ein harmloses Bild dieser Demonstration: »Ist das eine antisemitische Demonstration, die gestern Abend stattfand? Nein, es ist vielmehr eine Demonstration der Zuschauer, denn tatsächlich gab es kaum Demonstranten.«92 In derselben Ausgabe vom .. schätzte die Zeitung die Zahl der Demonstranten am Vorabend immerhin auf fünfhundert bis sechshundert, die Zahl der Zuschauer sogar auf viertausend bis fünftausend.93 Am Abend des .. folgte dann eine weitere Protestdemonstration mit mehr als als zweitausend Beteiligten, die »Weg mit Zola!« und »Á bas les Juifs« riefen, es kam aber nicht zu gewalttätigen Übergriffen. Berittene Polizei sorgte für Ordnung, und es wurden  Personen verhaftet.94 Das Gewaltniveau der »Manifestationen« war insgesamt vergleichsweise niedrig, Nach Joly beschränkten sich ungefähr zwei Drittel der Demonstrationen, an denen nicht mehr als fünfzig Personen teilnahmen und die zumeist nur einen Nachmittag oder Abend andauerten, auf das Rufen von Slogans und auf demonstrative Handlungen wie das Verbrennen von Bildern oder Puppen, die Dreyfus oder andere Dreyfusards darstellten. Viele Fälle hatten nach Joly eher den Charakter archaischer Charivaris (Rügebräuche) als echter Ausschreitungen.95 An  Orten kam  Unter den  Fällen mit fünfhundert oder mehr Beteiligten waren: viertausend in Angers und Marseille; dreitausend in Nantes; zweitausend in Rouen; eintausend bis eintausendfünfhundert in Saint-Dié; Bar-le-Duc und Saint-Malo (Wilson, The Antisemitic Riots, S. ). Auch Birnbaum spricht für Nantes von dreitausend Personen, während Englund, gestützt auf die Zeitung Le Petit Marseillais für den . Januar  nur von Gruppen von mehreren hundert jungen Leuten spricht (Illusionary Violence, S. ).  Die Zeitung Le Petit Rouennais vom .. schätzte die Zahl der Demonstranten auf -, die Zahl der Zuschauer aber auf viertausend bis fünftausend (zit. nach Englund, Illusionary Violence, S. ).  Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S. -.  »Est-ce bien une manifestation anti-sémite qui a lieu hier soir? Non, c’est plutot une manifestation de badauds, car, en fait de manifestans, il n y en avait guère« (Joly, Historie politique, S. ).  Zit. nach Englund, Illusionary Violence, S. .  Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S. -.  Joly, Histoire politique, S. . Wilson, The Antisemitic Riots, S. , stuft  der  Riots als geringfügig ein (fünfzig oder weniger Demonstranten, nur eintägig), die anderen  nennt er »more serious«.

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es zur Demolierung jüdischen Eigentums (Läden, Synagogen und Wohnungen), in weiteren neun Fällen zu Angriffen auf Personen.96 In fünf Städten musste das Militär der Polizei zu Hilfe kommen.97 Bei den gewalttätigen Aktionen wurden zumeist Geschäfte von Juden attackiert, bisweilen auch geplündert, seltener traf es Privathäuser. Aufläufe und Übergriffe hatten häufig größere Läden und Warenhäuser zum Ziel, da man Juden vorwarf, unehrliche Geschäftsleute zu sein und riesige Profite einzustreichen. Ein Vorwurf, der schon länger von den antisemitischen Organisationen erhoben worden war, die Kampagnen gegen das wirtschaftliche »jüdische Komplott« gestartet hatten, um den lokalen Handel gegen das »système juif« in Schutz zu nehmen.98 Es wurden jedoch auch Synagogen und Häuser von Rabbinern beschädigt und Juden (oder Personen, die man dafür hielt), wenn auch selten, physisch attackiert,99 es gab jedoch keinen Todesfall. Die Aktionen waren von Beleidigungen von Polizisten und Widerstand gegen Festnahmen begleitet, zu denen es an zwanzig Orten kam. Für ihr Vorgehen gegen die Demonstrationen wurde die Polizei von Nationalisten und Klerikalen und ihrer Presse als »Dreyfusardische Polizeioffiziere« geschmäht und bei den Unruhen attackiert. Einige wurden bei ihren Einsätzen auch verletzt,100 da sie ihre Aufgabe wahrnahmen, die angegriffenen Juden, Protestanten und Freidenker zu schützen.101 Die soziale Zusammensetzung der Demonstranten und Tumultuanten lässt sich anhand von Presseartikeln und der Listen der Verhafteten nur mit einer gewissen Unsicherheit angeben. An den Ausschreitungen beteiligten sich vor allem jüngere Männer, zumeist Studenten und Schüler, die die Unruhen auch am häufigsten in Gang setzten,102 in einigen Fällen ging die Initiative auch von Wehrpflichtigen

 Ebd., S. ; Wilson, The Antisemitic Riots, S. . Eine Übersichtskarte der Bretagne etwa zeigt, dass dort in fast allen größeren Orten »manifestations« stattfanden, von denen Jean Guiffan fünf als bedeutende (in Saint-Malo, Saint-Servan, Dinan, Rennes und Nantes), sieben aber als kleine und vier als unbedeutende oder abgebrochene Manifestationen einstuft. Siehe: Guiffan, La Bretagne.  Wilson, The Antisemitic Riots, S.  (Angers, Lunéville, Nantes, Saint-Dié, Paris).  Beispiele für die Ablehnung der Juden als »dishonest traders« vor allem seitens ihrer Konkurrenten (so gab es in Poitiers seit  eine Ligue antisémitique du commerce poitevin) bei Wilson, The Antisemitic Riots, S. .  Ebd. In Lunéville wurde ein Hauptmann der Jäger (Chasseurs) von vier Angreifern niedergeschlagen und durch den Dreck gezogen, ohne dass ihm jemand zu Hilfe kam (Harris, Dreyfus, S. , zitiert aus einem Bericht vom Januar , Archives Nationales, Paris).  Beispiele bei Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  ff., vgl. insbesondere den Angriff auf den Pariser Superintendenten Leproust, auf den mit Stöcken eingeschlagen wurde und der sich einen Schädelbruch zuzog (S. ).  Ebd., S.  f.  Die Tatsache, dass die Neue Freie Presse Mitte Januar immer wieder Meldungen brachte, im studentischen Quartier Latin herrsche derzeit Ruhe, weist darauf hin, dass man in den Studenten das größte Unruhepotential sah (z. B. .., .., S. ; .., S. ).

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aus.103 Später schlossen sich dann auch ältere Personen an, darunter Arbeiter, Lohnempfänger (salaries), aber auch Angehörige des Bürgertums. Hinzu kamen nach Joly die unvermeidlich anwesenden »casseurs« (Brecher, Schlägertypen), denen er einen großen Teil der Verantwortung für die Plünderung der Geschäfte zuschreibt.104 Die Listen der verhafteten Personen zeigen, dass ›toutes les classes de la société‹ beteiligt waren: Arbeiter, Handwerker, Büroangestellte, Verkäufer, aber bisweilen auch bürgerliche Kreise, etwa Juweliere, Apotheker, Architekten, Kolonialwarenhändler, Mechaniker usw.105 Dies wird durch einen Bericht der Zeitung L’Espérance du Peuple bestätigt, wonach sich an den Unruhen in Nantes alle Schichten der Gesellschaft beteiligt hätten: »And in that army of demonstrators, all viewpoints and social ranks fraternally rubbed shoulders: workers, shopkeepers, students, nobles, laborers, bourgeois, persons of private means, and so on«.106 Die Berichte der Präfekten halten zudem fest, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Ausschreitungen schweigend billigte.107 – In den Städten bildeten antisemitische oder Anti-Dreyfus-Versammlungen oder Demonstrationen den Auftakt zu den Unruhen, in anderen riefen antisemitische Plakate dazu auf, es den Demonstranten in anderen Städten gleichzutun.108 Bertrand Joly sieht dabei die mobilisierende Rolle der Studentenschaft als entscheidend für die Entstehung der Manifestationen an einem Ort, aber auch für deren geographische Ausbreitung an, wobei die Presse als Vermittler fungierte. Dies habe dann Elemente aus der breiten Bevölkerung und auch aus bürgerlichen Kreisen angezogen, und lokale royalistische oder katholische Gruppen, aber auch Wehrpflichtige und in seltenen Fällen auch Soldaten in Zivil hätten sich daran beteiligt. Kleine Orte hätten dann die Vorfälle in den großen Städten imitiert. Die Manifestationen seien also entweder spontan oder aus Ansteckungseffekten entstanden. Einen Nachweis, dass antisemitische Organisationen dabei eine Rolle gespielt hätten, sieht er nicht. Diese seien in einigen Fällen erst als Resultat der Unruhen gegründet worden.109 Er widerspricht damit der älteren For Noch im Vorfeld der Gewaltwellen demonstrierten zweihundert Rekruten in Paris gegen die Juden und Zola und mussten vor der Polizei zerstreut werden, wobei vierzig Personen verhaftet worden sein sollen (Das Vaterland, .., S. ).  Joly, Histoire politique, S. .  Wilson, The Antisemitic Riots, S. . Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  f., gibt eine Aufstellung der achtzig zwischen dem . und . Januar  in Paris verhafteten Personen, zumeist junge Männer im Teenager- und frühen Twen-Alter, fast alle stammten aus Paris. Mehr als dreißig davon waren Studenten und Schüler, die übrigen kamen aus allen möglichen Handwerksberufen. Doch gesellten sich zunehmend auch Arbeitslose und Landstreicher aus den Vorstädten von Paris zu den Tumultuanten. Für Marseille stellt Le Figaro fest, dass die Masse der Arbeiter, ohne den Juden mit Sympathie zu begegnen, augenscheinlich überwiegend indifferent blieb (..).  Zit. in Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S. .  Dagegen Joly: Die Berichte der Generalstaatsanwälte würden häufig die Indifferenz der Bevölkerung gegenüber den Demonstrationen betonen (Histoire politique, S. ).  Wilson, The Antisemitic Riots, S.  f.  Joly, Histoire politique, S. .

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schung, die noch von einem teils indirekten, teils direkten Einfluss antisemitischer Organisationen wie der Ligue Antisémitique Française sowie antisemitischer, ehemals boulangistischer und royalistischer Politiker auf den Ausbruch der Unruhen ausgegangen war.110 Dennoch waren es häufig Mitglieder der katholischen Jugend, die von der Polizei als Hauptanstifter von antijüdischen Unruhen herausgegriffen wurden. Sie schienen nicht zu verstehen, warum sie nach den Jahren ungestrafter antijüdischer Hetze und »Tod den Juden«-Rufen dieses nicht in die Tat umsetzen sollten. »From their perspective, this physical violence was the logical culmination of this rhetoric.«111 Die Neue Freie Presse warf dem französischen Staat vor, er sehe dem Treiben »mit verschränkten Armen« zu,112 doch berichtete dieselbe Zeitung auch immer wieder von Polizeipatrouillen, von zahlreichen Verhaftungen und vom Einsatz der Polizei, um Demonstranten zu zerstreuen. Die Einschätzungen des Verhaltens von Polizei und Militär gehen auch in der Forschung auseinander. Während nach Pierre Birnbaum zwar die Spitzen des Staates zunächst wie paralysiert gewirkt hätten, attestiert er der Polizei und Gendarmerie, dass die Ordnungshüter nach Kräften gegenhielten und so das Schlimmste verhinderten.113 Es wurden auch vorbeugende Maßnahmen getroffen, indem Veranstaltungen verboten, Theater geschlossen und Geschäfte von Juden bewacht wurden. Demgegenüber nennt Bertrand Joly die Haltung der Behörden und der Polizei »in besonderem Maße unklar«, da in »vielen Fällen ihr Verständnis oder sogar ihre Sympathie für die Demonstrationen zu Beginn deutlich zu spüren« war. »Die Polizei reagierte häufig langsam und mit ungewöhnlicher Gutmütigkeit, und in den seltenen Fällen, in denen dies erforderlich war, zeigte die Armee keinen größeren Eifer«. Erst wenn die Ausschreitungen länger andauerten oder wenn geplündert wurde, reagierten die Bürgermeister besorgt und riefen zur Ruhe auf. Sobald sich die Ordnungskräfte endgültig zum Eingreifen entschlossen

 Harris, Dreyfus, S. . Wilson, The Antisemitic Riots, S.  f., sieht einen direkten Einflus der Ligue Antisémitique Française nur in drei Städten, vermutet aber aufgrund von Berichten, dass Organisationen in vielen Orten beteiligt waren. Sternhell (Roots of Popular Anti-Semitism, S.  f.) sieht keine Möglichkeit, die genaue Rolle der Ligue antisémitique in den Unruhen von / festzustellen, doch hält er sie aufgrund der Quellen für ziemlich wichtig. Sternhell sieht in den Unruhen eine Umsetzung der antisemitischen Ideologie von »Toussenel and Proudhon to Drumont, Barrés, Rochefort et Maurrass. Every single word of the slogans shouted by the men who looted and vandalized Jewish stores, bodily assaulted Jews in the streets, or killed them (as in Algiers) had been uttered, written and printed every day, year after year, in hundreds of thousands of copies« (S. ).  Siehe auch Vicki Caron, Catholics and the Rhetoric of Antisemitic Violence in fin-desiécle France, in: Nemes/Unowsky, Sites of European Antisemitism, S. -, hier S.  f.  Neue Freie Presse. Abendblatt, .., S. .  »The institution of the state did not give way. No one would make fools of the prefectural corps, the police, and the gendarmerie, who maintained public order and suffered to protect the Jews and the civil peace« (Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S. , auch S. ).

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hatten, trafen sie nur auf geringen Widerstand der Tumultuanten.114 Es gab in den Reihen von Polizei und Armee Ressentiments gegen Juden und viele Sympathisanten der Anti-Dreyfusards, die auch die antisemitische Gewalt tolerierten oder ihr Ausmaß verharmlosten, was sich in einer gewissen Passivität ausdrückte.115 So erschienen Sicherheitskräfte in vielen Fällen verspätet am Tatort, auch wenn die Gewalt dort schon länger andauerte, und fraternisierten sogar mit den Demonstranten oder gingen brutal gegen Dreyfus-Anhänger vor, die häufig als »dreckige Juden« geschmäht wurden. Dass Polizei und die von Zola angegriffene Armee mit den Anti-Dreyfusards sympathisierten, was Rückwirkungen auf ihren Einsatzwillen gehabt haben dürfte, liegt m. E. auf der Hand. Man muss aber vermutlich zwischen verschiedenen Phasen der Unruhen unterscheiden. Nachdem die von den Unruhen überraschten Behörden zunächst zögernd reagiert hatten, griffen sie später schneller durch. Die Regierung war durch die Vorfälle äußerst beunruhigt, und der Innenminister wies alle Präfekten an, auch kleinere Übergriffe zu melden und zu unterdrücken. Die Berichte französischer Zeitungen zeigen durchgängig, dass die Polizei die Tumulte und Demonstrationen immer besser in den Griff bekam.116 Die Festnahmen betrafen zumeist Personen, die der Aufforderung, den Platz zu verlassen, nicht nachgekommen waren, oder die die Polizei angegriffen hatten, und seltener diejenigen, die Juden oder ihr Eigentum attackiert hatten. In einigen Fällen ließen sich die Demonstranten auch durch Polizeipräsenz nicht abschrecken. In  Joly, Histoire politique, S. ; Toczé/Lambert, Les Juifs en Bretagne, S. ), zeichnen für die Lage in der Bretagne ein anderes Bild. Demnach hätte die Stadtverwaltung von Saint-Servan nach den Unruhen im benachbarten Saint Malo die Gefahr dieser urbanen Gewaltakte erkannt. »Alle zivilen und militärischen Führer sprachen sich für die Aufrechterhaltung der Ordnung aus. In Saint-Malo, Saint-Servan, wie auch in anderen französischen Städten (auch Nantes ist ein gutes Beispiel dafür), herrschte der Wunsch nach Durchsetzung des Gesetzes über jede Sympathie für Demonstranten. Die Straße rief: ›Es lebe die Armee !‹ aber weder die Armee noch die Polizei haben mit der Straße paktiert.« Vielleicht lag da die Zeitung Salut de Saint-Malo falsch, die von der Gefahr eines Bürgerkrieges geschrieben hatte. So spektakulär, donnernd und hasserfüllt sie auch waren, die antisemitischen Demonstrationen von , die die Institutionen nicht erschüttern konnten, brachten Frankreich nicht in Gefahr eines Bürgerkriegs.  In Bezug auf das Verhalten der Behörden in Nantes kommen Joly und Wilson zu entgegengesetzten Einschätzungen. Nach Joly hätte der Hauptkommissar von Nantes eingeräumt, »dass die patriotische Motivation und ›Toleranz‹ der Gemeinde die Dinge komplizierter machte und dass er nur über ›nicht sehr diszipliniertes, faules, apathisches‹ Personal verfügte«. (»Le commissaire central de Nantes reconnaît que la motivation patriotique et la ›tolerance‹ de la municipalité compliquent les choses, et avoue ne disposer que d’un personel ›peu discipliné, parresseux, apathique‹«. (Histoire politique, S. , FN ). Joly kann deshalb Wilson (The antisemitic riots, S. ) nicht folgen, wenn dieser schreibt, dass die Behörden »extremly alarmed« gewesen seien.  Birnbaum, der ein ganzes Kapitel seines Buches der Rolle der Polizei und der Gendarmerie widmet, stellt ihnen insgesamt ein, wenn auch mit Abstrichen, gutes Zeugnis aus. Sie hätten, fast ganz auf sich allein gestellt, die schwere Bürde zu tragen gehabt, die Rechte der jüdischen Bürger zu verteidigen (The Anti-Semitic Moment, Kap. : Good Superintendent Leproust: Peacekeeping and Prejudice among the Police, hier S. ).

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Nantes etwa veröffentlichte der Prokurator der Republik am . Januar  in den Zeitungen den Artikel  des Strafgesetzbuches, der als Strafe für Plünderungen, Zusammenrottungen und Zerstörung von Lebensmitteln und Besitz Zwangsarbeit vorsah. Dennoch und auch trotz eines Aufgebots von Gendarmen und eines Regiments Dragoner versammelte sich am Abend wieder eine große Menschenmenge und rief »Tod den Juden!« und »Nieder mit Zola!«117 Nicht sehr groß war die Bereitschaft der Justiz, antijüdische Übergriffe zu bestrafen. Sie beließ es in den meisten Fällen bei Ermahnungen oder lächerlich geringen Geldstrafen von einem bis fünf Francs. Die Bestrafung erfolgte wegen Störung der öffentlichen Ordnung.118 Birnbaum kommt zu einem gemischten Fazit der staatlichen Reaktionen: »Though they were not necessarily defenders of the Jews, the forces of law and order were able to withstand the onslaught, to overcome the nationalist and anti-Semitic wave, and to limit the damage.«119 Noch bevor die Regierung und die Verteidiger der Republik sich besonnen hatten, waren es die Anarchisten, die sich den nationalistischen und antisemitischen Tumultuanten in den Weg stellten. Auch die angegriffenen Juden verhielten sich ihrerseits keineswegs nur passiv oder defensiv, wie das Beispiel des Rabbiners Taubmann in Bar-le-Duc zeigt. Sie protestierten gegen das Absingen antijüdischer Lieder oder rissen antisemitische Plakate von den Wänden. An vielen Orten gab es Beschwerden jüdischer Geschäftsleute über den mangelnden Schutz seitens der Polizei, einige kündigten an, sich selbst zu verteidigen, andere heuerten Sicherheitskräfte zu ihrem Schutz an. Ladenbesitzer weigerten sich, ihre Läden vorsorglich zu schließen. Es kam auch zu Schlägereien zwischen Juden und Demonstranten bzw. Polizisten, die in Duelle oder Duellforderungen mündeten. Auch die jüdischen Zeitungen, wie die Archives Israélites oder L’ Universe Israélite nahmen in ihrer Kritik an den Vorfällen kein Blatt vor den Mund,120 die sie als bedrohlich wahrnahmen. Begünstigt wurde die breite Mobilisierung der Bevölkerung durch eine schwere ökonomische Krise im Winter /, da die Dreyfus-Affäre das Ansehen Frankreichs international zunehmend schädigte und zu einem deutlichen Rückgang der Handels- und Geschäftstätigkeit sowie in der Folge zu Arbeitslosigkeit geführt hatte. Es waren deshalb vor allem die Ladenbesitzer, die sich durch die antisemitische Agitation angesprochen fühlten und die schon seit langem eine Kampagne gegen jüdische Geschäfte und Handel lanciert hatten.121 Dieses ökonomische  Le Figaro, ... Auch in Rouen zog am ..  eine Menge von sechshundert Studenten vor die Häuser von Juden und verhöhnte sie trotz der Polizeipräsenz (Le Figaro, ..).  Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S. -.  Ebd., S. .  Ebd., S.  ff.  Zur Rolle des Protests der Ladenbesitzer gegen das Vordringen der Warenhäuser, der Grand magasins (révolution du bon marché), die in den Juden, denen die Kontrolle des Handels von der Straße bis zur Börse unterstellt wurde, Exponenten einer Verschwörung seitens des feindlichen Auslandes erblickten, im französischen Antisemitismus vgl. Philip G. Nord, Paris Shopkeepers and the Politics of Resentment, Princeton ; Teile davon

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Krisengefühl wurde durch die politische Desorientierung durch den innerfranzösischen Konflikt zwischen »Dreyfusards« und »Anti-Dreyfusards« verstärkt, worauf Teile der Bevölkerung mit einem nationalistischen und antisemitischen Schwenk reagierten, da man – wie ein antijüdisches Plakat verkündete (»La patrie en danger«) – das Vaterland in Gefahr sah, was die Unsicherheit in der Bevölkerung vergrößerte (manche glaubten an einen Krieg mit Deutschland). So spricht Stephen Wilson von einem »state of bewilderment« und von einem »high degree of popular disorientation«, in dem sich große Teile der französischen Bevölkerung befunden hätten, die seiner Meinung nach die Verbreitung von Gerüchten, Panik und irrationalem Verhalten begünstigt hätten.122 Die Ausschreitungen in Algerien Einen Sonderfall bildete Algerien, wo die Ausschreitungen weit schwerer ausfielen als im französischen Mutterland und wo es bereits im Jahr zuvor antijüdische Ausschreitungen in Oran und anderen Orten gegeben hatte, die aber weniger gewalttätig verlaufen waren, aber den Generalgouverneur Camobon seinen Posten gekostet hatten.123 Wie polarisiert die Lage dort bereits vor dem Brief Zolas war, zeigt ein Vorfall Ende Dezember , als es zu einem antisemitischen Krawall kam, der von dem führenden antisemitischen Agitator Max Régis (-) ausgelöst worden war, als er aufgrund von Pfiffen aus der Menge einen Juden tätlich angriff, woraufhin eine Schlägerei entstand und immer wieder die Rufe »Á bas les Juifs« ertönten.124 Die mit vierzigtausend Personen zahlenmäßig relativ große, erst seit dem Décret Crémieux von  gleichberechtigte jüdische Minderheit war wenig assimiliert, besaß aber großes Gewicht bei den Wahlen, bei denen sie en bloc liberal votierte, und im Kreditwesen des Landes. Man warf ihnen ihre dominierende Stellung in bestimmten Sektoren von Industrie und Handel in diesem französischen Departement vor. Sie partizipierten in den Augen ihrer Gegner somit am korrupten politischen System Algeriens. Die antisemitische Bewegung hatte in Algerien deshalb einen eher populären linken, anti-kapitalistischen Charakter und richtete sich auch gegen die Regierung in Paris. Dies sicherte ihr in Algerien, anders als im Mutterland, den Zugang zur politischen Macht. Weder von der arabischen Bevölkerung, die nicht das französische Staatsbürgerrecht besaß, noch von den französischen sind unter dem Titel »The Politics of Shopkeeper Protest« abdruckt in: Herbert A. Strauss (Hrsg.), Hostages of Modernization. Studies on Modern Antisemitism -/: Germany – Great Britain – France, Berlin, New York , S. -, hier besonders S.  ff.  Wilson, The Antisemitic Riots, S. ; manche der antisemitischen Demonstranten hätten gar nicht gewusst, warum sie eigentlich protestierten.  Vgl. dazu: Pierre Hebey, Alger . La grande vague antijuive, Paris ; Wilson, The Antisemitic Riots, S.  f.; zeitgenössisch vgl. AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

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Kolonisten oder den Immigranten vor allem aus Spanien und Italien wurde die Gleichstellung der Juden akzeptiert.125 In dem Leitartikel »Der Antisemitismus in Frankreich« gab die AZJ einen guten Überblick über den Charakter des französischen Antisemitismus, insbesondere dem in Algerien, wobei sie dort den Antisemitismus vor allem im radikalen sozialistischen und antikapitalistischen Lager verortete, während die Juden primär die liberalen Parteien wählten. Die Judenhetze eignete sich, so die AZJ, besonders gut zur Bekämpfung der politischen Gegner, wofür man auch die Unterstützung der »auf die Israeliten neidischen, noch nicht naturalisierten Berberbevölkerung« gewinnen konnte. Diesen radikalen linken Antisemitismus in Algier ließ der ehemalige Generalgouverneur Cambon, ebenfalls ein Radikaler und ein Antisemit, zu lange gewähren. Nach Einschätzung der AZJ war »diese Abart der antisemitischen Bewegung […] viel mehr zu Exzessen geneigt als die klerikale, denn an sie hatte sich eine Masse von Pöbel angeschlossen, dem gar nicht am Kampf gegen die Juden, nur an der Möglichkeit des Plünderns lag«.126 Der Protest organisierte sich in Algier in Form einer antijüdischen Liga, die zunächst marginal blieb und die mit juristischen und politischen Mitteln gegen das Décret Crémieux kämpfte. Die Dreyfus-Affäre und der Artikel Zolas boten dann den Anlass, unter Anstiftung von Max Régis, der an der Spitze der antijüdischen Liga von Algier stand, deren Zeitung L’Antijuif, schon im Vorfeld dazu aufgerufen hatte, mit Gewalt gegen die Juden Algiers vorzugehen. Mit der Parole: »Wer den Juden etwas wegnimmt, stiehlt nicht !« wurden diese zur Ausplünderung freigegeben.127 Nach Pierre Hebey folgten die Tumultuanten genau den Anordnungen, die die Zeitung L’Antijuif und Max Régis ihnen gegeben hatten.128

 Dass diese Beziehungen in Algerien seit langem angespannt waren und blieben, belegen Ausschreitungen gegen Juden vor der Dreyfus-Affäre und auch später noch in den er Jahren. Am . Oktober  berichtete die AZJ (Jg. , Heft , S. , Bericht aus Paris vom . Oktober) von Übergriffen »eingeborener Tirailleurs«, die einen Tag vor ihrem Abzug aus Constantine Juden misshandelt und ausplündert hätten. »Erst nachdem genügende polizeiliche und militärische Kräfte herbeigeholt worden waren, konnte dem verbrecherischen Unternehmen ein Ziel gesetzt werden«. Über dreißig Tirailleurs wurden ins Gefängnis gesteckt, wo sie »schwerer Strafe entgegensehen, da bei den Übergriffen dreizehn Juden verletzt worden« waren. Die AZJ merkte noch an, dass sich schon in früheren Jahren diese »eingeborenen Soldaten […] ähnlichen Unfugs schuldig gemacht« hätten.  AZJ, Jg. , Heft , .., S.  f. Zumindest für die Lage in Algerien muss man der AZJ Recht geben, dass nicht allein die mit dem Fall Dreyfus verknüpfte Agitation der Auslöser antijüdischer Gewalt war, da dort bereits im Mai  Exzesse in Oran begonnen hatten, die sich über die Provinz ausbreiteten.  Dominique Trimbur, Régis, Max [Maximilien-Régis Milano], in: Handbuch des Antisemitismus, Bd. : Personen, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -; Hebey, Alger , S. . Dies entspricht dem auch in anderen Ausschreitungen zu beobachtenden Bezug auf eine Autorität (den Zaren, den Kaiser, auf Bismarck usw.), die das eigene Vorgehen angeblich legitimiert habe (»un mot d’ordre circule, qui donne aux casseurs bonne conscience« (S. ).  Hebey, Alger, S. .

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Nachdem bereits am . Januar  Studenten unter den Rufen »Nieder mit den Juden !« und »Hoch lebe die Armee!« demonstriert hatten,129 aber von der Polizei zerstreut worden waren, wütete vom . bis . Januar  die Menge, darunter Frauen und Kinder, in Algier, wo ganze Straßenzüge mit jüdischen Geschäften geplündert und in Brand gesteckt wurden und die Jagd auf Juden eine Woche lang in vollem Gange war. In diesen Tagen sei die Menge Herr der Straße gewesen (»la populace est ma ıtresse absolue des rues de la ville«).130  Läden wurden unter den Augen einer, sofern sie sich nicht sogar beteiligte, passiven Bevölkerung verwüstet, wobei sich »allen Racen angehörige Leute« beteiligten.131 Le Figaro schrieb am . Januar , dass die Menge, die zwei Tage lang die jüdischen Lädern geplündert habe, zusammengesetzt gewesen sei aus »d’èléments divers, Français, Espagnols, Italiens, indigènes et juifs«.132 Der schwerste Zusammenstoß ereignete sich am Sonntag, dem . Januar , als eine Menge von sechstausend Personen an einer antisemitischen Versammlung teilnahm, auf der in zwei Resolutionen einmal die Verwaltung scharf gerügt wurde und man zum anderen die Gründung eines Bundes der Algerier beschloss, um die Juden von den nächsten Wahlen auszuschließen.133 Während die Versammlung abgehalten wurde, zogen dreihundert mit Stöcken bewaffnete Juden gegen dieses Treffen los, wurden aber von der Polizei abgedrängt. Zwei Kaffeehausgäste wurden aber von ihnen verletzt. Laut einem Bericht des Figaro hingegen gingen die bewaffneten Juden und die Antisemiten aufeinander los, wobei es zu Messerstechereien mit vielen Verletzten kam und ein Mann seinen Verletzungen erlag.134 Wie wir es von anderen Pogromen her kennen, wertete die Menge dieses Vorgehen der Juden als Provokation.135 In Reaktion darauf zogen nach dem Ende der Versammlung fünfhundert Antisemiten zum  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. .  Hebey, Alger , S.  f.; er überschreibt das entsprechende Buchkapitel mit »Janvier : Un peuple furieux«; Wilson, The Antisemitic Riots, S.  ff. Die Neue Freie Presse berichtete in jeder Ausgabe über die Unruhen in Algier: von Demonstrationen, Schlägereien der Demonstranten mit der Polizei, von der Zerstörung jüdischer Warenlager und Geschäfte sowie von Verletzten und sogar von Todesfällen (.., Abendblatt S. ; .., Abendblatt S. ; .., S. . (Excesse in Algier).  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. ; die AZJ schreibt von »arbeitsscheuen Personen aller Racen« (.., S. ).  Le Figaro hob dabei in dem Artikel »Nouveaux pillages« das Kindische der Aktionen hervor, was aber die tatsächliche Bedeutung der antisemitischen Bewegung nicht verschleiern dürfe. Ohne Zweifel, man verurteilte die Plünderungen energisch und man ermahnte zur Ruhe, aber es war eigentlich eine Anzahl von Personen mit ernsthaften wirtschaftlichen Interessen, die nichts taten, um die Tumultuanten an ihrem Vorgehen zu hindern (..).  Vgl. die fast gleichlautenden Berichte in: Neue Freie Presse .., S. ; Das Vaterland, .., S. ; AZJ, Jg. , Heft , .., S. .  Le Figaro, ...  »Cette résistance révolte leurs agresseurs qui considèrent come une inadmissible provocation« (Hebey (Alger, S. ). Die Zeitung Le Figaro (..) gibt in ihrem Bericht »Desordres a Alger« eine anschauliche Schilderung der Vorgänge dieses Tages in Algier.

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Gouverneurspalast, verbrannten zwei Kioske und plünderten zehn jüdische Läden, wobei zahlreiche Polizisten verletzt und misshandelt wurden. Die abgedrängte Menschenmenge zog weiter, plünderte jüdische Mehlgeschäfte und wurde von Zuaven (von den Franzosen für die Infanterie rekrutierte Angehörige eines Berberstammes) mit aufgepflanztem Bajonett zurückgedrängt, wobei es zu zahlreichen, teils schweren Verwundungen kam, teils durch Dolchstiche, teils durch Revolverschüsse. Die Menge zerstreute sich, um sich an den Quais erneut zu sammeln und die dortigen jüdischen Branntweingeschäfte anzuzünden, bevor sie dann in die Vorstadt St. Eugène weiterzog, wo sie einige Villen von Juden demolierte. Der Gendarmerie gelang es, die Menge von einem Rückmarsch in die Stadt abzuhalten. Bei den Unruhen wurde eine Person getötet, eine zweite starb an ihren Verletzungen. Beides löste große Aufregung in der Menge aus (»On nous assassine! Á mort le Juifs!«) und sie begann jüdische Läden zu plündern oder die Waren zu verbrennen, wobei Gendarmerie und Polizei zunächst nicht in der Lage waren, die Ruhe wiederherzustellen, zumal die Tumultuanten heftigen Widerstand leisteten. Es musste Militär eingreifen. Erst nachts um halb drei konnte die Ruhe wiederhergestellt werden. Die Polizei hatte zahlreiche Verhaftungen (ca. dreihundert) vorgenommen, und Truppen sperrten die Hauptstraßen der Stadt.136 Nachdem die Nacht ruhig verlaufen war, verbreitete sich am nächsten Morgen (..) die Nachricht, dass ein Spanier von einem Juden schwer verletzt worden sei,137 woraufhin sich erneut eine Menge zusammenrottete und einen jüdischen Laden plünderte. Daraufhin begab sich der Gouverneur unter Begleitung zweier Tamboure dorthin, um die Menge zu Ruhe und Ordnung aufzurufen, die jedoch seine Demission forderte. Mehrere Personen wurden verhaftet, und man bemühte sich, diese schnell abzuurteilen, und verhaftete Ausländer sofort auszuweisen.138 Die Ruhe war jedoch noch nicht dauerhaft wiederhergestellt, denn nach der Beerdigung eines der Getöteten, an der etwa zehntausend Personen teilnahmen und für dessen Familie man eine Sammlung veranstaltete, wurde »Nieder mit den Juden !« und »Rache! Tod den Juden !« gerufen und einige »des Weges kommende Juden wurden misshandelt«, von denen später einer verstarb. Ein anderer der Misshandelten schwebte in Lebensgefahr. Die Nacht vom . auf den . Januar blieb ruhig, doch begannen die Truppen bereits bei Sonnenaufgang bestimmte Orte zu besetzen und durch die  Über die Vorgänge am Sonntag, dem . Januar , berichtete die Zeitung La Depêche algérienne am . Juni  rückblickend: An diesem Sonntag sei die Geschäftsstraße rue Bab-Azoun Schauplatz einer methodischen Plünderung gewesen; Schaufensterscheiben wurden eingeschlagen, das Innere der Läden verstreut, zerstört, alles unter den Augen einer mehrere tausend Personen zählenden wohlmeinenden Menge, wobei sich Menschen aus allen gesellschaftlichen Klassen beteiligten, einschließlich Beamte. Die Truppen bewachten dort die Ausgänge der Durchgangsstraßen. Die Zuschauer zählten Tausende, die Tumultuanten wenig mehr als fünfzig (zit. nach Hebey, Alger, S. ).  Laut Le Figaro seien die Spanier sehr aufgebracht gewesen, da sie einen der ihren verloren hätten, was auf dessen Tod hindeutet (..).  Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. ; Abendblatt S. ; Das Vaterland, .., S. .

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Straßen zu patrouillieren. Der Bürgermeister ließ eine Proklamation anschlagen, dass man Truppen auf bieten werde, wenn sich die Unruhen wiederholen sollten. Es wurden auch Truppen von außerhalb in die Stadt verlegt. Die Juden hielten ihre Häuser und Läden geschlossen und wurden zudem von Wachen geschützt.139 Soldaten besetzten die Kasbah, das arabische Viertel, und eine Anzahl von arabischen Führungspersonen mit religiösem Einfluss wurden zum Gouverneur einbestellt, um die Ruhe in diesem Viertel zu sichern.140 Die Justiz reagierte in diesem Fall schnell. Bereits am . Januar verurteilte die Zweite Zivilkammer mehrere Teilnehmer an den Unruhen wegen Diebststahls und Plünderung zu drei bis sechs Monaten Haft, während die Dritte Kammer wegen derselben Delikte Strafen von zwei bis fünf Jahren verhängte, was aber der Gerichtshof korrigierte, um eine Gleichbehandlung sicherzustellen.141 Trotz dieser Maßnahmen wird noch über vereinzelte spätere Ausschreitungen berichtet. Am .. berichtete Le Figaro von einer »Manifestation antisémite« in Algier, wo es auf einem Markt zu einem Zwischenfall zwischen jüdischen Hausierern und Arabern kam, in den sich sofort Europäer mit »Nieder mit den Juden!«-Rufen einmischten, was aber durch eine in der Nähe befindliche Einheit von Gendarmen schnell unterbunden werden konnte. Es wurden mehrere Personen verhaftet. Für wie brisant selbst so ein kleiner Zwischenfall von den Behörden angesehen wurde, spricht die Tatsache, dass die militärische Führung sofort zusätzliche Soldaten aus Blidah anforderte.142 Die Bilanz: zwei Juden wurden getötet, ungefähr einhundert verletzt. Auch neun Aufrührer und  Polizisten wurden schwer verletzt, zwei Demonstranten starben. Insgesamt sollen sechshundert Personen, darunter überwiegend »Eingeborene«, verhaftet worden sein.143 Die Unruhen hinterließen ein Stadtviertel, das aussah wie nach einem Bürgerkrieg. Nach Meinung der AZJ ging der Schaden durch die Plünderungen in die Millionen und allein in Algier sei die Existenz von . jüdischen Familien ruiniert worden.144 Die Unruhen weiteten sich auch auf andere Orte des

   

L’agitation en Algérie (Le Figaro, ..). L’agitation en Algérie (Le Figaro, ..) Ebd. Ein Araber schoss auf einen Unteroffizier, ein Jude verletzte einen Spanier durch Steinwürfe und die Villa eines Juden brannte ab, wobei man Brandstiftung vermutete (Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. ; Abendblatt, S. ). Der Israelit, .., S. ; dort wird auch berichtet, dass ein jüdischer Ladenbesitzer vermisst werde und womöglich von Antisemiten ermordet worden sei.  Der Israelit, .., S. ; Hebey, Alger, S. , spricht auch von ungefähr hundert verletzten und zwei getöteten Juden.  AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Über die Zahl der Opfer gibt es unterschiedliche Angaben: Wilson spricht von nur sechs tätlich angegriffenen Juden, von denen einer gestorben sei, neun Tumultuanten und  Polizisten seien schwer verletzt, ein Demonstrant sei getötet worden (The antisemitic riots, S. ). Laut Le Figaro sah sich die Stadt Entschädigungsforderungen in Höhe von drei Millionen Francs gegenüber (L’agitation en Algérie, ..).

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Departements wie Mustapha, Boufarik und Blidah aus, ja griffen sogar auf Tunesien und Marokko über.145 Der Israelit berichtete am .. davon, dass achtzig Tumultuanten zu Gefängnisstrafen zwischen drei Monaten und einem Jahr verurteilt worden seien. Die Zeitung beklagte Mitte Februar, dass bisher nur die Araber hart bestraft worden seien, während die Franzosen mit geringen Strafen davonkämen. Auch seien bis dahin die Anstifter und Anführer der Unruhen in keinem Fall zur Verantwortung gezogen worden.146 Der Bericht der Zeitung hebt auch den großen Schaden hervor, der durch die Plünderungen für das Wirtschaftsleben der gesamten Stadt entstanden sei. Der Handel sei vollständig gelähmt, der Großhandel löse seine Verbindungen nach Algier und die wohlhabenden Juden träfen Vorkehrungen, die Stadt rasch zu verlassen. Dies liege auch daran, dass die Regierung den antisemitischen Zeitungen und Rednern ihre Agitation weiterhin gestatte, die sich nicht mehr mit dem Widerruf des Emanzipationsgesetzes von  begnügten, sondern sogar die Ausweisung der Juden und die Einziehung ihres Vermögens verlangten. Sollte die Regierung nicht darauf eingehen, so drohte man mit einer Bartholomäusnacht für die Juden in Algier.147 Nach den Unruhen in Algier kam es in der Stadt dank der Maßregeln des Generalgouverneurs Lépine in den nächsten zwei Monaten nicht zu weiterer Gewalt, auch wenn die Feindseligkeit der Kolonistenbevölkerung gegenüber den Juden spürbar blieb, Zeitschriften der antisemitischen Winkelpresse wie l’Antijuif, la Lutte und le Telegramme und Broschüren (wie A bas les Juifs! oder Les atrocités des Juifs!) weiter hetzten und mitleidheischende Artikel über die Bestrafung angeblich Unschuldiger veröffentlichten, und Max Régis, dem seine Verurteilung zu vier Monaten Gefängnis wegen Beteiligung an einem Aufruhr offenbar nicht schadete, Hetzreden vor mehreren tausend Zuhörern hielt.148 Am . März  kam es zu  Hebey, Alger, S. . Zu den judenfeindlichen Ausschreitungen in Marokko, hier vor allem den Plünderungen des Judenviertels in der Stadt Tazza durch in die Stadt eingedrungene Ghiatti-Mauren, bei denen mehrere Juden getötet und Jüdinnen in die Harems verschleppt worden sein sollen, vgl. AZJ, Jg. , Heft , .., S. . In Blidah attackierten Antisemiten ein jüdisches Geschäft und versuchten es zu plündern, wobei der Inhaber einen Araber mit einem Revolverschuss verletzte. Das Militär griff ein und stellte die Ruhe wieder her (Neue Freie Presse. Morgenblatt, .., S. ). Auch an anderen Orten in Algerien kam es zu Demonstrationen, so in Boufarik und Mostaganem jeweils am .. (Le Figaro, ..).  Der Israelit, .., S. .  Als am . Februar Zolas Verurteilung bekannt wurde, versammelten sich wiederum die Antisemiten, doch war das Militär dieses Mal gut vorbereitet und konnte schlimmere Exzesse verhindern (AZJ, Heft , .., S. ).  Ein Bericht aus Algier vom . März  in: AZJ, Jg. , Heft , .., S. ; Régis und der Herausgeber des Antijuif, Philippi, wurden zu zwei Montane Haft und . Francs Strafe wegen Beleidigung des Staatsanwaltsubstituten verurteilt. Der Führer der Antisemiten in der Stadt Constantine wurde wegen der Veröffentlichung von Schmähartikeln gegen die Richter in Oran vom Ehrengericht für drei Monate vom Amt suspendiert (Bloch’s Österreichische Wochenschrift, .., S. ).

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feindseligen Kundgebungen gegen den Gouverneur und zu Protesten vor dem Stadtgefängnis, in das Régis nach seiner Verhaftung gebracht worden war. Das Militär ging mit dem Bajonett gegen die Menge vor. Dies führte zu einem erneuten antijüdischen Tumult, bei dem die Häuser von Juden sowie der Palast des Gouverneurs mit Steinen beworfen wurden. Das Militär verletzte zwanzig Personen, über hundert wurden verhaftet.149 Im Unterschied zum Mutterland handelte es sich also nicht um »loyale Pogrome«, sondern neben den Juden wurden auch die Vertreter der französischen Staatsmacht zum Ziel kollektiver Gewalt. Wohlhabende jüdische Familien »verlassen in Menge Algier – zum großen Schaden des hiesigen Handels und Handwerks«.150 Hebey zitiert ein alarmistisches Telegramm, das der Gouverneur Lépine nach Paris sandte und das sehr gut das Maß der Unordnung belegt. Darin beklagt er, dass die Leidenschaft so gewalttätig sei, dass trotz der großen Verluste, die Algier durch die Unruhen erlitten habe, die Mehrheit der Bevölkerung nur bedauere, dass die Juden und die Repräsentanten der Autorität nicht mehr gelitten hätten.151 Dem Gouverneur selbst wurde von der Revue algérienne im Januar  vorgeworfen, dass er wie seine Vorgänger nur das Ziel habe, die Algerier zu unterdrücken, und dass er der »gouverneur des Juifs« sei.152 Der Herausgeber des Blattes beschrieb Algier am . Januar , am Tag nach den Unruhen, als eine von Feinden besetzte Stadt nach ihrer Einnahme, in der Gruppen von Reitern und Polizisten patrouillierten und die Zuaven (chasseurs d’Afrique) kampierten.153 Das besondere Ausmaß der Übergriffe ist einerseits durch die Haltung der lokalen Behörden zu erklären, die die Bevölkerung ermutigten bzw. darauf, wie das Militär die Menge weitgehend gewähren ließ,154 andererseits aus der oben bereits geschilderten besonderen politischen Situation in Algerien, wo die antisemitische Bewegung, anders als in Frankreich selbst, in den größeren algerischen Städten auch politisch bei Wahlen erfolgreich war. Mit der jüdischen Minderheit griff die oppositionelle antisemitische Bewegung, unterstützt durch ökonomische Konkurrenten der Juden (»colonial capitalists«) sowie die Berberbevölkerung, zugleich das von der Regierung in Paris gestützte, als korrupt angesehene politische Establishment

    

AZJ, Jg. , Heft , .., S. .

Ebd. Hebey, Alger, S. . La Revue algérienne, XXXV, er semestre , S. , zit. nach Hebey, Alger, S. . »Alger offre depuis quelques jours l’effrayant spectacle d’une ville occupeé par l’ennemi après une prise d’attaut« (zit. nach Hebey, Alger, S. ).  Siehe ebd., S. ; die Zeitungsberichte und eine hohe Zahl von verletzten Tumultuanten wie Sicherheitskräften sowie eine hohe Zahl von Verhaftungen vermitteln allerdings ein anderes Bild. Ein Bericht im Israelit (.., S. ) spricht von einer Beteiligung von Beamten und Unterbeamten an den Ausschreitungen sowie von Angestellten der Agentur der Compagnie Transatlantique à Alger, obwohl die Direktoren und Aktionäre der Compagnie Juden waren.

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Algeriens an.155 Anders als in Frankreich nahm der Antisemitismus in Algerien eine dauerhaftere politische Form an. In den Wahlen von  wurden vier (von insgesamt sechs) antijüdische Kandidaten, darunter Édouard Drumont, als Abgeordnete für Algerien gewählt, und Régis wurde trotz seiner Verurteilung wegen Anstiftung zur Gewalt im November  an die Spitze der Stadtverwaltung von Algier gewählt, was er für illegale Maßnahmen gegen Juden nutzte, wie die Entlassung von Beamten und den Boykott jüdischer Geschäfte. Diese Entscheidungen wurden von der Regierung in Paris nicht anerkannt, und weitere öffentliche Unruhen führten bereits Mitte Dezember zu seiner Suspendierung.156 Die Stimmung blieb in Algier sehr angepannt, so dass das dortige jüdische Konsistorium die Juden ermahnte, von der Purimfeier abzusehen, um die andersgläubige Bevölkerung nicht zu reizen. Der französische Antisemitismus nach dem Ende der Unruhen Die Dreyfus-Affäre und die antisemitischen Ausschreitungen im Januar  gaben der antisemitischen Bewegung in Frankreich nur kurzfristig Auftrieb, und die AZJ beklagte, dass »die Freunde der Juden und ihre berufenen Vertheidiger […] scheu und stumm gegenüber dieser Volkswuth« seien. »Sie sind entweder furchtsam oder ohnmächtig«.157 Im März des Jahres  schrieb die AZJ, dass in Frankreich der »Radauantisemitismus rapide Fortschritte« mache. Das »klerikale Syndikat ist jetzt vor den Wahlen in voller Arbeit, und eines seiner Hauptblätter, ›Croix‹, empfiehlt, […], man solle als Plattform für die nächsten Wahlen die Ausschließung der Juden aus dem aktiven und passiven Wahlrecht und aus allen öffentlichen Ämtern im Heer und in der bürgerlichen Verwaltung aufstellen«.158 Bei den Parlamentswahlen im Mai  machten Wahlplakate Stimmung mit Anschuldigungen gegen die »kosmopolitische Judenheit«, und Zeitungen schrieben davon, dass Juden und Protestanten, manchmal wurden auch die Sozialisten oder Revolutionäre einbezogen, eine Kampagne gegen Frankreich führten. Zudem spielte der Antisemitismus in den Wochen des Wahlkampfes bei Demonstrationen in Paris eine wichtige Rolle,159 dennoch gelang es nur  Abgeordneten, die Antisemitismus zu 

   

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Die AZJ sah den tieferen Grund der ganzen Bewegung darin, dass die Landbevölkerung und in Folge auch die städtischen Gewerbetreibenden durch wiederholte Missernten in große Not geraten seien und man dafür einen Sündenbock suchte. Durch die DreyfusAffäre boten sich für die Agitatoren die Juden als Sündenböcke an (AZJ, Jg. , Heft , .., S. ). Die AZJ druckte einen bereits in einer anderen Zeitung publizierten Artikel von Martin Philippson ab, der die Ursachen für den Antisemitismus ebenfalls auf die schlechte wirtschaftliche Lage und den Neid auf die etwas besser gestellten Juden zurückführte, die unter Führung »halbsozialistischer Radikaler« zu den Unruhen geführt haben (Jg. , Heft , ..). Trimbur, Régis, Max, S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . AZJ, Jg. , Heft , .., S. . Kursiver Text im Original gesperrt gedruckt. Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  f. Wie vergiftet die Atmosphäre in Paris war, zeigt die Initiative der Anwohner zur Umbenennung ihrer Straße, der »rue des Juifs«. Tat-

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Wahlkampfzwecken verwendet hatten, Mandate zu gewinnen.160 Stephen Wilson konstatiert sogar bereits für den Februar  einen Stimmungswandel, da man die Schuld an der ökonomischen Krise, die man zuvor den Juden angelastet hatte, nunmehr bei den Antisemiten sah, da die Unruhen ihrerseits der Wirtschaft schadeten und man zu Ruhe und geordneten Verhältnissen zurückkehren wollte. Die Schädigung der jüdischen Geschäftstätigkeit beeinträchtigte letztlich die Wirtschaft als Ganze.161 Nach Joly, für den die Ausschreitungen im Januar und Februar  den Höhepunkt des Antisemitismus in Frankreich markierten, habe diese »Ideologie« in dieser Phase zweifellos ein, wenn auch begrenztes, Publikum gefunden, zahlreiche Debatten ausgelöst und schien sehr nahe daran zu sein, einen Platz im politischen Leben Frankreichs einzunehmen. Dieser »Erfolg« des Antisemitismus hatte seiner Meinung nach allerdings nur einen ephemeren und punktuellen Charakter und verdankte sich allein den Anti-Dreyfusard-Protesten. Er verlor an Bedeutung, als die Anti-Dreyfusards eine andere Richtung einschlugen, denn als die Anti-Dreyfusards im Winter / sich dank der Ligue des patriotes und der Ligue de la patrie française endgültig von der antisemitischen Vormundschaft befreiten, verlor die antisemitische Bewegung seit Jahresbeginn an Dynamik und fand sich im Schlepptau von gemäßigten Anti-Dreyfusards wieder.162 Über den organisierten Antisemitismus spricht Joly für die Jahre - unter der Überschrift »Décadence et divisions«.163 Pierre Birnbaum betont zusammenfassend einerseits, dass die Gewalt bei den Auseinandersetzungen zwischen den nationalistischen und antisemitischen Tumultuanten und den Gegendemontranten auf Seiten Dreyfus’ begrenzt gelieben sei, so dass er das von vielen beschworene Schisma in der französischen Gesellschaft für überschätzt hält. »In the end the war between the two Frances had no reality.« Andererseits spricht er aber davon, dass die Dreyfus-Affäre die Jagdsaison auf Juden eröffnet und dass an dieser Jagd eine große Zahl an Menschen aus allen Gesellschaftsschichten teilgenommen habe: Universitätsstudenten, Schüler, Handwerker und Arbeiter, Ladenbesitzer und Angestellte, Rechtsanwälte und Ärzte, die Reichen und die Arbeitslosen und sogar einige Staatsdiener.164 Diese hohe Zahl

  

 

sächlich hatten diese Forderungen Erfolg, und die Straße wurde  in »rue Ferdinand Duval« (Präfekt des Departments Seine -) umbenannt (ebd., S.  f.; vgl. auch franz. Ausgabe von Wikipedia). Englund, An Affair, S. . Wilson, The Antisemitic Riots, S. . Joly, Nationalistes, S. . »Quand dans l’hiver -, l’antidreysfusisme achève de s’affranchier de la tutelle antisémite grâce à la Ligue des patriotes et à la Ligue de la partie française, l’effondrement est instanté. […] A partir du printemps , l’antisémitisme va d’échec en revers. S’il est relativement épargné par la répression de l’été, puisque l’equipe de la Libre Parole échappe totalement aux poursuites (preuve de sa passivité constante), le mouvement antisémite a perdu depuis le début de l’année son dynamisme et se retrouve systématiquement à la remorque des antidreyfusards modérés«. Ebd. Birnbaum, The Anti-Semitic Moment, S.  f.

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an Beteiligten war ohne Beispiel und weist auf eine neue Form der politischen Massenmobilisierung hin. Auch hier betont Birnbaum aber, dass der Ruf »Tod den Juden !« trotz aufgebrachter Menschenmengen, außer Kontrolle geratener Demonstrationen, aufgewühlter Bevölkerung und vielen Verletzten nicht zu Todesopfern geführt habe (wenn man von Algier absieht). Dies sieht er auch als ein Verdienst der Ordnungskräfte an, die sich der Gewalt entgegengestellt hätten. In seiner Sicht waren die Juden die »Sündenböcke«, auf die der Angriff der reaktionären nationalistischen und klerikalen, aber auch einens Teils der republikanischen sozialistschen Kräfte Frankreichs umgelenkt wurde, deren eigentliches Ziel die universalistische, säkulare Republik war.165 Nach Auffassung von Vincent Duclert, der eine umfangreiche Biographie über Alfred Dreyfus publiziert hat, brach mit dem Brief Zolas und den damit ausgelösten Folgen in Frankreich »eine allgemeine Krise aus, die erst  endete«.166 Man kann sie als eine kathartische Krise ansehen, da sich in diesem Konflikt mit den monarchistisch-klerikalen, nationalistischen und antisemitischen Kräften des Landes die demokratische Gesellschaft und der republikanische Staat herausbildeten, »die die Gleichheit in den Brennpunkt der Republik rückten«.167

 Ebd., S. .  Duclert, Dreyfus-Affäre, S. .  Ebd.

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. Die antijüdischen Bauernunruhen in Galizien im Jahre  Von einem ganz anderen Typ als die wesentlich städtischen und hochpolitisierten Unruhen in Frankreich waren die Bauernunruhen im österreichischen Kronland Galizien ab Ostern . Diese Region ist in den letzten Jahren in den Fokus der Forschung gerückt, und es sind Arbeiten zu den konfliktreichen Beziehungen zwischen Polen, Ukrainern (Ruthenen) und Juden erschienen. Früh schon hat sich Frank Golczewski in seinem Buch »Polnisch-jüdische Beziehungen -« unter anderem mit diesen westgalizischen Bauernunruhen befasst.1 Diese können inzwischen durch die Dissertation von Tim Buchen und die Arbeiten von Keely Stauter-Halsted, Daniel Unowsky, Kai Struve u. a. als gut erforscht gelten.2 Strukturelle Ursachen und situative Eskalationsbedingungen Wie in den anderen Fällen antijüdischer Gewaltwellen muss man auch hier zwischen langfristigen Ursachen und jeweils aktuellen Anlässen und Eskalationsbedingungen (triggers) unterscheiden. Durch die traditionelle Position der Juden als »middleman minority«, die als Pächter der Dorfschänken, Steuereintreiber der Grundherren und als Händler zwischen den Handelsparteien vermittelten und in diesen Erwerbszweigen   der dort Tätigen stellten, waren die Beziehungen zwischen ihnen und den polnischen Bauern in Galizien ökonomisch-sachlich motiviert. Juden, die mit knapp   in Westgalizien (  in Ostgalizien) einen recht hohen Bevölkerungsanteil ausmachten, wobei ihr Anteil in den Städten noch höher lag, gehörten in den kleinen Städtchen fast alle Wirtshäuser, Restaurants, Handwerkerläden und Geschäfte, und an Markttagen vermittelten sie zwischen den Bauern und der weiteren Umgebung.3 Diese intermediäre Position barg für  Frank Golczewski. Polnisch-jüdische Beziehungen -. Eine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa, Wiesbaden ; dort: Die westgalizischen Bauernunruhen , S. -; ders., Rural Antisemitism in Galicia before World War I, in: Chimen Abramsky (Hrsg.), The Jews in Poland, Oxford , S. -.  Buchen, Antisemitismus in Galizien; ders., Die galizischen Bauernunruhen, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Wolfgang Benz, Bd. , Berlin , S. -; Daniel Unowsky, Peasant Political Mobilization and the  anti-Jewish Riots in Western Galicia, in: European History Quarterly /, , S. -; ders., Local Violence, Regional Politics, and State Crisis: The  Anti-Jewish Riots in Habsburg Galicia, in: Nemes/Unowsky, Sites of European Antisemitism, S. -; ders., The Plunder. The  Anti-Jewish Riots in Habsburg Galicia, Stanford, Cal., ; Stauter-Halsted, Jews as Middleman Minorities in Rural Poland; Kerstin S. Jobst, Die antisemitischen Bauernunruhen im westlichen Galizien . Stojałowski und die polnischen Sozialdemokraten, in: Robert Maier (Hrg.), Zwischen Abgrenzung und Assimilation. Deutsche, Polen und Juden. Schauplätze ihres Zusammenlebens von der Zeit der Aufklärung bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, Hannover , S. -.  Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. ; in den Orten, die  zu Zentren antijüdischer Gewalt wurden, lag der Anteil der jüdischen Bevölkerung zwischen  und  ,

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die Juden das typische Risiko, als Ersatzziel für den zumeist unerreichbaren Grundherrn und als Sündenböcke in wirtschatlichen Krisenzeiten herhalten zu müssen. Dieser »einseitige polnisch-jüdische Kontakt förderte zum einen eine negative Stereotypisierung des Juden beim Bauern«, andererseits entwickelte sich durchaus ein gewisses Vertrauensverhältnis.4 D. h., die Andersartigkeit von Religion, Sprache, sozialem und ökonomischem Status wirkte trennend, musste aber nicht notwendig zu gewaltsamen Konflikten führen. Ab Mitte des . Jahrhunderts erlebte Galizien große ökonomische und soziale Umwälzungen. Die Bauernemanzipation von  sowie die Aufhebung der rechtlichen Beschränkungen für Juden (z. B. was Landkauf und Berufswahl betraf ) veränderten die sozioökonomische Lage in Ostmitteleuropa in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts grundlegend und setzten die Beziehungen zwischen den galizischen Juden und den polnischen Bauern unter Druck: »Peasant emancipation set off an intense battle for land in the overcrowded Galician countryside, a battle that reached its zenith after the late s abolition of the final restrictions on Jewish rights to purchase property. The absence of industry as an outlet for the overcrowded rural population left peasants and Jews alike with few options«.5 Die Folge war eine wachsende Verarmung der jüdischen Bevölkerung, deren Armut (Luftmenschentum) geradezu sprichwörtlich wurde. Viele wählten deshalb als Ausweg die Emigration. Auch die polnische Landbevölkerung in Galizien verarmte, viele Bauern besaßen nur sehr kleine Höfe oder mussten sich als landlose Tagelöhner oder Hausangestellte verdingen.6 Die generelle ökonomische Misere Galiziens verschärfte sich durch die europäischen Agrarkrisen seit den er Jahren, die sich in den er Jahren durch Missernten weiter verschärften und viele Bauern in den Bankrott trieben, so dass sie in großer Zahl in die USA und nach Westeuropa

konnte aber auch bis zu   betragen – wie in Frysztak. Nach einem Habsburger Zensus waren um  in Galizien .. Personen römisch-katholisch, .. griechischkatholisch und . jüdisch, vgl. Unowsky, Local Violence, S. ; Claudia Kraft nennt für das Jahr  ,  für ganz Galizien, wobei sie sich auf eine Angabe der in Lemberg herausgegebenen Statistischen Nachrichten (Wiadomości Statystyczne) stützt (Die jüdische Frage im Spiegel der Presseorgane und Parteiprogramme der galizischen Bauernbewegung im letzten Viertel des . Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Osteuropaforschung , , S. -, hier S. ).  Frank Golczewski nennt die gegen die Juden gerichteten Aktionen und Gedankengänge »oft sozialrevolutionär«, die sich allerdings gegen das falsche Objekt richteten, da die Grundherren und nicht die jüdischen Verwalter die Bauern ausbeuteten (Polnisch-jüdische Beziehungen, S. ).  Stauter-Halstead, Jews as Middleman Minorities, S. .  Golczewski betont im Rückgriff auf eine zeitgenössische Darstellung des Industriellen Stanislaw Szczepanowkski, dass es zwar einen offensichtlichen Unterschied in den ökonomischen Aktivitäten der Juden und Christen gab, aber kein sichtbares Übergewicht des sog. jüdischen Reichtums. Beide Gruppen »lived on the brink of economic disaster« (Rural Antisemitism, S. ).

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auswanderten, was jedoch die Verhältnisse nicht durchgreifend änderte.7 Dass häufig Juden die bankrotten Höfe der Bauern, aber auch von Adligen aufkauften, verschärfte die sozialen Spannungen.8 Trotz der Massenauswanderung wuchs die Landbevölkerung zwischen  und  dramatisch von , auf  Millionen, womit Juden und Christen zunehmend im Handel, im Bankwesen, im Handwerk und anderen nicht-landwirtschaftlichen Nischen miteinander konkurrierten.9 D. h., die christlich-jüdische Komplementarität in den Wirtschaftsbeziehungen veränderte sich nun in Richtung zunehmender Konkurrenz. Stauter-Halstead betont aber, dass ein Teil der Juden andererseits – im Unterschied zu den Angehörigen der polnischen Unterschicht – im letzten Drittel des . Jahrhunderts durchaus auch ökonomisch erfolgreich war. So verfügten Juden in Westgalizien über   (nach Unowsky sogar  ) des Landbesitzes, hatten zudem Land gepachtet oder arbeiteten als Verwalter auf den Gütern. Sie wurden zudem zunehmend auch in öffentliche Ämter, etwa als Bürgermeister, gewählt. Deshalb ist es möglich, dass galizische Christen Juden als ökonomisch durchaus erfolgreiche Gruppe wahrgenommen haben. »From the s on, then, a combination of land hunger, redoubled efforts to enter trade and handicraft professions, and a general competition for scarce rural resources increased the mutual resentments between the two groups«.10 Die Wahrnehmung der Juden als Fremde und »Outsiders« mag auch durch die beginnende Ethnisierung beider Seiten als nationale Polen und als Zionisten verstärkt worden sein, doch fehlten in den er-Unruhen polnisch-nationale Töne fast völlig.11 Die antisemitische Wahlagitation der galizischen Bauernbewegung Zu diesen strukturellen Spannungen mussten jedoch weitere eskalierende Bedingungen kommen, um den Ausbruch der Gewalt im Sommer  zu erklären, denn soziale und ökonomischen Spannungen und Krisen waren in diesem Gebiet nichts Neues, doch war es nie zuvor zu einer solchen Welle antijüdischer Gewalt gekommen,12 auch wenn es Übergriffe gegen die Marktstände und Schänken von Juden gegeben hatte. Auslösender Faktor der Unruhen war die antisemitische Wahlagitation der galizischen Bauernbewegung anlässlich der Wahlen zum Reichsrat , bei der durch die Wahlrechtsreform und die Einführung einer  Kraft, Die jüdische Frage, S. . Vgl. zum Wandel der Gesellschaftsstruktur Józef Buszko, Zum Wandel der Gesellschaftsstruktur in Galizien und in der Bukowina, Wien , S.  ff.  Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. .  Stauter-Halstead, Jews as Middleman Minorities, S. .  Ebd., S. .  Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. , der vom Klassencharakter der galizischen Bauernbewegung spricht, die sich auch gegen den polnischen Konservatismus gerichtet habe.  Unowsky weist daraufhin, dass die Juden in Ostgalizien einen höheren Bevölkerungsanteil stellten und ihr ökonomischer Einfluss noch größer war, ohne dass es dort zu einer größeren Zahl von Ausschreitungen kam (Peasant Political Mobilization, S. ).

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Fünften Kurie nun erstmals alle männlichen Staatsbürger über  Jahre mit wenigen Ausnahmen wahlberechtigt waren.13 In Galizien führte diese Ausweitung des Wahlrechts zu einer heftigen Konkurrenz um die Stimmen der ländlichen Wähler, insbesondere zwischen den konkurrierenden Bauernparteien.14 Nach Claudia Kraft hatte das liberale politische System in Galizien (die Galizier wählten seit  einen eigenen Landtag und nahmen ab  auch an den Reichsratswahlen teil), ein vitaleres politisches Leben ermöglicht, das die Entwicklung der Bauernbewegung (ruch ludowy) begünstigt habe, durch die die Bauern überhaupt erst politisiert wurden.15 Mit dem Ende der Honoratiorenpolitik in den frühen er Jahren kam es auch in Galizien zu einer »Dynamisierung der politischen Landschaft«, d. h., Galizien folgte dem europaweiten Trend zur politischen Massenmoblisierung. Unowsky hält es deshalb zu Recht für verfehlt, die Unruhen als obskure Gewaltausbrüche in einem rückständigen Teil Euopas anzusehen.16 Mit dieser Dynamisierung verschärfte sich das Abgrenzungsbedürfnis der Bauernparteien gegeneinander, die ideologisch eng beieinander lagen und deshalb den je eigenen Standpunkt scharf abgrenzen mussten. Dies hatte nach Tim Buchen eine Veränderung der Qualität und Quantität antisemitischer Agitation zur Folge.17 Unowsky sieht allerdings noch ein weiteres dynamisierendes Element, und zwar die neue und heftige antijüdische Hasspropaganda in einigen Kreisen der Katholischen Kirche.18 Die als galizische Bauernbewegung bezeichnete populistische politische Richtung bestand aus mehreren Strömungen: einer sozialistisch beeinflussten populistischdemokratischen und einer katholisch-sozialen oder christlich-sozialen Strömung.19 Aus diesen Strömungen heraus gründeten sich im Vorfeld der Landtagswahlen von  zwei Bauernparteien, zu der  noch die Partei des volkstümlichen und seit Jahrzehnten politisch aktiven Geistlichen Stanisław Stojałowski (-), dem  Zum politischen Hintergrund dieser Ausweitung des Kreises der Wahlberechtigten und zur politischen Situation in Galizien siehe ebd., S.  f.  Vgl. dazu Kai Struve, Gentry, Jews, and Peasants: Jews as Others in the Formation of the Modern Polish Nation in Rural Galicia, in: Nancy M. Wingfield (Hrsg.), Creating the Other: Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg Central Europe, Oxford , S. ; ders. auch generell: Bauern und Nation in Galizien: über Zugehörigkeit und soziale Emanzipation im . Jahrhundert, Göttingen ; Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. ; zu den Wahlkämpfern  und  auch Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. -.  Kraft, Die jüdische Frage, S.  f. Sie weist zudem darauf hin, dass in der Bezeichnung »ruch ludowy« der Aspekt des »Volkstümlichen« und »Populistischen« mitschwinge, der in der deutschen Übersetzung als »Bauernbewegung« verloren gehe. (S. ).  Unowsky, Local Violence, S. .  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  ff.  Unowsky, The Plunder, S. . Unowsky weist auch auf den transnationalen Einfluss des katholischen Antisemitismus seitens des Vatikans und christlich-sozialer Parteien auf die öffentliche Meinung in Galizien hin (Local Violence, S. ).  Zu diesen politischen Strömungen und ihrer Haltung zur »Judenfrage« ausführlich Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. -.

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»Beschützer des Volkes« und »Demagogen in der Soutane«,20 die Christliche Volkspartei (Stronnictwo Chrześcijańsko Ludowe) hinzukam. Stojałowski hatte während seines Besuchs des Priesterseminars auf jesuitischen Volksmissionen in Westgalizien die Armut, den Landmangel und die Perspektivlosigkeit der Landbevölkerung kennengelernt.21 Er war dann bei Auslandsaufenthalten mit der christlichen Soziallehre in Berührung gekommen, wie sie vor allem die Christlichsoziale Partei Karl Luegers in Wien vertrat, wobei dort der Antisemitismus integraler Bestandteil dieser Lehre war. Nach Golczewski gewann er durch seine sozialrevolutionäre, gegen die politischen wie kirchlichen Obrigkeiten gerichtete Agitation, die sich bäuerlicher, klerikaler, nationalistischer und sozialistischer Parolen bediente, viele Anhänger.22 Nach Unowsky waren die politischen Aktivitäten Stojałowskis explizit oder indirekt gegen die konservativen Eliten und den Feind auf dem Lande, die Juden, gerichtet. Das brachte ihn zu einer Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten, die ihrerseits hofften, von der Popularität Stojałowskis zu profitieren. Tatsächlich gewann dessen Partei  sechs Reichsratsmandate. Doch war diese Allianz nur kurzlebig, da der exkommunizierte Stojałowski sich mit der Kirche und den Konservativen  aussöhnte und nun gegen die »gottlosen, verjudeten Sozialdemokraten« hetzte. Dies trug sicher zu der bei vielen Menschen in Galizien anzutreffenden Auffassung bei, die Unruhen seien von den Sozialisten angezettelt worden.23 Neben der Partei Stojałowskis spielte der  ebenfalls von ihm mitbegründete, eher wohlhabendere Bauern vertretende Verband der Bauernpartei (Związek Stronnictwa Chłopskiego) der Brüder Jan und Stanisław Potoczek mit ihrer  gegründeten Zeitung Zwiazek Chłopski (Bauernbund) eine wichtige Rolle in der antisemitischen Agitation vor den Unruhen von .24 Hatten sich die beiden teils konkurrierenden, teils kooperierenden Bauernparteien schon  bei den Reichsratswahlen in ihren Kampagnen des Antisemitismus bedient und in ihren Parteiprogrammen die Verdrängung der Juden aus ihrer dominanten Position im Zwischenhandel sowie

 Vgl. zu diesen Beinamen: ebd., S. .  Ebd.  Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S.  f., Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  f.; Kraft betont das spezifische »volkstümliche Nationalgefühl« der galizischen Bauern und deren Misstrauen gegen den polnischen Adel und einen polnischen Staat. Ihr Nationalgefühl basierte vor allem auf dem polnischen Katholizismus und der Ablehnung alles dessen, was diesem fremd gegenüberstand (Die jüdische Frage, S. ).  Unowsky, Peasant Political Mobilization, S.  f., Auch Golczewski hebt die zeitweilige große Nähe zwischen Stojałowski und den Sozialdemokraten hervor. Er sieht im späteren Konflikt, in dem die gegenseitige Anschuldigung, von den Juden gekauft zu sein, als Waffe benutzt wurde, eher einen Kampf um politische Macht als ideologische Differenzen (Rural anti-Semitism, S. ).  Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. -; Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. .  kam es bereits zum Bruch mit Stojałowski, da die Brüder Potoczek dessen gegen den katholischen Klerus gerichteten Kurs nicht mittrugen (Kraft, Die jüdische Frage, S. ).

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im Schank- und Kreditwesen gefordert,25 aber auch die alte Ritualmordlegende reaktiviert, so setzten sie diese Politik bei der Nachwahl für ein Reichsratsmandat im Frühjahr  fort, wobei sie den Antisemitismus auch zur Diskreditierung der jeweils anderen Partei zu nutzen suchten.26 Golczewski hebt diesen instrumentellen Zug des Antisemitismus unter Politikern hervor, die von ihren Thesen selbst keineswegs völlig überzeugt sein mussten.27 Die dritte,  gegründete Bauernpartei, die Volkspartei (Stronictwo Ludowe/SL) mit der Zeitung Przegląd Społeczeny (Gesellschaftliche Rundschau), war säkular und eher liberal orientiert. Auch sie trat für Reformen auf dem Lande ein, wie die Gründung von Selbsthilfeorganisationen der Bauern, eigene Kreditgenossenschaften und Lesegesellschaften, doch richtete sie sich weniger gegen die Juden, was ihrem Spitzenkandidaten, dem Lemberger Journalisten Jan Stapiński, den Vorwurf Stojałowskis einbrachte, der »Kandidat der Juden« zu sein.28 Doch war die Partei keineswegs frei von Antisemitismus, wie manche behauptet haben, sie vertrat ihn nur weniger schrill als die beiden anderen Bauernparteien.29 Im Frühjahr  wurde die nötig gewordene Nachwahl von zwei Abgeordneten zum Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen zwischen den drei konkurrierenden Bauernparteien. Die antijüdische Agitation der Zeitungen von Stołakowski, Wieniec und Pszczółka, sowie die Zeitung Związek Chłopski, das Organ des Verbandes der Bauernpartei, leisteten die ideologische Vorarbeit für die Unruhen, indem sie gegen die jüdischen Wirtshäuser hetzten und antisemitische Pamphlete verbreiteten, bevor sie dann im Juni  offen zu Plünderungen aufriefen.30 Claudia Kraft sieht hier einen Paradigmenwechsel in der antisemitischen Agitation: nicht mehr der einzelne jüdische Händler oder Schankwirt ist ein Feind der Bauern, sondern »alles, was den Bauern hätte feindlich gesinnt sein können, wurde als ›jüdisch‹ deklariert«, z. B. die als »verjudet« hingestellte Sozialdemokratie, aber auch die jeweils konkurrierenden Bauernparteien.31 Damit veränderte sich die Zielrichtung hin auf eine generelle Verdrängung der Juden, und es kam zu einer Politisierung und Instrumentalisierung der »jüdischen Frage«. Claudia Kraft sieht eine Ursache dafür  Wie auch bei den antisemitischen Parteien im Deutschen Kaiserreich enthielten die Parteiprogramme der Bauernparteien keine langfristigen Perspektiven für das polnisch-jüdische Zusammenleben und die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen. Es wurde allenfalls eine vage Kritik am Wucher geäußert und der Auf bau von Kreditanstalten für die Bauern gefordert, wobei in den Programmen anders als in den Zeitungen die Juden nicht als ökonomischer Hauptfeind hingestellt wurden (Kraft, Die jüdische Frage. S. ).  Buchen, Artikel: Galizische Bauernunruhen (), S. . »They framed campaigns against alcoholism and the rural indebtedness as part of the struggle of the pure and innocent Catholic peasant against the eternal drafty enemy« (Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. , auch S. ).  Golczewski, Rural anti-Semitism, S.  f.  Unowsky, Peasant Political Mobilization, S.  ff.  Kraft, Die jüdische Frage, S.  f.  Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. .  Kraft, Die jüdische Frage, S.  f., Przyjaciel Ludu, XI, , .., Nr. , S. .

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in der Konkurrenz der in den er Jahren gegründeten Bauernparteien untereinander. Aber auch die Übernahme der Begriffe Antisemitismus sowie Semitismus und der Theorie der Weltverschwörung aus Westeuropa spielten dabei ein Rolle.32 Auch für Golczewski machten es die geringen ideologischen Differenzen zwischen diesen Parteien nötig, die »Judenfrage« zu instrumentalisieren, selbst wenn der politische Konkurrent kein Jude war.33 Diese Agitation zielte seiner Meinung nach nun geradezu darauf ab, die bäuerliche Bevölkerung gegen die jüdischen Schankwirte und Händler aufzuwiegeln, wobei der Verband der Bauernpartei diese Angriffe als ein geeignetes Mittel in seinem Kampf gegen die Trunksucht und Unbildung auf dem Lande betrachtete. Die Zeitung verfolgte also sozialrevolutionäre Ziele, nutzte dazu aber die Stimmung gegen die Juden. Der Kampf gegen die Trunksucht konnte nur durch die Schließung der Schänken und die Vertreibung oder Ausweisung der Juden erreicht werden.34 Die Dorfjuden wurden in der Zeitung als reich porträtiert, deren Reichtum auf den Einkünften der christlichen Bauern beruhte, die sie mit scheinbar billigen Angeboten einiger Waren zum Kauf verlockten, was sie durch die Überteuerung anderer Waren wieder hereinholten. Durch diese Berichte, die durch Hinweise auf den Reichtum der Rothschilds und Geschichten über kriminelle Aktivitäten von Juden ergänzt wurden, sollte, häufig noch unterstützt durch die Verweise auf die zweifelhaften ethischen Grundsätze des Talmud, die moralische Minderwertigkeit der Juden bewiesen werden, denen das christliche Gewissen fehle.35 Nach Tim Buchen kursierte in den westgalizischen Dörfern die von dem in Krakau tätigen jesuitischen Priester Mateuz Jeż verfasste Broschüre Tajemnice Żydowskie (Jüdische Geheimnisse), der sich auf Werke von Jacob Brafman (Buch vom Kahal), des österreichischen katholischen Priesters Josef Deckert und auf August Rohlings Der Talmudjude stützte, was für einen starken transnationalen Einfluss auf den Antisemitismus in Galizien spricht. Die zentrale Botschaft dieses in hoher Auflage verbreiteten Textes, der für eine völlige Trennung von Christen und Juden eintrat, stimmte mit der der Stojałowski-Partei Stronnictwo Chrześcijańsko Ludowe überein: die Bauernschaft sollte dazu motiviert werden, ihre Situation durch eigenes Handeln zu verbessern und durch diese Selbsthilfe die ökonomische Macht der Juden zu brechen. Dabei sympathisierte das Pamphlet klar mit der Anwendung von

 Ebd., S. ,  und .  Golczewski, Rural-anti-Semitism, S. .  Golczewski zitiert aus der Zeitung Związek Chłopski (Nr. , , S. ) eine entsprechende Aufforderung: »Fort mit den Juden! […] Es ist Eure Sache, einmal diese stinkenden Juden loszuwerden! […] Sollen sie doch in ihr Gelobtes Land gehen! Wie gern würden wir diese Fremden vertreiben und christliche Läden einrichten !« (Polnisch-jüdische Beziehungen, S. , FN ).  Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S.  ff. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem gewissen »anti-capitalist trend of populism«, wobei es nicht gegen den Kapitalisten, den Händler oder Schänkeninhaber per se ging, sondern darum, dass Juden diese Funktionen einnahmen (Rural anti-Semitism, S. ).

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Gewalt, denn es ging um entweder »wir oder sie«.36 Damit war eine wesentliche Voraussetzung für den Ausbruch von Pogromen gegeben. In Wieliczka wurde diese Schrift durch die Stronnictwo Chrześcijańsko Ludowe bei Wahlveranstaltungen des Reichsratskandidaten Andrzej Szponder verteilt, und auch dieser selbst hatte diese Schrift schon früh am Ort bekannt gemacht.37 Später sollen viele Personen, die die Behörden als Agitatoren und als Anstifter von Unruhen identifizieren konnten, bei ihrer Festnahme im Besitz dieses Pamphlets gewesen sein. Auch sollen sich viele Angeklagte vor Gericht später auf diese Schrift als Ursprung ihres Glaubens, die Juden angreifen zu dürfen, berufen haben.38 In Wieliczka wurde laut Anklageschrift gesagt, man müsse den Juden die Fenster einschlagen, weil sie die Katholiken betrögen, und dass man dies tun dürfe, da einem nichts passieren werde.39 Dies zeigt, dass die Juden einerseits aus dem moralischen Universum der Gesellschaft ausgeschlossen wurden, was eine wesentliche Voraussetzung für die Anwendung von Gewalt ist, zum anderen erschien diese Gewalt als eine Form der Notwehr auch als gerechtfertigt. Auch wenn die genannte Zeitung nicht direkt zu Gewalt aufrief, so hatte ihre Agitation durchaus einen Effekt in diese Richtung. Doch es waren nicht allein die Zeitungen der Stojałowski-Partei und des Verbandes der Bauernpartei, die den Antisemitismus verbreiteten, sondern auch die katholische Presse in Galizien wie Głos Narodu und Głos Rzeszowski und Organisationen wie die Christlich-soziale Bewegung trugen dazu bei, indem sie Kampagnen gegen die Trunksucht antijüdisch aufluden, die Bauern aufforderten, keine jüdischen Zeitungen zu lesen, nicht bei Juden zu kaufen und bei den Wahlen für gut christliche Kandidaten zu stimmen.40 Nach Buchen entstand durch die antisemitische Agitation und durch das Gerücht eines bevorstehenden »Schlages gegen die Juden«, dessen Akteure und Zeitpunkt unbestimmt blieben, eine »Erwartungshaltung der Abrechnung mit den Juden«.41 Die Judenhetze hatte nach Ansicht von Dr. Bloch’s Österreichischer Wochenschrift in dieser Zeit »im ganzen Land ungeheure Dimensionen angenommen und die öffentliche Meinung« so vergiftet, »daß selbst bisher freisinnige Blätter wie der ›Kurjer Lwowski‹ und der ›Slowo Polski‹ sich bemüßigt sehen, aus Geschäftsrücksichten den tollen Hexensab Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. .  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. . Dies blieb offenbar auch den Behörden und den jüdischen Gemeinden nicht verborgen. Nach den Ausschreitungen in Wieliczka wurde die Broschüre von der Statthalterei verboten (ebd.). Erst die zweite Auflage sei aber konfisziert worden. Nach dem Auftraggeber für die Hetzschrift wurde nicht gesucht. Vgl. Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S.  f. Nach Unowsky, (Peasant Political Mobilization, S. ), ist dieser Text zuerst von der christlich-sozialen Zeitung Prawda  veröffentlicht worden, die unter Aufsicht des katholischen Klerus in Krakau stand und in Konkurrenz zu Stojałowski einen ausgesprochen scharfen antisemitischen Kurs steuerte.  wurde der Text dann als separate Broschüre publiziert.  Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. .  Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. .  Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. .  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. .

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bath mitzumachen«.42 Daniel Unowsky kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass  »months of anti-Jewish agitation focused on resolving the crisis of rural poverty through anti-Jewish action – on the phantasy of anti-Semitism as defense – contributed to a rise in anti-Jewish sentiment«.43 Viele der derjenigen, die die Gerüchte verbreitet, Unruhen von Ort organisiert und daran teilgenommen hätten, hatten Beziehungen zur Partei Stojałowskis, Stronnictwo Chrześcijańsko Ludowe. Nach Stauter-Halsted war diese antisemitische Wahlkampagne aber nicht der einzige Impuls für den Ausbruch der antijüdischen Gewalt.44 Eine Rolle gespielt haben dürften auch die Nachrichten über antijüdische Ausschreitungen im Zuge der Dreyfus-Affäre in Frankreich im Januar/Februar , im Zuge des TiszaeszlárRitualmordfalles in Ungarn im Februar , sowie auch in Böhmen (November ). Auch mag die russische Pogromwelle der frühen er Jahre in der polnischen Landbevölkerung noch präsent gewesen sein.45 Es herrschte also in Europa eine allgemeine antijüdische, sich immer wieder auch gewalttätig manifestierende Stimmung, die die Juden als ein legitimes Ziel angesichts der ökonomischen Notlage erscheinen ließen. Zumal, bedingt durch sehr schlechtes Wetter im Herbst  und folgenden Frühjahr, eine an eine Hungersnot grenzende Lage in den galizischen Dörfern hinzukam, der man eine mitauslösende Funktion zuschreiben kann.46 Stauter-Halsted weist dabei noch auf den wichtigen Umstand hin, dass die an den österreichischen Staat gerichteten Bitten der Bauern kein Gehör fanden, so dass sich hier ein allgemeines Gefühl des Fallengelassen-Seins sowie einer Bevorzugung der Juden in der hungernden Bevölkerung ausbreitete. Diese Blockierung legaler Abhilfe in einer Notsituation ist häufig eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Menschen zur illegitimen Selbsthilfe in Form kollektiver Gewalt greifen. Der energische Einsatz des österreichischen Militärs gegen die Bauern während der Unruhen, die zahlreichen Verhaftungen und die Verhängung des Ausnahmezustands erschienen so als ein weiterer Beleg für die projüdische Parteinahme des Staates, so dass der Griff zur Gewalt als einziges Mittel übrig zu bleiben schien.47  Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S.  f.  Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. . Die Zeitung Związek Chłopski berichtete  in mehreren Ausgaben über den angeblichen Plan der Juden zur Erringung der Weltherrschaft mit allen Mitteln. Die Juden werden nun nicht nur als Feinde der christlichen Religion, sondern auch der Nation und zwar in jeder Hinsicht dargestellt. Sie sieht hier einen Ansatzpunkt zur »Brutalisierung« der Beziehungen (Kraft, Die jüdische Frage, S.  und  f.).  Stauter-Halstead, Jews as Middleman Minorities, S. .  Mit der Zuwanderung von jüdischen Flüchtlingen  vor allem in die Grenzstadt Brody entwickelte sich eine Agitation, die zur Plünderung der wohlhabenderen einheimischen Juden aufreizen wollte. Hier ist der Einfluss der Pogrome im Zarenreich deutlich spürbar, die zur Nachahmung anreizten – wie auch die Behörden befürchteten. Vgl. Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  ff.  Stauter-Halstead, Jews as Middleman Minorities, S. .  Ebd., S. . »The perception of favoritism on the part of Habsburg officialdom helped to reinforce new categories of public identity among the peasantry«. Diese Sicht wurde durch

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Der Verlauf der antijüdischen Ausschreitungen Wie in anderen Orten Ostmitteleuropas auch, entzündeten sich die antijüdischen Unruhen an Gerüchten über von Juden ausgehende Bedrohungen, wie man sie typisch in den Ritualmordanschuldigungen erkennen kann. Auch in Galizien hatten solche Beschuldigungen nach dem Ritter-Fall48 von  stark zugenommen, und es kam immer wieder zu Untersuchungen solcher »Fälle« von offizieller Seite. Zwar waren in diesem Fall nicht Ritualmordgerüchte der Auslöser der galizischen Bauernunruhen,49 sondern eine Fülle von »geradezu phantastischen Gerüchten«, die teils von Plänen der Juden sprachen, Christen anzugreifen, teils davon, dass die Juden von den Obrigkeiten in Form offizieller Dokumente, Flugblätter, Plakate oder Pamphlete, die die weitgehend leseunkundigen, aber leichtgläubigen Bauern für wahr hielten oder halten wollten, zum »Schlagen und Plündern«, nicht aber zum Töten freigegeben worden seien.50 Auch in Kalwarya hatte es schon vor Ausbruch der Unruhen das Gerücht gegeben, die Juden hätten ein, allerdings aufgedecktes, Mordkomplott gegen den Kaiser geplant, so dass sie nun zur Strafe für einen gewissem Zeitraum geschlagen und ausgeraubt werden dürften.51 Diese Gerüchte waren überall im Ort Gesprächsthema, so dass auch das Gemeindeamt in Kalwarya und die örtlichen Juden davon erfuhren und beim zuständigen Bezirkshauptmann um Schutz nachsuchten, der diese Befürchtungen aber der überängstlichen Natur der Juden zuschrieb und im Vorfeld zunächst nichts unternahm, bis er später dann doch Ordnungskräfte nach Kalwarya schickte.52 Diese angeblich

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entsprechende Verschwörungstheorien gestützt, wonach die österreichischen Gerichte unter dem Einfluss reicher Juden stünden. Vgl. zum Fall Ritter: Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  ff. Unowsky äußert sich verwundert, dass die Ritualmordbeschuldigung, die sofort nach den Ausschreitungen in Wieliczka im März  aufkam, weder eine politische Kampagne auslöste noch von den Tumultuanten in den späteren Prozessen vorgebracht wurde (Peasant Political Mobilization, S. ). Unowsky zitiert aus der antisemitischen Zeitung Glos Narodu (.., S. ), wonach der Anführer eine Schar von Bauern, die für große Zerstörungen in der Stadt Biecz verantwortlich waren, so zur Anwendung begrenzter Gewalt aufrief: »We will not kill … we have the permission only for the destruction [of Jewish property]« (Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. ). Es gab aber wohl auch Gerüchte, wonach Stojałowskis Zeitung Pszczółka die Aussage eines christlich-sozialen Reichsratsabgeordneten zitierte, dass, wenn man dreitausend Börsenjuden aufknüpfte, alle Probleme der Bauern gelöst wären, andere sahen im Verprügeln von zehntausend Juden die Befreiung der Bauern vom »Joch der Schänken« (ebd., S. ). Buchen, Galizische Bauernunruhen, S. ; zu dem »Gerede der Gewalt« und den »Tragödien des Hauses Habsburg« in diesen Gerüchten (Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. -); Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. , ; siehe einige Varianten dieser Gerüchte in: Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S. . Buchen weist darauf hin, dass sich im Schriftverkehr der lokalen Behörden je nach der benutzten Verkehrssprache und nach dem jeweiligen Adressaten unterschiedliche Darstellungen finden: Im deutschen Amtsverkehr mit den Behörden, die den Wiener Ministerien der Justiz und des Inneren unterstellt waren, fehlen weitgehend negative Aussagen über

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schriftlich vorliegende amtliche »Genehmigung« wurde nach Golczewski in vielen der in den folgenden Monaten stattfindenden Prozesse gegen die Tumultuanten als auslösendes und zugleich rechtfertigendes Moment der Ausschreitungen hingestellt. Man kann also vermuten, dass diese typischen, legitimierenden Gerüchte von Agitatoren in den Dörfern gestreut wurden und bei der z. T. leseunkundigen Bevölkerung Glauben gefunden hatten.53 Diese »Genehmigung« soll zumeist von auswärtigen Personen präsentiert worden sein, die sich auf Autoritätspersonen wie Dorfälteste oder aus Wien zurückgekehrte Abgeordnete beriefen, die angeblich die Erlaubnis vom Kaiser oder Kronprinzen erhalten hätten. Dies spricht für eine kaisertreue Haltung der galizischen Bauern, Buchen spricht von »Habsburgerpatriotismus«, die ihre Übergriffe als Rache für die angeblich geplanten Mordanschläge der Juden gegen Angehörige des Habsburger Kaiserhauses verstanden, so dass polnisch-nationalen Motiven wohl eher eine geringe Bedeutung zuzusprechen ist. Tim Buchen betont allerdings zu Recht, dass es falsch wäre, von einer Täuschung der Täter durch unwahre Gerüchte zu sprechen, da die meisten die Gerüchte selbständig mit Erklärungen aus ihrer Lebenswelt verbanden, um sie für sich und andere glaubhaft zu machen. Sie versuchten sich gegenseitig zu überzeugen, dass ein Angriff auf die Juden legitim sei, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass einige wenige tatsächlich von der Existenz der Erlaubnis überzeugt gewesen seien. Mit Sicherheit sei »das Volk« nicht von Politikern getäuscht worden.54 Unowsky unterscheidet vier Pogromwellen in  Orten ( davon in Ostgalizien), die sich zeitlich und geographisch überlappten: – Von Ende Februar bis in die erste Aprilwoche ereigneten sich einige Ausschreitungen in und um Wieliczka, die eng mit der Rivalität zwischen Stojałowskis Christlicher Volkspartei und Stapińskis Volkspartei verbunden waren. – Von Ende Mai bis in die erste Juniwoche waren Kalwarya Zebrzydowska und andere Städte südlich und westlich von Krakau Schauplätze antijüdischer Unruhen. – In der zweiten und dritten Juniwoche wurden in der Umgebung von Jasło viele jüdische Geschäfte, Schänken und Häuser geplündert und einige niedergebrannt. – Vom . bis  Juni kam es dann zu städtischen Unruhen sowie zu Angriffen herumziehender Banden auf jüdische Siedlungen sowie zu Zusammenstößen von Marodeuren und Militär in der Region um Limanowa, Stary und Nowy Sącz.55

Juden und man betont die schnell ergriffenen Maßnahmen, während im polnischsprachigen Schriftverkehr die Aversionen gegen die jüdischen Bürger deutlicher zur Sprache kommen und man die geringen Eingriffsmöglichkeiten betont (Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. ).  Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S.  ff.  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  ff.  Unowsky, The Plunder, S.  f.

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Zwar kam es in  Gerichtsbezirken zu antijüdischen Unruhen, doch lässt sich in bestimmenten Bezirken eine gewisse Häufung feststellen. So ereigneten sich allein in den Distikten von Jaslo, Strzyżów und Nowy Sącz   Prozent aller Fälle.56 Im Folgenden werden nur einige der markantesten Fälle vorgestellt. Insgesamt weisen viele Vorfälle ein ähnliches Verlaufsmuster auf. Die Unruhen in Wieliczka und Klasno Mitte März waren die schwersten der wenigen antijüdischen Ausschreitungen in dieser frühen Phase. Für den Verlauf der Unruhen in Wieliczka,57 einige Kilometer südwestlich von Krakau gelegen, finden sich in der Literatur (Golczewski, Unowsky, Buchen) in ihrem Verlauf jeweils etwas voneinander abweichende Darstellungen. – Auslöser war in jedem Fall ein in Wieliczka kursierendes Gerücht, wonach Juden einen Anschlag auf den antisemitisch aktiven Gemeindepfarrer und Reichsratabgeordneten der Christlichen Volkspartei, Andrzej Szponder, planten, der bei seiner Rückkehr aus Krakau verprügelt oder in einer anderen Version entführt und ermordet werden sollte.58 Dieses Gerücht war wohl dadurch entstanden, dass Juden sich darüber beschwert hatten, dass der Priester das antisemitische Buch Jüdische Geheimnisse in seiner Gemeinde angespriesen hatte. Zwar stellte sich das Gerücht als falsch heraus, dennoch bombardierte eine Gruppe von dreihundert jungen Männern, die in der Salzmine arbeiteten, an einem Freitagabend (..) zur Zeit des Gottesdienstes die Synagoge anderthalb Stunde lang mit Steinen, wobei sie »Tod den Juden« und »Tötet und zerstört diese Blutegel« riefen. Erst spät griffen die Gendarmen ein und zerstreuten die Menge, die in den Straßen nach Juden suchte, die sie angreifen konnte.59 Nach einer anderen Darstellung waren es die Fenster jüdischer Häuser in den Seitenstraßen des Marktplatzes.60 Obwohl die Polizei von dem Gerücht gehört und Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, war es zu den Übergriffen gekommen. Am . März  wiederholten sich dort ähnliche Vorfälle. Ausgangspunkt war eine von Szponder abgehaltene abendliche Messe, in der er die Gemeinde aufforderte, jüdische Schänken und Geschäfte zu meiden, um so die Macht der Juden zu brechen, sie aber zugleich vor gewaltsamen Übergriffen warnte. Dennoch begannen seine Zuhörer, überwiegend junge Bergarbeiter, Steine gegen Geschäfte und Häuser von Juden zu werfen, um dann noch nach Klasno, einer nahe gelegenen  Ebd.  Nach Unowsky waren im Jahr   der . Einwohner Wieliczkas Juden, d. h.   (ebd, S. ).  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  f.; nach Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. , wurde die Gewalt in Wieliczka von denselben Personen ausgelöst, die auch das Buch »Jüdische Geheimnisse« verteilt hatten. Unowsky weist zudem auf die wichtige Rolle hin, die Szponder als lokaler Priester, antisemitischer Politiker und Abgeordneter in Wien als Verbindungsglied zwischen den dörflichen Gemeinschaften Galiziens, dem neuen populistischen katholischen Antisemitismus und der staatlichen Politik in Galizien und auf Reichsebene spielte (The Plunder, S. ).  Unowsky, The Plunder, S. .  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. .

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Schauplätze antijüdischer Ausschreitungen in Westgalizien im Sommer 

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Siedlung, weiterzuziehen, wo sie jüdische Geschäfte mit Steinen attackierten und dabei einige Juden verletzten.61 Unter den  Festgenommenen, zu denen auch Szponder gehörte, war auch ein jüdischer Handwerker, der bei der Abwehr von Übergriffen auf sein Haus einen Angreifer verletzt hatte.62 Laut Anklageschrift handelte es sich um Jugendliche zwischen  und  Jahren, nur drei Erwachsene waren darunter.63 Tim Buchen weist dabei auf den wichtigen Punkt hin, dass man sich erzählte, dass »es bald zu einer ›Abrechnung‹ mit den Juden kommen werde«.64 Die Ereignisse in Wieliczka fanden jedoch zunächst nur in den umliegenden Dörfern eine gewisse Nachahmung.65 – Erst als sich kurz vor Pfingsten am ./. Mai  in Kalwarya Zebrzydowska, einem berühmten Wallfahrtsort (»polnisches Jerusalem«) südlich von Krakau, Tausende von Pilgern einfanden, um den hundertsten Geburtstag des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz zu feiern, kam es dort und in der Umgebung von Jasło zu antijüdischen Ausschreitungen. Angeregt durch die in den Dörfern angeschlagenen Ankündigungen der Festlichkeiten strömten am . Mai Hunderte von Bauern in die Stadt. Am Abend wurde zu Ehren des Dichters ein Fackelzug veranstaltet, als aus der Menge heraus Fensterscheiben von Juden bewohnter Häuser eingeworfen und ein Jude dabei schwer verletzt wurde.66 Am nächsten Abend, als eine große Menge von Bauern aus den umliegenden Orten in die Stadt gekommen war, begann eine an die tausend Personen zählende Menge, aufteilt in drei Gruppen, unter Rufen wie »Hurra Bauern, auf die Juden !« durch die Stadt zu ziehen und Steine gegen die Häuser von Juden zu werfen.67 Die zusammengezogenen Gendarmen, Polizisten und Feuerwehrleute,  Unowsky, Peasant Political Mobilization, S.  f.; The Plunder, S. .  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. . Nach Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. , wurden im Wieliczka-Prozess sogar zwei Juden verurteilt, die die angreifende Menge »absichtlich und mit böser Zielsetzung« mit Steinen beworfen hätten, sowie ein jüdischer Metzger, der einen Angreifer mit einem Fleischermesser bedroht haben soll.  Ebd. Bei Buchen (Antisemitismus in Galizien, S. ) findet sich eine leicht abweichende Darstellung: demnach hätten die Jugendlichen in den Seitenstraßen des Marktplatzes die Fensterscheiben jüdischer Häuser eingeschlagen, bevor sie von Gendarmen abgedrängt wurden und sich zum Bahnhof begaben, um auf die Ankunft des Abgeordneten Szponder zu warten. Dieser habe auf Bitten des Bezirkshauptmanns hin die Menge zu beruhigen versucht.  Buchen, Galizische Bauernunruhen, S. .  Unowsky, The Plunder, S. .  Ebd., S. . Nach Tim Buchen verstanden die Teilnehmer dieses Vorgehen als eine Form des Rügebrauchs, eine Art Katzenmusik, zu der auch das Einwerfen von Fenstern gehörte (Antisemitismus in Galizien, S. ).  Buchen zitiert den Bericht eines Gendarmeriewachtmeisters aus Kalwarya, wonach das ungebildete Volk kein Verständnis für eine Feier des ihnen unbekannten Dichters Mickiewicz aufgebracht habe, sondern glaubte, die angesagte Feier solle zur Hetze gegen die Juden dienen, zumal antisemitische Blätter den Unwillen der Menschen auf dem Lande geschürt hätten. Nach diesem Muster deuteten die Bauern auch die ausgehängten Plakate, die sie nicht lesen konnten (Antisemitismus in Galizien, S. , FN ). Dazu passt die in

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die zusammen aber nicht mehr als vierzig Mann waren, versuchten die Menge aus der Stadt zu drängen, Steinewerfer zu verhaften und die Ordnung wiederherzustellen. Da dieser Einsatz der Ordnungskräfte den Erwartungen der Menge widersprach, die meinte, einen Freibrief für das Vorgehen gegen Juden zu besitzen, und nun auf heftige Gegenwehr stieß und Gerüchte über getötete Bauern die Randalierer sie noch mehr aufbrachte, wurden die Ordnungskräfte mit Steinen beworfen, woraufhin sie in die Menge schossen und zwei der Tumultuanten töteten, einen weiteren schwer verletzten,68 auch drei Gendarmen erlitten Verletzungen. Auf die Meldung über die bedrohliche Lage in der Stadt hin beorderte der Bezirkshauptmann noch in der Nacht militärische Hilfe in die Stadt, die in einer Stärke von  Mann aus Wadowice anrückte. Er selber kam am nächsten Morgen zusammen mit dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter nach Kalwarya. Zwanzig Personen wurden verhaftet und die Ruhe wiederhergestellt.69 Diese Eskalation der Gewalt führt Buchen auf die enttäuschten Erwartungen der Tumultuanten zurück, die gehofft hatten, die Häuser der Juden ungestört plündern zu dürfen. Sie konnten sich den harten Einsatz der Gendarmen nur dadurch erklären, dass diese von den Juden mit Schnaps bestochen worden seien. D. h., der Konflikt hatte sich von einer Auseinandersetzung zwischen Christen und Juden in eine zwischen Bauern und Militär verwandelt. Die Bauern zogen also nicht die Geltung des Gerüchts über die Erlaubnis des »Judenschlagens« in Zweifel, sondern erklärten sich den Einsatz des Militärs durch Bestechung.70 Die Nachricht von den Ereignissen in Kalwarya reiste mit den in ihre Wohnorte zurückkehrenden Bauern und führte dort zu vielen kleineren Tumulten.71 Die Ereignisse in Kalwarya bildeteten den Auftakt für fünf Wochen fast ununterbrochen anhaltende antijüdische Gewalt. – Neben ländlichen Unruhen gab es auch Ausschreitungen in einer größeren Stadt wie im ostgalizischen Przemyśl, die einen anderen Charakter aufwiesen. Dort



 



der AZJ (Jg. , Heft , .., S. ) berichtete Variante der umlaufenden Gerüchte, wonach es Pater Stołakowski gelungen sei, in Wien die Erlaubnis für die galizischen Bauern zu erlangen, »drei Tage hindurch mit den Juden machen zu können, was sie wollten«. Diese Nachricht soll allgemeinen Glauben gefunden haben. Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  f.; vgl., auch die damit übereinstimmende Darstellung in: Das Vaterland, .., S. ; auch: AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. ; Der Israelit, Heft , .., S. . Nach Unowsky wurden mehrere Randalierer verletzt, aber nur einer, ein -jähriger Bauer, wurde getötet (The Plunder, S. ). Das Vaterland, .., S. , berichtet von einem verwundeten Juden bei den Unruhen am . Mai. Das Vaterland, .., S. . Der Ärger, den die Bauern der umliegenden Dörfer über das Vorgehen empfanden, fand auch ein Echo in der Zeitung Prawda, die beklagte, dass am Tag der Feierlichkeiten für Mickiewicz christliches Blut zum Schutz der Juden vergossen wurde (Unowsky, Plunder, S. ). Ebd. Etwa in Brody im Distrikt Kalwarya, sowie in Jastrzębia, Krzywaczka und und Skawina und Zator unweit von Krakau.

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hatten sich aufgrund zahlreicher Militärbauten viele Bauarbeiter eingefunden, und ein wirtschaftlicher Aufschwung hatte viele Gewerbetreibende in diese Boom Town gezogen. Die wirtschaftliche Krise durch die Überproduktion und das Ende des militärischen Ausbaus führte zur Entlassung zahlreicher Arbeiter durch die Militärverwaltung, und es war zu Zusammenstößen von Arbeitslosen und Militär gekommen. Am . Mai griff eine Menge von hungrigen Arbeitslosen einen Juden an, um sich dessen Brotsacks zu bemächtigen und rief vor dem Rathaus nach Brot und Arbeit, so dass der Magistrat Brot verteilte und einige Arbeiter einstellte. Am Morgen des . Mai plünderten sechshundert Arbeiter den Wagen eines jüdischen Bäckers und griffen auch andere Juden an. Die Militärpolizei zerstreute die Menge, und zwei sozialdemokratische Führer erreichten in Verhandlungen, dass der Magistrat weitere Arbeiter einstellte. Trotzdem kam es am Nachmittag zu Übergriffen von mehreren hundert Arbeitern auf jüdische Geschäfte und Häuser.72 Die Militärpolizei griff ein und verhaftete zwanzig Personen. – Die Unruhen in Przemyśl wichen deutlich von den übrigen Ausschreitungen in Galizien ab, da die Menge der Tumultuanten aus arbeitslosen Arbeitern bestand, deren Motiv nach Auffassung der Militärpolizei vor allem Hunger war, und da sich Unruhen sogar unter den Augen des Militärs abspielen konnten.73 Arbeiter, in diesem Fall fünfhundert Eisenbahnarbeiter, waren es auch im ostgalizischen Tłuste, die am ./. Mai unter Beteiligung der lokalen Bevölkerung die Synagoge, mehrere Hotels und eine Schule zerstörten, woraufhin Gendarmen einen Tumultanten töteten und mehrere verletzten.74 Die Gewalt weitete sich aus, und es kam in den gewalttätigsten Bezirken in einer Vielzahl von Ortsgemeinden zu Ausschreitungen: in Jasło in   der Orte, in Nowy Sącz (Neu-Sandec) zu  , in Strzyżow zu   und in Frysztak zu  .75  Unowsky, The Plunder, S. . Es finden sich in der Presse auch einige abweichende Darstellungen: Nach Dr. Bloch’s Österreichischer Wochenschrift (Heft , .., S. ) hätten ein städtischer Beamter und die Polizei die vor dem Magistrat versammelten Arbeiter auf die Juden gehetzt. Da in der Stadt viel Militär stationiert war, fanden die Exzesse gegen die Juden unter den Augen der bewaffneten Macht statt. Laut AZJ (Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote S. ) sei die versammelte Menge der Arbeitslosen von der Polizei vom Hauptplatz in die Seitenstraßen abgedrängt worden, da man Demonstrationen bei der Ankunft des Statthalters Piniński befürchtete. Ein Teil der Arbeitslosen fiel daraufhin im Judenviertel über die Marktstände her, plünderte sie völlig aus und verprügelte jüdische Kaufleute, als sie Gegenwehr leisteten. Daraufhin durchzog eine Abteilung Infanterie mit aufgepflanztem Bajonett das Viertel, und die Kaufläden wurden geschlossen.  Unowsky, The Plunder, S.  f. Die Staatsanwaltschaft bestritt, dass die ökonomische Krise, die Arbeitslosigkeit oder Judenhass Motive für die Gewalt gewesen seien, sie sei vielmehr Resultat sozialdemokratischer Agitation gewesen. Eine antisemitische katholische Zeitung deutete den Angriff der verzweifelten Arbeiter auf die Juden hingegen so, dass diese die Juden als Repräsentanten des irreligiösen Sozialismus und des Missbrauchs des Kapitalismus angegriffen hätten (ebd.).  Ebd., S. .  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. .

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Es wird von antijüdischen Exzessen seit dem . Juni in zahlreichen Marktflecken Westgaliziens (Kolaczyce, Ulaszowice, Stawina, Radziszowice, in Bukowa, Kamienica und Blaszkowa, in Swierchowa, Sobniow, Gorlice u. a.) berichtet, bei denen die Fensterscheiben von Juden bewohnter Häuser eingeworfen und Wohnungen zerstört und geplündert wurden. Auch Dorfschänken waren Ziele von Plünderungen. Überall kam es zu Verhaftungen von Tumultuanten. Wobei die Verhaftung von Aufrührern häufig den Ausgangspunkt für einen Krawall bildete. In einigen Fällen musste sogar Militär angefordert werden.76 In der Umgebung von Jasło fielen die Unruhen in der zweiten und dritten Juniwoche  am heftigsten aus.77 Golczewski macht für diese Eskalation die Propaganda der Bauernparteien im Zuge der für den . Juni angesetzten Nachwahlen verantwortlich, wobei vor allem die Anhänger Stołakowskis in den Dörfern ganz offen zu Aktionen gegen Juden aufgerufen hätten.78 – An Fronleichnam (. Juni ) entwickelte sich an einem Markttag in Frysztak, nicht weit von Jasło entfernt gelegen, wo die Juden   der Einwohner stellten, das schwerste Pogrom in Galizien. Ausgangspunkt war die Randale von Bauern in einer jüdischen Schänke, die von Gendarmen beendet wurde. Einige der hinausgeworfenen Bauern riefen »Lasst uns die Juden schlagen!«, woraufhin die Ausschreitungen begannen, an denen sich ca. zweitausend Personen beteiligt haben sollen.79 Es wurden jüdische Marktstände und Häuser von kleinen Gruppen über Stunden angriffen und geplündert, wobei einige Juden blutig geschlagen  Das Vaterland, .., Abendblatt, S. ; .., S. ; .., S.  und .., S. . Die Lemberger Zeitung Gazeta Lwowska führte die Exzesse auf »gewissenlose Agitation zurück, hielt zugleich aber die Schilderungen der Vorkommnisse für übertrieben. Eine Aufzählung zahlreicher Orte, an denen es zu antijüdischen Unruhen gekommen ist, findet sich auch in: Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S.  f. Auch dort zeigt man sich davon überzeugt, »dass die Bewegung auf eine planmäßige Agitation zurückzuführen ist« und dass man »dem Wüten der aufgestachelten bäuerlichen Bevölkerung mit den energischesten Mitteln entgegentreten« müsse (kursiver Text im Original gesperrt gedruckt).  Im Bezirk Jasło herrschte nach dem Bericht der Zeitung Das Vaterland, .., S. , unter dem Landvolk immer noch »tiefe Aufregung. Andauernd werden beinahe im ganzen Bezirk Schänken überfallen und Hausgerätschaften vernichtet«. Im Auftrag der Statthalterei wurde in den Gemeinden des Bezirks ein Rundschreiben verbreitet, in »welchem in nachdrücklichster Weise auf die traurigen Folgen der strafwürdigen Ausschreitungen hingewiesen wird. Das Militär werde […] im Bezirke so lange verbleiben, bis die Gefahr einer Erneuerung der Excesse völlig geschwunden sei. Sollten die Warnungen wirkungslos bleiben, so würden strengste Ausnahmeverfügungen erfolgen« (im Original gesperrt). Den Gemeindevorstehern wurde die Aufstellung einer Bürgerwehr befohlen. Diese versicherten eilig, dem nachzukommen und betonten, »dass die durch eine strafwürdige Agitation hervorgerufene Bewegung nirgends die besseren Schichten der Bevölkerung mit sich gerissen habe, welche die Ausschreitungen der unreifen Burschen verdammen« (im Original gesperrt). – Es blieb im Bezirk daraufhin offenbar ruhig (Das Vaterland, .., S. , .., S. ).  Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. .  Unowsky, The Plunder, S. .

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worden sein sollen, so dass unter ihnen große Panik herrschte.80 Als daraufhin die Polizei, verstärkt von Gendarmen, den Marktplatz räumen wollte, stellte sich ihr die aufgebrachte Menge entgegen und presste bereits festgenommene Personen wieder frei. Als die Menge die Aufforderungen, auseinander zu gehen, nicht befolgte und sich sogar gegen die Gendarmen wandte und mehrere von ihnen teils schwer verletzte,81 gaben Letztere zunächst Warnschüsse ab, die die Tumultuanten aber nicht ernst nahmen, da sie durch die kursierenden Gerüchte sicher waren, dass man nicht auf sie schießen würde. Die Gendarmen feuerten jedoch ein Dutzend und mehr Schüsse ab, die zwölf Todesopfer forderten, darunter auch einige unbeteiligte Zuschauer. Weitere Personen wurden schwer und viele leicht verletzt, was in der lokalen Bevölkerung und in der Presse Proteste auslöste und die antijüdische Stimmung noch verstärkte.82 Die Agitation gegen die Juden bekam nach Golczewski jetzt eine »Eigengesetzlichkeit, die den unmittelbaren Zusammenhang mit den Wahlen verlor«. Seiner Meinung nach unterschied sich hier die Zusammensetzung der Täter von den bis dahin dominierenden Jugendlichen: von den  Angeklagten, die aus den umliegenden Dörfern stammten, zumeist Analphabeten und häufig vorbestraft waren, waren nur drei unter zwanzig Jahre alt. Der Hauptangeklagte war sogar der Dorfälteste eines nahegelegenen Dorfes, der am Morgen, bereits betrunken, die kommenden Übergriffe so legitimiert hatte: »Wir werden die Juden schlagen, man darf sie schlagen, denn wir haben da so ein Rundschreiben.«83 Wie bei Ausschreitungen typisch, waren diese Vorfälle an einem Ort Anlass, Gleiches in der näheren Umgebung anzuzetteln, wobei man häufig regelrechte Kommunikationslinien, z. B. entlang von Eisenbahnlinien oder Straßen, auf denen Augenzeugen ihre Erfahrungen weitertrugen, erkennen kann. Tim Buchen spricht sogar von einem »Konkurrenzdruck« zwischen den Gemeinden, es den Nachbarn gleichzutun.84 Im Lauf der Unruhen veränderte sich auch deren Charakter. Es bildeten sich vor allem in abgelegenen Gegenden regelrechte Räuberbanden von z. T. mehr als hundert Personen unter Führung von Kriminellen, die bei ihren Raubzügen nicht nur Juden, sondern auch wohlhabende Christen bedrohten.85  Das Vaterland, .., S. ; vgl. auch Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  f. (Galizische Blutvesper: Fronleichnam in Frysztak).  Das Vaterland, .., S. .  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  f. Der befehlshabende Ortsvorsteher erhielt Morddrohungen, und der Bezirkshauptmann sollte sich rechtfertigen, warum so viele Christen, aber keine Juden getötet worden seien. Man spekulierte über jüdische Bestechungsgelder, die das harte Eingreifen motiviert hätten. Die unschuldigen Todesopfer boten zudem die Gelegenheit, auf eine generelle Schuldlosigkeit der christlichen Bevölkerung abzustellen und die Juden und Soldaten als Auslöser der Gewalt hinzustellen (ebd., S. ).  Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S.  f.  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. .  Buchen, Galizische Bauernunruhen, S. ; Unowsky, The Plunder, S. ; einen ersten Bericht über »Banden unbekannter Leute« im Gorlicer Bezirk, die Wirtshäuser zu plündern

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Nachdem es durch Maßnahmen der Regierung, der lokalen Autoritäten und des Militärs gelungern war, im Jasło-Distrikt für Ruhe zu sorgen, begann die nächste Welle von Ausschreitungen in der Region von Nowy Sącz.86 – Einen weiteren Höhepunkt erreichte die Gewaltwelle, als am . und . Juni die Städte Stary Sącz (Alt-Sandec) und Nowy Sącz (Neu-Sandec) zum Schauplatz heftiger Ausschreitungen unter Beteiligung großer Menschenmengen wurden.87 Stary Sącz und Nowy Sącz sowie die Dörfer der Umgebung waren nach Berichten in Bloch’s Österreichischer Wochenschrift und in der deutsch-jüdischen Zeitung Der Israelit Ziel plündernder Bauern, doch beteiligten sich auch Ortsbewohner.88 Über den Ablauf der Unruhen in Stary Sącz und Nowy Sącz finden sich in der Zeitungsberichterstattung divergierende Darstellungen. In Nowy Sącz löste ein Disput zwischen einem jüdischen Händler und einem Bauern über den Verkauf von Korn eine Schlägerei zwischen Juden und Bauern aus, und es kam zu Plünderungen.  Juden und  Bauern wurden verhaftet, zwei Bauern wurden verletzt. Nun begannen Bauern und Ortsbewohner, jüdische Läden, Häuser und Schänken zu zerstören und zu plündern, was sich dann auf die Orte der Umgebung ausweitete.89 Stary Sącz wurde von Samstagabend an, die Nacht und den Sonntag hindurch Schauplatz antisemitischer Exzesse.90 Nach Daniel Unowsky hat sich dort Folgendes abgespielt. Am Samstagmorgen kamen wegen des Martktages viele Bauern in die Stadt, woraufhin der Bürgermeister die Menge zur Vorbeugung von Unruhen aufforderte, die Stadt bis acht Uhr abends zu verlassen, was aber nicht befolgt wurde. Es kamen vielmehr weitere Menschen hinzu, darunter viele Ortsbewohner, die alle offenbar darauf warteten, dass etwas geschehen würde. In dieser angespannten Stimmung, die eine typische Voraussetzung für den Ausbruch von Pogromen ist, bildeten der Glockenschlag um acht Uhr abends und der zur Gewalt auffordernde Ausruf eines Bauern das Signal zum Angriff auf die  jüdischen Geschäfte am Marktplatz. Mehr als zweitausend Personen,

  

 

und in Brand zu stecken suchten, wobei sich Bauern und Petroleumarbeiter beteiligten, zeigt, dass dieses Phänomen schon in einer recht frühen Phase auftrat (Das Vaterland, .., Abendblatt, S.  – Excesse in Galizien). Die Bewegung mache trotz des Militäreinsatzes Fortschritte, wie die Zeitung schrieb. Unowsky schreibt, dass »anti-Jewish riots woold soon culminate in a chaotic carnival of violence in Nowy Sącz, Limanowa and Brzesko triangle in the last days of June« (The Plunder, S. ). In den zeitgenössischen Zeitungen ist die Schreibweise Sandec, es gibt aber in der wissenschaftlichen Literatur auch die Schreibweise Sandez (z. B. Kraft, Die jüdische Frage, S. ). Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S. ; Der Israelit, Heft , .., S.  f. Unowsky hat auf den besonders gewaltttätigen Charakter der Unruhen in diesem Distrikt mit der Überschrift des entsprechenden Buchkapitels hingewiesen: »Spinning out of Control«, S. . Unowsky, The Plunder, S.  ff. Unowsky spricht vom »largest single riot of «, ebd., S. .

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vor allem Bauern aus der Umgebung der Stadt, aber auch viele Stadtbewohner, ja ganze Familien begannen die Geschäfte mit Steinen zu bewerfen, zu plündern und Plünderungsgut abzutransportieren oder sahen dem Treiben zu. Viele Juden konnten sich bei christlichen Nachbarn verstecken. Die Ausschreitungen dauerten bis Mitternacht, als aus Nowy Sącz eintreffendes Militär der Gewalt ein Ende setzte.91 Die Gendarmen verhafteten Hunderte von Tumultuanten, von denen viele ohne Strafen freigelassen und  später angeklagt wurden.92 Später stellte ein Korrespondent, der vor Ort berichtete, in Dr. Bloch’s Österreichischer Wochenschrift die Vorgänge in Stary und Nowy Sącz etwas anders dar.93 Seiner Meinung nach standen die Ereignisse dort nur in einem indirekten Zusammenhang mit der Bauernbewegung. Während in den anderen Orten Galiziens die durch Emissäre aufgereizten Bauern die Initiative ergriffen hätten, seien in diesem Fall die Plünderungen direkt von der städtischen »Intelligenz«, namentlich Beamte, Advokaten, Lehrer, Professoren, Ärzte und christliche Kaufleute, ausgegangen, die die Bauern nur als Kulisse benutzt habe. Auslöser der Unruhen sei eine von einem örtlichen Bürger beim Bürgermeister erstattete Anzeige gewesen, in der ein jüdischer Mühlenbesitzer und Bäcker bezichtigt wurde, Mehl und Brot zu vergiften. Dies habe als Gerücht die Runde in der Stadt und den umliegenden Dörfern gemacht, dieses sei durch junge Leute aus Nowy Sącz zusammen mit einem Erlaubnisschreiben zum Schlagen der Juden verbreitet worden.94 Auch für die AZJ beteiligten sich vor allem Stadtbewohner an den Ausschreitungen und sollen die Bauern sogar dazu angestiftet haben.95 Der Israelit berichtete unter Bezugnahme auf ein Telegramm der polnischen Blätter, dass sich am . Juni in Nowy Sącz der Mob am Abend wieder zu versammeln begann und Vorbereitungen zur Wiederholung der Unruhen des Vortages traf, so dass durch den Einsatz von Kavallerie neue Ausschreitungen nur mit Mühe verhindert werden konnten.96 Der Statthalter selbst, der in die Stadt gekommen war, machte einen Rundgang und inspizierte die Lage. Strömender Regen trieb die Menge schließlich am späteren Abend auseinander. Militärstreifen sicherten die Ruhe auf den Straßen.  Ebd., S. -. Eine »Menschenlawine« aus den Dörfern sei in die Stadt eingebrochen und habe alle jüdischen Geschäfte und Häuser geplündert, Wirtshäuser in Brand gesteckt. Die Beute wurde von »Bauernrotten mit bereitstehenden Führern« planmäßig auf hinter der Stadt vorbereiteten Fuhren abtransportiert. »Es war ein vollkommen organisierter Plünderungszug« und die ganze Stadt sei ruiniert. An der Plünderung beteiligte sich auch die einheimische christliche Bevölkerung (Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S. ).  Unowsky, The Plunder, S. ; Der Israelit, Heft , .., S. , sprach nur von  Verhafteten.  Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S. .  Ebd.  AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. .  Der Israelit, Jg. , Heft , .., S. .

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Am . Juni traf sich der Statthalter mit Vertretern der jüdischen Gemeinde, denen er staatlichen Schutz zusagte. Tatsächlich blieb Militär in der Stadt und ging Patrouille. Die Juden hielten ihre Läden geschlossen, und der gesamte Handel im Bezirk war lahmgelegt, zumal der Neu-Sandecer Magistrat alle Wochenund Jahrmärkte bis auf weiteres absagte. »Den Geschäftsleuten, auch den christlichen, droht der völlige Ruin. Die Mittelklasse befürchtete eine Hungersnot«.97 Der Bürgermeister erließ einen Aufruf an die Bevölkerung, in der er sie vor weiteren Exzessen warnte, da dies nur zu einer Vergrößerung des Elends der Einwohner führen würde. Im Falle eines erneuten Tumults würden die schärfsten militärischen Mittel eingesetzt werden. Auch in den Orten der Umgebung kam es zu Ausschreitungen, bei denen das Militär von der Schusswaffe Gebrauch machen musste, wobei es zu Verletzten kam.98 Der Schaden im Alt-Sandecer Gebiet wurde auf . fl. geschätzt. Verhaftet wurden  Personen.99 Die Inspektion des Statthalters und des Bezirkshauptmanns in Alt-Sandec habe laut AZJ »wahrhaft haarsträubende Details an den Tag gebracht«. »Ein großer Teil der Stadtbevölkerung scheint an einem organisirten Raubzuge theilgenommen und das Hab und Gut der Juden förmlich unter sich vertheilt zu haben. Angesehene Bürger sind kompromittirt und sollen verhaftet werden. Das Landvolk wurde von ihnen offen zum Raube und zur Plünderung aufgefordert. Es wurde eine sehr ausgedehnte Hausdurchsuchung vorgenommen und dabei sei eine Menge von gestohlenen Sachen, selbst bei sehr angesehenen Leuten, vorgefunden« worden. Die Panik unter der Bevölkerung sei sehr groß und selbst das Standrecht habe nicht zu einer vollkommenen Beruhigung der Lage geführt.100 Auf diese heftigen Unruhen hin reagierten die galizischen Behörden und die Regierung in Wien und verhängten über  Bezirke den Ausnahmezustand und in Nowy Sącz und Limanowa sogar das Standrecht, was offenbar auf die Bauern sehr abschreckend wirkte und zur Beruhigung der Lage führte,101 obwohl laut AZJ die polnischen Zeitungen dennoch im Juli über neuerliche Angriffe auf Juden ungeachtet des Ausnahmezustandes berichteten.102 Die Verhängung des Ausnahmezustandes wurde von der christlichen Bevölkerung als überzogene Maßnahme kritisiert. Nach     

Der Israelit, Heft , .., S.  f. Mit zahlreichen Beispielen: Der Israelit, Heft , .., S.  f. AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. . Ebd. Ein Korrespondent berichtete von seiner Rundreise »Durch das galizische Aufruhrgebiet«, »dass seit der Verhängung des Standrechtes […] in Neu-Sandec eine merkwürdige Erscheinung wahrnehmbar« sei. »Die Bauern kommen wieder ruhig zur Stadt und machen ihre Geschäfte mit den Juden, als ob nichts geschehen wäre. Viele von ihnen versichern, daß sie das Vorgegangene bedauern und nur deshalb mitgetan hätten, weil man ihnen sagte, es liege ein obrigkeitlicher Befehl zur Beraubung der Juden vor. Die Städter aber gehen mit grimmigen Gesichtern umher und ballen die Faust im Sacke« (Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Nr. , .., S. ).  AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. .

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Tim Buchen überlagerten der Ausnahmezustand und die zahlreichen christlichen Opfer die gegen die Juden verübten Verbrechen in der kollektiven Erinnerung der Landbevölkerung, die sich nun primär selbst als Opfer staatlicher Gewalt sah.103 Nachdem die Unruhen in Westgalizien abgeflaut waren, befürchte man Mitte Juli , dass die Bauernbewegung nun auf die ostgalizischen Bezirke übergreifen könnte, da Berichten zufolge sich im Bezirk Tarnopol massenhaft Bauern und Kleinhäusler versammelten und es auch schon zu Exzessen und Schlägereien gekommen sein soll.104 Die wenigen Ausschreitungen in Ostgalizien (an  Orten) verliefen allerdings nach Unowsky wesentlich schwerer.105 Tim Buchen verweist ebenfalls auf den anderen Charakter der interethnischen Konflikte zwischen Juden, Polen und Ukrainern in Ostgalizien, wo Juden in vielen Orten die Mehrheit stellten und sich durchaus heftig zu wehren wussten. In den jungen Städten Ostgaliziens, die aufgrund des Erdölbooms schnell gewachsen waren, waren Konflikte zwischen den Arbeitern an der Tagesordnung. Die antijüdischen Übergriffe gingen dabei zumeist von ortsfremden römisch-katholischen Wanderarbeitern (Eisenbahnbau, Flussregulierungen) in der Region aus und verliefen äußerst gewalttätig, zumal die Juden ihrerseits häufig mit Gewalt gegen die Angreifer vorgingen. In diesen Konflikten fehlten die Gewalt minimierenden Regeln, die zwischen Ortsbewohnern sonst galten.106 Wenn man sich die Ziele der Angriffe in Westgalizien ansieht, so findet sich ein konsistentes Muster.107 Die Gewalt richtete sich selten gegen die religiösen und kulturellen Einrichtungen der Juden, und auch schwere physische Übergriffe waren die Ausnahme. Zwar wurden Juden bei den Übergriffen verletzt, einige sogar  Buchen, Galizische Bauernunruhen, S. .  AZJ, Jg. , Heft , .., Der Gemeindebote, S. .  So die Ausschreitungen durch Eisenbahnarbeiter in Tluste. s. o.; Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. ; vgl. auch Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S.  f.  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  ff.: Gewalt unter Gleichstarken? Die Unruhen in Ostgalizien im Überblick.  Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. , spricht ebenfalls davon, dass der »Ablauf stets recht ähnlich war«. Ein Bericht aus dem Ort Dukla schildert den Verlauf der Unruhen im Nachbarort Kolaczyce. Dort habe sich am Donnerstag, dem . Juni, der christliche Mob des Städtchens zusammengerottet und begonnen, die Häuser von Juden mit Steinen zu bewerfen und jüdische Passanten zu attackieren. Die Juden des Ortes sandten eine Deputation an den Bezirkshauptmann nach Jasło, der sie vertröstete und keine Gendarmen schickte. Daraufhin begann am Sonntag, dem .., die städtische Bevölkerung durch Bauern aus der Umgebung verstärkt eine förmliche Plünderung bei den Juden, von denen viele unter Zurücklassung ihres Hab und Gutes flüchteten. Dadurch ermutigt, organisierten die Tumultuanten einen Beutezug nach Jasło, wo sie aber von der Gendarmerie und »der intelligenten Bevölkerung« vom Einzug in die Stadt zurückgehalten werden konnten, woraufhin sie aus Rache die in der Nähe gelegene jüdische Spiritusbrennerei anzündeten (Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S.  f. – Correspondenzen); dieselbe Zeitung gab in Heft , .., S. , eine davon abweichende Darstellung der Ereignisse rund um die Verteidigung von Jasło.

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schwer, doch gab es unter ihnen keinen Toten.108 Hauptziele waren einmal die von Juden geführten Dorfschänken, Brauereien und Alkoholraffinerien, die man als Symbole der jüdischen Dominanz angriff. Man bezichtigte die Juden ähnlich wie im Zarenreich der Förderung der Trunksucht in der bäuerlichen Bevölkerung. Die Fenster der Schänken wurden eingeworfen, die Einrichtung geplündert, die Möbel zerstört, Schänken und Spirituslager und Alkoholraffinerien in Brand gesteckt und Alkohol und Lebensmittel wurden vor Ort konsumiert oder weggeschleppt. Der durch Plünderungen winkende Gewinn verlockte vor allem die Angehörigen der armen Unterschicht, gegen Juden vorzugehen und regelrechte kleine Raubzüge zu veranstalten. In manchen Fällen blieb es nicht bei Steinwürfen und Plünderungen, sondern es wurden die Gebäude auch angesteckt. Häufig begannen die örtlichen Unruhen durch Streit mit betrunkenen Bauern in einer jüdischen Schänke oder Händel auf dem Marktplatz. Das zweite wesentliche Ziel bildeten die Geschäfte und die Häuser von Juden, wobei man auch hier z. T. selektiv vorging und vor allem die Häuser und Scheunen jüdischer Grundbesitzer oder Gutsverwalter sowie von jüdischen Brauern attackierte.109 Die Anwendung von Gewalt blieb begrenzt, meist beschränkte sich die christliche Bevölkerung auf Steinwürfe gegen jüdische Häuser und Läden oder auf eine Katzenmusik, d. h., man bediente sich traditioneller Formen der Bestrafung (Rügebräuche), mit denen die Mehrheit die Minderheit in ihre Grenzen verweisen wollte. Tim Buchen hat auf der Basis von Täteraussagen vor Gericht einen solchen Raubzug von Landarbeitern und Bauern rekonstruiert und dabei sowohl die Interaktionen zwischen den Beteiligten sowie zwischen diesen und der jüdischen Schankwirtin, die Rolle von Gerüchten zur Erlaubnis, gegen die Juden vorzugehen, sowie die Dynamik des Gruppenhandelns detailliert beschrieben. Verhörprotokolle zeigten, dass nicht ungebildete Menschen einer Täuschung aufgesessen waren, sondern dass sie aus eigenem Entschluss ihre jüdischen Nachbarn terrorisieren und ausrauben wollten, wobei die angebliche »Erlaubnis« nur ein Argument von vielen war, sich selbst und andere zum Handeln zu motivieren.110

 Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. .  Stauter-Halstead, Jews as Middleman Minorities, S. . Vgl. dort auch zur Veränderung der Position des jüdischen Schankwirts im Zuge der Emanzipation der Bauern von einer wichtigen ökonomischen und informationellen Funktion im Kontext des Dorfes hin zum Image des ökomischen Ausbeuters. »Perception of the Jews as profiting unfairly at the expense of the impoverished peasants began to upstage the more cooperative aspects of this relationship« (S. -). Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S.  f., konstatierte aber schon am . Juni, die Plünderungsaktion beginne sich bereits auch gegen die Gutsbesitzer selbst zu kehren.  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. -. Auch Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S.  f., schildert einen solchen typischen kleinen Raubzug einer kleinen Gruppe von zwischen  und  Jahre alten Tagelöhnern für das kleine Dorf Rozdziele. Obwohl die »minderbemittelten« Täter nur Diebesgut von geringem Wert erbeutet und einiges sogar am nächsten Tag wieder zurückgebracht hatten, wurden sie recht hart bestraft.

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Die Tumultuanten und die Reaktion von Polizei und Justiz Man kann bei Ausschreitungen grob zwischen der geringeren Zahl von lokalen Anführern, die die Unruhe vor Ort schüren, Gerüchte verbreiten und bei der Ausübung von Gewalt vorangehen, von der größeren Gruppe der »followers«, die Steine werfen und plündern, sowie der größten Gruppe, den Zuschauern, unterscheiden, aus denen sich immer wieder einige zum Mittun entschließen. Nach Unowsky kamen in Galizien einige der aktivsten Anführer, Agitatoren und Organisatoren der Unruhen aus den gebildeten Schichten, hatten Verbindungen zu den politischen Bewegungen und waren regelmäßige Leser der antisemitischen katholischen Presse. Oft waren es lokal anerkannte Personen. Insgesamt scheinen in der zweiten Kategorie Angehörige aller sozialen Schichten zu finden gewesen sein. Unowsky nennt Bauern, Tagelöhner, Bergleute, Eisenbahnarbeiter, Stadträte, Dorfälteste, Lehrer, Ladenbesitzer, die allen Altersklassen entstammten, auch Frauen aller Altersgruppen.111 D. h., die Täter waren keineswegs nur halbstarke jugendliche Analphabeten, wie verharmlosend oft behauptet wurde. In dem von Buchen untersuchten Ort Lutcza waren von den  später Angeklagten nur zwölf unter zwanzig Jahre alt,  waren volljährig, also über  Jahre alt. Das Durchschnittsalter lag bei  Jahren. Es waren mehrheitlich verheiratete Familienväter und -mütter (siebzig Männer, zwölf Frauen). Zwei der Männer übten sogar die Funktion eines Gemeindepolizisten aus!112 Daniel Unowsky zeichnet insgesamt ein gemischtes Bild des Verhaltens der staatlichen Ordnungskräfte.113 Wie im Zarenreich waren auch in Galizien die Polizei und die Gendarmerie unterbesetzt, worüber sich der Gouverneur der Provinz, Leon Piniński, in Wien beschwerte. Auch waren die örtlichen Polizeiführer ihrerseits keineswegs frei von antijüdischen Einstellungen. Die örtliche Polizei sah sich zudem gegenüber den Ortsbewohnern in einem gewissen Loyalitätskonflikt, der für sie ein hartes Durchgreifen erschwerte, anders als das eigens herbeigerufene Militär, das kompromissloser vorgehen konnte. In vielen Fällen reagierten deshalb viele Akteure der örtlichen Verwaltung mit Verweis auf die ängstliche Natur der Juden eher sehr zögernd auf deren Hilfeersuchen. Die wenigen Ordnungskräfte auf dem Lande waren in vielen Fällen auch bei gutem Einsatzwillen gar nicht in der Lage, gegen eine große Menge von Tumultuanten effektiv vorzugehen, zumal die Bauern nicht vor Angriffen auf die Polizisten und Gendarmen zurückschreckten. Die meisten der tödlichen Schüsse oder Bajonettstiche geschahen aus einer bedrängten Situation der Ordnungskräfte heraus. Wie auch in anderen antijüdi Unowsky, Local Violence, S.  und .  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. ; ein ähnliches Profil weisen die  Täter aus einem Dorf bei Limanowa auf:  waren zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt, fünfzig waren verheiratet,  hatten ein Kind. Unter den Verurteilten waren auch neun verheiratete Frauen,  stammten aus den Dörfern der Umgebung (Unowsky, The Plunder, S.  f.).  Unowsky, The Habsburg State and the Restoration of Order, The Plunder, S. -.

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schen Gewaltwellen handelten die staatlichen Sicherheitskräfte nach anfänglichen Schwierigkeiten zunehmend mit größerer Entschiedenheit, zumal man nun einen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung insgesamt fürchtete und den Rückhalt der Wiener Regierung hatte. Es folgte nun der Einsatz von Tausenden von Soldaten und Gendarmen, der ein schnelleres und entschiedeneres Eingreifen und so einen effektiveren Schutz der Juden als die örtliche Polizei ermöglichten. Das Militär ging mit großer Härte gegen Tumultuanten vor, so dass sich in der christlichen Bevölkerung Empörung über dieses, angesichts der traditionellen und zumeist begrenzten Form der antijüdischen Gewalt als unverhältnismäßig empfundene Vorgehen der Soldaten breitmachte, zumal diese die ungeliebten Juden schützten, die man häufig der Provokation beschuldigte.114 Die Zahl der getöteten und verletzten Bauern und die hohe Zahl der Verhaftungen deuten auf ein hartes Durchgreifen der Staatsorgane hin. In der Tat verzeichnete die Bilanz zwanzig Tote unter den Tumultuanten. Nach Unowsky reagierte die Justiz recht schnell. Am . Juni drängte der Oberstaatsanwalt von Lemberg die Staatsanwälte in West- und Zentralgalizien, Ermittlungskommissionen in die Pogromorte zu entsenden, und forderte alle lokalen Staatsanwälte auf, die Veranwortlichen schnell vor Gericht zu bringen, wobei man neben den Tätern vor Ort auch die intellektuellen Drahtzieher identifizieren und bestrafen wollte.115 Zur Beruhigung der Situation trug auch die Verhängung des Ausnahmezustandes in den westgalizischen Distrikten bei, der die Versammlungsfreiheit einschränkte, Schriften einer Zensur unterwarf und Organisationen verbot. Da der Staat an vielen Orten Militäreinheiten stationierte und die Soldarten hart gegen die Randalierer vorgingen,116 es viele Verhaftungen gab und Beamte in den Dörfern Hausdurchsuchungen nach gestohlenem Gut vornahmen, kamen manche Bauern offenbar zur Besinnung. »Sehr viele Bauern bekunden Reue über die Verübung der Gewaltthaten und erklären, daß sie sich die Ausschreitungen nur unter der Pression der Agitatoren zuschulden kommen ließen, welche ihnen die Ueberzeugung von der Straflosigkeit der Excesse gegen die Juden beizubringen trachteten.«117 Aus manchen Orten, etwa aus dem Bezirk Strzyżów, wurde sogar gemeldet, dass Plünderer die geraubten Gegenstände freiwillig wieder zurückbrächten.118  Buchen, Galizische Bauernunruhen, S. .  Unowsky, The Plunder, S. . Für eine detaillierte Darstellung siehe das Kapitel »The Judicial System and the Riots«, S. -.  Ein Berichterstatter bescheinigte denn auch der Wiener Zentralregierung, »dass sie ohne schwächliche Rücksicht auf die höchst fragwürdige Errungenschaft der ›galizischen Autonomie‹ die Staatsgewalt ohne Säumnis und in der energischsten Weise zur Geltung brachte« (Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Nr. , .., S. ). Es kam von antisemitischer Seite im Fall von Todesopfern und Verletzten unter den Tumultuanten zu falschen Anschuldigungen gegen das harte Vorgehen der Gendarmen, woraufhin die Vorfälle von staatlicher Seite genauer untersucht wurden und die Vorwürfe widerlegt werden konnten (dazu: Unowsky, The Plunder, Abschnitt. State Response and Public Scrunity, S. -).  Das Vaterland, .., S. , kursiver Text im Original gesperrt.  Das Vaterland, .., S. .

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. Personen wurden wegen ihrer Beteiligung an den Unruhen vor Gericht gestellt und abgeurteilt, auch wenn dies natürlich nur einen kleinen Anteil der an den Unruhen Beteiligten ausmachte, da es in manchen Fällen bei Hunderten von Pogromisten nur zu ganz wenigen Verhaftungen kam, während in anderen Fällen das Gefängnis nicht ausreichte, alle Verhafteten aufzunehmen.119 Ein Problem bestand darin, dass die Staatsanwaltschaften Verhaftete ohne Auflagen wieder freiließen oder aber Gerichte diese freisprachen, was die Bauern als Rechtfertigung ihres Vorgehens interpretierten. In manchen Fällen scheinen die Staatsanwälte die Übergriffe mit Hinweisen auf jüdisches Fehlverhalten (Wucher, das jüdische Übergewicht vor Ort usw.) geradezu verständnisvoll behandelt zu haben.120 Es gab auch einige Gerichtsverfahren gegen Juden, die den Eindruck bestärkten, dass diese für die Gewalt selbst verantwortlich gewesen seien. Nach Unowsky sollte dies den Eindruck vermeiden helfen, die staatlichen Behörden stünden ganz auf Seiten der Juden.121 Die betreffenden Beamten reflektierten diese Handlungsfolgen aber kaum, zumal sie oft logistische Probleme hatten, die große Menge der Verhafteten vor Ort überhaupt sicher unterzubringen, so dass man sich eher auf die schweren Fälle beschränkte.122 Insgesamt kommt Unowsky aber zu dem Ergebnis, dass Polizei, Militär, die galizische Verwaltung und die Gerichte durchgegriffen hätten, wobei sie von der Zentralregierung in Wien dazu ermutigt worden seien.123 Dafür spricht die große Zahl der Verhafteten und Verurteilten (wegen Diebstahl, öffentliche Gewalt, Majestätsbeleidung, Tätlichkeiten). Die Strafen lagen mehrheitlich bei einem Monat Gefängnis, Strafen über ein Jahr Gefängnis waren selten. Selbst identifizierte Gewalttäter und Anführer bekamen nur Strafen zwischen fünf und sieben Monaten.124 Unowsky weist aber auf einen problematischen Nebeneffekt der Gerichtsverfahren und ihrer massenmedialen Vermittlung an das breitere Publikum hin, in denen es nicht nur um die Darstellung der wirklichen Geschehnisse ging. Die Verfahren seien vielmehr »morality plays, depicting Jews as the enemies of the Polish-speaking Christian population […]. The ›knowledge‹ derived from  Nach Unowsky, Local Violence, S.  f., wurde gegen . Personen ermittelt, . wurden angeklagt und . wurden zu mehr oder weniger langen Gefängnisstrafen verurteilt. Einen kleinen Ausschnitt davon bieten »Die Plünderungsprocesse in Galizien«, in: Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S. , laut denen die Gerichte antijüdische Drohungen ganz unterschiedlich hart bestraften: neben Freisprüchen und kurzen Arreststrafen standen auch drei Monate Kerker.  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  f. Er zitiert aus der Anklageschrift eines Prozesses in Rzeszów.  Unowsky, The Plunder, S. , zu dem Fall, dass ein Jude angeklagt wurde, der sich offen dagegen gewehrt hatte, dass Pferde der nach Frysztak entsandten Kavallerie auf dem jüdischen Friedhof grasen sollten. Im Prozess zu den Unruhen in Nowy Sącz waren sogar neun von  Angeklagten Juden (S. ).  Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  f.  Unowsky, Peasant Political Mobilization, S.  und . Unowky, The Plunder, S.  f., führt in Kurzform beispielhaft Zahlen zu acht Gerichtsverfahren an.  Unowsky, The Plunder, S.  f.

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these sources ›made eminently plausible‹ the notion that Jewish difference equaled Jewish danger. Even as those who attacked Jews had to face legal consequences, the search for justice seemed to confirm that provocative, immoral, and arrogant Jewish behavior caused the  violence. In this way the trials were as profoundly exclusionary as the violence itself«.125 Das Verhalten der Juden Die Juden ihrerseits hatten sich angesichts der Unruhen keineswegs passiv verhalten, sondern nutzten alle ihnen zur Verfügung stehenden Kanäle, um ihren Schutz zu organisieren.126 Dazu gehörte das Kontaktieren des Justizministers ebenso wie das Nachsuchen um militärischen Schutz oder die Aufforderung an die Behörden, antijüdische Vorfälle zu untersuchen: Man schickte in Notsituationen Telegramme und suchte, nicht immer erfolgreich, um militärischen Schutz nach oder schrieb Briefe und Petitionen. Man kontaktierte jüdische Politiker und andere Führungspersönlichkeiten, damit diese sich für den Schutz der galizischen Juden einsetzten. Die betroffenen jüdischen Gemeinden mussten häufig (anders als in Preußen oder Böhmen und Mähren) selbst für die Kosten der Einquartierung aufkommen. Am . Juni erließ der galizische Statthalter Leon Graf Piniński, an den sich jüdische Abgeordnete aus Galizien um Abhilfe gewandt hatten,127 den Befehl, in den Gemeinden Bürgerwehren zu bilden, die Tag und Nacht patrouillieren sollten. Individuelle Reaktionen waren rechtzeitige Flucht, die Verbarrikadierung von Läden und Wohnungen. Viele schlossen ihre Läden und verließen den Ort, noch bevor es zu Ausschreitungen kam, oder sie versuchten durch Bestechung Angriffe auf ihren Besitz abzuwenden oder zahlten Geld, damit ihre christlichen Nachbarn sie oder ihre Habe versteckten. Pächter von Schänken vermieteten diese zeitweilig an Christen, um so einen Angriff auf ihr Wirtshaus zu vermeiden, oder versuchten den Unmut der Bauern auf die Steuer eintreibenden Beamten umzulenken.128 Es gab aber auch selbstbewusste Konfrontation der Plünderer bis hin zu aktiver Gegenwehr, die den sich Wehrenden wiederum eine Bestrafung eintragen konnte.129  Ebd., S.  f.  Vladimir Levin, Preventing Pogroms: Patterns of Jewish Politics in Early Twentieth Century Russia, in: Jonathan Dekel-Chen et al. (Hrsg.), Anti-Jewish Violence: Rethinking the Pogrom in East European History, Bloomington, Indiana, , S. -, nennt drei Handlungsoptionen auf jüdischer Seite: »intercession«, also die Mobilisierung von Unterstützung, Selbstverteidigung und langfristig den Kampf gegen den Antisemitismus, damit übersieht er aber eine ganze Reihe weiterer Handlungsalternativen. Vgl. zu den »Jewish Responses« in Galizien  auch Unowsky, The Plunder, S. -.  Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S. . Auch die Österreichische Israelitische Union wandte sich an den Ministerpräsidenten Graf von Thun, um auf die bedrohliche Lage der Juden in Galizien hinzuweisen.  Zu den vielfältigen Abwehrmaßnahmen von Seiten der Juden vgl. Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  f.  Dazu genauer: Unowsky, Local Violence, S.  f.

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Die jüdische Führungsschicht zeigte sich nach dem Ende der Gewaltwelle zufrieden mit den Maßnahmen der Regierung. Der Staat habe auf allen Ebenen überzeugend zum Schutz der Juden und ihres Besitzes gehandelt.130 Dennoch überwog unter jüdischen Politikern und Organisationen eine gewisse Angst, denn man sah in der Gewalt den Beleg für eine ökonomische und soziale Krise der Juden, die man durch eine berufliche Umschichtung weg von Kleinhandel, Geldleihe und dem Betreiben von Schänken zu überwinden hoffte. Dadurch würde sich auch das Verhältnis zur christlichen Bevölkerung verbessern. Auch wenn Juden in einigen Fällen nicht mehr in ihre Wohnorte zurückkehrten oder ihre Läden aufgeben mussten, ist es nach Unowsky doch nicht zu einer dramatischen Änderung der ökonomischen Beziehungen gekommen, d. h., die Bauern kauften weiterhin in jüdischen Geschäften ein. Es kam auch nicht zu einem Anschwellen der jüdischen Emigration aus Galizien.131 Das Wiener Handelsblatt wies Ende Juni auf die verheerenden wirtschaftlichen Folgen nicht nur für die jüdischen Händler hin, deren gesellschaftliche Existenzen zu Tausenden zerstört seien, sondern auch auf den heimischen Handel in Österreich. Das Geschäft in den Dörfern und Landstädtchen Galiziens werde ja ausschließlich durch jüdische Krämer vermittelt, die wiederum ihren Warenbedarf bei Zwischenhändlern deckten, die nun ihrerseits durch den Ruin ihrer Kunden enorme Verluste erlitten, so dass Erstere ihrerseits keine Einkäufe mehr tätigen und ihre offenen Rechnungen in der Wiener Wirtschaft nicht begleichen könnten. Die Wiener Kaufmannschaft wolle deshalb bei der Regierung um Abhilfe bitten.132 Anfang Juli  schildert ein Special-Correspondent von Dr. Bloch’s Österreichischer Wochenschrift die traurige Situation jüdischer Flüchtlinge, die aus den kleineren Orten in die Garnisonsstadt Jasło geflohen waren, die besseren Schutz bot. Allerdings kehrten vor allem Juden aus den Städten, ermutigt durch den nun überall präsenten militärischen Schutz zurück, um ihre Läden und Häuser wieder herzurichten.133 Der Korrespondent berichtete von der Präsenz des Militärs überall auf dem Lande und machte sich ein Bild an den von den Unruhen betroffenen Orten, wobei er auch die Darstellung der Vorfälle seitens der einheimischen Bevölkerung wiedergab. Öffentlicher Streit über die Ursachen der Unruhen in Presse und Politik Von Beginn der Welle antijüdischer Ausschreitungen im März  bis zum Abschluss der Prozesse im Januar  stritten sich Journalisten und Politiker aller politischen Lager über die Ursachen und die Verantwortung für die Unruhen sowie über die Maßnahmen, wie man die Probleme, die als Ursache der Unruhen ange Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. .  Unowsky, The Plunder, S.  ff.  Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S.  f. (»Durch das galizische Aufruhrgebiet«).  Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .. S.  f.

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sehen wurden, am besten lösen könne.134 In der Presse wurde die Verantwortung zumeist unbekannten Hetzern und Agitatoren zugeschrieben, die sich aber »sorgsam im Dunkeln hielten« und nicht eruiert werden konnten. Aber es wird auch auf konkrete Personen als Urheber verwiesen, so auf Pater Stojałowski und seinen Anhang.135 Es gab aber auch Anschuldigungen gegen den niederen Klerus, der gepredigt habe, nicht bei Juden zu kaufen oder bei ihnen zu dienen.136 In Dr. Bloch’s Österreichischer Wochenschrift wurde aber auch der polnische Adel (die Slachta) für die Unruhen verantwortlich gemacht, der den gegen ihn gerichteten Unmut der Bauern auf die Juden abzulenken versucht habe.137 Die polnischen Konservativen sahen das natürlich nicht so. Die konservative Zeitung Czas »sah gleichermaßen in den Sozialisten wie in der Stojałowski-Bauernpartei die auslösenden Momente der Unruhen«.138 Dabei befürchtete die Zeitung, das harte Vorgehen der Regierung, die zugunsten der Juden auf die polnischen Bauern schießen ließ, würde den Konservativen zugerechnet werden, da sie die Regierung dominierten. Es hieße, »die Pans und die Juden ließen auf die Bauern schießen«, wodurch die antikonservative Stimmung gefördert würde, die beiden Parteien diene.139 Während und nach den Unruhen hatten der Polenclub im Reichsrat, die Vertreter der besitzenden Schichten und die hohe Geistlichkeit die Gewalt verurteilt und ein energisches Einschreiten des Staates gefordert, da man sich durch den unterstellten umstürzlerischen Charakter der Gewalt wohl auch selbst bedroht fühlte.140 Von jüdischer Seite  Sie dazu ausführlich Unowsky, The Plunder, Kap. : Politics, Policy, and Christian-Jewish Relations, S. -.  Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S. , in derselben Zeitung auch in Heft , S.  f., ähnlich zu den Hintergründen. Der Israelit, Heft , .., S.  f., antwortet auf die Frage, wer die galizischen Bauern zu den Revolten verleitet habe, dass die Wiener Antisemiten (Lueger, Schneider, Liechtenstein u. a.) Schuld seien, die gezeigt hätten, dass der Antisemitismus ein politisch lohnendes Geschäft sei, was nun unter den galizischen Abgeordneten Schule gemacht habe, die im Reichsrat gehört hätten, dass die Juden an allen Miseren schuld seien, was sie dann ihrer bäuerlichen Klientel weitervermittelt hätten.  Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .., S. . Auch Der Israelit, Heft , .., S. , sah in den Seelsorgern die intellektuellen Urheber antijüdischer Gewalt, dass diese »dem dummen und rohen Volke zuwinken: bicie zydów, schlaget die Juden.«  Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Heft , .. ; Heft , ...  Czas , .., S. , zit. bei Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. . Der deutsche Konsul in Lemberg machte ebenfalls die sozialistische und die Stojałowskische Agitation für die Unruhen verantwortlich, lokalisierte die Schuld aber vor allem bei den Juden selbst. Die Bewegung habe nicht künstlich in die Bevölkerung hineingetragen werden müssen, sondern sei eine natürliche Reaktion auf die Ausbeutung durch die Juden gewesen, gegen die die österreichische Regierung nichts unternehme, da diese bei Wahlen die Regierung unterstützen (ebd.).  Ebd.  Dazu ausführlich Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. . Der Israelit, Heft , .., S. , druckte einen Beschluss des Polenclubs zu den galizischen Exzessen ab: »Der Polenclub verdammt mit größter Entrüstung die umstürzlerischen Excesse, welche für das Land sehr schädlich sind. Indem der Polenclub die energische Thätigkeit

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bedauerte man, dass sich, abgesehen von einigen lokalen Offiziellen nur wenige nicht-jüdische Liberale, Konservative und Sozialdemokraten öffentlich für die Opfer der Unruhen eingesetzt hätten.141 Diese mangelnde Unterstützung und die Tatsache, dass die gebildeten Schichten in Galizien die antijüdische Gewalt sogar befördert hätten, ließ die städtische jüdische Elite das Ziel der polnisch-jüdischen Verständigung und langfristigen Polonisierung der Juden in Frage stellen.142 Die Angeschuldigten wiesen den Vorwurf, sie hätten die Unruhen angestiftet oder koordiniert, zurück. Der Führer der Sozialisten in Galizien, Ignacy Daszyński, interpretierte die Unruhen ganz anders. Er kritisierte das harte Eingreifen des Militärs und war der Meinung, die Verhängung des Ausnahmezustandes sei aufgrund der Erfolge der Sozialdemokraten angeordnet worden. Die Unruhen hätten den Konservativen Graf von Thun und Hohenstein und Leon Graf Piniński, die er als geheime Anhänger des Antisemitismus hinstellte, die Chance geboten, »mit aller Heftigkeit vor allem gegen die Sozialisten loszuschlagen«.143 Auch Stojałowski wies die Anschuldigungen zurück, ja bestritt sogar, dass es überhaupt ernste Ausschreitungen gegeben habe. Für ihn waren es irrelevante Jugendstreiche, die zudem von den Juden provoziert und genutzt worden seien, um die Regierung zur Repression der antisemitischen Bewegung zu veranlassen.144 Er bestritt eine Verantwortlichkeit seiner Partei, da die Unruhen vor allem an Orten stattgefunden hätten, an denen die Wähler des konservativen Polnischen Clubs oder der jüdisch-liberalen SL lebten. Wie seine eigenen Zeitungen und auch die anderen antisemitisch agitierenden Blätter Związek Chłopski, Prawda und Głos Narodu immer wieder behauptet hatten, so machte er für die Gewalt jüdische Arroganz und Provokationen, Wucher und die von Juden betriebenen Wirtshäuser verantwortlich. Auch die Zeitung der SL, Przyjaciel Ludu, verurteilte die Ausschreitungen nicht und kritisierte die Verhän-

  

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des Statthalters Piniński anerkennt, wird das Klubpräsidium beauftragt, beim Ministerpräsidenten und Justizminister eine energische Unterstützung der Thätigkeit des Statthalters zu befürworten, damit er mit allen Kräften gegen die umstürzlerischen Unruhen auftreten kann«. Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. . Ebd., S. . Zit. bei Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. . Interessanterweise vertrat auch Der Israelit, Heft , .., S. , die Meinung, dass die Juden, weil sich ein Teil der galizischen Juden der Sozialdemokratie angeschlossen hätte, als Sündenböcke dafür herhalten mussten, dass sich die Agitation der Sozialdemokraten gegen den Klerus richtete. Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. . Sogar ein Staatsanwalt war der Meinung, dass die Schuld an den Unruhen nicht auf Seiten der Bauern, sondern auf der der Juden gelegen habe. Er wertete die Weigerung eines Juden, die Pferde der einquartierten Husaren auf dem jüdischen Friedhof grasen zu lassen und stattdessen den christlichen Friedhof als Alternative genannt zu haben, als Provokation, obwohl es zu keinerlei Unruhen gekommen war. Der Verteidiger sah allenfalls eine Beleidigung der Kirchengewalt, aber kein Verbrechen der Aufreizung. Das Gericht verurteilte den jüdischen Angeklagten zu einem Jahr schweren Kerkers und zum Fasten in jeder zweiten Woche, während christliche Angeklagte, denen Gewalttaten nachgewiesen werden konnten, nur drei bis vier Monate Haft bekamen (Der Israelit, Heft , .., S. ).

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gung des Ausnahmezustandes und den harten Einsatz bei der Niederschlagung der Unruhen. Es finden sich keine Distanzierung von den Ereignissen und kein Bedauern über die Schädigung der Juden.145 Alle Probleme der bäuerlichen Bevölkerung, wie Armut, Trunksucht, Unmoral, Unwissenheit und Analphabetentum, ja sogar die Ausschreitungen selbst wurden den Juden angelastet. Stojałowski beschuldigte sie zudem, ihre Lügen über die Ausschreitungen durch jüdische Zeitungen in aller Welt zu verbreiten und um Schutz nachzusuchen, wo dieser gar nicht nötig sei. Hinter den Unruhen habe keine Partei gestanden, sondern es habe sich um den spontanen und gerechtfertigten Ausbruch der Wut der unschuldigen Bauern gegen die jüdische Vorherrschaft gehandelt. Die Anwendung von Gewalt gegen die unbewaffneten Bauern sei von den Gendarmen ausgegangen und auf den Einfluss der Juden in der höheren Provinzverwaltung zurückzuführen.146 Eine andere Variante, die Verantwortung von den Antisemiten abzulenken, vertrat die Zeitung der Potoczeks, Związek Chłopski. Sie bestritt nachträglich zwar nicht das Vorkommen schwerer Unruhen und sah auch die aufwiegelnde Wirkung der antisemitischen Agitation, ohne aber die Rolle ihrer eigenen Agitation selbstkritisch zu reflektieren, obwohl man die Unruhen als Schande verurteilte und das Eingreifen der Regierung nicht als zu hart kritisierte. Die Zeitung bemühte aber eine Verschwörungstheorie, wonach die Agitation von einer »versteckten Hand« organisiert worden sei, um den legitimen Widerstand gegen die jüdische Herrschaft zu verleumden und die Regierung zum Handeln gegen die antisemitische Bewegung zu bewegen. Schuld an den Unruhen seien also nicht die Bauernbewegung, sondern deren Gegner gewesen.147 Die galizischen Unruhen wurden Gegenstand einer zehnstündigen Debatte im Reichsrat in Wien am . und . November . Nach Unowsky hatten die Debattenbeiträge einige gemeinsame Elemente: »Politicians depicted Catholic Galician peasants as innocents manipulated for nefarious ends. Jews were portrayed as moneylenders, alcohol-sellers, and unscrupulous abusers of the rural population who were essentially responsible for the violence.«148 Nur der jüdische Abgeordnete des Polenclubs aus Lemberg, Emil Byk, und der Ministerpräsident Franz von Thun und Hohenstein verteidigten das Vorgehen des Staates. Der Führer der Sozialdemokratie, Ignazcy Daszyński, beschuldigte die Konservativen, sie hätten die antisemitische katholische Zeitung Prawda unterstützt, um Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen. Sie würden nun die Gelegenheit nutzen, die Sozialdemokraten für die Unruhen verantwortlich zu machen. Die Vertreter der antisemitischen Bauernparteien Stojałowski, Jan Potoczek und Jan Stapiński wiederholten ihre Anschuldigungen gegen die Juden, kritisierten den harten Einsatz der Behörden gegen die galizischen Bauern und verharmlosten die Ereignisse, während die jüdischen Abge Kraft, Die jüdische Frage, S. .  Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. ; zu den abwiegelnden Reaktionen Stojałowskis auch: Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. .  Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. .  Unowsky, The Plunder, S.  f. Siehe dort die detaillierte Darstellung der Parlamentsdebatte, S. -.

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ordneten aus Galizien dazu schwiegen. Nur einer von ihnen, der bereits genannte Emil Byk, verteidigte die Konservativen und lobte den Ministerpräsidenten und den Statthalter Piniński für ihren Einsatz zum Schutz der Juden. Er sah die Schuld für die Unruhen in der Partei Stojałowskis.149 Nach Meinung von Claudia Kraft passte die »Akzeptanz der antijüdischen Ausschreitung […] zu dem politischen Klima, das gegen Ende des . Jahrhunderts die Reichsratsdebatten in Wien, aber auch das politische Leben in verschiedenen Landesteilen des Habsburgerreiches bestimmte«.150 Ursachen und Folgen der Ausschreitungen Was die Frage nach den Ursachen der galizischen Bauernunruhen angeht, so sind sich die meisten Forscher darin einig, dass die Bauern weder aus einem polnischen Nationalgefühl heraus noch aus Hass auf die Habsburgermonarchie gegen die Juden vorgingen.151 Während Frank Golczewski die Abneigung der Bauern gegen die Juden in hohem Maße als religiös begründet ansieht, wobei er religiöse Motive auch als Fundament der ökonomischen Vorwürfe sieht, die von der Bauernbewegung durch ihre Agitation angeheizt worden seien,152 bestreitet Daniel Unowsky die zentrale Bedeutung der Religion, obwohl im März  kurzzeitig Ritualmordgerüchte auftauchten und die Schrift Jüdische Geheimnisse mit ihren Vorwürfen gegen die Lehren des Talmud kursierte.153 Er sieht auch nicht, dass die antisemitischen Kampagnen, die eine Vertreibung der Juden vom Lande und die Ersetzung durch polnisches Kapital forderten, den Ausbruch der Unruhen erklären könnten. Seiner Meinung nach spricht es gegen die von Kai Struve vertretene These, die Unruhen seien durch den angewachsenen Antisemitismus der polnischen Bauern verursacht worden, dass sich nach dem Abflauen der Gewalt – sehr zum Verdruss der antisemi Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. .  Kraft, Die jüdische Frage, S. . So stieg die Zahl der christlich-sozialen Abgeordneten mit dezidiert antisemitischer Haltung im Reichsrat von  auf , und der Antisemitismus spielte in den Debatten immer häufiger eine Rolle.  Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S.  f.; Stauter-Halstead, Jews as Middleman minorities, S.  ff.; Unowsky, Peasant Political Mobilization, S.  ff.; Unowsky zitiert als Beleg für das fehlende Nationalgefühl, dass manche der Tumultuanten drohten, sich gegen den Landadel und gegen die Rechtsanwälte und Notare zu wenden, wenn man mit den Juden fertig sei (S. ).  Nach Golczewski musste die polnische Bauernbewegung das »religiöse Haßmotiv« verwerten, weil sie sonst die Bauern nicht erreicht hätte, da diese wegen ihrer Habsburgtreue nicht gegen die Obrigkeit aufzuwiegeln und ökonomische Argumente zu kompliziert zu vermitteln waren. Deshalb nahmen die Agitatoren Zuflucht bei den klerikalen, ökonomisch ausbaubaren Vorurteilen der Bauern gegenüber den Juden (Polnisch-jüdische Beziehungen, S. ).  Auch Stauter-Halstead, Jews as Middlemen minorities, S. , sieht die Gruppen wütender junger Männer als »not driven by anti-Jewish homilies in parish churches, nor were they preoccupied with the racist rhetoric of contemporary social Darwinists«.

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tischen Presse – das vorherige, ambivalente Verhältnis zwischen Bauern und Juden wiederhergestellt habe.154 Wenn weder Nationalismus noch religiöser Hass noch verbreiteter Antisemitismus den Ausbruch der Unruhen erklären können, was ist es dann? Unowsky favorisiert eine Erklärung, wie wir sie auch für andere Wellen antijüdischer Ausschreitungen im . Jahrhundert kennen und selbst vertreten, nämlich, dass die Gewalt dazu dienen sollte, die gestörte alte Ordnung angesichts von als nachteilig empfundenen Neuerungen wiederherzustellen und dabei die Juden, die von den neuen Entwicklungen weniger negativ betroffen zu sein schienen, auf den ihnen zukommenden Platz in der Gesellschaft zu verweisen: »The violence may be viewed in part as an attempt to show the Jews their place, to express frustration at how things no longer were the way they were supposed to be, and restore a sense of balance and justice to the countryside«.155 Diese Position wird auch von Tim Buchen vertreten. Seiner Meinung nach enthielten fast alle Formen der Ausschreitungen von , wie etwa die Katzenmusik und die Stockschläge und Steinwürfe gegen die Häuser, »Motive des Bestrafens und Verängstigens der Juden für angeblich unangemessenes Verhalten und als Warnung vor schlimmeren Konsequenzen«.156 Das Motiv der Bereicherung war dabei sekundär, auch wenn es viele zum Mitmachen bewogen haben mag. Nach Ausbruch der Unruhen kamen aktuelle Normverletzungen hinzu, die darin bestanden, die Gendarmen gegen die Bauern zu Hilfe geholt und bei der Verhaftung randalierender Bauern ein provozierendes, freches Verhalten an den Tag gelegt zu haben. Nach dem Empfinden der Bauern war die Ordnung zudem dadurch gestört, dass die Obrigkeit in diesem Konflikt, den man durch gewalttätige Selbsthilfe auf eigene Weise regeln wollte, die Partei der Juden ergriff. Man rechnete die eigenen Opfer vor, ohne sie in irgendeinen Zusammenhang mit dem eigenen Anteil am Ausbruch der Gewalt zu bringen. Die Juden hätten zudem die Wahlerfolge der Bauernparteien durch ihre Stimmen für andere Parteien verhindert. Nach Buchen verfolgten die Bauern mit den Unruhen ein doppeltes Ziel: sie wollten ihren Status gegenüber Juden und gegenüber dem Staat neu aushandeln.157 Er weist aber darauf hin, dass dieses Motiv niemals allein und nicht immer im Vordergrund stand, so dass man diese Ausschreitungen nicht als Unterschichtenprotest verharm Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. , er bezieht sich auf Struve, Bauern und Nation in Galizien, S.  f.  Ebd. Unowsky, The Plunder, S. , zitiert die Zeitung Glos Naroda vom . Juli , S. , dahingehend, dass die Pogromisten den Juden eine Lektion erteilen wollen und forderten, dass diese »aufhören sollten zu betrügen und stattdesen arbeiten sollten wie sie«. Auch nach Tim Buchen bildeten »die sozioökonomische Statusverschiebung zwischen Christen und Juden, die der vorgestellten christlichen Superiorität widersprach«, ein zentrales Motiv (Antisemitismus in Galizien, S. ).  Diese Rügebräuche des Krachschlagens konnten sich auf dieses Moment der symbolischen Bestrafung beschränken, aber auch in Plünderungen, physischen Angriffen und Brandstiftungen ausarten. Er gibt einige Beispiele: Koszarowa vom .-. Juni , Targanice, .-. Juni (Buchen, Antisemitismus in Galizien, S.  ff.),  Vgl. ebd., S.  ff.

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losen sollte, da die Unruhen in den meisten Fällen eskalierten und zu erheblichen Zerstörungen jüdischen Eigentums führten, zwanzig Tote und eine hohe Zahl von Verletzten, vornehmlich auf Seiten der Bauern, forderten und Juden z. T. ihre Wohnorte verließen. Insofern muss m. E. auch die emotionale Seite der Gewalt, noch angestachelt durch die antisemitische Agitation, in Rechnung gestellt werden, denn für die Bestärkung dieses Gefühls der Frustration und dessen Ablenkung auf die vermeintlichen Urheber, die Juden, spielte sie eine zentrale Rolle. Insofern ist der Zeitpunkt des Ausbruchs der Gewalt in einer Phase der aufgeheizten antisemitischen Agitation im modernen, auf Massenmobilisierung zielenden Wahlkampf des Frühsommers  erklärlich, die sich traditioneller Anschuldigungen, wie Ritualmordvorwürfen, jüdische Immoralität und Korruptheit, bediente.158 Auch die Gerüchtekommunikation war in dieser Phase von großer Bedeutung, wurden dadurch doch die Zerstörungen und die Plünderung jüdischen Eigentums legitimiert, wenn nicht gar befohlen. Unowsky weist darauf hin, dass diese Gerüchte sich gerade in den westgalizischen Gebieten, in denen die antisemitischen Wahlkampagnen liefen, in denen die Bauernparteien die Juden für die Nöte der Bauern verantwortlich machten, verbreitet hätten.159 Zum Beleg für seinen Erklärungsansatz charakterisiert er eine typische Konfliktsituation folgendermaßen: Junge Männer besuchten die Schänken, tranken große Mengen von Bier und Schnaps und stahlen Nahrungsmittel. Wurden sie von den jüdischen Besitzern daraufhin zur Rede gestellt, beriefen sie sich auf die Erlaubnis seitens der Autoritäten und begannen die Juden anzugreifen, tranken noch mehr Alkohol und fingen an, Türen aufzubrechen und Fenster einzuwerfen.160 Auch wenn die Unruhen nicht durch einen polnischen Nationalismus auf Seiten der Bauern motiviert waren, führte die Gewalt nach Unowsky doch zu einer Verhärtung der sozialen und kulturellen Barrieren zwischen Juden und ihren christlichen Nachbarn in Westgalizien, auch wenn sich der alltägliche Kontakt in den Wirtshäusern, den jüdische Geschäften und bei der Nachfrage nach Krediten nicht veränderte. Immer wieder gab es wie in den Jahren vor  in Galizien auch danach kurze lokale Gewaltausbrüche gegen Juden, die sich aber nicht auf ein größeres Gebiet ausweiteten und nicht so viele Beteiligte umfassten.161 Juden blieben Außenseiter und vertrauten umso mehr auf den Schutz des habsburgischen Staates und weniger auf eine polnisch-jüdische Kooperation.162  »The anti-Jewish violence was closely connected to the new and vehement anti-Jewish hatred propaganda in some Roman Catholic circles in the s and to the arrival of modern political mobilization in the Galician countryside« (Unowsky, The Plunder, S. ).  Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. .  Unowsky (ebd., S. ) bringt dort dann ein typisches Beispiel vom ./. Juni  aus dem Dorf Łagiewniki, wo junge Männer zwei jüdische Wirte bedrohten und forderten: »Jew ! Open the inn ! We want to drink for free, otherwise we will break the windows and loot the place, since it is permitted to beat Jews and plunder the taverns. Elsewhere the taverns have been burned, and we can do the same!«  Zu Unruhen vor  etwa in der Stadt Żywiec (Saybusch) südwestlich von Krakau im Jahre  vgl. Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. .  Unowsky, Peasant Political Mobilization, S. .

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. Resümee - War es bis über die Mitte des . Jahrhunderts hinaus bei den antijüdischen Ausschreitungen um die Abwehr der Judenemanzipation vor allem auf lokaler Ebene gegangen, wobei der Anstoß zu größeren Pogromwellen zumeist von den Revolutionen von  und  ausging, in denen antijüdische Gewalt nur einen Teil der revolutionären Unruhen bildete, so lässt sich dies allenfalls noch für die große Pogromwelle der Jahre / im Zarenreich behaupten, die auch eine Reaktion auf Statusverbesserungen der Juden darstellte. Seit den er Jahren gewann der Antisemitismus als politische und soziale Bewegung in vielen europäischen Ländern an Bedeutung. Es gelang dessen Protagonisten, in einigen Ländern eine antijüdische Gesellschaftsstimmung zu erzeugen. Antisemitische Agitation und antisemitische Organisationen spielten jedoch nur in wenigen Fällen beim Ausbruch antijüdischer Ausschreitungen die zentrale Rolle, häufig waren diese lediglich Trittbrettfahrer, die sich nach Beginn von Unruhen einschalteten und den Konflikt verschärften (z. B. Tiszaezlár, Xanten und Konitz). Antisemitische Agitation und politische Organisationen, die sich des Antisemitismus bedienten, spielten eine wichtige Rolle bei den Unruhen in Pommern und Westpreußen  und den Bauernunruhen in Galizien . Auch die antijüdischen Unruhen im Zuge des Nationalitätenkonflikts in Böhmen und Mähren könnte man mit Einschränkungen so kategorisieren. Obwohl die Vertreter des modernen Antisemitismus ihn als eine säkulare Bewegung verstanden, die frei vom alten Religionshass sein sollte, blieben religiös fundierte Vorstellungen wie die Ritualmordlegende weiter wirkmächtig und fanden seit der Damaskus-Affäre von  ihren Niederschlag in zahlreichen Fällen, in denen Juden dieses Verbrechens beschuldigt wurden. Mit der Veröffentlichung seines Buches Der Talmudjude, in dem der Ritualmord und die verschwörerische Feindseligkeit der Juden gegenüber ihrer Umwelt behauptet wurden, löste der katholische Theologe August Rohling  eine Kontroverse aus, die eine Fülle von Schriften pro und contra Rohling anregte.1 Obwohl Rohling seine Lehrerlaubnis entzogen und er als Fälscher entlarvt wurde, zeigten seine Thesen doch Wirkung, nicht nur unter den Katholiken Mittel- und Osteuropas, sondern auch unter orthodoxen Christen in Russland, Bulgarien und Griechenland. Seit Tiszaezlár () wurden nach dem Verschwinden bzw. Auffinden ermordeter Kinder und Jugendlicher häufig Ritualmordbeschuldigungen gegen die Juden erhoben, die in einer Reihe von Fällen entweder zu einzelnen Ausschreitungen führten oder sich zu ganzen Pogromwellen ausweiteten. Solche Fälle wurden dann von antisemitischen Zeitungen und Organisationen propagandistisch aufgegriffen, wodurch sie die Fortdauer und Ausbreitung der Gewalt beförderten. Ungewollt trug auch der staatliche Umgang mit den Ritualmordbeschuldigungen zur Ausbreitung und Verstärkung dieser Vorstellung bei, indem die Justiz trotz fehlender Beweise Prozesse gegen angeschuldigte  Susanne Plietzsch, Talmud-Polemik, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -.

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Juden anstrengte, die zwar (außer im Fall Hilsner) immer freigesprochen wurden, was jedoch den negativen Effekt, dass Juden angeklagt worden waren, nicht aufheben konnte. Verglichen mit den Pogromen im Zarenreich, die zahlreiche jüdische Todesopfer und Verletzte forderten und häufig auch mit umfangreichen Zerstörungen jüdischen Besitzes verbunden waren, war das Gewaltniveau der Ausschreitungen im Zuge der Ritualmordfälle geringer, es gab zwar durch Misshandlungen verletzte Juden, aber wohl nur wenige Todesfälle und auch die materiellen Verluste erreichten kein sehr großes Ausmaß – allerdings, mit einer Ausnahme: das Pogrom auf Korfu und Zakynthos verlief extrem gewalttätig, forderte zahlreiche Opfer und auch der materielle Schaden war erheblich.

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. Pogrome: Historische Kontexte, Entstehungsbedingungen, Verläufe, Akteure und staatliche Reaktionen – zusammenfassende Bemerkungen Wie eingangs bereits angesprochen, sieht David Engel das »antijüdische Pogrom« als typisch an für die Jahre von der Französischen Revolution bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, während zuvor und danach diese Form nur selten anzutreffen war und ist. Mit der Durchsetzung des Gewaltmonopols des Rechtsstaates wurden in dieser Zeit gewalttätige Formen der vermeintlichen Selbsthilfe illegitim, womit zugleich die Erwartung entstand, dass der Staat Recht und Gerechtigkeit auch durchsetzt. Solange dies gelingt, werden sich die Bürger ruhig verhalten, scheint der Staat aber die geltende moralische Ordnung zu gefährden oder nicht mehr zu unterstützen, werden sie auf die Barrikaden gehen, um die gestörte Ordnung wiederherzustellen. Die alte Ordnung wurde gerade in . Jahrhundert durch einen radikalen, teils revolutionären sozialen Wandel jedoch immer weiter zerstört bzw. transformiert, worauf die Bevölkerung mit gewalttätiger »Selbsthilfe« reagierte, die der Staat nur schwer unter Kontrolle bringen konnte. Er verfügte noch kaum über ausreichende Polizeikräfte, sondern musste in vielen Fällen Militär von außerhalb zur Wiederherstellung der Ordnung herbeischaffen. Wie zahlreiche sozialhistorische Studien belegen, war Gewalt neben ihren kollektiven Formen des Sozialprotests und der Revolution1 auch im Alltagsleben, in Wirtshausschlägereien, bei Ehrenhändeln (Duelle), im mit Fäusten ausgetragenen politischen oder konfessionellen Streit, in sexueller und in häuslicher Gewalt, weit verbreitet.2 Es ist für Engel also kein Zufall, dass die antijüdische Gewalt des Pogromtyps ihren Höhepunkt während jener Epoche hatte, die er als »general European age of violence« kennzeichnet.3 Die vorliegenden Analysen kollektiver antijüdischer Gewalt bestätigen diese These. Allerdings gelang es dem modernen Staat gegen Ende des . Jahrhunderts immer effektiver, sein Gewaltmonopol durchzusetzen. Studien, die – wie die von Helmut W. Smith und eine frühere Studie von mir – eine Langzeitperspektive einnehmen und die antijüdischen Ausschreitungen vom Beginn des . Jahrhunderts bis in den Zweiten Weltkrieg hinein verfolgen, zeigen allerdings eine markante

 Thompson, Die ›sittliche Ökonomie‹; Tilly/Tilly/Tilly, The Rebellious Century; Volkmann/Bergmann (Hrsg.), Sozialer Protest.  Magnus Eriksson/Barbara Krug-Richter (Hrsg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (-. Jahrhundert), Köln, Weimar ; Claudia Töngi, Um Leib und Leben. Gewalt, Konflikt, Geschlecht im Uri des . Jahrhunderts, Zürich .  Engel, What’s in a Pogrom, S. -.

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Zäsur zu Beginn des . Jahrhunderts.4 Verlauf und Gewaltniveau der Pogrome in Europa bis zur zweiten Welle im Zarenreich (-) weisen ein vergleichsweise geringes Gewaltniveau auf und zielen vor allem nicht auf Tötung und völlige Zerstörung des Besitzes, während viele Pogrome seit dem frühen . Jahrhundert dem verbreiteten Pogrombild einer enthemmten Gewalt mit zahlreichen Todesopfern und massiver materieller Zerstörung entsprechen. Nur für viele dieser späteren Pogrome trifft John Bohstedts Diktum zu, sie hätten »the essentially unlimited goal of annihilating the enemy«.5 Dies gilt für die antijüdischen Ausschreitungen des . Jahrhunderts nicht, auch wenn die Pogromisten häufig mit Slogans wie »Tod den Juden!« Morddrohungen ausstießen.6 Zwar hat es bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg antijüdische Pogrome gegeben, die dem Typus lokaler kollektiver Gewalt entsprachen, in denen eine Menschenmenge spontan gegen Juden vorging, doch hatte sich mit dem bereits von Zeitgenossen als Wendepunkt erlebten Pogrom von Kishinev im Jahre 7 und noch deutlicher in der Pogromwelle in den Jahren der ersten russischen Revolution von / ein neuer Typ antijüdischer Ausschreitungen herausgebildet.8 Die Hauptursache dafür sieht Helmut W.  Smith, Continuities; Bergmann, Ethnic Riots; Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, S. . Seine Erklärung für die Zunahme der Gewalt in den Pogromen ab  sieht er in der stärkeren Ablehnung der Juden und in der stärkeren Politisierung, wonach die Juden aufgrund ihres Engagements in der revolutionären Bewegung Russlands als illoyale politische Bedrohung gesehen wurden (S. ). Dass auch Engel eine Zäsur im frühen . Jahrhundert annimmt, zeigt seine obige Formulierung »in different parts of the eighteenth, nineteenth and even early twentieth centuries« (Hervorhebung von W. B.).  Bohstedt, Dynamics, S. ; vgl. eine während der Pogrome in Gujarat verteilte Schrift, in der es offen heißt: »We do not want to leave a single Muslim alive in Gujarat […] Annihilate Muslims from Bharat. […] Now the Hindus of the villages should join the Hindus of the cities and complete the work of annihilation of Muslims« (Jaffrelot, Communal Violence, S. ), Jaffrelot überschreibt einen Abschnitt mit: »Toward Ethnic Cleansing: Sadism and Savagery« (S.  ff.); Rösel, Vom ethnischen Antagonismus,  ff.; Basu, Are local Riots, S. ,  Es ist schwer abzuschätzen, ob diese Morddrohungen eine reale Absicht ausdrückten oder ob sie dazu dienen sollten, den attackierten Juden besonders große Angst einzujagen, um so die mit der Gewalt beabsichtigte Degradierung noch zu verstärken. In den Untersuchungen von Klier, Russians, Jews, and the Pogroms, finden sich Bespiele, wo Pogromisten sich gegenseitig ermahnten, Juden nicht zu töten.  Das von Smith als Wendepunkt bezeichnete Kishinev-Pogrom folgte allerdings trotz der bis dahin für Pogrome ungewöhnlich hohen Opferzahl von  Toten und mehreren hundert Verletzten noch dem alten Muster. Hier war die Eskalation einerseits der intensiven Propaganda der Zeitung Bessarabets und zum Teil der Inkompetenz der lokalen und regionalen Autoritäten geschuldet, vor allem der Passivität der Polizei, die trotz der umlaufenden Pogrom-Gerüchte und der Bitte der jüdischen Gemeinde um Schutz, keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte (Judge, Easter in Kishinev). Den eigentlichen Wendepunkt markieren m. E. erst die Pogrome nach dem Oktober-Manifest .  Diese Veränderung gegenüber dem »normalen« Pogrom-Typ wurde bereits zeitgenössisch von jüdischer Seite registriert: Ein jüdischer Korrespondent schrieb im Oktober : »Let them plunder. We’re used to that. But why do they shoot, why do they blow us apart …?« (Hamm, Kiev, S. ). Auch Smith interpretiert die Pogromwelle im Zarenreich von 

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ZUSAMMENFASSENDE BEMERKUNGEN

Smith darin, dass es zu einer Verschiebung von lokalen Konfliktanlässen (Ortsbürgerrecht, Ritualmordvorwurf ) hin zu Konflikten auf nationaler Ebene kam: In den Pogromen seit dem frühen . Jahrhundert wurden Juden nun angegriffen, weil sie als Verräter nationaler Interessen und somit als innerer Feind wahrgenommen wurden.9 Und tatsächlich lässt sich mit dem Aufkommen der politischen antisemitischen Bewegung eine Veränderung im »Framing« erkennen, da den Juden in der nun forciert postulierten »Judenfrage« vorgeworfen wurde, sie bildeten ein fremdes, nicht-zugehöriges gesellschaftliches Element und hätten in vielen gesellschaftlichen Bereichen einen schädlichen Einfluss auf die Nation. Smith beschreibt dies als eine Transformation, in der »the ritual boundaries of anti-Jewish riots were habitually broken, with mass murder following. The murderous turn was enabled, and then furthered by the state«.10 Der Formenwandel geht also primär darauf zurück, dass der Staat oder im Fall von Bürgerkriegen die jeweiligen militärischen Machthaber nun ihrerseits Partei gegen die Juden ergriffen bzw. diesen den Schutz versagten, d. h., wir haben es mit einer verstärkten Ideologisierung, ja Politisierung der Judenfeindschaft und ihrer Ausweitung auf die nationale Ebene zu tun. John D. Klier hat ebenfalls auf die Bedeutung der Politisierung hingewiesen und dabei hervorgehoben, dass die Juden – etwa in der Pogromwelle der Jahre - im Zarenreich – nun zudem wegen ihres antizaristischen, sozialistischen Engagements als illoyale Bürger und politische Bedrohung gesehen und attackiert wurden,11 denn Juden traten zunehmend als politische Mitspieler in Erscheinung, vor allem auf Seiten der Liberalen und Sozialisten. In den hier untersuchten Fällen antijüdischer Ausschreitungen gilt die im theoretischen Kapitel entwickelte triadische Relation, wonach die Staatsorgane bei Aktionen kollektiver Gewalt eingeschritten sind, auch wenn auf Seiten der staatlichen Politik antisemitische Positionen vertreten wurden und das Eingreifen oft zögerlich, verspätet oder mit ungenügenden Kräften erfolgte. D. h., die hier untersuchten Fälle entsprechen dem Typ der nicht oder nur gering organisierten, einseitigen und nicht-staatlichen Form kollektiver Gewalt. Es handelt sich um Formen von extralegaler gewaltsamer »Selbsthilfe« seitens einer im Namen der Mehrheit handelnden Gruppe, die dann einsetzt, wenn diese von Seiten des Staates keine Abhilfe gegen eine als Bedrohung empfundene Normverletzung durch eine andere Gruppe erwartet, die als Kollektiv beschuldigt wird. bis  zu Recht als Wendepunkt, da über dreitausend Juden in diesen Pogromen ihr Leben verloren (Continuities, S.  ff.).  Smith, Continuities, S.  ff.  Ebd., S. . Ein letzter Schritt dieser Entwicklung bestand historisch dann darin, dass der Staat, wie etwa das nationalsozialistische Regime, begann, die Pogromgewalt für seine eigenen politischen Ziele zu nutzen. Hier kam es dann schließlich zu einem Wechsel zu anderen Formen von massenhafter Gewalt wie Massakern und Genozid. Vgl. dazu Bergmann, Ethnic Riots, Kap. ..  Klier, Russians, Jews and the Pogroms, S. . Vgl. dazu die instruktive Fallstudie von Wiese, Die Große Angst in Žitomir.

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Überblickt man den gesamten hier untersuchten Zeitraum, so gab es nur wenige Länder Europas, in denen sich in diesem Zeitraum keine Ausschreitungen gegen Juden ereigneten. Zu diesen zählen die Niederlande, Großbritannien, die iberische Halbinsel, Norwegen, Finnland sowie einige Regionen Südosteuropas (Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Albanien). Es ist erstaunlich, dass es zwar in vielen Gebieten der Habsburgermonarchie zu antijüdischen Ausschreitungen kam, sich in Österreich trotz eines vor allem in den letzten Jahrzehnten des . Jahrhunderts ausgesprochen verbreiteten Antisemitismus keine Unruhen ereigneten. Dies spricht für einen nur losen Zusammenhang antisemitischer Einstellungen mit Gewaltaktionen.12 Die jeweiligen Schwerpunkte variieren jedoch je nach untersuchtem Zeitraum. In der Zeit von der Französischen Revolution bis kurz nach dem Ende der napoleonischen Kriege waren vor allem der Osten Frankreichs (Elsass), Oberitalien, deutsche Gebiete und Dänemark, in Einzelfällen auch Polen und die Schweiz betroffen. Die Ausschreitungen in dieser Phase hatten, bei gewissen Unterschieden im Einzelnen, ein gemeinsames Motiv, nämlich die Abwehr der Verbesserung der rechtlichen Stellung der Juden vor Ort, die infolge der Französischen Revolution, der napoleonischen Besetzung und der daraus resultierenden politischen Reformen auf den Weg gebracht worden waren. Auch für die Phase von der französischen Juli-Revolution bis zur Revolution von  blieb dies das zentrale Motiv, wobei hier die antijüdische Gewalt häufig im Gefolge der durch ökonomische Krisen und die Revolutionsereignisse motivierten politischen Unruhen auftraten, die primär gegen andere Ziele gerichtet waren. Immer wieder bildeten aber auch der religiöse Gegensatz und die als ausbeuterisch empfundenen ökonomischen Beziehungen Handlungsmotive. Die Schwerpunkte lagen nun vor allem in Zentraleuropa: wiederum in Frankreich (Elsass), in einigen Staaten des Deutschen Bundes, in Ungarn und in Böhmen und Mähren, es gab aber auch vereinzelte Vorfälle in Italien (Mantua, Rom, Acqui), Dänemark und Schweden (Stockholm). In den /er Jahren bildeten sich mit Bulgarien im russisch-türkischen Krieg und Rumänien, zwei damals im Entstehen begriffenen Nationalstaaten, sowie zu wiederholtem Male mit Odessa neue Schwerpunkte heraus, doch waren auch wiederum Böhmen und Mähren, südwestdeutsche Gebiete und die Schweiz betroffen. In dieser Phase ging es in einigen Gebieten (wie der Schweiz und Franken) nach wie vor um die Frage der Ortsbürgerrechte für Juden, doch trat nun etwa in Rumänien und in Böhmen und Mähren die nationale Frage in den Vordergrund und auch in Bulgarien wurden im russisch-türkischen Krieg Juden aus nationalistischen Motiven als Parteigänger der türkischen (Fremd-)Herrschaft angegriffen. Zwischen  und  findet sich mit der großen Pogromwelle von - das Hauptgebiet antijüdischer Gewalt nun erstmals im Südwesten des Zarenreichs, weitere Schwer Wien und Graz werden in Übersichten zu den »Hep-Hep«-Unruhen hin und wieder genannt, doch soll es in Wien nur Spuren der Unruhen wie Hep-Hep-Aufschriften an von Juden bewohnten Häusern und in Graz »Hep-Hep«-Rufe gegeben haben, ohne ernstere Folgen. Siehe Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. .

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punkte waren Bulgarien, Rumänien, das Deutsche Reich, Böhmen und Mähren, Ungarn, Galizien, Frankreich und Griechenland. Abgesehen von Rumänien und dem Zarenreich bildete in dieser Phase, in der Juden in fast allen Staaten zu gleichberechtigten Staatsbürgern geworden waren, der Kampf gegen ihre rechtliche Gleichstellung nicht mehr das zentrale Motiv für antijüdische Gewalt. Vielmehr ist in Rechnung zu stellen, dass in vielen Ländern mittlerweile eine antisemitische Bewegung mit eigenen Organisationen und Publikationsorganen entstanden war, die die »Judenfrage« auf die politische Tagesordnung zu setzen suchte, indem sie diese als eine dringliche soziale, ökonomische, kulturelle und nationale Frage definierte, die nur durch Maßnahmen des Ausschlusses der einheimischen Juden von bestimmten gesellschaftlichen Feldern sowie durch das Unterbinden weiterer jüdischer Zuwanderung zu lösen sei. Zwar gingen antijüdische Unruhen überwiegend nicht direkt auf den organisierten Antisemitismus zurück, doch beteiligten sich Antisemiten sowohl durch Aktivitäten vor Ort wie durch ihre Presse aktiv an der Verbreitung antijüdischer Anschuldigungen und nutzten nach dem Ausbruch von Unruhen die Situation, um den Konflikt weiter anzuheizen und auszuweiten.13 Vor diesem Hintergrund konnten ganz unterschiedliche Anlässe – wie ermordet aufgefundene Kinder, Nationalitätenkonflikte, Arbeitskämpfe, eine Krise des politischen Systems (Dreyfus-Affäre), der Ausbruch einer Epidemie,14 Wahlkämpfe – antisemitische Stimmungen erzeugen und zu antijüdischen Unruhen führen. Nationalismus und ökonomische Konkurrenz wurden die zentralen Motive, auch wenn häufig der Ritualmordvorwurf den unmittelbaren Auslöser der Gewalt bildete. Letzteres weist darauf hin, dass die religiöse Differenz und religiöses »Wissen« in der Bevölkerung immer noch eine weitaus größere Rolle spielten als von den Antisemiten behauptet, die die »Judenfrage« gerade nicht mehr als religiöse Frage behandelt wissen wollten.15 Wenn hier verallgemeinernd mit Ländernamen gearbeitet wird, so ist zu betonen, dass antijüdische Unruhen selten landesweit und oder gar flächendeckend auftraten, sondern jeweils nur in bestimmten Orten oder Regionen. Dabei fällt auf, dass einige Orte und Regionen nur während einer der oben beschriebenen Phasen einmal oder mehrfach zum Schauplatz von Unruhen wurden,16 während andere über mehrere Phasen hinweg wiederholt zum Schauplatz wurden. Zu Letzteren zählen etwa Städte wie Odessa, Prag, Preßburg, Hamburg, Würzburg, die Schwei-

 Dass antisemitische Unruhen direkt auf organisierten Antisemitismus zurückgingen, finden wir in Rumänien  und , als antisemitische Kongresse den Ausgangspunkt von Unruhen bildeten, ähnlich auch bei den französischen Unruhen von  in Algier.  Vgl. Friedgut, Labor Violence; Wiese, Pogrome im Zarenreich, S. -.  Programmatisch findet sich das im Titel der bekannten Schrift von Wilhelm Marr, Der Sieg der Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet, Bern .  Beispiele sind etwa Hinterpommern und Westpreußen, Oberungarn, Ekaterinoslav (Südwestrussland).

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zer Judendörfer Lengnau und Endingen und Regionen wie das Elsass, Südwestdeutschland, der Niederrhein, die Moldau, Böhmen und Mähren. Es ist typisch für Pogrome, sich von einem Ort aus wellenförmig auszubreiten, zunächst in die unmittelbare Umgebung und dann geographisch entlang bestimmter Verkehrswege (Straßen, Eisenbahnen, Flüsse) und über mediale Vermittlung in immer entferntere Regionen, wie dies besonders gut bei den »Hep-Hep«-Unruhen, im Fall der Pogrome in Südwestrussland, in Hinterpommern, Westpreußen und in Galizien zu erkennen ist. Die Ausbreitung ging meist von einer etwas größeren Stadt aus, um dann auf die Kleinstädte und Dörfer der Umgebung auszustrahlen, während der umgekehrte Weg vom Dorf in die Städte so gut wie nie vorkam. Wenden wir uns dem Pogromgeschehen selbst zu, so ist deutlich geworden, dass Fälle kollektiver Massengewalt sich hinsichtlich ihrer zentralen Bestimmungsmomente schwer präzise beschreiben lassen, zumal die Berichte selten unparteiisch sind und oft zu Beschreibungen von Gräueltaten ausufern. So bleibt häufig unklar oder widersprüchlich, was den Anlass des Gewaltausbruchs bildete, was dessen Dauer, was die Zusammensetzung und Zahl der Teilnehmer, die Zahl getöteter und verletzter Personen unter der attackierten Gruppe, den Pogromisten, den Zuschauern und den Ordnungskräften, sowie was den angerichteten Sachschaden betrifft. Auch das Verhalten der Ordnungskräfte wird im Einzelfall oft sehr unterschiedlich beurteilt. Über die Folgen der Gewalt, etwa Migration, Verarmung sowie die staatlichen und juristischen Reaktionen (Bestrafung der Täter, Gesetzesänderungen und Entschädigungszahlungen) lassen sich selten präzise Angaben finden bzw. wird darüber in der Presse oft nicht mehr ausführlich berichtet. Entsprechend sind die folgenden Generalisierungen als Versuch zu verstehen, gewisse typische Züge kollektiven Handelns in Pogromen herauszuarbeiten. Die Frage der demographischen Zusammensetzung der Tumultuanten (Alter, Geschlecht, ethnische und religiöse Zugehörigkeit, berufliche Stellung) ist nicht leicht zu beantworten, da die Berichte auch hier interessengeleitete Verzerrungen aufweisen. So werden als Täter zumeist Angehörige der untersten Gesellschaftsschichten bezeichnet, die pauschal als »Mob«, »Pöbel«, »geringere Klassen«, »ein Troß der niedersten Volkshefe« oder »plebejische Massen« abgewertet werden, während die direkte Beteiligung bessergestellter Einwohner des Ortes ausgespart oder heruntergespielt wird. Elitepersonen wird aber in sozialkritischen Berichten die Rolle von Agitatoren und Hintermännern zugeschrieben, die die Masse aufgewiegelt hätten. Dies dürfte nur für wenige Fälle zutreffen, da viel häufiger Teilnehmer an Pogromen (Bauern, Eisenbahnarbeiter) bei ihrer Rückkehr in die Heimatorte zu Auslösern von Gewalt geworden seien. Neben dem geringen sozialen Status wird häufig auch auf die Jugendlichkeit der Täter verwiesen, die man so als unreif und als nicht repräsentativ für die erwachsene Bevölkerung hinstellen konnte. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch der Alkoholkonsum, der in vielen Berichten hervorgehoben wird. Da Juden im Zarenreich und in Galizien häufig Gaststätten betrieben oder Destillerien führten, wurde bei den Plünderungen der vorgefundene Alkohol oft gleich an Ort und Stelle ausgetrunken. Insgesamt gesehen trifft 750

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es aber durchaus zu, dass die Aktivisten primär jüngere männliche Personen aus den städtischen oder ländlichen Unterschichten waren, d. h., es beteiligten sich überwiegend Lehrlinge, Gesellen, Ladendiener, (Wander-)Arbeiter, Tagelöhner, Militärpflichtige, auf dem Lande Kleinbauern und Knechte, aber auch Angehörige der kleinbürgerlichen Schicht (Ladeninhaber, Schlachter, Zimmerleute, Tischler, Gerber und kleine Angestellte) an den Ausschreitungen. Von  Verhafteten des Pogroms von Elisavetgrad  sind die Berufe bekannt:  waren ungelernte Arbeiter,  Tagelöhner und  Domestiken, gehörten also zum Proletariat. Sechs Prostituierte und  Arbeitslose wurden gezählt, dazu  Bauern. Die soziale und altersmäßige Zusammensetzung der Teilnehmer konnte sich jedoch von Fall zu Fall deutlich unterscheiden. Bieten viele, häufig gerade kleinere Unruhen das typische Bild von vor allem jüngeren ledigen Männern aus den unteren Schichten als Täter, so gibt es Fälle, in denen sich ein sozialer Querschnitt der männlichen oder sogar der Gesamtbevölkerung daran beteiligt hat, also auch ältere, gutsituierte verheiratete Männer sowie auch Frauen und Kinder. So finden sich unter den Verhafteten und vor Gericht gestellten Personen immer wieder auch Angehörige der höheren Gesellschaftsklassen, etwa Handwerksmeister, Kaufleute, Studenten und Gymnasiasten, untere und mittlere Beamte, Adlige, Gutsbesitzer und Großbauern, Lehrer, Ärzte und sogar Priester sowie Funktionsträger wie Bürgermeister, Stadträte und Angehörige der Bürgerwehr. In Rotenburg a. d. Fulda  etwa handelte es sich nicht um gesellschaftliche Außenseiter, sondern um angesehene Rotenburger Bürger, wie die Berufe der Verhafteten (Kantor, Dachdecker, Bäckermeister, Buchbinder, Garndreher, Büchsenmacher) zeigen. Für die französischen Unruhen des Jahres  zeigen die Listen der verhafteten Personen, dass zwar Studenten und Schüler dominierten, aber auch »toutes les classes de la société« beteiligt waren: Arbeiter, Handwerker, Büroangestellte, Verkäufer, aber bisweilen auch bürgerliche Kreise, etwa Juweliere, Apotheker, Architekten, Kolonialwarenhändler, Mechaniker usw. Zu berücksichtigen ist auch, dass in manchen Fällen Kaufleute ihre Ladendiener, Handwerksmeister ihre Lehrlinge und Gesellen und Landwirte und Gutbesitzer die Landbevölkerung zur Gewalt anstachelten, wobei sie fallweise selbst mittaten. In einigen Fällen wechselten auch Angehörige der Bürgerwehr und des Militärs die Seiten und beteiligten sich an den Ausschreitungen oder die Bürgerwehr wandte sich gegen das herbeigerufene Militär. Doch trifft der oft erhobene Vorwurf, die Ordnungskräfte hätten sich häufig an Gewalt und Plünderungen beteiligt, insgesamt nicht zu. Häufiger waren wohl Fälle von Passivität, die aber angesichts der Aussichtslosigkeit eines Eingreifens stark unterbesetzter Polizei- und Militärkräfte vor Ort keineswegs umstandslos als Einverständnis mit den Pogromisten gedeutet werden dürfen, sondern primär ein Zeichen der Hilfs- und Aussichtslosigkeit angesichts einer großen und bedrohlichen Menschenmenge verstanden werden müssen. Allerdings kam es in solchen Fällen vor, dass Ordnungskräfte es vorzogen, die Seiten zu wechseln. Was Alter und Geschlecht der Täter angeht, so dominierten eindeutig jüngere Männer, was die direkte Gewaltausübung betrifft. Doch waren Pogrome oft eine 751

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arbeitsteilige Angelegenheit, d. h., es spielten auch ältere Männer, Frauen und zuweilen auch Kinder eine aktive Rolle, etwa bei Plünderungen, dem Fortschaffen des Beuteguts sowie als Antreiber der »an der Front« agierenden Männer. So wurde Frauen im Jahre  in Konitz und Umgebung eine deutliche Mitwirkung an der Aufhetzung zugeschrieben. Die zuschauende Menschenmenge, aus der sich immer wieder Personen lösten, um sich aktiv an den Ausschreitungen zu beteiligen, bestand aus älteren Männern, Frauen und auch Kindern, unter denen sich auch Angehörige der höheren Klassen befanden.17 Wie die Untersuchungen der Bauernunruhen von  in Galizien zeigen, haben sich dort Angehörige aller sozialen Schichten beteiligt. Daniel Unowsky nennt Bauern, Tagelöhner, Bergleute, Eisenbahnarbeiter, Mitglieder von Stadträten, Dorfälteste, Lehrer, Ladenbesitzer aller Altersklassen, darunter auch Frauen. In dem von Tim Buchen untersuchten Ort Lutcza waren von den  später Angeklagten nur zwölf unter zwanzig Jahre alt,  waren volljährig, also über  Jahre alt. Das Durchschnittsalter lag bei  Jahren. Es waren mehrheitlich verheiratete Familienväter und -mütter (siebzig Männer, zwölf Frauen). Eine weitere interessengeleitete Verzerrung besteht in der Behauptung, die Täter seien ortsfremde Personen gewesen. So werden in vielen Fällen von den örtlichen Amtspersonen die Täter als von außerhalb kommend hingestellt, um so die Beteiligung der eigenen Einwohnerschaft zu verschleiern und mögliche Entschädigungszahlen der Gemeinde an die Juden zu vermeiden. Zwar kam es bei länger andauernden Pogromen häufig zu einem Zuzug von außerhalb, vor allem seitens der bäuerlichen Bevölkerung, doch überwog zumeist die städtische Bevölkerung, wie man am Beispiel der  in Elisavetgrad  verhafteten Personen sehen kann, von denen drei Viertel ( Personen) aus der Stadt selbst stammten. Für einige Fälle trifft es jedoch zu, dass einerseits Agitatoren von außerhalb Nachrichten über Pogrome weitergetragen und damit Unruhen an anderen Orten in Gang gesetzt haben, und andererseits wandernde Gruppen, wie etwa die Saisonarbeiter in Südwestrussland, eine wichtige Rolle für das Ausbrechen von Unruhen gespielt haben. Im Fall multiethnischer Städte oder Regionen, z. B. bei den Unruhen in Böhmen und Mähren, oder auch in Odessa und in Preßburg, spielte die ethnische Herkunft der Pogromisten eine gewisse Rolle. Vor dem Hintergrund des Nationalitätsstreits in Böhmen und Mähren etwa betonte die deutschsprachige Presse die tschechische Herkunft der Täter an einem Ort, die tschechische hob dagegen für einen anderen Ort deren deutsche Herkunft hervor. Wie in den Fallanalysen deutlich geworden ist, lässt sich damals wie heute die Größe der sich an Unruhen und Demonstrationen beteiligten Menschenmengen nur schwer verlässlich ermitteln. In der Berichten über die Pogrome finden wir in vielen Fällen nur sehr pauschale Angaben, so ist von »ein Haufe Volks«, einer  Eine Reihe von Gemälden von Vasilii V. Vakhrenov zu den Unruhen in Odessa  zeigt u. a. eine Pogromszene, auf der man gut gekleidete Männer und Frauen als Zuschauer herumstehen und sogar eine vorbeifahrende offene Kutsche abgebildet findet (siehe Weinberg, Visualizing Pogroms).

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großen Menschenmenge, einer »schwarzen dichten Volksmasse«, »Pöbelstürmen«, einer »Menschenlawine« oder starken Zusammenrottungen die Rede. Wenn Zahlenangaben gemacht werden, so geschieht auch dies häufig in der Weise, dass von einer zu Hunderten oder Tausenden zählenden Menge oder bei kleineren Unruhen von ein paar Dutzend gesprochen wird.18 Auch gehen die Zahlenangaben für ein und dasselbe Ereignis häufig sehr weit auseinander, spricht eine Quelle von . Tumultuanten, nennt eine andere wohl eher die Zahl von zweihundert als wahrscheinlich, in anderen Fällen wird eine Spanne von zweihundert bis achthundert Teilnehmern genannt. Es finden sich immer wieder interessengeleitete Verzerrungen. Wer also die Dramatik und die Bedrohlichkeit von antijüdischen Unruhen hervorheben wollte, hat die Teilnehmerzahl übertrieben, die Verantwortlichen vor Ort haben sich und die Einwohnerschaft hingegen durch niedrige Angaben exkulpieren wollen, wenn sie nicht auf die Anschuldigung von Ortsfremden auswichen. Die Fallanalysen zeigen die große Spannbreite der Teilnehmerzahlen an den Unruhen: Wir haben geringfügige Krawalle in kleinen Orten, an denen sich ein paar Dutzend Personen beteiligt haben, so ist von vierunddreißig bis vierzig oder fünfzig bis sechzig Tumultuanten die Rede, aber auch Fälle in größeren Städten wie Kiew oder Marseille, in denen von einer Menge von dreitausend bis fünftausend Teilnehmern, ja bisweilen sogar von achttausend gesprochen wird.19 Aussagekräftiger sind solche Angaben, in denen die Einwohnerzahl in Beziehung zur Teilnehmerzahl gesetzt wird: So beteiligten sich an den Unruhen in Ungarn  in einer Stadt von zweitausend Einwohnern dreihundert bis vierhundert an den Unruhen, was immerhin ein Fünftel der Einwohnerschaft ausmachte. In Rotenburg a. d. Fulda war es  mit sechshundert bis achthundert Personen der größere Teil der männlichen Einwohnerschaft, an einem anderen Ort betrug die Relation eintausend Personen zu . Einwohnern. Bei den Zahlenangaben ist zudem zu beachten, auf welchen Zeitpunkt der häufig mehrtägigen Unruhen sie sich beziehen. Typischerweise entwickelt sich aus kleinen Anfängen des ersten Tages mit ein paar Dutzend oder auch mit bis zu fünfhundert Tumultuanten in der Folgezeit ein Pogrom mit manchmal mehreren tausend Beteiligten. In St. Gallen begann es mit einer Menge von fünfhundert, die auf zweitausend, ja sogar auf dreitausend bis achttausend angewachsen sein soll, ähnlich in Kiew , wo die Zahl von fünfhundert auf viertausend anstieg. Zu sehr hohen Teilnehmerzahlen konnte es auch dadurch kommen, dass sich ein Pogrom aus einer Zusammenkunft  Volkmann, Kategorien des sozialen Protest, ist bei Mengenbegriffen wie »eine Anzahl, ein Trupp, Schwarm, Haufe« von einer Anzahl zwischen zwanzig und einhundert Beteiligten ausgegangen; bei Begriffen wie Rotte, Zusammenrottung, größerer Haufen oder größere Menge von einhundert bis eintausend Personen; bei »Menge, große Menge, großer Volksauflauf, Massen, unzählige Menschenmasse« von eintausend bis zweitausend Personen (S. ). Man sieht auch hier, dass immer eine große Schwankungsbreite angegeben wird.  Im Fall der kleinasiatischen Stadt Smyrna soll das Judenviertel sogar von . Personen gestürmt worden sein.

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einer großen Menschenmenge entwickelte, wie etwa im Fall der Karfreitagsprozession auf der griechischen Insel Zakynthos im Jahre , an der siebentausend Personen teilgenommen haben sollen. Stefan Wiese hat jedoch zu Recht darauf hinwiesen, dass sich wohl niemals die gesamte versammelte Menschenmenge beteiligte, sondern immer nur kleinere Gruppen, die sich aus der Menge heraus ins Gewaltgeschehen stürzten und auch wieder in der Menge untertauchen konnten. Wenn auch die Menschenmenge mehrere tausend Personen umfasst haben mag, so hat sich davon jeweils nur ein kleiner Teil aktiv an der Gewalt beteiligt. So berichtete die Zeitung La Depêche algérienne am . Juni  rückblickend, dass an diesem Sonntag, dem . Januar , die Geschäftsstraße Rue Bab-Azoun Schauplatz einer methodischen Plünderung gewesen sei; Schaufensterscheiben wurden eingeschlagen, das Innere der Läden verstreut, zerstört, alles unter den Augen einer mehrere tausend Personen zählenden wohlmeinenden Menge, wobei sich Menschen aus allen gesellschaftlichen Klassen beteiligten, einschließlich der Beamten. Die Zuschauer zählten Tausende, die Tumultuanten wenig mehr als fünfzig. Dabei ist aber zu beachten, dass das Gewaltniveau nicht unbedingt von der Größe der Menschenmenge abhängt. Bei den Unruhen in Marseille oder St. Gallen mit mehreren tausend Personen kam es nur zu geringfügigen Übergriffen, in dem kleinen elsässischen Ort Durmenach hingegen richteten  dreitausend Tumultuanten schwere Zerstörungen an jüdischem Eigentum an. Umgekehrt konnten höher organisierte kleinere Gruppen oder Banden (wie Soldaten, Eisenbahnarbeiter, Insurgenten  im Elsass oder Bauernrotten  in Galizien), die Größenordnungen von einhundert bis siebenhundert Mann erreichen und auf ihren Plünderungszügen »brutale Gewaltexzesse« begehen und umfangreiche Zerstörungen anrichten. Häufiger beschränkte sich aber die Gewalt kleinerer Menschenmengen auf »Katzenmusiken« und geringfügige Übergriffe. Einen gewissen Hinweis auf den Umfang der Tätergruppe kann die Zahl der verhafteten Personen geben, wenn etwa, wie  in Kiew, . Personen verhaftet wurden. Doch fallen das Vorgehen der Ordnungskräfte und auch deren Möglichkeiten, überhaupt in größerem Umfang Tumultuanten verhaften, in einzelnen Pogromen zu unterschiedlich aus, als dass die Zahl der Verhafteten einen auch nur in Maßen verlässlichen Indikator bildet. In der überwiegenden Zahl der Ausschreitungen, aber keineswegs immer, kam es zur Verhaftung von Tätern, deren Zahl durchaus in die Hunderte gehen konnte. Die Festnahme von Tumultuanten aus einer Gewaltsituation heraus stellte die Ordnungskräfte vor besondere Herausforderungen und barg für sie, zumal wenn sie unterbesetzt waren, ein großes Risiko, so dass sie in solchen Fällen tunlichst auf Festnahmen verzichteten. Da Täter zumeist in ein Gruppenhandeln eingebunden waren, mussten sie in einer unübersichtlichen Situation zunächst identifiziert werden und dann für die Ordnungskräfte innerhalb einer Menschenmenge auch erreichbar sein. Stefan Wiese hat in seiner detaillierten Analyse des Pogroms von Elisavetgrad zeigen können, wie Personen aus der Menge heraus für eine gewisse Zeitspanne zu aktiven Tätern wurden, dann aber wieder in der Menge verschwan754

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den. Diese versuchte wiederum die Polizisten am Zugriff zu hindern. Die Ordnungskräfte sahen sich so häufig heftigem Widerstand und sogar Gegenangriffen der Menge ausgesetzt, die die Täter schützte, da sie diese als Teil der »Wir-Gruppe« verstand und ihr Handeln als legitim betrachtete. Da die Zahl der Tumultuanten und der Zuschauer die Zahl der einsetzbaren Ordnungskräfte fast immer deutlich überstieg, konnten zwar oftmals einige Täter arretiert werden, vor allem solche, die sich als »Rädelsführer« hervortaten, doch musste man viele andere zwangsläufig entkommen lassen. Die Chance, nicht verhaftet zu werden, war für die Tumultuanten folglich recht groß. Doch selbst wenn eine Festnahme gelungen war, sahen sich die Ordnungskräfte sehr häufig dem Versuch einer gewaltsamen Gefangenenbefreiung seitens der Menge gegenüber, und tatsächlich wurden sie in vielen Fällen gezwungen, einmal ergriffene Täter wieder laufen zu lassen. Weitere Hindernisse bestanden darin, dass – vor allem die einheimischen – Polizisten nur zögernd gegen ihre Mitbürger vorgingen und dass es auch die betroffenen Juden häufig vermieden, ihnen bekannte Täter anzuzeigen, da sie deren spätere Rache fürchteten bzw. vor allem in kleineren Orten die Fortsetzung nachbarschaftlicher Beziehungen für wichtiger erachteten als die Bestrafung der Täter. Die Ermittlung und Bestrafung der Täter gestalteten sich oft schwierig, da belastende Zeugenaussagen von Seiten der Zuschauer kaum zu bekommen waren, handelte es sich bei den Tumultuanten doch um »ihre Leute«. Engpässe konnten auch durch die Überfüllung des örtlichen Gefängnisses entstehen, das eine große Zahl von Verhafteten nicht fassen konnte. Bei der häufig notwendig werdenden Überführung von Tätern in das Gefängnis eines größeren Ortes bestand zudem die Gefahr der Gefangenenbefreiung. In einem Fall wurden zwar im Verlauf eines Pogroms sehr viele Verhaftungen vorgenommen, doch wurden nach der Festnahme keine Protokolle über die zur Last gelegten Vergehen erstellt, so dass man viele der Arretierten wieder laufen lassen musste, da man ihnen keine Vergehen zuordnen konnte. Oft wurden Festgenommene auch schnell wieder entlassen. Die Zahl der Verhaftungen lag zumeist zwischen zwanzig und zweihundert Personen, in besonders großen und gewaltsamen Pogromen konnte die Zahl aber auch sechshundert wie in Algier () oder . wie in Kiew betragen. Unter den Verhafteten befanden sich hin und wieder auch Juden, die sich gewehrt hatten und die man gewaltsamer Angriffe durch Schüsse, Steinwürfe oder Säbelhiebe beschuldigte. Auch der Umgang der Justiz mit den verhafteten Tumultuanten fiel unterschiedlich streng aus. Insgesamt lässt sich eine Tendenz zu eher milden Strafen und Freisprüchen feststellen. Dies gilt in besonderem Maße für Geschworenengerichte, die die Angeklagten fast durchweg freisprachen oder nur sehr milde verurteilten. Doch war dies keineswegs durchgängig der Fall, da z. T. auch drakonische Strafen wie zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre Galeerendienst im Jahre , neun Mal strenge Zuchthausstrafen von zwei bis vier Jahren in Störmede und Geseke  oder fünf bis zwölf Jahre Haft nach den schweren Unruhen auf Korfu und Zakynthos  verhängt wurden. Härtere Strafen und eine größere Bereitschaft zu Verhaftungen und Bestrafungen sind häufig dann zu beobachten, wenn man die judenfeind755

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lichen Übergriffe auch als Angriff gegen die Staatsmacht ansah bzw. wenn es eine größere Zahl von Todesopfern gegeben hatte. So ging der Hamburger Senat  nach heftigen Angriffen auf die Soldaten mit Härte gegen die  verhafteten Unruhestifter vor, die z. T. zu Gefängnisstrafen von zwei Monaten bis zu einem Jahr verurteilt wurden. Auch das habsburgische Militär und die Justiz haben  bei den Bauernunruhen in Galizien streng durchgegriffen. Es gab . Verhaftungen, . Personen wurden verurteilt, . davon sogar zu Gefängnisstrafen. Dabei dürfte jeweils auch der soziale Status der Angeklagten eine Rolle gespielt haben. Die am häufigsten verhängten milderen Strafen wegen Ruhestörung, Beleidigung und Sachbeschädigung waren Geldstrafen und einige Tage oder Wochen Gefängnis. Dabei konnten verschiedene Gerichte etwa antijüdische Drohungen ganz unterschiedlich hart bestrafen: Neben Freisprüchen und kurzen Arreststrafen standen auch drei Monate Kerker. Strenge Strafen, die für Diebstahl, Majestätsbeleidung sowie Aufruhr bzw. öffentliche Gewalttätigkeit und Körperverletzung, Aufreizung, Einmengung bei Arretierungen verhängt wurden, waren Gefängnis- oder Zuchthausstrafen oder Festungshaft von mehreren Monaten bis zu ein bis zwei Jahren, nur in wenigen Fällen wurden noch längere Gefängnisstrafen verhängt. Mit strengeren Strafen mussten nur sog. Rädelsführer rechnen. So wurden bei den Unruhen am Niederrhein im Jahre  zwei Hauptunruhestifter zur Höchststrafe für schwere Sachbeschädigung, Widersetzlichkeit, Nötigung und Landfriedensbruch zu je sieben Jahre Zuchthaus verurteilt. Auch die Strafen des Kriegsgerichts für die Hauptanstifter fielen  in Kiew sehr hoch aus: einer der Angeklagten erhielt zwanzig Jahre, ein weiterer zehn und ein dritter sechs Jahre Zwangsarbeit, drei erhielten Gefängnisstrafen. Neben diesen Formen der Bestrafung gab es Ende des . und zu Beginn des . Jahrhundert auch noch die Form der Verbannung oder Ausweisung (z. B. aus Würzburg , aus der Provinz Mantua ) sowie öffentliche Auspeitschungen. Gerade wenn es bei einem Pogrom zu sehr vielen Verhaftungen gekommen war, konnte nur einem kleinen Teil der Angeschuldigten auch der Prozess gemacht werden. In Kiew wurden von den zunächst fast . festgesetzten Personen schließlich nur  angeklagt und  auch verurteilt. Dies dürfte neben der schieren Überlastung der Justiz auch daran gelegen haben, dass es schwierig war, in einer Menschenmenge agierenden Personen bestimmte Vergehen sicher zuzuordnen. In den meisten Fällen wurden bei den Unruhen wie z. B. in Neustettin und Umgebung  die ermittelten Täter freigesprochen, zu geringen Geldstrafen oder zu kürzeren Haftstrafen von zwei bis acht Wochen wegen groben Unfugs verurteilt. Nur in den Fällen, wo es zum Widerstand gegen die Staatsgewalt gekommen war, konnten die Strafen mit ein bis zwei Jahren Haft deutlich höher ausfallen. Setzten sich Juden gegen die Übergriffe zur Wehr, mussten sie damit rechnen, ihrerseits vor Gericht gestellt zu werden. Man kann in einigen Fällen dabei den Eindruck gewinnen, dass hier die Strafverfolgung konsequenter durchgeführt wurde als gegenüber den Tumultuanten. In Hammerstein und Prechlau wurden im Jahre  die angeklagten christlichen Täter freigesprochen, während zwei Juden, die sich gewehrt hatten, 756

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zu einer Geld- bzw. einer kurzen Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Im WieliczkaProzess wurden  zwei Juden verurteilt, weil sie die angreifende Menge »absichtlich und mit böser Zielsetzung« mit Steinen beworfen hätten, sowie ein jüdischer Metzger, der einen Angreifer mit einem Fleischermesser bedroht hatte. Neben den abgeurteilten Akteuren konnten aber auch die Gemeinden kollektiv dazu verurteilt werden, Juden für den angerichteten Schaden zu entschädigen, was sich z. T. auf erhebliche Summen belaufen konnte. Eine schwere finanzielle Belastung stellten für sie in vielen Fällen auch die Kosten für die am Ort zum Schutz der Juden einquartierten Soldaten dar, so dass die Gemeinden bestrebt waren, selbst für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen, um so die teure Stationierung von Militär zu beenden bzw. abzuwenden. Besonders schwierig ist es, halbwegs präzise Zahlen der in den Unruhen getöteten und verletzten Personen zu ermitteln und festzustellen, ob es sich bei den Betroffenen um angegriffene Juden, um Pogromisten, Zuschauer oder Angehörige von Militär und Polizei handelt. Da als Verletzte/Verwundete vermutlich eher Personen mit erheblichen Verletzungen gezählt worden sein dürften, wird die Zahl leicht Verletzter (unter Juden, den Pogromisten, aber auch unter den Polizisten, die von Steinwürfen getroffen oder verprügelt wurden) deutlich höher liegen, als die jeweiligen Angaben erkennen lassen. Oft finden sich in den Berichten entweder pauschale Bezeichnungen wie »mehrere«, »einige«, »viele«, und die Angaben variieren zwischen den amtlichen Berichten, den Zahlen in verschiedenen Presseorganen, und dementsprechend auch zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Fallstudien. Im Anhang habe ich versucht, zumindest einen ungefähren Überblick über die Dimension der Opfer unter Juden, Pogromisten und Ordnungskräften zu geben, soweit sie sich den Quellen entnehmen lassen. Diese Angaben bleiben aber mit großer Unsicherheit behaftet. Zwar wird in den Berichten hin und wieder eine Unterscheidung von Zuschauern und Aktivisten vorgenommen, doch angesichts der Gewaltdynamik waren die Grenzen zwischen Teilnahme und bloßem Zuschauen häufig fließend, so dass auf die getrennte Erfassung der Kategorie Zuschauer verzichtet wurde. Die Pogromübersicht zeigt, dass es im Untersuchungszeitraum bei den antijüdischen Ausschreitungen im »Normalfall« keine Todesopfer gab. Wenn es sie gab, so lassen sich drei typische Szenarien unterscheiden, bei denen die Gefahr dazu besonders hoch war: In den meisten Fällen, in denen es ein oder allenfalls zwei Todesopfer unter den Juden gab, war dies besonderen Umständen geschuldet. Im Fall heftiger Gegenwehr, besonders wenn Schüsse von Juden abgegeben wurden bzw. laut Gerüchten abgegeben worden sein sollen, wurde der vermeintliche »Täter« hart attackiert, in einigen Fällen mit tödlichem Ausgang. In einem zweiten Szenario, in dem es zu einer größeren Zahl von getöteten Juden kam, handelte es sich häufig nicht um ein lokales, von einer spontan agierenden Menge der einheimischen Bevölkerung getragenes Pogrom, sondern um Situationen, in denen etwa im Krieg oder in Aufständen die Gewalt von Soldaten oder bewaffneten Gruppen ausging, wie z. B. in der Toskana  (Siena), bei Scharmützeln  in Trzemeszno (Posen) 757

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oder  im russisch-türkischen Krieg in Bulgarien (Kazanlăk, Stara Zagora).20 Zu Toten und Verletzten konnte es auch kommen, wenn auf Seiten der Pogromisten höher organisierte Gruppen wie die griechischen Seeleute  in Odessa oder Saisonarbeiter wie  und  in Ekaterinoslav die Täter waren. Ein drittes Szenario, in dem es zu Todesopfern kommen konnte, waren Fälle regelrechter Kämpfe zwischen Christen und Juden, die an manchen Orten, vor allem im Ansiedlungsrayon, häufig einen großen Bevölkerungsanteil stellten, bei denen dann Opfer auf beiden Seiten zu beklagen waren (Smela , Gąbin ). In drei Fällen haben wir allerdings auch von der unorganisierten einheimischen Bevölkerung getragene Pogrome vor uns, in denen jeweils eine größere Zahl von Juden getötet wurde, so in Odessa , Nischni Nowgorod  und auf Korfu und Zakynthos . Was die Zahl jüdischer Opfer angeht, so kommt man zwischen  und  in ganz Europa auf ca.  Tote, wenn man jeweils die maximalen vorliegenden Opferzahlen zugrunde legt, wobei die Angaben »viele« von mir jeweils mit , »mehrere« mit fünf und »einige« mit drei Personen gezählt wurden. Legt man jeweils die niedrigsten Zahlenangaben für Todesopfer unter Juden zugrunde, dann waren es ca.  Tote. Dies sind sicherlich keine geringen Opferzahlen, doch muss man bedenken, dass im Verlaufe eines ganzen Jahrhunderts weniger Juden Opfer kollektiver Gewalt geworden sind als in einem einzigen Pogrom des Jahres  in Odessa, wo zwischen vierhundert und achthundert Juden getötet wurden und es auch einhundert Tote unter den Pogromisten und den Ordnungskräften gab. Gar nicht zu reden von der Zahl der in den Pogromen des russischen Bürgerkrieges und zu Beginn des deutschen Einmarsches in die Sowjetunion im Jahr  ermordeten Juden. Kann man davon ausgehen, dass Todesfälle zumindest in der ungefähren Größenordnung noch relativ genau erfasst wurden, so gilt dies für die Angaben zu Verletzten nicht, insbesondere nicht für den Fall leichterer Verletzungen. D. h., wir finden bei den Angaben zu Verletzten sehr viel seltener genaue Zahlenangaben, sondern noch häufiger unscharfe Angaben wie »einige«, »mehrere« oder »viele«. Legt man die oben festgelegte Zählweise zugrunde, so kommt man auf eine Zahl zwischen  und achthundert verletzten Juden, wobei unklar ist, was im Einzelfall als Verletzung galt und erfasst bzw. nicht registriert wurde.21 Angesichts der oft be Am deutlichsten ist dieses Muster bei dem in unsere Zählung nicht aufgenommen rumänischen Bauernaufstand von  zu erkennen, in dem  Juden getötet oder verletzt wurden, aber auch ca. . Bauern getötet worden sein sollen.  Hinzuzurechnen sind bei der Zahl der Verletzten einige hohe, aber pauschale Angaben im Fall eines Pogroms in Kiew, wo insgesamt  Verletzte angegeben werden, ohne zwischen jüdischen Opfern, Pogromisten und Ordnungskräften zu differenzieren. Dies gilt auch für die neun für Frankreich  angegebenen Verletzten. Ähnlich steht es mit der Angabe der Zahl der Verletzen in Stara Zagora, wo hunderte Juden verletzt worden sein sollen, oder in Korfu, wo nur von »hunderten Verletzten« unter den Pogromisten und den Ordnungskräften die Rede ist, und im Fall von Bergheim, wo die Zahl von achtzehn bis zwanzig Verletzten ohne weitere Differenzierung angeben wird. Bei den Unruhen in der Provinz Posen  sollen an Orten, an denen Ausschreitungen gegen Juden (und Deutsche) vorgefallen waren, vom preußischen Militär  polnische Insurgenten erschossen, weitere ca. 

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ZUSAMMENFASSENDE BEMERKUNGEN

richteten, aber nicht näher qualifizierten Misshandlungen von Juden ist also davon auszugehen, dass sehr viel mehr Juden physisch attackiert, etwa verprügelt worden sind, ohne dass sie davon sichtbare und damit zählbare Verletzungen davongetragen haben bzw. diese auch angezeigt haben, d. h. wir haben von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Ein besonderer Fall ist die Frage der Vergewaltigungen jüdischer Frauen im Zuge von Pogromen. War Michael I. Aronson in seiner Untersuchung der russischen Pogromwelle / noch von  vergewaltigten Frauen ausgegangen, so hat John D. Klier widerlegen können, dass Vergewaltigungen in größerem Umfang stattgefunden haben. Sie gab es offenbar in größerer Zahl nur im Verlauf des russisch-türkischen Krieges in den eroberten bulgarischen Städten Kazanlăk und Stara Zagora, wo zudem Frauen und Mädchen in großer Zahl von Soldaten verschleppt wurden. Außerhalb des Kontextes Krieg, in dem Vergewaltigungen bekanntlich sehr häufig begangen werden, gibt es nur wenige Belege für Vergewaltigungen bei »zivilen« Ausschreitungen. Eine Ausnahme scheint hier die Stadt Balta zu sein, wo es  zu  Vergewaltigungen gekommen sein soll, von denen aber nur drei zu Anklagen und Verurteilungen führten. Vor allem die ausländische Berichterstattung über das Pogrom von Balta hat zu weit übertriebenen Vorstellungen über das Ausmaß dieser Vorfälle beigetragen. Vergewaltigungen jüdischer Frauen gehörten offenbar nicht zum Handlungsrepertoire von Pogromisten, Frauen und Kinder wurden überhaupt deutlich seltener attackiert als Männer. Zu Todesopfern unter den Tumultuanten und Zuschauern kam es selten durch angegriffene Juden, sondern vor allem in Situationen, in denen sich die Ordnungskräfte Angriffen ausgesetzt sahen, insbesondere dann, wenn sie der andrängenden Menge zahlenmäßig weit unterlegen waren und sich nur noch durch Säbelhiebe oder Schüsse in die Menge zu helfen wussten. Dies führte etwa in Borispol und auch in Nezhin, im Gouvernement Chernigov im Jahre , dazu, dass sich die angegriffenen Truppen mit ihren Schusswaffen und Säbeln wehrten und fünf Pogromisten töteten, in Nezhin waren es sogar elf, während es unter Juden keinen Toten gab. Legt man die niedrigsten Angaben zugrunde, so liegt die Gesamtzahl der getöteten Pogromisten bei  Toten, die damit höher liegt als die Zahl der jüdischen Opfer, wenn man ebenfalls die niedrige Schätzung betrachtet. Vergleicht man die maximal geschätzten Werte, so liegen die  Pogromisten (und Zuschauer), wenn man die  getöteten polnischen Insurgenten nicht berücksichtigt, wiederum niedriger als die der Zahl der jüdischen Opfer. Die ermittelte Zahl der Verletzten liegt mit zwischen  und  deutlich unter der der verletzten Juden. Auch hier ist von einer großen Ungenauigkeit und Dunkelziffer auszugehen, da die Teilnehmer

verletzt worden sein. Dies geschah aber nicht während der Ausschreitungen, sondern beim späteren Einmarsch in die jeweiligen Orte. Auch im Fall der Todesopfer finden sich derart undifferenzierte Angaben. Im Fall Preßburgs etwas wird die Zahl von acht bis fünfzehn Toten unter den Tumultuanten und Soldaten genannt.

759

POGROME

an Pogromen die dabei davongetragenen Blessuren wohl eher verborgen als offen präsentiert haben, um sich nicht der Strafverfolgung auszusetzen.22 Todesfälle unter Polizisten und Soldaten waren selten, es finden sich nur fünf bis sechs Fälle in den Pogromberichten, wobei sich unter den in einigen Fällen pauschal genannten Opferzahlen jeweils auch Ordnungskräfte befunden haben. Deutlich häufiger wurden sie jedoch teils auch schwer verletzt. In vielen Fällen wurden sie von der Menge mit Steinwürfen attackiert und es kam – insbesondere bei Festnahmen – zu Handgemengen, wobei sich aus den untersuchten Darstellungen die Zahl von etwas über zweihundert verletzten Ordnungskräften ergibt. Vermutlich liegt diese jedoch wesentlich höher, da häufig von Übergriffen auf Polizisten und Soldaten berichtet wird, ohne dass dabei auf die möglichen Verletzungen eingegangen wird. Es lassen sich zwei typische Szenarien unterscheiden, in denen die Ordnungskräfte Verletzungen davontrugen: einmal in Situationen, in denen sie so bedrängt wurden, dass sie mittels ihrer Bajonette oder mit Gewehrsalven gegen die Pogromisten vorgehen mussten, woraufhin sich die Menge nun voller Wut und Empörung (über diesen scheinbaren Normbruch) gegen die zahlenmäßig meist unterlegenen Ordnungskräfte selbst wandte. Auch Vertreter des Staates wie Landräte, Bürgermeister oder Amtmänner, die versuchten, die Menge zu beruhigen, wurden dabei nicht verschont und mussten ihr Heil im Rückzug suchen. Zum anderen wurden Ordnungskräfte in Situationen verletzt, in denen von einer Menge versucht wurde, verhaftete Personen wieder zu befreien, indem man die Ordnungskräfte direkt anging. Waren Tote und Verletzte in den Pogromen und Tumulten des . Jahrhunderts keineswegs die Regel, so kam es fast immer zu mehr oder minder großen Sachschäden an jüdischem Eigentum, das entweder beschädigt, zerstört oder geraubt sowie hin und wieder auch in Brand gesteckt wurde. Dies bildete gewöhnlich das primäre Ziel der Pogromisten. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts kam ein weiteres Motiv hinzu, nämlich die Tilgung eigener Schulden bei jüdischen Kreditgebern oder Händlern, indem man sich der Schuldscheine bemächtigte bzw. diese vernichtete. Die Spannbreite des jeweils angerichteten Zerstörungswerks war ausgesprochen groß, sie reichte vom Einwerfen einiger Fensterscheiben bis hin zu massiven Zerstörungen und zur völligen Ausplünderung von Häusern, Läden und Synagogen, wobei ganze Stadtviertel oder der überwiegende Teil der Häuser von Juden an einem Ort betroffen sein konnten. So wurden  im elsässischen Durmenach über einhundert Häuser der dort lebenden  Juden zerstört,  im rumänischen Darobani  von zweihundert jüdischen Häusern geplündert, was den wirtschaftlichen Ruin der einheimischen Juden bedeutete. In Odessa wurden   Häuser,  Geschäfte und mehrere Synagogen zerstört. In Kiew waren  die Wohnungen von viertausend Juden betroffen, so dass . Menschen in Notun Der Wert lag vermutlich aber höher, wenn man die Angaben in Fußnote  in Rechnung stellt. Nicht mitgezählt wurden in diesem Fall auch die mit maximal hundert Todesopfern unter den Pogromisten und Soldaten besonders opferreichen Cholera-Unruhen von , da diese nur bedingt als gegen Juden gerichtet angesehen werden können.

760

ZUSAMMENFASSENDE BEMERKUNGEN

terkünften untergebracht werden mussten. Auch wenn, wie  im böhmischen Schüttenhofen, nur die Fenster eingeworfen wurden, so belief sich der Schaden bei sechshundert Fenstern doch auf . Gulden. Der Schaden im Alt-Sandecer Gebiet wurde  auf . Gulden geschätzt.23 In Elisavetgrad führte die Bilanz der Zerstörung im Jahre   attackierte Häuser sowie  zerstörte Läden auf. Der Schaden wurde von jüdischer Seite mit zwei Millionen Rubel veranschlagt, was von offizieller Seite als stark überhöht eingeschätzt wurde. Dies deutet bereits darauf hin, dass es für die Juden schwierig war, eine angemessene Entschädigung für ihre Verluste durchzusetzen. Nur in wenigen Fällen bekamen sie einen Teil ihres geraubten Eigentums zurück, vor allem, wenn von Seiten der Polizei Hausdurchsuchungen angedroht oder durchgeführt wurden, manchmal brachten aber auch die Plünderer aus »schlechtem Gewissen« ihre Beute zurück. Allerdings waren die zurückgegebenen Gegenstände dann oft beschädigt. Manche Plünderer verkauften die gestohlenen Sachen auch offen weiter oder waren verärgert, die einmal erbeuteten Dinge wieder herausgeben zu müssen. In vielen Fällen zogen die Juden jedoch vor Gericht, um dort ihre Entschädigungsforderungen einzuklagen, während die Beschuldigten bzw. die Gemeinden versuchten, solche Zahlungen abzuwenden. Systematische Untersuchungen zu Erfolg oder Misserfolg solcher Bemühungen liegen m. W. bisher nicht vor. Auch sonst verhielten sich die angegriffenen Juden in den meisten Fällen keineswegs passiv, sondern versuchten, sich auf vielen Wegen vor der Pogromgewalt zu schützen bzw. sich dieser zu erwehren. Da es im Vorfeld häufig Anzeichen für drohende Pogrome gab, war das Nachsuchen um Schutz bei den örtlichen Behörden das erste Mittel der Wahl, um den Ausbruch von Gewalt zu verhindern bzw. um ausreichenden Schutz vor Übergriffen sicherzustellen. Weitere Reaktionsmöglichkeiten waren die temporäre Flucht an einen sicheren Ort oder der Unterschlupf bei hilfsbereiten christlichen Nachbarn, bei denen man auch häufig Wertsachen deponierte, wenn man sie im eigenen Haus nicht sicher verstecken konnte. Waren die Ausschreitungen schon im Gange, so gab es Versuche, sich entweder mit einer »Lösegeldzahlung« vor Angriffen auf den eigenen Besitz zu schützen oder sich zu wehren. So griffen die jüdischen Ladeninhaber in Elisavetgrad  zu Brecheisen und Äxten, um die Angreifer abzuwehren. An manchen Orten, in denen Juden einen größeren Bevölkerungsanteil stellten, kam es zu regelrechten Kämpfen zwischen jüdischen und christlichen Einwohnern: In Gąbin (Gombin), einer Stadt, die zu drei Viertel von Juden bewohnt war, soll  der Kampf zwischen beiden Gruppen Stunden gedauert haben. Juden haben aber nicht nur reagiert, sie konnten wie in Algier  auch selbst die Initiative ergreifen. Laut einem Bericht des Figaro gingen dort dreihundert bewaffnete Juden auf die Antisemiten los, wobei es zu einer Messerstecherei mit vielen Verletzten kam. Im Untersuchungszeitraum  Um die Größenordnung der Schäden einschätzen zu können, kann man darauf verweisen, dass das Jahresgehalt eines Facharbeiters in einer Spinnerei damals in etwa  Gulden, der Preis für  kg Butter ungefähr einen Gulden betrug.

761

POGROME

hatten sich jüngere Juden noch nicht, wie später im Zarenreich, zu bewaffneten Selbstverteidigungsgruppen zusammengeschlossen, doch bildeten sich seit  mancherorts jüdische Bürgerwehren. In Cseklész (Lanschütz) verteidigte sich  die jüdische Bürgerwache und verletzte einige Tumultuanten, da die schwachen einheimischen Polizeikräfte sie nicht schützen konnten. In Galizien beteiligten die verantwortlichen Behörden sogar jüdische Selbstschutzgruppen am Kampf gegen die Tumultuanten. Überblickt man die gesamten gut einhundert Jahre, so lässt sich ein deutlicher Anstieg der Opferzahlen sowohl auf Seiten der Juden wie der Pogromisten feststellen. Hatte es in den nur fünfzehn Jahren von  bis  im Zuge der Französischen Revolution und des napoleonischen Krieges in Oberitalien und der Schweiz noch  getötete und  verletzte Juden sowie vier Tote und  Verletzte unter den Tumultuanten gegeben, so kam es in den Jahren von  bis kurz vor der er Revolution trotz der hohen Zahl antijüdischer Unruhen (ca. einhundert) zu vergleichsweise wenigen Opfern: Eventuell hat es zwei Todesopfer unter den Juden gegeben, die Zahl der Verletzten lag je nach der Berechnungsgrundlage zwischen vierzig und . Höher, aber verglichen mit den späteren Perioden doch noch relativ gering, fiel die Zahl der Todesopfer unter den Pogromisten aus:  Tote, zwischen vierzig und siebzig wurden verletzt. In den Jahren von der er Revolution bis zum Beginn des Antisemitismus als politisch-sozialer Bewegung in den späten er Jahren, in die auch der deutsch-österreichische Krieg von  fällt, ist ein deutlich gestiegenes Maß an Mobilisierung zu erkennen (ca.  Ausschreitungen). Die Zahl der jüdischen Todesopfer lag nun vermutlich bei ca. fünfzig Personen (Minimum fünfzig, Maximum /), die Zahl der Verletzten bei ca. , unter den Pogromisten gab es auffällig wenig Tote (zwischen neun plus  getötete Insurgenten in der Provinz Posen) und Verletzte (ca. vierzig plus  getötete Insurgenten). Im letzten Untersuchungszeitraum von  bis  ist dann eine weitere Steigerung der Opferzahlen auf beiden Seiten zu erkennen: die Zahl der jüdischen Todesopfer lag zwischen fünfzig und , die der Verletzten zwischen  und , unter den Pogromisten gab es zwischen  und  Todesopfer sowie ca.  Verletzte. Wie sind diese Unterschiede im Ausmaß der Opferzahlen zu erklären? Hauptsächlich dürfte dies auf die in den genannten drei Perioden ganz unterschiedlichen Fallzahlen der Pogrome zurückzuführen sein. Ereigneten sich zwischen  und  ungefähr einhundert antijüdische Unruhen, so verdreifachte sich diese Zahl in der etwas kürzeren Phase von  bis  fast auf ca.  Fälle. Der Anteil an Toten (ca. fünfzig bis ) und Verletzten (ca. ) unter den Juden hat sich jedoch sogar mehr als verfünffacht, während sie sich unter den Pogromisten teils verringerte ( Todesopfer und vierzig bis  Verletzte). In den großen Wellen antijüdischer Ausschreitungen im Zarenreich, in Deutschland, Ungarn, Böhmen und Mähren sowie in Frankreich hat sich die Zahl der Ausschreitungen noch einmal auf ca. . vervierfacht. Dies gilt aber nicht für die Zahl der jüdischen Opfer: die Zahl der Todesopfer hat sich je nach Modellrechnung nur geringfügig erhöht, die Zahl der Verletzten lag um ein Drittel höher, wenn man die maximalen Zahlen von 762

ZUSAMMENFASSENDE BEMERKUNGEN

 zugrunde legt. Die Zahl der getöteten Pogromisten hat sich gegenüber der Periode vervielfacht auf ca.  Fälle, während sich die Zahl der Verletzten ungefähr versechsfacht hat (ca. ), was möglicherweise für einen konsequenteren Einsatz der nun auch quantitativ verstärkten polizeilichen und militärischen Kräfte spricht. Insgesamt zeigt die Entwicklung des . Jahrhunderts, dass zwar die Zahl der Pogromfälle deutlich ansteigt, was vor allem auf den häufig wellenförmigen Verlauf der Unruhen zurückzuführen ist, doch gilt dies nicht in gleichem Maße für die Opferzahlen pro Fall, d. h., am Gewaltniveau der einzelnen Ausschreitungen änderte sich in dieser Zeit wenig. Auch wenn die Gewalt in einigen wenigen Fällen eine höhere Zahl an Todesopfern gefordert hat (in Odessa , Nischni Nowgorod, Kazanlăk und Korfu), so ist im . Jahrhundert die rituelle Einhegung der Gewalt gegen Personen trotz der oft zu hörenden Morddrohungen weiterhin wirksam geblieben. Es ging zumeist um lokale Angelegenheiten, in denen den Juden die Grenzen ihres Status am Ort aufgezeigt werden sollten, auch wenn sich in einigen Fällen schon übergreifende Konstellationen, wie etwa Nationalitätenkonflikte, abzeichnen. Auch die Rolle der staatlichen Organe veränderte sich in dieser Zeit wenig, da sie ihre Schutzfunktion wahrnahmen und sich – bis auf Ausnahmen – nicht selbst auf die Seite der Pogromisten schlugen, d. h., an der triadischen Relation von angegriffener Minderheit, Pogromisten und Ordnungskräften änderte sich nichts. Erst mit der seit der ersten russischen Revolution / einsetzenden generellen Politisierung, in der Juden zu politischen Gegnern des Staates und zu einer nationalen Gefahr erklärt wurden, und der veränderten Rolle des Staates beginnt sich diese Relation zu verändern, und die Juden gerieten – wie später auch im russischen Bürgerkrieg, in den polnischen Grenzkriegen und den Pogromen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und den folgenden Revolutionen und Konterrevolutionen – zwischen die Fronten und wurden zu Opfern der politisch und nationalistisch motivierten Gewalt. Damit begann ein neues, wesentlich brutaleres Kapitel in der Geschichte antijüdischer Pogrome.

763

Dank Befördert wurde meine Arbeit an dem Thema der kollektiven Gewalt gegen Juden schon früh durch die Zusammenarbeit mit den Kollegen Christhard Hoffmann, Rainer Erb und Stefan Rohrbacher am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, die ebenfalls zu diesem Themenfeld arbeiteten. Auch die sich daraus ergebenden Kontakte zu Helmut W. Smith, der mit seinem Buch, Die Geschichte des Schlachters von  zu den antijüdischen Unruhen in Konitz im Jahre  und seinen historisch vergleichenden Überlegungen From Play to Act. Anti-Jewish Violence in German and European History during the Long Nineteenth Century von  wegweisende Beiträge geliefert hat, haben meine Arbeit vorangebracht. Einen bedeutenden Schub bekam sie zudem durch meine Mitarbeit in der von Wilhelm Heitmeyer und Heinz-Gerhard Haupt geleiteten Forschungsgruppe »Control of Violence« und dem damit verbundenen Forschungsaufenthalt am Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld in den Jahren /, aus der ein erster, theoretische und empirische Aspekte verbindender Aufsatz hervorging.1 Die transnationale Perspektive meines Vorhabens ist schließlich durch das von Ulrich Wyrwa und mir geleitete Forschungskolleg zum Antisemitismus in Europa von - gestärkt worden, in dem Doktoranden aus mehreren europäischen Ländern mitgearbeitet haben, von deren Dissertationen – insbesondere zu Galizien, Litauen, Rumänien, Kroatien, Bulgarien und Griechenland, in denen zumeist auch antijüdische Gewalt ein wichtiger Gegenstand war – ich ebenso profitieren konnte wie von den Arbeiten der Kollegen Darius Staliūnas, Michal Frankl und Daniel Unowsky, mit denen wir im Verlaufe des Kollegs zusammengearbeitet haben. Zu danken habe ich auch Thomas Metzger, der mir mit wichtigem Material zu den St. Galler-Tumulten weitergeholfen hat, meinen Kollegen Michael Kohlstruck und Ulrich Wyrwa sowie der Bibliothekarin des Zentrums für Antisemitismusforschung, Irmela Roschmann-Stellenkamp, für ihre Hinweise und die Beschaffung von Literatur. Nach einer sich jahrelang hinziehenden, oft unterbrochenen Arbeit mit einem immer weiter anschwellenden Manuskript stellte sich mir gegen Ende die Frage, ob daraus überhaupt ein publizierbares Werk entstanden ist. Ich bin daher meiner Kollegin Stefanie Schüler-Springorum, die es auf sich genommen hat, den gesamten Text kritisch zu lesen, und mir wichtige Hinweise zur Überarbeitung gegeben hat, und Christhard Hoffmann, Michael Kohlstruck und Ulrich Wyrwa zu großem Dank verpflichtet, die sich ebenfalls der Mühe unterzogen haben, das theoretische Kapitel und eine Auswahl von Kapiteln aus dem historischen Teil kritisch durchzugehen. Ihnen verdanke ich eine ganze Reihe von Verbesserungsvorschlägen und vor allem auch die Ermutigung, das vorliegende Buch auch zu publizieren, dessen Fehler und Unzulänglichkeiten natürlich allein von mir zu verantworten sind.  Bergmann, Ethnic Riots.

765

DANK

Zu großem Dank verpflichtet bin ich der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer (Basel), der Jehoshua und Hanna Bubis-Stiftung (Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main) und der Axel Springer Stiftung (Berlin) für die großzügige Beteiligung an den Druckkosten des Buches. Mein Dank geht wiederum auch an Frau Prof. Schüler-Springorum als Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin sowohl für die Möglichkeit, das Buch in der Institutsreihe »Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart« zu veröffentlichen, als auch für die großzügige Übernahme eines Teils der Druckkosten seitens des Zentrums. Berlin, November 

766

Großherzogtum Toskana Pisa (österr.)

Livorno Florenz Monte San Savino Siena Florenz

Frankreich/ Elsass/Sundgau

Polen-Litauen

Ghtm. Toskana

Ghtm. Toskana

Ghtm. Toskana

Schweiz

..

Sommer 

.. August 

.. ..

.-.. Juni  .-..

..

..

Lengnau/Endingen

Livorno

Warschau Łęczyca

Durmenach, Hagenthal, Hégenheim, Rixheim, Sierentz, Blotzheim, Buschwiller, Uffheim, Uffholtz, Wattwiller, Wintzenheim außerhalb des Sundgaus: Bergheim Lixheim (Lothringen)

Durmenach, Hagenau Thann

Frankreich/ Elsass



Stadt/Region

Land/Region

Datum

mehrere 



Tote

einige

einige

einige

einige einige

insgesamt 

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer



Tote

mehrere

Verletzte

Tote

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

Übersicht: Tumulte – Excesse – Pogrome in Europa von - (Auswahl)

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

767

768

Kgr. Preußen/ Provinz Südpreußen

Kgr. Preußen

Hep-Hep-Unruhen im Deutschen Bund und angrenzenden Ländern

Kgr. Bayern

Freie Stadt Frankfurt

Ghtm. Hessen-Darmstadt

Kgr. Bayern





Aug.-Sept. 

.-.. .. .-..

.-..

.-..

..

Karlsruhe Pforzheim, Bruchsal, Bühl, Untergrombach, Heidelsheim, Heidelberg Karlsruhe

Ghtm. Baden

.-.. .-..

.. ..

Fulda, Kassel

Kurfürstentum Hessen

Sommerach (Unterfranken), Rimpar/ Leinach bei Würzburg, Burgkunstadt

Darmstadt

Frankfurt am Main

Würzburg Heidingsfeld (bei Würzburg), Bamberg, Bayreuth

Danzig

Warschau

Stadt/Region

. u. ..

Oberfranken

Land/Region

Datum Tote



einige

einige

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer



Tote

einige

Verletzte



Tote



Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

Kgr. Preußen/Westfalen/ Enger Hülchrath, Rheinprovinz Danzig Preußen

Freie Stadt Krakau

Frankreich

.. . Oktoberhälfte .-..



September 

Kgr. Preußen/ Rheinprovinz

Dänemark

Kgr. Preußen

Russisches Kaiserreich

Kgr. Bayern

Königreich Polen

Frankreich

Hamburg

Dezember 



..-..

Osterwoche  (. bzw. ..)

.-..

..

Juli 

..-..

..

Kopenhagen Odense Helsingør, Hillerød, Nestved, Vordingborg, Slagelse

Dänemark

.-..  .. vor dem ..

Hamburg

Wintzenheim/Elsass Phalsbourg (Mosel)

Warschau

Würzburg

Odessa

Danzig

Kopenhagen

Binningen/Mosel Rheinbreitbach

Ribeauville/ Rappoltsweiler (Elsass) Sarrebourg (Lothringen)

Krakau

Hamburg

Hamburg

.-..

Stadt/Region

Land/Region

Datum Tote

mehrere

einige mehrere

einige

mehrere

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer

mehrere

Tote

viele



mehr als 

Verletzte

Tote

viele



einige

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

mehrere

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

769

770 Viernheim Karlsruhe Mannheim Eppingen, Obergimpern, Heidelsheim

Ghtm. Hessen

Ghtm. Baden

Kgr. Bayern

Kgr. Preußen

Kurfürstentum Hessen

Kgr. Bayern/Unterfranken

Ghtm. Baden

Kgr. Bayern/Rheinpfalz

Frankreich/Elsass

September/ Oktober 

.. .-.. Oktober  ./.. Oktober 

./.. 

. . 

vom .. bis ..

Erste Oktoberhälfte 

Februar  .-..

Juni 

.. .-..

Itterswiller Bergheim/Elsass (kleinere Unruhen in anderen Ortschaften im Elsass)

Deidesheim

Obergimpern Eppingen

Sommerach, Thüngen, Großmannsdorf, Veitshöchheim

Hanau und Umgebung (Gudensberg, Felsberg, Wolfhagen, Amöneburg, Sontra)

Breslau

München

Kopenhagen

Dänemark

.-..

Stadt/Region

Land/Region

Datum Tote 

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer



Tote

Verletzte

Tote

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

- Verletzte

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

Kgr. Preußen/ Rheinprovinz

.-..

Hamburg

Schweden

Kgr. LombardoVenetien (österr.)

Kgr. Preußen/Westfalen

Kgr. Preußen

..-..

..-../..

..-..

. Mai-Nov.  ..

.-..

bis ..

.. .. u. .-.. .-..

./.. ./..

Land/Region

Datum

Breslau

Geseke Störmede

Mantua

Stockholm

Hamburg

Neuenhoven, Bedburdyck, Grevenbroich Wevelingshoven und weitere Dörfer, alle Kreis Grevenbroich bzw. Gladbach, Glehn Neuss Düsseldorf, Garzweiler, Hemmerden (Kreis Grevenbroich) Rommerskirchen (Kreis Neuss), Aldenhoven (Kreis Düren) Gladbach (Kreis Jülich), Xanten (Kreis Geldern), Bedburdyk, Hemmerden

Stadt/Region Tote

mehrere

mehrere

einige

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer

/mehrere

mehrere

Tote



viele

einige

einige

Verletzte

Tote



viele

einige

einige

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

771

772

Fürstentum Moldau

Ghtm. Baden

Kgr. Preußen/Provinz Posen

Preußen/Westfalen

Zentraleuropa





..

.. und ..

- ca.  Unruhen

Frankreich, Italien, Österreich-Ungarn, Deutscher Bund, Schweden

Blatzheim

Rogasen

Nonnenweier (Ortenaukreis)

Galati

Prag Prag Prag Prag Reichenberg Böhmisch-Leipa und Reichstadt Kreise Jungbunzlau, Königgrätz und Bidžov.

Kaisertum Österreich/ Böhmen

.. und .-.. .. Anfang August  .. ..

..

Stadt/Region

Land/Region

Datum Tote

viele

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer



Tote

Verletzte

Tote

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

Ende Februar  .. .-.. .. .. .. .-.. .. und .. .-.. ..

.-..

. . ..-.. .-.. .. Febr.-März

Datum

 Ortschaften im Elsass: Altkirch Durmenach Brumath Marmoutier Oberdorff Seppois-le-Bas, Hagenthal-le-Bas, Hagenthal-le-Haut, Otier Saverne Hochfelden Hégenheim Reichelsheim (Odenwald)

Frankreich

Ghtm. Hessen-Darmstadt Ghtm. Baden ( Unruhen) Heidelberg Bretten Bruchsal Heidelsheim Neckarbischofsheim Unterschüpf Berwangen, Ettlingen, Karlsruhe, Nußloch, Richen, Müllheim

Stadt/Region

Land/Region



Tote



viele

einige

mehrere

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer





Tote



Verletzte

Tote

einige

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

773

774 Mergentheim Markelsheim, Weikersheim, Oedheim, Baisingen Wachbach Hochberg b. Ludwigsburg

Kgr. Württemberg

Anfang März März-April 

Körbecke (bei Soest) Peckelsheim Steinheim Scherfede

Kgr. Preußen/Provinz Westfalen

Kgr. Preußen/ Rheinprovinz

Ghtm. HessenDarmstadt

März  .. .. Ende März

März/April

März 

Alzey Bingen

Nettesheim

Burgpreppach Unterlangenstadt, Redwitz, Orte im Rodachgrund, Burgkunstadt

Kgr. Bayern/Ober- und Unterfranken

März 

. und .. .. Juli 

Stadt/Region

Land/Region

Datum Tote

 

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer Tote

Verletzte

Tote

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

.-..

.. .. .. .-..

.-..

Löbau/Lubawa

Glatz Hirschberg Breslau Gleiwitz Ratibor Beuthen Nikolai

Kgr. Preußen/Schlesien

Kgr. Preußen/ Westpreußen

Preßburg

Kaisertum Österreich/ Königreich Ungarn

Alsfeld Gießen Fulda Hofgeismar, Melsungen, Breitenbach, Erdmannsrode, Herleshausen Rotenburg a. d. Fulda Marköbel Langenselbold

Kurfürstentum Hessen

.. ..  .-.. Anfang Mai 

. März-Juni  Anfang August .-..

Stadt/Region

Land/Region

Datum Tote

mehrere



Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer Tote

mehrere

Verletzte

einige

Tote

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

775

776 ()

Buk (Buck) Schroda

..

..

Pinne (Pniewy)  Tremessen (Trzemeszno)  Wreschen (Wrzénia) Kempen Kosten (Koscian) mehrere Grätz (Grodzisk Wielkopolski) Strzelno ( Deutsche)

() 

mehrere

 bis mehrere mehrere 

()

Milosław Stenschewo (Stęszew) Kurnik (Kórnik) Żnin

./.. .. .. . Aprilhälfte

Ende März ..

mehrere Dutzend

-

- Orte

Kgr. Preußen/ Großherzogtum Posen

Ende März-Anfang Mai Ende März ..

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer Tote

Stadt/Region

Land/Region

Datum

()

()

Tote

(-)

() (mehrere)

Verletzte

()

Tote

()

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

Acqui (Terme) Rom

Italien/Kirchenstaat

.. .. .. ..

Brünn, Mosonmagyaróv (Wieselburg-UngarischAltenburg) Neustadt an der Waag (Nové Mesto nad Váhom) Hontianske Trsťany, Szombathely (Steinmanger), Körmend Keszthely (Kestheil) am Plattensee, Stuhlweißenburg

Kgr. Sardinien-Piemont

Kgr. Ungarn

Prag Prag Olmütz Groß-Meseritsch/Velké Meziříčí Prossnitz/Prostějov (Buda-)Pest Preßburg

Stadt/Region

.-..

.. .. .. .-.. und .-.. .. April-Mai 

Kaisertum Österreich/ Böhmen

.. und .. . Mai .. ..

Mähren

Land/Region

Datum





Tote



mehrere

mehrere

 viele  einige

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer

 



Tote

einige viele



mehrere

Verletzte

Tote



viele

viele

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

- getötete Tumultuanten und Soldaten?

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

777

778

Ghtm. Baden

/

Oberendingen Straconice (Strakonitz) Prag Winterberg (Vimperk)

Russisches Kaiserreich

Fürstentum Moldau

Russisches Kaiserreich

Schweiz

Kaisertum Österreich/ Böhmen







..-..

Juni  ..-.. August 

Odessa

Galati

Odessa

Stockholm

Schweden



Langsdorf (Wetterau)

Ghtm. Hessen-Darmstadt

Preßburg Trebitsch (bei Brünn) Iglau Pirnitz Wollein Holleschau Nikolsburg, Olmütz Doloplas Prerau

Nonnenweier

Jugenheim

Stadt/Region

./.-. .  März 

. und . . .. .. .. . Mai 

.-.. .-. Mai 

Ghtm. Hessen-Darmstadt

Februar 

Kaisertum Österreich/ Oberungarn Mähren

Land/Region

Datum



 (viele)

Tote

mehrere



viele

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer Tote

mehrere

Verletzte

Tote



Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

Russisches Kaiserreich

Kgr. Bayern/ Unterfranken

Kaisertum Österreich/ Böhmen

..

Sommer 

Februar-Juli 

April 

Mitte März 

.. .. Mitte März 

.. .. ..

Land/Region

Datum

Hostomice (Hostomitz) Běštín (Bieschtin) Hořovice (Horowitz) Beroun (Beraun) und umliegende Dörfer Tmaň (Tmain) Orte im Kreis Pisek: Sušice (Schüttenhofen) Saaz Wilkischen Hradek Kollinetz (Kolinec) Horaždovice, Dobris Langendorf Welhartitz, Slabetz Neubydzow Taborer Kreis: Müchlhausen, Weselizko, Beneschau, Gitschiner Kreis: Wolenitz (auch Wollenitz)

Wiesenfeld

Akkerman

Stadt/Region Tote

mehrere

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer



Tote





Verletzte

Tote

mehrere







Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

779

780 Würzburg Jaşi  Bukarest Barlad (Moldau) Tekutsch (Tecuciu) (Moldau) mehrere (?) Ismail (Bessarabien) Cahul Vilcov (heute Wylkowe) Darobani

Kgr. Bayern/ Unterfranken

Kgr. Bayern

Rumänien

Mai/Juni 

..

.. .. .. April  ..

.. .. ..

Wiesenfeld, Laudenbach

Tarnow Mielce (bei Krakau) Krakau

..

.. Juni 

Kaisertum Österreich/ Galizien

Tote



viele (?)

mehrere

()



mehrere 

mehrere

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer

.. .. ..

Strakonitz (Strakonice) Stechowitz (Štěchovice) Trebitsch (Třebíč) bei Iglau) Entschob b. Sobieslau (Soběslav) Rakonitz

Stadt/Region

Prossnitz (Prostějov) Soborten (Sobědruhy) b. Teplitz (Teplice) Jamnitz (Jemnice)

Land/Region

Mähren

..

..

Datum Tote

Verletzte

Tote

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

Bulgarien/russ.türkischer Krieg

/

Kalisz

.-..

Juni 

Russisches Kaiserreich

Kiew und Chonow (Ukraine)

Königreich Polen/ Russisches Reich

..

Stuttgart



Juli/August 

Deutschland

.-..

Iannina

Lom (Loma Palanka) Sofia

Griechenland



Żywiec (Saybusch)

-

August  Dezember 

Österreich-Ungarn/ Galizien



Odessa

viele ()

Russisches Kaiserreich

.-..

Suram

Stara Zagora

Russisches Kaiserreich/ Georgien



Lemberg Suczawa (bei Czernowitz)

.-..

Österreich-Ungarn

.. 

Nonnenweier

Tote

sehr viele () mehrere (hundert) einige (?) mehrere

mehrere

viele

 -

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer

 (-)

Ghtm. Baden



Stadt/Region

Svištov Karlovo Kazanlăk

Land/Region

Datum Tote

viele

viele

Verletzte

Tote





Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

781

782

Deutsches Reich/Provinz Argenau (polnisch Posen Gniewkowo)

Russisches Kaiserreich  Fälle davon  vom ..-..

Russisches Kaiserreich

Russisches Kaiserreich

Russisches Kaiserreich

Russisches Kaiserreich

Russisches Kaiserreich

..

ab ..-

..

.-..

.-.. ..

.-..

..

Zhmerinka (Gouvernement Podolien) Konotop (Gouvernement Chernigov)

Kiew

Znamenka Golta

Anan’ev Berezovka

Elisavetgrad

Berlin

Deutsches Reich

..

Stadt/Region

Land/Region

Datum

-



-

Tote



mehrere



Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer

-





Tote

 (bis )





Verletzte

Tote

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

 Tote  Verletzte (größtenteils Juden/ auch Pogromisten)

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

Land/Region

Russisches Kaiserreich

Russisches Kaiserreich

Russisches Kaiserreich

Russisches Kaiserreich

Russisches Kaiserreich

Russisches Kaiserreich/ Litauen

Russisches Kaiserreich

Datum

Ende April 

..

Ende Mai 

..-..

.-..

..

.. April/Mai 

Ekaterinoslav Klimovici (Provinz Mogilev)

Balbieriškis (Balwierzyszki) und umgebende Dörfer

Borispol Nezhin (Gouvernement Chernigov)

Pereiaslav

Odessa Kishinev

Smela (Gouvernement Kiew)

Volochisk (Wolhynien) Aleksandrowsk und Lozova (Gouvernements wie Ekaterinoslav) Orekhov und Berdiansk (Tauride) Romny (Poltawa)

Stadt/Region





Tote

einige

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer



 () 



Tote



()

einige

Verletzte

Tote

einige einige

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

mehrere Verletzte

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

783

784

.-.. .-.. .. .-.. .. .. .-.. .. .-.. .. .-.. .-.. .. .. .. .-. .-.. .. ..

Juli-September 

Deutsches Reich/Pommern und Westpreußen ( Orte) Neustettin Hammerstein Dallentin Bärwalde Bublitz Baldenburg Jastrow Rummelsburg i. P. Konitz Lauenburg Schivelbein Pollnow Polzin Falkenburg Zippnow Tempelburg Stettin Rogasen (Posen) Stolp Friedland Ratzebuhr

Rezhice (Bezirk Wilna) Dysna District Ariogala (Provinz Kowno) Žiežmariai Prienai (Provinz Suvalki) Naumiestis

Russisches Kaiserreich/ Nordwest-Russland Litauen

April  Mai  .-.. April  Frühjahr  ..

Litauen

Stadt/Region

Land/Region

Datum Tote



mehrere



-

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer Tote

ca. 

Verletzte

Tote

mehrere

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

Österreich-Ungarn Böhmen

Österreich-Ungarn/ Königreich Ungarn

..

Juli -

.-..

.-.. Juli 

Königreich Polen

.. .. .. ..

 Wellen antijüdischer Ausschreitungen in  ungarischen Komitaten Pápa (Bezirk Veszprém) Komáron u.a. Steinamanger (Szombately) Preßburg

Elbe-Kosteletz (Kostelec ad Labem)

Moshorino Pinsk Aleksandriia Aleksandriev Distrikt bei Elisavetgrad Iłów Gąbin Janów Czartowiec

Abazovka Balta (Gouvernement Podolien) ca.  Vorfälle in der und Umgebung

Russisches Kaiserreich

.-.. .-..

.-.. .. .. .-..

Warschau

Königreich Polen/ Russisches Kaiserreich

.-..

Stadt/Region

Land/Region

Datum

keine Todesopfer

 - (bis )

-

Tote

einige



()  Vergewaltigungen ( angezeigt)

-

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer ?

Tote

mehrere

einige







Verletzte

Tote



Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

einige Tote bei Schlägereien, einige Vergewaltigungen

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

785

786

Ende August 

August

Ende SeptemberMitte Oktober 

Datum

Land/Region

 umliegende Orte: Lanschütz (Cseklész), Rethe Wartberg (Senec), Pezinok (Bösing) und Ivanka, Trnava (Tirnau), Magyar-Bel, GroßSchützen (Velke Leváre), Wieselburg-Ungarisch Altenburg (Mosonmagyarovár) Budapest (Stadtteil Rakospalota) Preßburg Veszprém (Weißbrunn) Ödenburg (Sopron) Steinamanger (Szombately) Nagy-Legh, Nagy-Magyar Schenkwitz, Deutschkreutz Sered (Szered) Csurgó Saarhida Zalalövö Zalaegerszeg (Egerseg) Dörfer bei Zalaegerszeg: Bessenyo, Zalva, Csács, Türje

Stadt/Region

()

()

Tote

() mehrere ()

einige

mehrere

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer

()

mehrere

Tote

einige

mehrere

mehrere

Verletzte 

Tote

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

Schweiz

Russisches Kaiserreich

Österreich-Ungarn/ Kgr. Ungarn/Kronland Kroatien-Slawonien

Deutsches Reich

.-.. 

Ende August 

.-..

Land/Region

.-..

..

Anfang September

Datum

Neustettin

Bednja Ländliche Gebiete

Ekaterinoslav

St. Gallen

Sümec Söjtör Lučenec (Losoncz) Neusohl (Banská Bystrica) Öriszentpéter Groß-Kanizsa (Nagykanisza) Keszthely Zalaapáti Kapovár Gyékényes Käsmarkt (Kežmarck) Iglo (Spisská Nová Ves) Groß-Magendorf (Nagymegyer) Nadasch Erlau Tapolca Szigetvár Veszprém (Weißbrunn)

Stadt/Region



()

Tote



viele

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer





()

Tote

mehrere



mehrere ()

Verletzte

Tote



Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

787

788

Russisches Kaiserreich, Litauen

Rumänien

Griechenland

..

..

..-..

Korfu

Craiova

Dolginovo (Provinz Vilna)

Brusturoasa

Vraca

Orte im Kreis Grevenbroich

Bulgarien

Rumänien

Anfang Juli und .-..

Varna

..

Bulgarien



Deutschliptsch/Németlipcse/Nemecká Lupča

Xanten

Österreich-Ungarn Kgr. Ungarn

März 

Molėtai Plungė

Deutsches Reich

Russisches Kaiserreich/ Litauen



Dombrovitske

.. u. .-.. Mitte Juli 

Russisches Kaiserreich

..

Nischni Nowgorod

Zakynthos

Russisches Kaiserreich

.-..

Stadt/Region

..

Land/Region

Datum

 bis 



Tote

einige

sehr viele

einige

einige

viele

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer

mehrere Tote 



Tote

sehr viele

Verletzte



Tote

mehrere

viele

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

mehrere Tote und hunderte Verletzte unter Tumultuanten und Soldaten (?)

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

Griechenland

Russisches Kaiserreich





Schpola (Gouvernement Kiew), Kantakusenka (Gouvernement Kherson)

Larissa Trikala

Toulouse

Frankreich

Bukarest Galatz

..

Rumänien

.. Dez. 

Bordeaux Oran

Beraun, Gitschin, Königgrätz, Melnik, Tabor.

Frankreich /Algerien

Mai 

Kolin

.-..

Österreich-Ungarn/ Mähren

..

Elbe-Kosteletz

Prag

Österreich-Ungarn/ Böhmen



Iuzovka (Cholera-Riot)

..-..

Russisches Kaiserreich

..

Starodub (Gouvernement Chernigov

Eger, Asch, Karlsbad, Saaz

Russisches Kaiserreich



Stadt/Region

Ende November  Österreich-Ungarn/ Böhmen

Land/Region

Datum Tote

einige einige

viele

mehrere

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer

einige

Tote

viele

mehrere

-

Verletzte

Tote



Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

- Tote,

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

789

790

.-.. und .-.. .-.. .-.. .-.. -.. .-.. .-.. .-.. .-.. .-.. .-.. .. .-. .-. .-. .-.. .-.. .-.. .-.. Ende Januar  Ende Januar 

Datum

Marokko

Algerien

Frankreich ( Orte – davon  mit Übergriffen auf Juden)

Land/Region

Marseille Bordeaux Nantes Rouen Chalon-sur-Saône Perpignan Lyon Angers Saint-Malo Rennes, Lunéville Dijon Saint-Dié Epinal Ligny (Meuse) Bar-le-Duc Dieppe Algier Mustapha, Blidah, Boufarik Tazza

Paris

Stadt/Region

-

Tote

ca. 

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer



Tote



Verletzte

Tote

 Verletzte

mehrere



Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

Bulgarien

Russisches Kaiserreich

Österreich-Ungarn/ Böhmen

.. ./..



.. ..

.-.. Mai-Juni

bis Juli 

.-..

Polná und Umgebung Náchod

Nikolaev (Gouvernement Ekaterinoslav)

Jambol Sliven

an  Orten (Bauernunruhen) Wieliczka u. Klasno Kalwarya Zebrzydowska Przemysl (Ostgalizien) Frysztak Jaslo und Umgebung Kolaczyce, Sobniów, Ujanowice, Kamienica, Laskowa, Swierchowa, Gorlice, Brzesko, Limanonwa, Tarnów u. a. Alt-Sandec (Stary Sącz) Neu-Sandec (Nowy Sącz) und Dörfer der Umgebung Ostgalizien (an  Orten): Tluste Jaroslaw Lisko, Sanok, Dobromil, Brzozów

Österreich-Ungarn/ Galizien

Februar bis Juli 

-.. .-.. .. .. .-.. .. Ab ..

Stadt/Region

Land/Region

Datum

-

Tote

einige  einige einige

viele

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer



viele



 viele



 

viele

insges.  

Verletzte

Tote

Tote

mehrere



Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

791

792

Rumänien

..

Iaşi

Stadt/Region

.. und ..

.-.. .. .-..

.. .. .. Prag Prerau (Přerov), Jaromeř, Kuta Hora (Kuttenberg), Laun Wallachisch-Meseritsch (Valašské Meziříčí) Holleschau (Holešov), Wsetin (Vsetín) Královice, Polná, Pardubitz, Rakonitz, Adler-Kosteletz (Kostelec nad Orlici), Pečky (Pecek), Czaslau, Zubři (Zubern), Leipnik, Lettowitz, Boskowitz, Roznau (Rožnov pod Radhoštěm) Neubidschow (Nový Bydžow)

Mitte Oktober-An- Österreich-Ungarn/Böh- Dörfer u. Kleinstädte fang Dezember  men und Mähren ()

Land/Region

Datum Tote



Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer

viele Schwerverletzte

- -

-  (-)

Verletzte

insges. -

Tote

Tote

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

.. .. .. .. .. .-.. .. .. ..

.. Ende Mai  bis Mitte Juni

..

.. .-..

Schlochau, Tuchel, Flatow Kreise Karthaus und Berent Neustettin Stolp Bütow Rummelsburg Krojanke Schlochau Konitz Berent Janowitz Schlochau Schlawe

Konitz Deutsches Reich/ Westpreußen/Pommern/ Umgebung: Posen Prechlau ca.  Fälle Hammerstein, Neustettin Baldenburg, Schlochau, Vandsburg, Tuchel, Stegers, Preußisch Friedland, Bütow, Prechlau, Czersk, Schlawe Kreise Wirsitz, Kolmar und Czanikau Konitz

.. und .. und .-..

Stadt/Region

Land/Region

Datum Tote

insg. mehrere

einige

einige

Verletzte

Zahl der jüdischen Opfer Tote

einige

mehrere



Verletzte



Tote

viele

mehrere

viele

Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

793

794 

einige





Verletzte mehrere mehrere mehrere

Tote

Zahl der jüdischen Opfer Tote

Verletzte

Tote



Verletzte

Zahl der Opfer unter Zahl der Opfer den Tumultuanten unter Polizei/Militär

in Klammern ( )– unsichere bzw. voneinander abweichende Angaben

Lom Vidin

Bulgarien

.-.. April 

Kjustendil Sofia Vraca (?)

Bulgarien

.. April   in vielen Orten

Konstantinovo Linkuva Pašvitynė Pamūše

Russisches Kaiserreich/ Litauen

.. .. .. ..

Ab Februar  und Österreich-Ungarn/  Kgr. Ungarn/Kronland Kroatien/Slawonien

Stadt/Region

Land/Region

Datum

Tote/Verl.

Nicht zuzuordnen

ÜBERSICHT: TUMULTE

– EXCESSE – POGROME IN EUROPA VON 1787-1904 (AUSWAHL)

Quellen und Literatur Zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften Agramer (politische) Zeitung) () Allgemeine Zeitung () Allgemeine Zeitung, Abendblatt (München),  Allgemeine Zeitung des Judenthums (AZJ) (ab  ff.) Berliner Vereinsbote () Brünner Zeitung (, ) Coburger Zeitung (-) Confluentia () Das Vaterland. Zeitung für die österreichische Monarchie (-) Der treue Zions-Wächter () Der Israelit (-) Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts (-) Der Orient (-) Der Tagesbote (Brünn) () Deutsche constitutionelle Zeitung Die Debatte () Die Dorfzeitung () Die jüdische Stimme () Die Presse (-) Die Welt (-) Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift (-) Frankfurter Journal () Hesperus. Ein Nationalblatt für gebildete Leser () Im Deutschen Reich () Kikeriki () Klagenfurter Zeitung () L’Aurore () L’Espérance du Peuple () L’independance Roumaine La Depêche algérienne () La France () La Libre Parole () Le Figaro () Le Galois () Le Siècle () (Linzer) Tages-Post () Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus () Münchner Neuigkeits-Kourier () National-Zeitung () Neue Freie Presse (-) Neue Speyerer Zeitung ()

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QUELLEN UND LITERATUR

New York Times () Ostschweiz () Prager Zeitung () Preßburger Zeitung () St. Galler Stadt-Anzeiger () Tagblatt der Stadt St. Gallen () Vorarlberger Volksblatt () Wiener Abendzeitung () Westungarischer Grenzbote () Wiener Abendpost () Wiener Presse () Wiener Zeitung (-)

Gedruckte Quellen und zeitgenössische Schriften Aktenstücke zur Orientierung über die Vorgänge in St. Gallen vom . bis . Juni , St. Gallen . Arrivabene, Guiseppe, Compendio Chronologico-critico della Storia di Mantova della sua Fondazione sino ai Nostri Giorni, Bd. , bearbeitet von Renato Giusti, Academia Virgiliana di Mantova, Mantua , S. -; von Bruno Di Porto wiederabgedruckt unter dem Titel: Una Sommossa Popolare Antiebraica a Mantova nel  dal Compendio della Storia di Mantova (-), von Guiseppe Arrivabene, in: Materia Giudaica /, /, S. -. Badischer Landtag, . Kammer, /. Protokolle Bd. , Verhandlungen der zweiten Kammer. Fünfunddreißigste öffentliche Sitzung, vom . März , S. - (http:// digital.blb-karlsruhe.de/blbihdl/periodical/pageview/). Friedländer, Hugo, Der Knabenmord in Xanten vor dem Schwurgericht zu Cleve vom . bis . Juli . Ausführlicher Bericht, Cleve . Fries, Jakob Friedrich, Über die Gefährdung des Wohlstandes und des Charakters der Deutschen durch die Juden, Heidelberg . Günther, Leo, Würzburger Chronik. Personen und Ereignisse von -, Würzburg . Heifetz, Elias, The Slaughter of the Jews in the Ukraine in , New York . Holst, Ludolf, Über das Verhältnis der Juden zu den Christen in den deutschen Handelsstädten, Leipzig . Holst, Ludolf, Das Judenthum in allen dessen Theilen aus einem staatswissenschaftlichen Standpuncte betrachtet, Mainz . Isaac, Jules, Expériences de ma vie, Paris . Judavics-Paneth, L., Pogromprozesse, Königsberg . Jurisprudence Générale du Royaume. Recueil Périodique et Critique de Législation, de Doctrine de Jurisprudence, et Matière Civile, Commerciale, Criminelle, Administrative et de Droit Public, von M. Dalloz, Paris . Lewald, Fanny, Meine Lebensgeschichte,  Bde., hrsg. von Ulrike Helmer, Königstein/ Taunus . Linden, A., Prototyp des Pogroms in den achtziger Jahren, in: Die Judenpogrome in Russland, hrsg. im Auftrag des Zionistischen Hilfsfonds in London von der zur Erforschung der Pogrome eingesetzten Kommission, I. Allgemeiner Teil, Köln, Leipzig , S. -.

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GEDRUCKTE QUELLEN UND ZEITGENÖSSISCHE SCHRIFTEN

Marr, Wilhelm, Der Sieg der Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet, Bern . Megillat Baisingen, in: Abraham Gilam, Die historische Bedeutung der Megillat Baisingen, in: Leo Baeck Institute Bulletin , , S. -. Nathan, Paul, Der Prozess von Tisza-Eslár. Ein Antisemitisches Culturbild, Berlin . Nathan, Paul, Xanten-Cleve. Betrachtungen zum Prozeß Buschhoff, Berlin . Nussbaum, Arthur, Der Polnaer Ritualmordprozess. Eine kriminalpsychologische Untersuchung auf aktenmässiger Grundlage, Berlin . Oelckers, Theodor, Politisches Rundgemälde oder kleine Chronik des Jahres  – Für Leser aus allen Ständen, welche auf die Ereignisse der Zeit achten, Leipzig . Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob (Hrsg.), Beiträge von jüdischen und christlichen Gelehrten zur Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens, Frankfurt a. M. . Philalethes (Pseudonym für Friedrich Alexander Simon), Beleuchtung der Stimme des Volks über die Juden, Niedersachsen . Philopatros, Stimme des Volcks über die Juden, o. O. . Der Prozeß von Tisza-Eszlar. Verhandelt in Nyiregyhaza im Jahre , Wien. Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden im Rheinland -. Eine Dokumentation, Teil , bearb. von Dieter Kastner, Köln . Friedrich Rühs, Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht. Mit einem Anhang über die Geschichte der Juden in Spanien, Berlin . Russian Atrocities in Asia and Europe during the Months of June, July, and August , printed by A. H. Boyajian, Constantinoble . Scheuring, Theodor A., Das Staatsbürgerrecht der Juden. Eine unpartheiische Würdigung in Beziehung auf die von Salomon Hirsch in Würzburg an die Ständeversammlung in Baiern eingereichte Vorstellung, Würzburg . Schirnding, Ferdinand, Das Judenthum in Oesterreich und die böhmischen Unruhen, Leipzig . Schmidt, Adolf (Hrsg.), Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst, Geschichte, Geographie, Statistik und Naturkunde, Bd. , Wien . Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses, . Sitzung am . März , S. -. Stenographische Berichte des Preußischen Abgeordnetenhauses, . Sitzung vom .. und . Sitzung vom ... Stenographische Berichte des Preußischen Abgeordnetenhauses, . Sitzung vom .., S.  ff. und  ff. Varnhagen von Ense, Karl August, Denkwürdigkeiten des eignen Lebens. Die Karlsruher Jahre -, hrsg. von H. Haering, Karlsruhe . Verhandlungen des Deutschen Reichstages, . Sitzung am . Mai , S. -. Weiß, F. G. Adolf, Chronik der Stadt Breslau von der ältesten bis zur neuesten Zeit, Breslau . Wuttke, Heinrich, Städtebuch des Landes Posen, Leipzig  (auch ) (online unter: https://archive.org).

797

QUELLEN UND LITERATUR

Forschungsliteratur Abramson, Henry, A Prayer for the Government. Ukrainians and Jews in Revolutionary Times, -, Cambridge, Mass. . Abudu Stark, Margaret J., u. a., Some Empirical Patterns in a Riot Process, in: American Sociological Review , , S. -. Adorno, Theodor W./Else Frenkel-Brunswik/Daniel J. Levinson/Richard N. Sanford, The Authoritarian Personality, New York . Ahlheim, Klaus/Bardo Heger, Nation und Exklusion. Der Stolz der Deutschen und seine Nebenwirklungen, Schwalbach a. T. . Ahrne, Göran/Nils Brunsson, Organization Outside Organization; The Significance of Partial Organization, in: Organization, /, , S. -. Akiyama, Yoko, Das Schächtverbot von  und die Tierschutzvereine: Kulturelle Nationsbildung der Schweiz in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts, phil. Diss. University of Tokyo  (http://hdl.handle.net//). Albrecht, Henning, Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen, -, Paderborn . Albrecht, Henning, Preußen, ein Judenstaat. Antisemitismus als konservative Strategie gegen die »Neue Ära« – Zur Krisentheorie der Moderne, in: Geschichte und Gesellschaft , , S. -. Alderman, Geoffrey, The Anti-Jewish Riots of August  in South Wales, in: Welsh History Review , , S. -. Allport, Gordon W./Leo J. Postman, The Psychology of Rumor, New York  (zuerst ). Andersson, Lars M./Henrik Bachner, Schweden, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. : Länder und Regionen, hrsg. von Wolfgang Benz, München , S. -. Angerbauer, Wolfram/Hans Georg Frank: Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn. Geschichte, Schicksale, Dokumente. Landkreis Heilbronn, Heilbronn  (Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn. Bd. ). Arad, Yitzhak, The Murder of the Jews in German-Occupied Lithuania (-), in: Alvydas Nikžentaitis/Stefan Schreiner/Darius Staliūnas (Hrsg.), The Vanished World of Lithuanian Jews, Amsterdam, New York , S. -. Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Frankfurt a. M.  (amerik. Ausgabe ). Arnold, Klaus, Armledererhebung, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. , München, Zürich , Sp. . Arnold, Klaus, Die Armledererhebung in Franken , in: Mainfränkisches Jahrbuch , , S. -. Arnsberg, Paul, Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. : Der Gang der Ereignisse, hrsg. vom Kuratorium für jüdische Geschichte e. V. Frankfurt a. M. Bearbeitet und vollendet durch Hans-Otto Schemps, Darmstadt . Aronson, Michael I., The Anti-Jewish Pogroms in Russia in , in: John D. Klier/Shlomo Lambroza (Hrsg.), Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge , S. -. Aronson, Michael I., Troubled Waters. The Origins of the  Anti-Jewish Pogroms in Russia, Pittsburgh .

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FORSCHUNGSLITERATUR

Ayoun, Richard, A propos du pogrom de Constantine (Aout ), in: Revue des Etudes juives , , S. -. Ayoun, Richard, Les Juifs d’Algerie. De la dhimma a la naturalisation française, in: Les Temps Modernes, No. , , S. -. Babejová, Eleonóra, Fin-de-Siècle Pressburg. Conflict and Cultural Coexistence in Bratislava -, New York . Baberowski, Jörg, Juden und Antisemiten in der russischen Rechtsanwaltschaft -, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas , , S. -. Baberowski, Jörg, Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen /, , S. -. Baberowski, Jörg/Gabriele Metzler (Hrsg.), Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt a. M., New York . Baberowski, Jörg, Einleitung: Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt, in: ders./Gabriele Metzler (Hrsg.), Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt a. M., New York , S. -. Baberowski, Jörg, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München . Baecker, Dirk, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt a. M. . Balakirsky-Katz, Maya, Émile Zola, the Cochonnerie of Naturalist Literature, and the Judensau, in: Jewish Social Studies: History, Culture, Society n. s., /, , S. -. Banton, Michael, Racial and Ethnic Competition, Cambridge . Barth, Boris, Genozid. Völkermord im . Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen, München . Barth, Frederik (Hrsg.), Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Cultural Differences, Boston . Barth, Frederik, Overview: Sixty Years in Anthropology, in: Annual Review of Anthropology /, , S. -. Basu, Amrita, Why Local Riots Are not Simply Local: Collective Violence and the State in Bijnor, India -, in: Theory and Society , , S. -. Bauer, Markus, Zur Geschichte eines »Pogroms« – Iaşi, Juni , in: Aschkenas /, , S. -. Baumann, Uli/François Guesnet, Kristallnacht – Pogrom – State Terror: A Terminological Reflection, in: New Perspectives on Kristallnacht: After  Years, the Nazi Pogrom in Global Comparison, in: The Jewish Role in American Life. An Annual Review of the Casden Institute for the Study of the Jewish Role in America, Vol. , , edited by Steven J. Ross, Wolf Gruner, Lisa Ansell, S.-. Bauman, Zygmunt, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Stuttgart . Behringer, Wolfgang, Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München . Bell-Fialkoff, Andrew, Ethnic Cleansing, New York . Benninghaus. Christina/Michael Hecht, Gewalt in Hungerunruhen , in: Werner Freitag/Erich Pohlmann/Matthias Puhle (Hrsg.), Politische, soziale und kulturelle Konflikte in der Geschichte von Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) , S. -. Benz, Wolfgang, Der Novemberpogrom , in: ders. (Hrsg.), Die Juden in Deutschland -. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, München , S. -. Benz, Wolfgang, The November Pogrom of : Participation, Applause, Disapproval, in: Christhard Hoffmann/Werner Bergmann/Helmut W. Smith (Hrsg.), Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History. Ann Arbor , S. -.

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QUELLEN UND LITERATUR

Benz, Wolfgang/Brigitte Mihok (Hrsg.), »Juden unerwünscht«. Anfeindungen und Ausschreitungen nach dem Holocaust, Berlin . Berding, Helmut (Hrsg.), Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution, Göttingen . Bergesen, Albert/Max Herman, Immigration, Race, and Riot: The  Los Angeles Uprising, in: American Sociological Review , , S. -. Bergmann, Werner/Christhard Hoffmann, Kalkül oder »Massenwahn«? Eine soziologische Interpretation der antijüdischen Unruhen in Alexandria  n. Chr., in: Rainer Erb/Michael Schmidt (Hrsg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin , S. -. Bergmann, Werner (Hrsg.), Error without Trial. Psychological Research on Antisemitism Current Research on Antisemitism, Vol. II, hrsg. von Herbert A. Strauss/Werner Bergmann, Berlin, New York . Bergmann, Werner, Soziale und kulturelle Bedingungen kollektiver Gewalt in Pogromen, in: Gewalt gegen Juden. Die Novemberpogrome von  in historischer Perspektive, Protokolle des VI. Lerntags des Zentrums für Antisemitismusforschung, hrsg. von Herbert A. Strauss/Werner Bergmann/Christhard Hoffmann, Berlin , S. -. Bergmann, Werner, Pogrome: Eine spezifische Form kollektiver Gewalt, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie /, , S. -. Bergmann, Werner, Geschichte des Antisemitismus, München . Bergmann, Werner, Pogrome, in: Wilhelm Heitmeyer/John Kagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden , S. -. Bergmann, Werner, Heinrich Eugen Marcard, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. /, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -. Bergmann, Werner, Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. /, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -. Bergmann, Werner, Staat im Staate, in: Handbuch des Antisemitismus, Bd. : Begriffe, Theorien, Ideologien. hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -. Bergmann, Werner, Ritualmordvorwurf in Xanten (), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -. Bergmann, Werner, Ethnic Riots in Situations of Loss of Control: Revolution, Civil War, and Regime Change as Opportunity Structures for Anti-Jewish Violence in Nineteenth and Twentieth Century Europe, in: Wilhelm Heitmeyer/Heinz-Gerhard Haupt/Stefan Malthaner/Andrea Kirschner (Hrsg.), Control of Violence. Historical and International Perspectives on Violence in Modern Societies, New York, Heidelberg , S. -. Bergmann, Werner, Hep-Hep-Krawalle, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd.  He-Lu, hrsg. von Dan Diner, Stuttgart, Weimar , S. -. Bergmann, Werner, »Nicht aus den Niederungen des Hasses und des Aberglaubens«. Die Negation von Emotionen im Antisemitismus des deutschen Kaiserreichs, in: Geschichte und Gesellschaft /, , S. -. Bergmann, Werner, Rassismus/Antisemitismus, in: Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Christian Gudehus/Michaela Christ (Hrsg.), Stuttgart, Weimar , S. -.

800

FORSCHUNGSLITERATUR

Bergmann, Werner/Mona Körte (Hrsg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin . Berk, Stephen M., Year of Crisis, Year of Hope. Russians Jews and the Pogroms of -, Westport, CT . Bevinetto, Jeanine, Les manifestations antisémites a Paris et en provinces en  et , Paris . Binder-Iijima, Edda, Die Institutionalisierung der rumänischen Monarchie unter Carol I. -, München . Binnenkade, Alexandra, KontaktZonen. Jüdisch-christlicher Alltag in Lengnau, Köln, Weimar, Wien . Binnenkade, Alexandra, Kontaktnahmen. Jüdisch-christliche Kontaktzonen im Surbtal (Schweiz), in: dies./Ekaterina Emeliantseva/Svatoslav Pacholkiv, Vertraut und fremd zugleich. Jüdisch-christliche Nachbarschaften in Warschau – Lengnau – Lemberg, Köln, Weimar, Wien , S. -. Birnbaum, Pierre, Between Social and Political Assimilation: Remarks on the History of Jews in France, in: ders./Ira Katznelson (Hrsg.), Paths of Emancipation. Jews, States, and Citizenship, Princeton , S. -. Birnbaum, Pierre, The Anti-Semitic Moment. A Tour of France in , Chicago  (franz. Ausgabe: Le moment antisémite, Paris ). Black, Donald, Crime as Social Control, in: American Sociological Review , , S. -. Blalock, Hubert M., Toward a Theory of Minority-Group Relations, New York . Bloxham, Donald/Dirk A. Moses, Genocide and Ethnic Cleansing, in: Donald Bloxham/ Robert Gerwarth (Hrsg.), Political Violence in Twentieth-Century Europe, Cambridge , S. -. Blum, Haim Karl/Lucian Zeev-Hersovici, Galaţi, in: Encyclopedia Judaica, . Auf., Vol. , Denver , S. . Blumer, Herbert, Race Prejudice as a Sense of Group Position, in: Pacific Sociological Review, , , S. -. Blüdnikow, Bent, Jødeuroen i Køpenhavn , in: Historie/Jyske Samlinger , , S. . Blüdnikow, Bent, Jødefejden -, in: ders. (Hrsg.), Jøderne som frie borgere. Anordningen af . marts , Kopenhagen , S. -. Bobo, Lawrence/Vincent L. Hutchings, Perceptions of Racial Group Competition: Extending Blumer’s Theory of Group Position to a Multiracial Social Context, in: American Sociological Review , , S. -. Böning, Holger, Die Emanzipationsdebatte in der Helvetischen Republik, in: Aram Mattioli (Hrsg.), Antisemitismus in der Schweiz -, Zürich , S. -. Bohstedt, John, Riots and Community Politics in England and Wales -, Cambridge, Mass. . Bohstedt, John, The Dynamics of Riots: Escalation and Diffusion/Contagion, in: Michael Potegal/John F. Knutson (Hrsg.), The Dynamics of Aggression. Biological and Social Processes in Dyads and Groups, Hillsdale, N. J., , S. -. Bohstedt, John/Dale E.Williams, The Diffusion of Riots: The Pattern of , , and  in Devonshire, in: Journal of Interdisciplinary History , , S. -. Boudon, Jacques-Olivier, Napoleón et les cultes: les religions en Europe à l’aube di XIXe siècle, -, Paris .

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QUELLEN UND LITERATUR

Boysen, Iris, Die revisionistische Historiographie zu den russischen Judenpogromen von  bis , in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. , , S. -. Brandes, Detlef/Holm Sundhaussen/Stefan Troebst (Hrsg.), Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des . Jahrhunderts, Wien . Brass, Paul R. (Hrsg.), Riots and Pogroms, Hampshire . Brass, Paul R., Introduction: Discourses of Ethnicity, Communalism, and Violence, in: ders. (Hrsg.), Riots and Pogroms, Hampshire , S. -. Brockett, Charles D., A Protest-Cycle Resolution of the Repression/Popular-Protest Paradox, in: Social Science History , , S. -. Brophy, James M., Violence Between Civilians and State Authorities in the Prussian Rhineland -, in: German History /, , S. -. Browning, Christopher, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon  und die »Endlösung« in Polen, Reinbek . Brubaker, Rogers, Rethinking Nationhood: Nation as an Institutionalized Form, Practical Category, Contingent Event, in: Contention /, . Brubaker, Rogers, Nationalism Refrained: Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge . Brubaker, Rogers/David A. Laitin, Ethnic and Nationalist Violence, in: Annual Review of Sociology , , S. -. Bruhn, Manfred, Gerüchte als Gegenstand der theoretischen und empirischen Forschung, in: ders./Werner Wunderlich (Hrsg.), Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform, Bern, Stuttgart . Bruhn, Manfred/Werner Wunderlich (Hrsg.), Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform, Bern, Stuttgart . Bubnys, Arūnas, The Holocaust in Lithuania: An Outline of the Major Stages and their Results, in: Alvydas Nikžentaitis/Stefan Schreiner/Darius Staliūnas (Hrsg.), The Vanished World of Lithuanian Jews, Amsterdam, New York , S. -. Buchen, Tim, Antisemitismus in Galizien. Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um , Berlin . Buchen, Tim, Die galizischen Bauernunruhen, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. , hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -. Budnitskii, Oleg, Russian Jews between the Reds and the Whites, -, Philadelphia . Buford, Bill, Geil auf Gewalt, Unter Hooligans, München . Burns, Michael, Rural Society and French Politics. Boulangism and the Dreyfus Affair , Princeton  (Auszüge wiederabgedruckt unter dem Titel »Boulangism and the Dreyfus Affair -« in: Herbert A. Strauss (Hrsg.), Hostages of Modernization. Studies on Modern Antisemitism -/: Germany – Great Britain – France, Berlin, New York , S. -). Buszko, Józef, Zum Wandel der Gesellschaftsstruktur in Galizien und in der Bukowina, Wien . Camus, Jean-Yves, Alphonse Toussenel, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. /, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin , S. -.

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FORSCHUNGSLITERATUR

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Ortsregister Kursive Seitenzahlen beziehen sich auf Einträge in den Karten. Abazovka (Gouvernement Podolien) , ,  Acqui , -, , ,  Adler-Kosteletz/Kostelec nad Orlici , ,  Adrianopel , -,  f. Agen  Akkerman , ,  Aldenhoven (Kreis Düren) ,  Aleksandriia , , ,  Aleksandrowsk , ,  Alessandria (Piemont)  Alexandria (Ägypten) ,  Algier , -, , , ,  Alsfeld , ,  Altensteig  Altkirch (Elsass) , , ,  Altona ,  Alt-Sandec ( Stary Sącz) Alzey , ,  Amöneburg , ,  Amsterdam  Anan’ev , , ,  Angers , ,  Arezzo  f. Argenau/Gniewkowo -,  Ariogala (Provinz Kowno)  Arras  Asch  Aschaffenburg  Athen  Bagdad  Baiersdorf  Baisingen , , -,  Baku 

Balbieriškis/Balwierzyszki (Provinz Kowno) , , ,  Baldenburg , ,  f., , , ,  Balta (Gouvernement Podolien) , , , -, , ,  Bamberg , , , , , ,  Bamlach  Banská Bystrica ( Neusohl) Barlad (Moldau) ,  Bar-le-Duc (Lothringen) , , , ,  Bärwalde , ,  f.,  Basel , , , ,  Bauerbach  Bayonne  Bayreuth , , ,  Bedburdyck -,  Bednja , ,  Beneschau/Benešov) , ,  Berdiansk (Gouvernement Tauride) , ,  Berent , ,  f., ,  Beresnegowatoje  Berezovka , , ,  Bergheim (Elsass) , , -, ,  Berkovitsa  Berlichingen  Berlin , , , , ,  f., , ,  f., , , ,  f., , , , ,  Bern  Beroun/Beraun) ,  f., -, , ,  Berwangen , 

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ORTSREGISTER

Besançon  f. Běštín/Bieschtin ,  f. Betzdieditz/Bezdědice  Beuthen , ,  Biala  Biechczin (Kreis Beraun)  Biecz (Galizien)  Bieschtin ( Běštín) Bijnor (Indien)  Bilker (bei Düsseldorf )  Bingen , , .  Binningen (Mosel) ,  Bionville-sur-Nied (Lothringen)  Bisheim-au-Saume  Blaszkowa (Galizien)  Blatzheim ,  f.,  Blidah (Algerien) ,  Blonsk  Blotzheim ,  Bochnia (Galizien)  Böhmisch-Brod/Český Brod)  Böhmisch-Leipa/Česká Lípa ,  Böhmisch-Trübau/Česká Třebová  Bordeaux  f., ,  f. Borispol ,  f., , , ,  Bösing/Pezinok , ,  Boskowitz , ,  Boufarik (Algerien) ,  Boxberg  Bratislava ( Preßburg) Braunschweig  Breitenbach ,  Breslau , , , ,  f., , , , ,  f.,  Bretten -,  Brixton  Brody ,  Bromberg/Bydgoszcz  f., ,  Brzostek (Galizien)  Bruchsal , , -, ,  Brugg  f. Brugny (Lothringen)  Brumath (Elsass) ,  f., 

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Brünn , , , , , ,  Brüssel  Brusturoasa -, ,  Brzesko (Galizien) , ,  Brzozów (Galizien) ,  Bublitz , , ,  Buchen  Buckowa (Galizien)  Budapest/Ofen/ Pest , ,  f. , , ,  f., , , , , , , ,  Budin  Budweis  Bühl , ,  Buk/Buck (Posen) ,  f.,  f.,  Bukarest -, -, , ,  f.,  f., ,  Burgas ,  Burgkunstadt , , , ,  Burgpreppach ,  Buschwiller  Bütow , , , , ,  Bydgoszcz ( Bromberg) Cahul (Südbessarabien) ,  Cerhowic/Cerhovice  Český Brod ( Böhmisch-Brod) Česká Lípa ( Böhmisch-Leipa) Česká Třebová ( Böhmisch-Trübau) Chalcis/Chalkis (Euböa)  Chalons-sur-Marne  Chalon-sur-Saône ,  Chania/Kania (Kreta)  Charkov  Cherbourg  Choceň (Ostböhmen)  Chodziesen ( Kolmar) Chojnice ( Konitz) Chonow (Ukraine) ,  Chotibor  Chrzanów (Galizien)  Clermont-Ferrand  Coburg 

ORTSREGISTER

Colmar , ,  f.,  Constantine (Algerien) ,  Crailsheim  Craiova/Krajowa  f.,  Cseklész ( Lanschütz) Csurgó , ,  Czarnikau ,  Czartowiec , ,  Czaslau /Tschaslau ,  f., ,  Chernowitz  Czersk , , ,  Czudec (Galizien)  Dallentin ,  Damaskus ,  Danzig , , -, , ,  f. Darmstadt , , ,  Darobani  f., ,  Debreczin ,  Deidesheim , ,  Deutsch-Gabel /Jablonné v Podještědí  Deutschkreutz ,  Deutsch-Krone  f. Deutschliptsch/Németlipcse/Nemecká Lupča ,  Dieppe ,  Dijon ,  Dinan  Dobris/Dobříš , ,  Dobrochowitz (bei Beraun)  Dobromil (Galizien) ,  Dobruška  Dolginovo (Provinz Vilna) -,  Doloplas (bei Olmütz) ,  Dombrovitske (Gouvernement Wolhynien) ,  Dormagen , , , ,  Dresden , , , ,  Dubossary  Dukla  Durmenach (Elsass) , , , , ,  f., , , 

Düsseldorf , -,  Eger ,  Egersee ( Zalaegerszeg) Ekaterinoslav , , ,  f., , , , , ,  Elbe-Kosteletz/Kostelec nad Labem , ,  Elbing  Elisavetgrad , , ,  f., -, , -, ,  f., ,  Emmendingen , ,  Emmerich  Endingen/Oderendigen -, , -, , , ,  Enger , ,  Entschob b. Sobieslau/Soběslav ,  Epinal , ,  Eppingen , , ,  Erdmannsrode ,  Erlau ,  Eschwege  Eskisaghra/EskiZaara ( Stara Zagora) Esztergom  Ettlingen ,  Falkenburg , , ,  Felsberg , ,  Flămânzi (Moldau)  Flatow , , ,  Flehingen  Florenz  ff., ,  Frankfurt am Main , -, , . ,  Friedland i. P./ Preußisch Friedland , , , , ,  Friesen (Elsass)  Friesenheim (Kreis Lahr)  Frysztak (Galizien) ,  f., ,  Fulda , , ,  Fürth 

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ORTSREGISTER

Gąbin ,  f., , ,  Gaja/Gaya  f.,  Galati/Galatz (Moldau) , , , , ,  Garzweiler ,  Genf  f.,  Gerolsheim  Geseke -, , , ,  Gießen , ,  Ginetz ( Jince) Girbutkiai (Litauen)  Gitschin ,  Giurgewo  Gladbach (Kreis Jülich)  f.,  Glatz (Neiße)  f., ,  Glehn .  Gleiwitz , ,  Gnesen  Gniewkowo ( Argenau) Gochsheim  Golta (Gouvernement Podolien)  f., ,  Gorlice (Galizien) , ,  Göttingen  Grätz/Grodzisk Wielkopolski , , ,  Graz , ,  Grenoble  Grevenbroich , ,  Grimlingshausen (Niederrhein)  Grodzisk Wielkopolski ( Grätz) Groetsk  Groß-Kanizsa /Nagykanisza ,  f. Großmannsdorf , ,  Groß-Magendorf /Nagymegyer/Veľký Meder , ,  Groß-Meseritsch/Velké Meziříčí , , -, ,  Groß-Schützen/Velke Leváre , ,  Grottau ( Hrádek) Grünberg (Schlesien)  Grybów (Galizien) 

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Gudensberg ,  Güstrow ,  Gütersloh  Gyékényes , ,  Hagenau , ,  Hagenthal (Hagenthal-le-Bas, Hagenthal-le-Haut)  Hagenthal-le-Bas/Niederhagenthal , ,  ff.,  Hagenthal-le-Haut/Oberhagenthal , ,  ff.,  Halle (Saale)  Hamburg , , , , -, , , -, , , , , , ,  Hamm  Hammelburg  Hammerstein ,  f., , , , ,  f., , , ,  Hanau , , , ,  Hégenheim (Elsass) , ,  f., ,  Heidelberg , -, , , ,  f., ,  Heidelsheim , , , -, , ,  Heidingsfeld (bei Würzburg) , ,  Heilbronn  Helsingfors/Helsinki  Helsingør , ,  Hemmerden (Kreis Grevenbroich) ,  Herleshausen ,  Heřman-Městec  Hertingen  Hillerød ,  Hirschberg (Schlesien) , ,  Hochberg (bei Ludwigsburg) , ,  Hochfelden (Elsass) , ,  Hoffenheim 

ORTSREGISTER

Hofgeismar ,  Hockenheim  Holleschau/Holešov , , , , ,  Hontianske Trsťany , ,  Horaždovice/Horaschdowitz , ,  Horb  f. Hořovice/Horowitz , ,  f., ,  Horvath-Gurab  Horzowitz/Hořovičky  Hostomice/Hostomitz , -,  f.,  f.,  Hrádek/Grottau , ,  Hradisch ( Ungarisch Hradisch) Hranice na Moravě ( Mährisch-Weißkirchen) Hülchrath , ,  Hungen  Iaşi , ,  Iglau  f.,  Iglo/Spisská Nová Ves ,  Iłów , ,  Inowraclaw  Ioannina/Iannina ,  Ionische Inseln  Ismail (Bessarabien)  f.,  Istanbul ( Konstantinopel) Itterswiller , , ,  Iuzovka -,  Ivanka , ,  Jablonné v Podještědí ( Deutsch-Gabel) Ják ( St. Georgen) Jambol ,  f., ,  Jamnitz/Jemnice ,  Janów Podlaski ,  Janowitz  f.,  Jaroměř , , ,  Jaroslaw (Galizien) ,  Jasło , , , , , 

Jastrow ,  f., , ,  Jastrzębia (bei Radom)  Jedwabne  Jilemnice ( Starkenbach) Jemnice ( Jamnitz) Jince/Ginetz (Böhmen)  f. Jöhlingen  Josephstadt /Josefov (später Ortsteil von Jaroměř)  Jugenheim ,  Jungbunzlau  Kadelburg  Kalisz ,  Kalwarya Zebrzydowska  f., ,  f.,  Kamienica , ,  Kamin  Kanev  Kantakusenka (Gouvernement Kherson) ,  Kapovár ,  Karlovo/Karlowo -, ,  Karlsbad , , ,  Karlsruhe , , ,  f., , ,  f., , ,  ff., , ,  Karlstadt , , - Karnobat  Käsmarkt/Kežmarck ,  Kassel , , , ,  f.,  Karthaus  Kavala  Kazanlăk (Kazanlik) , -, , , ,  f., ,  Kempen/Kępno (Posen) , ,  Keszthely (Kestheil) , , ,  Kežmarck ( Käsmarkt) Kherson/Cherson  Kielce ,  Kiew , , , , -, , , ,  f., , ,  f. Kishinev , , , , , , 

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ORTSREGISTER

Kjustendil , , , -, ,  Kladno  Klasno  Klattau/Klatovy  Kleve ,  Klimovici (Gouvernement Mogilev) ,  Klinsko  Koblenz ,  Kojetín (Mähren)  Kolaczyce (Galizien) , , ,  Kołbuszowa (Galizien)  Kolín , ,  Kolinetz/Kolinec , ,  Kolmar (Posen) ,  Köln , ,  Komáron ,  Königgrätz , ,  Königsberg ,  Konitz/Chojnice , , , , , , , , , , , -, ,  f., , , , -,  , , ,  Konotop (Gouvernement Chernigov) , ,  Konstantinopel/Istanbul , ,  f., ,  Konstantinovo -,  Kopenhagen , , , -, , -, ,  f. Körbecke (bei Soest) ,  Korfu , -, , , ,  Körmend , ,  Kórnik ( Kurnik) Košice  Köslin , , , ,  f.,  f.,  Kostelec nad Labem ( Elbe-Kosteletz) Kostelec nad Orlici ( Adler-Kosteletz) Kosten/Koscian , , ,  Koszarowa  Köszeg  Krajowa ( Craiova)

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Krakau , ,  f., , ,  f., , , , ,  Královice ,  Krosno (Galizien)  Kremsier  Kreuznach  Krojanke , ,  Krotoschin (Posen)  Krzywaczka (bei Krakau)  Künzelsau  Kuppenheim  Kurnik/Kórnik , , -,  Kutná Hora , , , ,  Kuttenberg ( Kutna Hora) Łagiewniki (Galizien)  Łańcut (Galizien)  Landsberg a. d. Warthe  Langendorf (Südböhmen) , ,  Langenselbold  Langsdorf (Wetterau) ,  f.,  Lanschütz/Czeklész , ,  Larissa ,  Laskowa (Galizien) ,  Laudenbach , -, ,  Lauenburg , , , ,  Laun/Louny , , ,  Le Havre  Łęczyca ,  Ledeč nad Sázavou/Ledetsch  Leinach (bei Würzburg) ,  Leipnik/Lipnik , ,  Leipzig , , , , ,  Lemberg , , , , , , ,  Lengnau -, , -, , ,  Letitschewo  Lettowitz/Letovice , ,  Levkas/Leukada/St. Maura ,  Liberece ( Reichenberg) Ligny (Meuse) ,  Lille  f., 

ORTSREGISTER

Limanowa , , , , ,  Linkuva ,  f.,  Linz  Lipnik ( Leipnik) Lisko (Galizien) ,  Lissa (Posen) , Livorno  ff.,  Lixheim (Lothringen) ,  f.,  Löbau/Lubawa (Westpreußen) , ,  Łódź ,  Lokow  Lom/Loma Palanka , , , , ,  London ,  Los Angeles ,  Lostówka (Galizien)  Louny ( Laun) Lubawa ( Löbau) Lublin  Lučenec (Losoncz) ,  Lunéville ,  Lutcza (Galizien) , ,  Luxeuil  Lužany/Luschan  Luzce (bei Beraun)  Luzova (Gouvernement Ekaterinoslav) , ,  Lyon  f.,  Măcin ( Matschin) Magyar-Bel ,  Magyarhradis ( Hradisch) Mährisch-Ostrau/Ostrava  Mährisch-Weißkirchen/Hranice na Moravě  Mainz , , ,  Mannheim , , , ,  Mantua -, , ,  Marienwerder ,  Markelsheim ,  Marköbel  Marktheidenfeld  Marlenheim (Elsass) 

Marmora  Marmoutier/Maursmünster , , ,  f.,  Marseille , -, -,  f.,  Matschin/Măcin  Mauth/Mýto v Čechách (bei Pilsen)  Meiningen ,  Melnik ,  Melsungen ,  Menzingen  Mergentheim ,  f.,  Miami (USA)  Mielce (bei Krakau)  f.,  Mielec (Galizien)  Mikołów ( Nikolai) Milosław (Posen) , , ,  Melitopol  Minden  f. Molėtai ,  Moneşti  Monte San Savino  f.,  Montpellier  Moravská (Mähren)  Mosbach  f. Moshorino ,  Moskau , , , ,  Mosonmagyaróvár/(Wieselburg)-Ungarisch Altenburg , , , , ,  Moszczenica (Galizien)  Müchlhausen , ,  Mühlhausen/Mulhouse , ,  Müllheim ,  f.,  München , , ,  f., ,  Münchengrätz  Münzesheim  Mustapha (Algerien) ,  Myślenice  Mýto v Čechách ( Mauth) Náchod ,  Nádas/Nadasch/Nadăș , , 

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ORTSREGISTER

Næstved  ,  Nagold  Nagy-Legh  Nagy-Magyar  Nagykanisza ( Groß-Kanizsa) Nagymegyer ( Groß-Magendorf ) Nancy ,  f.,  Nantes , , , -,  f.,  Napajedla  Naumiestis ,  Neckarbischofsheim , , ,  Németlipcse/Nemecká Lupča ( Deutschliptsch) Nettesheim , ,  Neubidschow/Nový Bydžow , , , , ,  (Neu)-Delhi , ,  Neuenhoven -, , , ,  Neuhaus ,  Neu-Sandec ( Nowy Sącz) Neusohl/Banská Bystrica ,  Neuss , ,  Neustadt (Saale)  Neustadt a. d. Mettau (Nové Město nad Metují)  Neustadt a. d. Waag (Nové Město nad Váhom) , ,  Neustadt a. d. Warthe  Neustettin , -, , ,  f., -, , , , , , , , , , ,  Niederhagenthal ( Hagenthal-le-Bas) Niedersept ( Seppois-le-Bas) Nikolaev (Gouvernement Ekaterinoslav) ,  f.,  Nikolai/Mikołów (Posen) ,  Nikolsburg ,  Nikopol , ,  Niměřice  Nischni Nowgorod , , , , , ,  Nizhin ,  f., , 

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Nisko (Galizien)  Nonnenweier , , ,  Nova (Westungarn)  Nové Benátsky (Böhmen)  Nowaja Praga  Nový Bydžow ( Neubidschow) Nowy Sącz/Neu-Sandec  f., , , -, ,  Nowy Targ  Nürnberg ,  Nußloch , ,  Nyirehyháza  Oberdorf (Elsass) , ,  Oberendingen ( Endingen) Obergimpern , ,  Oberhagenthal ( Hagenthal-le-Haut) Obersept ( Seppois-le-Haut) Ödenburg/Sopron ,  Odenkirchen  Odense , ,  Odessa , , , , , , -, , , ,  f., ,  f., , , ,  f., , , , , , , ,  Oedheim ,  Offenbach  Olmütz , ,  f.,  f., , , ,  f. Oran  f., ,  Orekhov (Gouvernement Tauride) , ,  Orel  Öriszentpeter  Osielec (Galizien)  Ostrava ( Mährisch-Ostrau) Otier ,  Paderborn  Padura Lunga  Pamūše  Pápa , ,  Pardubitz , , 

ORTSREGISTER

Paris , , , , , , -,  f., , , , , , , , , , -, , , , ,  Pašvitynė (Litauen) -,  Patras -,  Pazardžik/Pazaržik  Peckelsheim , ,  Pecek/Pečky , ,  Pécs  Peregonovka (Gouvernement Kiew)  Pereiaslav (Gouvernement Poltawa) ,  f.,  Perpignan ,  Pest ( Budapest) Pezinok ( Bösing) Pforzheim , ,  Phalsbourg (Mosel) , , ,  Pilsen -, , ,  Pilsno (Galizien)  Pinne/Pniewy (Posen) , ,  Pinsk  Pirnitz ,  Pisa  f.,  Písek (Südböhmen)  Pistoia  Pleven  Pniewy ( Pinne) Podgórze (Galizien)  Plovdiv , ,  Plungė ,  Počepice  Polička/Politschka  Pollnow , , ,  f., ,  Polná , , -, , , , ,  f. Polzin , ,  Posen -, ,  Pozsony ( Preßburg) Prag , -, , -, , , , -, , ,  f., , , , , , , , -,

 f., ,  f., , ,  f., ,  Praškoles (bei Beraun)  Prato  Prechlau  f., , , ,  Prerau/Přerov ,  f., , , , ,  Preßburg/Bratislava/Pozsony , , , , , , -, , , -, . , , ,  f.,  f. Preußisch Friedland ( Friedland i. Pr.) Příbram/Pribram/Prizbram , , ,  Prienai (Provinz Suvalki) , ,  Prossnitz/Prostějov , ,  f., , , ,  Prossomikow  Protiwin/Protivín  Przemysl ,  f.,  Pyrgos (Peleponnes)  Radziszowice (Galizien)  Rakonitz /Rakovnik , , , , ,  Rákospalota ( Stadtteil von Budapest) Rappenau  Rappoltsweiler ( Ribeauvillé) Rastatt  Ratibor , ,  Ratzebuhr  f., , ,  Redwitz ,  Regensburg  Reca ( Rethe) Reichelsheim (Odenwald) ,  Reichenberg/Liberece ,  Reichstadt ,  Reilingen  f. Reims  Rennes , ,  f., ,  Rethe /Reca ,  Retschetin (Kreis Pilsen)  Rexingen 

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ORTSREGISTER

Rezhice (Provinz Wilna)  Rheinbreitbach ,  Rheinweiler  Rheydt  Rhodos ,  Ribeauvillé/Rappoltsweiler (Elsass) , , ,  Richen  f.,  Riga  Rimpar , ,  Rixheim , ,  Rogasen , , , ,  Rohrbach  Rokitnitz/Rokynice v Orlických horách  Rokitzan /Rokycany , ,  Rom , -, , ,  Rommerskirchen (Kreis Neuss) ,  f.,  Romny (Gouvernement Poltawa) , ,  Ronnet  Ropczyce (Galizien)  Rostock-Lichtenhagen ,  Rostow am Don  Rotenburg a. d. Fulda -, , , ,  Rouen -, ,  Roverbella (bei Mantua)  Rozdziele (Galizien)  Roznau/Rožnov pod Radhoštěm , ,  Rummelsburg i. P. , , , , , ,  Rustschuk  Rzesczów (Galizien)  Saarhida  Saaz/Żatec ,  f., , ,  Sacharjewko (Kreis Tiraspol)  Saint-Brieuc (Bretagne)  Saint-Dié (-des-Vosges) (Lothringen) , , 

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Saint-Malo  f., , , ,  f., ,  Saint-Servan (Bretagne) , ,  Saloniki  Samokov ,  Sanok (Galizien) ,  Sarrebourg (Lothringen) , ,  Saverne/Zabern ,  f.,  Saybusch ( Żywiec) Schenkwitz  Scherfede (heute Stadtteil von Warburg),  Schervillé (Elsass)  Schipka  Schivelbein , , ,  f., ,  Schlan/Slany  Schlawe , , ,  Schlettstadt/Sélestat , , - Schlochau , , , , ,  f.,  Schneidemühl ,  Schnin ( Żnin) Schpola/Spola (Gouvernement Kiew)  f.,  Schroda (Posen) ,  Schubin/Szubin  Schüttenhofen/Sušice , -, ,  f., ,  Sélestat ( Schlettstadt) Senec ( Wartberg) Senftenberg/Žamberk  Seppois-le-Haut/Obersept  Seppois-le-Bas/Niedersept ,  Sered/Szered a. d. Waag , ,  Siedliska (Galizien)  Siena  f., ,  Sierentz , ,  Skalitz  Skawina ,  Skurz ,  Skyn (Südböhmen)  Slabetz/Slabce ,  f.,  Slagelse , , 

ORTSREGISTER

Slany ( Schlan) Sliven/Slivno ,  f.,  Slupy (bei Bromberg)  f. Smela (Gouvernement Kiew) , , ,  f., ,  Smyrna , , ,  Sobieslau/Soběslav ,  Sobniów (Galizien) , ,  Soborten/Sobědruhy (bei Teplitz) ,  Sofia , , , , -,  f., , ,  Söjtor ,  Sommerach , , ,  f., ,  Sontra , ,  Sopron ( Ödenburg) Spisská Nová Ves ( Iglo) St. Gallen -,  f.,  St. Georgen/Ják ,  St. Louis (USA)  St. Maura ( Levkas) St. Pauli  St. Petersburg  f., , , , , , , , , , ,  Stankowitz/Staňcovice (bei Saaz)  Stara Zagora/Eskisaghra/ EskiZaara , , -, , ,  f.,  Starkenbach/Jilemnice  Starodub (Gouvernement Chernigov) ,  f.,  Stary Sącz /Alt-Sandec , , -,  Stechowitz/Štěchovice ,  Stegers , ,  Steinamanger /Szombathely , , , , ,  f. Steinheim ,  Stenschewo/Stęszew  Stettin , , ,  Stockholm , -, , ,  Stolp , , , ,  f., , , , , ,  Störmede , , , 

Strakonitz/Strakonice , , , ,  Straßburg , , , ,  Straßnitz/Strážnice (Mähren)  Strzelno (Posen) , ,  Strzyżow (Galizien) , ,  Stuhlweißenburg ,  f.,  Stuttgart , -, ,  Suchomost (bei Beraun)  Suczawa (bei Czernowitz) ,  Sümec ,  Suram (Georgien) ,  Sušice ( Schüttenhofen) Svištov  ff. , ,  Swierchowa (Galizien) ,  Szered ( Sered) Szigetvár ,  Szombathely ( Steinamanger) Szubin ( Schubin) Tabor ,  Tapolca ,  Targanice (Galizien)  Tarnobrzeg (Galizien)  Tarnów (Galizien) , , , ,  Tatar Pazardžik ( Pazardžik) Tauberbischofsheim ,  Tazza (Marokko) ,  Tegerfelden (Aargau)  Tekutsch/Tecuciu (Moldau) ,  Temesvár ,  Tempelburg , , ,  Teplitz/Teplice ,  Thann , ,  Thorn  Thüngen , , ,  Tiengen  Tirnau ( Trnava) Tiszaeslár , , -, , , , ,  Tluste ,  Tmaň/Tmain , , 

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ORTSREGISTER

Toul  Toulouse ,  Trebitsch (bei Brünn)  f.,  Trebitsch/Třebíč (bei Iglau) ,  Třebova (Mähren)  Tremessen/Trzemeszno , -, , ,  Trentschin  Trier  Triest  Trikala , ,  Tripolis (Libyen)  Tripolis (Peleponnes)  Trnava/Tirnau ,  Trzemeszno ( Tremessen) Tuchel , , ,  Teufelsinsel/Ile du Diable (FranzösischGuayana)  Tunis  Türje ,  Uffheim (Elsass) ,  Uffholtz (Elsass) ,  Uherské Hradiště ( Ungarisch Hradisch) Ujanowice (Galizien) ,  Ulaszowice (Galizien)  Ungarisch-Altenburg ( Mosonmagyaróvár) Ungarisch-Hradisch/Uherské Hradiště ,  Ungarisch-Ostra (Uherský Ostroh)  Untergrombach ,  Unterlangenstadt ,  Unterschüpf , , ,  Ušzšcki  Valašské Meziříčí ( Wallachisch-Meseritsch) Valegotsulovo (Bezirk Anan’ev)  Vandsburg , ,  Varna , ,  Veitshöchheim , , 

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Velhartice ( Welhartitz) Velke Leváre ( Groß-Schützen) Veľký Meder ( Groß-Magendorf ) Velké Meziříčí ( Groß-Meseritsch) Venedig  Verona  Vesoul  Vezprém/Wesprim/ Weißbrunn , ,  f. Vidin , , , , , ,  Viernheim , ,  Vilcov/Wylkowe ,  Vimperk ( Winterberg) Vollmaringen  Volochisk (Gouvernement Wolhynien) ,  Volos  Vordingborg , ,  Vraca/Vratsa , -, , , , ,  Všeradice ( Wscheraditz) Vsetín ( Wsetin) Wachbach ,  Wadowice  Wallachisch-Meseritsch/Valašské Meziříčí ,  Walldorf ,  Warschau -, , , , ,  f., ,  f., ,  Wartberg/Senec , ,  Washington  Wattwiller (Elsass) ,  Weikersheim ,  Weiler  Weingarten  Weißbrunn ( Vezprém) Welhartitz/Velhartice ,  Weselizko ,  Westhofen (Elsass)  Wevelingshoven , ,  Wieliczka , -, , , 

ORTSREGISTER

Wien , , , , , , , , ,  f., , , , , , , , , ,  f., , , , , , ,  Wieselburg-Ungarisch-Altenburg ( Mosonmagyaróvár) Wieselburg (Niederösterreich)  Wiesenfeld ,  f., , ,  f. Wiesloch  Wildberg  Wilkischen (Kreis Pisek) , ,  Windisch  Winterberg/Vimperk , , ,  Wintzenheim (Elsass) , , ,  Wirsitz  Wischau  Wissunsk  Witten  Wolenitz/Wollenitz , ,  Wolfhagen , ,  Wollein ,  Worms  Worringen ,  Wosow (bei Beraun)  f. Wreschen/Wrzénia , -,  f.,  Wscheraditz/Všeradice (bei Beraun)  Wsetin/Vsetín , ,  Würzburg -, , ,  f., , , , , , , , ,  f., 

Xanten , , , -, , , , -, , , ,  Xions (Posen)  Zabern ( Saverne) Zagreb/Agram ,  Zakynthos/Zante , , -,  f., ,  Žamberk ( Senftenberg) Zalaapáti  Zalaegerszeg/Egersee ,  Zalalövö ,  Żatec ( Saaz) Zator (bei Krakau)  Žeimelis (Litauen)  Zhmerinka (Gouvernement Podolien) , ,  Žiežmariai  Zippnow , ,  Ziskov  Żmigród (Galizien)  Znaim  Znamenka ,  Żnin/Schnin (Posen) ,  f.,  Zubři/Zubern , ,  Zürich  Zurzach - Zwettl  Żywiec/Saybusch , , 

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