Tötungsbefehle: Talat Paschas Telegramme und der Völkermord an den Armeniern 9783958321960, 9783748906568

Der staatlich organisierte Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges kostete mindeste

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Tötungsbefehle: Talat Paschas Telegramme und der Völkermord an den Armeniern
 9783958321960, 9783748906568

Table of contents :
Vorwort von Cem Özdemir 9

Hinweis zur Übersetzung und Transkription 14
Wichtige Abkürzungen 15

Kapitel 1: Vorwort 17

Fakten, Wahrheiten und Leugnung 17
Krikor Guerguerian und sein Archiv 32
Die Verschlüsselungsmethode im Dokument stimmt
mit anderen Dokumenten in Archiven überein 40

Kapitel 2: Einführung 46

Naim Efendi und seine Memoiren . . . . . . . . . 47

Kapitel 3: Die Historie und Authentizität

Naim Efendis und seiner Memoiren . . . . . . . . 54
Wie gelangte der Text zu uns? . . . . . . . . . . 54
Wo befinden sich die Memoiren und
Originaldokumente jetzt? . . . . . . . . . . . . . 57
Herausforderungen bezüglich der Authentizität des Textes . 64
Die drei grundsätzlichen Vorbehalte gegen die
Naim-Efendi-Memoiren . . . . . . . . . . . . . 67
Gab es einen osmanischen Beamten namens Naim Efendi? . 69
Die osmanischen Dokumente mit dem Namen
»Naim Efendi« . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Die Orte, an denen Naim Efendi stationiert war,
und seine Beziehung zu Aram Andonian . . . . . . 77
Die Rolle von Naim Efendis Persönlichkeit und Charakter 84

Kapitel 4: Sind die Dokumente Falsifikate, wenn
die Memoiren gefälscht sind? . . . . . . . . . . . 88

Das Registerbuch des Chiffrierbüros im Innenministerium 89
Chiffrierte Telegramme und die Codes . . . . . . . . 90
Allgemeine Anmerkungen zum Verschlüsselungssystem . 92
Die Frage nach definierten Zeiträumen für
Verschlüsselungsmethoden . . . . . . . . . . . . 101
Die Behauptungen, die als Beweis für die
Unglaubwürdigkeit von Naim Efendis Telegrammen
aufgeführt werden . . . . . . . . . . . . . . . 106
Die Frage der Verwendung von liniertem Papier . . . 113
Eine letzte Beobachtung . . . . . . . . . . . . . 115
Die Frage der Datumsangaben auf den Dokumenten
und der Unterschriften des Gouverneurs . . . . . . 118
Beweisen die Datumsangaben auf den Dokumenten
ihre Fälschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Die Unterschriften von Gouverneur Mustafa Abdülhalik . 124
Ein letzter Nachtrag zur Frage der Ablehnung
der Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Kapitel 5: Die Bestätigung der von Naim Efendi
erwähnten Themen und Ereignisse durch osmanische
Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

1) Bestimmte Armenier werden gesucht . . . . . . . 134
2) Der Fall Soğomon Kuyumcuyan . . . . . . . . . 136
3) Armenische Parlamentsabgeordnete und
ihre Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . 139
4) Die Verschickung der Waisenkinder aus Aleppo
nach Istanbul . . . . . . . . . . . . . . . . 146
5) Die Ermordung armenischer Kinder in der Umgebung
von Meskene und Rakka . . . . . . . . . . . 152
6) Die Deportation der armenischen Eisenbahner . . 156
7) Bahnkommissar Hayri Bey . . . . . . . . . . . 163
8) Die amerikanischen Konsulate und die auf den
Deportationsrouten aufgenommenen Fotos . . . . 166
9) Das Problem der auf den Straßen verbliebenen Leichen . 171
10) Die Ermittlungen gegen unter Verdacht stehende
Armenier in Dörtyol und Hadjin . . . . . . . . 175

Kapitel 6: Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . 179

Anhänge
Anhang 1-A und 1-B . . . . . . . . . . . . . . 183
Anhang 1-A – Das osmanisch-türkische Original
der Memoiren von Naim Efendi . . . . . . . . . 183
Anhang 1-B – Die Passagen von Naim Efendis Memoiren,
wie sie von Aram Andonian veröffentlicht wurden. . . . 202

Anhang 2 – Dr. Avedis Nakkaschians
Brief an Andonian . . . . . . . . . . . . . . . . 227

Anhang 3 – Aram Andonians Brief an
Maria Terzian . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Anhang 4 – Brief von Konsul W. Rössler an
Dr. Lepsius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Anhang 5 – Aram Andonians Brief an die Anwälte
von Soghomon Tehlirian . . . . . . . . . . . . . 247

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . 249
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 250

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Taner Akçam

Tötungsbefehle Talat Paschas Telegramme und der Völkermord an den Armeniern

Schriftenreihe Genozid und Gedächtnis VELBRÜCK WISSENSCHAFT https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Schriftenreihe »Genozid und Gedächtnis« des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum

https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Meinem lieben Freund Hrant Dink, der davon träumte, die Armenier und das türkische Volk auf der Grundlage von Wahrheit und Gerechtigkeit zusammenzubringen. Seine Ermordung im Jahr 2007 hat diesen Traum nicht zerstört, sondern Hunderttausende Menschen dazu inspiriert, seinem Vorbild zu folgen. Und meiner Tochter Helin, die mir Hoffnung auf die Fähigkeit der nächsten Generation gibt, Hrants Traum für eine bessere Zukunft weiterzutragen.



https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Taner Akçam

Tötungsbefehle Talat Paschas Telegramme und der Völkermord an den Armeniern

Aus dem Englischen unter Zuhilfenahme des türkischen Originals übersetzt von Kamil Taylan

VELBRÜCK WISSENSCHAFT https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Erste Auflage 2019 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2019 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-196-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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Inhalt Vorwort von Cem Özdemir . . . . . . . . . . . . 9 Hinweis zur Übersetzung und Transkription . . . . . 14 Wichtige Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . 15 Kapitel 1: Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Fakten, Wahrheiten und Leugnung . . . . . . . . . 17 Krikor Guerguerian und sein Archiv . . . . . . . . . 32 Die Verschlüsselungsmethode im Dokument stimmt mit anderen Dokumenten in Archiven überein . . . . . 40

Kapitel 2: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . 46

Naim Efendi und seine Memoiren . . . . . . . . .

47

Kapitel 3: Die Historie und Authentizität Naim Efendis und seiner Memoiren . . . . . . . .

54 Wie gelangte der Text zu uns? . . . . . . . . . . . 54 Wo befinden sich die Memoiren und Originaldokumente jetzt? . . . . . . . . . . . . . 57 Herausforderungen bezüglich der Authentizität des Textes . 64 Die drei grundsätzlichen Vorbehalte gegen die Naim-Efendi-Memoiren . . . . . . . . . . . . . 67 Gab es einen osmanischen Beamten namens Naim Efendi? . 69 Die osmanischen Dokumente mit dem Namen »Naim Efendi« . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Die Orte, an denen Naim Efendi stationiert war, und seine Beziehung zu Aram Andonian . . . . . . . 77 Die Rolle von Naim Efendis Persönlichkeit und Charakter . 84

Kapitel 4: Sind die Dokumente Falsifikate, wenn die Memoiren gefälscht sind? . . . . . . . . . . .

88 Das Registerbuch des Chiffrierbüros im Innenministerium . 89 Chiffrierte Telegramme und die Codes . . . . . . . . 90 Allgemeine Anmerkungen zum Verschlüsselungssystem . 92 Die Frage nach definierten Zeiträumen für Verschlüsselungsmethoden . . . . . . . . . . . . 101 Die Behauptungen, die als Beweis für die Unglaubwürdigkeit von Naim Efendis Telegrammen aufgeführt werden . . . . . . . . . . . . . . . 106 Die Frage der Verwendung von liniertem Papier . . . . 113 Eine letzte Beobachtung . . . . . . . . . . . . . 115

https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.



Die Frage der Datumsangaben auf den Dokumenten und der Unterschriften des Gouverneurs . . . . . . . 118 Beweisen die Datumsangaben auf den Dokumenten ihre Fälschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Die Unterschriften von Gouverneur Mustafa Abdülhalik . 124 Ein letzter Nachtrag zur Frage der Ablehnung der Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Kapitel 5: Die Bestätigung der von Naim Efendi erwähnten Themen und Ereignisse durch osmanische Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1) Bestimmte Armenier werden gesucht . . . . . . . 134 2) Der Fall Soğomon Kuyumcuyan . . . . . . . . . 136 3) Armenische Parlamentsabgeordnete und ihre Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . 139 4) Die Verschickung der Waisenkinder aus Aleppo nach Istanbul . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5) Die Ermordung armenischer Kinder in der Umgebung von Meskene und Rakka . . . . . . . . . . . 152 6) Die Deportation der armenischen Eisenbahner . . . 156 7) Bahnkommissar Hayri Bey . . . . . . . . . . . 163 8) Die amerikanischen Konsulate und die auf den Deportationsrouten aufgenommenen Fotos . . . . 166 9) Das Problem der auf den Straßen verbliebenen Leichen . 171 10) Die Ermittlungen gegen unter Verdacht stehende Armenier in Dörtyol und Hadjin . . . . . . . . 175

Kapitel 6: Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . 179

Anhänge Anhang 1-A und 1-B . . . . . . . . . . . . . . . 183

Anhang 1-A – Das osmanisch-türkische Original der Memoiren von Naim Efendi . . . . . . . . . . 183 Anhang 1-B – Die Passagen von Naim Efendis Memoiren, wie sie von Aram Andonian veröffentlicht wurden. . . . 202

Anhang 2 – Dr. Avedis Nakkaschians Brief an Andonian . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Anhang 3 – Aram Andonians Brief an Maria Terzian . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

Anhang 4 – Brief von Konsul W. Rössler an Dr. Lepsius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Anhang 5 – Aram Andonians Brief an die Anwälte von Soghomon Tehlirian . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 250

https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Vorwort Es fällt nie leicht, über etwas so unvorstellbar Grausames wie einen Völkermord zu sprechen. Auch bei mir war es ein langer Prozess, bis ich erkannt habe, dass der einzige Weg, um den Nachfahren der Opfer die Linderung ihrer Schmerzen zu ermöglichen und die Geschichte umfassend aufzuarbeiten, die glasklare Bezeichnung dieses Verbrechens ist. Nur wenn wir der Wahrheit ins Auge blicken, können wir darüber reden, was wir aus der Geschichte für die Gegenwart lernen können: Wie kam es zum Völkermord? Und wie können wir systematische Ausgrenzung und Gewalt gegen Minderheiten heute verhindern? Als der Deutsche Bundestag am 2. Juni 2016 mit nur einer Gegenstimme und einer Enthaltung den Völkermord als solchen anerkannte, lag ein langer Denkprozess hinter mir und sicher auch bei vielen meiner Kolleginnen und Kollegen im Parlament. Lange Zeit habe ich mich schwer getan, von »Völkermord« zu sprechen. Denn ich hatte erfahren, wie schnell in der Türkei Türen zugemacht wurden, sobald dieses Wort fiel. Mein Umdenken setzte ein, als mein Freund Hrant Dink ermordet wurde. Mit der Gründung der Zeitung »Agos« hatte Hrant der armenischen Community in der Türkei eine Stimme verliehen, sie aus der Dunkelheit zurückgeholt. Und er hatte es geschafft, dass über das Thema Völkermord in der Türkei endlich geredet wurde. Ich hatte das Privileg, Hrant ein Stück seines Weges zu begleiten und ihn bei Besuchen in Istanbul immer wieder zu langen Gesprächen zu treffen. Unvergessen bleibt mir das Treffen zwischen ihm und dem großartigen Schriftsteller Yaşar Kemal, in dem beide sich lange über die Situation der Armenier in der Türkei und den Völkermord austauschten, und dem ich beiwohnen durfte. Ich wünschte, ich hätte das Gespräch dieser großen Anatolier damals aufgenommen – es wäre wunderbar gewesen, ihre Gedanken für die Nachwelt festzuhalten. Vor zwölf Jahren, am 19. Januar 2007, wurde Hrant Dink auf offener Straße erschossen. Türkische Nationalisten hatten zuvor jahrelang gegen Hrant gehetzt, regierungsnahe Medien ihn als Landesverräter diffamiert, sogar die Justiz war wegen »Beleidigung des Türkentums« gegen ihn vorgegangen. Vier Tage später trugen hunderttausende Menschen Hrant in Istanbul zu Grabe. Wir liefen durch die Straßen und riefen »hepimiz Hrant’iz« (»Wir sind alle Hrant«) und »hepimiz Ermeni’yiz« (»Wir sind alle Armenier«). Die Mörder wussten genau, was sie taten. Ich spreche im Plural, weil es nicht nur einen oder ein paar Mörder gab. Die Republik und ihr tiefer Staat haben Hrant ermordet, um zu verhindern, dass immer mehr Menschen über den Völkermord von 1915 und seine Folgen sprechen. 9 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

VORWORT

Sie wollten verhindern, dass immer mehr Menschen anfangen, Fragen an ihren Staat zu stellen, die dieser auf keinen Fall beantworten will. In meiner langen Politikerlaufbahn bin ich vielen spannenden Menschen begegnet. Aber keiner hat mich so aufgerüttelt mit seinen Worten und keiner mein weiteres Handeln so bestimmt wie Hrant. Es hätte den Beschluss des Deutschen Bundestages, mit dem wir Abgeordnete klare Position bezogen haben zu dem, was am 24. April 1915 im damaligen Osmanischen Reich begann, und zu dem, was unser Land Deutschland als Rechtsnachfolger des Deutschen Kaiserreiches damit zu tun hatte, ohne Hrant Dink so nie gegeben. Auf dem Weg zur Verabschiedung der Armenienresolution war mir Hrant Inspiration und Gewissen zugleich. Ich fragte mich immer wieder: Was würde Hrant tun? Sein Mut, seine Vision und sein Glauben an die Kraft der Worte waren für mich wegweisend. Im Laufe der Zeit wurde mir klar, dass alles andere als die Wahrheit der falsche Weg ist, um über die Geschichte zu reden und aus ihr zu lernen. Das Buch, das Taner Akçam jetzt vorlegt, zeigt zweifelsfrei: Ja, es war ein Völkermord. Es ist damit ein immens wichtiger Beitrag in der Auseinandersetzung mit denjenigen, die den Völkermord anzweifeln oder leugnen. Dieses Buch liefert die Grundlage dafür, dass wir dieses Jahrhundertverbrechen endlich fest in der Geschichtsschreibung in unserem Lande verankern. Ich bin daher ungemein dankbar, dass es nun auch in einer deutschen Übersetzung vorliegt. Denn der Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich war kein Ereignis in einer anderen Ecke der Welt, mit dem wir in Deutschland nichts zu tun hatten. Im Gegenteil: Es war ein Völkermord mit deutscher Mitwisserschaft, ja sogar mit deutscher »Mitschuld«, wie der Deutsche Bundestag das in seiner Resolution vom 2. Juni 2016 überraschend klar nennt. Das Land, in dem wir drei Jahre später leben, ist ein anderes. Heute wäre es nicht mehr denkbar, eine Resolution nahezu einstimmig durch das Parlament zu bringen, in dem sich die Abgeordneten derart deutlich zu einem finsteren Kapitel auch unserer deutschen Geschichte bekennen. Die Alternative für Deutschland, deren Chef selbst das Monumentalverbrechen des Holocaust nur für einen »Vogelschiss« der Geschichte hält, sitzt nun als stärkste Oppositionskraft im Bundestag. Ihre von radikalem Nationalismus geprägte Politik, die eine ethnisch homogene Gesellschaft zum Ziel hat (wie es sie es in Deutschland übrigens nie gegeben hat), bietet keinen Millimeter Raum für eine umfassende Aufarbeitung deutscher Geschichte. Die Botschaft der Armenienresolution ist sehr klar: Es ist eine Botschaft der Versöhnung, nicht des Hasses; es ist eine Botschaft des Aufeinanderzugehens, nicht der Ausgrenzung. Es ging eben nicht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern die eigene Geschichte 10 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

VORWORT

aufzuarbeiten. Denn als der Völkermord geschah, war das Deutsche Kaiserreich ein enger Verbündeter des Osmanischen Reiches. Die Regierung in Berlin war damals durch die Berichte von Missionaren und Diplomaten wohl informiert und entschied sich bewusst, nicht einzuschreiten, um das deutsch-osmanische Militärbündnis nicht zu gefährden. Reichskanzler Bethmann Hollweg äußerte sich unmissverständlich: »Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht«. Eine Umsetzung der Armenienresolution gemäß ihres Sinns und Zwecks kann also nur erfolgen, wenn wir den Völkermord als Teil der deutschen Geschichte verstehen. Und das heißt vor allem: Der Völkermord an den Armeniern und anderen Christen gehört in die Schulbücher in Deutschland. Aber er gehört dorthin als Teil der Geschichte von Krieg und Völkermord im 20. Jahrhundert. Eine umfassende Aufarbeitung unserer Geschichte muss alle Völkermorde mit deutscher Handschrift thematisieren. Der erste Genozid des 20. Jahrhunderts war nicht der im Osmanischen Reich 1915 und 1916, sondern der an den Nama und Herero in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1908. Es reicht nicht, wenn wir an unseren Schulen über die Zeit des Kolonialismus aus einer dis­tanzierten Perspektive sprechen, denn es betrifft uns ganz direkt. Es reicht nicht, wenn wir an unseren Schulen über den Ersten Weltkrieg sprechen, aber den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten aussparen, denn Deutschland war daran mitverantwortlich. Und es reicht nicht, wenn wir über Srbrenica und Ruanda sprechen, aber die Nama und Herero nicht ebenfalls auf die Tagesordnung setzen, denn dieser Völkermord wurde von deutschen Kolonialtruppen begangen. Gerade weil der Rechtspopulismus und in Teilen auch der Rechtsextremismus heute im Deutschen Bundestag angekommen sind und auch in anderen europäischen Staaten immer mehr Wurzeln schlagen, müssen wir uns intensiv mit unserer Geschichte beschäftigen. Wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner historischen Rede vom 5. Mai 1988 sagte: »Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart«. Wir müssen Tag für Tag für unsere offene Gesellschaft einstehen. Das können wir nur, wenn wir verstehen, was zur Ausgrenzung von Minderheiten führt, wie Gewalt gegen Andersdenkende entsteht, und dafür ist die Geschichte die beste Lehrmeisterin. Hrant Dink hat uns gelehrt, dass wir das Anderssein nicht zum Grund für Hass und Gewalt machen dürfen: »Wenn Du Deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist Deine Identität eine Krankheit«. Nationalismus funktioniert nur durch Ausgrenzung. Je mehr der Nationalismus an Fahrt gewinnt, desto mehr geraten Minderheiten ins Visier. Das erleben die Menschen in der Türkei Tag für Tag. Den Jahrestag des Völkermords an den Armeniern am 24. April hat Präsident Erdoğan dieses Jahr genutzt, um auf den Westen zu schimpfen. Die 11 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

VORWORT

Anerkennung des Völkermords durch immer mehr europäische Staaten sowie die Einführung eines nationalen Gedenktags in Frankreich sieht er als Komplott des Westens. Es ginge darum, von eigenen Bluttaten abzulenken. Statt von einem Völkermord sprach Erdoğan mit Blick auf die Ereignisse 1915/16 im Osmanischen Reich von »Deportationen«, die »angemessen« gewesen wären. Diese Weigerung, sich der breiten Mehrheit der mit dem Thema befassten Forscherinnen und Forscher anzuschließen, die mit dem vorliegenden Buch noch mehr Rückenwind erfahren, hat fatale Folgen für das gesellschaftliche Klima in der Türkei. Wie die Deutsche Welle am 24.04.2019 berichtete, wurde eine Gedenkfeier für die Opfer der Deportationen in Istanbul von den Behörden verboten. Aber auch in Deutschland haben wir dieses Jahr das vergiftete gesellschaftliche Klima in der Türkei am Gedenktag des Völkermords auf bedrückende Art und Weise zu spüren bekommen. In Stuttgart sagte die Armenische Gemeinde nach massiven Drohungen ihre Gedenkfeier ab, in Frankfurt am Main entschied der französische Hauptredner nach akuten Sicherheitsbedenken kurzfristig, der Gedenkfeier fernzubleiben. In beiden Fällen hatten offenbar Drohungen aus dem türkisch-nationalistischen Umfeld zu den Absagen geführt. Wir dürfen es nicht dulden, wenn das Gedenken an einen Völkermord in Deutschland gestört wird. Das ist nichts weniger als ein Angriff auf unsere offene Gesellschaft. Der Völkermord an den Armeniern liegt über hundert Jahre zurück. Es gibt keine Zeitzeugen mehr, mit denen wir sprechen könnten. Umso wichtiger ist es also, das Erinnern daran auf anderen Wegen lebendig zu halten. Den Schulen kommt hier eine herausragende Rolle zu. Dabei muss das Erinnern heute die Realität der Einwanderungsgesellschaft, in der wir leben, einbeziehen. Ähnlich wie beim Holocaust gilt auch für die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern: Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund, die keinen familiären Bezug zu diesem Teil der deutschen Geschichte haben, nimmt zu. Während viele Schülerinnen und Schüler noch nie von diesem Verbrechen gehört haben werden, bringen Schülerinnen und Schüler aus Familien mit türkischen Wurzeln unter Umständen bereits bestimmte Erzählungen mit. Diese verschiedenen Zugänge zum Thema müssen in der schulischen Auseinandersetzung mit dem Thema berücksichtigt werden. Die gemeinsame Klammer ist die Verankerung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens im Grundgesetz und der Charta der Menschenrechte. Ziel des Schulunterrichts muss sein, zu verstehen, dass die Bundesrepublik in ihrer heutigen Form ohne die Lehren aus dem Nationalsozialismus und zwei Weltkriegen nicht denkbar wäre. Indem wir diese Verbrechen des 20. Jahrhunderts konfrontiert und aufgearbeitet haben, haben wir die Grundlage für unsere standhafte Demokratie und offene Gesellschaft von heute gelegt. 12 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

VORWORT

Diese zu pflegen und zu erhalten ist unser aller Auftrag. Ich wünsche mir, dass dieses Buch dazu beiträgt, die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich, an die 1,5 Millionen ermordeten Menschen aufrechtzuerhalten. Wir sind es ihnen schuldig, ihr Gedenken zu wahren. Noch mehr aber sind wir es unseren Kindern und Kindeskindern schuldig, dafür zu kämpfen, dass Hass und Ausgrenzung nie wieder die Oberhand in unseren Gesellschaften gewinnen. Es ist Taner Akçam zu danken, dass er zu den mutigen Pionieren gehört, die das Thema einem breiten Publikum – auch in der Türkei – zugänglich gemacht haben. Auch dieses Buch wird bestimmt dazu beitragen. Cem Özdemir, 30.04.2019

13 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Hinweis zur Übersetzung und Transkription Nach Rücksprache mit dem Autor habe ich die Dokumente, die in Türkisch beziehungsweise in Osmanisch vorlagen, direkt ins Deutsche übersetzt, um ihre Authentizität so weitgehend wie möglich zu bewahren. Dr. Bettina Höfling Semnar, die zunächst Kapitel für Kapitel meiner Übersetzung und danach das gesamte Buch lektoriert hat, bin ich sehr zu Dank verpflichtet. Ich bin mir sicher, dass Bettinas Mitwirken viel zur Lesbarkeit des Buches, das Sie gerade in den Händen halten, beigetragen hat. Wir haben uns bei der Schreibweise von Namen um Konsistenz bemüht, auch wenn derselbe Name gelegentlich sogar innerhalb desselben historischen Dokumentes unterschiedlich geschrieben wird. Armenische Namen werden so wiedergegeben, wie sie in Naims Text vorkommen, gefolgt von eckigen Klammern mit der im Deutschen üblichen Schreibweise. Osmanische und türkische Namen werden im Allgemeinen so wiedergegeben, wie sie im modernen Türkisch geschrieben werden – mit wenigen Ausnahmen. Zeichen mit einem Zirkumflex, wie zum Beispiel »â«, werden ohne den Zirkumflex dargestellt. Der Großbuchstabe »İ« wird als »I« dargestellt. Die Namen der in der deutschen Sprache bekannten Personen werden in deutscher Form wiedergegeben, zum Beispiel »Talat« statt »Talaat« oder »Talât«, der Titel »Pascha« statt »Paşa«. Auch die Namen der in der deutschen Sprache bekannten Städte werden in Deutsch wiedergegeben, zum Beispiel »Aleppo« statt »Haleb«, »Beirut« statt »Beyrut«, »Diyarbakır« statt »Diyarbekir«, »Marasch« statt »Maraş«. Türkischsprachige Publikationen, auf die in den Fußnoten verwiesen wird, werden jedoch in ihrer vollen, modernen türkischen Form wiedergegeben. Schlüssel zur Transkription und Aussprache osmanisch-türkischer Wörter und Namen: Türkische Sonderzeichen und ihre Aussprache c

dsch/dj wie in Dschungel oder Djakarta

ç

Stimmloses tsch wie in Deutsch oder Matsch

ğ

Bewirkt Verlängerung des voranstehenden Vokals

ı

u kurz und sehr dumpf, entfernt ähnlich dem unbetonten e in haben

j

j wie Gendarm oder Journal

ö

oe wie in Goethe

ş

sch wie in Schwester

ü

ü wie Lüge 14

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Wichtige Abkürzungen BOA.A.: Ministerialregister (Sadaret Defteri) BOA.BEO.: Registratur der Kanzlei des Großwesirs an der Hohen Pforte (Babıali Evrak Odası Evrakı) BOA.DH.EUM.: Direktion für öffentliche Sicherheit im Innenministerium (Dahiliye Nezareti Emniyet-i Umumiye Müdürlüğü) BOA.DH.EUM. 2. Şube: Zweite Abteilung für öffentliche Sicherheit im Innenministerium (Dahiliye Nezareti Emniyet-i Umumiye İkinci Şube) BOA.DH.EUM.MH.: Registratur der Beamten der Direktion für öffentliche Sicherheit im Innenministerium (Dahiliye Nezareti Emniyeti Umumiye Memurin Kalem Evrakı) BOA.DH.EUM.LVZ.: Registratur des Beschaffungsamts der Direktion für öffentliche Sicherheit im Innenministerium (Dahiliye Nezareti Emniyeti Umumiye Levazım Kalemi) BOA.DH.EUM.VRK.: Registratur des Archivs der Direktion für öffentliche Sicherheit [Büro] im Innenministerium (Dahiliye Nezareti Emniyeti Umumiye Evrak Odası Kalemi Evrakı) BOA.DH.KMS.: Registratur des Privatsekretariats des Innenministers [Büro] (Dahiliye Nezareti Dahiliye Kalemi Mahsusa Evrakı) BOA.DH.ȘFR.: Chiffrierabteilung des Innenministeriums (Dahiliye Nezareti Şifre Kalemi) BOA.İ.MMS.: Direktion der Personal- und Dienstregister (İrada Meclisi Mahsus) BOA.MF.MKT.: Das Sekretariat des Bildungsministeriums (Maarif Nezareti Mektubi Kalemi) BOA.ȘD.: Dokumente des Staatsrats (Şuray-ı Devlet Evrakı) KEF: Ittihad ve Terakki (Komitee für Einheit und Fortschritt), in der Umgangssprache der Bevölkerung auch oft »Unionisten« genannt DE/PA-AA: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts IAMM: Behörde für Umsiedlung von ethnischen Gruppen und Einwanderern im Innenministerium (Dahiliye Nezareti İskân-ı Aşair ve Muhacir‘in Müdüriyeti) – zuständig für die Deportationen der Armenier AMMU: Generaldirektion für Siedlungswesen und Immigration (Aşair ve Muhacirin Müdüriyeti Umumiyesi) SO: Teşkilatı Mahsusa (Spezialorganisation) TV: Takvimi Vekayi »Terminkalender« (Amtsblatt der osmanischen Regierung)

15 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

WICHTIGE ABKÜRZUNGEN

Die osmanische Provinzhierarchie Rang in Türkisch Vali Mutasarrıf Kaymakam (Kadı) Müdür Muhtar

Jurisdiktion in Türkisch Vilayet Sancak, Liva Mutasarrıflık

Jurisdiktion in Deutsch Provinz Provinzbezirk Bezirksregierung

Landrat

Kaza

Landkreis

Verwalter

Nahiye

Gemeinde

Dorfvorsteher

Karye

Dorf

Rang in Deutsch Gouverneur Distriktgouverneur

16 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Kapitel 1: Vorwort Fakten, Wahrheiten und Leugnung Einer Anekdote nach führte der französische Premier Clemenceau kurz vor seinem Tod 1929 mit einem Vertreter der Weimarer Republik ein freundschaftliches Gespräch über die Frage der Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. »Was, Ihrer Meinung nach«, wurde Clemenceau gefragt, »werden künftige Historiker über dieses verworrene und kontroverse Thema denken?«. Er antwortete: »Das weiß ich nicht. Aber eine Sache ist sicher, sie werden nicht sagen: Belgien fiel in Deutschland ein«.1 Das Verhältnis von Fakten und Wahrheit bleibt ein vielfach diskutiertes Thema in den Geisteswissenschaften. Fakten, Meinungen und Interpretationen werden in der Regel getrennt voneinander betrachtet. Die »Wahrheit« beruht auf feststehenden Tatbeständen, über die es einen Konsens gibt; als solche ist sie nicht dasselbe wie Meinung oder Interpretation; die Wahrheit zu leugnen, bedeutet, unzweifelhafte Tatsachen zu verleugnen. Das möchten wir gern auch meinen. Doch wie argumentierte Hannah Arendt einst: »Gibt es überhaupt reine Tatsachen, die von Meinung und Interpretation unabhängig sind? Haben nicht Generationen von Historikern und Geschichtsphilosophen die Unmöglichkeit bewiesen, reine Fakten auch nur zu etablieren? Werden die historischen Tatbestände nicht aus einem Chaos schieren Geschehens herauspräpariert, nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt, die selber sicher nicht als faktische Gegebenheiten angesprochen werden können? Und werden diese Tatbestände dann nicht wiederum als eine Geschichte in einer bestimmten Perspektive erzählt, die selbst sich keineswegs aus den erzählten Vorgängen unmittelbar ergibt? Diese ganze Problematik ist in der Tat von den Geschichtswissenschaften nicht zu trennen, aber sie beweist keineswegs, dass es Tatbestände überhaupt nicht gibt, und sie kann auch nicht dazu dienen, die Unterschiede zwischen Tatsachen, Meinungen und Interpretationen einfach zu verwischen oder den Historiker zu ermächtigen, nach Belieben mit seinem Tatsachenmaterial zu verfahren«.2

In Anlehnung an Arendts Gedanken können wir argumentieren, dass jede Generation das Recht hat, ihre eigene Geschichte zu schreiben und Fakten ihrer eigenen Perspektive entsprechend zu interpretieren, sie aber nicht zu verändern. Es müssen redliche Anstrengungen unternommen 1 Vgl. Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen zum politischen Denken, Frankfurt am Main 1968, S. 336. 2 Ebd., S. 336.

17 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

werden, um zwischen dem zu unterscheiden, was angeblich geschehen ist, und dem, was nach den Beweisen tatsächlich geschah. Man hat nicht das Recht, den Sachverhalt selbst zu manipulieren.3 In diesem Kontext wird die Praxis des »Denialismus« in Bezug auf Massengrausamkeiten gewöhnlich als eine einfache Leugnung der Tatsachen betrachtet, aber das ist nicht ganz zutreffend. Vielmehr keimt der Denialismus in diesem unsicheren Terrain zwischen Fakten und Wahrheit. Der Denialismus schafft seine eigenen Fakten, und er hat somit auch seine eigene Wahrheit. Letztlich geht es bei den Debatten über den Denialismus nicht um Annahme oder Ablehnung einer Reihe von akzeptierten Fakten oder einer daraus abgeleiteten Wahrheit. Vielmehr handelt es sich um einen Machtkampf zwischen verschiedenen Fakten und Wahrheiten, angetrieben von diversen Beweggründen. Ein solcher Machtkampf ist im Zusammenhang mit der Realität des Völkermords an den Armeniern zu erleben, des Genozids, der zwischen den Jahren 1915 und 1918 zum Tod und/oder zur Ermordung von mehr als einer Million Menschen führte. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ist es den türkischen Regierungen gelungen, eine eigene Version von »offizieller Geschichte« zu kreieren oder gar mit ihren eigenen dokumentarischen Beweisen und Wahrheiten die »Geschichte in Geiselhaft« zu nehmen. Dabei ist es den aufeinanderfolgenden türkischen Regierungen zumindest gelungen, den eigenen »historischen Standpunkt« umfassend bekannt zu machen und ihn auf das Niveau einer akzeptierten historischen Möglichkeit zu heben. Der türkische Denialismus in Bezug auf die Ereignisse des Ersten Weltkrieges ist vielleicht das erfolgreichste Beispiel dafür, wie die gut organisierte, bewusste und systematische Verbreitung von Unwahrheiten eine wichtige Rolle in den öffentlichen Debatten spielen kann, indem sie mit faktischen Aussagen eine falsche »Wahrheit« konstruiert. Diejenigen, die sich an das Diktum »Jeder hat ein Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten«4 halten, haben die öffentlichen und historischen Debatten über den Völkermord an den Armeniern in den letzten Jahrzehnten mit Erstaunen verfolgt und dabei erlebt, wie faktenbasierte Wahrheiten diskreditiert und auf den Status bloßer Meinungen reduziert wurden.5 Die 3 Vgl. ebd. 4 Dieses berühmte Zitat wird dem US-Senator Daniel Patrick Moynihan (1927–2003), https://en.wikipedia.org/wiki/Daniel_Patrick_Moynihan, zugeschrieben und ist vermutlich eine Reaktion auf den amerikanischen Staatsmann Bernard Baruch (1870–1965): »Ich habe immer behauptet, dass jeder Mann ein Recht hat, in seinen Ansichten falsch zu liegen. Aber kein Mann hat das Recht, sich in seinen Tatsachen zu irren«. Baruch, Bernard M.: The Public Years, New York NY 1960, S. 376. 5 Als Arbeit, die demonstriert, wie faktenbasierte Wahrheiten in lediglich »eine von vielen Meinungen« hinsichtlich des Genozids an den Armeniern

18 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

FAKTEN, WAHRHEITEN UND LEUGNUNG

Wahrheit zu verbergen und zum Schweigen zu verurteilen, war ein wichtiger Bestandteil dieser Strategie. Das Buch, das Sie jetzt in Ihren Händen halten, soll eine wichtige Klarstellung in der Debatte und Verwirrung über das Verhältnis von Fakten und Wahrheit in Bezug auf den Völkermord an den Armeniern sein. Es soll als detaillierte Fallstudie dienen und verdeutlichen, dass diejenigen, die diese Wahrheiten verheimlichen, sie zerstückeln und sich in dieser Hinsicht auch noch erfolgreich wähnen, falsch liegen. *** Die folgende Passage von Michel-Rolph Trouillot ist von unmittelbarer Relevanz für das Thema: »Schweigen legt sich über den Prozess der Geschichtsschreibung in vier entscheidenden Momenten«. Er zählt auf: »(1) den Moment der Erzeugung von Fakten (die Schaffung von Quellen); (2) den Moment der Zusammenstellung von Fakten (die Schaffung von Archiven); (3) den Moment der Wiederherstellung von Fakten (die Schaffung von Erzählungen, von Narrativen); und (4) den Moment der retrospektiven Bedeutung (die Schaffung von Geschichte in letzter Instanz)«.6 Zu diesen vier Momenten möchte ich noch einen fünften hinzufügen: (5) den Moment der Zerstörung oder des Versuches, die Echtheit brisanter Dokumente zu widerlegen. Wenn jeder Fall von Genozid so gesehen werden kann, dass er seinen eigenen spezifischen Charakter besitzt, dann ist der Genozid an den Armeniern einzigartig unter den Völkermorden in Hinsicht auf die langjährigen Bemühungen, seine Historizität zu leugnen und dadurch die ihn umgebenden Wahrheiten zu verbergen. Ein weiteres Merkmal dieses Jahrhunderts des Denialismus ist, dass die Verleugnung mit Beginn der Ereignisse selbst ein fester Bestandteil des Völkermords war. Mit anderen Worten, die Leugnung des Genozids an den Armeniern begann nicht nach den Massakern, sondern war Teil des Plans selbst. Die Deportation der Armenier aus ihrer Heimat in die syrische Wüste und ihre transformiert wurden, siehe Mamigonia, Marc: Academic Denial of the Armenian Genocide in American Scholarship: Denialism as manufactured controversy, in: Genocide Studies International 9, 1, 2015, S. 61–82. Für einige Hinweise auf aktuelle Verleugnungen des Genozids an den Armeniern siehe Dixon, Jennifer M.: Rhetorical Adaptation and Resistance to International Norms, in: Perspectives on Politics 15, 1, 2017, S. 83–99; Hovannisian, Richard G.: Denial of the Armenian Genocide 100 Years Later: The new practitioners and their trade, in: Genocide Studies International 9, 2, 2015, S. 228– 247; sowie Akçam, Taner: The Young Turks’ Crime against Humanity, Princeton NJ 2012, S. 273–449. 6 Vgl. Trouillot, Michel-Rolph: Silencing the Past: Power and the production of history, Boston MA 1995, S. 26. Die Aufzählung der vier Momente wurde vom Autor zusammengefasst.

19 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

Auslöschung, sowohl während des Marsches als auch an ihren endgültigen Bestimmungsorten, erfolgten unter dem Deckmantel der Umsiedlung. Der gesamte Prozess wurde tatsächlich mit dem Ziel, dieses Bild zu präsentieren, so nach außen erklärt, organisiert und durchgeführt. Auch wenn wir hier nicht im Detail darüber diskutieren können, ist die drängendste Frage in diesem Zusammenhang die nach den Motiven dieser speziellen Strategie. Die Schwäche des osmanischen Staates zu diesem Zeitpunkt scheint der wichtigste Grund für eine solche Vorgehensweise gewesen zu sein. Die osmanischen Behörden mussten den gesamten Deportations- und Vernichtungsprozess vor allem unter der Kontrolle Deutschlands und der Vereinigten Staaten durchführen. Die Osmanen waren auf militärische und finanzielle Unterstützung des Deutschen Reiches angewiesen und wollten, dass die Amerikaner als neutrale Macht erhalten blieben; sie konnten diese beiden Mächte nicht ignorieren und sahen sich gezwungen, ihr Handeln zu rechtfertigen. Leugnung und Täuschung waren wichtige Mittel, um dem amerikanischen und deutschen Druck auszuweichen. Das Fehlen einer heimischen ideologischen Massenbewegung zur Unterstützung einer völkermörderischen Politik in der osmanischen Gesellschaft scheint ein weiterer Grund gewesen zu sein.7 Dies erklärt auch die hohe Bestechlichkeit der osmanischen Bürokraten, die eine wichtige Rolle spielte (besonders in Syrien) und eines der Themen dieses Buches ist, sowie die »Offerte« der osmanischen Regierung an die Bevölkerung, sozusagen als Anreiz zur Unterstützung der Völkermordpolitik die vertriebenen Armenier auszuplündern. Die offizielle Dokumentation, die die gesamte Deportation und Vernichtung als legitime Umsiedlung darstellt, wurde bereits in den ersten Tagen der Deportationen erstellt. Mit anderen Worten begann das, was Trouillot als »Moment der Erzeugung von Fakten (die Schaffung von Quellen)« bezeichnet hat, am 24. April 1915 – wenn nicht schon früher –, der als symbolisches Datum den Beginn des Völkermords an den Armeniern markiert. An diesem Tag wurden etwa 200 armenische Intellektuelle und Führungspersönlichkeiten der Gemeinde in Istanbul verhaftet. Sie wurden nach Ayaş [Ayasch] und Çankırı (entweder ins Gefängnis oder in den Hausarrest) geschickt. Beide Ortschaften liegen in der Nähe der Stadt 7 Wie Mahmut Kamil Paschas Telegramm zeigt, gab es in der Bevölkerung erhebliche Meinungsverschiedenheiten, wie die Armenier von der Regierung behandelt werden sollten. Zu diesem Thema siehe Shirinian, George N.: Turks Who Saved Armenians: Righteous muslims during the Armenian Genocide, in: Genocide Studies International 9, 2, 2015, S. 208–227; sowie Gerçek, Burçin: Akıntıya Karşı: Ermeni Soykırımında Emirlere karşı Gelenler, Kurtaranlar, Direnenler [Türkisch. Gegen den Strom: Befehlsverweigerer, Retter und Widerständler während des Völkermords an den Armeniern], Istanbul 2016.

20 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

FAKTEN, WAHRHEITEN UND LEUGNUNG

Ankara, und in den folgenden Monaten wurden weitere Intellektuelle an diese beiden Orte überstellt. Anschließend wurde die Mehrzahl dieser Personen während ihrer Deportation zu den endgültigen Bestimmungsorten getötet. Das Osmanische Archiv ist voll von Dokumenten, die berichten, dass solche Personen an Herzinfarkten und anderen natürlichen Todesursachen gestorben sind oder dass sie flohen oder irgendwann freigelassen wurden. In einem Artikel von Yusuf Sarınay, der lange Jahre Generaldirektor des Osmanischen Archivs war, wird behauptet, dass von den 155 Intellektuellen in Çankırı nur 29 im Gefängnis behalten wurden; 35 von ihnen waren unschuldig und durften nach Istanbul zurückkehren, 31 weitere Häftlinge wurden von der Regierung begnadigt und durften in jede gewünschte Stadt ihrer Wahl gehen, 57 Gefangene wurden nach Deyr-i Zor deportiert und drei Ausländer wurden außer Landes verwiesen. In diesem Artikel des Generaldirektors des Osmanischen Archivs wird behauptet, dass keiner dieser Intellektuellen ermordet wurde.8 Wir möchten hier drei markante Beispiele nennen, die diesen Prozess der »Faktenerzeugung« und die daraus resultierende Entwicklung einer historischen Erzählung beleuchten. Der prominente armenische Abgeordnete aus Istanbul, Krikor Zohrab, wurde am 2. Juni 1915 in Istanbul verhaftet.9 Er wurde unter dem Vorwand einer Anklageerhebung vor einem Militärgericht in die südostanatolische Stadt Diyarbakır gebracht. Tatsächlich wurde Krikor Zohrab aber am 19. Juli in der Nähe von Urfa ermordet, indem sein Kopf mit einem Stein zertrümmert wurde.10 In dem Moment, als Zohrab ermordet wurde, waren die offiziellen Dokumente schon vorbereitet, die sein Ableben nach einem Herzinfarkt attestierten. Nach einem Bericht vom 20. Juli 1915, der vom Amtsarzt der Gemeinde 8 Sarınay, Yusuf: What Happened on April 24, 1915, the Circular of April 24, 1915 and the Arrest of Armenian Committee Members in Istanbul, in: International Journal of Turkish Studies 14, 1/2, 2008, S. 75–101, S. 80. Für eine kritische Rezension dieses Artikels siehe Sarafian, Ara: What happened on 24 April 1915? The Ayash Prisoners, gomidas.org, http://www.gomidas. org/submissions/show/5 (Zugriff: 22. April 2013). 9 Krikor Zohrab (1861–1915) war eine facettenreiche Persönlichkeit und ein führender armenischer Intellektueller: Rechtsanwalt, Ingenieur, Architekt und Autor. Er wurde 1908, 1912 sowie 1914 auch als Abgeordneter von Istanbul in die osmanische Abgeordnetenkammer gewählt. Mehr über sein Leben und seinen Tod erfahren Sie hier: İzrail, Nesim Ovadya: 1915 Bir Ölüm Yolculuğu Krikor Zohrab [Türkisch. 1915 Krikor Zohrabs Reise in den Tod], Istanbul 2013. 10 Der Mord an Zohrab wurde aufgedeckt. Der Mörder gab zu, Zohrabs Schädel mit einem Stein eingeschlagen zu haben. Altınay, Ahmet Refik: İki Komite İki Kıtal [Türkisch. Zwei Komitees, Zwei Massaker], Istanbul 1999, S. 51f.

21 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

Urfa unterzeichnet wurde, soll Zohrab während seines Aufenthaltes in Urfa über Brustschmerzen geklagt haben und dort behandelt worden sein. Nach der Behandlung soll Zohrab noch einmal auf den Weg nach Diyarbakır geschickt worden sein, aber später wurde berichtet, dass er unterwegs gestorben sei. Der Arzt reiste zum Ort des Vorfalles und stellte als Todesursache Herzstillstand fest.11 Ein weiterer Bericht über dieses Geschehen wurde von Priester Hayrabet, dem Sohn von Kürkçü Vanis, einem Mitglied des Klerus der armenischen Kirche in Urfa, im Auftrag der osmanischen Regierung erstellt. In diesem Bericht, der seine eigene Unterschrift trägt, behauptet der Priester, dass Zohrab »an den Folgen einer Herzkrankheit gestorben ist« und »seinen religiösen Traditionen entsprechend bestattet wurde«. Am unteren Rand des Berichtes steht ein Vermerk, der, versehen mit dem offiziellen Siegel der osmanischen Behörde, bestätigt, dass es »die persönliche Unterschrift von Hayrabet, Sohn von Vanis, dem Priester der armenischen Kirche Urfa« ist.12 Uns liegt ein drittes offizielles Dokument vor, das ebenfalls besagt, dass Zohrab nicht ermordet wurde, sondern an den Folgen eines Unfalles starb. Laut einem Telegramm des Innenministeriums, das am 17. Oktober 1915 nach Aleppo geschickt wurde, wird durch das Ermittlungsdokument »Nummer 516, vom 25. September 1915, bestätigt, dass [Zohrab] unterwegs infolge eines Unfalles ums Leben kam«.13 Wie bereits aufgezeigt, ist Zohrabs Tod nach den offiziellen »Fakten und Wahrheiten« Folge eines Herzinfarktes gewesen, und dafür gibt es auch genügend Belege. Später konnten diese Unterlagen nicht mehr als wesentlicher Teil des denialistischen Narrativs verwendet werden, da Zohrabs tatsächliche Mörder, Çerkez Ahmet und seine Komplizen, bekannte Mitglieder der Spezialorganisation der Partei Ittihad ve Terakki Cemiyeti (Komitee für Einheit und Fortschritt, im Folgenden: KEF)14, 11 Krikor Guerguerian Archive: Osmanische Dokumente, 13-Krikor Zohrab, Dokument 03 [Anmerkung des Autors: Da die in dieser Arbeit angegebenen Archiv-Identifikationsnummern temporär sind, werden sie eventuell geändert. Wir schlagen vor, dass die Forscher den Online-Index verwenden, den wir für die Suche nach Artikeln und anderen Dokumenten vorbereitet haben]. 12 Krikor Guerguerian Archive: Osmanische Dokumente, 13-Krikor Zohrab, Dokument 04. 13 Krikor Guerguerian Archive: Osmanische Dokumente, 13-Krikor Zohrab, Dokument 02. 14 Die Teşkilat-ı Mahsusa (»Spezialorganisation«) war die Geheimorganisation des Komitees für Einheit und Fortschritt (KEF) im Osmanischen Reich. Die Spezialorganisation diente in erster Linie dazu, die Gegner der KEF durch gezielte Attentate auszuschalten. Das offizielle Gründungsdatum als eine Abteilung des osmanischen Kriegsministeriums ist November 1913. Die

22 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

FAKTEN, WAHRHEITEN UND LEUGNUNG

verhaftet, angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Ali Fuat Erden, der Adjutant von Cemal Pascha – Mitglied des Triumvirats der regierenden KEF, das eine zentrale Rolle bei der Hinrichtung der Mörder von Zohrab spielte –, schrieb Folgendes über den Umgang der KEF mit Angehörigen der Spezialorganisation: »Diese Mittel zur Durchführung ›niederer Angelegenheiten‹ (Stuhlgang) waren zur gegebenen Zeit vonnöten; danach waren sie nicht länger wichtig und mussten somit nach dem Gebrauch entsorgt werden (wie Toilettenpapier)«.15 Ahmet und seine Komplizen wurden wahrscheinlich auch bei der Ermordung anderer armenischer Intellektueller eingesetzt und stellten daher ein Risiko für die Führung der Unionisten (KEF) dar. Die maßgeblichen Informationen zu diesem Vorfall erschienen nicht nur in einigen Memoiren aus dieser Zeit, sondern fanden im November 1916 auch Eingang in die parlamentarischen Protokolle der osmanischen Abgeordnetenkammer.16 Am 12. November 1916 wurde im Ple­ narsaal die Anfrage nach dem Schicksal von Zohrab und eines weiteren Abgeordneten, Vartkes Serengülyan, gestellt, der mit ihm getötet wurde. Sechzehn Tage später, am 28. November, antwortete Großwesir Sait Halim Pascha auf die parlamentarische Anfrage: »Während ihrer Reise nach Diyarbakır, wo sie vom Gericht geladen worden waren, wurden der Abgeordnete aus Erzurum, Vartkes Serengülyan, und der Abgeordnete aus Istanbul, Krikor Zohrab, von einer Bande unter der Führung von Çerkez Ahmet ermordet. Die Mörder wurden in Diyarbakır verurteilt und hingerichtet«.17 Das zweite Beispiel, auf das wir hinweisen wollen, betrifft Agnuni (Khatchadour Malumyan), einen der Leiter der Dashnaktsutiun-Organisation.18 Er wurde am 24. April 1915 verhaftet und im Gefängnis Ayaş

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Spezialorganisation wurde von Enver Pascha ins Leben gerufen. Gemäß der türkisch-nationalistischen und panislamischen Ideologie der İttihad ve Terakki (KEF) führte die Organisation im In- und Ausland Spionage, Propa­ ganda und Attentate gegen Feinde des Osmanischen Reiches aus. Nach den Aussagen verschiedener Zeugen wurde die Organisation im März 1915 der Partei (KEF) unterstellt, und war auch maßgeblich an dem Völkermord an den Armeniern beteiligt. Nachdem die Regierung am 8. Oktober 1918 zurücktrat, wurde die Organisation aufgelöst. Erden, Ali Fuat: Birinci Dünya Savaşı’ında Suriye Hatıraları [Türkisch. Erinnerungen aus Syrien während des Ersten Weltkrieges], Istanbul 2006, S. 226. Weitere Informationen zu den verschiedenen Memoiren über den Mord an Zohrab und die Festnahme, Gerichtsverfahren und Hinrichtung seiner Mörder finden sich bei İzrail: Ölüm Yolculuğu, a.a.O., S. 355–384. Ebd., S. 363f. Dashnaktsutiun ist der armenische Name für die Armenische Revolutionäre Föderation, eine der wichtigsten armenischen politischen Organisationen,

23 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

in Zentralanatolien unweit von Ankara festgehalten. Am 2. Juni wurde Agnuni zusammen mit fünf seiner Bekannten nach Diyarbakır geschickt, um dort vor Gericht gestellt zu werden.19 Die Gruppe, die Aleppo noch vor Krikor Zohrab erreichte, wurde dann gemäß einem Befehl vom 24. Juni 1915 weiter nach Diyarbakır geschickt.20 Wahrscheinlich wurden diese Männer in ähnlicher Weise wie Zohrab getötet – nur wenige Tage zuvor, Anfang Juli 1915.21 Bestimmte osmanische Dokumente in unserem Besitz besagen jedoch, dass Agnuni und seine Gefährten nicht getötet wurden, sondern auf dem Weg nach Diyarbakır ihren Bewachern entkommen und nach Russland fliehen konnten. In einer Mitteilung von Talat Pascha an Außenminister Halil Menteşe vom 19. Juli 1916 heißt es: »Es scheint zweifellos festzustehen, dass während der Überstellung nach Diyarbakır« Agnuni und seine Freunde »ihre Bewacher täuschen konnten und nach Russland geflohen sind«.22 Das letzte Beispiel, das hier erwähnt werden soll, ist Diran Kelekyan, der Chefredakteur der Tageszeitung Sabah. Kelekyan, der den Unionisten (KEF) nahestand, wurde ebenfalls am 24. April 1915 verhaftet. Er wurde am 8. Mai unter der Maßgabe freigelassen, dass er »sich und seine Familie in einem Gebiet seiner Wahl in einer Provinz ansiedelt, in der keine anderen Armenier leben, und unter der Maßgabe, dass er nicht nach Istanbul zurückkehrt«. Kelekyan blieb jedoch in Çankırı, wohin er zuvor deportiert worden war.23 Am 18. Juli stellte er einen Antrag auf Rückkehr nach Istanbul, aber die offizielle Antwort, die elf Tage später zurückgeschickt wurde, wiederholte die bekannten Bedingungen: Er könne sich dort niederlassen, wo er wolle, unter der Bedingung, dass er nicht nach Istanbul zurückkehre.24 Wie Zohrab und Agnuni vor ihm

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die 1890 in Tiflis gegründet wurde. Sie bildete 1918 die erste Regierung der Republik Armenien. BOA.DH.ŞFR., 53/211: Verschlüsseltes Telegramm des Innenministers Talat an die Provinz Ankara, 3. Juni 1915. BOA.DH.ŞFR., 54/132: Verschlüsseltes Telegramm des Innenministers Talat an die Provinz Aleppo, 24. Juni 1915. Rössler, der deutsche Konsul in Aleppo, berichtete in einem Telegramm vom 29. Juni 1915, dass Agnuni und seine Gefährten noch in Aleppo seien (DE/ PA-AA/BoKon/169). Raymond Kévorkian behauptet, dass die Tötung von der Haci-Tellal-Bande durchgeführt wurde. Siehe Kévorkian, Raymond: The Armenian Genocide: A complete history, London / New York NY 2011, S. 524. BOA.DH.EUM., 5. ŞB. 26/23: Vertrauliche Notiz von Innenminister Talat Bey an Außenminister Halil Bey, 19. Juli 1915. BOA.DH.ŞFR., 52/266: Verschlüsseltes Telegramm von Innenminister Talat an die Provinz Kastamonu, 8. Mai 1915. BOA.DH.ŞFR., 54-A/183: Verschlüsseltes Telegramm vom 29 Juli 1915, Innenminister Talat an die Provinz Kastamonu.

24 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

FAKTEN, WAHRHEITEN UND LEUGNUNG

wurde Diran Kelekyan schließlich nach Diyarbakır geschickt, um sich vor einem Gericht zu verantworten, wurde aber am 2. November 1915 von bewaffneten Banden ermordet.25 Yusuf Sarınay, der Autor des oben erwähnten Artikels, zitiert eine Notiz, dass Diran Kelekyan »vom Innenministerium am 4. August 1915 freigelassen worden ist und nach Izmir gehen wird«.26 Das Osmanische Archiv selbst ist, wie Trouillot mit seinem zweiten Punkt beschreibt, ein Denkmal für »die Bedeutung der Zusammenstellung von Fakten (die Erstellung von Archiven)«. Abgesehen von den oben genannten Dokumenten, die sich mit der verhafteten armenischen Intelligenz befassen, sind sie voll von Dokumenten mit Regierungsaufträgen, die die Deportationen und Massaker als alltägliche, legale Umsiedlungsbemühungen darstellen. Paradebeispiele hierfür sind der Regierungserlass vom 30. Mai 1915 und die am 10. Juni 1915 veröffentlichte Liste der Vorschriften (44 Bestimmungen). Demnach sollten die von den deportierten Armeniern zurückgelassenen Anwesen und Habseligkeiten erfasst und ihr Wert den Eigentümern an ihren neuen Siedlungsorten erstattet werden. Die folgenden Instruktionen stammen aus der Mai-Verordnung: »Habeseligkeiten und Anwesen werden ihnen [den Armeniern in ihren neu besiedelten Gebieten] entsprechend ihrer bisherigen finanziellen und wirtschaftlichen Situation zugeteilt. Der Staat wird Unterkünfte für die Bedürftigen errichten, Saatgut an die Bauern verteilen und jenen, die sie verwenden können, Werkzeuge und Gerätschaften zur Verfügung stellen. Die Gegenstände und Waren, die an den Orten zurückblieben, die sie verlassen haben, oder ihre entsprechenden Werte, werden ihnen in derselben Beschaffenheit zur Verfügung gestellt«.27 Später, mit dem Gesetz vom 26. September 1915 und der Verordnung vom 8. November 1915, wurden die oben beschriebenen Punkte weiterentwickelt und der Prozess der Übertragung der Einnahmen aus armenischen Anwesen auf die Armenier in ihren neuen Siedlungsgebieten geregelt.28 Ein weiteres wichtiges Dokument ist eine neue Verordnung (Talimatname), die am 7. Oktober 1915 herausgegeben wurde. Diese Verordnung, die aus 55 verschiedenen Paragrafen besteht, wurde verfasst, um eine geordnete Verteilung der Armenier zu ermöglichen, die in Syrien 25 Balakian, Grigoris: Armenian Golgotha: A memoir of the Armenian Genocide, 1915–1918, New York NY 2009, S. 301–304. 26 Sarınay: April 24, 1915, a.a.O., S. 97. 27 Genelkurmay Başkanlığı: Arşiv Belgeleriyle Ermeni Faaliyetleri (1914–1918) [Türkisch. Archiv des Generalstabes: Archivdokumente über die Aktivitäten der Armenier von 1914 bis 1918], Bd. 1, Ankara 2005, S. 131. 28 Weitere Informationen zum Gesetz vom 26. September und zur Verordnung vom 8. November 1915 finden sich bei Akçam, Taner / Kurt, Umit: Spirit of the Laws: The plunder of wealth in the Armenian Genocide, New York NY 2015, S. 24–29.

25 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

angekommen waren und sich in großer Zahl konzentriert in der Umgebung von Aleppo aufhielten. Danach sollten die Namen der Armenier, die man in die neuen Umsiedlungsgebiete schicken wollte, in die Deportationsregister eingetragen werden; sie selbst sollten dann in Tracks mit circa 1.000 Personen deportiert werden; für jeden Track sollten 150 Esel, Maultiere und Kamele zur Verfügung gestellt werden. Außerdem sollten sie mindestens für vier Tage mit Lebensmitteln und Wasser versorgt werden; entlang der Strecke sollten Mehldepots eingerichtet und Öfen zum Backen von Brot gebaut werden. Außerdem gäbe es Ruhezonen entlang der Routen und es würden Sanitätsbeamte dahin entsandt, damit diejenigen, die ihre Reise aus gesundheitlichen Gründen nicht fortsetzen könnten, sich dort behandeln ließen. Schließlich würden die armenischen Deportierten auf fruchtbares Land umgesiedelt, und jeder Familie würde genügend Land zum Überleben gestellt werden.29 Wie diese Dokumente zeigen, war während des gesamten Prozesses des Genozids ein paralleler Prozess zur Konstruktion einer anderen »Wahrheit« auf der Grundlage eines gefälschten Faktenmaterials, dessen Authentizität aber unbestreitbar war, im Gange. Das unvermeidliche Ergebnis davon war, dass eine alternative Darstellung geschaffen wurde, die den Weg für eine historische Debatte ebnete – zu einem Machtkampf um die überzeugendere Wahrheit. Solche »Fakten«, die während des gesamten Genozids produziert wurden, bildeten die Grundlage eines Prozesses, in dem die »Wahrheit« zu einer »Meinung unter vielen« werden konnte. Trotz aller Bemühungen hinterlässt jedes Massenverbrechen unvermeidlich Spuren. Das war beim Völkermord an den Armeniern auch der Fall; es gibt in der Tat genügend Materialien, die die völkermörderische Absicht der osmanisch-türkischen Regierung belegen. Aus diesem Grund konnten das Verschweigen und die Geiselhaft der Geschichte nicht einfach durch die Herstellung von Fakten gelingen. Die vorhandenen belastenden Materialien mussten entweder verschwinden oder für ungültig erklärt werden. Das ist es, was wir in unserer Ergänzung zu Trouillots Liste als Punkt (5) bezeichnet haben: »Der Moment der Zerstörung und/oder des Nachweises, um belastende Dokumente als Fälschungen zu bezeichnen«. Der türkische Denialismus ist seit Langem durch die Auslöschung der materiellen Grundlagen der »wahren Realität« gekennzeichnet. Wir verfügen nun über detaillierte Beweise dafür, dass wichtige offizielle osmanische Dokumente zum Völkermord an den Armeniern vorsätzlich zerstört wurden. Dazu gehören vor allem die Informationen, die in der Anklage im Hauptverfahren gegen die Führer der Unionisten (KEF) im 29 BOA.DH.EUM.VRK., 15/71-2: Muamele-i Umumiye-i Sevkiye Hakkında Talimatname [Türkisch. Allgemeine Verordnung über die Durchführung der Deportationen].

26 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

FAKTEN, WAHRHEITEN UND LEUGNUNG

Nachkriegs-Istanbul des Jahres 1919 enthalten sind. In der Anklageschrift schreibt die Staatsanwaltschaft, dass die unionistische Regierung, die im Ersten Weltkrieg vor einer drohenden Niederlage stand, eine »Säuberung« ihrer Archive vorgenommen habe. Unter den zerstörten Dokumenten war ein bedeutender Teil der Akten des Innenministeriums, der Einheits- und Fortschrittspartei sowie ihrer Spezialorganisation, die eine zentrale Rolle bei der Vernichtung der Armenier spielte. Zusätzlich wurde ein Rundschreiben an alle regionalen Verwaltungszentren verschickt, in dem die Verbrennung aller Befehle bezüglich der Armenier angeordnet wurde.30 Unter den Dokumenten, von denen keine Spuren mehr zurückgeblieben sind, waren vor allem die Prozessakten und die dazugehörigen Dokumente aus den Verfahren gegen die Führer der Einheits- und Fortschrittspartei (KEF), die zwischen 1919 und 1922 stattfanden. Dazu gehörten die Unterlagen der im November 1918 eingesetzten Untersuchungskommission, die Schriftstücke der von den Kriegsgerichten selbst durchgeführten Ermittlungen, die Akten zu den etwa 63 bei diesen Gerichten eingereichten Fällen, die Protokolle der Gerichtsverhandlungen, die Aussagen der Zeugen und Angeklagten sowie die Untersuchungsunterlagen zu Dutzenden von Personen und Ereignissen, die es nicht vor die Gerichte geschafft hatten. All dies – alles – ist spurlos verschwunden, ohne jeglichen Hinweis auf sein Schicksal oder seinen Verbleib.31 Während der Ermittlungen, die vor der Anklageerhebung durchgeführt wurden, sowie während der anschließenden Prozesse wurden Hunderte von offiziellen Dokumenten angelegt, die aufzeigen, wie der Genozid organisiert wurde. Einige davon waren telegrafische Befehle. So gab es allein 42 Telegramme aus der Provinz Ankara. Es gab auch mündliche und schriftliche Zeugnisse einer Reihe hochrangiger osmanischer Zivilund Militärbeamter, die bestätigen, dass die Massaker unter der Schirmherrschaft der Einheits- und Fortschrittspartei geplant und systematisch durchgeführt worden sind. Heute ist dieses riesige Kompendium an Informationen völlig verschwunden. Wenn wir bedenken, wie die Nürnberger Prozesse verlaufen wären, wenn alle vorhandenen Beweise verloren gegangen wären, dann können wir beginnen, die Bedeutung und das Ausmaß dieses Verlustes besser zu verstehen. Abgesehen von den 13 Anklagen und Urteilen, die im osmanischen Amtsblatt (Takvim-i Vekayi) veröffentlicht wurden, sind über die Prozesse nur noch einige Berichte in den Tageszeitungen zu finden. Am Ende transformierte sich der Völkermord – aus einer gut dokumentierten, robusten 30 Detaillierte Informationen über das Osmanische Archiv und die Zerstörung von Dokumenten finden Sie in Akçam: Young Turks’ Crime, a.a.O., S. 9–20. 31 Für detaillierte Informationen über die Nachkriegsprozesse der Unionisten siehe Dadrian, Vahakn N. / Akçam, Taner: Judgement in Istanbul: The Armenian Genocide trials, New York NY 2011.

27 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

historischen Wahrheit wurde durch Verheimlichung und Vernichtung dokumentarischer Beweise eine dünne Eisschicht, eine fragile Hypothese, die sehr leicht zerbrechlich ist. Nach Verheimlichung und Zerstörung war nur noch ein weiterer Schritt notwendig: Zu beweisen, dass jedes verbliebene belastende Dokument gefälscht oder irgendwie nicht authentisch ist. Das auffälligste Beispiel dafür sind die telegrafischen Befehle von Talat Pascha, die die Vernichtung der Armenier anordnen und Gegenstand dieses Buches sind. Die Originaltelegramme und/oder handschriftlichen Kopien davon wurden im November 1918 von einem osmanischen Bürokraten namens Naim Efendi, der im Regionalbüro des Deportationsamtes in Aleppo arbeitete, an den armenischen Journalisten und Intellektuellen Aram Andonian verkauft.32 Naim kopierte nicht nur circa 52 Telegramme handschriftlich, sondern verkaufte auch circa 24 Originaldokumente und fertigte kurze Erinnerungsnotizen zu diesen Telegrammen an. Deshalb nannte Aram Andonian diese Erinnerungen später »Naim Beys Memoiren«.33 Andonian ordnete diese historisch unvergleichlich wertvollen Depeschen, die zeigen, dass die osmanischen Armenier durch direkten Regierungsbefehl ausgelöscht wurden, und veröffentlichte sie, nebst Naims Notizen, in den Jahren 1920 und 1921 in drei verschiedenen Sprachen.34 1983 veröffentlichte die Türkische Historische Gesellschaft das Werk Ermenilerce Talat Paşa’ya Atfedilen Telgrafların Gerçek Yüzü von Şinasi Orel und Süreyya Yuca, das 1986 unter dem Titel The Talat Pasha 32 Der Journalist und Schriftsteller Aram Andonian (1875–1952) zählte zu den bekannten armenischen Intellektuellen in Istanbul. Er wurde am 24. April 1915 zusammen mit anderen armenischen Intellektuellen verhaftet und entkam ihrem tragischen Schicksal nur, weil er sich auf der Deportationsroute das Bein brach. So verbrachte er die Jahre der Deportation im Konzentrationslager Meskene und in der Stadt Aleppo, wo er Naim Efendi traf. Von 1928 bis zu seinem Tod 1952 war er Direktor der Boghos-Nubar-Bibliothek in Paris. Für weitere Informationen über Andonian siehe: Exile, Trauma and Death: On the road to Chankiri mit Komitas Vartabed, hrsg. von Rita Soulahian Kuyumjian, London 2010. 33 Efendi oder Bey sind osmanische Titel wie Mister oder Sir und definieren den Rang des Einzelnen in der Gesellschaft, wobei Efendi ein niedrigerer Rang ist als Bey. Naim wird in osmanischen Dokumenten als Efendi bezeichnet. 34 Andonian, Aram: Documents officiels concernant les massacres Arméniens, Paris 1920; Andonian, Aram: The Memoirs of Naim Bey: Turkish official documents relating to the deportations and massacres of Armenians, London 1920; Andonian, Aram: Medz Vojirě [Das große Verbrechen], Boston MA 1921. Die englische Ausgabe ist recht problematisch und sollte nicht als Quelle verwendet werden, während die französische, obwohl eine getreue Übersetzung des armenischen Originals, mehrere Kapitel auslässt. In diesem Werk wird nur auf den armenischen Text verwiesen.

28 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

FAKTEN, WAHRHEITEN UND LEUGNUNG

Telegrams, Historical Fact or Armenian Fiction? ins Englische übersetzt wurde.35 Die Autoren behaupten in ihrem Buch, dass sowohl die Memoiren als auch die Depeschen, die von Andonian veröffentlicht wurden, Fälschungen sind und die Telegramme nachträglich von Armeniern produziert wurden, höchstwahrscheinlich von Andonian selbst. In den Jahren nach dem Erscheinen des Buches von Orel und Yuca setzte sich deren Auffassung von der Unechtheit der beiden Naim-Memoiren und der dazugehörigen Telegramme durch, wobei letztere sogar bekannt wurden als »die falschen Telegramme, die Talat Pascha zugeschrieben werden«. Orels und Yucas Arbeit schien das gesamte Dossier Naim Efendi ad acta gelegt zu haben. Kritische Wissenschaftler tendierten später eher dazu, das Thema zu meiden. Dieses Buch, das Sie jetzt in den Händen halten, könnte daher in dieser Saga »eine neue Seite aufschlagen«. *** Michel-Rolph Trouillots dritter und vierter Schritt handelt davon, die Vergangenheit zum Schweigen zu bringen und die Geschichtsschreibung in Geiselhaft zu nehmen – »der Moment der Tatsachensuche (die Schaffung von Erzählungen)« und »der Moment der retrospektiven Bedeutung (die Schaffung von Geschichte als letzte Instanz)«. Diese Aufgabe fällt im Wesentlichen in den Bereich der Geschichte und hier ihren Akteuren zu. Viele Historiker, die den Anspruch erheben, der objektiven Geschichte nach wissenschaftlichen Grundsätzen zu folgen, haben sich dennoch dem Chor der Geschichtenerzähler angeschlossen, der sich dieser »dokumentenbasierten Erzählung« verschrieben hat. Sie haben diejenigen, die die Existenz eines Völkermords an den Armeniern bejahen, zu einer Diskussion auf der Grundlage von Dokumenten aufgefordert. Solche Diskussionen enden dann oft mit einer weiteren Aufforderung: »Zeigt uns die Originale!«. Der bekannte Islamwissenschaftler und Nahosthistoriker Bernard Lewy war selbst ein prominentes Mitglied dieses Chores und verkündete, dass »es keine ernsthaften Beweise für eine Entscheidung und einen Plan der osmanischen Regierung zur Vernichtung der armenischen Nation gibt«.36 Guenter Lewy ist ein weiterer Solist aus diesem Chor.37 Die zentrale These seines Buches von 2004 lautet: »Es gibt keine authentischen Beweise für die Schuld der türkischen Zentralregierung an dem Massaker 35 Orel, Şinasi / Yuca, Süreyya: Ermenilerce Talat Paşa‘ya Atfedilen Telgrafların Gerçek Yüzü [Türkisch. Die Telegramme von Talat Pascha: Historische Fakten oder Fiktion?], Ankara 1983; Orel, Şinasi / Yuca, Süreyya: The Talat Pasha Telegrams: Historical fact or armenian fiction?, Nikosia 1986. 36 »Les explications de Bernard Lewis«, in: Le Monde vom 01.01.1994. 37 Lewy, Guenter: The Armenian Massacres in Ottoman Turkey: A disputed genocide, Salt Lake City UT 2005, S. 2

29 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

von 1915–6. […] Man kann mit Sicherheit sagen, dass keine solcher Beweise für die Ereignisse von 1915–6 existieren«.38 Nach Lewys Ansicht können die Belege im osmanischen Amtsblatt (Takvim-i Vekayi) oder in Tageszeitungen, die in der Nachkriegszeit im Zusammenhang mit den Verhandlungen der Kriegsverbrechen gegen die Mitglieder der Einheitsund Fortschrittspartei (KEF) veröffentlicht wurden, nicht als zuverlässige Quellen akzeptiert werden, da »durch den Verlust der gesamten Originaldokumentation die Ergebnisse der Militärgerichte von 1919–20 nicht durch glaubwürdige Beweise untermauert werden können. […] Die Reproduktionen können kaum als gültiger Ersatz für die Originaldokumentation angesehen werden«.39 Guenter Lewy geht sogar so weit, diese Materialien als »angebliche Dokumente« zu bezeichnen.40 Lewy wies die von Naim an Andonian gesendeten Telegramme als ungültig und unzuverlässig zurück. Orels und Yucas Ansicht, dass sie »grobe Fälschungen« seien, wiederholend, behauptet Lewy, dass »Orels und Yucas sorgfältige Analyse dieser Dokumente genügend Fragen über ihre Echtheit aufgeworfen habe, um sie in einer ernsthaften wissenschaftlichen Arbeit als nicht akzeptabel einstufen zu können«.41 Das ist in der Tat eine sonderbare Allianz. Einerseits die hintereinander amtierenden türkischen Regierungen, die alle Beweismittel zu den Ereignissen von 1915 systematisch vernichteten; dazu gehören alle Fall­ akten aus den Nachkriegsprozessen gegen die Mitglieder der Einheitsund Fortschrittspartei (KEF) (1919 bis 1921), alle Talat-Pascha-Telegramme und weitere belastende Dokumente sowie alle Spuren ihres endgültigen Schicksals. Andererseits gibt es den Chor von Historikern, der nicht müde wird, zu wiederholen, dass es in Ermangelung solider, verlässlicher Beweise – also »noch qualmender Waffen« aus dem Osmanischen Archiv oder anderswo – keine objektive Bestätigung eines von der Regierung befohlenen Völkermords an den Armeniern geben kann. Angesichts dieser merkwürdigen Koalition dürfte die Verleihung des Preises der »Großen Türkischen Nationalversammlung« durch den Parlamentspräsidenten Bülent Arınç am 22. November 2005 an Guenter Lewy keine Überraschung sein.42 Ein letzter Pinselstrich ist nötig, um das Bild der Leugnung zu vervollständigen, um die Berichte der armenischen Überlebenden über den 38 39 40 41 42

Ebd., S. 206. Ebd., S. 206. Ebd., S. 73, S. 206. Ebd., S. 65. Türkiye Büyük Millet Meclisi: TBMM Başkanı Bülent Arınç, Hazırladığı Kitapla Sözde Ermeni Soykırımı İddialarini Çürüten Amerikalı Profesör Lewy‘i Makamında Kabul Etti, 22.11.2005, tbmm.gov.tr, https://www.tbmm. gov.tr/develop/owa/tbmm_basin_aciklamalari_sd.aciklama?p1=30684 (Zugriff: 14. April 2017). Unnötig hinzuzufügen, dass unser Hinweis hier nicht

30 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

FAKTEN, WAHRHEITEN UND LEUGNUNG

Völkermord zu diskreditieren und um sie als »unzuverlässige Quellen« einzustufen. Offizielle osmanische Dokumente werden als die einzig zuverlässigen Quellen bezeichnet und stehen in der »Hierarchie der Quellen« an oberster Stelle. Das während des Krieges von Arnold Toynbee und Viscount Bryce vorbereitete britische »Blue Book«, das die Gräueltaten der Osmanen beschreibt, wird als »Kriegspropaganda« abgelehnt, da viele der darin enthaltenen Informationen von Armeniern stammen würden.43 Um die Lage mit den Worten von Marc Nichanian zu beschreiben: »Die Armenier mussten den Beweis für ihren eigenen Tod erbringen«.44 Die Ereignisse selbst, im eigentlichen Sinne als Geschehnisse, wurden von vornherein für ungültig erklärt. Auf diese Weise wurde die Tatsache des Völkermords, seine Wahrheit als historisches Faktum, infrage gestellt, wenn nicht sogar auf eine Meinungsäußerung ohne substanziellen Beweis reduziert. Was hätte getan werden sollen? Die Antwort auf diese Frage ist sehr einfach: Die Augenzeugenberichte ebenso substanziell wie die osmanischen Quellen behandeln und eine simple Frage an das türkische Re­gime stellen: Was geschah mit den Akten, die während der Prozesse 1919– 1922 ans Licht kamen? Wenn die Regierung sie versteckt oder zerstört hat, dann nur, weil sie nicht bereit war, die darin enthaltenen Informationen weiterhin bekannt zu machen, was eindeutig auf ihren belastenden Charakter hinweist. Das Verschleiern oder die vorsätzliche Vernichtung von Prozessakten und Beweismaterialien sollte mehr als ausreichen, um ernsthaften Verdacht und Zweifel bei jenen Historikern zu wecken, die solide und zuverlässige Beweise für unablässig erachten und denen das Nichtvorhandensein jener Beweismaterialien es nicht erlaubt, sich ein abschließendes Urteil zu bilden. In einer solchen Gemengelage ist es unsere Aufgabe als Historiker, die aufgefundenen Informationen in jenen lange verschollenen oder verborgenen Dokumenten ans Licht zu bringen und angesichts der Opposition aus dem Chor der Leugner ihre Authentizität zu beweisen. Die Zeit ist gekommen, dass das herrschende Narrativ, das auf ihrer Version der darauf zielt, dass die türkische Regierung einen Preis vergeben hat (sie vergibt so viele Preise für so viele Zwecke), sondern auf den Anlass, den Grund für die Verleihung dieses Preises. 43 Toynbee, Arnold / Bryce, James: The Treatment of Armenians in the Ottoman Empire: Documents presented to Viscount Grey of Fallodon by Viscount Bryce, Princeton NJ / London 2005. Zum »Hierarchiesyndrom«, das von einigen kritischen Historikern verinnerlicht wurde, siehe Akçam, Taner: The Relationship between Historians and Archival Records: A critique of single source scholarship on the Armenian Genocide, in: Journal of the Society for Armenian Studies 19, 2, 2010, S. 43–92. 44 Nichanian, Marc: The Truth of the Facts about the New Revisionism, in: Remembrance and Denial: The case of the Armenian Genocide, hrsg. von Richard G. Hovannisian, Detroit MI 1999, S. 249–270, hier S. 257.

31 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

Wahrheit basiert und sorgfältig aus ihren eigenen ausgewählten Fakten konstruiert wurde, abgeschafft wird. Das ist die Absicht dieser Arbeit: Die Stimmen, die bisher zum Schweigen verurteilt waren, wieder hörbar zu machen und aufzeigen, dass aus dem verworrenen Strudel von »Meinung« und »Interpretation« tatsächlich ein nachprüfbarer Sachverhalt zu den Ereignissen von 1915 gewonnen werden kann. *** Wir sind einer Person, dem armenisch-katholischen Priester Krikor Guerguerian, zu großem Dank verpflichtet; er hat es uns ermöglicht, die oben beschriebene Herausforderung zu meistern. Der Großteil der Materialien, die das Fundament dieser Arbeit bilden, wurde in seinem privaten Archiv gefunden. Dieses Privatarchiv bewahrt jetzt der Neffe des Priesters, Edmund Guerguerian, auf, der uns im Jahr 2015 die Erlaubnis gab, das Archiv zu sichten und seinen Inhalt zu nutzen. Bevor wir etwas aus diesem Archiv präsentieren, ist es uns wichtig, die grundlegenden Informationen über Pater Krikor Guerguerian und die Entstehung seines Archivs zu erläutern.

Krikor Guerguerian und sein Archiv Krikor Guerguerian (12. Mai 1911 bis 7. Mai 1988) wurde im Bezirk Gürün in der Provinz Sivas geboren. Er war das jüngste von 16 Geschwistern, acht Jungen und acht Mädchen,45 von denen lediglich sechs die Deportationen überlebten. Die anderen zehn Geschwister wurden zusammen mit ihren Eltern getötet. Krikor war Augenzeuge der Ermordung seiner Eltern. Zusammen mit einem seiner älteren Brüder gelang es ihm 1916, Beirut zu erreichen, wo er in ein Waisenhaus kam und dort seine Kindheit verbrachte. Im Jahre 1925 schrieb er sich in die katholische Klosterschule Zımmar (Bzemmar) ein und ging, nach seinem Abschluss an der St. Joseph Universität in Beirut Anfang der 30er-Jahre, nach Rom an die Levonische Akademie, mit der Absicht, seine theologische Ausbildung fortzusetzen, um Mönch zu werden. Dieses Ziel erfüllte sich 1937, als er die Weihe erhielt und katholischer Priester wurde. Im selben Jahr beschloss Pater Krikor, über den Völkermord an den Armeniern zu promovieren. Er konnte seine Promotion nie abschließen, obwohl Krikor Guerguerian für den Rest seines Lebens daran arbeitete. Das Archiv ist de facto das Ergebnis seines Lebenswerkes. 45 Alle Informationen über Pater Krikor Guerguerians Leben stammen von Dr. Edmund Guerguerian.

32 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KRIKOR GUERGUERIAN UND SEIN ARCHIV

Vor dem Völkermord war Krikors ältester Bruder Bedros nach Kairo gegangen und hatte sich dort niedergelassen. Krikor ließ sich als Priester auch in der ägyptischen Stadt nieder. Während er dort seine Forschungen fortsetzte, traf er vermutlich im Jahr 1952 auf Kürt [»Kurdisch«] Mustafa Pascha, der auch als Nemrut Mustafa Pascha bekannt ist. Mustafa Pascha war einer der Vorsitzenden Richter des Ersten Militärgerichtshofs in Istanbul (Divan-i Harb-i Örfi), der zwischen 1919 und 1921 die Verfahren gegen die Funktionäre der Einheits- und Fortschrittspartei (KEF) führte. Während er diese Funktion innehatte, wurde Mustafa Pascha im Oktober 1920 unter dem Vorwurf verhaftet, vorsätzlich Dokumente manipuliert zu haben, die sich in den Akten des Gerichtsverfahrens gegen den Landrat (kaymakam) von Bayburt, Nusret, befanden. Der Richter Mustafa Pascha hatte vor, den Landrat Nusret zum Tode zu verurteilen. Mustafa Pascha wurde zwar angeklagt, saß in Haft, wurde aber später vom Sultan begnadigt. Aus Angst, dass er bei der Befreiung Istanbuls durch die türkischen Nationalstreitkräfte 1922 wieder verhaftet werden könnte, floh er nach Kairo.46 Pater Krikors Treffen mit dem ehemaligen osmanischen Richter stellt einen Wendepunkt in seinem Leben dar. In einer kurzen Notiz hält er fest, dass er und Mustafa sich häufig trafen und lange Diskussionen miteinander führten. Mustafa seinerseits gab dabei dem jungen Guerguerian wichtige Informationen. Laut Mustafa war das armenische Patriarchat von Istanbul quasi Nebenkläger in den Prozessen gegen die ehemaligen Beamten der Einheits- und Fortschrittspartei (KEF) gewesen und hatte in dieser Eigenschaft das Recht eingeräumt bekommen, jeweils eine Kopie der in den verschiedenen Dossiers des Gerichtes enthaltenen Dokumente anfertigen zu lassen. Als die türkischen Nationalisten 1922 die Kontrolle über Istanbul übernahmen, beschloss das Patriarchat, alle in seinem Besitz befindlichen Dokumente zur Aufbewahrung nach M ­ arseille, Frankreich, zu transportieren. Ein Grund für diese Entscheidung war die Anwesenheit von Pater Grigoris Balakian dort. Später wurden diese Dokumente nach Manchester geschickt, von wo sie dann schließlich zu ihrem endgültigen Ziel, dem armenischen Patriarchat von Jerusalem, gelangen sollten.47 Krikor Guerguerian begab sich deswegen in das armenische Patriarchat von Jerusalem. Jahre später erzählte er seinem Neffen, Dr. Edmund Guerguerian, dass »er alles fotografierte, was er dort sah«. Einen nicht unerheblichen Teil der Dokumente, die Pater Guerguerian in Jerusalem vorfand, bilden die Dokumente aus den Gerichtsakten der 46 Nusret wurde zum Tode verurteilt und im August 1920 hingerichtet. Ausführlicher zum Kürt-Mustafa-Pascha-Prozess siehe Dadrian / Akçam: Judge­ ment in Istanbul, a.a.O., S. 305f. 47 Für eine kurze Notiz von Krikor Guerguerian über die Übertragung seiner Dokumente siehe Krikor Guerguerian Archive, 03, »19 - Zaven Yeghiayan«.

33 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

Verfahren gegen die Verantwortlichen der Einheits- und Fortschrittspartei in Istanbul, welche die türkische Regierung immer noch unter Verschluss hält. Darunter sind die Telegramme mit Vernichtungsbefehlen, die während der Ermittlungen beschlagnahmt wurden; die Aussagen der Militär- und Zivilbeamten, Niederschriften der Aussagen von Verdächtigen und Augenzeugen, die sowohl während der Prozesse als auch während der Ermittlungen festgehalten wurden. Wir werden lediglich zwei dieser Dokumente in unserer Einführung auswerten, um den unschätzbaren Wert dieser Materialien zu verdeutlichen. Guerguerian sammelte nicht nur Dokumente aus dem Archiv des Jerusalemer Patriarchats. Er reiste auch 1950 in die Boghos-Nubar-Bibliothek nach Paris, als Aram Andonian dort als Direktor tätig war. Während seines Aufenthaltes entdeckte und fotografierte Guerguerian sowohl die Naim-Efendi-Memoiren als auch die zugehörigen Talat-Pascha-Telegramme, die das zentrale Thema dieser Arbeit sind. Wenn wir bedenken, dass die Archive des armenischen Patriarchats in Jerusalem bis zur Drucklegung dieses Buches für Wissenschaftler geschlossen waren48 und dass wichtige Dokumente in der Boghos-Nubar-Pascha-Bibliothek verschwunden sind, wird der Wert des Guerguerian’schen Archivs für die armenische Genozidforschung deutlich. Daher ist es unabdingbar, dass die in dieser Sammlung gespeicherten Dokumente nicht nur einer begrenzten Anzahl von Experten, sondern jedem zugänglich gemacht werden. Aus diesem Grund haben wir an der Clark University das »Krikor Guerguerian Archival Project« ins Leben gerufen. Bis Ende 2017 haben wir die gesamte Archivsammlung auf die Website der Universität gestellt. Durch einen detaillierten Index hat der Online-Leser die Möglichkeit, einfach auf das gesamte Archiv zuzugreifen. *** Die Verleugnungshaltung aller türkischen Regierungen folgt zwei Argumentationssträngen, ruht sozusagen auf zwei Säulen: Die erste Säule kann als »die Produktion von Originalen« bezeichnet werden; die zweite ist die Zurückweisung von Naims Memoiren und der Telegramme Talat Paschas, die auf den armenischen Völkermord hinweisen, als Fälschungen. 48 Der Autor dieser Zeilen hat im Laufe der vergangenen Jahre zahlreiche Anstrengungen unternommen, um in diesen Archiven recherchieren zu dürfen, die alle erfolglos blieben. Unser Wunsch, die Originalmaterialien aus dem Guerguerianschen Archiv mit denen aus dem Patriarchat in Jerusalem zu vergleichen, wurde erst im Juni 2018 ermöglicht. Im Vergleich der Dokumente konnte schließlich bestätigt werden, dass sich die Originale des Guerguerianschen Materials im Archiv des Patriarchats von Jerusalem befinden; das Patriarchat plant, diese Dokumente demnächst der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

34 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KRIKOR GUERGUERIAN UND SEIN ARCHIV

Abb. 01: Seiten von 1919-1921 Military Tribunal Anklageschrift Veröffentlicht in Takvim-i Vekayi 3540 – Zitate in rot unterstrichen

Letzterer Argumentationsstrang ist Thema dieses Buches. Den ersten Argumentationsstrang werden wir dennoch durch zwei Beispiele, zwei Telegramme aus dem Guerguerian’schen Archiv, etwas verdeutlichen. Beide Telegramme wurden in der Anklageschrift des am 28. April 1919 in Istanbul begonnenen Gerichtsverfahrens gegen die Führungselite der Einheits- und Fortschrittspartei erwähnt und in der osmanischen Zeitung Takvim-i Vekayi veröffentlicht.49 (siehe Abb. 01) Beide Telegramme gehören zu den Materialien, die die völkermörderische Absicht der osmanischen Regierung dokumentieren. Da die Originale jedoch von den türkischen Behörden versteckt oder zerstört wurden, halten Denialisten wie Lewy sie für unzuverlässig und somit unglaubwürdig. Das erste Telegramm ist ein Befehl des Dritten-Armee-Kommandanten Mahmut Kamil Pascha vom 24. Juli 1915. (siehe Abb. 02) Die Dritte Armee war sowohl politisch als auch militärisch verantwortlich für die Kontrolle des als das historische Armenien bekannten Gebietes, in dem die Mehrheit der armenischen Bevölkerung lebte und von dem aus sie deportiert wurde. Das zweite Telegramm vom 4. Juli 1915 stammt vom Mitglied des Zentralkomitees der Unionisten (KEF) und Leiter der Spezialorganisation, Bahaettin Şakir, und betrifft die Koordinierungsbemühungen um die Vernichtung der Armenier. 49 Takvim-i Vekayi 3540 vom 05.05.1919. Für den vollständigen Text der Anklage siehe Dadrian / Akçam: Judgement in Istanbul, a.a.O., S.179–190.

35 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

Abb. 02: Dritter Armeekommandant Mahmut Kamil Paschas Orden, 24. Juli 1915

Das erste Telegramm lautet wie folgt: »Es wurde festgestellt, dass Muslime in einigen Städten und Dörfern, aus denen die armenische Bevölkerung deportiert wurde, Armenier bei sich aufgenommen und versteckt haben. Es ist dringend erforderlich, dass jene muslimischen Hausbesitzer, die Armenier unter Missachtung von Regierungsverordnungen verstecken und ihnen Unterschlupf anbieten, vor ihren Häusern erhängt und ihre Häuser niedergebrannt werden. 36 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KRIKOR GUERGUERIAN UND SEIN ARCHIV

Bitte informieren Sie alle zuständigen Personen in angemessener Weise und achten Sie besonders darauf, dass kein einziger Armenier, der noch nicht deportiert wurde, zurückgelassen wird. Auch Armenier, die zum Islam konvertiert sind, werden deportiert. Wenn diejenigen, die [die Armenier] beschützen, Angehörige der Streitkräfte sein sollten, müssen sie sofort bei den zuständigen Ministerien wegen ihres Handelns angezeigt werden und sie sind sofort für ein Gerichtsverfahren aus dem Militärdienst zu entlassen. Zivile Verwaltungsbeamte sind sofort fristlos zu entlassen und müssen den Kriegsgerichten des Ausnahmezustands überstellt werden«.

Die in der Anklageschrift angegebene Klassifizierungsreferenz für dieses Dokument lautet »Dossier 13; Dokument 1« (tertîb 13 vesîka 1). Das Dokument selbst hat den Briefkopf der Direktion für öffentliche Sicherheit des Innenministeriums, und unterhalb des Dokumentes befindet sich das Siegel des Innenministeriums vom 23. Februar 1919 mit der amtlichen Bestätigung: »Entspricht dem Original«. Es bestehen also keine Zweifel an der Echtheit dieses Dokumentes. Im Guerguerian’schen Archiv liegt ein weiteres Telegramm von Mahmut Kamil Pascha zum selben Thema vor. Diesem kann entnommen werden, dass die Befehle im Telegramm vom 24. Juli bei seinen Untergebenen einige Verwirrungen hervorgerufen haben. Der Zweck dieses Telegramms vom 1. August 1915 besteht darin, eine Klarstellung von Anordnungen zu befehlen, um jene Verwirrung, die durch das vorangegangene Telegramm ausgelöst wurde, auszuräumen. Darin erklärt Kamil Pascha, dass ihm »von Muslimen, die Armenier verstecken, die ins Landesinnere deportiert werden sollten«, berichtet wurde, und stellt klar, dass die in seinem ersten Telegramm angeordnete Strafen nicht für »diejenigen gelten, die nur solche Frauen und Kinder bei sich beherbergen oder schützen […], die von der Regierung offiziell an muslimische Haushalte verteilt wurden«. Vielmehr sei eine Todesstrafe »jenen vorbehalten, die, unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer Religion, Armenier ohne Wissen der Regierung in ihren Häusern aufnehmen und verstecken«. Solche Personen »werden wie befohlen bestraft«. Dieses Telegramm scheint zu dokumentieren, dass sehr viele Muslime in den verschiedenen Dörfern und Städten Armenier versteckt hatten und die Regierung entschlossen war, dies zu verhindern – selbst wenn es bedeutete, solch drakonische Strafmaßnahmen wie sofortige Exekutionen und das Niederbrennen von Häusern anzuwenden. Das andere Telegramm wurde vom Mitglied des Zentralkomitees der Partei für Einheit und Fortschritt und Leiter der Spezialorganisation Bahaettin Şakir verfasst und aus der Stadt Erzurum an Sabit Bey, dem Gouverneur der Provinz Mamuretülaziz (Elazığ-Harput), geschickt, mit der Anweisung, dieses an den Sekretär des örtlichen Komitees für Einheit und Fortschritt, Nazım, weiterzuleiten. Darin fragt Bahaettin Şakir: »Sind die von dort deportierten Armenier eliminiert worden? Werden 37 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

Abb. 03: Bahaettin Şakirs Telegramm vom 4. Juli 1915 verschlüsselt mit Zifferncode

diese schädlichen Elemente, die durch Deportationen von dort entfernt werden, liquidiert oder lediglich abgeschoben? Bitte sei offen und ehrlich in deinem Bericht, mein Bruder«. (siehe Abb. 03) Das Logo des offiziellen Briefkopfes der Zivilverwaltungsinspektion des Innenministeriums befindet sich oben rechts im Telegramm und lässt keinen Zweifel an der Echtheit dieses Dokumentes aufkommen. Wie aus dem Bild ersichtlich, enthält der untere Teil des Dokumentes eine Reihe von arabischen Zahlen in Form von vierstelligen Zifferngruppen. Diese 38 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KRIKOR GUERGUERIAN UND SEIN ARCHIV

Zifferngruppen bilden die verschlüsselte Form des Originaltextes. Das Wort- oder Suffixäquivalent jeder dieser vierstelligen Ziffern befindet sich über jeder Zifferngruppe. Um die Bedeutung dieses Telegramms vollends erfassen zu können, ist zunächst ein bestimmtes Hintergrundwissen hilfreich. Noch bevor das Osmanische Reich im Oktober 1914 offiziell in den Ersten Weltkrieg eintrat, war Bahaettin Şakir im August nach Erzurum geschickt worden, um die Aktivitäten der als Sonderorganisation bekannten unionistischen paramilitärischen Spezialeinheiten zu leiten (Teşkilat-ı Mahsusa). Er hatte den Auftrag, einen Aufstand unter der muslimischen Bevölkerung des Kaukasus zu organisieren. Es gibt eine große Anzahl von leicht zugänglichen osmanischen Archivdokumenten, die Şakir als Verantwortlichen für die Koordination der Aktionen der Sonderorganisation in der Region aufzeigen, von denen einige sogar seine Unterschrift als »Bahaettin Şakir, Leiter der Spezialeinheiten in Erzurum« tragen.50 Laut der Anklage im Hauptverfahren gegen die unionistischen Führer, die in der Ausgabe Nummer 3540 der osmanischen Zeitung Takvim-i Vekayi veröffentlicht wurde, hatte die Führung der Spezialorganisation in Istanbul Şakir vor seiner Reise nach Erzurum eine große Summe Bargeld, Sprengstoff und ein Automobil zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus war Şakir im Besitz eines speziellen Geheimcodes, der sowohl für die Kommunikation mit Istanbul als auch mit anderen Provinzen verwendet werden sollte.51 Bahaettin Şakir war Angeklagter in zwei Nachkriegsprozessen in Istanbul: Im Hauptverfahren gegen die unionistische Führung und im Mamuretülaziz-Verfahren (Elazığ-Harput), wo er in Abwesenheit verurteilt wurde. Sowohl seine Tätigkeit als auch seine Charakterzüge werden in beiden Anklagen häufig erwähnt. Das wichtigste Beweismittel der Ankläger in beiden Verfahren ist das Telegramm von Bahaettin vom 4. Juli 1915. Im Mamuretülaziz-Prozess wird sowohl in der Anklage als auch in der Begründung des Gerichtsurteils auf sein Telegramm hingewiesen. In der Anklageschrift des Hauptverfahrens wird dieses Telegramm vollständig wiedergegeben und als »Chiffriertes Telegramm« bezeichnet. Es wird erwähnt, dass eine »Fotografie« des Dokumentes in den Gerichtsakten im »Dossier 9« abgelegt ist.52 Der Gouverneur von Erzurum, Tahsin Bey, berichtete später, dass einer der an Bahaettin Şakir übergebenen Code-Schlüssel vom 50 Nähere Informationen über die Aktivitäten von Bahaettin Şakir und der Sonderorganisation finden sich in Akçam, Taner: A Shameful Act: The Armenian Genocide and the question of turkish responsibility, New York NY 2006, S. 149–205. Einige der fraglichen Telegramme sind in BOA.DH.ŞFR., 441/80; 442/31 sowie 498/67 zu finden. 51 Dadrian / Akçam: Judgement in Istanbul, a.a.O., S. 180f. 52 Zur Aussage im Hauptverfahren der Unionisten siehe ebd., S. 184; zur Entscheidung der Richter im Fall Mamuretülaziz siehe ebd., S. 207–212.

39 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

Innenministerium stamme und dass er (Şakir) hier und da Telegramme schicken und sie mit »Leiter der Spezialeinheit« unterzeichnen würde. Tahsin, der im Mamuretülaziz-Prozess aussagte, behauptete in der Sitzung vom 2. August 1919, dass »Bahaettin Şakir Bey einen Verschlüsselungscode hatte. Er korrespondierte mit der Hohen Pforte sowie auch mit dem Kriegsministerium. Während der Deportationen stand er auch in Verbindung mit der Armee«.53 Auch während dieses Prozesses (10. Januar 1920) wurde das eben genannte Telegramm vom 4. Juli 1915 als Beweisstück verlesen.54 Lassen Sie uns an dieser Stelle kurz zusammenfassen: Die Existenz und der Inhalt dieses Dokumentes, dieses Telegramms, waren nicht unbekannt, aber Wissenschaftler wie Lewy behaupten, das Zitat könne in der Anklageschrift allein nicht als vertrauenswürdige Quelle akzeptiert werden, da das Original fehle. Unnötig hinzuzufügen, dass schon allein der Briefkopf auf dem Dokument keinen Zweifel an der Echtheit zulässt; aber wir haben auch andere, sehr wichtige Informationen, die bezeugen, dass es ein Original ist.

Die Verschlüsselungsmethode im Dokument stimmt mit anderen Dokumenten in Archiven überein Wie wir auf der Fotografie des Telegramms von Bahaettin Şakir sehen können, enthält es eine Reihe von arabischen Zahlen in Form von Vier-Ziffern-Abfolgen. Das Wort- oder Suffixäquivalent jeder dieser vierstelligen Ziffernfolge ist oberhalb jeder Zifferngruppe festgehalten. Hier können einige der Wörter oder Suffixe sehr einfach identifiziert werden: Ermeni (Armenier) [8519]; Sevk (Deportation) [4889]; yalnız (nur) [4632]; Bey (Herr) [2469]; -leri (Pluralsuffix) [9338]; -im/-ım (Erste Person Singular Possessivsuffix) [7749]. Im Osmanischen Archiv stehen den Wissenschaftlern zahlreiche verschlüsselte Dokumente aus dem Innenministerium zur Verfügung. Dabei handelt es sich in erster Linie um Telegramme, die aus den Provinzen nach Istanbul geschickt wurden. Die meisten Telegramme stammen aus den Kriegsjahren und enthalten auch die vierstelligen Ziffernfolgen wie im Telegramm von Şakir. Wir verglichen die vierstelligen Ziffernfolgen aus Şakirs Dokumenten mit jenen aus den gleichen Monaten (Juni bis Juli 1915) im Osmanischen Archiv. Dies war in der Tat eine einfache Aufgabe, da die Archivdokumente selbst bereits entschlüsselt sind und die äquivalenten Wörter und Suffixe bereits über die Zahlencodes notiert wurden. Das Ergebnis war, dass Bahaettin Şakir tatsächlich die 53 Yeni Gazete vom 03.08.1919. 54 Alemdar vom 11.01.1920.

40 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Abb. 04: DHŞFR., 531/46-1Verschlüsseltes Telegramm aus Elazığ 7. September 1916

DIE VERSCHLÜSSELUNGSMETHODE IM DOKUMENT

41 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

vom osmanischen Innenministerium verwendete Verschlüsselungsmethode benutzte. In den 25 verschiedenen Telegrammen, die wir überprüft haben, haben wir 34 Mal festgestellt, dass die verwendeten Wörter und Suffixe mit denen des Telegramms Şakirs identisch sind. (siehe Abb. 04) Es ist wichtig, hinzuzufügen, dass diese Dokumente, die wir im Osmanischen Archiv entdeckt haben, den Forschern erst in diesem Jahrzehnt (2010er-Jahre) zur Verfügung gestellt wurden. Mit anderen Worten, die Existenz dieser Chiffren war bis dahin einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt, sodass es auch keine Möglichkeit gab, sie tatsächlich miteinander zu vergleichen. Doch nun bringen uns Existenz und bestätigte Authentizität dieser Telegramme von Mahmut Kamil Pascha und Bahaettin Şakir zurück zu unserem Thema der Beziehung zwischen Fakten und Wahrheit. Wie wir zuvor dargestellt haben, basierte eine der Strategien der Leugnungspolitik aller türkischen Regierungen auf der Verheimlichung oder Zerstörung historischer Originaldokumente. Die Entdeckung dieser Dokumente ist ein schwerer Schlag gegen diese Strategie, was uns zum Thema dieses Buches führt: die Frage nach der Authentizität der Talat-Pascha-Telegramme. *** Das Buch, das Sie jetzt in der Hand halten, enthält neben einigen miteinander in Beziehung stehenden Dokumenten auch die Erinnerungen eines osmanischen Bürokraten namens Naim Efendi, der in den Jahren 1915–16 im Regionalbüro des Deportationsamts in Aleppo (Halep Sevkiyat Müdürlüğü) arbeitete. Diese Memoiren Naim Efendis, die wir im Privatarchiv des katholischen Priesters Krikor Guerguerian entdeckten, 55 enthalten die vom osmanischen Innenminister Talat Pascha gesendeten Telegramme, welche die Vernichtung der Armenier anweisen, sowie die bereits erwähnten persönlichen Beobachtungen von Naim Efendi aus dieser Zeit. Wie zuvor erwähnt, verkaufte Naim 1918 sowohl seine Memoiren als auch die Telegramme an einen armenischen Intellektuellen namens Aram Andonian, der dann seinerseits die Dokumente und einen Teil der Memoiren in den Jahren 1920 und 1921 in armenischer, englischer und französischer Übersetzung veröffentlichte. Die in diesem Buch als Anhang veröffentlichten Dokumente werden dem deutschen Leser erstmals übersetzt vorgestellt. Wir präsentieren die ursprünglichen, unveröffentlichten Abschnitte von Naim Efendis Memoiren zusammen mit den Abschnitten, die ursprünglich in Andonians Übersetzung erschienen sind, und geben dem Leser so Zugang zu der 55 Wir nennen den Text, den wir im Archiv gefunden haben, gemäß der Definition von Aram Andonian Hatırat (Memoiren), alle Hinweise aus diesem türkischen Text sind fortan als Hatırat angegeben.

42 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE VERSCHLÜSSELUNGSMETHODE IM DOKUMENT

Gesamtheit dieser Memoiren. Weitere Dokumente in den Anhängen sind Originalbriefe von Andonian, in denen er weitere Informationen über Naim erwähnt, sowie ein Brief eines Arztes namens Avedis Nakkaschian an Andonian. Diese Briefe bieten dem Leser detaillierte Informationen über Naim Efendi. Schließlich wird hier ein Bericht über Andonians Buch wiedergegeben, der von Walter Rössler, dem deutschen Konsul in Aleppo während der Kriegsjahre, verfasst wurde. *** Jedes Buch hat eine Seite oder Seiten für Danksagungen. In dem Bewusstsein, dass es einer längeren Liste von Personen und Institutionen bedarf, werde ich die Danksagungen nicht nur auf diejenigen beschränken, die an dem Buch selbst mitgewirkt haben, sondern möchte auch all jene anerkennen und ihnen danken, die mir geholfen haben, das Krikor-Guerguerian-Archiv elektronisch verfügbar zu machen. In erster Linie möchte ich Krikor Guerguerians Neffen, Dr. Edmund Guerguerian, meinen Dank aussprechen, sowohl für die sorgfältige Aufbewahrung des Archivs seines Onkels nach dessen Tod im Jahr 1988 als auch für seine große Flexibilität und Nachsicht bei der Übertragung des Archivs auf das digitale Medium. Ein besonderer Dank geht auch an Berc Panossian, der das gesamte Archiv gescannt und digitalisiert hat. Berc ging dieses Projekt nicht nur als Profi und Geschäftsmann an, sondern auch mit der emotionalen Anteilnahme eines Menschen, der sein ganzes Herz in diese Arbeit steckt. Tatsächlich sind einige der zerbrechlichen oder unlesbaren Dokumente in digitaler Form zugänglicher und lesbarer als ihre Originale. Abgesehen von der Notwendigkeit, das Archiv, das sich derzeit in einem eher unübersichtlichen Zustand befindet, gründlich zu durchsuchen, mussten die Guerguerianschen Bestände einer detaillierten Indexierung unterzogen werden, um zukünftige Forscher zu unterstützen. Die Materialien im Archiv sind in verschiedenen Sprachen verfügbar, darunter Englisch, Französisch, Italienisch, Armenisch, Türkisch, Osmanisch und Türkisch in armenischer Schrift. Daher war es notwendig, eine Reihe von Personen mit breiten Sprachkenntnissen zu beschäftigen, um diese über 100.000 Seiten umfassende Sammlung von Dokumenten zu übersetzen und zu indexieren. Ein solches Unterfangen wäre ohne die Unterstützung einer zuverlässigen Gruppe von Einzelpersonen und Institutionen zum Scheitern verurteilt gewesen. Unter denjenigen, deren unermüdliche Unterstützung für den Erfolg entscheidend war, waren Herr und Frau Nazar sowie Artemis Nazarian, Herr und Frau Harry und Suzanne Toufayan, Herr und Frau Sarkis sowie Ruth Bedevian, Herr und Frau Hagop und Silva Baghdadlian, Herr und Frau Saro sowie Hilda Hartounian, Hratch Kaprielan, Antranik Baghdassarian, Anoush Movsesian und ein gewisser Freund in New York, der anonym bleiben möchte. 43 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 1: VORWORT

Weitere Personen und Organisationen, die das Projekt bis zur Fertigstellung begleitet haben, waren die Caloust Gulbenkian Foundation, insbesondere Dr. Razmik Panossian, der der armenischen Gemeindeabteilung der Stiftung ein ganz neues Gesicht gegeben hat, die Dadourian Foundation, die Jirair Nishanian Foundation, die Armenian General Benevolent Union (AGBU), Knights & Daughters of Vartan und die National Association for Armenian Studies and Research (NAASR). Ich möchte denjenigen, die bei der Vorbereitung dieses Buches geholfen haben, einen persönlichen Dank aussprechen; ich habe große Hilfe von vielen Personen erhalten. Hauptsächlich ist dies Ömer Türkoğlu. Ömer hat nicht nur die osmanischen Dokumente in diesem Buch – einschließlich der Memoiren von Naim Efendi – mit größter Sorgfalt transliteriert, er hat sich auch verpflichtet, Dinge, die er nicht übersetzt hat, sorgfältig zu bearbeiten – so hat er eine Reihe von konstruktiven Vorschlägen zum Inhalt des Buches gemacht. Ohne seinen Beitrag würde dieses Buch in seiner heutigen Form nicht vorliegen. Ani Değirmencioğlu, Sevan Deirmendjian, Nazlı Temir Beylerian und Tabita Toparlak haben die Dokumente in armenischer Sprache ins Türkische übersetzt, damit ich den Inhalt dieser Materialien verstehen konnte. Die Übersetzung dieser armenischen Materialien ins Englische erfolgte durch Aram Arkun. Meine Doktoranden Anna Aleksanyan, Emre Can Dağlıoğlu, Burçin Gerçek und Ümit Kurt (jetzt Dr. Kurt) haben nicht nur an der Erschließung des Archivs gearbeitet, sondern auch das gesamte Werk auf Fehler aufmerksam gelesen und einige konstruktive Vorschläge gemacht. Zu dieser Liste möchte ich noch Rober Koptaş hinzufügen, der den Text dieser Arbeit aufmerksam gelesen und dabei konstruktive Vorschläge gemacht hat, und Marc Mamigonian, den Direktor für Akademische Angelegenheiten bei NAASR, mit dem ich eine ständige Diskussion über Probleme und Fragen im Zusammenhang mit dieser Arbeit geführt habe. Dank schulde ich auch meinem langjährigen Freund und Mitarbeiter Paul Bessemer, der alle meine Bücher und viele meiner Artikel übersetzt hat. Die Übersetzung ins Englische ist seine meisterhafte Leistung. Belinda Cooper und Jennifer Manoukian sind zwei weitere Übersetzerinnen, die mir geholfen haben, die Originaltexte im Anhang ins Englische zu übersetzen. Jeder dieser Personen bin ich besonders dankbar. George Shrinian übernahm die mühsame Aufgabe, den gesamten Text zu bearbeiten und für die Veröffentlichung vorzubereiten. Zum Schluss möchte ich denjenigen danken, die im Türkisch-Republikanischen Archiv in Ankara arbeiten. Mittels moderner Technik ist die Sammlung dort elektronisch mit dem Osmanischen Archiv in Istanbul verbunden. Aus diesem Grund konnte ich auf das Osmanische Archiv von Istanbul aus Ankara zugreifen und es nutzen. Die Archivmitarbeiter in Ankara waren in allen Belangen sehr hilfsbereit; sie sorgten nicht nur für ein angenehmes und förderliches Arbeitsumfeld, sondern 44 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE VERSCHLÜSSELUNGSMETHODE IM DOKUMENT

erleichterten mir auch den Zugang zu den von mir gesuchten Dokumenten. Als ich sie nach ihren Namen fragte, um sie in meiner Arbeit zu erwähnen, antworteten sie: »Die Namen kommen und gehen, Herr Professor, danken Sie der Institution«, ein Symbol und bleibende Erinnerung für mich an die Güte, mit der sie ihre Arbeit verrichten. Es versteht sich von selbst, dass die Verantwortung für die in dieser Arbeit enthaltenen Versäumnisse und Fehler allein bei mir liegt.

45 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Kapitel 2: Einführung Dickran H. Boyajian veröffentlichte eine der ersten Studien zum Völkermord an den Armeniern. Dieses Buch trug die Überschrift: »Justizsache eines vergessenen Genozids«.1 Seitdem sind Jahrzehnte vergangen und Hunderte von Publikationen in verschiedenen Sprachen zu diesem Thema erschienen. Heute kommt dem Völkermord an den Armeniern ein angemessener Stellenwert im Bereich der Genozidstudien zu. Es ist kein »vergessener Völkermord« mehr. Jüngste Veröffentlichungen auf diesem Gebiet haben trotz des widerstandsfähigen Denialismus aller türkischen Regierungen erfolgreich nachgewiesen, dass die Armenier in ihrer historischen Heimat einer systematischen Vernichtung durch osmanisch-türkische Regierungen ausgesetzt waren. Als eines der ältesten christlichen Völker der Region lebten die Armenier fast zwei Jahrtausende lang als christliche Minderheit in einem muslimischen Umfeld und wurden in einem nach islamischen Recht, der Scharia, regierten Reich ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Grundrechte weitgehend beraubt. Das armenische Streben nach mehr sozialer Gerechtigkeit und politischer Gleichberechtigung begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurde aber von den osmanischen Regierungen zunehmend mit Gewalt unterdrückt. Symbolisch wird der Berliner Kongress von 1878 als Beginn eines langen Prozesses der Vernichtung angenommen, der mit dem Entstehen des sowjetischen Armeniens 1921 und der Republik Türkei 1923 – wiederum symbolisch – seinen Abschluss fand. Der Zeitraum von 1878 bis 1923 wird als Zeitspanne der fortwährenden völkermörderischen Ereignisse bezeichnet und ist durch drei große Massengräuel an der armenischen Bevölkerung gekennzeichnet. Die groß angelegten Massaker, die besonders in den Jahren 1894 bis 1896 unter Sultan Abdülhamid II. (bekannt als die »Hamidianischen Massaker«) begangen wurden, kosteten nach konservativen Schätzungen rund 100.000 Menschenleben.2 Die Adana-Massaker von 1909 endeten mit der Zerstörung einer Stadt und dem Tod von circa 20.000 Armeniern. Dann kam der Völkermord von 1915 bis 1918, der die gesamte armenische Bevölkerung aus ihrer historischen Heimat entwurzelt hat. Von den circa zwei Millionen Armeniern in Anatolien im Jahr 1914 gibt es heute nur noch eine sehr kleine Minderheit (40 bis 60 Tausend) in Istanbul. 1 Boyajian, Dickran H.: Armenia: The case for a forgotten genocide, Westwood NJ 1972. 2 Während der Herrschaft von Abdülhamid gab es immer wieder Massaker. Für eine ausführliche Bibliografie zum Thema siehe Shirinian, George N.: The Armenian Massacres of 1894–1897: A bibliography, in: Armenian Review 47, 1/2, 2001, S. 113–164.

46 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

NAIM EFENDI UND SEINE MEMOIREN

Der Völkermord kostete die Armenier nicht nur ihre Existenz, sondern zwang sie wegen des konsequenten Denialismus aller türkischen Regierungen auch noch dazu, ihre eigene Vernichtung nachzuweisen. Wie wir im Vorwort erklärt haben, spielen die Telegramme von Talat Pascha eine entscheidende Rolle bei der Erbringung dieses »Beweises«. Diese Depeschen, die von Aram Andonian als Teil der Memoiren des osmanischen Bürokraten Naim Efendi veröffentlicht wurden, enthalten die Befehle zur Vernichtung des armenischen Volkes. Die Authentizität dieser Telegramme und Naims Memoiren zu präsentieren, bedeutet nichts anderes, als den letzten Stein der denialistischen Mauer zu entfernen.

Naim Efendi und seine Memoiren Naim arbeitete als Sekretär im Regionalbüro des Deportationsamtes (Sevkiyat Müdürlüğü) für die Region Aleppo, einer Zweigstelle des Amtes für Umsiedlung von ethnischen Gruppen und Einwanderern im Innenministerium (İskan-ı Aşair ve Muhacirîn Müdüriyeti).3 Der Text, der hier als »Memoiren« bezeichnet wird, ist kein Erinnerungsbuch im klassischen Sinne, sondern eine Sammlung handschriftlicher Kopien von etwa 52 osmanischen Dokumenten4 mit ergänzenden Erläuterungen, die 3 Im gesamten Text werden unterschiedliche Begriffe für dasselbe Amt verwendet: »Deportationsbüro«, »Amt für Stammes- und Einwanderungssiedlung«, »Generaldirektion für Immigrationsangelegenheiten«, »Verschickungsamt« und so weiter, da verschiedene Personen das Deportationsamt auf unterschiedliche Weise erwähnen. Der Hauptsitz befand sich in Istanbul, es gab jedoch auch eine Niederlassung in Aleppo. 4 Die Anzahl 52 wurde von Krikor Guerguerian selbst angegeben, der 1965 unter seinem Pseudonoym »Krieger« einen Artikel in armenischer Sprache veröffentlichte: Krieger [d.i. Krikor Guerguerian]: Aram Andoniani Hradaragadz Turk Bashdonagan Vaverakrere [Armenisch. Die Wahrheit über die von Aram Andonian veröffentlichten offiziellen türkischen Dokumente], in: Hushamadyan Medz Yegherni 1915–1965 [Armenisch. Album der großen Katastrophe 1915–1965], hrsg. von Zartonk Gazetesi, Beirut 31987 (zuerst 1965), S. 221–258. Im Jahr 1986 hat Vahakn Dadrian mehrere Fehler in Guerguerians Liste korrigiert und eine neue kommentierte Liste von 52 Dokumenten erstellt. Dadrian, Vahakn N.: The Naim-Andonian Documents on the World War I Destruction of Ottoman Armenians: The anatomy of a genocide, in: International Journal of Middle Eastern Studies 18, 3, 1986, S. 311–360, hier S. 316f. Tatsächlich sollte diskutiert werden, ob bestimmte Zitate von Naim als »Dokumente« gelten können oder nicht. Einige der Beschreibungen, die sowohl Guerguerian als auch Dadrian als »Dokumente« ansehen, bestehen tatsächlich aus Naims Nacherzählungen von Informationen und seinen Erinnerungen an Ereignisse oder aus Kopien von

47 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 2: EINFÜHRUNG

alle von Naim selbst verfasst wurden. Die meisten Dokumente in dieser Sammlung werden Talat Pascha, dem Mitglied des Triumvirats der Unionisten und Innenminister, zugeschrieben, und einige enthalten seine Befehle bezüglich der Liquidation der armenischen Bevölkerung. Außerdem fügte Naim als Notizen hinzu, was er selbst von den in den Telegrammen erwähnten Themen und Ereignissen wusste. Ein wichtiger Teil dieser »Memoiren« ist jedoch nie veröffentlicht worden und erblickt sozusagen erst jetzt das Licht der Welt (siehe Anhang 1-A). Als erster veröffentlichte diese Memoiren der armenische Journalist und Intellektuelle Aram Andonian, der zusammen mit den anderen führenden Mitgliedern der armenischen Gemeinde Istanbuls am 24. April 1915 verhaftet worden war und nur durch Zufall seiner Gefangenschaft (und dem grausamen Schicksal vieler anderer) entkommen konnte.5 Nachdem die Stadt Aleppo im November 1918 an die Engländer fiel, kaufte Andonian, der sich damals dort aufhielt, das Originalwerk von Naim selbst; der hatte die Stadt nicht verlassen, als die Briten sie eingenommen hatten. Aber Andonian kaufte nicht nur die handschriftlichen Kopien der Dokumente (die hier als »Memoiren« bezeichnet werden), sondern auch circa 26 osmanische Originaldokumente.6 Hier ist ein allgemeiner Überblick über diese 26 Originaldokumente. Wir haben 18 handschriftliche Kopien dieser Dokumente in Naims Memoiren. Sechs weitere betreffen den Fall des armenischen Abgeordneten Krikor Zohrab und sind in den Memoiren überhaupt nicht erwähnt. Zwei weitere Dokumente, die ebenfalls nicht in den Memoiren genannt werden, sind Briefe von Bahaettin Şakir, Mitglied des Zentralkomitees der Einheits- und Fortschrittspartei (KEF). Andonian reproduzierte 14 Fotos von den 26 Dokumenten in seinem Buch in armenischer Sprache tatsächlichen Dokumenten. Ohne das Thema hier weiter zu vertiefen, verwenden wir die Zahl 52. 5 Aram Andonian schrieb Erinnerungen zu seiner Verhaftung am 24. April 1915 und seiner anschließenden Odyssee über die Jahre der Deportation und des Krieges. Siehe: Exile, Trauma and Death, a.a.O.. 6 Wir kennen nicht die genaue Anzahl der Dokumente, die Naim an Andonian verkauft hat. Guerguerian behauptete, dass Naim tatsächlich drei separate Telegramme im Original zum Mord an dem armenischen Parlamentsabgeordneten Krikor Zohrab geliefert habe, was dann insgesamt 29 Dokumente bedeuten würde, die Naim an Andonian überreicht hatte. Krieger [d.i. Krikor Guerguerian]: Aram Andoniani Hradaragadz Turk Bashdonagan Vavera­krere, a.a.O., S. 236. Die Anzahl der Dokumente, die im Guerguerianschen Archiv mit dem Fall Zohrab zusammenhängen, ist jedoch insgesamt sechs. Wie viele dieser Dokumente von Naim übergeben wurden oder wie viele über andere Kanäle kamen, wissen wir nicht. Wir verwenden die Zahl 26, weil sie genauer dokumentiert zu sein scheint.

48 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

NAIM EFENDI UND SEINE MEMOIREN

(siehe weiter unten) einschließlich der Briefe von Şakir.7 Sieben von 26 Dokumenten waren verschlüsselte Telegramme mit zwei- oder dreistelligen Zifferncodes. In seinem Buch lieferte Andonian fünf Bilder dieser sieben verschlüsselten Depeschen. Zwölf der insgesamt 26 Depeschen tragen die Unterschrift des Gouverneurs von Aleppo, Mustafa Abdülhalik. Andonian hat sieben davon für sein Buch fotografiert. In einer Notiz, die er privat festhielt, beschreibt Andonian die Tage, an denen er sich mit Naim traf und die, an denen er die Dokumente von ihm kaufte. Nach seinen Angaben traf er sich am 6., 10. und 14. November 1918 mit Naim im bekannten Baron-Hotel von Aleppo (im Besitz der Brüder Mazlumyan), wo er die Memoiren und Dokumente in separaten Chargen kaufte und sie auch erhielt. Beim Treffen am 14. November brachte Naim seine Dankbarkeit für Andonians Zahlung zum Ausdruck und teilte ihm mit, dass er ihm noch mehr Kopien von Dokumenten zur Verfügung stellen könne. Andonian lehnte ab und erwiderte dem ehemaligen osmanischen Bürokraten, dass dieser nur dann mehr Geld erhalten könne, wenn er die Originaldokumente mitbringen würde. »Naim kam persönlich ins Hotel, um sich zu bedanken. Er wollte wieder, dass ich [für ihn] B [das heißt Besitzer des Baron Hotels, Onnik Mazlumyan – Anmerkung des Autors] für etwas mehr (Geld) für weitere Dokumente anspreche und ein gutes Wort für ihn (Naim) einlege. Ich sagte ihm, dass ich es nicht mehr tun würde, da es nur noch [handschriftliche] Kopien wären. Wenn er die Originale bringen würde, [wäre das] anders« (siehe Abb. 05) Schließlich brachte Naim tatsächlich noch mehr Originaldokumente mit. Auf Grundlage von Naims Erinnerungen und der Dokumente, die er mitbrachte, schrieb Andonian 1919 ein Buch auf Armenisch, das allerdings erst nach der englischen und französischen Ausgabe 1921 erschien.8 Die größte Bedeutung dieses Werkes liegt in den darin enthaltenen Telegrammen, die angeblich von Talat Pascha geschickt wurden. In diesen Depeschen befiehlt der osmanische Innenminister die Vernichtung der Armenier. Nur einige Beispiele sollen genannt sein. Talat Pascha gibt in einem 7 Die Authentizität der beiden Briefe Şakirs wird in dieser Studie nicht diskutiert, da sie für Naims Memoiren nicht relevant sind. Allerdings ist festzustellen, dass diese Briefe sind jedoch authentisch, nicht nur, weil der Inhalt der Briefe durch andere Informationen bestätigt wird, die durch die Forschung zum Genozid an den Armeniern dokumentiert sind, sondern auch, weil die Unterschriften von Şakir unter den Briefen echt sind. Şakir war auch Kolumnist für Şurayı Ümmet (1902–1910), einer der unionistischen Zeitungen und verwendete seine Unterschrift unter den von ihm verfassten Kolumnen. Wir haben die Unterschrift von Şakir in den Briefen mit der in der Zeitung verglichen. Sie sind identisch und lassen keinen Raum für Zweifel. 8 Vgl. a.a.O.

49 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 2: EINFÜHRUNG

Abb. 05: Andonische‘ handschriftliche Notizen zu seinen Treffen mit Naim Efendi

50 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

NAIM EFENDI UND SEINE MEMOIREN

Telegramm vom 22. September 1915 den Befehl: »Die Armenier haben kein Recht mehr, auf türkischem Boden zu leben und zu arbeiten, diese Rechte sind abgeschafft worden. Die Regierung übernimmt für diese (Situation) die gesamte Verantwortung: Nicht mal ein einziger von ihnen soll übrig bleiben – nicht einmal Kinder in der Wiege«, und er erklärt, dass die »Umsetzung dieser wirkungsvollen Maßnahmen in einigen Provinzen weitgehend mit durchschlagendem Erfolg durchgeführt worden sind«.9 In einem anderen Telegramm, das Talat Pascha am 29. September 1915 an den Provinzgouverneur von Aleppo geschickt hat, heißt es: »Ihnen ist vor einiger Zeit mitgeteilt worden, dass die Regierung auf Befehl des Cemiyet [des Komitees für Einheit und Fortschritt (KEF)] beschlossen hatte, alle in der Türkei lebenden Armenier vollständig zu vernichten […] ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder, [und] Behinderte; so tragisch die Methoden der Vernichtung auch sein mögen, und ohne dabei auf die Stimme des eigenen Gewissens zu hören, muss ihre Existenz (die der Armenier) beendet werden«.10

In einem undatierten Telegramm ist zu lesen: »Obwohl seitens der Regierung schon länger die Absicht bestand, die armenische Existenz zu vernichten, die seit Jahrhunderten versucht, die Fundamente unseres Staates zu zerstören und somit eine große Plage für die Regierung darstellt, waren die (geeigneten) Voraussetzungen dazu noch nicht geschaffen, weswegen diese heilige Absicht bis jetzt nicht verwirklicht werden konnte. Da nun alle Hindernisse [für diese Vorgehensweise] beseitigt sind und die Zeit gekommen ist, die Heimat von diesem gefährlichen Element zu befreien, ist es notwendig, bewusst und mit vollem Einsatz und ohne das Gefühl der Barmherzigkeit und ohne dem eigenen Mitgefühl nachzugeben den Namen »Armenier« in der Türkei auszulöschen, indem man ihrer Existenz ein Ende setzt«.11

In einem weiteren Telegramm Talat Paschas, vom 16. Oktober 1915, steht: »Da die allgemeinen Verbrechen und Missetaten, begangen von der [lokalen] Bevölkerung gegen bestimmte bekannte [deportierte] Personen auf ihrem Weg, auch sicherstellen, dass die von der Regierung verfolgten Ziele erreicht werden,12 ist davon abzusehen, diesbezüglich 9 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], [15]. Die Seitenzahlen befinden sich auf dem Originaldokument und können dem hier veröffentlichten Text entnommen werden. 10 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 208, S. 210. Es gibt eine Fotografie dieses Dokumentes, die zeigt, dass es nur Zahlen enthält (S. 217). Eine entzifferte Version wurde von Andonian in Naims Memoiren veröffentlicht. Leider fehlt in der uns vorliegenden Fassung dieser Teil des Textes. 11 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [20]. 12 Der Begriff eşhası malume wird in offiziellen osmanischen Telegrammen verwendet, um sich auf Armenier zu beziehen.

51 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 2: EINFÜHRUNG

rechtliche Ermittlungen einzuleiten. Die diesbezüglichen Anweisungen wurden den Provinzialbezirken [Deyr-i] Zor und Urfa übermittelt«.13 Eine weitere Depesche vom 14. Dezember 1915 an die Verwaltung in Aleppo empfiehlt: »Die wichtigste Zielgruppe, deren Vernichtung versucht werden sollte, ist der religiöse Klerus. Es wäre ein großer Fehler, ihnen (Angehörigen des Klerus) die Erlaubnis zu erteilen, in gefährliche Gebiete wie Syrien und Jerusalem zu reisen und sich dort niederzulassen. Der beste Ort der Ansiedlung für diese Personen, deren Charakter dazu neigt, sich böswillig gegen die Regierung zu verschwören, ist der Ort, an dem sie ausgerottet werden«.14 Es versteht sich von selbst, dass ein Buch mit diesen und ähnlichen Dokumenten ein ernsthaftes Problem für die offizielle Version der türkischen Geschichte der Republik Türkei darstellt. Dies war der Hauptgrund für die 1983 von Şinasi Orel und Süreyya Yuca verfasste Veröffentlichung im Auftrag der Türkischen Historischen Gesellschaft. Die Autoren stellten die Existenz eines osmanischen Bürokraten namens Naim infrage und behaupteten, dass sowohl seine angeblichen Memoiren als auch die beigefügten Dokumente tatsächlich von Andonian selber erstellt worden seien.15 Die Autoren Orel und Yuca stützten ihre Behauptungen auf drei Hauptargumente: Erstens, es ist unwahrscheinlich, dass es eine Person mit dem Namen Naim Efendi gab; zweitens, eine nicht existierende 13 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [07]. 14 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [14]. 15 Orel / Yuca: Talat Paşa‘ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O. Weder Orel noch Yuca sind Wissenschaftler; sie waren pensionierte Diplomaten. Sie haben keine anderen Werke veröffentlicht. Es ist zweifelhaft, dass ein Werk, das eine Reihe sehr schwieriger technischer Fragen sehr detailliert und professionell untersucht, tatsächlich von zwei Autoren verfasst worden sein könnte, die noch nie zuvor (und auch nicht danach) eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht hatten. Aus diesem Grund hatten wir das Bedürfnis, tiefer zu recherchieren, und wir haben herausgefunden: Wie wir vermuteten, wurde ihr Buch nicht von ihnen geschrieben, sondern von einem Forscherteam unter der Leitung des türkischen Außenministeriums vorbereitet. Der Ministerialbeamte Kamuran Gürün (Autor des weit verbreiteten Werkes The Armenian File: Defending the turkish »official version« of history) spielte bei seiner Veröffentlichung eine entscheidende Rolle. Ursprünglich dachte man, das Werk ohne Autorenschaft als eine Art »White Paper« der Regierung zu veröffentlichen, aber Orel und Yuca, die beide dem genannten Team angehörten, erhielten schließlich die Autorenschaft. Die Arbeit selbst wird von den Beamten des türkischen Außenministeriums als eines der wichtigsten Werke in der armenischen Frage angesehen, und wenn man die jahrzehntelangen Auswirkungen auf den Bereich der armenischen Völkermordstudien betrachtet, kann man diese Einschätzung des Wertes des Buches nicht leugnen.

52 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

NAIM EFENDI UND SEINE MEMOIREN

Person kann keine Memoiren schreiben und solche Memoiren können daher nicht existieren; drittens, die Telegramme, die Talat Pascha zugeschrieben werden, seien Fälschungen. Sie kamen daher zu dem Schluss, dass sowohl die Memoiren als auch die Dokumente Fälschungen seien, die von Armeniern, höchstwahrscheinlich von Andonian selbst, angefertigt wurden. Seit der Veröffentlichung des Buches von Orel und Yuca war es üblich, die Dokumente in diesen Memoiren als »die gefälschten Depeschen, die Talat Pascha zugeschrieben werden« zu bezeichnen. Doch wie wir zeigen werden, liegen Orel und Yuca in all ihren Punkten falsch. Es gab tatsächlich einen osmanischen Bürokraten namens Naim Efendi, und es gibt von Naim selbst geschriebene Original-Memoiren, die wir in unserem Besitz haben. Wir können auch zeigen, dass die Ereignisse, die Naim in seinen Memoiren erzählt, authentisch sind und mit relevanten Dokumenten aus dem Osmanischen Archiv bestätigt werden können. Außerdem können wir zeigen, dass alle Argumente von Orel und Yuca bezüglich der Echtheit von Talat Paschas Depeschen entweder nicht zutreffend oder völlig spekulativ und somit letztlich falsch sind.



53 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Kapitel 3: Die Historie und Authentizität Naim Efendis und seiner Memoiren Wie gelangte der Text zu uns? Bisher ging man davon aus, dass die Naim-Efendi-Memoiren und die dazugehörigen Dokumente vollständig und komplett von Aram Andonian herausgegeben wurden. Aber wie jetzt aus den uns vorliegenden Memoiren hervorgeht, veröffentlichte Andonian Naim Efendis Erinnerungen nicht vollständig, sondern lediglich Passagen aus den Memoiren.1 Die Person, die das Originaldokument – jetzt in unserem Besitz – zuerst fand, war der Priester Krikor Guerguerian, der 1950 bei einem Besuch der Boghos-Nubar-Bibliothek in Paris auf das Original der Memoiren mit den dazugehörigen Dokumenten stieß und es umgehend fotografierte.2 Nach seiner Beschreibung waren die Memoiren in drei separaten Kladden, die aus 16, zwölf beziehungsweise sieben Seiten bestanden und nur durch eine Stecknadel zusammengehalten wurden.3 Guerguerian behauptet, dass neben den Naim-Efendi-Memoiren »drei bisher unveröffentlichte Originalstücke der offiziellen Dokumentation zu dem Tod von Krikor Zohrab auch in der Bibliothek zu finden sind«.4 Bis auf zwei Dokumente, die sich auf Zohrabs Tod beziehen, sind heute 1 Ein Grund dafür, dass sich dieser Glaube verfestigt hatte, ist, dass Krikor Guerguerians besagter Artikel von 1965 auf Armenisch nicht die wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhielt, die er verdient hätte. In diesem Artikel schrieb Guerguerian sehr deutlich, dass »Aram Andonian nicht die gesamten Memoiren von Naim Sefa Efendi in allen von ihm veröffentlichten Ausgaben präsentierte: weder im armenischen Original noch in den französischen oder englischen Übersetzungen. Ein Teil dieser Memoiren wird in drei Notizbüchern in der Boghos-Nubar-Bibliothek aufbewahrt. Es gibt auch einige noch nicht übersetzte und unveröffentlichte Details, die dort zu finden sind«. Guerguerian drückte dann »die Hoffnung aus, dass [diese Abschnitte] veröffentlicht werden«. Krieger [d.i. Krikor Guerguerian]: Aram Andoniani Hradaragadz Turk Bashdonagan Vaverakrere, a.a.O., S. 236. Fünfzig Jahre, nachdem Guerguerian dies geschrieben hatte, wird seine Hoffnung Wirklichkeit. 2 In einer privaten Korrespondenz von Guerguerian an Vahakn Dadrian vom 24. August 1984 finden sich folgende Zeilen: »Spätestens 1950 gab es in der Boghos-Nubar-Bibliothek drei Notizbücher der von Naim [Efendi] kopierten Dokumente. Ich habe sie alle in ihrer ursprünglichen Form fotografiert«. Dieser Brief befindet sich derzeit in meiner Privatsammlung. 3 Krieger [d.i. Krikor Guerguerian]: Aram Andoniani Hradaragadz Turk Bashdonagan Vaverakrere, a.a.O., S. 236. 4 Ebd., S. 236.

54 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

WIE GELANGTE DER TEXT ZU UNS?

weder Naim Efendis Memoiren noch die dazugehörigen Originaltelegramme in der Boghos-Nubar-Bibliothek vorhanden, und ihr aktueller Aufenthaltsort ist unbekannt.5 Bei der Veröffentlichung der Abschnitte aus den Memoiren blieb Aram Andonian der Reihenfolge und der Chronologie des Originals nicht treu. Die für ihn wichtigen Passagen platzierte er im eigenen Text so, wie sie zu seiner Erzählung am besten passten. Anstatt Naims Worte aus dem Original wiederzugeben, zog es Andonian vor, sie zusammenzufassen. In einigen seltenen Fällen werden manche Sätze, die nicht in Naim Efendis Memoiren erscheinen, so zitiert, als wären sie von ihm. Es handelt sich hier aber meist um kleine Einfügungen, die vermutlich zur Verdeutlichung gedacht waren, etwa der Identitäten von Personen, die die Dokumente unterzeichnet hatten. Wir haben festgestellt, dass Andonian in seinem Buch nicht das komplette Original von Naims Erinnerungen veröffentlichte, sondern größere Ausschnitte aus diesen Memoiren, die er für wichtig erachtete. Andonian schreibt zu Beginn seines Buches, dass er erklärende Kommentare und Anmerkungen hinzufügt: »Es ist nicht möglich, Naim Beys Memoiren ohne Erläuterungen zu veröffentlichen. Zu einigen Abschnitten müssen die notwendigen Erklärungen hinzugefügt werden, da die in diesen Abschnitten erwähnten Ereignisse und Personen in Europa kaum bekannt sind«.6 Da die Abschnitte, die Andonian Naims Memoiren entnommen hat, in der armenischen Ausgabe durch ein unterschiedliches Schriftbild zu erkennen sind, ist es problemlos möglich, die von ihm veröffentlichten Abschnitte mit dem in unserem Besitz befindlichen Text zu vergleichen. Bei der Gegenüberstellung dieser beiden Texte fiel uns zunächst nicht auf, dass ein bedeutender Teil der Memoiren Naim Efendis von Andonian nicht veröffentlicht worden war und dass viele Passagen in der Fassung Andonians nicht im Originaltext der Erinnerungen zu finden sind. Wir haben diese Passagen in Anhang 1-A und 1-B gesammelt. Andonians Nachlässigkeit, einen bedeutenden Teil von Naims Memoiren nicht zu veröffentlichen, ist nachvollziehbar. Wir nehmen an, dass er es schlicht nicht für notwendig hielt. Es bleibt die Frage nach dem Schicksal jener Teile der Memoiren, die von Andonian verwendet, aber von Krikor Guerguerian nicht entdeckt, nicht gefunden worden sind. 5 Laut Raymond Kévorkian, der zwischen 1986 und 2013 Direktor der Boghos-Nubar-Bibliothek in Paris war, verschwanden sowohl Naims Erinnerungen als auch einige der Originalbilder der Dokumente in der Zeit zwischen Guerguerians Besuch 1950 und dem Besuch von Yves Ternon 1975. Weder Ternon noch Vahakn Dadrian, der die Bibliothek dann Anfang der 1980er-Jahre besuchte, konnten die Originale dieses Materials sehen. Die Frage nach ihrem Schicksal bleibt für Raymond Kévorkian ein Rätsel. 6 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 15.

55 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

Bevor das Thema im Detail besprochen wird, ist es von Vorteil, eine andere Frage zu diskutieren, die die Memoiren betrifft: Naim Efendi gab Andonian schätzungsweise insgesamt 26 Dokumente. Acht von ihnen waren nicht in den handschriftlichen Memoiren von Naim; zwei von diesen acht Dokumenten wurden jedoch von Andonian in seinem Buch veröffentlicht. Sie betreffen den Direktor der Spezialeinheit (Teşkilat-ı Mahsusa) Bahaettin Şakir. Die restlichen 18 Dokumente wurden in den Memoiren Naims erwähnt und zwölf davon in seinem Buch veröffentlicht. Mit den zwei Dokumenten, die Bahaettin Şakir betreffen, beträgt die Anzahl der veröffentlichten Dokumente in Andonians Buch 14. Sieben von 26 Dokumenten wurden nach zwei- und dreistelligen Zifferngruppentechniken verschlüsselt. In seinem Buch reproduzierte Andonian Fotos von diesen sieben Telegrammen. Es gibt zwölf entzifferte Dokumente mit der Unterschrift des Gouverneurs von Aleppo, Mustafa Abdülhalik. Wenn wir die handschriftlichen Kopien der Dokumente in den Memoiren mit den Originalaufnahmen von Dokumenten vergleichen, wird sofort deutlich, dass sie Wort für Wort identisch sind.7 Dies offenbart uns eine weitere wichtige Wahrheit: Naim hat diese Dokumente nicht nachträglich aus dem Gedächtnis geschrieben, sondern er hat Kopien direkt von den Originalen angefertigt. Wären diese Arbeiten aus seinen Erinnerungen entstanden, würden einige Wörter oder Sätze sicher anders formuliert sein als in den Abbildungen. Mit der Tatsache, dass die Bilder der Dokumente und ihre Abschriften in den veröffentlichten Memoiren identisch sind, wird ein Hauptargument Orels und Yucas, mit dem sie die Echtheit der Dokumente anzweifelten, hinfällig. Sie verglichen die englischen und französischen Übersetzungen der Dokumentenkopien in den Memoiren mit den gedruckten osmanischen Texten und sahen gravierende Unterschiede, sowohl zwischen den englischen und französischen Übersetzungen als auch zwischen den beiden Übersetzungen und den osmanischen Texten. Es waren diese Diskrepanzen, die sie nutzten, um ihr Argument der Nichtauthentizität zu belegen. »Die Dokumentenfälschungen offenbaren eine Reihe von Unterschieden in der französischen und englischen Ausgabe des Andonian-Buches, so sehr, dass es nicht möglich ist, diese Unterschiede als falsche Übersetzungen oder als sachliche Fehler bezeichnen zu können«.8 7 Die Kopien der Dokumente sind nicht absolut fehlerfrei. Zum Beispiel gibt es einen Unterschied zwischen den Datumsangaben des Originaldokumentes (Nummer 803) und der Kopie dieses Dokumentes von Naim. Das Datum auf dem Original ist der 25. Dezember 1915; in den Memoiren wird es aber als 25. Januar 1917 angegeben. 8 Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 130. Im Verlauf ihrer Vergleiche machen die Autoren Bemerkungen wie »Es ist dem türkischen Text ziemlich nahe« (S. 31), »trotz der Nuancen scheinen sie übereinstimmend

56 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

WO BEFINDEN SICH DIE MEMOIREN UND ORIGINALDOKUMENTE JETZT?

Aus den oben genannten Gründen betrachten wir dieses Problem von Orel und Yuca nun als gelöst. Die Texte in den handgeschriebenen Kopien der Memoiren und die auf den Dokumentenbildern sind identisch.

Wo befinden sich die Memoiren und Originaldokumente jetzt? Was geschah mit den von Aram Andonian veröffentlichten Memoiren und Dokumenten, die wir nicht mehr besitzen? Die Antwort auf diese Frage ist zwei verschiedenen Schreiben zu entnehmen, die hier im Anhang dokumentiert sind. Einer der Briefe, vom 6. Oktober 1925, stammt von Dr. Avedis Nakkaschian und ist an Aram Andonian gerichtet (siehe Anhang 2),9 während der andere am 28. Juli 1937 von Andonian an Mary Terzian nach Genf geschickt wurde (siehe Anhang 3). Die wesentlichen Informationen aus diesen beiden Briefen lassen sich so zusammenfassen: Andonian brachte 1920 die Sammlung von Memoiren und Dokumenten nach London, um dort die Vorbereitungen der englischen Ausgabe seines Buches zu unterstützen. Andonian verließ London, bevor die englische Ausgabe erschienen war; »und ich konnte nur jene Originalversionen der Telegramme mitnehmen, die bereits auf Zinkplatten übertragen worden waren. Der Rest blieb in London, um für den Druck vorbereitet zu werden«.10 Im August 1920 bat Dr. Avedis zu sein« (S. 33), »sie scheinen ähnlich zu sein« (S. 51) und »sie sind im Allgemeinen übereinstimmend« (S. 65), »einige der Nuancen und Abweichungen sind auffällig« (S. 42) sowie dass »Zusätze und Ergänzungen« (S. 42) gemacht wurden. Sie äußern damit zunächst ihre Zweifel an den Memoiren und leiten daraus am Ende ab, dass die Unterschiede nicht einfach als »Übersetzungsoder Transkriptionsfehler« bezeichnet werden können (S. 130). 9 Dr. Avedis Nakkaschian (1868(?)–1943) gehörte zu den armenischen Intellektuellen in Istanbul und wurde am 24. April 1915 verhaftet. Er wurde am 23. Juli des gleichen Jahres entlassen und diente für die Dauer des Krieges in der osmanischen Armee im Range eines Hauptmannes. Für seine Tapferkeit erhielt er den höchsten Verdienstorden. Nach dem Waffenstillstand kehrte er nach Istanbul zurück, reiste 1922 zuerst nach Ägypten und schließlich 1924 in die Vereinigten Staaten. Er sammelte und veröffentlichte alle seine Memoiren aus der Zeit, in der er in Ayaş (Ayashi Pande [Armenisch. Das Gefängnis von Ayash], Boston 1925) in Haft war, und veröffentlichte im folgenden Jahr seine Gesamtmemoiren (Zwart Patmutiunner [Armenisch. Lustige Geschichten], New York NY 1926). Diese erschienen in englischer Übersetzung etwa vierzehn Jahre später als A Man who found a Country, New York NY 1940). Die letztgenannte Arbeit ist online abrufbar: http:// avedis.telf.com/. 10 Vgl. Anhang 3: Aram Andonians Brief an Maria Terzian vom 28.07.1937.

57 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

Nakkaschian, der damals als Arzt in Istanbul arbeitete, Andonian mithilfe des armenischen Patriarchen Zaven um Unterstützung im Istanbuler Kriegsverbrecherprozess gegen Abdülahad Nuri [Tengirşenk].11 Abdülahad Nuri war während der Kriegsjahre als stellvertretender Leiter des Deportationsamtes in Aleppo tätig. Dieses Büro war eine Dependance der Generaldirektion für Siedlungswesen und Immigration in Istanbul.12 Naim arbeitete damals als Sekretär in diesem Regionalbüro des Deportationsamtes in Aleppo und kannte somit Abdülahad Nuri. In seinen Memoiren liefert Naim viele Informationen und Dokumente zu Nuri. Dr. Avedis Nakkaschian hatte von anderen Armeniern viele Berichte über Abdülahad Nuri erhalten – von den Überlebenden der 11 Abdülahad Nuri [Tengirşenk] Bey (?–1927) war der ältere Bruder von Yusuf Kemal [Tengirşenk], der zwischen 1920 und 1933 abwechselnd als Minis­ ter für Wirtschaft, Auswärtige Angelegenheiten und Justiz tätig war. In den Jahren 1915 bis 1916 war Abdülahad Nuri Direktor (Sevkiyat Müdürü) des Regionalbüros für Deportationen in Aleppo. Nach dem Waffenstillstand reiste er nach Istanbul, wo er von den Besatzungsmächten verhaftet wurde. Während er noch in Haft war, durfte er aus dem Krankenhaus fliehen, in dem er festgehalten wurde, woraufhin er 1921 nach Anatolien ging, um sich den nationalistischen Streitkräften anzuschließen. Im Jahre 1922, nach dem Einmarsch der nationalistischen Streitkräfte in Istanbul, kehrte er zu seinem alten Vorkriegsjob in der Schifffahrts- und Seeverkehrsverwaltung der Stadt zurück. Für weitere Informationen über Nuri und sein Leben siehe Yakupoğlu, Cevdet: Bir Sürgün Kahramanı Abdülahad Nuri Bey: Hayatı, Eserleri ve Selçuklu-Beylikler Tarihi Üzerine Hayatı [Türkisch. Abdülahad Nuri Bey – Der Held einer Verbannung. Sein Leben, sein Wirken und seine Arbeiten zu der Geschichte der seldschukischen Fürstentümer], in: Ankara Üniversitesi Osmanlı Tarihi Araştırma ve Uygulama Merkezi Dergisi 21, 2007, S. 169–189. 12 Abdülahad Nuri wurde, wahrscheinlich im Oktober 1915, zum stellvertretenden Direktor der Filiale in Aleppo ernannt und ersetzte dann den damaligen Direktor Şükrü Bey. In den osmanischen Dokumenten wird Nuri zunächst als »stellvertretender Direktor« und erst später als »Direktor« bezeichnet. Im November 1915 ging die Verantwortung für die Deportationen in Aleppo vom Regionalbüro des Deportationsamtes auf den Provinzgouverneur von Aleppo über (BOA.DH.ŞFR., 58/56 und 66). In einem Kabel vom 13. November an Innenminister Talat Pascha berichtet der Direktor, dass er seine Pflichten dem Gouverneur von Aleppo übergeben hat (BOA.DH.ŞFR., 497/43). In einer Antwort, die fünf Tage später (18. November 1915) gesendet wurde, fordert Talat Pascha Şükrü Bey auf, mit dem ersten besten ihm zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel abzureisen, um seine neue Aufgabe in Istanbul aufzunehmen, »da die Angelegenheit durch Depeschen bereits dem Gouverneur von Aleppo übertragen wurde« (BOA. DH.ŞFR., 58/60). Dennoch erfahren wir aus einem anderen Telegramm vom 24. November 1915, dass Şükrü Bey Aleppo immer noch nicht verlassen

58 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

WO BEFINDEN SICH DIE MEMOIREN UND ORIGINALDOKUMENTE JETZT?

Deportationen, die dann in die Nähe von Aleppo geflüchtet waren. Er wusste, dass diese Überlebenden Abdülahad Nuri überall gesucht hatten, um ihn zu fassen. Dr. Nakkaschian kam Nuri in Istanbul zufällig auf die Spur und hatte ihn dann verhaften lassen. In dieser Zeit, im August 1920, kam er in den Besitz von Andonians Buch, worin er zum ersten Mal von »Talats und Abdülahad Nuris Korrespondenz untereinander« las. Er beschloss dann, mithilfe des armenischen Patriarchen von Konstantinopel, Zaven von Andonian, die Dokumente, die dieser über Abdülahad Nuri veröffentlicht hatte, anzufordern. Andonian erzählt den Rest der Geschichte in seinem Brief, den er 1937 an Mary Terzian nach Genf schickte: »Ich erhielt einen diesbezüglichen Brief […] und schrieb sofort an das Armenische Büro in London, es möge alle Originalversionen an das Patriarchat schicken, was auch getan wurde. Gleichzeitig schickte ich ein langes Gedächtnisprotokoll, das Naim Bey mit Bleistift über Abdülahad Nuri Bey geschrieben hatte, ein belastendes Dokument über seinen finsteren Vorgesetzten sowie einige weitere Originaldokumente, die ich zu Hause hatte, in denen Abdülahad Nuri Bey auch erwähnt wurde«.13 Aus der damaligen Istanbuler Presse erfahren wir, dass ein Strafverfahren gegen Abdülahad Nuri eingeleitet wurde und dass diese Dokumente im Prozess Verwendung fanden. Die armenische Tageszeitung Joghovurti Tzayn (»Die Stimme des Volkes«) berichtete in ihrer Ausgabe vom 19. September 1920, dass »vor Kurzem ein Prozess gegen den berüchtigten Schächter Abdülahad Nuri stattgefunden hat«. In dem Artikel heißt es weiter: »Dr. Nakkaschian hat sich an der Anklage beteiligt und eindeutige Beweisdokumente gegen den bekannten Mörder vorgelegt«. Außerdem habe der Arzt manche Dokumente vorgelesen, die von Aram Andonian verschickt wurden.14 Das Verfahren gegen Abdülahad Nuri wurde unterbrochen, die darauffolgende Flucht des Angeklagten aus der Haft vom Wachpersonal hatte (BOA.DH.ŞFR., 498/62). Als Şükrü endlich nach Istanbul zurückkehrte, trat Abdülahad Nuri seine Nachfolge an. 13 Anhang 3: Aram Andonians Brief an Maria Terzian vom 28.07.1937. 14 Joghovurti Tzayn vom 19.09.1920. Ein wichtiger Moment in diesem Verfahren war die Zeugenaussage des Landrates von Kilis (Kilis Kaymakamı), Ihsan Bey. In seiner Zeugenaussage sagte der ehemalige Beamte: »In den offiziellen Verordnungen waren Familien von Soldaten, Protestanten, Katholiken und Kranke von der Deportation ausgenommen und ich habe es ihnen erlaubt, als Familie zusammenzubleiben«. Daraufhin habe der Gouverneur von Aleppo ein Schreiben nach Istanbul geschickt, in dem er darum bat, Ihsan Bey von seinem Posten zu entfernen. Ihsan Bey reiste dann nach Aleppo und traf sich dort mit Abdülahad Nuri. Während dieses Treffens soll Abdülahad Nuri ihm gesagt haben: »Ich habe den Befehl persönlich von Talat Bey erhalten. Ziel der Deportationen ist die gründliche Ausrottung

59 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

toleriert. Der Angeklagte begab sich nach Anatolien, in das Territorium der türkischen Nationalregierung. In seinem Brief berichtet Dr. Nakkaschian ausführlich, warum Abdülahad Nuris Prozess so plötzlich beendet werden musste: »Das Verfahren war kurz vor dem Ende. […] Eines Morgens klopfte es an meine Tür und ein Priester, den ich nicht kannte, stand da. ›Ich bin Vater Dajad‹, stellte er sich vor. ›Meine Reise wurde von der Nationalregierung in Ankara bezahlt, um Abdülahad Nuri zu befreien. Diese Bestie ist der Bruder von Yusuf Kemal, dem Außenminister in Ankara. Sie werden hier diesen Köter aufhängen, und dafür werden dort 2.000 bis 3.000 Armenier vernichtet. Ich flehe Sie an, sorgen Sie dafür, dass dieser Mann freikommt‹«.15 Weiter schreibt Dr. Nakkaschian: »Während wir noch daran arbeiteten, eine Lösung zu finden und unsere Bemühungen zu organisieren, der Armenier. Das Wohl der Nation erfordert dies«. Die Zeugenaussage von Ihsan Bey ist wichtig, weil eine ähnliche, schriftliche Zeugenaussage von ihm in den Nachkriegsprozessen in der Anklageschrift gegen die Führer der Unionisten (KEF) verwendet wurde (Takvimi Vekayi 3540 vom 05.05.1919). In zahlreichen armenischen Memoiren aus dieser Zeit wird Ihsan Bey als derjenige erwähnt, der das Leben vieler Armenier gerettet hat. Apraham Kasapyan erzählt zum Beispiel, dass Ihsan Bey 33 Mitglieder seiner Familie vor dem Tod gerettet hat. Kasapyan, Apraham: Kaç Kişisiniz Boğos Efendi, Bir Ermeninin Hatıra Defteri [Türkisch. Wie viele Personen seid ihr, Boğos Efendi? Memoiren eines Armeniers], Istanbul 2015, S. 24–31. 15 Orel und Yuca schreiben, dass der Bruder von Abdülahad Nuri, Yusuf Kemal (Tengirşenk), während der entscheidenden Phase des Prozesses nicht im Außenministerium der Nationalregierung in Ankara diente. Nach ihrer Argumentation wäre dies ein weiterer Hinweis, dass Andonians Informationen gefälscht sind (Orel / Yuca: Talat Paşa’ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 20f.). Eine solche »Beweisführung« ist aus zwei Gründen falsch: Erstens hatte Andonian keinen direkten Bezug zu dem Verfahren in Istanbul. Vielmehr übertrug er einfach die Informationen, die Dr. Nakkaschian ihm geschrieben hatte. Orel und Yuca geben fälschlicherweise Andonian die Schuld, weil sie diesen Brief von Dr. Nakkaschian nicht kannten, als sie ihr Buch zusammenstellten. Zweitens liefern Orel und Yuca nicht die richtigen Informationen über den Bruder von Nuri, Yusuf Kemal. Er war zwar in der fraglichen Zeit technisch nicht Außenminister, aber er war Mitglied des türkischen Regierungskomitees, das sich zur Erfüllung der Aufgaben des Außenministeriums verpflichtet hatte, und er war ständig im Ausland unterwegs, um die Funktion eines Außenministers auszuüben. Tengirşenk wurde am 25. April 1920 in das achtköpfige provisorische Kabinett der türkischen Nationalisten in Ankara gewählt. Er gehörte auch der offiziellen Delegation an, die im Juni 1920 nach Moskau reiste, und setzte später seine Treffen mit den Bolschewiki im Namen der Nationalen Regierung fort, bis er am 19. Mai 1921 offiziell zum Außenminister ernannt wurde. Während des Vorfalles von Abdülahad Nuri war er ständig im Ausland, wie ein Außenminister.

60 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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wurde das Kabinett von Ferid Pascha entlassen, und eine Regierung, die mit den Nationalisten in Ankara sympathisierte, nahm seinen Platz ein«. Nakkaschian fügt hinzu, dass sich auch die Zusammensetzung des Gerichtes änderte, wobei der ehemalige Vorsitzende Richter, Kürt Mustafa Pascha, der Abdülahad Nuri verhaften ließ, nun selbst verhaftet wurde. Die im Brief beschriebenen Ereignisse fanden auch in der Istanbuler Presse Erwähnung. Ferids Regierung trat am 17. Oktober 1920 zurück16 und Kürt Mustafa Pascha wurde knapp einen Monat später, am 15. November, verhaftet.17 Dr. Nakkaschian wurde vorübergehend kurz in Haft genommen, weil er derjenige war, der für das Gerichtsverfahren gegen Nuri den entscheidenden Hinweis geliefert hatte. In einem Brief an Mary Terzian vom 28. Juli 1937 beantwortet Andonian ihre zuvor gestellte Frage, was mit den Memoiren und Dokumenten geschehen sei, die er nach Istanbul geschickt hatte: »Was die Dokumente betrifft, die dem Patriarchat entweder aus London oder von mir direkt zugeschickt wurden – und die der Akte der Klage gegen Abdulahad Nuri hinzugefügt wurden –, so blieben sie natürlich dort. Ich habe nie erfahren, was mit ihnen passiert ist«. So gehörte Tengirşenk, obwohl er kein Außenminister war, zu denen, die den Moskauer Vertrag vom 16. März 1921 im Namen der türkischen Regierung unterzeichneten. (Nähere Informationen zu Tengirşenk finden Sie in Akdağ, Ömer: Millî Mücadele Şahsiyetlerinden Yusuf Kemal Bey [Türkisch. Eine Persönlichkeit des nationalen Widerstandes: Yusuf Kemal Bey], in: Atatürk Araştırma Merkezi Dergisi 14, 40, 1998, atam.gov.tr, http:// www.atam.gov.tr/dergi/sayi-40/milli-mucadele-sahsiyetlerinden-yusuf-kemal-bey-tengirsenk (Zugriff: 14. Februar 2016). 16 Tunaya, Tarık Zafer: Türkiye‘de Siyasal Partiler. Bd. 2: Mütareke Dönemi [Türkisch. Politische Parteien in der Türkei, Bd. 2: Die Periode des Waffenstillstandes], 1918–1922, Istanbul 2015, S. 61. 17 Für Informationen über die Verhaftung von Kürt Mustafa Pascha siehe Vakit gazetesi 1056 vom 16.11.1920. Mustafa Pascha, der auch als Nemrut Mustafa Pascha bekannt ist, war einer der Vorsitzenden Richter des Ers­ten Militärgerichtshofes in Istanbul (Divan-i Harb-i Örfi), der zwischen 1919 und 1921 die Verfahren gegen die Funktionäre der Einheits- und Fortschrittspartei (KEF) führte. Während er diese Funktion innehatte, wurde Mustafa Pascha im Oktober 1920 unter dem Vorwurf verhaftet, vorsätzlich Dokumente manipuliert zu haben, die sich in den Akten des Gerichtsverfahrens gegen den Landrat (Kaymakam) von Bayburt, Nusret, befanden. Richter Mustafa Pascha hatte vor, den Landrat Nusret zum Tode zu verurteilen. Mustafa Pascha wurde zwar angeklagt, saß auch in Haft, wurde aber später vom Sultan begnadigt. Aus Angst, dass er bei der Befreiung Istanbuls durch die türkischen Nationalstreitkräfte 1922 wieder verhaftet werden könnte, floh er nach Kairo. Zum Gerichtsverfahren gegen Mustafa Pascha siehe auch Dadrian / Akçam: Judgement in Istanbul, a.a.O., S. 305f.

61 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

Wir wissen heute nicht, was mit diesen Dokumenten geschehen ist, wo sie verblieben sind. Aber da sie in dem oben genannten Strafverfahren durch die Ankläger in das Verfahren eingeführt worden waren, ist zwingend davon auszugehen, dass sie sich, wenn sie nicht vernichtet wurden wie alle anderen Verfahrensakten der damaligen Kriegsgerichtsverfahren, entweder im Osmanischen Archiv des Staatspräsidenten in Istanbul oder im Militärarchiv in Ankara, bekannt als ATASE (Archiv des türkischen Generalstabs für Militärgeschichte und strategische Studien), befinden.18 Einige Teile der übrigen Dokumente, die nicht nach Istanbul versandt worden waren, gingen im Zuge des Soghomon-Tehlirian-Prozesses in Berlin verloren. Tehlirian wurde wegen des Mordes an Talat Pascha, der nach dem Krieg in Berlin Zuflucht gesucht hatte, angeklagt. Tehlirians Verteidiger baten Andonian um Hilfe bei ihrer Verteidigungsstrate­ gie. Der armenische Journalist erklärte sich bereit zu helfen und reiste mit einigen der Dokumente aus seinem Besitz nach Berlin. Andonian ­schreibt darüber in seinem Brief an Mary Terzian: »Unter den fraglichen Originaldokumenten fand ich in meinen Unterlagen nur den Brief von Bahaettin Şakir Bey vom 18. Februar. Sein zweiter Brief sowie die Ori­ ginalversionen einiger Telegramme wurden der Gerichtsakte Tehlirians hinzugefügt. Sie müssen auch noch da sein«.19 Hier sollten einige Klarstellungen vorgenommen werden. Die von Andonian für den Prozess nach Berlin mitgebrachten Dokumente wurden nicht als Beweismittel in die Gerichtsakte aufgenommen, da sie nicht direkt mit dem Verfahren im Zusammenhang standen. Außerdem hat das Gericht Andonian trotz seiner Anwesenheit in Berlin nicht als Zeugen geladen oder angehört. Nach Ansicht der Richter war dies nicht notwendig, um über die Verantwortung von Talat Pascha für die Deportationen und das, was folgte, zu diskutieren; aus ihrer Sicht reichte es, dass Tehlirian in der Person Talat Paschas den Verantwortlichen für die Vernichtung der Armenier sah.20 Die Nichteinführung von Andonians Dokumenten in die Gerichtsakte gilt Orel und Yuca wiederum als Beweis, dass diese Dokumente Fälschungen waren.21 Diese Folgerung ist nicht zutreffend. Das Berliner Gericht machte weder die Dokumente noch die Rolle von Talat Pascha (und damit der türkisch-osmanischen Regierung) während des Völkermords 18 Ein aufschlussreicher Artikel, der erklärt, wie das Archivmaterial des Militärs transportiert, sogar verkauft oder verbrannt wurde, siehe Yıldız, Gültekin: Evrakını Osmanlı Önce Yaktılar sonra Depolara Kapattılar [Türkisch. Die Osmanischen Dokumente wurden zunächst verbrannt, dann in den Lagerhallen verschlossen], in: Derin Tarih, 2014, S. 112–119. 19 Siehe Anhang 3: Aram Andonians Brief an Maria Terzian vom 28.07.1937. 20 Vgl. dazu Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht. Der Prozess Talaat Pascha, hrsg. von Tessa Hofmann, Göttingen 1980, S. 68f., S. 86. 21 Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 17–19.

62 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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an den Armeniern zum Gegenstand des Verfahrens. Wäre eine solche Diskussion geführt worden, hätte das Gericht von sich aus bestätigt, dass die Dokumente echt sind; somit wäre aber die Rolle Deutschlands bei diesem Völkermord in den Vordergrund gerückt. Nach dem Versailler Vertrag mit seinen schwerwiegenden Bestimmungen sowie der sozialen und wirtschaftlichen Instabilität, die das Land damals heimgesucht hatte, wäre eine solche Diskussion ein potenziell volatiles Thema, von dem die deutsche Regierung Abstand nahm. Gerade aus diesem Grund wurde Walter Rössler, der während des Völkermords als deutscher Konsul in Aleppo gedient hatte, während des Prozesses nicht als Zeuge zugelassen.22 In einem Brief an das Auswärtige Amt teilte Rössler seinen Vorgesetzten mit, dass er im Falle seiner Aussagegenehmigung sowohl anhand der von Andonian vorgelegten Dokumente als auch durch seine Zeugenaussage nachweisen werde, dass Talat Pascha (und die osmanische Regierung) direkt für die Morde (und andere Kriegsverbrechen) verantwortlich sei. Um die Haltung der damaligen deutschen Regierung besser einschätzen zu können, zitieren wir etwas ausführlicher aus dem Schreiben des Konsuls Rössler an das Auswärtige Amt: »Wird die Genehmigung des Auswärtigen Amtes zu meiner Vernehmung als Zeuge in dem Prozess gegen den Mörder von Talat Pascha erteilt, so müsste ich von der Amtsverschwiegenheit entbunden werden und wäre verpflichtet, unter meinem Zeugeneide alle Fragen des Vorsitzenden zu beantworten. Ich würde dabei nicht umhinkönnen, meiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass Talat Pascha in der Tat einer derjenigen türkischen Staatsmänner ist, welche die Vernichtung der Armenier gewollt und planmäßig durchgeführt haben. Alle Abschwächungen, die sich etwa aus der Darlegung ergeben könnten, dass die armenische Frage für die Türkei in der Tat eine außerordentliche Gefahr bedeutete, da sie von Russland als Mittel zur Zerstückelung der Türkei benutzt werden sollte, würden gegenüber einem Haupteindruck meiner Aussage in den Hintergrund treten. Ich nehme an, dass mir vom Gericht Dokumente vorgelegt werden, die von dem Armenier Aram Andonian herausgegeben sind und die Wiedergabe von Befehlen Talat Paschas in der Angelegenheit der Verschickung und Vernichtung enthalten. Ich würde meine Aussage dahin abgeben müssen, dass diese Dokumente die innere Wahrscheinlichkeit der Echtheit für sich haben. Ich würde auch eine Äußerung als echt bekunden müssen, die mir 22 Die Person, die sich an das Berliner Gericht wandte, um Rössler als Zeugen zu benennen, war der protestantische Missionar und Orientalist Johannes Lepsius. Lepsius hatte Rössler zuvor ein Exemplar von Andonians Buch geschickt und ihn um seine Meinung über die Echtheit der darin enthaltenen Dokumente gebeten. Rössler antwortete Lepsius in einem langen Brief, aber erst nach dessen Versprechen, diesen Brief nicht zu veröffentlichen. Siehe Anhang 4: Brief von Konsul W. Rössler an Dr. Lepsius vom 15.04.1921.

63 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

gegenüber der von Konstantinopel nach Aleppo entsandte Verschickungskommissar gemacht hat: »Vous ne comprenez pas ce que nous voulans, nou voulans une Arménie sans Arméniens« (»Sie verstehen nicht, was wir wollen: Wir wollen ein Armenien ohne die Armenier«).23

Nach seiner Rückkehr nach Paris unternahm Andonian mehrere Versuche, die Dokumente wiederzubekommen, die er in Berlin zurückgelassen hatte, aber ohne Erfolg. Leider sind diese Dokumente heute nirgends mehr zu finden. Aus den Erzählungen Andonians geht hervor, dass ein Teil von Naims Memoiren und Dokumenten in der Boghos-Nubar-Bi­ bliothek in Paris liegt. Wie erwähnt, fand Pater Guerguerian 1950 beim Besuch der Bibliothek diese handschriftlichen Entwürfe und eine Reihe von Dokumenten, die er sofort fotografierte. Weder Yves Ternon noch Vahakn Dadrian, die die Boghos-Nubar-Bibliothek in den 1970er- beziehungsweise 1980er-Jahren besuchten, fanden dort die Originale dieser Dokumente. Wo sie verblieben sind, weiß keiner. Die einzigen Spuren der Memoiren wie auch der Dokumente sind die Fotografien der Originale von Guerguerian, die wir hier veröffentlichen.

Herausforderungen bezüglich der Authentizität des Textes In ihrem Buch aus dem Jahr 1983 stellen die Diplomaten Orel und Yuca die Existenz eines osmanischen Beamten namens Naim Efendi infrage und behaupten, dass sowohl die ihm zugeschriebenen Memoiren als auch die dazugehörigen Dokumente von ihrem Herausgeber/Verleger, Aram Andonian, erstellt worden seien. Obwohl Vahakn Dadrian versuchte, in einem Artikel im Jahr 1986 die Authentizität der Memoiren zu beweisen,24 sind seit dem Erscheinen des Buches von Orel und Yuca die Texte von Naim Efendi und Andonian nicht nur in akademischen Kreisen, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit auf Skepsis gestoßen. Sie wurden zunehmend nicht mehr als Naim-Efendi-Dokumente bezeichnet, sondern als die Andonianischen Dokumente – als Hinweis auf die tatsächliche Urheberschaft. Abgesehen von einer allgemeinen Zurückhaltung, sie in wissenschaftlichen Publikationen zu verwenden, ist ihre angeblich nicht vorhandene Authentizität eines der Hauptargumente derjenigen, die sich den offiziellen türkischen Denialismus auf ihre Fahnen geschrieben haben. Für diesen Personenkreis gilt: Die Naim-Efendi-Memoiren wurden von Armenier erstellt. Deswegen ist heute davon auszugehen, dass die interessierte 23 Dokument 1921-05-30-DE-001, in: Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, hrsg. von Wolfgang Gust, Springe 2005, S. 601. 24 Dadrian: Naim-Andonian Documents, a.a.O..

64 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

HERAUSFORDERUNGEN BEZÜGLICH DER AUTHENTIZITÄT DES TEXTES

Öffentlichkeit sich darin einig ist, dass sowohl die Naim-Efendi-Memoiren als auch die Begleitdokumente Fälschungen sind. Allerdings ist seit der Arbeit von Şinasi Orel und Süreyya Yuca vor mehr als 30 Jahren keine einzige neue wissenschaftliche Publikation mehr zu diesem Thema erschienen. Diejenigen Autoren, die die offizielle Version der türkischen Regierungen vertreten und später zum Thema Armenier geschrieben haben, wie Kamuran Gürün25, Türkkaya Ataöv26, Guenther Lewy27 und Maxime Gauin28, haben einfach die Thesen von Orel und Yuca übernommen. Auch viele andere Akademiker, die sich mit der Thematik nur am Rande befassten, wie zum, Beispiel Erik Zürcher29, Bernard Lewis30, Andrew Mango31, Norman Stone32 und Michael 25 Gürün, Kamuran: The Armenian File: The myth of innocence exposed, Nikosia 1985, S. 237–239. 26 Ataöv, Türkkaya: Talat Paşa’ya Atfedilen Andonyan »Belgeleri« Sahtedir [Türkisch. Die Talat Pascha zugeschriebenen Andonian-»Dokumente« sind Fälschungen], Ankara 1984. 27 Lewy: Armenian Massacres, a.a.O., S. 63–73. 28 Gauin, Maxime: Aram Andonian’s ›Memoirs of Naim Bey‹ and the Contemporary Attempts to defend their Authenticity, in: Review of Armenian Studies 23, 2011, S. 233–293. 29 »Die türkische Seite […] weist darauf hin, dass die offiziellen Archive der osmanischen Regierung, soweit bekannt, keine Dokumente enthalten, die eine Beteiligung der Regierung an den Morden belegen. Die armenische Seite hat versucht, diese Beteiligung nachzuweisen, aber einige der von ihr erstellten Dokumente (die sogenannten Andonianischen Dokumente) haben sich als Fälschungen erwiesen«. Zürcher, Erik-Jan: Turkey: A modern history, London 2004, S. 115f. 30 »Es gibt einige berühmte historische Erfindungen. Es gibt die sogenannten Protokolle der Ältesten von Zion, die Talat-Pascha-Telegramme und andere in der gleichen Art und Weise«. Lewis, Bernard: From Babel to Dragomans: Interpreting the Middle East, New York NY 2004, S. 388f. 31 »Zitiert die Telegramme, die fälschlicherweise dem osmanischen Innenminister Talat Pascha zugeschrieben werden«. Mango, Andrew: Turks and Kurds, in: Middle Eastern Studies 30, 4, 1994, S. 975–997, hier S. 985. 32 »Tatsache ist, dass es keinen Beweis für einen ›Völkermord‹ gibt, in dem Sinne, dass nie ein Dokument vorlag, aus dem hervorgeht, dass die Armenier ausgerottet werden sollten. Es gibt gefälschte Beweise. 1920 wurden den Briten einige Dokumente von einem Journalisten namens Andonian übergeben. Er behauptete, er habe sie von einem osmanischen Beamten namens Naim erhalten. Die Dokumente wurden als Buch veröffentlicht (auf Englisch und Französisch), und wenn man sie für bare Münze nimmt, sind sie verheerend: Der Absender der Telegramme ist Talat Pascha als Innenminis­ ter, der die Gouverneure auffordert, die Armenier zu vernichten und dabei auch nicht zu vergessen, die Kinder in Waisenhäusern zu vernichten, und alles soll geheim bleiben. Aber die Dokumente sind ganz offensichtlich eine

65 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

Gunter33, haben die offizielle türkische Sichtweise übernommen und gehen bei den von Andonian zusammengetragenen Dokumenten von Fälschungen aus. Kritische Historiker achteten darauf, das Thema Naim Efendi in ihren Werken nicht zu erwähnen, indem sie entweder die Memoiren oder die beigefügten Dokumente nicht verwendeten und einen großen Bogen um die ganze Angelegenheit machten. Die klassische Formulierung zu den Dokumenten Naim Efendis in ihren Arbeiten lautet: Das Thema bedürfe weiterer Diskussionen und Untersuchungen.34 Und, um fair zu sein, meine persönliche Haltung ging auch in diese Richtung. Ich hielt es immer für möglich, dass es sich bei den überprüften Dokumenten tatsächlich um Fälschungen handeln könnte.35 In einer späteren Arbeit schrieb ich, dass ich »nicht in eine Diskussion über dieses Thema einsteigen will«; aber als ich immer mehr Dokumente mit ähnlichem Inhalt entdeckte, schrieb ich, dass ich auch die von Andonian veröffentlichten Dokumente verwenden werde.36 So habe ich in meinen späteren Arbeiten meine Fälschung – elementare Fehler in Bezug auf Daten und Unterschriften«. Stone, Norman: There is No Armenien Genocide, in: The Journal of Turkish Weekly vom 21.10.2006, historynewsnetwork.org, http://historynewsnetwork.org/article/31085 (Zugriff: 23. Januar 2016). 33 »Lewy geht auf die Argumentation von einigen Armeniern ein – die behaupten, dass einige Dokumente die eindeutigsten Beweise für einen Völkermord sind – und kommt dann zum Ergebnis, dass viele der Dokumente ›Materialien von höchst fragwürdiger Authentizität‹ sind. Zu diesen in Verdacht stehenden Dokumenten gehören […] die Naim-Bey-Telegramme, die angeblich vom Innenminister Talat Pascha verschickt worden seien, die die Vernichtung der Armenier anordneten und von Aram Andonian veröffentlicht wurden«. Gunter, Michael: Review Article: Guenter Lewy: The Armenian Massacres in Ottoman Turkey: A disputed genocide; Ali Kemal Ozcan: Turkey’s Kurds: A theoretical analysis of the PKK and Abdullah Ocalan, in: International Journal of Middle East Studies 38, 4, 2006, S. 598–601, hier S. 598f.; »the notorious forgeries produced after World War I by Aram Andonian«, Gunter, Michael: Review Article: Richard Hovannisian: The Armenian Genocide in Perspective; Akaby Nassibian: Britain and the Armenian Question, 1915–1923, in: International Journal of Middle East Studies 21, 3, 1989, S. 419–422, hier S. 422. 34 Hilmar Kaiser war der erste Wissenschaftler, der die Meinung vertrat, dass Andonians Dokumente neu diskutiert werden müssen. Kaiser, Hilmar: The Bagdadbahn Railway and the Armenian Genocide, 1915–1916: A case study of german resistance and complicity, in: Remembrance and Denial 78, hrsg. von Richard Hovannisian, Detroit MI 1998, S. 67–112, hier S. 108. 35 Akçam, Taner: Türk Ulusal Kimliği ve Ermeni Sorunu [Türkisch. Türkischnationale Identität und die armenische Frage], Istanbul 1992, S. 118f. 36 Akçam, Taner: İnsan Hakları ve Ermeni Sorunu [Türkisch. Menschenrechte und die armenische Frage], Ankara 1999, S. 33.

66 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DREI GRUNDSÄTZLICHE VORBEHALTE GEGEN DIE NAIM-EFENDI-MEMOIREN

Perspektive erweitert und habe erklärt, dass die gesamte Debatte neu geführt werden muss.37

Die drei grundsätzlichen Vorbehalte gegen die Naim-Efendi-Memoiren Orel und Yuca begründeten ihre Anschuldigungen, dass die Memoiren und Dokumente von Andonian stammen, im Wesentlichen mit drei Argumenten: Erstens, es ist unwahrscheinlich, dass es eine Person namens Naim Efendi gab. Zweitens, es ist unklar, ob von Naim Efendis Memoiren ein Originaltext existiert. Drittens, die veröffentlichten Dokumente enthalten viele Fehler wie Unterschriften und Datumsangaben; sie sind Fälschungen des armenischen Journalisten Aram Andonian. Um ihren ersten Verdacht zu untermauern, stellen die Autoren ihre eigenen Recherchen im Osmanischen Archiv vor. Sie behaupten, »osmanische Jahrbücher […] Sammlungen von Reichsgesetzen und -dekreten und die erste private osmanische Zeitung sowie Akten der Registraturen« studiert zu haben, aber sie hätten nirgends den Namen »Naim Efendi« gefunden.38 Aus diesem Grund sei es nicht möglich, ein entscheidendes Urteil darüber zu fällen, ob Naim Bey eine Person war, die tatsächlich existierte. Orel und Yuca bieten drei Möglichkeiten: Erstens, Naim Bey ist eine imaginäre Person; zweitens, Naim ist ein fiktiver Name; drittens, Naim Bey ist eine reale Person, aber »das Einzige, was feststeht, ist, dass, wenn eine solche Person wie Naim Bey tatsächlich existiert haben sollte, er in jedem Fall ein unbedeutender Bürokrat war […] [und] nicht in der Lage gewesen wäre, Zugang zu diesen Dokumenten zu haben, die streng geheim und sehr bedeutsam waren«.39 Orel und Yuca zweifeln grundsätzlich an der Existenz der Person Naim Efendis und akzeptieren daher seine Urheberschaft an den ihm zugeschriebenen Memoiren nicht. Sie manifestieren in ihrer gesamten Arbeit – wenn sie sich auf die von Andonian veröffentlichten Texte beziehen – ihren Unglauben, indem sie die Worte »Erinnerungen« und »Memoiren« in Anführungszeichen setzen.40 Die beiden türkischen Di­plomaten Orel und Yuca bezeichnen die gesamten Memoiren und Begleitdokumente als das Werk Andonians,41 etwa mit der Behauptung, dass »Andonian 37 Akçam: Young Turks’ Crime, a.a.O., XIX. 38 Orel / Yuca: Talat Paşa’ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 23f. Hier sind die osmanischen Originalnamen der Quellen, die sie durchsucht haben wollen: Salname; İrade-i Seniye Defterleri; Ruzname-i Ceride-i Havadisler und Düstur. 39 Ebd., S. 23f. 40 Beispiele siehe ebd., S.1, S. 8, S. 11, S. 24, S. 25. 41 Ebd., S. 26, S. 76.

67 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

bei der Bearbeitung der gefälschten Dokumente unachtsam gehandelt habe«, und stellen fest, dass »Andonian hastig und schlampig die angeblichen Dokumente niedergeschrieben hat«. Die beiden Autoren erklären, dass ihre Arbeit darauf zielt, zu zeigen, wie Andonian die Dokumente produziert hat, und argumentieren, dass sie durch ihre Arbeit »die Grundlagen eines Systems zerstört haben, das von Andonian für die Herstellung gefälschter Dokumente eingerichtet worden war«.42 Laut Orel und Yuca haben »armenische Kreise ein Verbrechen begangen[,] […] indem sie diese gefälschten Dokumente zusammenstellten«.43 Das vielleicht härteste Urteil über die Dokumente fällt Kamuran Gürün, ein weiterer Denialist unter den türkischen Diplomaten44: »Wenn ein ganzer Satz von Dokumenten, von denen behauptet wird, dass sie authentisch seien, sich als Fälschungen erweist, dann wird das ganze Buch damit zur Urkunde einer internationalen Fälschung. […] Ich frage mich: Wurden diese gefälschten Dokumente, die von einem ›unmoralischen‹ Naim Bey erstellt und von einer armenischen Organisation überprüft wurden, beim Kauf als solche wahrgenommen? Wir werden es nie erfahren. Dennoch ist zu bedenken, dass diese Person namens ›Naim Bey‹ vielleicht nur in der Fantasie von jemandem gelebt hat und dass diese Fälschungen tatsächlich von Andonian angefertigt wurden«.45

42 Ebd., S. 75, S. 60. 43 Ebd., S. 130. Die Autoren Orel und Yuca schreiben: »Es gibt einen Begriff in der Kriminologie, bekannt als »das perfekte Verbrechen«, was es aber in der Realität nicht gibt. Jedes Verbrechen hinterlässt Spuren und Hinweise. Indem sie das Verbrechen begangen haben, diese gefälschten Dokumente zusammenzustellen – und es ist ein Verbrechen, eine ganze Nation zu beschmutzen –, haben sie sehr viele Spuren hinterlassen, und sie wurden wegen dieser Spuren auf frischer Tat ertappt«. 44 Kamuran Gürün (1924–2004) war Botschafter, Staatssekräter im Außenministerium und als Penionär der Verfasser der Ermeni Dosyası, der »Akte der Armenier« (Gürün, Kamuran: Ermeni Dosyası [Türkisch. Akte der Armenier], Ankara 1983). Diese Veröffentlichung diente, wie das Buch von Orel und Yuca, zur Begründung des Denialismus türkischer Regierungen. 45 Gürün: Armenian File, a.a.O., S. 333: »Otantik diye iddia edilen vesikaların cümlesi de sahte olunca, kitabın ‘milletlerarası bir sahtekarlık vesikası haline dönüşmüş bulunmaktadır. […] Acaba bu sahte vesikalar’ bir Naim Bey tarafından hazırlanıp da Ermeni örgütünce tetkik edilip, sahici sanılarak satın mı mı alındı?). Bunu hiç öğrenemeyeceğiz. Ne var ki Naim Bey diye bir insanın sadece hayalde yaşatılmış olması, bu sahte vesikaların Andonian tarafından tanzim edilmiş olması da düşünülebilecek bir husustur«.

68 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Gab es einen osmanischen Beamten namens Naim Efendi? Die erste und wichtigste Fragestellung, die im Zusammenhang mit der Authentizität der Memoiren und Dokumente diskutiert werden sollte, ist, ob es in der fraglichen Zeit einen osmanischen Beamten namens Naim Efendi gab. Wir können mit Bestimmtheit sagen: Es gab tatsächlich einen osmanischen Beamten namens Naim Efendi, und es ist möglich, dies aus verschiedenen Quellen zu dokumentieren. Eine ganz wichtige Rolle kommt dabei den Dokumenten des Militärarchivs des türkischen Generalstabs (ATASE) zu.46 Die zweite Quelle – ebenfalls wichtig – sind die drei separaten osmanischen Dokumente, in denen der Name »Naim Efendi« vorkommt. Eines davon wurde von Andonian veröffentlicht, die beiden anderen Dokumente betreffen den armenischen Parlamentsabgeordneten Krikor Zohrab. Die Originale dieser beiden Belege befinden sich in der Boghos-Nubar-Bibliothek in Paris.47 Nach diesen Dokumenten ist davon auszugehen, dass eine Person namens Naim Efendi im Regionalbüro des Deportationsamts sowohl im Lager Meskene als auch in Aleppo gedient hatte. Die von ATASE veröffentlichten osmanischen Dokumente befassen sich mit den Ermittlungen gegen Militärangehörige und Staatsbeamte, die im Sommer 1916 im Flüchtlingslager Meskene und Umgebung Bestechungsgelder von Armeniern angenommen hatten. Der Anlass für die Untersuchung waren Berichte über Beamte des Deportationsamtes, die gegen Bezahlung Armeniern, die von Aleppo nach Deyr-i Zor deportiert wurden, Reisedokumente besorgten und ihnen somit die Flucht ermöglichten.48 46 Genelkurmay Başkanlığı: Arşiv Belgeleriyle Ermeni Faaliyetleri (1914– 1918) [Archiv des Generalstabes: Archivdokumente über die Aktivitäten der Armenier von 1914 bis 1918], Bd. 7, Ankara 2007. 47 Zu dieser Liste müssen wir natürlich Naim Efendis eigene Memoiren hinzufügen. Auch wenn der Name Naims nicht direkt erwähnt wird, sollten die Notizen, die Krikor Ankut und Simon Onbachian aus Bandırma im Lager Meskene festhielten, auch mitberücksichtigt werden. Diese Aussagen sind im Buch von Raymond Kévorkian zu finden. Kévorkian, Raymond: L’extermination des déportés Arméniens ottomans dans les camps de concentration de Syrie-Mésopotamie (1915–1916). La deuxième phase du genocide, Bd. 2, Paris 1988; es gibt eine elektronische Version dieser Quelle: http://www. imprescriptible.fr/rhac/tome2/. Wir verwendeten die Seitenzahlen der türkischen Übersetzung des Buches: Kévorkian, Raymond: Soykırımın İkinci Safhası, Sürgüne Gönderilen Osmanlı Ermenilerinin Toplama Kamplarında İmha Edilmeleri [Türkisch. Die zweite Phase des Völkermords. Die Vernichtung der deportierten osmanischen Armenier in den syrischen Konzentra­ tionslagern], Istanbul 2011, S. 233–235, S. 243–245, S. 274–278. 48 Das Ausmaß der angenommenen Bestechungssummen und der Plünderungen armenischer Besitztümer während des Vernichtungsprozesses ist

69 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

Ganz oben auf der Liste der osmanischen Beamten, gegen die ermittelt wurde, stand Oberstleutnant Galip. Der Offizier war Befehlshaber einer Logistikeinheit und hatte die Aufgabe, die Armenier, die sich in großer Zahl und konzentriert an den Ufern des Euphrats (einschließlich des Lagers Meskene) aufhielten und daher als Bedrohung für die Militärtransporte betrachtet wurden, zu deportieren und sie weiter östlich nach Deyr-i Zor zu vertreiben. In diesem Zusammenhang wurde Oberstleutnant Galip mit der Aufgabe betraut, die Handwerker unter den Armeniern auszusortieren, um sie für das osmanische Militär arbeiten zu lassen.49 Anstatt dies zu tun, hatten Oberstleutnant Galip und seine Mitarbeiter Bestechungsgelder von Hunderten von Armeniern im Austausch für Reisepapiere entgegengenommen und dann auch ein Auge zugedrückt, als die Armenier nach Aleppo flohen statt nach Deyr-i Zor. Der Gouverneur von Aleppo, Mustafa Abdülhalik, war über die Ereignisse um Meskene verärgert und zwang Istanbul in mehreren Telegrammen zur Kenntnisnahme seiner Beschwerden.50 »Einem Teil der Armenier, die von hier [Aleppo] nach Deyr-i Zor deportiert werden, gelingt immer wieder die Flucht und die Rückkehr beachtlich und bedarf einer besonderen Aufarbeitung. Einer der Gründe dafür ist der Mangel an ideologischer Unterstützung für die Vernichtungspolitik der Regierung innerhalb der muslimischen Bevölkerung. Die Führer der Einheit- und Fortschrittspartei (KEF) waren sich dieser Schwierigkeiten auf ideologischer Ebene bewusst und versuchten, die Habgier der Bürokraten und der breiten Masse zu manipulieren, um ihre Mitwirkung am Völkermord zu erwirken. Wann immer die Bestechung und Plünderung zu einem Risiko für die Umsetzung des gesamten Völkermordsystems wurde, vollzog man ein Ermittlungsverfahren, richtete sogar Kriegsgerichte ein und bestrafte einige dieser Personen. Die allgemeine Politik bestand darin, die Gier nach Bestechungsgeldern innerhalb der Grenzen der völkermörderischen Politik zu zügeln. Die Untersuchung in und um die Region Meskene-Aleppo, um die es hier geht, ist ein perfektes Beispiel für dieses Dilemma. 49 Die Behauptung, die Armenier stellten eine Bedrohung für die Militärtransporte dar, war nur ein Vorwand. Der eigentliche Grund für die Umsiedlung der Armenier nach Deyr-i Zor war ihre geplante Vernichtung. Siehe Akçam: Young Turks’ Crime, a.a.O., S. 264–285; Kévorkian: Armenian Genocide, a.a.O., S. 625–699. Kévorkian bezeichnet die Entwicklungen in Syrien ab Herbst 1915 als die »zweite Stufe« des Genozids. 50 Mustafa Abdülhalik [Renda] war der Schwager von Talat Pascha. Er wurde im April 1915 zum Gouverneur von Bitlis und später zum Gouverneur von Aleppo (1915–16) ernannt, von wo er die überlebenden Armenier nach Mesopotamien deportieren ließ. Nach dem Krieg wurde er von den Briten verhaftet und nach Malta verbannt, wurde aber schließlich ohne Prozess wieder freigelassen. Später diente er in einigen Regierungen der Türkei als Minister für Verteidigung, Finanzen und Bildung, als Präsident des

70 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

GAB ES EINEN OSMANISCHEN BEAMTEN NAMENS NAIM EFENDI?

hierher. Dies wird durch Duldung der Deportationsbeamten und -wächter möglich gemacht und somit verwandelt sich die Deportationsfrage in einen Teufelskreis«.

Nach Ansicht des Gouverneurs »haben die Beamten und Wachen die Gelegenheit ergriffen und dabei ihre Autorität missbraucht«; weiterhin schrieb er, dass er deshalb, um »Missbrauch zu verhindern«, eine vor­ übergehende »Pause für Deportationen nach Deyr-i Zor angeordnet hat, bis sie wieder in geordneten Bahnen durchgeführt werden können«. Der Gouverneur beschwerte sich auch über die Einrichtung eines Waisenhauses für armenische Kinder in Meskene.51 Ähnliche Beschwerden wurden von Salih Zeki, dem Distriktgouverneur von Deyr-i Zor, über die Ereignisse auf der Strecke von Aleppo nach Deyr-i Zor eingereicht. In einem Telegramm vom 19. Juli 1916 teilte er seinen Vorgesetzten in der Hauptstadt mit, dass von den sieben Personen, die von der Polizeidirektion Aleppo in Gendarmerie-Begleitung nach Deyr-i Zor geschickt wurden, nur einer tatsächlich dort ankam. Die restlichen sechs Personen entkamen ihren Bewachern auf dem Weg. Von einer Kolonne mit 72 Armeniern, die von Aleppo nach Deyr-i Zor geschickt worden war, kamen nur drei an ihrem Bestimmungsort an. Fast die gesamte Kolonne konnte sich von der Gendarmerie-Eskorte befreien, bevor die Deportierten den Bezirk Deyr-i Zor erreicht hatten. Salih Zeki bat darum, das Verhalten der Gendarmen den Behörden in Aleppo und anderswo zu melden.52 Innenminister Talat Pascha schickte, nachdem er diese Beschwerden vom Gouverneur aus Aleppo und dem Distriktgouverneur aus Deyr-i Zor erhalten hatte, am 19. Juli ein Telegramm mit der Bitte um eine Liste »mit den Namen derjenigen Beamten, deren Fehlverhalten während der armenischen Deportationen beobachtet wurde, damit die notwendigen Maßnahmen gegen sie ergriffen werden können«, und ordnete an, dass »die Beschäftigung derjenigen, zu deren Entfernung vom Dienst die Provinzverwaltung befugt ist«, unverzüglich beendet wird.53 In seiner Antwort erwähnte Gouverneur Mustafa Abdülhalik, dass die »nach [Deyr-i] Zor deportierten Kolonnen sich auf dem Weg dorthin auflösen« und forderte eine umfassende Untersuchung zu den Geflüchteten und die Bestrafung der Verantwortlichen vor einem Kriegsgericht. türkischen Nationalparlamentes (TBMM) und, nach dem Tod von Atatürk, als Präsident der Republik für einen Tag. 51 Genelkurmay Başkanlığı: Arşiv Belgeleriyle Ermeni Faaliyetleri (1914– 1918) [Archiv des Generalstabes: Archivdokumente über die Aktivitäten der Armenier von 1914 bis 1918], Bd. 8, Ankara 2007, S. 115. 52 BOA.DH.ŞFR., 525/106: Chiffriertes Telegramm aus Deyr-i Zor vom 19. Juli 1916, Bezirkshauptmann Zeki an das osmanische Innenministerium. 53 BOA.DH.ŞFR., 66/24: Chiffriertes Telegramm vom 19. Juli 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo.

71 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

Der Gouverneur bat darum, dass Hakkı Bey, der mit der Überwachung der Abschiebungen nach [Deyr-i] Zor schon beauftragt worden war, so bald wie möglich nach Aleppo geschickt wird.54 In einem Telegramm vom 4. August 1916 teilte Talat dem Gouverneur von Aleppo mit, dass »Hakkı Bey bereits 15 Tage zuvor nach Aleppo aufgebrochen ist«.55 Die Entscheidung, eine Untersuchung auf Antrag des Gouverneurs einzuleiten, wurde am 8. August getroffen. Hakkı Bey, der seine Tätigkeit in Aleppo als »Stellvertretender Direktor der Behörde für Deportationen« begann, reiste in das Lager von Meskene und erstellte einen Bericht über die dortige Situation.56 Nach einiger Zeit nahm Hakkı Bey auch die unterbrochenen Deportationen nach Deyr-i Zor wieder auf.57 Der Bericht zu den Voruntersuchungen von Korruption und Unregelmäßigkeiten wurde am 6. Oktober 1916 fertiggestellt, und im darauffolgenden Monat begannen die Beamten mit der Protokollierung der Zeugenaussagen der beteiligten Personen.58 Im Zuge der Interviews und Verhöre wurde unter anderem ein gewisser Naim Efendi aufgesucht, der am 14. und 15. November 1916 aussagen musste. In dem dazugehörigen Protokoll stehen seine persönlichen Daten: »Naim Efendi, der Sohn von Hüseyin Nuri, 26 Jahre alt, aus Silifke stammend, verheiratet«. Als Tätigkeit nennt dasselbe Protokoll: »Ehemaliger Deportationsbeamter von Meskene, derzeit Verantwortlicher für die städtischen Getreidelager«.59 In seiner Zeugenaussage bestätigt Naim Efendi, dass Oberstleutnant Galip, der neue Befehlshaber der Logistikeinheit, »einen Tag nach seiner Ankunft aus Cerablus in Meskene sich mit den Deportationsbeamten im Lager von Meskene getroffen hatte«, und ihnen »eines von 54 BOA.DH.ŞFR., 526/60: Chiffriertes Telegramm vom 26. Juli 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium; das gleiche Telegramm befindet sich auch in Genelkurmay Başkanlığı: Ermeni Faaliyetleri, Bd. 7, a.a.O., S. 145. 55 BOA.DH.ŞFR., 66/136: Chiffriertes Telegramm vom 4. August 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 56 Ebd., 70. Der Auftrag zur Durchführung der Ermittlungen wurde an Hakkı Bey und Oberst (Albay) Nuri, dem Inspektor für die Region Euphrat, übertragen. Für den Bericht dieser Ermittler siehe BOA.DH.EUM.KLU, 16/281: Bericht des stellvertretenden Direktors des Regionalbüros für Deportationen, Hakkı und des Inspektors der Region Euphrat, (Oberst) Nuri, vom 20. September 1916. 57 BOA.DH.ŞFR., 73/8: Chiffriertes Telegramm vom 14. Februar 1917, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 58 Die Zeugenaussagen einiger Verdächtiger waren schon früher aufgenommen worden, aber diese Personen waren dennoch verpflichtet, im November ein zweites Mal eine Aussage abzugeben. 59 Genelkurmay Başkanlığı: Ermeni Faaliyetleri, Bd. 7, a.a.O., S. 95.

72 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

GAB ES EINEN OSMANISCHEN BEAMTEN NAMENS NAIM EFENDI?

zwei Telegrammen gezeigt hatte, die vom Kriegsministerium geschrieben [und gesendet] worden waren. […] In diesen Telegrammen betonte der Kriegsminister die Notwendigkeit, [die Fähigkeiten] in bestimmten Berufen derjenigen Armenier, die in der Euphrat-Region angesiedelt sind, auszunutzen und die Waisen zu schützen«. Aufgrund dieser Befehle habe Oberstleutnant Galip darum gebeten, ihm die Namen »aller Armenier, die einen Beruf erlernt haben, sowie die Namen aller im Deportationszentrum registrierten Kutscher« zu geben, und habe hinzugefügt, dass »für alle Kinder, die keine Eltern oder Erziehungsberechtigten mehr haben, neue Register eingerichtet werden müssen«.60 Mehrere osmanische Dokumente in unserem Besitz bestätigen alles, was Oberstleutnant Galip Naim Efendi erzählt hatte. Talat Pascha sandte am 7. August 1916 ein Telegramm an den Distriktgouverneur von Deyr-i Zor, in dem er seine Maßnahmen zur Ausnutzung armenischer Handwerker erwähnt. Dabei erklärt der Innenminister auch, dass der örtliche Lagerkommandant [das heißt Oberstleutnant Galip] nicht allein entscheiden könne, welche Handwerker beschäftigt werden.61 In einem vorangegangenen Telegramm vom 29. Juli 1916 erklärt Talat, dass die Anwesenheit einer großen Zahl von Armeniern im Gebiet des Eu­phratBeckens eine Bedrohung für die Militärtransporte darstelle, und fordert deren Deportation. Die dazu notwendigen Kutschen und die Fuhrleute sollten die Armenier aufbringen.62 Mit anderen Worten, die von Talat 60 Ebd., S. 95. Aus den Zeugenaussagen von Oberstleutnant Galip und Çerkez Hüseyin Efendi, dem für die Deportationen von Meskene zuständigen Beamten, geht hervor, dass die Zeitperiode, über die Naim Efendi sprach, der Mai 1916 war. So erklärte Çerkez Hüseyin Efendi in seiner Aussage, dass der Reserveoffizierskandidat Ahmet (Yedek Subay adayı), der im Stab Oberstleutnant Galips war, »Anfang Mai 1916« zu ihm kam. Siehe ebd., S. 75, S. 89. 61 BOA.DH.ŞFR., 66/159: Chiffriertes Telegramm vom 7. August 1916, Generaldirektion für öffentliche Sicherheit des Innenministeriums an den Bezirkshauptmann von [Deyr-i] Zor. Der vollständige Text des Telegramms lautet: »Das Büro des Generalstabs hat mitgeteilt, dass das Sechste Armeekommando über die Erfordernis informiert wurde, dass Handwerker, die unter den Armeniern ausgesucht werden, nicht allein durch den Lagerkommandanten bestimmt werden dürfen, sondern in dieser Angelegenheit die zivilen und militärischen Verwaltungen gemeinsam zu entscheiden haben«. 62 BOA.DH.ŞFR., 66/94: Chiffrierte Depesche vom 29. Juli 1916, Generaldirektion für öffentliche Sicherheit des Innenministeriums an den Distriktgouverneur von [Deyr-i] Zor. »Es wurde berichtet, dass die erforderlichen Vorkehrungen zur Unterbringung und Ansiedlung der Armenier an geeigneten Orten getroffen wurden, da die Anwesenheit größerer Gruppen von ihnen im Euphrat-Becken und auf militärischen [Versorgungs- und Transportwegen] für Militärtransporte gefährlich ist. Das Oberkommando hat dem Sechsten Armeekommando mitgeteilt, dass aus den verbliebenen Personen

73 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

Pascha in diesen Telegrammen aufgeworfenen Fragen waren Gegenstand der Ermittlungen. In seiner Vernehmung erklärt Naim, dass sich fast alle Armenier als Berufstätige registrieren ließen, er aber persönlich an diesen Vorgängen nicht unmittelbar beteiligt gewesen sei. Naim behauptet sogar, dass er Oberstleutnant Galip gesagt hätte: »Es ist nicht korrekt, was Sie da machen. Die Rückkehr von Personen, die der allgemeinen Umsiedlung unterworfen sind, darf nur auf Anordnung des Innenministeriums erfolgen. Tun Sie es nicht!«. Trotzdem versäumt Naim nicht, Oberstleutnant Galip in Schutz zu nehmen und fügt seiner Vernehmung hinzu: »Ich habe nie etwas von diesen sich ändernden Abschiebezielen gegen Bezahlung gehört«. Naim Efendi bestreitet, dass er und andere ein Auge zugedrückt hätten, damit die Armenier mit falschen Papieren nach Aleppo fliehen konnten: »Es gab nie Fälle von Flucht während meiner Zeit [des Dienstes]. Die Deportationen wurden für einen begrenzten Zeitraum unterbrochen und die Deportationsstelle [in Meskene] vorübergehend geschlossen. Während dieser Zeit ergriffen einige Armenier die Flucht und kamen bis nach Aleppo. Wie sie dahin gekommen sind? Durch Zahlung von Geld oder durch andere Mittel? Darüber weiß ich nichts«.63 Naim Efendis Leugnen jeglicher Beteiligung – die Aussage, überhaupt keine Kenntnisse von den Geschehnissen zu haben – ist aus seiner Sicht eine nachvollziehbare Haltung, denn er war selbst einer der Beamten, die den Armeniern die Flucht nach Aleppo gegen Bestechungsgelder erlaubt hatten; und die »Gebühren« für diesen Dienst waren in der Tat hoch. Nach Erinnerungen einiger Armenier, die im Lager Meskene überlebt haben, sollen Oberstleutnant Galip und seine Gefolgsleute sowohl bei der Auswahl armenischer Handwerker als auch bei der Bestimmung der Kutscher Geld als Bestechung angenommen haben. Zum Beispiel schrieb Krikor Ankut, der zu dieser Zeit im Lager Meskene war: »Galip Bey wurde zum Befehlshaber für die Strecke von Meskene nach Deyr-i Zor ernannt. Er begann seine [neue] Aufgabe mit der Auswahl von Handwerkern und Arbeitern aus den armenischen Deportationskolonnen, denn dies gab ihm die Möglichkeit, eine beträchtliche Menge an Bestechungsgeldern einzunehmen. Da alle Köpfe der [Armenier] sich an die Gräueltaten und die Brutalität in Deyr-i Zor erinnerten, versprachen sie Galip Bey Geld – sie wetteiferten sogar um das Privileg, ihn bestechen zu dürfen, damit sie als Familie in Hamam oder in einem der Arbeitskommandos gebildet werden sollen und dass der Bedarf an Kutschen zum Transport von Armeniern gedeckt werden soll und dass nur Muslime als Kutscher bestimmt werden«. 63 Genelkurmay Başkanlığı: Ermeni Faaliyetleri, Bd. 7, a.a.O., S. 95–96.

74 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE OSMANISCHEN DOKUMENTE MIT DEM NAMEN »NAIM EFENDI«

Militärlager bleiben konnten: Für jede Familie, die bleiben wollte, zahlten sie etwa fünf osmanische Lira«.64

All dies zeigt, dass die Auskünfte, die Andonian und Naim über die Ereignisse in Meskene im Sommer 1916 geben, der Wahrheit entsprechen. Die angegebene Zeit, zu der Naim mit Andonian Gespräche darüber führte, ob eine Gruppe wohlhabender Armenier nach Aleppo fliehen darf, steht im Einklang mit den erwähnten Ereignissen.

Die osmanischen Dokumente mit dem Namen »Naim Efendi« Wir verfügen über drei osmanische Dokumente, die den Namen Naim Efendis beinhalten. Zwei davon betreffen die Ermordung des prominenten armenischen Denkers und Abgeordneten Krikor Zohrab.65 Die Originale dieser Dokumente befinden sich in der Boghos-Nubar-Bibliothek in Paris. Sie werden jedoch weder in Naims Memoiren noch in dem von Andonian herausgegebenen Buch erwähnt. Das erste Dokument wurde am 11. November 1915 geschrieben und ist ein Brief des Gouverneurs von Aleppo, Mustafa Abdülhalik, an den stellvertretenden Direktor des Regionalbüros des Deportationsamts in Aleppo, Abdülahad Nuri. Nuri hat eine kleine Notiz unter das Schreiben hinzugefügt: »Naim Efendi, mein Sohn, geh zu Eyüp Bey; er muss dort irgendwo registriert worden sein. Schau gründlich nach und schreib alles auf ein Papier!«.66 Das zweite Dokument ist ein Telegramm vom 17. November 1915, das von Innenminister Talat Pascha an den Gouverneur von Aleppo geschickt wurde. Darin berichtet Talat, dass Kirkor Zohrab, dessen weitere Anwesenheit in Istanbul als nicht wünschenswert eingestuft wurde und der deshalb in das von der Sechsten Armee kontrollierte Territorium geschickt worden war, »durch einen Unfall ums Leben gekommen ist«, und erklärt, dass eine Untersuchung der Angelegenheit »durch den Distriktgouverneur von Urfa und durch die Kommandantur für den Bereich Euphrat« durchgeführt worden sei. Da die entsprechenden Ermittlungsunterlagen schon an die »Kommandantur für den Bereich Euphrat« verschickt worden waren, wurde der Gouverneur von Aleppo gebeten, 64 Bandırmalı Simon Onbaşıyan gibt ähnliche Informationen. Kévorkian: Soykırımın İkinci Safhası, a.a.O., 274–278. 65 Für weitere Informationen über die Ermordung von Kirkor Zohrab siehe das Vorwort dieser Arbeit und Kazarian, Haigazn K.: The Murder of 6 Armenian Members of the Ottoman Parliament, in: Armenian Review 22, 1970, S. 26–33; İzrail: Ölüm Yolculuğu, a.a.O.. 66 Nubar-Bibliothek: Fonds Andonian, Genozid geschichtliches Material: »Deportationen und Massaker: Zohrab, Vartkès und andere«.

75 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

einen Beamten zur Untersuchung der Angelegenheit zu benennen.67 Gouverneur Mustafa Abdülhalik, der das Telegramm erhielt, gab die Anweisung weiter und fügte am 19. November eine Notiz an Abdülahad Nuri hinzu: »Wir hatten vor einigen Tagen darüber gesprochen. Ich nehme an, dass diese Akte beim Corps-Kommandanten Şevki Pascha angekommen ist. Schauen Sie mal dort nach!«. Am selben Tag wandte sich Abdülahad Nuri an Naim Efendi und bat ihn, nach der Akte zu suchen. Er ergänzte am 22. November, dass die »Dokumente nicht bei Şevki Pascha waren«, und fügte am Ende des Dokuments am 24. November eine weitere Notiz ein: »Tun Sie das in die Ablage, Naim Efendi!«.68 Das dritte Dokument ist eine telegrafische Mitteilung von Talat Pascha vom 1. Dezember 1915, von der eine handschriftliche Kopie in Naims Memoiren zu finden ist. Es gibt eine Bildaufnahme davon, und sie wird in allen drei Ausgaben von Andonians Buch wiedergegeben.69 Talat Pascha teilt darin mit, dass sich die amerikanischen Konsulate aus verschiedenen Regionen gewisse Informationen über die Art und Weise der Deportationen der Armenier beschafft hätten. Talat schreibt weiter, dass auf Anweisung der Botschaft in Istanbul im Verborgenen Informationen über die amerikanischen Konsulate beschafft werden, und fordert, dass besonderes Augenmerk darauf gelegt wird, bei der Deportation von Armeniern Vorkommnisse zu vermeiden, die in der Nähe von Städten, Gemeinden und [anderen Bevölkerungszentren] Aufmerksamkeit erregen könnten. Für Talat ging es darum, Ausländer, die sich in diesen Gegenden aufhielten, im Glauben zu lassen, dass der Zweck der Deportationen nichts anderes als eine Umsiedlung sei. Um dies zu erreichen, war aus politischen Gründen zeitweise eine mitfühlende Haltung notwendig, und die üblichen Maßnahmen – das heißt Tötungen – sollten in den entsprechenden, weit abgelegenen Regionen durchgeführt werden. Außerdem forderte Talat, dass diejenigen, die den amerikanischen Konsulatsangehörigen Informationen lieferten, gefunden, verhaftet und vor Gericht gestellt werden. Am 3., 4. und 5. Dezember schrieben Gouverneur Mustafa Abdülhalik und Abdülahad Nuri unter diese Dokumente Notizen, insbesondere darüber, was getan werden musste, um nach den Personen zu fahnden, die Informationen über die Deportationen an die Amerikaner lieferten. Diese Notizen schlossen mit den Worten: »Schreiben Sie an Naim Efendi«.70 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 136; in der französischen Ausgabe, S. 6; in der englischen Ausgabe, S. 52. Den vollständigen Text finden Sie in der Sektion mit der Bezeichnung »Die amerikanischen Konsulate und die auf der Straße aufgenommenen Fotos«. Siehe auch Anhang 1-B. 70 Ebd., S. 136, und Anhang 1-B.

76 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE ORTE, AN DENEN NAIM EFENDI STATIONIERT WAR

Alle diese Dokumente liefern unbestreitbare Beweise dafür, dass es tatsächlich einen osmanischen Beamten namens Naim Efendi gab.

Die Orte, an denen Naim Efendi stationiert war, und seine Beziehung zu Aram Andonian Leider liegen nur spärliche Informationen über Naim Efendis privates und berufliches Leben vor. Die einzige wirkliche Quelle dafür sind seine eigenen Schriften und das bereits erwähnte Dokument, das vom Büro des türkischen Generalstabs herausgegeben wurde. In den Memoiren, die von Andonian veröffentlicht wurden (von denen wir also keine Originale besitzen), erklärt Naim, dass er vor seiner Berufung in das Deportationsamt der Beamte für die Einhaltung des staatlichen Tabakmonopols, der sogenannte »Regie-Sekretär« in Ras-al-Ain, war.71 Er behauptet auch, dass er einige Tage nach der Ankunft Abdülahad Nuris in Aleppo dorthin versetzt wurde: »Ich kam in Aleppo an. Vermutlich arrangierte es das Schicksal so, dass ich zum Chefsekretär von Abdülahad Nuri Bey ernannt wurde, der erst vor drei oder vier Tagen als Stellvertreter des Generaldirektors des Deportationsamts in Aleppo eingetroffen war«.72 Wir haben keine genauen Informationen über das Datum der Ernennung von Abdülahad Nuri in diese Position. Şükrü Bey73, der zuvor zum Direktor des Büros für Umsiedlung von ethnischen Gruppen und Einwanderern in Aleppo ernannt worden war, schrieb in einem Telegramm vom 8. Oktober 1915 an Talat Pascha im Innenministerium, er brauche 71 Ebd., S. 20 und Anhang 1-B. Ras-al-Ayn, oder Sari Kani, in Syrien befindet sich jenseits des türkischen Grenzüberganges von Ceylanpınar und nordwestlich von Hassake, im gleichnamigen Verwaltungsbezirk. Die türkische Bezeichnung für »Regie« ist »Reji« und war früher die Bezeichnung des Tabakmonopols im Osmanischen Reich. 72 Ebd., S. 21 und Anhang 1-B. 73 Şükrü [Kaya] (1883–1959) war ein Funktionär der Unionisten (KEF), der Anfang des Krieges und während der Deportationen die dafür zuständige Direktion für Umsiedlung von ethnischen Gruppen und Einwanderern (Iskan-i Așair ve Muhacir´in Müdüriyeti) im osmanischen Innenministerium leitete. Er wurde im Sommer 1915 (August bis September) nach Aleppo geschickt, um die Deportationen direkt zu koordinieren. Abdülahad Nuri [Tengirşenk] wurde zu seinem Stellvertreter ernannt. Şükrü war einer der ehemaligen Beamten, die nach dem Ersten Weltkrieg von den britischen Besatzungstruppen verhaftet und auf Malta interniert wurden, aber auch Şükrü wurde schließlich freigelassen und schloss sich der nationalen Bewegung in Anatolien an. In der Anfangsphase der Türkischen Republik (1924– 1928) diente er als Minister für Landwirtschaft, Auswärtige Angelegenheiten und Inneres.

77 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

jemanden, der in der Direktion für Deportation arbeiten sollte. Şükrü schrieb, dass »es notwendig ist, eine Person zu entsenden, die entweder dem Gouverneur [von Aleppo] assistiert oder den Titel und die Position erhält, um [die Deportierten] zu verschicken und [die Deportationen] in seiner Eigenschaft als Assistent des Gouverneurs zu beaufsichtigen«.74 In einem Antwortschreiben vom 13. Oktober 1915 fragte Innenminister Talat Şükrü Bey nach seiner Meinung »über die Ernennung von Abdülahad Nuri Bey in die Direktion«,75 was zeigt, dass Nuri zu diesem Zeitpunkt schon ernannt worden war. Selbst wenn der genaue Termin nicht feststellbar ist, kann auf Grundlage der vorhandenen Dokumente davon ausgegangen werden, dass Nuri Bey seine neue Tätigkeit Anfang November 1915 aufgenommen hat. Nuri verließ Istanbul am 1. November 1915 gemeinsam mit dem neuen Gouverneur der Provinz Aleppo, Mustafa Abdülhalik. Zwei Tage zuvor, am 30. Oktober (Samstag), schickte der Innenminister Talat ein Telegramm an Şükrü Bey und teilte ihm mit, dass »der Gouverneur von Aleppo und Abdülahad Nuri Bey am Montag abreisen werden«.76 In einem anderen Telegramm, das am 7. November aus Aleppo verschickt wurde, ist notiert, dass der neue Gouverneur am selben Abend,77 nämlich am 7. November, in Aleppo erwartet wird. Demnach müsste Naim Efendi drei oder vier Tage später mit seiner neuen Tätigkeit im Regionalbüro des Deportationsamtes in Aleppo angefangen haben. In seinen Memoiren schreibt Naim, dass er danach in das Lager nach Meskene versetzt werden sollte, um von dort aus die weiteren Deportationen zu organisieren. Obwohl er in seinen Memoiren dazu kein Datum nennt, erwähnt er, dass er, nachdem er »als Deportationsbeamter nach Meskene« abkommandiert wurde, »zwei Monate lang dort blieb«.78 Aus den Verhören des Sommers 1916, die vom türkischen Militärarchiv ATASE veröffentlicht wurden, geht hervor, dass Oberstleutnant Galip ihn Anfang Mai zu einer Vernehmung geladen hat, was darauf hinweist, dass Naim zu dieser Zeit in Meskene war.79 Der Grund für seine 74 BOA.DH.ŞFR., 429/90: Chiffriertes Telegramm vom 8. Oktober 1915, Direktor des Regionalbüros für Deportationen in Aleppo, Şükrü Bey, an Innenminister Talat. 75 BOA.DH.ŞFR., 56/385: Chiffriertes Telegramm vom 13. Oktober 1915, Innenminister Talat an den Direktor des Regionalbüros für Deportationen in Aleppo, Şükrü Bey. 76 BOA.DH.ŞFR., 57/191: Chiffriertes Telegramm vom 30. Oktober 1915, Innenminister Talat an Şükrü Bey, dem Leiter des Deportationsamtes in Aleppo. 77 BOA.DH.ŞFR. 496/53: Chiffriertes Telegramm vom 7. November 1915, Generaldirektor des Amtes für öffentliche Sicherheit im Innenministerium für Sicherheit, İsmail Canpolat, an das Innenministerium. 78 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 102. 79 Genelkurmay Başkanlığı: Ermeni Faaliyetleri, Bd. 7, a.a.O., S. 95.

78 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE ORTE, AN DENEN NAIM EFENDI STATIONIERT WAR

Entsendung nach Meskene war, dass die Deportationen aus dem Lager und seiner Umgebung planlos und nicht organisiert durchgeführt wurden. In einem Abschnitt der Memoiren, von denen die Originale nicht mehr vorhanden sind, schreibt Naim, dass »Eyüp Bey mich vor meiner Abreise zu sich bestellte«: »Naim Efendi«, sagte er, »alle Deportationsbeamte, die wir bisher nach Meskene geschickt haben, brachten uns nichts. Du kennst dich in dieser Sache gut aus, du kennst die Befehle. Lass diese Typen (die Armenier) nicht am Leben, und wenn erforderlich, töte sie mit deinen eigenen Händen. Und vergiss nicht, sie zu töten macht Freude«.80

Im November 1916, zu der Zeit, als die Zeugen für die Ermittlungen von Oberstleutnant Galip vernommen wurden, war Naim nicht mehr für die Deportationen zuständig, sondern für die städtischen Getreidelager Aleppos. Wir haben keinerlei Informationen darüber, was diesen Amtswechsel veranlasst hat und wann seine Tätigkeit als Deportationsbeamter im Lager Meskene beendet wurde. In Bezug auf die Ablösung als Deportationsbeamter schreibt er, er sei abgelöst worden, da er die von ihm verlangten Deportationen doch nicht durchgeführt hatte. In dem Teil seiner Memoiren, der von Andonian veröffentlicht wurde, schreibt er: »Ich blieb zwei Monate dort. Ich habe nur eine Deportation von Umsiedlern durchgeführt. Es waren nicht mal dreißig Leute, die ich verschickt hatte«. Andonian unterstützt diese Behauptung weitgehend und schreibt: »Da er kein böser Mensch war, eignete sich Naim Bey nicht für diese Aufgabe. Er arrangierte ein paar Deportationen nach Deyr-i Zor als Schau sozusagen, aber schon bald verloren sie das Vertrauen in ihn und er wurde zurückberufen, weil er es nicht geschafft hatte, das Lager leer zu räumen«.81 Das schon erwähnte Telegramm von Gouverneur Mustafa Abdülhalik (11. Juli 1916) und die durchgeführte offizielle Ermittlung weisen darauf hin, dass Naims Schilderungen zum Chaos während der Deportationen aus Meskene durchaus der Wahrheit entsprechen. Der deutsche Konsul in Aleppo, Rössler, bestätigt in seinem Brief an Lepsius, den er im Zusammenhang mit Andonians Buch und dem Tehlirian-Verfahren in Berlin schrieb, die Ausführungen armenischer Journalisten über die Zustände im Lager Meskene: »Viele mir bekannte einzelne Züge sind unbedingt zutreffend geschildert, andere mir bis dahin nicht bekannte geben die Erklärung für Erscheinungen, die ich beobachtet habe und mir damals nicht erklären konnte. Das trifft zum Beispiel auf die Tatsache zu, dass von Meskene aus eine Zeit lang eine Menge Armenier nach Aleppo zurückkehrten. Die Erklärung wird jetzt von dem Verfasser durchaus glaubwürdig auf 80 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 102; Anhang 1-B. 81 Ebd., S. 7, S. 105.

79 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

Seite 13 des Buches dahingehend gegeben, dass Naim Bey ebenso wie der Mudır (Leiter) von Meskene, Hussein (Hüseyin) Bey, die ihm erteilten grausamen Befehle nicht ausführte«.82

Ein weiterer Hinweis, der Naims Beobachtungen unterstützt, ist der von Hakkı Bey, dem stellvertretenden Leiter der Deportationen in Aleppo. Hakkı Bey, der am 8. August 1916 von Aleppo nach Meskene beordert worden war, um den Beschwerden bezüglich der Deportations- und Korruptionsprobleme nachzugehen und einen Bericht darüber zu erstellen, sagte am 23. November 1916 im Rahmen der Ermittlungen des Oberstleutnants Galip aus: »Mir wurde der Auftrag erteilt, die zahlreichen Berichte aus dem Deportationsbüro in Meskene an den Gouverneur [von Aleppo] im Hinblick darauf zu untersuchen, warum die Deportationen aus Meskene nicht planmäßig verlaufen waren. Die Untersuchung der Angelegenheit wurde sofort eingeleitet, indem ich nach Meskene ging und das Deportationsbüro dort aufsuchte. Es wurde festgestellt, dass Deportationen [von dort] – wie auch gemeldet – nicht regelmäßig und nicht geordnet durchgeführt wurden, dass Bestechungsgelder sowohl auf dem Marktplatz als auch von den Kutschern erhalten wurden […] und dass unter dem Vorwand, Handwerker zu sein, sehr viele armenische Umsiedler nicht [weiter] deportiert wurden«.83

Der Aussage von Hakkı Bey ist zu entnehmen, dass Naims Entlassung als Deportationsbeamter am Lager Meskene vermutlich mit den erhaltenen Bestechungsgeldern und der Tatsache zusammenhing, dass die Deportationen aus Meskene völlig zum Erliegen gekommen waren. Auch Andonian schrieb in seinen im Buch nicht veröffentlichten Notizen über die Lager um Aleppo, dass Naim verhört wurde, weil er einigen armenischen Familien erlaubt hatte, aus Meskene zu fliehen und dafür Schmiergelder angenommen hatte. Aber als er befragt wurde, schützte er Andonian und andere Armenier und gab seinen Fragestellern keinen einzigen Namen preis, obwohl er dazu aufgefordert wurde. »Naim Sefa Bey wurde von Meskene nach Aleppo bestellt und diesen Familien [die aus dem Lager geflohen waren] gegenübergestellt. Er wurde gefragt, ob er sie kenne oder nicht, oder ob er ihnen während seiner Zeit in Meskene begegnet ist. Naim Bey schwor (in solchen Gesprächen benutzte er häufig den Ausdruck ›Vallahi‹ – bei Gott [ich schwöre]), dass dies das erste Mal ist, dass er sie sehe. Obwohl Naim Bey sich auf diese Weise ahnungslos stellte, musste er kurz darauf seinen Posten räumen«.84 82 Siehe Anhang 4: Brief von Konsul W. Rössler an Dr. Lepsius vom 15.04.1921. 83 Genelkurmay Başkanlığı: Ermeni Faaliyetleri, Bd. 7, a.a.O., S. 99. 84 Kévorkian, Soykırımın İkinci Safhası, a.a.O., S. 235. Andonian schreibt sowohl in seiner veröffentlichten Arbeit als auch in seinen unveröffentlichten

80 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE ORTE, AN DENEN NAIM EFENDI STATIONIERT WAR

Ob eine weitere Untersuchung durchgeführt wurde, die dazu führte, dass Naim von seiner Position entfernt wurde, oder ob dies irgendwie mit den Untersuchungen von Oberstleutnant Galip in Verbindung stand, werden wir wahrscheinlich nie mit Sicherheit erfahren. Aus den Unterlagen des Generalstabs der türkischen Streitkräfte geht hervor, dass Naim zum Zeitpunkt der Galip-Ermittlungen nicht mehr in seiner früheren Funktion tätig war. In dieser Zeit war er in Aleppo und wurde als Zeuge geladen. Daher ist es durchaus möglich, dass er im Zusammenhang mit einer anderen Untersuchung aus seiner Position entlassen wurde. Ein Telegramm von Talat Pascha an den Distriktgouverneur von Urfa, Fethi Bey, vom 5. Juli 1916 zeigt, dass sich die Ermittlungen und die damit verbundenen Amtsenthebungen während des gesamten Sommers fortsetzten. Hier erwähnt Talat eine Ermittlung, »die wegen Amtsmissbrauchs und Bestechlichkeit im Zusammenhang mit der Umsiedlung und Versorgung der Deportierten durchgeführt wird«, und teilt dem Distriktgouverneur mit, dass bestimmte Beamte »im Unterbezirk Rakka von ihren Positionen entfernt wurden, nachdem diese Untersuchungen dies als notwendig erwiesen haben«.85 Aus dem Schriftwechsel im Zusammenhang mit den Ermittlungen geht hervor, dass die Ermittlungen über die Korruption und Unregelmäßigkeiten in Rakka bereits im März 1916 begonnen hatten.86 Am 19. Juli 1916 schickte Innenminister Talat eine Depesche nach Aleppo, in der er die Entlassung derjenigen Beamten forderte, die ihre Stellung aus Gewinnsucht missbrauchten.87 Der gesamten Korrespondenz ist zu entnehmen, dass es im Frühjahr und Sommer 1916 einer großen Zahl von Armeniern gelungen ist, aus den Orten zu fliehen, in die sie durch die Zahlung von Bestechungsgeldern abgeschoben worden waren, und daher Untersuchungen eingeleitet wurden. Es kann sein, dass Naim nach Aleppo berufen und als Ergebnis dieser Vorgänge gekündigt wurde. In seinen Notizen aus Meskene gibt Andonian detaillierte Informationen über seine Begegnung mit Naim. Wir wissen nicht, in welchem Monat Andonian in Meskene ankam. Der Autor nennt dazu kein Datum. In Rita Kuyumjians Biografie von Andonian schreibt sie, dass es »wahrscheinlich [im] Februar 1916« war. Andonian schreibt: »Nach meiner Ankunft in Meskene kamen zwei weitere Personen, die dort als Notizen, dass Naim aus seiner Position als Beamter entlassen wurde. ­Vahakn N. Dadrian schreibt dagegen, dass Naim seine Stelle behalten hat. Dadrian: Naim-Andonian Documents, a.a.O., S. 346. 85 BOA.DH.EUM.6.Şb. 8/24-01: Chiffriertes Telegramm vom 5. Juli 1916, Innenminister Talat an den Distriktgouverneur von Urfa. 86 BOA.DH.EUM.6.Şb. 8/24. Die gesamte Korrespondenz befindet sich in dieser Akte. 87 BOA.DH.ŞFR., 66/24: Chiffriertes Telegramm vom 16. Juli 1916, Innenminister Talat an den Provinzgouverneur von Aleppo.

81 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

Führungsbeamte eingesetzt wurden«. Eine davon war Naim Efendi. Laut Andonian war Naim eine Person, »die sich bei den Deportierten einen guten Ruf erworben hatte. […] Er war ein Trinker und ein eingefleischter Spieler, und da er ständig Geld brauchte, liebte er es, Bestechungsgelder anzunehmen. Er war derjenige, der die Deportierten darüber informieren konnte, dass es für Familien, die bereit waren, finanzielle Opfer zu bringen, nicht unmöglich war, nach Aleppo zu fliehen. Und es war ihm zu verdanken, dass viele wohlhabende Familien, die meisten von ihnen aus Adana und Konya, Meskene verlassen und nach Aleppo gehen konnten«.88 Andonian blieb fünf Monate im Lager. Ende Juni 1916 verließ er Meskene gen Aleppo.89 Krikor Ankut, der seine Erinnerungen an seine Zeit in Meskene festhielt, schreibt, dass er, nachdem er am 9. Juni einen Brief von Andonian erhalten hatte, nach Meskene ging und ihn dort traf.90 In Meskene blieb Andonian im Zelt der Boyajian, einer Familie aus Kon­ ya, und solange er dort war, benutzte er sogar ihren Familiennamen.91 Es ist wahrscheinlich, dass er im Mai mit Naim die Reise von 16 wohlhabenden armenischen Familien aus dem Lager nach Aleppo ausgehandelt hatte.92 In seinen persönlichen Notizen über Meskene schreibt Andonian über seine Bekanntschaft mit Naim und was danach geschah: »Naim […] kam zum Mittagessen in das Zelt einer der Familien aus Adana, und als nach dem Essen der Kaffee kam, teilte er ihnen in 88 Kévorkian: Soykırımın İkinci Safhası, a.a.O., S. 234. 89 Kuyumjian, Rita Soulahian: The Survivor: Biography of Aram Andonian, London 2010, Fußnoten S. 26, S. 86. 90 Kévorkian: Soykırımın İkinci Safhası, a.a.O., S. 269. 91 Ebd., S. 241. 92 Während Andonian mit Naim Efendi verhandelte, unternahm Salih Zeki, der zum Distriktgouverneur von Deyr-i Zor ernannt worden war, diverse Kontrollfahrten in die Umgebung von Aleppo und Meskene. Salih Zeki wurde am 26. April 1916 ernannt, und seine Ernennung wurde drei Tage später bestätigt (BOA.BEO., 4410-330741-01-01-01: Schriftliche Mitteilung vom 29. April 1916, Kanzlei des Großwesirs). So erscheint es durchaus sinnvoll, dass die hier geschilderten Ereignisse in der zweiten Maihälfte oder Anfang Juni stattfanden. In einem Bericht über das Baron Hotel in Aleppo, den Major Azmi am 20. Juni 1916 nach Istanbul schickte, meldete er, dass er Anfang Juni mit Salih Zeki in das genannte Hotel ging (BOA.DH.EUM. 2. Şube, 26/9: Bericht aus Aleppo vom 20. Juni 1916, von Major Azmi). Der armenische Überlebende, M. Aghazaryan, der während der Monate, in denen er in Deyr-i Zor war, ein Tagebuch führte, gibt den 18. Juni 1916 in seinem Tagebuch als Datum an, an dem Salih Zeki zu Deyr-i Zor kam (Aghazaryan, M.: Aksoragani Husher [Armenisch. Erinnerungen eines Deportierten], Adana 1919, S.13.

82 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE ORTE, AN DENEN NAIM EFENDI STATIONIERT WAR

stumpfer und schonungsloser Sprache mit, dass alle Armenier, die nach Süden reisten [nach Deyr-i Zor], getötet würden, und dass die beste Lösung darin bestünde, hier noch ein wenig länger zu warten und einen Weg zu finden, um bei der ersten Gelegenheit nach Aleppo zu fliehen, und dass seiner Meinung nach dieser Aktionsplan durchaus möglich erschien«.93

Weder die Familien noch Andonian vertrauten Naim, aber sie hatten keine andere Wahl.94 Am Ende bereitete Naim einen Fluchtplan vor und bat Andonian, nach Aleppo zu gehen, um dort einen arabischen Kutscher namens Nakhli zu treffen. Andonian bat um eine detaillierte Angabe sowohl über den Weg, den er gehen sollte, als auch über die Dinge, auf die er unterwegs achten musste. Nach einem vier- bis fünftägigen Marsch kam Andonian in Aleppo an und fand den genannten Wagenführer. Am Ende war die Flucht erfolgreich: »Später wurden in Aleppo einige Personen aus diesen Familien als Flüchtige aus Meskene erkannt und verhaftet. Ich wurde auch verhaftet, aber sie haben mich dank einer Bescheinigung, die mir Freunde besorgt hatten, sofort freigelassen. Man konfrontierte Naim Bey, der inzwischen auch nach Aleppo zurückgekehrt war, mit den Verhafteten. Naim Bey schwor bei seiner Ehre, dass er diese Personen in Meskene nie gesehen hätte, was ihre Freilassung ermöglichte. Der Kutscher Nakhli, auch er wurde nach einer Denunziation verhaftet, leugnete energisch alles, wie es die Araber gut können. Sie hielten den Kutscher monatelang im Gefängnis, aber er hat niemanden denunziert«.95

Die Beziehung zwischen Andonian und Naim dauerte über dieses Ereignis hinaus an. Naim erpresste die armenischen Familien nicht, denen er zur Flucht geholfen hatte. Er bat einfach um mehr Geld: »Die Beträge, die Naim Bey verlangte, waren sehr klein«.96 In der Folge entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis zwischen Andonian und Naim, das im 93 Kévorkian, Soykırımın İkinci Safhası, a.a.O., S. 269. 94 Tatsächlich waren die Familien zunächst dafür, den Bezirkshauptmann von Deyr-i Zor, Salih Zeki, zu bestechen, um dann nach Deyr-i Zor zu gehen. Zeki stimmte dem zu und nahm die Bestechung an, schlug den Familien aber vor, dass sie nicht in seiner Begleitung dorthin gehen, sondern erst nach seiner Ankunft dort nach Deyr-i Zor kommen sollten. Doch Andonians Bekanntschaft mit Salih Zeki änderte all diese Pläne. Zeki kannte Andonian aus seiner Jugend und informierte Andonian über die Massaker und warnte ihn: »Sei vorsichtig, dass du nicht nach Deyr-i Zor kommst«. Andonian erklärte den Familien [die Situation] und überzeugte sie, sich stattdessen für Aleppo zu entscheiden, indem er Naim bestach. Für Andonians Begegnung mit Salih Zeki siehe ebd., S. 239–245. 95 Siehe Anhang 3: Aram Andonians Brief an Maria Terzian vom 28.07.1937. 96 Ebd.

83 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

November 1918 dazu führte, dass Andonian Naims bereits erwähnte Memoiren und dazugehörigen Dokumente kaufte. Als letzter Punkt soll hier erwähnt werden, dass die Übereinstimmung der veröffentlichten Informationen Andonians mit den Angaben in den vom türkischen Generalstab veröffentlichten Untersuchungsunterlagen nicht nur auf Fragen der Korruption und der Flucht armenischer Deportierter nach Aleppo beschränkt ist. Zum Beispiel geben Oberst Galip und seine Freunde während ihres Verhörs reichlich Auskunft über die Ermordung einer armenischen Familie namens Sofyan und den Verkauf ihres Eigentums auf dem Marktplatz. Sowohl Andonian als auch Krikor Ankut berichten in ihren Notizen über dieses Ereignis.97

Die Rolle von Naim Efendis Persönlichkeit und Charakter Aram Andonian zeichnet ein sehr positives Bild von Naim, sowohl in seinem Buch als auch in dem langen Brief, den er am 10. Juni 1921 an den Anwalt von Soghomon Tehlirian anlässlich dessen Prozesses wegen der Ermordung von Talat Pascha schrieb (siehe Anhang 5). In seinem Buch beschreibt er Naim als »die Stimme des Gewissens«. In beiden Fällen verdreht Andonian die Wahrheit und leugnet, dass Naim Efendi Bestechungsgelder von den Deportierten wegen ihrer Flucht aus Meskene erhalten hatte: »Als wir in Aleppo erneut mit falschen Namen verhaftet wurden, stand die Regierung mit leeren Händen da und versuchte, zu beweisen, dass wir aus Meskene geflohen wären. Naim Beys Aussage war in dieser Hinsicht außerordentlich wichtig gewesen, er hat uns nicht ausgeliefert, und er hat nichts für sein Schweigen verlangt. Die Wahrheit ist, er hätte von diesen wohlhabenden Familien alles bekommen können, was er wollte, denn wenn sie ein zweites Mal in diesen Müllhaufen geworfen worden wären, hätte dies ihr Todesurteil bedeutet, ein Entkommen wäre nicht mehr möglich gewesen«.98

Ebenso nennt Andonian in seinem Brief an Tehlirians Anwälte Naim Efendi »einen durch und durch anständigen, harmlosen Mann«. In seinen Notizen von 1918 allerdings beschreibt Andonian Naim als einen, der viel trinkt, spielsüchtig ist und nach der gelungenen Flucht nach Aleppo weiterhin um Geld bat. Jahre später, in seinem Brief an Mary Terzian (28. Juli 1937), gibt Andonian zu, dass der Naim Efendi, den er in seinem Buch und in dem Brief 97 Genelkurmay Başkanlığı: Ermeni Faaliyetleri, Bd. 7, a.a.O., S. 69–140; Kévorkian, Soykırımın İkinci Safhası, a.a.O., S. 257ff.; S. 267ff. 98 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 8.

84 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE ROLLE VON NAIM EFENDIS PERSÖNLICHKEIT UND CHARAKTER

an Tehlirians Anwälte beschrieben hatte, nicht dem entspricht, was Naim Efendi eigentlich war. Er schreibt an Terzian: »Ich schreibe das alles streng vertraulich, nur um Ihre Neugier zu befriedigen. Ich habe in meinem Buch ein ganz anderes Bild von Naim Bey entworfen, denn die Wiedergabe der tatsächlichen Wahrheit über seine Person würde niemandem nutzen. Naim Bey war ein völlig unmoralisches Wesen«.

Weiter im vertraulichen Schreiben Andonians an Frau Terzian: »In einer Notiz, die ich an Tehlirians Anwälte in Berlin geschickt hatte und von der Sie jetzt mit diesem Brief eine Kopie erhalten, werden Sie die Beschreibung der Umstände finden, unter denen wir die in meinem Buch wiedergegebenen Dokumente beschaffen konnten. Diese Beschreibung ist allerdings nicht ganz vollständig. Es gab Dinge, die ich weder in meinem Buch veröffentlichen noch an Tehlirians Anwälte weitergeben konnte, um die Person von Naim Bey nicht zu diskreditieren«.99

Warum hat Andonian seine wahre Einschätzung von Naim Efendi verheimlicht? Aus dem eben zitierten Schreiben können wir ersehen, dass die Hauptsorge Andonians nicht darin bestand, ob Naim ein Beamter mit Lastern, dem Alkohol und dem Glücksspiel verfallen war, sondern, ob dann die von einer solchen Person übermittelten Informationen als zuverlässig gelten würden. Laut Andonian war Naim »keine auffällige Ausnahme unter dem Verwaltungspersonal in der Stadt Aleppo, dem auch einige echte Gauner angehörten. Im Vergleich dazu könnte Naim Bey als Heiliger gelten«.100 Andonian liegt hier nicht falsch. Der schon erwähnte Bericht über Aleppos Baron Hotel (wo sich auch Andonian versteckte), den Major Azmi am 20. Juni 1916 nach Istanbul schickte, enthält folgende Informationen über osmanische Bürokraten in Aleppo: »Sie können mit bestem Gewissen davon ausgehen, dass bis auf den Gouverneur alle relevanten Beteiligten in Aleppo erstaunliche Geldbeträge akzeptieren. Das mag für Sie schwer zu glauben sein, aber es ist leider so. Jedes einzelne Individuum stiehlt, als sei es eine ganz natürliche Sache. Alle, angefangen von denen, denen wir das größte Vertrauen entgegengebrachten, bis hin zu denjenigen, die wir nicht mal kennen. Es besteht nicht die Notwendigkeit, irgendwelche Namen besonders hervorzuheben«.101

Nicht nur Korruption, sondern auch Alkoholsucht und Glücksspiel waren unter den Bürokraten weitverbreitet. Talat Pascha, der viele Gerüchte über das Baron Hotel gehört hatte, sandte am 22. Juli 1916 ein Telegramm an den Gouverneur von Aleppo, in dem er schrieb: »Es wird berichtet, dass 99 Siehe Anhang 3: Aram Andonians Brief an Maria Terzian vom 28.07.1937. 100 Ebd. 101 BOA.DH.EUM 2. Şube, 26/9: Bericht von Major Azmi aus Aleppo vom 20. Juni 1916.

85 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 3: DIE HISTORIE UND AUTHENTIZITÄT

ein ausländischer Armenier namens Baron, der in Aleppo ein gleichnamiges Hotel betreibt, sein Hotel nicht als eine Herberge für Reisende benutzt, sondern vielmehr als eine Spielhölle. Ebenso soll diese Person für die Freuden der ortsansässigen, aber auch der auswärtigen Beamten sorgen. Außerdem soll diese Person diesen Beamten zum Ausgleich ihrer Spielschulden viel Geld leihen, und damit den Einfluss der Provinzverwaltung für die Realisierung seiner Wünsche kaufen und dabei sehr erfolgreich sein«. Talat verlangt dann eine Liste mit den Namen solcher Beamten, die durch Trinken und Spielen unter den Einfluss des Hotelbesitzers geraten sind.102 Aleppos Gouverneur Mustafa Abdülhalik bestätigt auf Anfrage des Innenministers, dass »die Berichte über Baron zutreffend sind«, und fügt hinzu: »Baron ist bekannt dafür, dass er das Vertrauen derjenigen in hohen Positionen gewinnt, und bekannt auch dafür, dass er diejenigen in niedrigen Positionen beherrscht. Um dieser Unterstützung und Kon­ trolle Willen greift er zu allen Mitteln; er spielt oft im eigenen Hotel mit und er versucht, sicherzustellen, dass auch diejenigen in höheren Positionen sich am Glücksspiel beteiligen. […] Jeder Beamte, der Frauen und Glücksspiel nicht widerstehen kann, ist letztendlich dazu verdammt, Barons Freund zu werden«.103 Wenn das Problem für Andonian nicht darin bestand, dass Naim jemand war, der Bestechungsgelder annahm, ein Betrunkener oder ein Spieler war, warum hat er sich dennoch entschieden, die Wahrheit zu verschweigen? Um dies zu erklären, müssen wir die Zeilen genauer lesen, die er zu der Person Naim geschrieben hat: »Ich habe in meinem Buch ein ganz anderes Bild von Naim Bey entworfen, denn die Wiedergabe der tatsächlichen Wahrheit über seine Person würde niemandem nutzen. Naim Bey war ein völlig unmoralisches Wesen. Er hatte Laster, weswegen er dazu neigte, für Geld vieles zu tun, aber eben nicht alles. Dieser Unterschied ist von Bedeutung. Ich kann nicht vergessen, dass er im Laufe unserer langen Beziehung nie gelogen hat. Mit einem Wort, sein Charakter bestand aus völlig widersprüchlichen Eigenschaften, sowohl guten als auch schlechten. Aus dem, was ich geschrieben habe, können Sie ersehen, dass wir von den guten profitieren konnten, ohne von den schlechten behelligt zu werden. Ich denke ständig und immer mit einer Art von Sympathie an ihn, die selbst nach einer solch langen Zeit kaum nachgelassen hat. Es liegt auch daran, dass ich in meiner Beziehung zu ihm oft meinen Kopf riskiert habe – eine gefährliche Übung, aber meinem abenteuerlichen Geist entsprechend – und er mich nie verraten hat«.104 102 BOA.DH.ŞFR., 66/56: Chiffriertes Telegramm vom 22. Juli 1916, Innenminister Talat an den Provinzgouverneur von Aleppo. 103 BOA.DH.EUM., 2.Şb. 26/9-7: Chiffriertes Telegramm vom 26. Juli 1916, Provinzgouverneur in Aleppo, Mustafa Abdülhalik, an das Innenministerium. 104 Siehe Anhang 3: Aram Andonians Brief an Maria Terzian vom 28.07.1937.

86 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE ROLLE VON NAIM EFENDIS PERSÖNLICHKEIT UND CHARAKTER

Aus diesen Gründen vertraute Andonian Naim: »Aber der Kern seines Wesens war gut. Trotz des zerstörerischen Umfeldes, dem er auch ausgesetzt war, strahlte er völlige Vertrauenswürdigkeit aus. Wir konnten uns immer auf ihn verlassen«.105 Aus diesen Schriften entnehmen wir, dass das grundlegende Problem für Andonian nicht Naims Trinken oder seine Bestechlichkeit war. Problematisch für ihn war vielmehr, dass Naim »für uns ein Spion war, der sein Land verriet«. Seine Vorlieben als »Trinker und eingefleischter Spieler […] waren seine Laster« und diese führten ihn zum »Verrat«.106 Andonian dachte, dass jede Information, die von einer Person stammte, die ihr eigenes Land verraten hatte, nicht als verlässlich akzeptiert werden konnte, und daher hat Andonian seine wahre Meinung über Naim so lange verschwiegen. Naims Begierde nach Glücksspiel und Alkohol, Andonians Unehrlichkeit in seinen Schriften gegenüber Naim, das sind die Grundlage für Orels und Yucas Argument, dass die von ihm vorgelegten Dokumente nicht als zuverlässig angesehen werden dürfen. Viele Historiker und Schriftsteller sind inzwischen diesem Muster gefolgt und haben Naims Charakterfehler als wichtigsten Beweis für den Mangel an Glaubwürdigkeit der Dokumente herangezogen. Orel und Yuca erklärten die Gründe für Andonians Verhalten folgendermaßen: »Die plausibelste Antwort, die uns sofort entgegenkam, ist, dass die Persönlichkeit von Naim Efendi unweigerlich Zweifel an seinen »Memoiren« und den »Dokumenten« aufkommen lässt. Andonian muss sicherlich gewusst haben, dass die Memoiren eines Alkoholikers und eines Spielers nicht ohne Vorbehalte Anerkennung finden würden«.107 Die Frage nach der Verlässlichkeit der Informationen, die in den Memoiren eines korrupten Trinkers oder in von ihm zur Verfügung gestellten Dokumenten enthalten sind, ist naturgemäß umstritten und gibt letztlich Raum für Vermutungen. Nach der Logik der Autoren könnte man auch behaupten, in Aleppo keinen einzigen Beamten gefunden zu haben, der zuverlässig Auskunft geben könnte. Es ist schmerzhaft klar, dass die Memoiren und Dokumente von Personen mit solchen Merkmalen ebenso authentisch wie falsch sein können. Ebenso ist es möglich, dass es nicht um alles oder nichts geht, sondern dass ein Teil des genannten Materials authentisch und ein Teil falsch ist. Zum Glück haben wir über die einfache Frage der Persönlichkeit von Naim Efendi hin­ aus andere Mittel, die uns zeigen werden, ob das fragliche Material authentisch ist.

105 Ebd. 106 Ebd. 107 Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 8 ff.

87 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Kapitel 4: Sind die Dokumente Falsifikate, wenn die Memoiren gefälscht sind? Die Behauptung, dass die Telegramme, die Talat Pascha zugeschrieben werden, Fälschungen seien, basiert in erster Linie auf der Prämisse, dass es keinen osmanischen Beamten namens Naim Efendi gab; und da eine solche Person nie existiert hat, kann sie keine Memoiren geschrieben und dem Journalisten Andonian keine Dokumente geliefert haben. Die Memoiren seien daher das Produkt von Aram Andonian. Diese Prämisse ist falsch. Es gab in der Tat einen osmanischen Beamten namens Naim, und die vorhandenen Memoiren stammen aus dessen Feder. Andonian hat sie nicht selbst erschaffen oder kreiert. Gleichwohl entschied er sich, nicht alle Dokumente zu veröffentlichen, die er von Naim Efendi bekommen hatte. Es gibt eine weitere Frage, die bis jetzt unbeantwortet blieb: Ist es möglich, dass Naim die Memoiren und die Begleitdokumente selbst angefertigt hat? In dem Wissen, dass die Armenier unermüdlich nach dokumentarischen Beweisen für die Massaker suchten: Könnte Naim, der chronisch zahlungsunfähig war, sie »nach Maß gestrickt« geliefert haben, um Geld zu verdienen? Orel und Yuca fassen ihre Beweisführung, dass die von Naim bereitgestellten Dokumente Fälschungen seien, in zwölf Punkten zusammen.1 Acht von diesen zwölf Punkten beziehen sich direkt auf die Frage der Authentizität; sie lauten: Erstens, die Unterschriften auf den amtlichen Unterlagen sind gefälscht; zweitens und drittens, es gibt schwerwiegende Fehler im Zusammenhang mit den Datumsangaben auf den Dokumenten; viertens, die Datumsangaben und die Registernummern auf den Akten sind fehlerhaft; fünftens, die verschlüsselten Telegramme, die sich aus Zifferngruppen zusammensetzen, entsprechen nicht den echten Verschlüsselungsmethoden; sechstens, die »Bismillah«-Markierungen auf den Dokumenten sind falsch; siebtens, Ausdrücke und Bezeichnungen, die in den Dokumenten zu lesen sind, wurden im Osmanischen nicht benutzt; achtens, das Papier, auf dem diese Dokumente geschrieben sind, wurde in der osmanischen Bürokratie nicht verwendet. Jede dieser Behauptungen ist in Bezug auf die Beweisführung relevant und soll gesondert erörtert werden; aber die unter viertens und fünftens aufgestellten Thesen sind als entscheidend einzustufen.

1 Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 129f.

88 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Das Registerbuch des Chiffrierbüros im Innenministerium Zu Punkt vier – die auf Naims Dokumenten gefundenen Datumsangaben und Registernummern stimmen nicht mit bestehenden Dokumenten im Osmanischen Archiv überein – verweisen Orel und Yuca auf mehrere Seiten aus den Registerbüchern mit den Vermerken der ein- und ausgehenden Depeschen des Innenministeriums, auf denen die vom Innenministerium nach Aleppo gesendeten Chiffriertelegramme registriert sein sollen.2 Die Datumsangaben und Eintragungsnummern der Dokumente auf den Seiten dieser Registerbücher unterscheiden sich von Datumsangaben und Vorgangsnummern auf von Naim erstellten Dokumenten. Letztere scheinen also in den Registerbüchern nicht erfasst worden zu sein. Die Autoren leiten daraus ab, dass die von Naim zur Verfügung gestellten Dokumente Fälschungen sind. Bemerkenswert ist: Die von den beiden Autoren erwähnten Registerbücher in den Archiven stehen anderen Historikern nicht zur Verfügung. Wir sind mit der merkwürdigen Konstellation konfrontiert, dass nicht nur die besagten Registereinträge den Forschern verborgen bleiben, sondern ebenfalls die Eintragungsnummern und Datumsangaben einiger der in diesen »verborgenen« Registern gefundenen Dokumente, die von Orel und Yuca als Beweismittel verwendet werden. Wenn Wissenschaftler keinen Zugang zu den betreffenden Registervermerken haben, sind die Behauptungen von Orel und Yuca nicht nachprüfbar und dadurch wenig überzeugend. Diejenigen, die ihre Argumente auf die Registratur des osmanischen Innenministeriums für eingehende und ausgehende Telegramme stützen, müssen sich in erster Linie dafür einsetzen und sicherstellen, dass diese Registereinträge für alle Historiker zugänglich sind. Ein weiterer nennenswerter Punkt ist die Tatsache, dass Telegramme nach Aleppo nicht immer aus dem Innenministerium verschickt wurden. Viele Quellen bestätigen, dass Innenminister Talat, der früher Postbeamter war, eine Telegrafenleitung in sein Privathaus verlegen ließ und sie wie aus einem Telegrafenamt benutzte. Talat kommunizierte direkt mit den Provinzen und wurde über diese Leitung über die Geschehnisse dort ständig informiert. Dazu schreibt der damalige Außenminister Halil Menteşe in seinen Memoiren: »Eines frühen Morgens ging ich zu dem Wohnhaus von Talat in Istanbul-Yerebatan. […] Etwas an ihm sah sonderbar aus. Seine schwarzen Augen waren blutunterlaufen«. 2 Beispiele zu den Registervermerken der ausgehenden verschlüsselten Telegramme (Şifre Telegraf Giden Defter), siehe ebd., S. 49, S. 58, S. 61, S. 62, S. 67–71, S. 75, S. 76.

89 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

»›Gütiger Gott, Talat, was ist passiert? Du siehst ziemlich schlecht aus‹, fragte ich ihn. ›Frag nicht‹, antwortete er. ›Ich erhielt ein paar Telegramme von Tahsin [Gouverneur in Erzurum] wegen der Armenier, und die haben mir den letzten Nerv geraubt. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen‹«.3

Der amerikanische Botschafter Henry Morgenthau berichtet Ähnliches. Eines Tages, als er zum Haus des Innenministers ging, um ihn in irgendeiner Angelegenheit um Hilfe zu bitten, habe Talat zu ihm gesagt: »›Ich werde dir helfen‹, und er ›drehte sich zu seinem Tisch um und begann mit der Arbeit an seinem Telegrafenapparat‹. Morgenthau weiter: ›Ich werde das Bild nie vergessen: Dieser riesige Türke, der dort in seinem grauen Pyjama und mit seinem roten Fes saß, fleißig an seinem eigenen Telegrafenapparat arbeitete, seine junge Frau, die ihn durch ein kleines Fenster anstarrte, und die Sonne, die am späten Nachmittag in den Raum strömte. […] Eine Nachricht, die Talat in diesem Moment über die Leitung erhielt, hat mein Anliegen fast ruiniert. Nach langem Klopfen an seinem Instrument, in dessen Verlauf Talats Gesicht seinen Scharfsinn verlor und fast wild wurde‹«.4

Morgenthau schreibt, dass sein über zweistündiges Gespräch mit Talat ständig durch eingehende Telegramme unterbrochen wurde.5 Wir verlassen uns nicht nur auf die Erinnerungen externer Beobachter. Die Aussage von Talats Ehefrau, Hayriye Hanım, bestätigt, was Menteşe und Morgenthau erlebten. In einem Interview im Jahr 1982 erzählt sie, dass es in ihrem Haus eine »Telegrafie-Maschine« gab, die Talat benutzte. Auf eine weitere Frage antwortet sie: »Natürlich hat er sie benutzt. Er schickte allen Gouverneuren Befehle«.6 Wo hat Talat seine Telegramme registriert, die er von seinem Haus aus gesendet hatte? Welche Registernummern des Innenministeriums erhielten diese telegrafischen Befehle? Wir werden nie in der Lage sein, diese Fragen zu beantworten.

Chiffrierte Telegramme und die Codes Die wichtigste Behauptung von Orel und Yuca zur Authentizität der Naim ausgehändigten Telegramme ist, dass die Codes auf den Telegrammen, 3 Menteşe, Halil: Osmanlı Mebusan Meclisi Reisi Halil Menteşe´nin Anıları [Türkisch. Erinnerungen des Osmanischen Parlamentspräsidenten Halil Menteşe], Istanbul 1986, S. 216. 4 Morgenthau, Henry: Ambassador Morgenthau’s Story, Garden City NY 1918, S. 143f. 5 Ebd., S. 145. 6 Bardakçı, Murat: Talat Paşa’nın Evrakı Metrukesi [Türkisch. Nachlass von Talat Pascha], Istanbul 2008, S. 211.

90 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

CHIFFRIERTE TELEGRAMME UND DIE CODES

die aus Zifferngruppen bestehen, falsch seien. Insgesamt stellte Naim dem Journalisten Aram Andonian sieben verschlüsselte telegrafische Depeschen zur Verfügung, fünf mit zweistelligen und zwei mit dreistelligen Zifferngruppen codiert. Diese sind in chronologischer Reihenfolge: 1) 29. September 1915 [dreistellig]; 2) 9. Dezember 1915 [zweistellig];7 3) 26. Dezember 1915 [zweistellig]; 4) 20. März 1916 [dreistellig]; 5) 20. März 1916 [zweistellig]; 6) 23. Januar 1917 [zweistellig]; 7) 1. März 1917 [zweistellig].8 Orel und Yuca behaupten, dass diese Zifferncodes, sowohl die zweistelligen als auch die dreistelligen, von Andonian erfunden seien. Dokumente, die »Andonian als verschlüsselte Depeschen angeboten wurden, die aus Zifferngruppen bestanden, in der Hoffnung, dass sie dadurch als authentisch erscheinen mögen. Sie haben nichts mit den in dieser Zeit verwendeten Codierungstechniken zu tun«.9 Die Autoren führen zwei Argumente an, um ihre Behauptung zu untermauern. Das erste ist, dass jede Codierung nur für eine kurze Zeitspanne zur Anwendung kam. Nach ihren Angaben hat dieser Zeitraum niemals sechs Monate überschritten, denn es sei unvorstellbar, dass »die gleiche Codierung während des Krieges ohne Änderungen benutzt wurde«.10 Sie geben keinerlei Erklärungen ab, wann diese Zeiträume anfingen und endeten.11 Als Beweis dafür, dass Naim (oder Andonian) die Verschlüsselungstechniken der Periode nicht kannte, wird auf die Zeitspanne zwischen den 7

Andonian hat die Fotografie dieses verschlüsselten Telegramms in seinen Büchern nicht verwendet. Das Dokument wurde von Krikor Guerguerian (Krieger [d.i. Krikor Guerguerian]: Aram Andoniani Hradaragadz Turk Bashdonagan Vaverakrere) veröffentlicht. Die Übersetzung des Dokumentes befindet sich auf demselben Blatt Papier unterhalb der Zifferngruppen und lautet: »Im Waisenhaus sind etwa 400 Kinder, die getrennt von den Marschkolonnen in die Umsiedlungsgebiete verschickt werden«. Der Text des entschlüsselten Telegramms ist in der Version von Naims Memoiren zu finden, die von Andonian veröffentlicht wurden (und die wir nicht mehr besitzen). Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 183, S. 185. 8 Dieses Telegramm bezieht sich auf die Ermordung des armenischen Abgeordneten Zohrab und wurde von Andonian nicht verwendet. Die osmanische Datumsangabe auf dem Dokument ist der 17. Februar 1332, was nicht stimmen kann. Es gab einen Unterschied von 13 Tagen zwischen dem osmanischen Rumi-Kalender und dem Gregorianischen Kalender. Um diese 13-tägige Differenz zu vermeiden, beschloss die osmanische Regierung, die Tage zwischen dem 16. Februar 1332 und dem 1. März 1333 (dem ersten Tag des neuen Jahres nach dem osmanischen Kalender) zu streichen. Ab dem 1. März 1333 haben der osmanische und der gregorianische Kalender die gleichen Daten, was auch heute noch für Verwirrung sorgt. 9 Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 129. 10 Ebd., S. 129. 11 Ebd., S. 79, S. 129.

91 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

Datumsangaben auf den Dokumenten verwiesen, die mit der gleichen Zifferngruppen codiert wurden. Diese Zeitspanne betrug über sechs Monate. Als Nachweis zitieren die Autoren die Datumsangaben der beiden mit dreistelligen Zifferngruppen codierten Dokumente Naims (29. September 1915 und 20. März 1916). Nach Ansicht von Orel und Yuca sei ein derartig langer Zeitraum nicht realistisch gewesen, und daher seien die Dokumente gefälscht. Das zweite Argument von Orel und Yuca ist, dass die verschlüsselten Botschaften innerhalb der vordefinierten Zeitspanne mit nur einem bestimmten Zifferncode verschlüsselt wurden. Mit anderen Worten: Zwei verschiedene Zifferncodes wurden niemals innerhalb des gleichen Zeitraums eingesetzt. Zum Beispiel behaupten die Autoren, dass die Verschlüsselung vom 26. August bis zum 11. Dezember 1915 ausschließlich mit fünfstelligen Zifferncodes umgesetzt wurde. Nach Angaben der Autoren kamen die vierstelligen Zahlen erst ab März 1916 zur Verwendung. Sie geben dazu kein genaues Datum an. Nach ihrer Argumentation muss jede telegrafische Nachricht, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes gesendet wurde und einen anderen Zifferncode hatte als die für diesen Zeitraum vorgesehene Codierung, per Definition eine Fälschung sein. Da beispielsweise die fünfstelligen Zifferncodes das Verschlüsselungssystem vom 26. August bis zum 11. Dezember waren, sind die beiden Telegramme, die in diesen Zeitraum (29. September 1915 mit dreistelligen und 9. Dezember mit zweistelligen Ziffern verschlüsselt) fallen, offensichtlich Fälschungen. Kurz: Orel und Yuca begründen ihre Argumentation, dass die von Naim an Andonian gegebenen verschlüsselten Telegramme Fälschungen seien, mit der Behauptung, dass nur eine bestimmte Zifferngruppe als Chiffre innerhalb eines Zeitraumes (weniger als sechs Monate) zur Verschlüsselung verwendet wurde. Diese Behauptungen sind unzutreffend und ohne jede sachliche Grundlage. Bevor wir die Arbeit der Autoren gründlich durchleuchten, werden wir einige unserer eigenen Beobachtungen zu den derzeit im Osmanischen Archiv befindlichen verschlüsselten Depeschen präsentieren – das wird uns bei der weiteren Diskussion des Themas helfen.12

Allgemeine Anmerkungen zum Verschlüsselungssystem Wir haben eine große Anzahl von verschlüsselten Telegrammen geprüft, die zwischen dem Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten 12 Nach unserem Wissen wurde nie eine Studie über die Verschlüsselungsmethoden durchgeführt, die die osmanischen Regierungen für ihre eigene interne Korrespondenz verwendeten. Was wir hier anbieten, sind nur einige

92 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ALLGEMEINE ANMERKUNGEN ZUM VERSCHLÜSSELUNGSSYSTEM

Weltkrieg im Oktober 1914 bis März 1918 verschickt wurden. Auffällig ist, dass das Innenministerium über eine eigene Verschlüsselungs­methode verfügte, die von den anderen Ministerien und Abteilungen der Regierung nicht benutzt wurde. Das Ministerium teilte seine Verschlüsselungsmethode nicht mit anderen Ministerien. So wird beispielsweise in einem Telegramm des Innenministeriums vom 3. Dezember 1914 an den Provinzgouverneur von Aleppo, Gouverneur Celal Bey, der dem Kommandanten der Vierten Armee, Cemal Pascha (in Syrien), die Code-Bücher für Deyr-i Zor verliehen hatte, daran erinnert, dass das Innenministerium nicht erlaubt, dass die Codes des Ministeriums an Dritte weitergegeben werden.13 In einem ähnlichen Befehl im Jahr 1918 verlangte das Innenministerium erneut, dass seine Codierungen nicht mit anderen Stellen geteilt werden. Das Ministerium ordnete an, dass »es nicht erlaubt sei, dass zum [Innen-]Ministerium gehörende Codes den [Armee-]Kommandanten überlassen werden«.14 Nur in Ausnahmesituationen durften andere Ministerien und Institutionen die Chiffrierschlüssel des Innenministeriums benutzen. So heißt es beispielsweise am 10. März 1918 in einem Telegramm an den osmanischen Konsul in Süleymaniye [Sulaymaniyah], Mahmut Bey: »Da der [Entschlüsselungs-]Code in Ihrem Besitz gelöscht wurde, wird hiermit angeordnet, dass Sie fortan mit dem Code-Schlüssel des Innenministeriums kommunizieren«.15 Das Innenministerium nutzte verschiedene Verschlüsselungsmethoden, um mit seinen Beamten in den Provinzen oder mit anderen Institutionen, insbesondere mit den Befehlsständen der Armee und dem Verteidigungsministerium, zu kommunizieren. Eine Botschaft, die am 6. Dezember 1914 an alle Provinzen verschickt wurde, erläutert zum Beispiel, dass es akzeptabel sei, »geheime Kommunikation zwischen dem Verteidigungsministerium und zivilen Beamten mithilfe der Verschlüsselungsmethoden durchzuführen, die der Kommunikation mit den Kommandanten des Korps vorbehalten sind«.16 In Situationen, in denen eines wenige Beobachtungen. Das Thema ist von ausreichender Bedeutung, sodass eine Studie dringend notwendig wäre. 13 BOA.DH.ŞFR., 47/302: Verschlüsseltes Telegramm vom 3. Dezember 1914, Innenministerium an die Provinz Aleppo. 14 BOA.DH.ŞFR., 92/71: Verschlüsseltes Telegramm vom 7. Oktober 1918, Innenministerium an die Provinz Mamuretülaziz. 15 BOA.DH.ŞFR., DH.ŞFR. 85/62: Verschlüsseltes Telegramm vom 10. März 1918, Außenministerium an Konsul Mahmut Bey. 16 BOA.DH.ŞFR., 47/355: Verschlüsseltes Telegramm vom 6. Dezember 1914, Innenministerium an die Provinzen Edirne, Erzurum, Adana, Ankara, Aydın, Bitlis, Basra, Bagdad, Beirut, Hicaz, Aleppo, Hüdavendigar (Bursa), Diyarbakır, Syrien, Sivas, Trabzon, Kastamonu, Konya, Mamuretülaziz (Elazığ), Mosul, Van und Jemen sowie an die Provinzen Urfa, Izmit, Bolu, Canik, Çatalca, [Deyr-i] Zor, Asîr, Karesi, Kudüs-i Şerif (Jerusalem), Kale-i

93 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

der bestehenden Codierungsverfahren nicht zur Anwendung kam, wurden spezielle Codes nur für diese Kommunikationsphase erstellt. So heißt es in einem Rundschreiben vom 11. Mai 1915, dass »ein neuer Code vom Innenministerium ausschließlich für die Kommunikation zwischen Provinzen/Landkreisen und dem Kriegsministerium vorbereitet und implementiert wird«, und das Ministerium befiehlt den Adressaten, dass »die Telegramme an das Kriegsministerium und an das Büro für allgemeine Versorgung nach diesem Code verschlüsselt werden«. Es wird daran erinnert, dass bei dieser Kommunikation »der[Code-]Schlüssel des [Innen-]Ministeriums nicht verwendet wird«.17 In einigen Fällen wurde einer der vom Innenministerium verwendeten Codes für die Kommunikation zwischen den Armeekommandanten in ver­schiedenen Regionen und den kommunalen Beamten vor Ort bestimmt. Ein Beispiel für diese Vorgehens­weise steht im Bericht des Innenministeriums vom März 1916, in dem es heißt: »Der Code des sechsten Typs wird an Vehip Pascha, den Kommandanten der Dritte Armee, zur Verfügung gestellt, um mit verschiedenen Provinzen und Regierungsbezirken zu kommunizieren«.18 Eine ähnliche Begebenheit haben wir 1918. Am 9. Oktober jenes Jahres wird in einem Rundschreiben an alle Provinzen gefordert, »den Codierungsschlüssel des sechsten Typs auch für die Kommunikation mit dem Ministerium für Beschaffung und Versorgung zu verwenden«.19 Aus den vorliegenden Dokumenten ist ersichtlich, dass für Funktionäre, die in offizieller Funktion in die Provinzen oder ins Ausland Sultaniye (Gelibolu), Menteşe, Teke (Antalya), Kayseri, Karahisar-ı Sahib (Afyon Karahisar); sowie an das Heiligtum von Medina. 17 BOA.DH.ŞFR., 52/228: Verschlüsseltes Telegramm vom 11. Mai 1915, Innenministerium in die Provinzen Edirne, Erzurum, Adana, Ankara, Aydın, Bitlis, Basra, Bagdad, Beirut, Hicaz, Halep, Hüdavendigar (Bursa), Diyarbakır, Syrien, Sivas, Trabzon, Kastamonu, Konya, Mamuretülaziz (Elazığ), Mosul, Van und Jemen; und an die Provinzen Urfa, Izmit, Bolu, Canik, Çatalca, [Deyr-i ]Zor, Asîr, Karesi, Kudüs-i Şerif (Jerusalem), Kale-i Sultaniye (Dardanellen), Menteşe, Teke (Antalya), Kayseri, Karahisar-ı Sahib (Afyon Karahisar), Eskişehir, Içel, Kütahya, Maraş und Niğde; sowie an das Heiligtum von Medina. 18 BOA.DH.ŞFR., 61/280: Schriftliche Mitteilung des Geheimdienstes des Innenministeriums vom 1. März 1916. 19 BOA.DH.ŞFR., 92/82: Verschlüsseltes Telegramm vom 9. Oktober 1918, Innenministerium an die Provinzen Edirne, Erzurum, Adana, Ankara, Aydın, Bitlis, Aleppo, Hüdavendigar (Bursa), Diyarbakır, Sivas, Trabzon, Kastamonu, Konya, Mamuretülaziz (Elazığ), Mosul und Van sowie an die Provinzbezirke Urfa, Izmit, Bolu, Canik, Çatalca, Zor, Karesi, Kale-i Sultaniye, Menteşe, Teke (Antalya), Kayseri, Kütahya, Karahisar-ı Sahib (Afyonkarahisar), Içel, Maras, Niğde und Eskişehir.

94 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ALLGEMEINE ANMERKUNGEN ZUM VERSCHLÜSSELUNGSSYSTEM

reisten, besondere Codes entwickelt worden waren. Zwei Beispiele dafür sind die speziellen Verschlüsselungsver­fahren für Süleyman Askeri, der als Funktionär der Spezialorganisation (Teşkilat-ı Mahsusa) nach Bagdad fuhr,20 und für Halil Menteşe, der während des Krieges in offizieller Mission nach Deutschland entsandt wurde.21 Aus den Memoiren hoher Beamter der osmanischen Bürokratie entnehmen wir ähnliche Informationen. Einer der bekannten Bürokraten, A. Faik Hurşit Günday, teilt uns in seinen Memoiren mit, dass er, als er in Bagdad tätig war, davon Kenntnis hatte, dass der Kriegsminister Enver Pascha (Mitglied des Triumvirats) einem der führenden arabischen Politiker vor Ort einen speziellen Code zur Verschlüsselung seiner Telegramme zur Verfügung gestellt hatte.22 Das Innenministerium setzte verschiedene Verschlüsselungsverfahren ein. Die Chiffren, die von den Provinzen und Regierungsbezirken in der Kommunikation mit ihren assoziierten Untergliederungen bestimmt waren, unterschieden sich von denjenigen, die für die Kommunikation mit Istanbul benutzt wurden. Am 9. März 1915 schickte das Innenministerium ein Telegramm nach Izmit und Menteşe, das die folgende Erklärung zu diesem Thema enthielt: »Die zuvor gesendeten und derzeit verwendeten Codes sind für die Kommunikation mit den umliegenden Landkreisen und Unterbezirken vorgesehen. Der Code, der jetzt gesendet wird, dient der direkten Kommunikation zwischen der Hohen Pforte und den Provinzen beziehungsweise den dazugehörigen Landkreisen. Sie werden daher bei der Kommunikation mit den umliegenden Bezirken die anderen [Codes] verwenden. Eine weitergehende Klarstellung dieser Angelegenheit ist nicht erforderlich«.23 20 BOA.DH.ŞFR., 48/199: Verschlüsseltes Telegramm vom 29. Dezember 1914, Innenministerium an Süleyman Askeri Bey. Im Telegramm wird Süleyman Askeri gebeten, den speziellen Code, den er bei sich hat, nicht zu verwenden: »Bitte verwenden Sie den neuen Code, der sich im Besitz von Cavit Pascha befindet, um [mit dem Ministerium] zu kommunizieren; auf keinen Fall ist die spezielle Verschlüsselung zu verwenden, da dieser Code von jedermann geknackt werden kann«. 21 BOA.DH.ŞFR., 50/262: Verschlüsseltes Telegramm vom 21. März 1915, Sondersekretariat des Innenministeriums an das Innenministerium. Im Telegramm wird berichtet, dass für die Kommunikation zwischen dem »[Innen-]Minister und Halil Beyefendi«, der in Europa auf Dienstreise war, »ein gesonderter Code geschaffen wurde«. 22 Günday, A. Faik Hurşit: Hayat ve Hatıralarım [Türkisch. Mein Leben und meine Erinnerungen], Bd. 1, Istanbul 1960, S. 97f. 23 BOA.DH.KMS., 24-2-05-03: Verschlüsseltes Telegramm vom 9. März 1915, Innenministerium an die Provinzkreise Izmit und Menteşe. Das gleiche Dokument befindet sich im Archiv wie BOA.DH.ŞFR., 50/219.

95 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

Das osmanische Innenministerium verwendete zwei Arten von Verschlüsselungsverfahren. Das erste war eine Methode, die aus verschieden langen Zifferngruppen bestand; bei der anderen Verschlüsselungstechnik benutzten die Chiffreure anstelle von Ziffern Buchstabenkombinationen. Das System hieß Huruf-u Mukatta (Substitution von Buchstaben). Aus den Dokumenten, die wir jetzt besitzen, ist ersichtlich, dass die zweite Methode vor allem in der Kommunikation mit Istanbul und den Provinzen sowie den dazu gehörigen Landkreisen verwendet wurde. Da die Buchstabensubstitution leicht zu knacken war, erging am 25. April 1915 ein Befehl an alle Provinzen und Landkreise, dieses Verfahren nicht mehr zu benutzen. »Es wurde festgestellt, dass bestimmte Regionen mit ihren umliegenden Landkreisen und Gemeinden mit dem aus Buchstaben bestehenden Code kommunizieren. Da diese Art der Verschlüsselung sehr leicht zu knacken ist, ist [diese Methode] nicht mehr zum Schutz der Geheimhaltung [in der Kommunikation] zu verwenden«.24 In einem weiteren Rundschreiben vom 2. August 1915 wurde angeordnet, dass die zu diesem Verschlüsselungsverfahren gehörenden Codes zu vernichten seien. »Verbrennen Sie unter Ihrer Aufsicht die Code-Bücher, die die Huruf-u Mukatta enthalten, die für die Kommunikation der Landkreise mit Bab-ı Ali [Regierung] und den Provinzen verwendet wurden! Informieren Sie uns über den aktuellen Stand der Vernichtung der genannten Code-Bücher«.25 Was die Verschlüsselungstechniken mit Ziffern anbelangt, verwendete die osmanische Regierung im Laufe des gesamten Zeitabschnitts jeweils zwei- bis fünfstellige Zifferngruppen. Obwohl wir bei unserer eigenen Durchsicht der Archive auf zahlreiche Hinweise von Verschlüsselungssystemen mit sechs-, sieben-, acht- und sogar neunstelligen Zifferngruppen gestoßen sind, haben wir nicht ein einziges Telegramm finden können, das mit diesen Zifferngruppen codiert wurde. Ein Beispiel dazu ist ein Hinweis aus der Verwaltungsdirektion des Innenministeriums vom 10. April 1915, in dem sie zu Folgendem auffordert: »Aufgrund der Umwandlung der Regierungsbezirke Niğde und Eskişehir in unabhängige Verwaltungsbezirke sollen eine oder zwei Kopien des sechsten, siebten und achten Typs von Chiffrierschlüsseln zur ausschließlichen 24 BOA.DH.ŞFR. 52/107: Verschlüsseltes Telegramm vom 25. April 1915, Innenministerium an die Provinzen Istanbul, Edirne, Erzurum, Adana, Ankara, Aydın, Bitlis, Basra, Bagdad, Beirut, Hicaz, Aleppo, Hüdavendigar (Bursa), Diyarbakır, Syrien, Sivas, Trabzon, Kastamonu, Konya, Mamuretülaziz (Elazığ), Mosul, Van und Jemen; und an die Provinzbezirke Urfa, Izmit, Bolu, Canik, Çatalca, [Deyr-i ]Zor, Asîr, Karesi, Kudüs-i Sherif (Jerusalem), Kale-i Sultaniye (Gelibolu), Menteşe, Teke (Antalya), Kayseri, Kütahya, Karahisar-ı Sahib (Afyon Karahisar), Içel, Maraş und Niğde; sowie an das Heiligtum von Medina. 25 BOA.DH.KMS., 24-2-44.

96 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ALLGEMEINE ANMERKUNGEN ZUM VERSCHLÜSSELUNGSSYSTEM

Verwendung in der Kommunikation mit den Regierungsbezirken und unabhängigen Distrikten an die oben genannten Provinzgouverneure geschickt werden«.26 In einem weiteren Telegramm, das am 6. September aus Erzurum an das Innenministerium geschickt wurde, heißt es: »Wir melden den Erhalt des Verschlüsselungsnotiz­buchs siebten Typs«.27 Für den neunten Verschlüsselungstyp verweisen wir auf das Beispiel des verschlüsselten Telegramms, das am 28. Juli 1918 von Deyr-i Zor an das Innenministerium verschickt wurde und das Ministerium darüber informiert, dass »die Ermittlungen erfolgreich abgeschlossen wurden und diese Botschaft an die Behörde für Siedlungswesen und Immigration mit der neunten Variante des Code-Schlüssels chiffriert wurde«.28 Wir haben verschlüsselte Dokumente mit zwei- bis fünfstelligen Zifferngruppen gefunden, keine aber mit sechs-, sieben-, acht- oder neunstelligen Zahlen. Ein möglicher Grund dafür ist, dass die Zifferngruppen sechs, sieben, acht und neun nicht wie bei anderen Zifferngruppen ein eigenständiges System darstellen, sondern innerhalb jeder einzelnen Zifferngruppe auf eine neue Variante der Verschlüsselung hinweisen. Jede Zifferngruppe hatte mehrere Varianten mit verschiedenen Nummern, also mehrere verschiedene Verschlüsselungskombinationen. Wie wir im Folgenden erläutern werden, gibt es beispielsweise für die vierstellige Zifferngruppe mindestens neun verschiedene Verschlüsselungs­ kombinationen.29 Ein weiteres Beispiel ist die Generaldirektion für Einwanderungsangelegenheiten; dieses Büro verwendete zur Codierung die zweistellige Zifferngruppe, und es existierten dazu noch mindestens 15 verschiedene Typen von Verschlüsselungsmöglichkeiten. Basierend auf diesen 26 BOA.DH.ŞFR., 50/262-2: Schriftliche Mitteilung des Privatsekretärs des Innenministers vom 10. April 1915. 27 BOA.DH.ŞFR., 531/35: Verschlüsseltes Telegramm vom 6. September 1916, Gouverneur von Erzurum, Midhat, an das Innenministerium. 28 BOA.DH.ŞFR., 591/3: Verschlüsseltes Telegramm vom 29. Juli 1918, amtierender stellvertretender Distriktgouverneur von [Deyr-i ] Zor, Ömer Zeki, an das Innenministerium. 29 Hier Beispiele von mit vierstelligen Ziffern codierten Telegrammen mit verschiedenen Variantennummern: mit Nummer eins: BOA.DH.ŞFR., 464/36 (7. März 1915); 467/106 (17. April 1915); mit Nummer zwei: BOA. DH.ŞFR., 464/31 (8. März 1915); 654/188 (20. Dezember 1919); mit Nummer drei: BOA.DH.ŞFR., 461/84 (17. Februar 1915); 519/24 (9. Mai 1916); mit Nummer vier: BOA.DH.ŞFR., 465/69 (17. März 1915); 668/12 (10. Oktober 1917); mit Nummer fünf: BOA.DH.ŞFR., 457/11 (10. Januar 1915); 486/04 (30. August 1915); mit Nummer sechs: BOA.DH.ŞFR., 464/34 (7. März 1915) und mit Nummer neun: BOA.DH.ŞFR., 467/106 (17. April 1915).

97 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

Informationen ist anzunehmen, dass es sich bei Zifferngruppen mit sechs, sieben, acht oder neun Zahlen nicht um eine komplett andere Zifferncodierung handelte, sondern die Zahlen enthielten die Informationen, nach welcher Variante, nach welcher Typennummer im Code-Buch das Dokument zu entschlüsseln war.30 In diesem Zusammenhang haben wir festgestellt, dass jedes Telegramm unabhängig von der Zifferngruppe, mit der es verschlüsselt wurde, zu Beginn den Vermerk erhielt, nach welcher Encodierungsvariante es entschlüsselt werden sollte. In einem mit der fünfstelligen Zifferngruppe verschlüsselten Kabel, das am 25. Dezember 1915 nach Istanbul geschickt wurde, gibt der Gouverneur von Aleppo die folgenden Anweisungen: »Nummer fünf. Ich übergebe heute den südwestlichen und westlichen Teil der Provinz […] weitere Botschaften an mich sollen nach der Version sechs verschlüsselt werden«.31 Dies macht deutlich, dass der Gouverneur in seinem mit fünfstelliger Zifferngruppe codierten Telegramm Istanbul informiert, dass zur Encodierung die Variante fünf zu benutzen ist und die weitere Korrespondenz mit fünfstelligen Ziffern zu erfolgen habe und nach dem Typ Nummer sechs im Code-Buch zu verschlüsseln sei. Aus diesem Grund finden wir am Anfang der Depeschen Sätze wie etwa »Nummer zwei, Nummer drei, Nummer vier, Nummer fünf, Nummer sechs, Nummer sieben oder Nummer neun« und die Dokumente sind mit dem vieroder fünfstelligen Code verschlüsselt. Ein weiteres Beispiel: Als Verschlüsselung wird die zweistellige Zifferngruppe angegeben; und zu Beginn der Botschaft lesen wir den Satz »[verschlüsselt] mit der Chiffre 15«.32 Unsere letzte Bemerkung zu den Verschlüsselungstechniken ist, dass Ämter und Abteilungen innerhalb des Innenministeriums verschiedene Zifferngruppen für die Verschlüsselung verwendet haben. Die meisten Telegramme, die Naim zum Beispiel an Andonian gab, wurden mit der zweistelligen Zifferngruppe codiert. Dies ist nicht verwunderlich, da die Behörde für Umsiedlung von ethnischen Gruppen und Einwanderern (meist als Direktion für Deportationen bezeichnet) zur Codierung die zweistellige Zifferngruppe verwendete. Diese Tatsache ist ein weiteres Indiz für die Authentizität der Naim-Dokumente. 30 Obwohl die Bezeichnungen sechs, sieben, acht und neun sich auf verschiedene Encodierungsvarianten innerhalb einer Zifferngruppe beziehen, würde man erwarten, dass im Dokument explizit erwähnt werde, zu welcher Zifferngruppe sie gehören. Zum Beispiel hätten sie gesagt, sechs, sieben, acht oder neun der fünfstelligen Gruppe und so weiter. Dies war nicht der Fall. Die einfachste Antwort ist, dass es nicht nötig ist, dies ausdrücklich zu erwähnen, da man leicht sehen kann, ob das verschlüsselte Telegramm eine vier- oder fünfstellige Zifferngruppe hat. 31 BOA.DH.ŞFR., 502/80: Verschlüsseltes Telegramm vom 25. Dezember 1915, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium. 32 BOA/DH.ŞFR., 497/79 (15. November 1915) und 520/23 (18. Mai 1916).

98 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ALLGEMEINE ANMERKUNGEN ZUM VERSCHLÜSSELUNGSSYSTEM

In vielen Fällen wird die mit einer Zifferngruppe durchgeführte Verschlüsselung im Zusammenhang mit dem Namen der zuständigen Stelle erwähnt. Zwei telegrafische Nachrichten, die am 2. September und 24. November 1915 von Şükrü Bey, dem damaligen Direktor des Amtes für Deportationen (in Aleppo), nach Istanbul geschickt wurden, tragen die Bezeichnung: »Nach der Verschlüsselungsmethode der Behörde für Umsiedlung von ethnischen Gruppen und Einwanderern zu entschlüsseln«.33 Einem Telegramm aus Trabzon wurde die Bemerkung hinzugefügt: »[verschlüsselt] nach Nummer 15«.34 Diese beiden Telegramme sind ebenfalls mit der zweistelligen Zifferngruppe codiert. Im Laufe der Jahre hat es Änderungen gegeben, welche Dienststelle welche Zifferngruppe verwendete. Zum Beispiel scheint es, dass nach September 1916 die Verschlüsselungsmethode mit zweistelligen Zifferngruppen auch bei der Nachrichtenübermittlung zwischen dem Innenministerium und der Armee eingesetzt wurde.35 Manchmal wurde Dienststellen geraten, die Verschlüsselungsmethoden anderer Bereiche nicht zu verwenden. In einem Rundschreiben an die Kommissionen für die Liquidierung der Verlassenschaften wurden die Empfänger beispielsweise aufgefordert, für ihre schriftliche Kommunikation nicht den »Code des Innenministeriums« zu verwenden, sondern »mit der bestehenden Chiffrierung des Amtes für Siedlungswesen und Immigration zu kommunizieren«.36 Die für die Kommissionen 33 BOA.DH.ŞFR., 486/139 und 498/62: Verschlüsselte Telegramme vom 2. September und vom 24. November 1915, Direktor des Amtes für Deportationen, Şükrü Bey, an das Innenministerium. 34 BOA.DH.ŞFR., 499/87: Verschlüsseltes Telegramm vom 2. Dezember 1915, Präsident der Kommission zur Liquidierung der Verlassenschaften in Trabzon, Nazım Bey, an das Innenministerium. 35 Der Kommandant der 2. Armee, Ahmet Izzet Pascha, Notiz in einem Telegramm an das Innenministerium am 5. September 1916: »Sehr dringend, als vertraulich zu behandeln [vom Minister]« und mit der »der Provinz zugeteilten Codierung« informiert das Ministerium, dass »die Verwaltung der Versorgung der Zweiten Armee einen besorgniserregenden Zustand erreicht hat, und von der Notwendigkeit, außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen, um das Funktionieren des Ganzen zu gewährleisten«. (DH.ŞFR., 531/61); der Distriktgouverneur von Mamuretülaziz, Sabit, schickte ein Telegramm am 8. September 1916 mit der Forderung, »dass die derzeit 150 Mann starke Kavallerieeinheit in Hozat in Mazgirt bleiben dürfe [DH.ŞFR., 531/61]; und das von Mustafa Kemal am 7. Oktober 1917 im Namen des Siebten Armeekommandos gesendete Telegramm, das die Forderung enthält, anstelle des Landrates (Kaymakam) von Reis ül-‘Ayn, Refi Bey, [DH.ŞFR., 568/3] eine neue Person zu ernennen«. 36 BOA.DH.ŞFR., 59/155: Verschlüsseltes Telegramm vom 30. Dezember 1915, Innenministerium an den Präsidenten Kommission zur Verwaltung von Verlassenschaften in Kayseri.

99 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

exklusiven Verschlüsselungen wurden separat verschickt oder eigens per Boten an die Provinzen zugestellt. Ein Beispiel dafür ist ein Telegramm, das am 22. September 1915 an den »Vorsitzenden der Kommission zur Verwaltung der Verlassenschaften« in Niğde geschickt wurde und in dem es heißt: »Der Verschlüsselungscode ist unterwegs per Post«.37 In den Fällen, in denen die Code-Bücher nicht ankamen, erhielten die lokalen Behörden die Erlaubnis, den von der Provinzverwaltung benutzten Code zu verwenden: »Da das Code-Buch noch nicht an die Vorsitzenden der Kommissionen zur Verwaltung der Verlassenschaften übermittelt wurde, ist es zwingend erforderlich, dass die weiteren Codierungen mit der Verschlüsselung des Ministeriums erfolgen«. Die Provinzregierungen wurden durch eine Sonderdepesche über diese Situation informiert, und das Ministerium bat sie darum, die oben genannten Kommissionen mit ihren Chiffren zu versorgen: »Die Provinzen werden per Telegramm benachrichtigt, dass sie den Vorsitzenden der Kommissionen zur Verwaltung von Verlassenschaften eine entsprechende Version des oben genannten Chiffre[-Schlüssels] geben sollen«.38 Es gab spezielle Chiffriersysteme, die von den oben genannten Techniken abwichen. Ein verschlüsseltes Telegramm, das Finanzminister Cavit Bey am 27. Mai 1915 aus Berlin verschickt hat, ist ein gutes Beispiel dafür. Das Telegramm wurde mit fünfstelligen Zifferngruppen verschlüsselt. Am Anfang des Telegramms steht keine konkrete Angabe, nach welcher Encodierungsnummer es zu entziffern ist. Der Beamte in Istanbul entschlüsselte das Telegramm, als wäre es mit der vierstelligen Zifferngruppe verschlüsselt. Das heißt, er nahm die ersten vier Zahlen der ersten fünfstelligen Gruppe und entschlüsselte sie; er nahm dann die fünfte Zahl und kombinierte sie mit den ersten drei Zahlen der zweiten fünfstelligen Gruppe, wodurch eine vierstellige Zifferngruppe entstand, und entschlüsselte sie. Die zweite fünfstellige Gruppe hatte zwei Ziffern. Der Beamte nahm diese beiden Zahlen und kombinierte sie mit der dritten fünfstelligen Zifferngruppe, und so weiter.39 (siehe Abb. 06) Weitere Informationen zu diesem Thema könnten durch die Bereitstellung der sogenannten »Code-Bücher« (Şifre Defteri) mit den 37 BOA.DH.ŞFR., 56/125: Verschlüsseltes Telegramm vom 22. September 1915, Innenministerium an den Präsidenten der Niğde Kommission für die Liquidation von Verlassenschaften. 38 BOA.DH.ŞFR., 55/185: Verschlüsseltes Telegramm vom 26. August 1915, Innenminister Talat an alle Provinzen. 39 BOA.DH.ŞFR., 472/111. Da die Entschlüsselung dieses speziellen Telegramms auf demselben Blatt Papier erfolgte, ist es möglich, zu erkennen, wie der Beamte die Encodierung durchgeführt hat, indem er die fünfstelligen Ziffern in vierstellige Zifferngruppen unterteilt hat. Ob unsere Beobachtung richtig ist, kann nur durch die Veröffentlichung der entsprechenden Code-Bücher überprüft werden.

100 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE FRAGE NACH DEFINIERTEN ZEITRÄUMEN

Abb. 06: DH.ŞFR., 472/111-1-codiertes Telegramm von Finanzminister Cavit aus Berlin

Entschlüsselungen für alle verschiedenen Zifferngruppen gewonnen werden. Diese Bücher, die während der Kriegsjahre benutzt wurden, sind für die Forscher leider immer noch tabu.

Die Frage nach definierten Zeiträumen für Verschlüsselungsmethoden Vor diesem allgemeinen Hintergrund können wir uns nun die zentrale Behauptung von Orel und Yuca bezüglich der Verschlüsselung mit Zifferngruppen näher anschauen. Sie schreiben, dass »zwischen den Jahren 1331 und 1332 [1915 und 1916] Chiffren aus zwei-, vier- und fünfstelligen Zifferngruppen verwendet wurden, aber die dreistellige Zifferngruppe nicht benutzt wurde«.40 Wie wir im Folgenden immer wieder sehen werden, ist die Behauptung der Autoren bezüglich des 40 Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 66.

101 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

Verschlüsselungsverfahrens mit dreistelligen Zifferngruppen falsch. Die dreistellige Zifferngruppe wurde – wenn auch nur selten – im Laufe des Jahres 1915 zur Verschlüsselung verwendet. Lassen wir dieses Thema vorerst ausgeklammert und wenden wir uns einem anderen Aspekt zu. Wie wir oben dargelegt haben, beruht Orels und Yucas Behauptung, dass die Telegramme, die Naim an Andonian übergab, falsch seien, auf dem Argument, dass Verschlüsselungstechniken ausschließlich für einem Zeitraum von weniger als sechs Monaten verwendet worden seien. Bei unseren eigenen Recherchen im Osmanischen Archiv sind wir nie auf ein Dokument gestoßen, das besagt, dass eine Zifferngruppe weniger als oder bis zu sechs Monate lang in Verwendung bleiben dürfte. Im Osmanischen Archiv liegen auch keine Dokumente vor, die definieren, welche Zifferngruppe für welchen Zeitraum gültig war. Aus dem Chiffrierschlüssel-Registerbuch von 1914, das wir besitzen, erfahren wir, dass die Code-Bücher jährlich neu zusammengestellt wurden. Auf der ersten Seite dieses Registerbuchs sind Überschriften zu lesen wie: »der für die Kommunikation mit allen Provinzen reservierte Verschlüsselungscode« oder »die Verschlüsselungslisten für die Hohen Pforte«. Wir lesen auch die Anweisung, »es ist unerlässlich, dass die Provinzgouverneure und andere hochrangige Beamte ihre Wachsamkeit besonders der Bewachung der Code-Bücher widmen, damit diese nicht in falsche Hände gelangen«. Für welche Zifferngruppe das Registerbuch galt, wurde ebenfalls konkret erläutert.41 Aus den zu unterschiedlichen Zeitpunkten an die verschiedenen Provinzverwaltungen gesendeten Chiffrierschlüsseln lässt sich ableiten, dass im Laufe der Jahre bestimmte Veränderungen an ihnen vorgenommen wurden, aber es ist schwierig, dabei ein klares Muster zu erkennen. Aus einigen telegrafischen Depeschen kann gefolgert werden, dass Codes jährlich neu organisiert oder geändert wurden. In einem Telegramm, das am 4. Mai 1915 an die Provinz Van geschickt wurde, steht beispielsweise: »Da der Erhalt des neuen Verschlüsselungscodes, vom 28. Februar [1]330, nicht bestätigt wurde, wissen wir nicht, ob der aktuelle Code noch aus dem vergangenen Jahr stammt oder schon der neue ist«.42 Wie aus diesem Telegramm hervorgeht, ist es schwierig, eine endgültige Antwort auf die Frage zu finden, ob die Verschlüsselungscodes im März, zu Beginn des osmanischen Kalenderjahres, geändert wurden. Aus den zwischen November 1914 und März 1918 gesendeten verschlüsselten Telegrammen lässt sich schließen, dass die Codierung mit zwei-, vier- und fünfstelligen Zifferngruppen während des gesamten 41 BOA.A.}d: Register des Ministeriums, 01520.001. 42 BOA.DH.ȘFR., 52/209: Verschlüsseltes Telegramm vom 4. Mai 1915, Innenministerium an die Staatsanwaltschaft.

102 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE FRAGE NACH DEFINIERTEN ZEITRÄUMEN

Zeitraumes durchgehend in Benutzung und ihre Verwendung nicht auf Zeitabschnitte limitiert war. Allerdings gab es zu bestimmten Zeitpunkten Veränderungen in der Häufigkeit ihrer Verwendung, insbesondere bei den vierstelligen und fünfstelligen Zifferngruppen. Zu Beginn dieses Zeitraumes (November 1914) wurde die fünfstellige Zifferngruppe am häufigsten verwendet. Die zweithäufigste Anwendung waren Verschlüsselungen mit der vierstelligen Zifferngruppe. Nur selten begegnen wir Codierungen mit den zwei- und dreistelligen Ziffern. Mitte Januar 1915 wuchs die Zahl der vierstelligen Verschlüsselungen stetig an, sodass sie im Februar zur am häufigsten verwendeten Zifferngruppe wurde. Im Juni war wieder die erhöhte Benutzung der fünfstelligen Zifferngruppen zu beobachten, und bis Mitte Juli wurde diese Gruppe erneut zur wichtigsten Verschlüsselungsmethode. Diese Konstellation dauerte bis Februar 1916 an. Im März und April scheint das Verschlüsselungsverfahren mit vierstelligen Ziffernfolgen wieder an Bedeutung zu gewinnen, sodass es im Mai 1916 wieder das am häufigsten verwendete Verfahren war. Von diesem Zeitpunkt an bis Ende März 1918 (wo unsere eigene Archivforschung aufhört) blieb die vierstellige Zifferngruppe die vorherrschende Codierungstechnik. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei Chiffriervorgängen die vier- und fünfstelligen Zifferngruppen während dieses Zeitraumes kontinuierlich eingesetzt wurden, wobei sich die proportionale Häufigkeit ihrer Verwendung änderte. Diese Veränderungen kamen nicht schlagartig, sie erfolgten allmählich über einen Zeitraum von Wochen oder Monaten, und auf jeden Fall gab es keine Einschränkungen ihrer Verwendung in Bezug auf die Zeitabschnitte. Einer der entscheidenden Gründe für die gleichzeitige Nutzung der vier- und fünfstelligen Zifferngruppen bei Chiffrierverfahren – wenn auch mit veränderter Nutzungshäufigkeit – waren die Verzögerungen beim Versand der neuen Code-Bücher. Unzählige Beispiele für dieses bürokratische Phänomen lassen sich aufzählen. Um nur einige zu nennen: Aus einem Rundschreiben, das am 16. Dezember 1914 an alle Provinzen geschickt wurde, geht hervor, dass lange zuvor ein neues Code-Buch für die Kommunikation der Provinzen untereinander versandt worden war. Die Botschaft enthält die Aufforderung an die Provinz- und Distriktgouverneure, »außerordentlich vorsichtig beim Schutz der neuen Codes zu sein«43, aber auch die Frage, ob alle betroffenen Code-Bücher 43 BOA.DH.ŞFR., 48/9: Verschlüsseltes Telegramm vom 16. Dezember 1914, Innenministerium an die Provinzen Edirne, Erzurum, Adana und Aydın, an die amtierenden Gouverneure von Basra und Bagdad (Vekalet); an die [Provinzen] Beirut, Hicaz, Trabzon, Kastamonu, Mosul und Van, an den amtierenden Gouverneur von Jemen und an die Provinzen Canik, Kale-i Sultaniye (Dardanellen) und Antalya.

103 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

in den jeweiligen Regionen eingetroffen seien. In den Monaten Dezember und Januar gingen die Nachfragen weiter, wer die Code-Bücher wann erhalten habe. So fordert beispielsweise ein Telegramm an den Provinzgouverneur von Bagdad, Süleyman Nazif, am 29. Dezember 1915: »Der neue Code, der sich im Besitz von Reşit Bey befindet, ist von ihm zu übernehmen und die weitere Kommunikation mit ihm ist mit dem neuen Verschlüsselungscode zu führen; der alte Schlüssel darf keinesfalls weiter verwendet werden«.44 Mehrere verschiedene Depeschen, die am 4. Januar 1915 an die Provinzen Bolu, Ankara und Diyarbakır geschickt wurden, besagen, dass die gesendeten Code-Bücher noch nicht an ihren Bestimmungsorten eingetroffen sind oder nicht abgeholt wurden, und die Provinzverwaltungen werden aufgefordert, die neuen Codes so schnell wie möglich abzuholen.45 Eine ähnliche Situation ergab sich im März 1915 in Bezug auf einen neuen Chiffrierschlüssel, der zur Sicherung der Kommunikation zwischen den Provinzregierungen und ihren jeweiligen Distrikten versandt wurde. Ein Telegramm vom 31. März an die Provinzen Konya, Adana und Antalya versichert den Empfängern, dass die Verschlüsselungscodes auf dem Weg zu ihnen seien.46 Für den 7. April 1915 wurden die »neuen Chiffren für die Kommunikation zwischen Provinz und Bezirk« für Sivas, Mamuretülaziz (Elazığ), Bitlis, Van und Kayseri angekündigt, und die Administratoren wurden angewiesen, sofort den Erhalt der Code-Bücher bei den Registraturen zu melden.47 Der Code-Schlüssel für die Provinz Aleppo und deren Distrikte wurde jedoch erst am 17. April verschickt.48 Die Chiffren, die für Kütahya, einen nicht weit von Istanbul entfernten Distrikt, bestimmt waren, wurden dort erst am 28. April 1915 in Empfang genommen.49 Ein weiteres Telegramm vom 1. Mai 1915 fragt sehr viele Provinzen und Bezirke ab, ob die 44 BOA.DH.ŞFR., 48/195: Verschlüsseltes Telegramm vom 29. Dezember 1915, Innenminister Talat an den Gouverneur von Bagdad. 45 BOA.DH.ŞFR., 48/268 und 274: Verschlüsseltes Telegramm vom 4. Januar 1915, Innenministerium zum Provinzbezirk Bolu; sowie zu den Provinzen Ankara und Diyarbakır. 46 BOA.DH.ŞFR., 51/182: Verschlüsseltes Telegramm vom 31. März 1915, Innenministerium an die Provinzen Konya und Adana sowie an den Landkreis Antalya. 47 BOA.DH.ŞFR., 51/227: Verschlüsseltes Telegramm vom 7. April 1915, Innenminister Talat an die Provinzen Sivas, Van, Bitlis und Mamuretülaziz (Elazığ) sowie an den Provinzbezirk Kayseri. 48 BOA.DH.ŞFR., 52/24: Verschlüsseltes Telegramm vom 17. April 1915, Innenministerium an die Provinz Aleppo sowie an die Landkreise Urfa und Maraş. 49 BOA.DH.ŞFR., 52/140­: Verschlüsseltes Telegramm vom 28. April 1915, Innenministerium an den Distrikt Kütahya.

104 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE FRAGE NACH DEFINIERTEN ZEITRÄUMEN

Verschlüsselungsbücher schon angekommen seien;50 die Provinzen Van und Bitlis wurden durch eine Depesche vom 26. Mai 1915 über den Verbleib der Codes befragt.51 Am 2. Juni 1915 waren die Chiffrierschlüssel für Diyarbakır, Siverek, [Deyr-i] Zor, Bagdad und Basra noch immer nicht angekommen.52 Neue Codes wurden daraufhin am 8. Juli verschickt.53 Das interessanteste Beispiel für diese Konfusion in der Bürokratie ist ein von uns entdecktes Dokument, das entstand, als Verschlüsselungsbücher mit den Codes des sechsten, siebten und achten Typs an die Provinzen geschickt wurden. Nach einer vom Innenministerium erstellten Liste wurden sie zwischen dem 11. März und dem 21. August 1915 verschickt. Der erste Ort, an den das Code-Buch verschickt wurde, war die Stadt Bursa. Das war am 11. März 1915. Zwei Tage später folgte die Sendung nach Balıkesir. Um nur einige der anderen Provinz- und Bezirkshauptstädte zu nennen, an die das Code-Buch geschickt wurde: Edirne (20. März), Aydın (12. April), Urfa (15. April), Deyr-i Zor [Typ 6 und 7] (12. Mai) [Typ 8] (31. Mai), Trabzon (3. Juni), Kastamonu (8. Juli), Hicaz und Jemen (21. August 1915).54 Eine weitere Erkenntnis bei unseren Recherchen im Archiv ist, dass trotz der Änderungen der Code-Typen für jede Zifferngruppe diese verschiedenen Typenkombinationen unterschiedlich verwendet wurden. Wir haben beispielsweise mindestens sechs verschiedene Codierungssysteme für Verschlüsselungen mit zweistelligen Ziffern festgestellt (dabei ist zu beachten, dass der Generaldirektor für Einwanderungsfragen 15 verschiedene Code-Typen hatte). Die meisten Dokumente, die wir im Osmanischen Archiv gefunden haben, waren mit dem 15. Code-Typ verschlüsselt. Wir haben etwa 100 Dokumente dieser Art gefunden. Dieser 15. Code-Typ wurde während des gesamten Krieges ohne zeitliche Begrenzung verwendet. So sind beispielsweise ein Telegramm aus Eskişehir vom 3. September 1915 (DH.ŞFR., 486/138) und ein Telegramm aus Samsun vom 6. Juli 1916 (DH.ŞFR., 524/105) mit dem gleichen CodeTyp verschlüsselt. Der Zeitabstand zwischen diesen beiden Dokumenten 50 BOA.DH.ŞFR., 52/174: Verschlüsseltes Telegramm vom 1. Mai 1915, Innenministerium an die Provinzen Mamuretülaziz (Elazığ) und Hicaz sowie an den Distrikt Kayseri. 51 BOA.DH.ŞFR., 53/125: Verschlüsseltes Telegramm vom 26. Mai 1915, Innenministerium an die Provinzen Van und Bitlis. 52 BOA.DH.ŞFR., 53/210: Verschlüsseltes Telegramm vom 2. Juni 1915, Innenministerium an die Provinzen Diyarbakır, Bagdad und Basra sowie an die Provinzen Siverek und Deyr-i Zor. 53 BOA.DH.ŞFR., 54/357: Verschlüsseltes Telegramm vom 8. Juli 1915, Innenministerium an die Provinzen Ankara und Kastamonu. 54 BOA.DH.ŞFR., 45/214: Internes Dokument des Innenministeriums (undatiert).

105 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

beträgt mehr als zehn Monate. Gleichzeitig wurden auch die anderen Code-Typen der zweistelligen Zifferngruppe verwendet. Ein weiteres Beispiel ist das vierstellige Ziffernverschlüsselungssystem. Es existierten für die vierstellige Zifferngruppe mindestens neun verschiedene Code-Typen. Während des relevanten Zeitraumes wurden verschiedene Typen gleichzeitig verwendet. So wurde beispielsweise ein Telegramm aus Ankara vom 6. Juli 1915 (DH.ŞFR., 478/110) mit der vierstelligen Zifferngruppe gemäß Code-Typ Nummer fünf verschlüsselt. Ein weiteres Telegramm mit der gleichen Zifferngruppe und dem gleichen Code-Typ wurde am 7. September 1916 versendet (DH. ŞFR., 531/46). Die Zeitspanne zwischen den beiden Telegrammen beträgt mehr als 13 Monate. Und wir haben mehrere Telegramme codiert mit vierstelligen Zifferngruppen und mit diversen Code-Typen aus dem gleichen Zeitraum. Ausgehend von dieser Unordnung und Unregelmäßigkeit bei der Verteilung der neuen Code-Bücher sind unzählige Dokumente in den Archiven zu finden, die über die Erfordernis berichten, »weiterhin den alten Schlüssel zu benutzen, bis der neue gesendet wird«.55 In einigen Fällen liest man, dass die Provinzverwaltungen aufgrund der Verzögerungen frei über die Benutzung der Codes entschieden haben. Ein am 30. November 1914 nach Bursa gesandter Befehl (anhand seiner Sprache können wir vermuten, dass er auch an andere Provinzverwaltungen geschickt wurde) besagt, dass »keine Aufforderung zur Rückgabe der alten Schlüssel erfolgt ist«. Die Provinz- und Distriktgouverneure »können mit ihren eigenen untergeordneten Verwaltungsbezirken mit den von ihnen ausgesuchten Codes kommunizieren«.56 Nach dem, was wir in diesen Dokumenten feststellen konnten, ist es schwierig, von einem systematischen Prozess der Kryptografie zu sprechen.

Die Behauptungen, die als Beweis für die Unglaubwürdigkeit von Naim Efendis Telegrammen aufgeführt werden Nach eingehender Prüfung der in den einzelnen Chiffriertelegrammen aus dem Osmanischen Archiv enthaltenen Informationen können wir uns nun die von Orel und Yuca übermittelten Behauptungen genauer ansehen, die besagen, dass die Zifferngruppen in den Naim-Telegrammen nicht mit der Praxis des osmanischen Innenministeriums übereinstimmen und die Telegramme daher Fälschungen sein sollen. 55 BOA.BEO, 4461-327029, 13. Juni 1915. 56 BOA.DH.ŞFR., 47/254: Verschlüsseltes Telegramm vom 30. November 1914, Innenministerium an die Provinz Hüdavendigar (Bursa).

106 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE BEHAUPTUNGEN ALS BEWEIS FÜR DIE UNGLAUBWÜRDIGKEIT

Die beiden mit dreistelligen Zifferngruppen codierten Telegramme, deren Fotografien von Andonian veröffentlicht wurden, sind vom 29. September 1915 und 20. März 1916. Die Autoren Orel und Yuca behaupten, dass der Zeitraum zwischen den Datierungen dieser beiden Dokumente zu lang sei, um mit der gleichen Chiffriermethode verschlüsselt zu sein, und somit seien beide Telegramme Fälschungen: »Aus dieser Tatsache ist zu entnehmen, dass derselbe Verschlüsselungscode bis zu sechs Monate lang verwendet wurde; aber es war während des Krieges nicht möglich, dass ein Verschlüsselungscode über einen so langen Zeitraum zur Verwendung kam, ohne dass er überhaupt geändert wurde«.57

Diese Behauptung beruht auf einem schweren Irrtum. Im Osmanisch Archiv gibt es mit einem dreistelligen Ziffernschlüssel codierte Telegramme, die mit einem Abstand datiert sind, der weitaus größer ist als diese beiden Nachrichten. Um nur einige Beispiele zu nennen, sei hier verwiesen auf die Telegramme, die vom Distriktgouverneur (Mutasarrıf) in Dersim, Sabit, am 8. April 1914 (DH.ŞFR., 423/27) und vom Provinzgouverneur von Van, Cevdet, am 5. November 1914 (DH.ŞFR., 451/134) verschickt wurden. Die beiden telegrafischen Depeschen haben eine Zeitdifferenz von sieben Monaten. Nach der Logik von Orel und Yuca muss mindestens eines dieser Telegramme eine Fälschung sein. Der Einwand könnte sein, dass das erste Telegramm aus der Zeit vor dem osmanischen Eintritt in den Ersten Weltkrieg stammen und dass die Zeitspanne von sechs Monaten erst mit dem Beginn des Krieges beginnen würde, aber auch andere ähnliche Beispiele können genannt werden: Etwa das Telegramm vom 5. November 1914 von Cevdet, Gouverneur von Van (DH.ŞFR., 451/134). Dazu haben wir ein mit dreistelligen Zifferngruppen codiertes Telegramm vom 17. April 1915 des ehemaligen Necef-Distriktgouverneurs Sami (DH.ŞFR., 467/114) und ein weiteres mit dreistelliger Verschlüsselung von Fuat, dem In­ spektor für den öffentlichen Dienst der Provinz Hüdavendigar (Bursa), das am 7. Dezember 1915 verschickt wurde (DH.ŞFR., 500/53). Die Zeitspanne zwischen den Telegrammen von Gouverneur Cevdet und Inspektor Fuat beträgt 13 Monate; und die zwischen dem Telegramm von Sami vom April 1915 und dem von Fuat vom Dezember 1915 beträgt acht Monate und steht erneut im Widerspruch zu den Behauptungen der Autoren. Sie behaupten, dass diese zeitliche Einschränkung der Benutzung nicht nur für dreistellige Zifferncodes, sondern auch für die Verschlüsselungen mit zwei-, vier-, und fünfstelligen Zifferncodes galt. Wenn wir beispielsweise mit zweistelligen Zifferncodes verschlüsselte Telegramme aus dem Zeitraum der dreistelligen von Naim finden würden, gäbe uns dies 57 Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 76.

107 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

– nach der Logik von Orel und Yuca – ebenfalls Veranlassung zu glauben, dass Fälschungen vorliegen. Und doch kamen, wie eben gezeigt, nicht nur die gleichen Zifferngruppen, sondern auch die verschiedenen Typen für jede Zifferngruppe während dieses Zeitraumes ohne zeitliche Begrenzung zur Verwendung. Lassen Sie uns ein weiteres Beispiel nennen. Zwischen dem Telegramm vom 28. September 1915 aus Aleppo, das vom Direktor der Behörde für Umsiedlung von ethnischen Gruppen und Einwanderern, Şükrü (DH.ŞFR., 491/24), verschickt wurde, und dem Telegramm vom 26. März 1916, das von der Kommission für die Liquidation der Verlassenschaften verschickt wurde, liegen sechs Monate. Eine weitere »Fälschung«? In der Tat ist es nicht mehr notwendig, diesen Punkt zu vertiefen. Im Osmanischen Archiv liegen Zehntausende mit zwei, dreiund (vor allem) mit vier- und fünfstelligen Zifferncodes verschlüsselte Telegramme, die während des gesamten Krieges verschickt wurden. Orel und Yuca haben versucht, mit einer weiteren Behauptung zu begründen, dass das mit dreistelligem Zifferncode verschlüsselte Telegramm von Naim Efendi, vom 29. September 1915, eine Fälschung ist: »Hier besteht keine Verbindung zwischen dem realen Verschlüsselungssystem, das am 16. September 1331 [29. September 1915] verwendet wurde, dem Datum, an dem das gefälschte Telegramm versendet wurde, und dem System, das von Andonian verwendet wurde, da zu diesem Zeitpunkt die fünfstellige Zifferngruppe verwendet wurde, nicht die dreistellige«.58

Um ihre Behauptung zu beweisen, veröffentlichten die Autoren zwei verschlüsselte Depeschen, die von Talat am 26. August und 11. Dezember 1915 verschickt wurden. In Bezug auf das Naim-Telegramm vom 29. September 1915 heißt es dann: »Die Unechtheit des Telegramms von Andonian ist unverkennbar, da es in die Zeitspanne der mit der zweistelligen Zifferngruppe codierten Telegramme fällt«.59 Die Behauptung der Autoren, dass es für eine Verschlüsselungsmethode einen einzigen Zeitraum gibt, ist ein Produkt ihrer Phantasie. Es gab keine solche Regel, und der Anspruch darauf ist eine Erfindung der Autoren ohne jegliche nachweisbare Grundlage. Darüber hinaus ist das Osmanische Archiv vollgepackt mit Hunderten von telegrafischen Depeschen, die während des von den beiden Autoren definierten Zeitraumes verschickt wurden und mit zwei-, drei-, vier- und fünfstellige Zifferncodes verschlüsselt sind. Wenn wir das Argument von Orel und Yuca für wahr halten würden, müssten wir feststellen, dass die meisten dieser Telegramme Fälschungen sind. Um ein Beispiel zu nennen: Ein Telegramm, das der erwähnte Verwaltungsinspektor Fuat 58 Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O. , S. 75. 59 Ebd., S. 75.

108 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE BEHAUPTUNGEN ALS BEWEIS FÜR DIE UNGLAUBWÜRDIGKEIT

Abb. 07: DH.ŞFR., 500/53-codiertes Kabel von Beamteninspektor Fuat

aus Bursa am 7. Dezember 1915 (»Ich bin in Bursa angekommen, ab morgen gehe ich weiter nach Gemlik«) verschickt hat und das mit der dreistelligen Zifferngruppe verschlüsselt ist, wäre eine Fälschung.60 (siehe Abb. 07) Dasselbe gilt für zweistellige Zifferncodes. Das Büro des Direktors der Behörde für Umsiedlung von ethnischen Gruppen und Einwanderern in Aleppo, Şükrü Bey, schickte am 15. September 1915 ein Telegramm über die Abschiebung von Armeniern, die während der Deportationen in Aleppo gestrandet waren,61 und am 24. November desselben Jahres eines zum Aufenthaltsverbot für Vertriebene auf dem Bahnhofsgelände und auf anderen zentralen Plätzen der Stadt sowie zu den Bemühungen, sie zu vertreiben. (siehe Abb. 08)

60 BOA.DH.ŞFR., 500/53: Verschlüsseltes Telegramm vom 7. Dezember 1915, Verwaltungsinspektor (Mülkiye Müfettişi) Fuat an das Innenministerium. 61 BOA.DH.ŞFR., 490/96: Verschlüsseltes Telegramm vom 25. September 1915, Direktor der Umsiedlungsbehörde (Muhacirin Müdürü) Şükrü an das Innenministerium.

109 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

Abb. 08: DH.ŞFR., 490/96, codiertes Telegramm, vom Direktor für Umsiedlung von ethnischen Gruppen und Einwanderern, Şükrü, 25. September 1915

Wenn wir dem Argument von Orel und Yuca folgen wollen, müssen diese und Dutzende weitere Telegramme als Fälschungen betrachtet werden.62 Zwischen dem 26. August und dem 11. Dezember 1915 können Hunderte von Telegrammen als Beispiele zitiert werden, die mit dem vierstelligen Zifferncode verschlüsselt wurden; hier sollen nur einige Beispiele von Telegrammen aus jedem Monat zwischen August und Dezember genannt werden: Die telegrafischen Depeschen 29. August 1915 Diyarbakır (DH.ŞFR., 486/25); 30. August 1915 Urfa (DH.ŞFR., 486/4); 3. September 1915 Jemen (DH.ŞFR., 487/51); 30. September 1915 Adana (DH.ŞFR., 491/97); 19. Oktober 1915 Sivas (DH.ŞFR., 494/25); 30. Oktober 1915 Konya (DH.ŞFR., 495/33); 2. November 1915 Sivas (DH. ŞFR., 495/85) 16. und 23. November 1915 Kayseri (DH.ŞFR., 497/82; 498/63); 2. Dezember 1915 Mosul (DH.ŞFR., 499/77). Orel und Yuca behaupten, dass in diesem Zeitraum die fünfstellige Zifferngruppe zur Verschlüsselung verwendet wurde, was zur Folge hätte, dass Hunderte von Dokumenten mit vierstelligen Ziffern zu 62 Um alle Zweifel auszuräumen, hier sind noch ein paar mehr: 2. und 3. September 1915 Eskişehir (DH.ŞFR., 486/139 und 487/14); 26. September 1915 Bursa (490/16); 8. Oktober 1915 Aleppo (DH.ŞFR., 492/90) und Ankara (DH.ŞFR., 492/97); 2. Dezember 1915 Ordu (DH.ŞFR., 499/87).

110 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE BEHAUPTUNGEN ALS BEWEIS FÜR DIE UNGLAUBWÜRDIGKEIT

Fälschungen erklärt werden müssten. Die kurze Antwort ist folgende: Orels und Yucas Behauptung in Bezug auf Naims Dokument vom 29. September 1915, dass »es keinen Zusammenhang zwischen dem tatsächlich verwendeten Verschlüsselungssystem und dem von Andonian benutzten gibt, da in diesem Zeitraum die fünfstelligen Zifferngruppierungen verwendet wurden«, ist falsch. Und ihre Behauptung, die auf diesem Argument beruht, dass nämlich »der gefälschte Charakter der Telegramme Andonians klar ist«,63 ist unbegründet.64 Für das mit dem dreistelligen Zifferncode verschlüsselte Naim-Telegramm vom 20. März 1916 stellen die Autoren ähnliche Behauptungen auf: »Das damals verwendete Verschlüsselungssystem war die vierstellige Zifferngruppencodierung«. Und sie fügen hinzu: »Das belegen authentische Dokumente, die sich im Generalstabarchiv, I. Weltkrieg, Schrank 139, Ordner 1762, Akte 187 befinden. Da er keine Möglichkeit hatte, das zu diesem Zeitpunkt verwendete Verschlüsselungssystem zu kennen, schrieb Andonian das gefälschte Telegramm selbst – oder ließ es für sich schreiben – unter Verwendung der dreistelligen Zifferncodierung«.65

Das ist eine eigenartige Herangehensweise. Es ist sehr problematisch, eine Quelle zu nennen, die niemandem sonst zur Verfügung steht und deren Legitimität somit nicht überprüfbar ist, und diese Quelle als Beweis dafür zu verwenden, dass alle anderen Dokumente gefälscht seien. Orel und Yuca fordern die Akzeptanz ihrer Behauptungen, ohne diese Quelle zur Verfügung zu stellen; das ist inakzeptabel. Abgesehen davon ist ihre Behauptung, dass im März 1916 »der vierstellige Zifferncode in Kraft war«, nicht haltbar. Wir haben jedes einzelne Dokument vom März 1916 im Osmanischen Archiv gelesen. Es gibt 216 Chiffriertelegramme aus dem Zeitraum vom 1. bis 31. März 1916, die größtenteils nicht mit der vierstelligen, sondern mit der fünfstelligen Zifferngruppe verschlüsselt sind. Es gibt auch vier Beispiele für den zweistelligen Zifferncode.66 Wichtiger ist die Tatsache, dass es mindestens zehn Telegramme gibt, die am 20. März, dem Datum des betreffenden Naim-Dokumentes, verschickt wurden. Von diesen sind vier mit fünfstelliger Zifferngruppe und die anderen sechs mit einer vierstelligen Zifferngruppe codiert.67 Wie passt das zum Anspruch der Autoren auf periodenspezifische Verschlüsselungsmethoden? Sind alle mit zwei- und fünfstelligen Zifferngruppen verschlüsselten Telegramme gefälscht? (siehe Abb. 09 und Abb. 10) 63 Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 75. 64 Ebd., S. 75. 65 Ebd., S. 66. 66 BOA.DH.ŞFR., 513/73; 514/82 und 103; 515/79. 67 Die betreffenden codierten Dokumente liegen zwischen BOA.DH.ŞFR, 513/98 und 514/001.

111 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

Abb. 09: DH.ŞFR., 513/73, codiertes Telegramm aus Niğde, 18. März 1916

Abb. 10: DH.ŞFR., 513/101, codiertes Telegramm Trabzon - 20. März 1915

112 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE FRAGE DER VERWENDUNG VON LINIERTEM PAPIER

Ich möchte an dieser Stelle hinzufügen, dass die Benutzung aller Zifferngruppen für Chiffriertelegramme weitverbreitet war, und zwar ohne zeitliche Limitierung eines bestimmten Codes. Telegramme, die mit verschiedenen Codes verschlüsselt waren, wurden oft noch am selben Tag verschickt und kamen auch an! Um zu dokumentieren, wie unbegründet die Argumente von Orel und Yuca sind, hier einige von Dutzenden von Beispielen: - 26. Dezember 1914: dreistelliger Zifferncode (450/86), vierstelliger Zifferncode (450/69) und fünfstelliger Zifferncode (450/71); - 18. und 20. März 1915: (Provinz Van) dreistelliger Zifferncode (DH. ŞFR., 464/16); (Provinzen Izmit und Muğla) vierstelliger Zifferncode (DH.ŞFR., 464/25 ve /27); und (Provinz Sivas) fünfstelliger Zifferncode (DH.ŞFR., 464/40); - 6. Mai 1916: (Provinz Maraş) fünfstelliger Zifferncode (518/79); (Provinzbezirk Canik) zweistelliger Zifferncode(DH.ŞFR., 518/90); und (Provinz Kastamonu) vierstelliger Zifferncode (518/94). Alle diese Beispiele weisen eindeutig auf eine Wahrheit hin: Jedes einzelne Argument von Orel und Yuca bezüglich der Verschlüsselungstechniken und -praktiken des Osmanischen Reiches ist falsch und kann daher nicht verwendet werden, um die Authentizität der Naim-Telegramme infrage zu stellen. Wie die Archivdokumente gezeigt haben, entsprechen die von Naim zur Verfügung gestellten Dokumente der osmanischen Verschlüsselungspraxis im Ersten Weltkrieg.

Die Frage der Verwendung von liniertem Papier Ein weiteres Argument von Orel und Yuca für die Unglaubwürdigkeit von Naims Dokumenten hängt mit dem Papier zusammen, auf dem sie geschrieben sind. Die beiden Autoren behaupten, dass die Tatsache, dass eines von den Dokumenten auf liniertem Papier geschrieben ist, ein Beweis dafür sei, dass es sich um eine Fälschung handelt: »Eines dieser ›Dokumente‹, mit der Dokumentnummer 76, wurde auf einem Blatt Papier geschrieben und trägt kein offizielles Zeichen. Ein solches Blatt Papier, das dem Papiertyp des Kalligrafie-Unterrichts an französischen Schulen ähnlich ist, wurde nicht als offizielles Briefpapier in den osmanischen [Verwaltungs-]Büros verwendet«.68

Das Foto dieses Telegramms, das vom Direktor des Deportationsbüros Abdülahad Nuri am 20. März 1916 an das Innenministerium geschickt wurde und mit der zweistelligen Zifferngruppe verschlüsselt ist, wurde von Andonian in der armenischen und französischen Ausgabe 68 Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 60.

113 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

seines Buches veröffentlicht. Naim entschlüsselt dieses Dokument in seinen Memoiren so: »Aus den uns vorliegenden Informationen geht hervor, dass bis heute 35.000 in der Gegend von Bab und Meskene, 10.000 in Aleppos Deportationslager (Karlık), 20.000 in der Gegend um Dipsi, Abuharrar und Hamam, [und] 35.000 in Ras-al-Ayn, insgesamt 95.000 Armenier, aus diversen Gründen gestorben sind«.69 Das Urteil der Autoren, dass liniertes Papier »nicht als offizielles Schreibpapier in osmanischen Ämtern zu finden war«, und die Verwendung dieser Behauptung als Beweis für die Fälschung sind unverständlich. Liniertes Papier wurde in der Tat innerhalb der osmanischen Bürokratie während des fraglichen Zeitraumes benutzt, und das Osmanische Archiv ist voll mit Dokumenten, die liniertes Papier zur Verwendung in verschiedenen Abteilungen des osmanischen Innenministeriums anfordern. Um Beispiele zu nennen: »Die Bestellung, dass 100 Stück liniertes Papier entsprechend dem zugeschickten Muster des Versorgungsamtes der Generaldirektion für Sicherheit«,70 »die Bestellung der Buchhaltung von liniertem Papier«,71 »die Zahlung der Rechnung für das linierte Papier, das für das Privatsekretariat gekauft wurde«.72 Die wichtigste Information in diesen und anderen ähnlichen Dokumenten ist jedoch die Aufforderung des Innenministeriums, insbesondere verschlüsselte Telegramme auf liniertes Papier zu schreiben. Der Grund dafür ist klar. Nur so konnte sichergestellt werden, dass die Beamten die zu verschlüsselnden/entschlüsselnden Ziffernreihen nicht verwechselten und so Fehler vermieden. Unnötige Korrespondenz zur Fehlerbehebung konnte so unterbunden werden. Ein allgemeines Rundschreiben wurde bereits im Oktober 1913 – lange vor Kriegsausbruch – an alle Regierungsverwaltungen geschickt. Als erstes wurde die Regierung auf dieses Thema durch ein Schreiben des Großwesirs am 29. Oktober 1913 an das Innenministerium aufmerksam gemacht. Unter dem Titel »Über die Handhabung von Codes auf liniertem Papier und deren Zustellung an die Regionalverwaltung« berichtete das Sekretariat des Großwesirs, dass es »zwei Gruppen von telegrafischen Botschaften« beobachtet habe, »die jeweils aus Hunderten von Ziffern bestehen, die vom Landrat (Kaymakam) aus Gevar verfasst und an die Provinz Van und an den Bezirk Hakkari geschickt und dann dem örtlichen Telegrafenbüro geliefert wurden [– alle] in einer sehr 69 Für die Übersetzung des Dokumentes und die fotografische Platte siehe Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 169f. Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfe­dilen Telgrafların, a.a.O., S. 56, S. 156. 70 BOA.DH.EUM.MH., 136/43: Botschaft vom 27. August 1916. 71 BOA.DH.EUM.LVZ., 34/116: Botschaft vom 27. August 1916. 72 BOA.DH.EUM.LVZ., 40/45: Botschaft vom 6. November 1917.

114 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE FRAGE DER VERWENDUNG VON LINIERTEM PAPIER

dichten und schwer lesbaren Schrift geschrieben, die während ihrer Entschlüsselung zu Fehlern führte.« Nachdem das Büro des Großwesirs seine Besorgnis darüber geäußert hatte, dass »solche Zustände in anderen Regionen und Bezirken wiederholt festgestellt werden«, verlangte es, dass eine Mitteilung an alle Provinzen und anderen Verwaltungszentren verschickt wird, in der es heißt, dass verschlüsselte Telegramme auf liniertem Papier geschrieben werden. In derselben Mitteilung weist das Sekretariat des Großwesirs darauf hin, dass das Außenministerium inzwischen liniertes Papier für seine verschlüsselte Korrespondenz verwendet.73 Der Großwesir kündigt auch an, dass demnächst eine Botschaft mit ähnlichem Inhalt an den Präsidenten des Staatsrats gesendet wird.74 Als Reaktion auf die Botschaft des Großwesirs gab das Innenministerium am 21. November 1913 in einem Rundschreiben an »alle Provinzen und unabhängigen Distrikte« die Verordnung heraus, dass für alle verschlüsselten Telegramme an die Provinzen liniertes Papier verwendet werden soll, um die durch Verschlüsselung der Botschaften entstandenen Schreibprobleme zu beheben: »Da die Zeilen der verschlüsselten Telegramme an manchen Stellen eng zusammengesetzt sind, können beim Schreiben Fehler auftreten. Alle Verwaltungseinheiten werden hiermit auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass die Chiffren immer auf liniertem Papier geschrieben werden müssen, um Fehler zu vermeiden und somit unnötige zusätzliche Korrespondenz [in der Zukunft] zur Korrektur der Botschaften«.75

Die Behauptung von Orel und Yuca, dass das linierte Papier eines von Naims Dokumenten beweist, dass es sich um eine Fälschung handelt, ist somit unzutreffend. Verschlüsselte Korrespondenz war nicht unkompliziert, sodass die Verwendung von liniertem Papier eine nützliche Hilfe dafür bot. Die Tatsache, dass eines der von Naim zur Verfügung gestellten Dokumente auf liniertem Papier geschrieben war, beweist nicht, dass es sich um eine Fälschung handelt – im Gegenteil, sie zeigt vielmehr, dass die Kopie des Dokumentes echt ist.

Eine letzte Beobachtung Die von Naim an Andonian übergebenen verschlüsselten Telegramme unterscheiden sich nicht von den chiffrierten Depeschen im Osmanischen 73 BOA.DH.KMS, 5-10: Botschaft vom 29. Oktober 1913, Amt des Großwesirs an das Innenministerium. 74 BOA.ŞD., 2825-15: Botschaft vom 29. Oktober 1913, Amt des Großwesirs an den Präsidenten des Staatsrates. 75 BOA.DH.KMS, 5-10: Botschaft vom 24. November 1915, Innenministerium an alle Verwaltungseinheiten/Regionen.

115 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

Archiv. In der Tat entkräftet nichts ihre Authentizität – und es sind Originaldokumente. Naim arbeitete im Büro für Deportationen, und diese Behörde nutzte offiziell die zweistellige Zifferngruppe zur Verschlüsselung ihrer Nachrichten. Daher ist es plausibel, dass er Andonian Telegramme mit dieser Chiffriermethode, die bei den meisten der betroffenen kopierten Depeschen verwendet wurde, zur Verfügung gestellt hatte. Die Hauptschwierigkeit ist bei diesem Thema, dass wir noch nicht einmal den Code-Schlüssel kennen, der in diesem Zeitraum verwendet wurde, da die Verschlüsselungscodes und die Listen, in denen die Äquivalenzen der Codes hinterlegt waren, für Forscher immer noch nicht zugänglich sind. Im Osmanischen Archiv ist nur das Encodierungsregister für 1914 zugänglich. Dieses Code-Buch enthüllt die dreistellige Ziffernverschlüsselungsmethode nur für das Jahr 1914.76 Dieses System wurde bis März 1915 (Beginn des osmanischen Jahres) verwendet und anschließend »theoretisch« aus dem Verkehr gezogen. Ein Befehl, der am 7. März 1915 an alle Provinzen und Distrikte mit Ausnahme von Hijaz, Jemen und Medina geschickt wurde, verlangt: »Da die dritte Art von Verschlüsselungscodes, die zuvor für die Kommunikation zwischen der Hohen Pforte und den Provinzen verwendet wurden, gelöscht und verbrannt wird, müssen die noch vorhandenen Kopien [des Schlüssels] in Ihrer Gegenwart vernichtet werden und deren Vollzug ist dann [zurück nach Istanbul] zu melden«. In den verschiedenen Telegrammen, die von den Provinz- und Distriktgouverneuren nach Istanbul geschickt wurden, berichteten die Gouverneure über die »Verbrennung des dritten Schlüsseltyps« auf Anweisung der Regierung.77 Doch trotz dieser Aufforderung zur Vernichtung der Codes wurde die dreistellige Zifferngruppe weiterhin in der chiffrierten Kommunikation verwendet, zum Beispiel in den Botschaften von Cevdet, dem Provinzgouverneur von Van (17., 18. und 22. März 1915) (DH.ŞFR), 465/60, 91, 126); vom Kanzler Besim im Namen des amtierenden Gouverneurs von Mosul (3. April 1915) (DH.ŞFR., 466/146), (6. April 1915) (DH. ŞFR., 467/23); und von Sami, dem ehemaligen Distriktgouverneur von Neced (5. April 1915) (DH.ŞFR., 467/10). Infolgedessen wurde am 2. August 1915 der Auftrag, die dritte Art von Codes verbrennen zu lassen, in einem weiteren Telegramm wiederholt.78 Anscheinend war dem Befehl zur Vernichtung der dreistelligen Zifferncodes nicht vollständig Folge geleistet worden, wie das bereits erwähnte Telegramm des Verwaltungsinspektors Fuat vom 7. Dezember 1915 zeigt (DH.ŞFR., 500/53). Wir sollten auch die Information hinzufügen, dass keines der mit den 76 BOA.A.}d: Register des Ministeriums, 01520.001. 77 BOA.DH.KMS., 24-2-2-22. 78 BOA.DH.KMS., 24-2-44.

116 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

EINE LETZTE BEOBACHTUNG

dreistelligen Zifferngruppen verschlüsselten Dokumente, die wir im Archiv gefunden haben, mit dem Code-Schlüssel von 1914 verschlüsselt worden war. Das bedeutet, dass 1915 ein neuer Code für die dreistellige Zifferngruppe aufgelegt wurde. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass über die mit zwei- und dreistelligen Zifferngruppen verschlüsselten Telegramme, die Naim Andonian weitergegeben hat, kein endgültiges, entscheidendes Urteil gefällt werden kann, ohne vorher die entsprechenden Entschlüsselungsregister zu sehen. Um dieses Thema beleuchten zu können, müssen zunächst die Register der Codes für die Jahre 1915 bis 1918 veröffentlicht und Wissenschaftlern zur Verfügung gestellt werden. Bestimmte Dokumente, auf die wir in den Archiven gestoßen sind, haben uns zu der Annahme veranlasst, dass diese Register tatsächlich existieren und von den Archivmitarbeitern verwendet werden. Die Wissenschaftler, die in den Archiven arbeiten, wissen, dass die Telegramme, die aus den verschiedenen Verwaltungszentren in die Provinzen geschickt wurden, verschlüsselt ankamen und dass die Beamten der damaligen Zeit sie auf demselben Blatt Papier entschlüsselt haben. Diese Dokumente werden für die Historiker durch die über den Zahlen stehende Entschlüsselung lesbar. Es gibt jedoch einige Telegramme, die nicht entschlüsselt wurden. Ein gutes Beispiel dafür ist DH.ŞFR., 523/90 – ein dreiseitiges Telegramm vom 21. Juni 1916, verschlüsselt mit einer vierstelligen Zifferngruppe. Es scheint nicht entziffert worden zu sein und ist so für die Historiker nutzlos. Doch im Katalog der Archivbestände wird der Inhalt des Dokumentes als »Bericht, dass der Feind begonnen hat, Jeddah zu bombardieren, und dass die Scharmützel zwischen [osmanischen] Soldaten und den Rebellen andauern« beschrieben. Dafür gibt es nur eine mögliche Erklärung: Das Code-Buch für diese Zifferngruppe von 1916 existiert noch immer und wurde von Archivmitarbeitern herangezogen, sodass sie solche Dokumente entschlüsseln und Zusammenfassungen davon niederschreiben konnten. Das wirft die Frage auf: Warum werden diese Code-Bücher den Forschern immer noch verweigert? In der Tat, warum? Die Verweigerung, Wissenschaftlern den Zugang zu grundlegend wichtigem Material wie den Registern der Verschlüsselungscodes für die Zeit nach 1914 zu gewähren, obwohl der Erste Weltkrieg ein ganzes Jahrhundert zurückliegt, wirft die entscheidende Frage auf. Wir haben allen Grund, misstrauisch zu sein. Diese Situation kann als eine Art Täuschung betrachtet werden, die als Beweis für die Richtigkeit oder Authentizität der belastenden Naim-Dokumente gelten muss. Wir behaupten: Wenn die verheimlichten Code-Bücher in den Archiven diese Telegramme und andere Dokumente als Fälschungen ausweisen würden, hätten Forscher oder Autoren, denen das Recht eingeräumt wurde, die gesperrten Dokumente im Generalstabsarchiv zu 117 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

verwenden, ihre Ergebnisse schon längst veröffentlicht. Es ist daher als zwingender Beweis für die Authentizität der Naim-Dokumente zu werten, dass diese Register den Wissenschaftlern nicht allgemein zugänglich gemacht werden.

Die Frage der Datumsangaben auf den Dokumenten und der Unterschriften des Gouverneurs Unter Bezugnahme auf osmanische Archivdokumente konnten wir zeigen, dass es tatsächlich einen osmanischen Beamten namens Naim Efendi gab, dass er Memoiren geschrieben hatte und dass die Ereignisse, von denen er schrieb, reale Vorkommnisse waren, die er selbst erlebt hatte. Ebenso – auf der Grundlage von Beweisen, die im Osmanischen Archiv gefunden wurden – haben wir aufgezeigt, dass die Verschlüsselungstechniken in den Telegrammen, die Naim Andonian verkauft hatte, die gleichen sind wie die der osmanischen Regierung. Vor allem haben wir gezeigt, dass die Verwendung von liniertem Papier für diese von Aleppo aus gesendeten Depeschen und der Einsatz der zweistelligen Zifferngruppen als Verschlüsselungstechnik in ihrer Niederschrift – was bisher als Beweis für die Unglaubwürdigkeit der Dokumente galt – die Authentizität der Dokumente von Naim Efendi nicht infrage stellen, sondern sie bestätigen. Zwei strittige Punkte bleiben noch: Zum einen die Behauptung, dass das Datum auf einem der sieben entzifferten Dokumente, die in Naims Memoiren wiedergegeben wurden, falsch sei, und zum anderen die Behauptung, dass die Unterschrift des Gouverneurs von Aleppo, Mustafa Abdülhalik, auf den Dokumenten gefälscht wurde. Diese beiden Behauptungen von Orel und Yuca sind falsch, ähnlich wie ihre anderen Ansprüche, die Nichtauthentizität belegen zu können. Um dem Leser die Möglichkeit zu geben, die Diskussion zu diesem Thema besser verfolgen zu können, sollten wir einige wichtige Punkte wiederholen: Naim übergab Andonian insgesamt 26 Dokumente. Von diesen wurden acht nicht in die handschriftlichen Memoiren von Naim aufgenommen. Sechs dieser acht Dokumente betreffen den osmanischen Parlamentsabgeordneten Krikor Zohrab und befinden sich in der Boghos-Nubar-Pascha-Bibliothek. Zwei dieser acht gehörten dem Direktor von Teskilat-ı Mahsusa (Spezialorganisation) BahaettinŞakir. Die restlichen 18 Dokumente wurden in den Memoiren Naims erwähnt und Andonian veröffentlichte zwölf davon in seinem Buch zusammen mit zwei Dokumenten Bahaettin Şakirs (die Anzahl der veröffentlichten Dokumente in Andonians Buch beträgt also 14.) Sieben von 26 Dokumenten wurden mit zwei- und dreistelligen Zifferngruppen 118 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

BEWEISEN DIE DATUMSANGABEN AUF DEN DOKUMENTEN IHRE FÄLSCHUNG?

verschlüsselt. In seinem Buch veröffentlichte Andonian Fotos von fünf dieser sieben Telegramme. Es gab zwölf entzifferte Dokumente mit der Unterschrift des oben genannten Gouverneurs Mustafa Abdülhalik. Von sieben dieser zwölf Dokumente stellt Andonian Fotos in seinem Buch zur Verfügung. Wir haben die Behauptungen, die auf dem linierten Papier und den verwendeten Verschlüsselungstechniken basieren, entkräftet, dass es sich bei diesen verschlüsselten Telegrammen um Fälschungen handelt. Die einzige noch zu klärende Frage ist die Behauptung der Nichtauthentizität der Dokumente aufgrund des Datums eines Dokumentes und der Unterschriften auf den zwölf entschlüsselten Telegrammen.

Beweisen die Datumsangaben auf den Dokumenten ihre Fälschung? Orel und Yuca argumentieren, dass das Datum auf dem Telegramm Nummer 502, das angeblich am 16. September von Istanbul nach Aleppo geschickt wurde, ein Beweis dafür sei, dass es sich bei dem Dokument um eine Fälschung handelt, denn neben der Unterschrift des Gouverneurs stände »5 minhü« geschrieben, was dem 5. des Monats September entspricht.79 In der Tat wurde Mustafa Abdülhalik erst am 3. Oktober 1915 in dieses Amt berufen und kam erst am 7. November in Aleppo an, um seine Aufgaben zu übernehmen.80 Orel und Yuca behaupten daher, dass ein Dokument, das von einem Gouverneur unterzeichnet wurde, bevor er seine Position einnahm, eine Fälschung sein muss. Orel und Yuca bezweifeln die Echtheit wegen des Datierungsfehlers auf einem einzigen Dokument, aber es gibt weitere fünf solcher Dokumente, die ähnlich problematisch sind. Alle fünf tragen die Unterschrift von Mustafa Abdülhalik, aber sie stammen noch aus der Zeit, bevor er Gouverneur von Aleppo wurde. Vier davon werden in Naims 79 Minhü, was »des gleichen Monats« bedeutet, wird oft in osmanischen Dokumenten verwendet, wobei die vorhergehende Zahl das Datum angibt. Für das Bild des Dokumentes siehe die armenische Version von Naim Efendis Memoiren: Andonian, Medz Vojirě, a.a.O., S. 152; für den Text siehe Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [06]. 80 Zur Ernennung von Gouverneur Mustafa Abdülhalik siehe BOA.İ.MMS, 200/27: Botschaft vom 3. Oktober 1915, Innenministerium, Direktion der Registratur für Personalwesen, an die Hohe Pforte; BOA.BEO, 4377328273-01-01-01: Botschaft vom 4. Oktober 1915, Sekretariat des Großwesirs an das Innenministerium. Zum Beginn seiner Tätigkeit siehe BOA. DH.ŞFR. 496/53: Verschlüsseltes Telegramm vom 7. November 1915, Generaldirektor für Sicherheit İsmail Canpolat an das Innenministerium.

119 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

Memoiren erwähnt: 1) 16. September 1915, 2) 12. Oktober 1915, 3) 16. Oktober 1915 und 4) 25. Oktober 1915.81 Es gibt auch ein nicht in den Memoiren erwähntes – fünftes – Dokument über die Ermordung des armenischen Parlamentsabgeordneten Krikor Zohrab vom 17. Oktober 1915; das Original befindet sich in der Bibliothek von Boghos Nubar Pascha. Wenn wir der Logik von Orel und Yuca folgen, so müssten wir diese fünf Dokumente mit der Unterschrift von Mustafa Abdülhalik auch als Fälschungen betrachten. Eine solche Annahme aber wäre falsch, und dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens schreibt Naim Efendi in seinen Memoiren: »Ich kam in Aleppo an. Das Schicksal hatte arrangiert, dass ich zum Chefsekretär von Abdülahad Nuri Bey ernannt wurde, der erst vor drei oder vier Tagen als Stellvertreter des Direktors des Regionalbüros für Deportationen in Aleppo angekommen war«.82 Gouverneur Mustafa Abdülhalik und der Direktor des Deportationsbüros Abdülahad [Nuri] waren zusammen nach Aleppo gekommen, was bedeutet, dass Naim sein Amt Mitte November 1915 antrat. Wenn Naim, der ja wusste, wann der Gouverneur und der stellvertretende Direktor des Regionalbüros für Deportationen in Aleppo angekommen waren, Dokumente hätte fälschen wollen, so hätte er sie mit einem Datum nach dem Datum der Ankunft des neuen Gouverneurs datiert. Wir glauben daher, dass die fünf Dokumente nicht gefälscht, sondern authentisch sind. Zweitens beweist ein Datierungsfehler auf einem Dokument nicht die Fälschung des Dokumentes. Im Gegenteil, ein falsches Datum kann als Beweis für die Echtheit eines Dokumentes angesehen werden. Wenn wir ein Dokument, das ein falsches Datum trägt, kategorisch für falsch erklären würden, dann ist das Osmanische Staatsarchiv voll mit falschen und gefälschten Dokumenten. Zur Unterstützung dieser Argumentation möchte ich auf folgende drei Dokumente verweisen. Das erste ist ein Telegramm, das von einem gewissen Şükrü (im Namen des Innenministers) an die Provinz Van am 1. April 1915 geschickt wurde, um Informationen über die Situation der Kurden in der Region zu erhalten. In dem Dokument fragt der Verfasser nach »Beziehungen zwischen den Kurden und der Bevölkerung der türkischen Dörfer und Städte, über die in der chiffrierten Depesche vom 10. Februar 1916 berichtet wurde«. Es ist offensichtlich, dass sich eine Botschaft vom 1. April 1915 nicht auf eine Mitteilung beziehen kann, die erst in zehn Monaten verschickt wird. Vielmehr muss der Verfasser des April-Telegramms es am 1. April 1916 geschrieben haben, oder das Datum der erwähnten Mitteilung sollte der 10. Februar 1915 sein. 81 Obwohl er die Fotografie des Dokumentes vom 25. Oktober 1915 hatte, verwendete Andonian sie nicht in seinem Buch. 82 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 21.

120 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Es handelt sich bei den genannten Jahresangaben lediglich um einen Schreibfehler des Absenders.83 Das zweite Beispiel ist eine Mitteilung des osmanischen Außenministeriums an das Innenministerium vom 1. Dezember 1915. Im Text dieser Botschaft geht es um ein Ereignis, das am 13. Dezember 1915 eingetreten ist. Ein weiteres Datum auch im Text ist der »31. November« (31 Teşrinisani), der gar nicht existiert. Auch hier ist es selbstverständlich, dass entweder das Datum des Berichts oder die Datumsangaben im Text (zumindest eines) falsch ist.84 Das dritte und letzte Beispiel ist ein aus Aleppo geschicktes Telegramm mit dem Datum 24./25. Februar 1332 [1916]. Eine solche Datumsangabe existiert jedoch nicht im osmanischen Kalender. Der osmanische Staat verwendete den »Rumi«-Kalender, der im Verlauf eines Jahres einen Unterschied von 13 Tagen gegenüber dem gregorianischen Kalender aufweist.85 Während des Krieges beschloss die Regierung, nach dem 15. Februar 1332 [1916] die restlichen Tage des Monats einfach aus dem Kalender zu löschen und den darauffolgenden Tag, den 16. Februar, durch den 1. März zu ersetzen, an dem die neue Datierung begann. Die Datumsangaben auf dem Dokument, »24./25. Februar 1332« existierten daher nicht. Um es nochmals zu unterstreichen: Wenn wir Datumsfehler als Begründung für die Ablehnung der Echtheit eines Dokumentes verwenden würden, müssten alle oben genannten Dokumente als Fälschungen eingestuft werden. Aber eine solche Vorgehensweise wäre falsch. Wie wir gezeigt haben, sind im Osmanischen Archiv Dutzende von Dokumenten vorhanden und mühelos zu finden, die solche Datierungsfehler enthalten. Ein weiteres Argument, das herangezogen werden kann, um zu verdeutlichen, dass die falsche Datierung allein nicht ausreicht, um die Authentizität der Dokumente zu bezweifeln, bezieht sich auf den Inhalt der genannten Dokumente. Kein einziges dieser Dokumente, die in Sprache und Argumentation ansonsten in allen anderen Punkten im Einklang mit der Terminologie der osmanischen Bürokratie stehen, enthält eine Verordnung zur Ermordung und Vernichtung der armenischen Bevölkerung. Mit anderen Worten, es gibt keine wesentlichen Informationen in diesen Dokumenten, die man als Motiv für ihre Fälschung verstehen könnte. So heißt es in einem dieser Dokumente vom 16. September 1915: »Es 83 BOA.DH.ŞFR., 62/18: Verschlüsseltes Telegramm vom 1. April 1915, Innenministerium an die Provinzverwaltung Sivas. 84 BOA.DH.EUM.2. Şb., 14/58-1: Mitteilung vom 1. Dezember 1915, Außenministerium an das Innenministerium. 85 Der Rumi basierte auf dem Julianischen (daher »Rumi« oder »Römischen«) Kalender, begann aber wie der muslimische Hijri-Kalender im Jahre 622 n. Chr. Er wurde von der osmanischen Regierung neben anderen Kalendern (Hijri, Gregorianisch) von der Tanzimat-Zeit (1839) bis in die frühen Jahre der Türkischen Republik für verschiedene Verwaltungszwecke eingesetzt.

121 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

wird empfohlen, die Behandlung, die zuvor für den männlichen Anteil bestimmter bekannter Individuen (Armenier) angeordnet wurde, auch auf ihre Frauen und Kinder auszudehnen und dabei die Mitarbeit zuverlässiger Beamter in Anspruch zu nehmen«. Ein weiteres dieser Dokumente vom 12. Oktober 1915 lautet wie folgt: »Es wird berichtet, dass einige aus der lokalen Bevölkerung oder Regierungsbeamte armenische Frauen geheiratet hätten. Sie werden mit großer Dringlichkeit ermahnt, solche Ehen energisch zu verhindern und solche Frauen ausnahmslos zu deportieren«. Eines der eindrucksvollsten Beispiele für das Fehlen eines Motivs zur Fälschung findet sich im Dokument vom 25. Oktober 1915. In diesem Dokument fordert der Innenminister die Provinzverwaltung in Aleppo auf: »Besorgen und senden Sie innerhalb einer Woche die in der geheimen Mitteilung Nummer 1923, vom 25. September [1]331, (8. Oktober 1915) angeforderten Dokumente«. Es ist offensichtlich, dass es keinen Sinn machen würde, ein Dokument zu fälschen, das sich nur mit einer Anfrage nach zuvor angeforderten Dokumenten befasst. Die Fotografie dieses Dokumentes vom 25. Oktober 1915 wurde weder von Andonian verwendet noch in das von ihm veröffentlichte Buch aufgenommen. Die gleiche Konstellation besteht in Bezug auf das Dokument vom 17. Oktober 1915, das in der Bibliothek von Boghos Nubar Pascha gefunden wurde. Das Dokument ersucht um die Zusendung der Unterlagen aus der Untersuchung der Ermordung des armenischen Parlamentsabgeordneten Krikor Zohrab und besagt, dass »der Istanbuler Abgeordnete Krikor Zohrab Efendi an den Folgen eines Unfalls [der ihn ereilte] während seiner Reise starb«. Zu behaupten, dass ein solches Dokument eine Fälschung sei, ist lächerlich; es hätte ja benutzt werden können, um zu beweisen, dass Zohrab ermordet wurde, wenn man es anders formuliert hätte. Und doch behaupten Orel und Yuca, dass »das grundlegende Ziel des Buches [veröffentlicht von Andonian] darin besteht, »offizielle Beweise zu verbreiten, die die Türken belasten«.86 Wenn dies tatsächlich der Fall wäre, dann ist ihre Behauptung, dass es sich bei dem oben genannten Dokument um eine Fälschung handelt – ein Dokument, in dem es heißt, dass Zohrab Efendi nicht ermordet wurde, sondern an den Folgen eines Unfalls gestorben ist – mehr als seltsam. Wir müssen hinzufügen, dass Andonian, wie im Falle eines von Enver Pascha verfassten Dokumentes, nicht gezögert hat, in seinem Buch auch andere als die von Naim bereitgestellten Dokumente zu veröffentlichen. Es scheint, dass Andonian der Meinung war, dass der Inhalt dieses Telegramms, das ihm Naim gegeben hatte, es nicht erforderlich machte, es in das Buch aufzunehmen.87 86 Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 12. 87 Für Envers Dokument siehe Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 232f. Andonian hat das Jahr auf dem Dokument von Enver fälschlicherweise als 1918 gelesen. Es sollte 1915 sein.

122 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Allerdings bleibt noch zu erläutern, wie und warum die Unterschrift des Gouverneurs Mustafa Abdülhalik zu einem Zeitpunkt auf diesen Telegrammen erscheint, als er die Verantwortung für seine neue Position noch nicht übernommen hatte. Die Antwort ist überraschend einfach. Wahrscheinlich las er die fraglichen Dokumente erst nach seinem Amtsantritt und leitete sie weiter an das Deportationsamt, wo Naim beschäftigt war. Dies würde auch erklären, wie Naim in den Besitz dieser Dokumente gelangen konnte. Bevor Mustafa Abdülhalik in dieses Amt berufen wurde, war der Provinzgouverneur von Aleppo Bekir Sami, dessen Amtszeit am 3. Oktober 1915 endete.88 Die hier zur Diskussion stehenden Dokumente (mit Ausnahme des Dokumentes vom 16. September 1915) stammen alle aus der Zeit, nachdem Bekir Sami seine Position verlassen hatte.89 Zwischen dem Zeitpunkt des Ausscheidens von Bekir Sami und des Amtsantritts des neuen Gouverneurs diente der Kadı (islamisch religiöser Richter) Halit als amtierender Gouverneur. Aus den in unserem Besitz befindlichen Archivdokumenten können wir ersehen, dass der Kadı Halit nur auf die Mitteilungen geantwortet hat, die Anfragen aus Istanbul erhielten. Er reagierte nur auf Probleme, die eine sofortige Lösung erforderten. Papiere mit Vorschlägen für zukünftige Maßnahmen oder politische Anweisungen wurden dem neuen Gouverneur überlassen.90 Wenn wir uns die Telegramme von Naim aus den Monaten September und Oktober genauer ansehen, sehen wir, dass es sich dabei um Ratschläge und Vorschläge zu bestimmten Themen handelte. Nach seiner Ernennung las der neue Gouverneur diese Telegramme und schickte sie an die zuständigen Stellen und Beteiligten. Kurz gesagt, der Inhalt dieser Telegramme war nicht so aufschlussreich, dass er zur Fälschung motiviert hätte; und die Wiederholung einer Anfrage nach Unterlagen und ein Bericht über Zohrabs »Unfalltod« sind nicht die Art von »vernichtenden Beweisen«, denen man mit gutem Grund unterstellen könnte, dass sie gefälscht seien.

88 BOA.İ.MMS, 200/27: Schreiben vom 3. Oktober 1915, Hohe Pforte an das Innenministerium, Direktion für Personal- und Dienstregister. 89 Wenn das Datum auf dem Dokument vom 16. September richtig ist, warum hat Bekir Sami (der damals in Aleppo war) nicht darauf reagiert? Und: Hat Mustafa Abdülhalik das Datum »5 minhü« (der Fünfte dieses Monats) zufällig geschrieben? Diese Fragen bleiben offen und bieten Raum für Spekulationen. 90 Zwei Beispiele für die Korrespondenz des »Amtierenden Gouverneurs« (Vali Vekili) sind BOA.DH.ŞFR., 494/34 und 496/17: Verschlüsseltes Telegramm vom 19. Oktober 1915 und 4. November 1915, amtierender Provinzgouverneur von Aleppo, Kadı Halit, an das Innenministerium,.

123 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Die Unterschriften von Gouverneur Mustafa Abdülhalik Ein weiteres Argument von Orel und Yuca gegen die Glaubwürdigkeit der Naim-Dokumente lautet, dass die Unterschrift von Gouverneur Mustafa Abdülhalik auf diesen Dokumenten gefälscht sei. Die Autoren begründen ihre Behauptung, indem sie ein Muster der Unterschrift des Gouverneurs aus einem Dokument im Osmanischen Archiv (unter den Papieren der Zweiten Abteilung des Innenministeriums) zur Verfügung stellen. In der Tat gibt es Unterschiede zwischen der Unterschrift auf diesem Dokument und auf denen von Naim Efendi. Dennoch fanden wir an zwei weiteren Stellen ebenfalls andere Unterschriften des Gouverneurs. Die erste Gruppe von Unterschriften befindet sich in den Dokumenten des Chiffrierbüros des Innenministeriums (im Osmanischen Archiv), die zweite Gruppe im 7. und 8. Band des Instituts für Militärgeschichte und strategische Studien des türkischen Militärs (Askeri Tarih ve Stratejik Etüt Başkanlığı, oder ATASE), »Dokumente zu den Aktivitäten der Armenier 1914–1918«. Beim Vergleich dieser Unterschriften haben wir festgestellt, dass die Unterschiede zwischen den Unterschriften in den Dokumenten Naims und denen der Zweiten Abteilung unbedeutend erscheinen. Bei einem Vergleich der beiden Signaturen fallen nicht ihre Unterschiede, sondern ihre Gemeinsamkeiten auf. Die größten Unterschiede bestehen zwischen den Dokumenten der Zweiten Abteilung und von Naim auf der einen Seite und denen des Chiffrierbüros auf der anderen Seite. Die Signatur in der ATASE-Publikation ist völlig anders als alle anderen. (siehe Abb. 11) Wie aus der hier erstellten Signaturentabelle schnell ersichtlich wird, verwendete Mustafa Abdülhalik mindestens vier oder fünf verschiedene Signaturstile, die sich alle deutlich voneinander unterschieden. Der Grund dafür ist, dass er zeitweise seine Unterschrift mit beiden Teilen seines Namens und zu anderen Zeiten nur mit einem geschrieben hat. Die Unterschriften der von Orel und Yuca angebotenen Papiere der Zweiten Abteilung des Innenministeriums und die der Naim-Efendi-Dokumente enthalten beide Teile seines Namens. Ein genauer Blick auf diese in arabischer Schrift geschriebenen Unterschriften zeigt, dass die beiden Teile seines Namens getrennt voneinander identifiziert werden können. Der erste Teil seiner Signatur mit den Schlaufen entspricht in seiner Form dem Wort Mustafa. Was den zweiten Teil der Signatur betrifft, so entspricht sie der abgekürzten Version von »Abdülhalik«; die Signatur enthält also den ganzen Namen. Die Unterschriften auf den Papieren des Chiffrierbüros des Innenministeriums tragen ihrerseits nur den Namen »Abdülhalik« und die Dokumente der ATASE-Publikation nur den Namen »Mustafa«. In den Signaturen sowohl der Zweiten Abteilung als auch auf Naims Dokumenten ist der »Mustafa«-Bereich ähnlich; aber der zweite Teil, 124 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE UNTERSCHRIFTEN VON GOUVERNEUR MUSTAFA ABDÜLHALIK

Abb. 11: Unterschriftenverzeichnis des Gouverneurs Mustafa Abdülhalik

nämlich die abgekürzte Version von »Abdülhalik«, ist etwas anders. Der auffälligste Unterschied zu den Naim-Dokumenten ist, dass eine lange Linie sichtbar ist, die sich von links nach hinten krümmt und den Namen darunter »verbirgt«. Im Vergleich dazu ist diese Linie in den Unterschriften auf den Dokumenten der Zweiten Abteilung sehr scharf, kurz und umfasst nicht die gesamte Unterschrift, sondern endet irgendwo über dem Wort Abdülhalik. Unter Bezugnahme auf diese Unterschiede behaupten Orel und Yuca, dass die Naim-Dokumente Fälschungen Andonians seien. Wie bei allen ihren anderen Behauptungen liegen Orel und Yuca auch hier falsch, und das von ihnen vorgetragene Argument ist aus vielen Gründen unzutreffend. Bevor wir jedoch auf dieses eingehen, sollten wir zunächst hinzufügen, dass sich die Unterschriften auf den von Orel und Yuca angebotenen Dokumenten der Zweiten Abteilung nicht nur von denen auf Naims Dokumenten unterscheiden, sondern auch teilweise voneinander abweichen. In einigen Dokumenten der Zweiten Abteilung ist die Linie, die über der Signatur verläuft, hart und gerade, in 125 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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anderen bildet sie einen Bogen. Ebenso gibt es in einigen der Signaturen, die Mustafa Abdülhalik hauptsächlich während der Zeit der Republik verwendet hat (die ersten beiden Signaturen in der ersten Spalte), überhaupt keinen Strich, oder einen auf der gleichen Ebene beziehungsweise nach unten verlaufend. Wir sind daher der Überzeugung, dass man allein diese Unterschiede bei den Unterschriften nicht dazu heranziehen kann, um über die Echtheit der sie enthaltenden Dokumente zu entscheiden. Der wichtigste Beweis für unsere Behauptung, dass die Naim-Dokumente keine Fälschungen sind, ist, dass wir auf ihnen verschiedene Unterschriften des Gouverneurs gefunden haben. So unterscheidet sich die Unterschrift auf dem Dokument vom 11. November 1915 über das Schicksal von Krikor Zohrab völlig von den anderen Dokumenten (siehe Signaturentabelle: erste Signatur in der Spalte Naim Efendi). Alle anderen von Naim zur Verfügung gestellten Dokumente enthalten beide Teile des Namens von Mustafa Abdülhalik, während die Unterschrift auf dem genannten Dokument nur »Abdülhalik« lautet. Lassen Sie uns an dieser Stelle kurz innehalten und überlegen: Ist es nicht das Einzige, was eine Person, die gefälschte Dokumente mit ihrer Unterschrift weitergeben möchte, sich nicht erlauben kann, diese Dokumente mit unterschiedlichen Unterschriften zu versehen? Der zweite Grund, warum die oben genannten Unterschriften nicht als Fälschungen angesehen werden sollten, ist die Tatsache, dass es ähnliche Unterschriften gibt, die wir im Osmanischen Archiv entdeckt haben, und die mit dem Dokument vom 11. November 1915 übereinstimmen. Diese Dokumente, die lediglich mit »Abdülhalik« unterzeichnet sind, befinden sich in den Unterlagen des Chiffrierbüros des Innenministeriums. Auf diesen Papieren konnten wir etwa 100 solcher Signaturen von Mustafa Abdülhalik identifizieren. Der Grund für eine solche Fülle von Unterschriften ist, dass Abdülhalik zwischen April 1917 und September 1918 als Unterstaatssekretär im Innenministerium tätig war. Die Telegramme, die an die verschiedenen Provinzverwaltungen geschickt werden sollten, wurden alle von ihm unterzeichnet, bevor sie verschlüsselt wurden. Mindestens eines von ihnen, vom 24. September 1918, wurde von ihm auch tatsächlich verfasst. Das dritte Argument für die Echtheit der Unterschriften in den von Naim zur Verfügung gestellten Dokumenten ist, dass es selbst zwischen den verschiedenen Unterschriften auf den Dokumenten des Innenministeriums erhebliche Unterschiede gibt, wie aus der Tabelle deutlich hervorgeht. Die ersten sechs unterschiedlichen Unterschriften in der Spalte (Chiffrierbüro des Innenministeriums – zweite Spalte von rechts) von Mustafa Abdülhalik unterscheiden sich nicht nur stark von den Unterschriften der Zweiten Abteilung, Naims und der ATASE-Dokumente, sondern auch stark von den Unterschriften auf den anderen Dokumenten 126 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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des Chiffrierbüros.91 Abgesehen von den anderen Signaturen (Zweite Abteilung, ATASE, Naim) könnten wir allein aufgrund dieser sechs Signaturen leicht behaupten, dass alle anderen Signaturen auf den Chiffrierbüro-Dokumenten gefälscht seien. Der vierte wichtige Beweis für ihre Authentizität ist die große Ähnlichkeit zwischen dem »Abdülhalik«-Teil der Unterschriften auf den Dokumenten des Chiffrierbüros und denen von Naim. Bei der großen Mehrheit der Chiffrierbüro-Dokumente haben die Signaturen eine Linie über den gesamten Namen wie auf den Naim-Dokumenten. Der fünfte Beweis für die Echtheit der Unterschriften sind die auffallend unterschiedlichen Unterschriften von Mustafa Abdülhalik, die wir im siebten Band der bereits erwähnten ATASE-Publikation, Dokumente zu den Aktivitäten der Armenier 1914–1918, entdeckt haben. In den beiden Unterschriften, die wir im Band 7 gefunden haben, unterschreibt Mustafa Abdülhalik nur mit seinem Vornamen. Dies unterscheidet sich völlig von allen anderen Signaturen (siehe letzte Spalte unserer Liste).92 Wenn wir die grundlegende Behauptung Orels und Yucas akzeptieren, dass es sich bei den Unterschriften auf den Naim-Efendi-Dokumenten um Fälschungen handelt, die auf der Unterschrift auf einem der Papiere der Zweiten Abteilung beruhen, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass alle Unterschriften auf den Dokumenten sowohl von ATASE als auch vom Chiffrierbüro des Innenministeriums Fälschungen sind. Selbst wenn wir uns nur auf die Unterschriften auf den sechs Dokumenten des Chiffrierbüros konzentrieren würden, könnten wir leicht behaupten, dass es sich um Fälschungen handelt. Ebenso könnten wir auf der Grundlage der ATASE-Signatur argumentieren, dass alle anderen Unterschriften von Mustafa Abdülhalik Fälschungen seien. Kurz gesagt, welchen dieser verschiedenen Signaturstile man auch immer als »authentisch« auswählt, so könnten die anderen als falsch bezeichnet werden. Wir können die Frage nicht beantworten, warum Mustafa Abdülhalik so unterschiedliche Signaturen benutzte, aber wir möchten behaupten, dass die verschiedenen Stile das Ergebnis einer bewussten Wahl seinerseits sind. Das heißt, Mustafa Abdülhalik hat seine Unterschrift bewusst unterschiedlich geschrieben. Dies ist in der Tat der sechste Punkt, den wir für die Authentizität der Unterschriften auf den Naim-Dokumenten geltend machen würden, wobei der Hauptbeweis die Unterschrift auf dem 91 Die sechs Unterschriften auf der Liste aus Spalte II des Geheimdienstes des Innenministeriums sind in absteigender Reihenfolge: BOA.DH.ŞFR., 77/042; 79/061; 79/216; 82/221; 84/113; (und besonders) 91/221. 92 Diese beiden Unterschriften folgen der kurzen Notiz des Gouverneurs, an welche Stellen die Informationen im Telegramm weitergeleitet werden sollen. Siehe Genelkurmay Başkanlığı: Ermeni Faaliyetleri, Bd. 7, a.a.O., S. 408, S. 523.

127 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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osmanischen Archivdokument DH.ŞFR., 79/139 ist (siehe die erste Zeile der Unterschriftentabelle, Innenministerium Chiffrierbüro – I). Wie anhand der Unterschrift auf diesem Dokument ersichtlich ist, beginnt Mustafa Abdülhalik mit seinem Vornamen (Mustafa), zieht aber dann eine Linie durch ihn hindurch und entscheidet, dass es ausreicht, einfach mit dem zweiten Teil (Abdülhalik) zu unterschreiben. Wie wir oben gesehen haben, weisen alle Signaturen auf den Dokumenten des Chiffrierbüros diese Eigenart auf. Wenn wir hier die Nachnamenunterschriften mit den durchgestrichenen Vornamen zusammenstellen, erscheinen Vollunterschriften, die denen auf den Naim-Efendi-Dokumenten sehr ähnlich sind. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass Mustafa Abdülhalik bewusst unterschiedliche Signaturen zu unterschiedlichen Zeiten benutzt hat. Wir besitzen noch einen weiteren überzeugenden Beweis, dass die Unterschriften auf den Naim-Dokumenten (und damit die Dokumente, auf denen sie geschrieben sind) keine Fälschungen sind. Das sind die handschriftlichen Notizen von Mustafa Abdülhalik auf diesen Dokumenten. Bei der Betrachtung der Naim-Dokumente mit bloßem Auge sind zwei verschiedene Handschriften gut (siehe Abb. 12) Die erste Handschrift ist diejenige, die für den eigentlichen Text des Dokumentes verwendet wird, und stammt von dem Beamten in Aleppo, der die verschlüsselten Telegramme aus Istanbul encodiert hat. Die zweite Handschrift erscheint unter dem Haupttext und ist lediglich eine kurze Notiz oder Anweisung des Gouverneurs, in erster Linie für den vorgesehenen Adressaten, wie zum Beispiel »an den stellvertretenden Generaldirektor für Flüchtlingsangelegenheiten«. Gerichtet an andere, schreibt er eine kurze Notiz darüber, was zu tun ist. Um nur einige Beispiele zu nennen: »Haben Sie den Kommandanten der Gendarmerie getroffen?«; »Treffen mit dem Polizeichef«; »Sprich mit dem Polizeichef, aber erwähne nicht das verschlüsselte Telegramm. Gibt es tatsächlich organisierte Personen wie die hier genannten?«; »Es ist sehr wichtig, nicht wahr?«.93 Mit bloßem Auge betrachtet, scheinen diese Anweisungen auf allen Dokumenten einander sehr zu ähneln. Und diese Notizen haben eine ganz andere Schreibweise als der Text des Dokumentes. Uns liegen Hinweise vor, die zeigen, dass diese handschriftlichen Notizen vom Gouverneur von Aleppo, Mustafa Abdülhalik, stammen. Wir können einige andere Beispiele für die Handschrift des Gouverneurs finden, sowohl auf den Dokumenten des Chiffrierbüros des Innenministeriums als auch 93 Für die fotografischen Abbildungen der zitierten Dokumente siehe Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 152, S. 184; 136 und 147f. Das Bild für das letzte zitierte Dokument wurde nicht von Andonian verwendet, aber eine Kopie ist im Besitz des Autors.

128 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

DIE UNTERSCHRIFTEN VON GOUVERNEUR MUSTAFA ABDÜLHALIK

Abb. 12: Gouverneur Abdülhaliks und osmanischer Schriftvergleich

auf den Dokumenten der ATASE-Publikation. Auch ohne eine intensive Betrachtung sind die Ähnlichkeiten zwischen dieser Schrift und den handschriftlichen Notizen auf den Naim-Dokumenten leicht zu erkennen (siehe Abb. 13) Das Dokument, das in den Ordnern des Chiffrierbüros gefunden wurde, ist ein Telegramm von Mustafa Abdülhalik nach Batum. In dem Telegramm erklärt Abdülhalik, dass er erneut zum Gouverneur von Aleppo ernannt wurde und es notwendig sei, dass er sich sofort auf den Weg macht.94 Wir haben in den ATASE-Publikationsbänden sieben und acht mindestens fünf verschiedene handschriftliche Briefe und zwei Notizen des 94 BOA.DH.ŞFR., 91/221: Verschlüsseltes Telegramm vom 24. September 1918, Mustafa Abdülhalik zum Bezirkshauptmann von Batum.

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KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

Abb. 13: Handschriften von Gouverneur Abdulhalik im Vergleich zu den im adonischen und Osmanischen Archiv veröffentlichten Werken

Gouverneurs entdeckt.95 Einige davon sind inhaltlich identisch mit einigen der verschlüsselten Telegramme, die wir im Osmanischen Archiv entdeckt haben, sodass kein Zweifel daran besteht, dass diese Handschrift diejenige des Gouverneurs ist – so beispielsweise die 95 Liste der Handschriften und Verweise in Band 7: 1) S. 408 (englische Übersetzung des Textes auf S. 236); 2) S. 515 (englische Übersetzung auf S. 315); 3) S. 516–518 (englische Übersetzung auf S. 316); 4) S. 523 (englische Übersetzung auf S. 321); in Band 8: 5) S. 405 (keine englische Übersetzung dieses Dokumentes); 6) S. 412 (englische Übersetzung auf S. 268); 7) S. 413 (englische Übersetzung auf S. 269).

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EIN LETZTER NACHTRAG ZUR FRAGE DER ABLEHNUNG DER DOKUMENTE

handschriftliche Notiz von Mustafa Abdülhalik auf dem Telegramm vom 26. Juli 1916, das sich im siebten Band der ATASE-Publikation befindet. Das gleiche Dokument befindet sich als verschlüsseltes Telegramm DH.ŞFR. 526/60 in den Dokumenten des Chiffrierbüros. Sein vollständiger Name erscheint am unteren Ende des Telegramms. Wir sehen die Ähnlichkeiten zwischen den Notizen in ATASE und den Dokumenten im Osmanischen Archiv, beispielsweise: »Nach weiteren Überlegungen wird hiermit beschlossen, den stellvertretenden Direktor des Deportationsbüros, Hakkı Bey, zur weiteren Untersuchung der Situation nach Meskene zu schicken«. 96 Diese Notiz bezieht sich auf die Untersuchungen in Meskene, die wir zuvor unter dem Punkt »Gab es einen osmanischen Beamten mit dem Namen Naim Efendi« besprochen haben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle diese Handschriften von Mustafa Abdülhalik mit den Notizen und Anweisungen in den Naim-Efendi-Dokumenten identisch sind. Wer also behauptet, dass es sich bei den Unterschriften und Handschriften auf den Naim-Efendi-Dokumenten um Fälschungen handelt, kann demnach genauso gut behaupten, dass auch die im Osmanischen Archiv gefundenen Dokumente nicht authentisch sind. Schließlich ist anzumerken, dass die Handschrift im Haupttext der von Naim bereitgestellten Dokumente auch Abweichungen im Schriftbild enthält, die mit bloßem Auge erkennbar sind. Es zeigt unter anderem, dass die Entschlüsselung der Dokumente von verschiedenen Beamten durchgeführt wurde. Die Vorstellung, dass Naim die Fähigkeit besaß, in vier oder fünf verschiedenen Handschriftarten zu schreiben, und dass er diese Fähigkeit einsetzte, um gefälschte Dokumente in verschiedenen Schriftbildern zu erstellen, ist Produkt eines konspirativen Geistes. Dies ist nicht die Art von Behauptungen, die ernst genommen werden können.

Ein letzter Nachtrag zur Frage der Ablehnung der Dokumente Orel und Yuca scheinen davon überzeugt zu sein, dass es sich bei den von Naim zur Verfügung gestellten Dokumenten um Fälschungen handelt, da sie Befehle enthalten, die unmittelbar die Vernichtung der Armenier betreffen. Erinnern wir uns hier daran, dass das Hauptargument von Orel und Yuca wie folgt lautet: »Die Behauptung, dass die Armenier während des Ersten Weltkriegs von der osmanischen Regierung ›ermordet‹ wurden« ist einfach eine Verleumdungskampagne, die seit Jahren »gegen die Türkei« geführt wird. Die Armenier – und Andonian ist der Häuptling unter 96 Genelkurmay Başkanlığı: Ermeni Faaliyetleri, Bd. 7, a.a.O., S. 236.

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KAPITEL 4: SIND DIE DOKUMENTE FALSIFIKATE?

ihnen – haben Dokumente erstellt, »deren Ziel es ist, alle Türken mit dem gleichen (schändlichen) Pinsel zu teeren«. Die Autoren Orel und Yuca erklären, das Ziel ihrer Arbeit sei, »jedes einzelne Dokument, das in Andonians Buch gefunden und als ›offiziell‹ bezeichnet wird, genau zu untersuchen und sie alle als Fälschungen zu präsentieren«.97 Durch diese Intension entstand später in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass erstens alle Dokumente von den Armeniern hergestellt wurden und dass zweitens die Dokumente, die den Befehl zum Töten der Armenier enthielten – insbesondere die von Mustafa Abdülhalik signierten, von denen fotografische Aufnahmen in Andonians Büchern gedruckt wurden – Fälschungen seien. Wir haben gezeigt, dass diese Dokumente nicht von Andonian produziert, sondern von Naim an ihn verkauft wurden. Aber diese Dokumente haben eine andere, entscheidende Bedeutung. Keine einzige der von Mustafa Abdülhalik unterzeichneten Mitteilungen enthält direkte Befehle, jemanden zu töten oder zu massakrieren.98 Für die Frage nach ihrer Authentizität ist dies von größter Bedeutung; das falsche Bild, das in der Öffentlichkeit entstanden ist, muss korrigiert werden. Wenn der Inhalt aller Telegramme in Naims Memoiren genau betrachtet wird, ergibt sich folgendes Bild: Es gibt acht Dokumente, die den direkten Befehl zur Vernichtung der Armenier enthalten. Zwei davon sind mit dem dreistelligen Zifferncode verschlüsselt, von ihnen gibt es fotografische Aufnahmen. Von den anderen sechs Dokumenten, die nur in Naims Memoiren als Reproduktionen von handschriftlichen Kopien existieren, gibt es keine Fotos. Vier dieser sechs Dokumente befinden sich in der Version der uns vorliegenden Memoiren; die anderen beiden befinden sich in dem Abschnitt der von Andonian veröffentlichten Memoiren, den wir nicht besitzen. Von diesen acht Dokumenten mit direkten Tötungsbefehlen ist keines ein Dokument mit der Unterschrift von Mustafa Abdülhalik. Mit anderen Worten, keines der vom Provinzgouverneur von Aleppo unterzeichneten Dokumente befasst sich direkt mit den Tötungsbefehlen. Fünf der sieben Dokumente, deren fotografische Abbildungen im Buch erscheinen, befassen sich mit den Maßnahmen, die gegen die deportierten Frauen und Kinder durchgeführt wurden. Eines davon betrifft 97 Orel / Yuca: Talat Paşa`ya Atfedilen Telgrafların, a.a.O., S. 12. 98 Hier ist es vielleicht notwendig, Missverständnisse auszuräumen. Es gibt sicherlich einige sehr wertvolle Dokumente, die die Unterwerfung der armenischen Bevölkerung unter einen systematischen Vernichtungsprozess erklären, und sie sind ein wichtiger Indikator dafür, dass eine systematische Vernichtung stattgefunden hat. Was ich hier zu sagen versuche, ist einfach, dass es im Osmanischen Archiv eine große Anzahl von Dokumenten gibt, die diesen im Stil und Inhalt ähnlich sind.

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EIN LETZTER NACHTRAG ZUR FRAGE DER ABLEHNUNG DER DOKUMENTE

die Entscheidung, Deyr-i Zor zu einem Ort für die armenische Umsiedlung zu machen, während das andere die Aktivitäten der amerikanischen Konsulatsangestellten in der Region behandelt. Bei den drei Dokumenten mit Abdülhaliks Unterschrift, die nicht von Andonian verwendet wurden, handelt es sich zum einen um eine Anfrage nach zuvor angeforderten Dokumenten, zum anderen um die Forderung, dass Personen daran gehindert werden, entlang der Deportationsrouten zu fotografieren, und um die Anweisung, dass etwaige Beschwerdetelegramme der armenischen Deportierten zukünftig am Bestimmungsort einzureichen sind. Wie bereits erwähnt, befassen sich die beiden Dokumente mit der Unterschrift von Mustafa Abdülhalik, die in der Boghos-Nubar-Pascha-Bibliothek gefunden wurden, mit dem Tod des armenischen Abgeordneten Krikor Zohrab. Eines davon erwähnt, dass er bei einem Unfall entlang der Route ums Leben kam, das andere enthält eine Liste von Fragen zu Zohrab: Wann ist er in Aleppo angekommen? In welchem Hotel hat er übernachtet? Und so weiter. Mit anderen Worten, es gäbe keine gute Begründung für die Erfindung dieser Dokumente; ähnliche sind problemlos im Osmanischen Archiv zu finden. Angesichts dieser neuen Fakten sind wir nun verpflichtet, die Memoiren Naim Efendis noch einmal genauer zu überprüfen.

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Kapitel 5: Die Bestätigung der von Naim Efendi erwähnten Themen und Ereignisse durch osmanische Dokumente In seinen Memoiren fügte Naim den osmanischen Dokumenten, die er handschriftlich kopierte, oft Anmerkungen hinzu, die die beschriebenen Begebenheiten mit persönlichen Erfahrungen ergänzten. Ein besonderes Charakteristikum dieser Informationen ist, dass sie nur jemandem bekannt sein dürften, der tatsächlich im Deportationsbüro beschäftigt war. Wir werden hier die von Naim zur Verfügung gestellten Informationen und Details mit den Dokumenten, die wir im Osmanischen Archiv gefunden haben, vergleichen. Wir wollen zeigen, dass die von Naim notierten Erinnerungen im Einklang mit den tatsächlichen Ereignissen stehen, zu denen es im Osmanischen Archiv diverse Spuren gibt. Zu diesem Zweck haben wir die Kopie seiner Memoiren, die in unserem Besitz ist, verwendet. In einigen wenigen Fällen werden wir uns auch mit den von Andonian veröffentlichten Abschnitten der Memoiren beschäftigen, die wir allerdings nicht besitzen.

1) Bestimmte Armenier werden gesucht In seinen Memoiren schreibt Naim, dass die Regierung (vor allem Innenminister Talat) häufig Auskunft über bestimmte Armenier und ihre Familien einholte. Diese Anfragen betrafen Personen, denen es gestattet worden war, zu den Orten zurückzukehren, aus denen sie deportiert worden waren, oder Personen, die eine Erlaubnis zum Aufenthalt in Aleppo erhalten hatten. Naim bringt dazu ein Beispiel: »Obwohl ein verschlüsseltes Telegramm vom [Innenministerium] kam und befahl, dass die Familien von Leon Amiralyan, Toros Çağlasyan [Tchaglassian], Dişçekenyan [Dishchekenian], Hezarebenyan und Çorbacıyan [Chorbajian] hierbleiben und sich in Aleppo niederlassen dürfen, deportierte die Provinz [Regierung] diese Familien, von denen dann einige auf der Route umkamen«.1 (siehe Abb. 14) Wie Naims Erinnerungen zu entnehmen ist, hatte Talat per verschlüsseltem Telegramm verlangt, dass die oben genannten Personen und ihre Familien in Aleppo bleiben. Der Gouverneur von Aleppo hatte sie bereits deportiert, vermutlich nach Deyr-i Zor, und einige hatten diese Reise nicht überlebt. Naim erklärt, dass ein Telegramm in diesem Zusammenhang eingetroffen sei, und fügt hinzu, dass er, obwohl er sich nicht an jedes Detail 1 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [11].

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1) BESTIMMTE ARMENIER WERDEN GESUCHT

Abb. 14: Vier armenische Namen in Naim Efendis Memoiren

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KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

der telegrafischen Mitteilung erinnern konnte, ihren Inhalt nach bestem Wissen und Gewissen wiedergegeben habe. Wir haben in den Archiven ein Talat-Pascha-Telegramm entdeckt, das tatsächlich der von Naim referierten telegrafischen Depesche entspricht. Die Botschaft Talats vom 14. März 1916 wurde an die Provinz Aleppo geschickt und enthält den Wunsch des Innenministers, die oben genannten Personen nicht abzuschieben und ihnen zu erlauben, stattdessen in Aleppo zu bleiben. (siehe Abb. 15) »Die Personen und Familien mit den Namen Maraşlı Hazarabedyan Melkon, Amiralyan Leon, Dişçekenyan Oseb, Nişan und Santuh Burunsuzyan, Kotsan, Honan und Varjabedyan, die sich derzeit in Aleppo aufhalten, sowie die Personen mit den Namen Ayıntablı Hana Kürekçiyan und Kilisli Çağlasyan Toros und ihre Familien, die ebenfalls dort sind, dürfen in Aleppo bleiben [Berichterstattung über die Lage an mich zurück]«.2

Einen deutlicheren Beweis für die Authentizität von Naims Memoiren wird man wohl nicht finden. Es versteht sich von selbst, dass nur ein Beamter, der tatsächlich im Deportationsbüro arbeitete, wissen konnte, dass ein solches Telegramm über die oben genannten Personen eingetroffen war und dass es sie namentlich aufführte. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Andonian diese Information anscheinend nicht als wichtig erachtete und sie daher in seiner veröffentlichten Ausgabe ausließ.

2) Der Fall Soğomon Kuyumcuyan In seinen Memoiren erwähnt Naim einen Vorfall mit einem gewissen Soğomon Kuyumcuyan Efendi, einem Verwandten von Matyos Nalbantyan, dem Parlamentsabgeordneten aus Kozan. Soğomon Kuyumcuyan war in den Landkreis Maara (innerhalb der Provinz Aleppo) deportiert worden. Durch seine persönlichen Interventionen bei Talat Pascha hatte Nalbantyan den Innenminister überredet, Soğomon zu erlauben, nach Aleppo zu kommen und sich dort niederzulassen. Laut Naim wurde der diesbezügliche Befehl von Innenminister Talat an das Deportationsbüro in Aleppo geschickt. Daraufhin kam Soğomon nach Aleppo und stellte ein Gesuch für den Umzug aus Maara nach Aleppo. Aber unter diesen Antrag schrieb der Gouverneur als Notiz, »[der Antragsteller] muss in Maara bleiben. Doch einige Tage später kam der Befehl, Maara zu evakuieren«. Soğomon »appellierte erneut [sich in Aleppo niederlassen zu dürfen]«, aber »obwohl er auf Anordnung des Innenministeriums nach Aleppo verlegt werden sollte«, missachtete der Direktor des Amtes für Deportationen, Abdülahad Nuri Bey, diesen Befehl und ordnete an: 2 BOA.DH.ŞFR., 62/5: Verschlüsseltes Telegramm vom 14. März 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. Es wird darauf hingewiesen, dass einige der Namen der Armenier wahrscheinlich falsch geschrieben wurden!

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2) DER FALL SOĞOMON KUYUMCUYAN

Abb. 15: Armenische Namen auf Talats Telegramm vom 14. März 1916

»Seit diese Person aus Maara geflohen und hierhergekommen ist, belästigt sie immer wieder das Regionalbüro der Deportationsbehörde und muss daher mit den laufenden Deportationen verschickt werden«. Der Gouverneur, Mustafa Abdülhalik, stimmte Nuri Beys Entscheidung zu, und Soğomon wurde ordnungsgemäß deportiert.3 (siehe Abb. 16) Auch hier hat Naim kein einziges osmanisches Dokument zum Fall Soğomon Kuyumcuyan vorgelegt. Vielmehr schreibt er die Geschichte aus seinen Erinnerungen. Dennoch verfügen wir über eine Menge osmanischer Dokumente aus den Archiven, um bestätigen zu können, dass die Dinge, die er 3 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [02].

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KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

Abb. 16: Soğomon Kuyumcuyan in Naim Efendis Memoiren

über Nalbantyan und Kuyumcuyan geschrieben hat, zutreffend sind.4 Aus diesen Dokumenten erfahren wir, dass der Abgeordnete aus Kozan, Matos Nalbantyan, nicht nur für Soğomon Kuyumcuyan, sondern auch für viele seiner Verwandten bei der osmanischen Regierung interveniert hatte. Am 12. Oktober 1915 wurde beispielsweise ein Telegramm an die Provinz Aleppo gesandt, in dem gefordert wurde, dass »über die Rückkehr von Kigork [Kevork] Nalbantyan, dem Bruder des Parlamentsabgeordneten Nalbantyan Efendi, nach Kozan, Meldung erstellt werden soll«.5 Später, in einer am 19. November 1915 eingereichten Petition, führte Nalbantyan 21 seiner Verwandten namentlich auf und verlangte, dass sie in ihre Häuser zurückkehren dürfen und ihre von Behörden beschlagnahmten Güter an sie zurückgegeben werden.6 (siehe Abb. 17) Zu diesem Thema existiert ein gut dokumentierter Schriftverkehr zwischen den verschiedenen Ämtern des Innenministeriums und dem Büro des Provinzgouverneurs in Aleppo. Am 5. Dezember 1915 schrieb der Innenminister an die Provinzverwaltung in Aleppo und bat um Auskunft darüber, ob und wohin die genannten Personen abgeschoben worden seien. Am 4. Januar 1916 fragte ein anderes Telegramm des 4 BOA.DH.EUM., 2.Şube, 57/12. Wir haben dieses Dokument als allgemeine Informationsquelle verwendet. Zusätzlich zu diesem Dokument gibt es jedoch mehr als zehn weitere Dokumente in den Archiven über Nalbatyans Versuche, im Namen seiner Verwandten (insbesondere seines Bruders) zu intervenieren. Für einige davon siehe BOA.EUM., 2.Şube, 37/01; BOA. DH.ŞFR., 56/366; 57/297; 61/94; 61/282. 5 BOA.DH.ŞFR., 56/366: Verschlüsseltes Telegramm vom 12. Oktober 1915, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 6 BOA.DH.EUM., 2.Şube, 57/12.

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3) ARMENISCHE PARLAMENTSABGEORDNETE UND IHRE ANGEHÖRIGEN

Abb. 17: Sogomon Kuyumcuyan in osmanischen Dokumenten

Innenministeriums, ob Soğomon Kuyumcuyan und einige seiner Verwandten (die namentlich genannt werden) sich noch in der Umgebung von Aleppo aufhalten würden. Im Verlauf der Korrespondenz wird festgestellt, dass Soğomon Kuyumcuyan außerhalb von Aleppo wohnt, und es wird behauptet, dass »das Ministerium keinen separaten Befehl« bezüglich seines Aufenthaltes in Aleppo erteilt habe.7 Es ist wieder einmal deutlich, dass nur ein Beamter aus dem Deportationsamt über solche Informationen verfügen konnte, die Naim in seine Memoiren aufnahm. Ereignisse, deren Wahrhaftigkeit durch den Vergleich mit osmanischen Dokumenten aus den Archiven erwiesen ist. Wir sollten hinzufügen, dass Andonian die Geschichte von Soğomon Kuyumcuyan nicht ausreichend wichtig fand und sie damals nicht in der veröffentlichten Version der Memoiren erschien.

3) Armenische Parlamentsabgeordnete und ihre Angehörigen Die Bemühungen Nalbantyan Efendis, des Abgeordneten im osmanischen Parlament, zur Rettung seiner Verwandten beim Innenministerium 7 Ebd.

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KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

zu intervenieren, waren keine Ausnahmen, sondern nur eines von vielen Beispielen. In der Kopie der von Andonian veröffentlichten Memoiren (aber nicht in dem Teil, den wir besitzen) behauptet Naim, dass alle armenischen Parlamentsabgeordneten im Sinne ihrer Verwandten eingeschritten seien, in der Hoffnung, sie dadurch von den Deportationen freizustellen oder, falls sie bereits nach Aleppo geschickt worden waren, ihnen zu ermöglichen, dort zu bleiben. Diese Bemühungen führten jedoch oft nicht zum Erfolg. Laut Naim Efendi war der Gouverneur der Provinz Aleppo, Mustafa Abdülhalik, der Hauptverantwortliche für das Scheitern solcher Bemühungen. Naim erzählt, warum alle Interventionen an der Person des Gouverneurs scheiterten: »Dieser Mann war ein Feind der Armenier und versuchte als türkischer Nationalist, die armenische Nation zu vernichten. Die Befehle, die er dem Regionalbüro erteilte, waren so hart, dass seine Absichten, die Armenier zu vernichten, sehr deutlich wurden. Einige armenische Abgeordnete des osmanischen Parlamentes erhielten, wahrscheinlich erst nach tausendfachem Begehren, vom Innenministerium die Erlaubnis, dass ihre Familien in Aleppo bleiben durften. Das Ministerium schickte dem Gouverneur die dazu notwendigen Anweisungen, aber er verheimlichte den Familien diese Befehle und ließ sie trotzdem in die Wüste deportieren. Ich kenne 15 bis 20 Familien, deren Aufenthalt in Aleppo angeordnet worden war, die der Gouverneur aber in die Wüste geschickt hatte«.8 Im Osmanischen Archiv liegen zahlreiche Dokumente vor, die Naims Memoiren bestätigen. Daraus entnehmen wir, dass, wie Naim auch schreibt, diverse Befehle und Verordnungen nach Aleppo geschickt wurden, damit die Parlamentsabgeordneten und ihre Angehörigen nicht deportieret wurden. Die Dokumente deuten auch darauf hin, dass die Problematik nicht auf Aleppo beschränkt war, sondern auch viele andere Provinzen betraf. Deswegen wurde am 15. August 1915 ein telegrafischer Befehl an alle Provinzen, in denen Deportationen stattfanden, geschickt, in dem angeordnet wurde, dass »armenische Parlamentsabgeordnete und ihre Familien nicht deportiert werden«.9 Ebenso zeigen die Archivunterlagen, dass trotz dieser eindeutigen Verordnung weder die Abgeordneten noch ihre Angehörigen dort bleiben durften, wo sie waren, sondern deportiert wurden. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Fall Onnik Efendi, des armenischen Parlamentsabgeordneten von Izmir, und seiner Angehörigen. 8 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 31. 9 BOA.DH.ŞFR., 55/19: Verschlüsseltes Telegramm vom 15. August 1915, Innenminister Talat an die Provinzen Erzurum, Adana, Ankara, Bitlis, Halep, Hüdavendigar (Bursa), Diyarbakır, Sivas, Trabzon, Konya, Mamuretülaziz (Elazığ) und Van; sowie an die Provinzbezirke Urfa, Izmit, Canik, Karesi, Karahisar-ı Sahib (Afyon Karahisar), Kayseri, Maraş, Niğde und Eskişehir.

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3) ARMENISCHE PARLAMENTSABGEORDNETE UND IHRE ANGEHÖRIGEN

Zuerst wurden Telegramme in die Städte geschickt, in denen die Familienangehörigen des Abgeordneten lebten, um die Behörden vor Ort dazu zu bewegen, die Angehörigen nicht zu deportieren, sondern es ihnen zu ermöglichen, nach Istanbul zu reisen.10 Trotz eindeutiger Befehle wurden einige aus der Verwandtschaft Onnik Efendis dennoch vertrieben. Für diese Fälle, die noch unterwegs waren oder sich an Orten wie Adana (Tarsus)11, Afyon12, Konya13 und Aydın14 aufhielten, erging der Befehl, sie entweder nach Hause zurückzuschicken oder dort unterzubringen.15 Einige der Angehörigen des Abgeordneten Onnik wurden trotz gegenteiliger Befehle sogar bis nach Aleppo abgeschoben. Daraufhin wurde eine telegrafische Depesche nach Aleppo übermittelt, in der die Genehmigung erteilt wurde, dass die Angehörigen, die derzeit dort waren, in ihre Häuser zurückkehren durften.16 Doch genau wie in den Fällen, die Naim erzählt, wurden auch die Verwandten des Parlamentsabgeordneten Onnik schließlich nach Deyr-i Zor deportiert. In diesem Kontext ist es aufschlussreich, die Antwort auf zwei Telegramme zu lesen, die am 5. Oktober und 14. November nach Aleppo geschickt worden waren, betreffend eines Angehörigen, Herrn Artaki Arusyan.17 Der Gouverneur, Mustafa Abdülhalik, antwortete auf das zweite Telegramm wie folgt: »Bevor das Telegramm mit der Verordnung bezüglich Artaki Arusyan, des Verwandten des Izmir-Abgeordneten Ihsan Onnik, ankam, war er zur Umsiedlung nach [Deyr-i] Zor geschickt worden«.18 10 BOA.DH.ŞFR., 54-A/339: Verschlüsseltes Telegramm vom 9. August 1915, Innenministerium an den Provinzbezirk Izmit. 11 BOA.DH.ŞFR., 56/291: Verschlüsseltes Telegramm vom 5. Oktober 1915, Innenministerium an die Provinz Adana. 12 BOA.DH.ŞFR., 56/345: Verschlüsseltes Telegramm vom 10. Oktober 1915, Innenministerium an den Provinzbezirk Karahisar-ı Sahib (für ein ähnliches Telegramm zu Afyon siehe BOA.DH.ŞFR., 58/151). 13 BOA.DH.ŞFR., 57/29; 57/121 und 58/4: Verschlüsseltes Telegramm vom 16. Oktober 1915 und 14. November 1915, Innenministerium an die Provinz Konya. 14 BOA.DH.ŞFR., 58/149: Verschlüsseltes Telegramm vom 28. Oktober 1915, Innenministerium an die Provinz Aydın. 15 BOA.DH.ŞFR., 58/224: Verschlüsseltes Telegramm vom 9. Dezember 1915, Innenminister Talat an die Provinz Konya (für ein ähnliches Telegramm zum gleichen Thema siehe BOA.DH.ŞFR., 57/136). 16 BOA.DH.ŞFR., 56/301: Verschlüsseltes Telegramm vom 5. Oktober 1915, Innenministerium an die Provinz Aleppo. 17 BOA.DH.ŞFR., 58/6: Verschlüsseltes Telegramm vom 14. November 1915, Innenministerium an die Provinz Aleppo. 18 BOA.DH.ŞFR., 499/49: Verschlüsseltes Telegramm vom 30. November 1915, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium.

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KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

Die Korrespondenz im Zusammenhang mit den Angehörigen des Abgeordneten Hırlakyan Efendi aus Maraş bestätigt auch Naims Bild von Gouverneur Mustafa Abdülhalik.19 Die erste Botschaft in diesem Komplex wurde von Talat am 15. August 1915 nach Aleppo geschickt. Darin fordert der Innenminister, dass »der Parlamentsabgeordnete Hırlakyan Efendi und seine Familie nicht deportiert werden«.20 Talat schickte am 24. Oktober 1915 eine weitere Nachricht, in der er für die Geschwister von Hırlakyan Efendi befahl, dass, »die Geschwister des Parlamentsabgeordneten Hırlakyan Efendi in Aleppo bleiben« sollten.21 Es scheint, dass die Geschwister trotz dieses eindeutigen Befehles deportiert wurden. Innenminister Talat nahm die Spur der Geschwister Hırlakyan in Birecik wieder auf und schickte am 7. Mai 1916 ein Telegramm an den Provinzbezirk Urfa, in dem er verlangte, dass der Bruder des Abgeordneten Hırlakyan, »Avedis Hırlakyan, seine Kinder, seine Frau, seine Schwiegersöhne und alle anderen Verwandte nach Aleppo zurückgebracht werden«.22 Der Bruder von Hırlakyan und seine Familie erreichten zwar Aleppo, doch Mustafa Abdülhalik ignorierte den Befehl erneut und ließ sie deportieren. In einer Botschaft an Abdülhaliks Büro vom 18. Mai 1916 erinnert Talat den Gouverneur von Aleppo daran, dass »[Botschaften] an den Distriktgouverneur von Urfa geschrieben worden sind, um die Rückführung von Avedis, dem Bruder des Abgeordneten Hırlakyan aus Maraş, und seiner Familie, die derzeit in Birecik sind, in die Wege zu leiten«, und erklärt, dass er Berichte erhalten habe, dass die Verwandten des Politikers »nach Aleppo deportiert seien und von dort erneut abgeschoben worden sind«. Talat wiederholt daraufhin seinen früheren Befehl, dass »die Verwandten, die noch dort sind, nach Maraş zurückkehren dürfen, und die aus Aleppo deportierten Angehörigen zurückgeholt werden müssen«.23 Die Korrespondenz zwischen dem Innenministerium und den Provinzen über den Schutz der Angehörigen des Abgeordneten Hırlakyan ist stattlich. Am 14. März 1916 schickte Talat Pascha ein Telegramm an die Provinz Aleppo, in dem er verlangte, dass »die Verwandten des Abgeordneten Hırlakyan Efendi, die von Antep nach Aleppo deportiert wurden«, nach 19 Der Name des Parlamentsabgeordneten erscheint in vielen Dokumenten und Quellen als »Hıralakyan«, aber wir haben im Text die Schreibweise »Hırlakyan« verwendet. 20 BOA.DH.ŞFR., 55/3: Verschlüsseltes Telegramm vom 15. August 1915, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 21 BOA.DH.ŞFR., 57/103: Verschlüsseltes Telegramm vom 24. Oktober 1915, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 22 BOA.DH.ŞFR., 63/229: Verschlüsseltes Telegramm vom 7. Mai 1916, Innenminister Talat an den Provinzbezirk Urfa. 23 BOA.DH.ŞFR., 64/61: Verschlüsseltes Telegramm vom 18. Mai 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo.

142 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

3) ARMENISCHE PARLAMENTSABGEORDNETE UND IHRE ANGEHÖRIGEN

Maraş zurückgebracht werden.24 Zu diesem Zeitpunkt waren die Angehörigen bereits weiter nach Deyr-i Zor abgeschoben worden. Noch am selben Tag erfuhr Innenminister Talat von der Lage und schickte ein Telegramm an Deyr-i Zor, in dem er befahl, die betroffenen Personen unverzüglich nach Aleppo zurückzubringen.25 Fünfzehn Tage später (30. März 1916) schickte Talat eine weitere Nachricht an Aleppo und befahl, dass die Angehörigen des Abgeordneten, von denen er annahm, dass sie inzwischen wieder dort angekommen seien, nach Maraş zurückgebracht werden.26 Wieder einmal missachtete Mustafa Abdülhalik diesen Befehl und ließ diese Personen diesmal nach Meskene deportieren. Immer noch hartnäckig, schickte Talat dem Gouverneur am 29. Mai ein weiteres Telegramm mit dem Inhalt, dass er erfahren hätte, dass sich Hırlakyans Verwandte in Meskene aufhielten, und befahl, sie sofort nach Maraş zurückzuschicken.27 In einer anderen Mitteilung des Innenministeriums vom 14. Juni 1916 lesen wir, dass der Gouverneur auch den letzten Befehl von Talat miss­ achtet und stattdessen die Verwandten des Abgeordneten nach Deyr-i Zor deportiert hat. Talat teilt darin dem Gouverneur von Aleppo lapidar mit: »Mir wurde berichtet, dass die Angehörigen des Abgeordneten aus Maraş, Hırlakyan Efendi – obwohl wir Sie in dieser Angelegenheit öfter informiert hatten –, erst nach Meskene, dann nach Deyr-i Zor deportiert worden wären«. Dann fragt er Abdülhalik nach dem Grund, warum diese Personen trotz seines persönlichen gegenteiligen Befehles dorthin geschickt wurden, fordert, dass sie unverzüglich nach Maraş zurückgeschickt werden und befiehlt: »Die Mitteilung der Gründe, warum diese Personen, trotz gegenteiliger Befehle, nach Deyr-i Zor deportiert worden sind. Diese Personen sollen sofort nach Maraş zurückkehren«.28 Die Ermittlungen über das Schicksal der Verwandten von Hırlakyan setzten sich während des ganzen Jahres 1917 fort.29 Aus den Dokumenten im Osmanischen Archiv geht hervor, dass ähnliche Telegramme für den Schutz der Angehörigen anderer armenischer Abgeordneter verschickt wurden. Als Beispiel sei hier der Schriftverkehr im Fall der Verwandten von Artin Boşgezenyan Efendi genannt, dem 24 BOA.DH.ŞFR., 62/4: Verschlüsseltes Telegramm vom 14. März 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 25 BOA.DH.ŞFR., 62/9: Verschlüsseltes Telegramm vom 14. März 1916, Innenminister Talat an den Provinzbezirk [Deyr-i] Zor. 26 BOA.DH.ŞFR., 62/177: Verschlüsseltes Telegramm vom 30. März 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 27 BOA.DH.ŞFR., 64/145: Verschlüsseltes Telegramm vom 29. Mai 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 28 BOA.DH.ŞFR., 65/4: Verschlüsseltes Telegramm vom 14. Juni 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 29 Weitere Beispiele finden Sie unter BOA.DH.ŞFR., 74/253; 75/218; 77/140; 78/1, 78/2­; 82/138.

143 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

Parlamentsabgeordneten aus Aleppo. In diesem Fall ist die erste Botschaft, die wir in diesem Kontext finden konnten, vom 25. September 1915. Es ist eine direkte Anweisung des Innenministers Talat Pascha an die Provinz Aleppo und damit an den Gouverneur Mustafa Abdülhalik: »Es wurde berichtet, dass Bedros Aşçıyan, der Schwiegervater des Abgeordneten Artin Gezenyan Efendi aus Aleppo, sowie sein Bruder Mesrob Gezenyan und sein Neffe, Karaciyan Serkis Ağa, derzeit in Aleppo sind. Die genannten Personen dürfen dort bleiben«.30 Talat fügte in einer weiteren Depesche vom 4. Oktober 1915 die Namen einiger anderer Verwandten hinzu und wiederholte erneut seinen Befehl: »Der Onkel des Abgeordneten Artin Gezenyan Efendi aus Aleppo und seine Brüder dürfen in Aleppo bleiben«.31 Einige dieser genannten Personen wurden dennoch deportiert. In einem weiteren Telegramm an die Provinz Syrien am 15. November 1915 schreibt Talat, dass der Schwager und der Schwiegersohn des Abgeordneten Artin Gezenyan zusammen mit einigen anderen seiner Verwandten deportiert wurden und dass sie sich nun »im Landkreis Selimiye des Distrikts Hama« befinden. Der Innenminister ordnete an, dass diese Personen »mit ihren Familien nach Aleppo zurückkehren dürfen« und »er über den Vollzug dieser Anweisung informiert wird«.32 Der Befehl wurde am 4. Januar 1916 in einem weiteren Telegramm an Aleppo wiederholt. »Auf die Deportation von Terzi Dikran, dem Bruder des Abgeordneten Artin Boşgezenyan Efendi, und seiner Frau, die derzeit in Antep leben, soll verzichtet werden; und sie sollen weiterhin in Antep wohnen dürfen«.33 Talat hat anscheinend keine Antwort auf diesen Befehl erhalten, da er ihn in einem weiteren Telegramm vom 16. Januar 1916 wiederholt: »Terzi Dikran Boşgezen, der Bruder des Abgeordneten Artin Efendi aus Aleppo, sollte in Antep bleiben und, falls er bereits abgeschoben worden sein sollte, darf er nach Antep zurückkehren und sich dort niederlassen«.34 Mustafa Abdülhalik reagierte schließlich am 23. Januar 1916 auf diese Befehle: »Terzi Dikran Boşgezenyan, der Bruder des Abgeordneten Artin Efendi aus Aleppo, wurde nicht deportiert, sondern in Antep zurückgelassen«.35 Aus späteren Dokumenten können wir jedoch 30 BOA.DH.ŞFR., 56/162: Verschlüsseltes Telegramm vom 25. September 1915, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 31 BOA.DH.ŞFR., 56/282: Verschlüsseltes Telegramm vom 4. Oktober 1915, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 32 BOA.DH.ŞFR., 58/17: Verschlüsseltes Telegramm vom 15. November 1915, Innenminister Talat an die Provinz Syrien. 33 BOA.DH.ŞFR., 59/203: Verschlüsseltes Telegramm vom 4. Januar 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 34 BOA.DH.ŞFR., 60/38: Verschlüsseltes Telegramm vom 16. Januar 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 35 BOA.DH.ŞFR., 506/66: Verschlüsseltes Telegramm vom 23. Januar 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium.

144 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

4) DIE VERSCHICKUNG DER WAISENKINDER AUS ALEPPO NACH ISTANBUL

entnehmen, dass Mustafa Abdülhalik, wie auch Naim schreibt, die ihm erteilten Befehle einfach ignoriert hatte und die Verwandtschaft Artin Boşgezenyans weiterhin deportierte. So wiederholt Talat in einem Telegramm vom 18. Dezember 1916 seinen früheren Befehl, dass »Terzi Dikran Boşgezenyan aus Antep, der Bruder des Abgeordneten Artin, zusammen mit seinem Onkel Ohannes Boşgezenyan sowie sein Sohn Agobyan mit seiner Familie in Antep zurückgelassen werden sollen«.36 Er schickte am 19. Februar 1917 einen weiteren Auftrag, der eine Wiederholung seines Befehles zuvor war: »Gemäß dem Telegramm vom 18. Dezember 1916 betreffend den Bruder des Abgeordneten Artin Efendi, Terzi Dikran, seinen Onkel Ohannes und seine Frau, seinen Sohn Agobyan mit seiner Familie, die sich derzeit in Antep aufhalten, ist der noch ausstehende [Befehl] auszuführen«.37 Auch diesen Befehl hat der Gouverneur, wie die Dokumente es bestätigen, ignoriert. Daraufhin schickte Talat am 10. März 1917 ein Telegramm, in dem er den Gouverneur an jeden der zuvor per Telegramm erteilten Befehle mit Datumsangaben erinnerte. Talat schreibt weiter, er habe gehört, dass die Verwandten des Abgeordneten nach Meskene geschickt worden seien, trotz seiner wiederholten gegenteiligen Befehle: »Es wurde festgestellt, dass Terzi Dikran Boşgezenyan, der Bruder des stellvertretenden Parlamentsabgeordneten Artin Efendi, zusammen mit seinem Onkel Ohannes Boşgezenyan und seinem Sohn Agobyan aus Antep vertrieben wurde[;] obwohl diese dort verbleiben mussten, nachdem ihr Verbleib am 18. Dezember 1915 per Telegramm angeordnet und der Sachverhalt in einem weiteren Telegramm am 19. Februar 1917 erneut vorgetragen [wurde], befinden sich diese Personen heute dennoch in Meskene«.38 Anscheinend wütend, fragt Talat, was »der Grund dafür war, dass sie trotz mehrfacher Benachrichtigungen und gegenteiliger Befehle deportiert wurden?«.39 Diese telegrafischen Depeschen belegen erneut die folgende Tatsache: Die Informationen, die Naim in seinen Memoiren präsentiert, sind richtig. Auch hier wird deutlich, dass nur eine Person, die im Deportationsbüro tätig war, über solche Vorgänge informiert sein konnte.

36 BOA.DH.ŞFR., 71/27: Verschlüsseltes Telegramm vom 18. Dezember 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 37 BOAH, DH ŞFR, 73/74: Verschlüsseltes Telegramm vom 19. Februar 1917, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 38 BOAH, DH ŞFR, 74/92: Verschlüsseltes Telegramm vom 10. März 1917, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 39 Ebd.

145 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

4) Die Verschickung der Waisenkinder aus Aleppo nach Istanbul Naim erwähnt in seinen Memoiren eine Begebenheit mit armenischen Waisenkindern, die in Aleppo gestrandet waren.40 Ihm zufolge hatte in Aleppo eine »deutsche Dame« aus eigener Initiative armenische Kinder in Pflege genommen und so »die Regierung aufgefordert, sich um diese Waisenkinder zu kümmern«. Weder der Gouverneur von Aleppo noch der Direktor des Regionalbüros für Deportationen waren von dieser Situation angetan und forderten die Schließung dieser Einrichtung für Waisenkinder. Schließlich intervenierte der Innenminister Talat Pascha und sendete eine Depesche, in der er befahl, die Kinder nach Sivas zu schicken. Allerdings waren für diese Maßnahme keine finanziellen Mittel im Etat vorgesehen und daher konnte der Transport der Kinder nicht sofort vonstattengehen. Schließlich wurde entschieden, die Kinder zu einem späteren Zeitpunkt nach Istanbul zu schicken. Naims Erinnerungen zu diesem Vorgang: »Es gab eine deutsche Dame, eine Menschenfreundin – ich glaube, ihr Name war Hoh –, die mithilfe anderer 100 oder 200 unschuldige Kinder um sich gesammelt hatte; sie forderte die Regierung auf, sich um diese Waisenkinder zu kümmern. Ein solches Mitgefühl ärgerte den Provinzgouverneur und erzürnte das Regionalbüro für Deportationen. Niemand wagte es, öffentlich etwas zu sagen. Diese barmherzige und mitfühlende Frau zeigte diesen Kindern die Barmherzigkeit, die nur deren Mütter ihnen hätten zeigen können; sie wollte, dass die Kinder leben. 40 Während eines ganzen Zeitraumes, beginnend im Mai 1915, als die ersten Deportationskolonnen Aleppo erreichten, blieben Tausende armenischer Waisenkinder in Syrien, und die Frage, was mit ihnen geschehen sollte, wurde für die Regierung zu einem ernsthaften Problem. Zuerst wurden mit Erlaubnis von Cemal Pascha zahlreiche Waisenhäuser in den Gebieten unter der Kontrolle der Vierten Armee errichtet, darunter auch in Aleppo. Diese Waisenhäuser, von denen die meisten von lokalen armenischen Institutionen und von ausländischen Hilfsorganisationen unterstützt wurden, mussten auf Anordnung der Regierung schließen und die Kinder darin wurden in den Tod geschickt. Nähere Informationen zu diesem Thema finden Sie unter Maksudyan, Nazan, Orphans and Destitute Children in the Late Ottoman Empire, Syracuse 2014; Mouradian, Khatchig: Genocide and Humanitarian Resistance in Ottoman Syria, 1915–1917, Worcester MA: PhD diss., Clark University 2016; Shemmassian, Vahram L.: The Reclamation of Captive Armenian Genocide Survivors in Syria and Leba­non at the End of World War I, in: Journal of the Society for Armenian Studies 15, 2006, S. 113–140; Shemmassian Vahram L.: Humanitarian Intervention by the Armenian Prelacy of Aleppo during the First Months of the Genocide, in: Journal of the Society for Armenian Studies 22, 2013, S. 127–153.

146 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

4) DIE VERSCHICKUNG DER WAISENKINDER AUS ALEPPO NACH ISTANBUL

Die Regierung wandte daraufhin einen Trick an: ›Diese Waisenkinder werden in Sivas zusammengebracht‹, sagte sie. ›Dort wird ein großes Waisenhaus eröffnet und für sie gesorgt‹. Das Ziel war, diese armen Wesen unterwegs zu ermorden. Ich war derjenige, dem befohlen wurde, sie wegzuschicken und die ganze Sache zu leiten. Die Kinder sollten mit der Bahn, begleitet von speziellen Beamten, in Ereğli ankommen, um von dort aus in Kutschen nach Sivas geschickt zu werden. Ich sollte auf Ereğli stationiert werden. Zu diesem Zeitpunkt waren aber schon die angewiesenen Gelder für das Amt für Siedlungswesen und Immigration verbraucht. Neue Gelder wurden erwartet, aber das hat sich verzögert, sodass die ganze Operation fehlschlug. Sieben oder acht Monate später wurden diese Kinder nach Istanbul gebracht«.41

Naim erinnerte sich nur in etwa an den Namen der deutschen Dame. Es handelte sich um Frau Koch; sie trug einen der prominentesten Namen in der deutschen Gemeinde von Aleppo. Im Dezember 1915 überredete sie den Befehlshaber der Vierten Armee, Cemal Pascha, in Aleppo ein Waisenhaus zu eröffnen, in dem sich die armenischen Kinder aufhalten sollten. Beatrice Rohner, eine Schweizerin, wurde die Leiterin der Einrichtung.42 Naim übergab Andonian zwei Telegramme von Talat Pascha zu diesem Thema. Das erste, datiert vom 28. Januar 1917, lautet: »Es wird festgestellt, dass die Kinder der [bestimmten] bekannten Individuen (eşhası malume) in die Waisenhäuser aufgenommen werden, die an verschiedenen Orten eingerichtet worden sind. Der Staat ist sich sicher, dass es schadet, wenn diese [Kinder] am Leben bleiben; wenn dann jemand versucht, aus Mitleid die Versorgung aufrechtzuerhalten und auf die Hilfe für solche [Kinder] hinzuarbeiten – sei es aus der Unfähigkeit heraus, den Ernst der Lage zu begreifen, oder sei es ein Verhalten, dass aus Hilflosigkeit den Ernst der Lage herunterspielt –, handelt er gegen den klaren Willen der Regierung. Es wird darauf hingewiesen, dass weder für die Aufnahme solcher Kleinkinder in die Waisenhäuser noch für die Einrichtung anderer Waisenhäuser Anstrengungen unternommen werden dürfen«. 43

Das zweite Telegramm ist vom 5. Februar 1917 und lautet: »Während es unter den Flüchtlingen und gefallenen muslimischen Soldaten Tausende von Waisen und Witwen gibt, die Schutz und Unterstützung benötigen, besteht keine Notwendigkeit, unnötig Ressourcen für die verlassenen Kinder bestimmter bekannter Individuen aufzuwenden, die in Zukunft noch mehr Schäden und Probleme (für den Staat) verursachen 41 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [32] – [33]. 42 Kaiser, Hilmar: At the Crossroads of Der Zor: Death, survival, and humani­ tarian resistance in Aleppo, 1915–1917, Princeton NJ / London 2002, S. 52–54. 43 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [13] – [14].

147 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

werden. Diese Personen sollten – entsprechend der letzten Anweisung – mit den Deportationskolonnen nach Sivas geschickt werden«.44

Wir verfügen über Dokumente aus dem Osmanischen Archiv, die die Informationen von Naim bestätigen. So beschwerte sich beispielsweise der Gouverneur von Aleppo in einem Telegramm, das er am 10. Februar 1916 nach Istanbul schickte, über den Befehl Cemal Paschas, die armenischen Kinder unter Aufsicht der Deutschen in Waisenhäuser aufnehmen zu lassen: »Hier sind bis zu 530 Kinder ohne Eltern oder Verwandte. Die protestantischen armenischen Kinder erhalten bereits eine protestantische Ausbildung, während die anderen, mit Zustimmung von Cemal Pascha, den deutschen Frauen anvertraut wurden. Ich habe Cemal Pascha in Damaskus erklärt, dass ich es für völlig inakzeptabel halte, dass es hier zwei getrennte Einrichtungen als armenische Waisenhäuser gibt und dass es besser wäre, diese Kinder nach Istanbul oder in andere Gebiete Anatoliens zu schicken«.45

Der Gouverneur Mustafa Abdülhalik setzte sich dafür ein, dass die armenischen Kinder, wenn sie nicht anderweitig untergebracht werden könnten, nach Istanbul gebracht werden sollten. Seinen ersten Vorschlag in dieser Angelegenheit schickte er am 7. Dezember 1915 nach Istanbul, obwohl er wusste, dass dieser dort auf Ablehnung stoßen würde.46 Als er keine Antwort auf diesen Vorstoß erhielt, schickte er am 6. Februar 1916 ein zweites Telegramm, in dem er erklärte, dass »bisher nichts angeordnet wurde, um meiner Bitte nachzukommen und die armenischen Kinder, die hier zu treffen sind, nach Istanbul zu schicken«, und er wiederholte seine Forderung, die betreffenden Kinder »nach Istanbul oder in eine Stadt in Anatolien zu schicken«.47 Talat Pascha stimmte dem Vorschlag, dass die Kinder nach Istanbul sollten, nicht zu, er entschied sich stattdessen für die zentralanatolische Stadt Sivas, die für die »Erziehung und Assimilation« der Kinder besser geeignet sei. Er bat den Gouverneur von Aleppo, Sivas zu kontaktieren und die Kinder so schnell wie möglich dorthin zu schicken.48 Seine Entscheidung meldete Talat noch am selben Tag der Provinz Sivas: 44 Ebd., [31]. Für das Originalbild dieses Dokumentes siehe Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 191. 45 BOA.DH.ŞFR., 503/91: Verschlüsseltes Telegramm vom 10. Februar 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium. 46 BOA.DH.ŞFR., 500/75: Verschlüsseltes Telegramm vom 7. Dezember 1915, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium. 47 BOA.DH.ŞFR., 508/30: Verschlüsseltes Telegramm vom 6. Februar 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium. 48 BOA.DH.ŞFR., 61/18: Verschlüsseltes Telegramm vom 15. Februar 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo.

148 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

4) DIE VERSCHICKUNG DER WAISENKINDER AUS ALEPPO NACH ISTANBUL

»Es ist nicht sinnvoll, dass die armenischen Waisenkinder in Aleppo hierher (d. h. nach Istanbul) geschickt werden. Der am besten geeignete Ort für ihre Erziehung und Assimilation ist Sivas. Kommunizieren Sie mit Aleppo, damit diese Kinder dorthin kommen und in verschiedenen Waisenhäusern untergebracht werden«.49

Die Gelder für die Transportkosten der Kinder nach Sivas kamen jedoch nie in Aleppo an, sodass Gouverneur Mustafa Abdülhalik am 2. April 1916 eine Botschaft nach Istanbul schicken musste, in der er fragte, was jetzt geschehen sollte: »Obwohl Ihr geschätztes Büro bestimmt hatte, dass diese Waisenkinder nach Sivas transportiert werden, konnten sie noch nicht geschickt werden, da die Gelder aus den Zuweisungen der Behörde für Umsiedlung von ethnischen Gruppen und Einwanderern noch nicht hier eingetroffen sind«.50

Der Gouverneur beharrte weiterhin den ganzen Monat Mai auf die Schließung der Waisenhäuser und bekräftigte seine Ansicht, dass er »die Gründung einer Einrichtung in Aleppo unter der Verwaltung der Deutschen in keiner Weise als zweckmäßig und angemessen erachtet«.51 Nach Abdülhaliks Ansicht war »Beatrice Rohner bereit, an jeden Ort zu gehen, den die Regierung ihr empfiehlt, um dort ihr Waisenhaus zu errichten«.52 Selbst in den Monaten, in denen aus Istanbul die Mittel an die Provinzen verteilt wurden, gab es keine Gelder für den Transport der Waisenkinder aus Aleppo. Am 13. August 1916 erkundigte sich Talat schließlich nach der Höhe des benötigten Geldbetrages [zur Deportation der Waisenkinder].53 Zu diesem Zeitpunkt hatte auch die Provinz nach den notwendigen 49 BOA.DH.ŞFR., 61/20: Verschlüsseltes Telegramm vom 15. Februar 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. Der Wunsch, armenische Waisenkinder nach Istanbul zu schicken, war für Aleppo kein Einzelfall. Ähnliche Beschwerden und Forderungen kamen aus anderen Provinzen, und wie in Aleppo lehnte Talat auch die Anträge anderer Gouverneure, die armenischen Waisenkinder aus den Provinzen nach Istanbul zu schicken, ab. Er wollte sie stattdessen auf die benachbarten Provinzen verteilen. Für Telegramme, die sich mit seiner Ablehnung eines solchen Antrags aus der Provinz Kayseri befassen, siehe BOA.DH.ŞFR., 520/12 (17. Mai 1916) und 64/82 (20. Mai 1916). 50 BOA.DH.EUM, 2.Şube., 19/43-1: Verschlüsseltes Telegramm vom 2. April 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium. 51 BOA.DH.ŞFR., 520/31: Verschlüsseltes Telegramm vom 18. Mai 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium. 52 Ebd. 53 BOA.DH.ŞFR., 66/229: Verschlüsseltes Telegramm vom 13. August 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo.

149 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

Geldmitteln gefragt, um die Kosten der Kinder zu decken, die dorthin geschickt werden sollten.54 Aus dem Telegramm des Gouverneurs von Aleppo vom 1. Dezember 1916 können wir entnehmen, dass die armenischen Kinder zu diesem Zeitpunkt noch nicht verschickt worden waren; denn darin heißt es, der Gouverneur Abdülhalik warte noch auf eine Anweisung, wohin die Deportierten geschickt werden sollen, und ergänzt, dass die Zahlen der Waisenkinder in der Zwischenzeit gestiegen sind: »Obwohl es für angebracht erachtet wurde, die Waisenkinder in den Waisenhäusern Aleppos, die heute mehr als 1.500 Kinder zählen, nach Sivas zu schicken, wurden sie aufgrund der militärischen Lage nicht deportiert. In Anbetracht der Tatsache, dass der Aufenthalt dieser Kinder hier unter armenischer Verwaltung nicht unproblematisch erscheint, teilen Sie uns bitte Ihre Planung mit, wohin diese Kinder abgeschoben werden sollen«.55

Der Gouverneur unternahm am 26. Dezember 1916 einen weiteren Versuch, indem er das Innenministerium erneut über den aktuellen Zustand in Aleppo informierte: Etwa 2.500 armenische Waisenkinder seien in verschiedenen Waisenhäusern aufgenommen worden; er warnte davor, dass diese Zahl täglich zunehme. »Wenn es erforderlich sein sollte, dass sie irgendwohin deportiert werden«, schrieb er, »dann sollte ein Befehl zum nächstmöglichen Zeitpunkt unter Angabe des Zieles erteilt werden«.56 Auch Talat war in diesen Tagen bestrebt, einen Platz für die Kinder zu finden. Am 11. Dezember 1916 schrieb er eine geheime Botschaft an das Bildungsministerium und fragte dort, ob ein Ort zur Umsiedlung der verwaisten armenischen Kinder aus Aleppo gefunden worden sei; es sei nicht mehr hinnehmbar, dass sie dort gelassen würden.57 In seiner Antwort zwei Wochen später erklärte das Ministerium, dass die Kinder in verschiedene Gebiete wie Bahçecik, Adapazarı und Izmit verteilt werden könnten, die restlichen Kinder würde man dann nach Istanbul bringen.58 Talat antwortete am 4. Januar 1917, dass es nicht zweckmäßig sei, die Waisenkinder aus Aleppo nach Istanbul zu bringen. Da bereits Kinder aus den umliegenden Provinzen nach Istanbul gebracht würden, sei 54 BOA.DH.ŞFR., 509/104: Verschlüsseltes Telegramm vom 17. Februar 1916, Gouverneur Muammer aus Sivas an das Innenministerium. 55 BOA.DH.ŞFR., 538/114: Verschlüsseltes Telegramm vom 1. Dezember 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium. 56 BOA.DH.ŞFR., 541/45: Verschlüsseltes Telegramm vom 26. Dezember 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium. 57 BOA.MF.MKT. 1221/81: Anmerkung vom 11. Dezember 1916, Innenminister Talat an das Bildungsministerium. 58 BOA.MF.MKT. 1221/81: Anmerkung vom 25. Dezember 1916, Bildungsministerium an das Innenministerium.

150 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

4) DIE VERSCHICKUNG DER WAISENKINDER AUS ALEPPO NACH ISTANBUL

es praktischer, die armenischen Waisenkinder in den Einrichtungen zu unterbringen, die demnächst leer stehen würden. Am Ende wurden die Kinder aus Aleppo in verschiedene Provinzen geschickt. Unterdessen wurde das Waisenhaus unter der Obhut von Frau Rohner im März 1917 aufgrund des ständigen Insistierens Abdülhaliks geschlossen. Es sollte daher nicht als Zufall gewertet werden, dass die von Naim Anfang 1917 gelieferten Talat-Pascha-Telegramme zur gleichen Zeit entstanden sind, als das Waisenhaus geschlossen wurde. Nach deutschen Dokumenten wurden die armenischen Waisenkinder meist nach Konya, Izmit, Balıkesir und Adapazarı geschickt,59 und, wie Naim berichtete, kamen einige von ihnen tatsächlich auch in Istanbul an. Am 17. Juli 1917 schrieb Cemal Pascha eine Nachricht an das Hauptquartier der Logistikeinheit in Aleppo und informierte sie darüber, dass fast 1.000 Waisenkinder nach Istanbul geschickt worden seien.60 Die Memoiren von Beatrice Rohner bestätigen Naims Erinnerungen zu den Waisenkindern in Aleppo. Rohner schreibt, dass sie sich im Dezember 1915 mit Cemal Pascha traf und sie von ihm die Erlaubnis erhielt, ein Wohnheim zur Betreuung armenischer Kinder zu eröffnen. Cemals einzige Bedingung soll gewesen sein, dass sie ihre Arbeit auf Aleppo beschränke und diese nicht auch auf die Umgebung Aleppos ausdehne. Rohner bestätigt auch Naims Einschätzung zum Gouverneur von Aleppo, Mustafa Abdülhalik, und zu seiner feindlichen Haltung gegenüber dem Waisenhaus: »Der Gouverneur hatte kein Mitgefühl mit uns, aber er war verpflichtet, uns die Erlaubnis zu erteilen, unsere dringendsten Bedürfnisse zu erfüllen«.61 Rohner, die Anfang März 1917 ihr Waisenhaus schließen musste, bat am 8. Oktober 1917 über die deutsche Botschaft beim osmanischen Innenministerium um eine Ausreisegenehmigung, um das Land zu verlassen. Das Ministerium hatte jedoch Bedenken, Rohner eine solche Genehmigung zu erteilen. Zeitgleich schrieb Talat an die Gouverneure von Aleppo (wo Rohner sich aufhielt) und Maraş, um ihre Meinungen dazu zu erfahren. Der damalige Gouverneur von Aleppo, Bedri, gab am 17. Oktober eine interessante Antwort, die wiederum Naims Darstellung bestätigt: »Rohner, auch bekannt als Beatrice Roza, knüpfte während ihrer Zeit hier viele Kontakte zu den Armeniern und wurde selbst als »Freundin der Armenier« bekannt. Diese Person beschäftigte sich eine Zeit lang mit 59 DE/PA-AA/R14096: Bericht vom 16. März 1917, deutscher Konsul in Aleppo, Rössler, an Bundeskanzler Bethmann Hollweg; armenocide.net, http:// www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$$AllDocs/1917-03-16DE-001 [Zugriff: 4. April 2016]. 60 Genelkurmay Başkanlığı: Ermeni Faaliyetleri, Bd. 8, a.a.O., S. 133. 61 Kieser, Hans-Lukas: A Quest for Belonging: Anatolia beyond empire and nation (19th-21st centuries), Istanbul 2007, S. 224.

151 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

der Verteilung von Geldern, die aus Europa und Amerika kamen und vom amerikanischen Konsul in Aleppo, den Bedürfnissen der Armenier entsprechend, verteilt werden sollten. Als diese Mittel dann gestoppt wurden, ging sie nach Maraş und sammelte viele Informationen über die Ereignisse um die Armenier. Ihre Reise nach Europa wird daher als nachteilig und nicht empfehlenswert erachtet«.62

Am Ende sah sich Enver Pascha gezwungen einzugreifen; er bat darum, dass eine positive Antwort auf die Bitte der deutschen Botschaft in Sachen Rohner erteilt wird, damit sie ausreisen kann, da Deutschland und die Schweiz sonst möglicherweise negativ reagieren könnten. So durfte Rohner am 3. Dezember 1917 mit Sondergenehmigung von Enver Pascha nach Deutschland reisen. »Aufgrund ihrer Bekanntheit in [bestimmten] deutschen und schweizerischen Kreisen, erworben durch ihre Tätigkeit als Krankenschwester und als Leiterin einer Hilfsorganisation in Maraş, wurde es als politisch vorteilhaft eingeschätzt, der genannten Person zu erlauben, von Istanbul aus nach Deutschland zu reisen«.63

5) Die Ermordung armenischer Kinder in der Umgebung von Meskene und Rakka Naim übergab dem armenischen Journalisten Aram Andonian ein Telegramm, das Talat am 25. Dezember 1915 geschickt hatte. Darin verlangt Talat, dass Kinder der Armenier, die so jung sind, sich an das Geschehene, an die Misshandlungen und Ungerechtigkeiten, die ihren Eltern widerfahren sind, nicht mehr erinnern zu können, zusammengetrieben und versorgt werden. Die restlichen Kinder sollen in die Marschkolonnen eingereiht und deportiert werden.64 Naim gibt in seinen Memoiren eine Erläuterung zu dem kurzen Telegramm: »Ich halte es nicht für notwendig, dies ausführlich zu erläutern; der Inhalt des Telegramms ist eindeutig. Kinder, die sich nicht mehr an die Katastrophen erinnern konnten, die ihre Eltern erlebten, waren zwei, drei und vier Jahre alt. Das heißt, dass alle Kinder, die älter als vier waren, zum Tode verurteilt wurden. Und das war in der Tat ihr Schicksal. Was geschah mit den Waisenkindern, die in das Waisenhaus in Meskene gebracht wurden? Sie sind alle tot, sie wurden alle ermordet«.65 62 Zu dieser Konversation siehe BOA.DH.EUM., 5.Şb, 50/15. 63 Ebd.. 64 Das Datum, das auf der Fotografie des Dokumentes zu sehen ist, lautet »2 Kanuni Evvel 1331«, (15. Dezember 1915). In seinen Memoiren nennt Naim Efendi jedoch das Datum »12 Kanuni Sani 1332« (25. Dezember 1917). 65 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [26].

152 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

5) DIE ERMORDUNG ARMENISCHER KINDER

Für die Ermordung der armenischen Waisenkinder in Meskene macht Naim den stellvertretenden Direktor für Deportationen in Aleppo, Hakkı Bey, verantwortlich. Er schränkt die Verantwortung von Hakkı Bey nicht nur auf diese Verbrechen ein; er sieht ihn auch in der Verantwortung für das Schicksal der armenischen Kinder, die auf den Deportationsrouten starben, sei es von Meskene nach Rakka oder von Rakka nach Deyr-i Zor. So lautet das Fazit des Autors der Memoiren: »Hamam, das in der Umgebung von Rakka liegt, ist ein Inferno des Todes und der Zerstörung. Frauen und Kinder leiden am stärksten unter Entbehrungen und Verlusten. Das Dossier mit den amtlichen Dokumenten über das, was über diese Angelegenheit bekannt ist, hat der stellvertretende Generaldirektor Abdülahad Nuri Bey. Hakkı Bey hat diese Katastrophe verschlimmert. Er hat die Massentötungen von mehreren Hundert Waisenkindern angeordnet, die die Deportationen überlebt hatten. Er beauftragte einen Schurken aus Rumeli mit dem Namen »Resul«, einen aus dem Polizeidienst entlassenen Kommissar, und übertrug ihm die Verantwortung für diese Angelegenheiten. Diese Person versammelte in sich alle unmoralischen Verhaltensweisen der Welt. Er entwickelte eine Leidenschaft zum Töten, und das wurde für ihn zu einer heiligen Praxis«.66

Andonian nimmt diese Beschreibungen von Naim in den veröffentlichten Memoiren nicht auf. Vielmehr verweist er auf ein weiteres Telegramm, das nicht in der Version der uns vorliegenden Memoiren enthalten ist, und fasst die Angelegenheit mit seinen eigenen Worten zusammen: Das Telegramm liest sich wie folgt: Verschlüsseltes Telegramm des Innenministeriums an den Gouverneur von Aleppo: »Damit sie keinen Verdacht schöpfen, holen Sie die Kinder der bestimmten Individuen (Armeniern) unter dem Vorwand, dass sie alle gemeinsam von der Deportationsbehörde in einem Sammellager versorgt werden, aus den Militärstützpunkten heraus und vernichten sie! Bitte um Meldung des Resultats. 7. März[1]916, Minister des Innern Talat«.

Andonian fügt dann die folgenden Informationen hinzu: »Kurz darauf tötete Hakkı die Reste des letzten Deportationskonvois auf der Strecke von Meskene nach Deyr-i Zor und sammelte dann alle Waisenkinder und deportierte sie nach Deyr-i Zor. Dort hörte der Aderlass auf, weil niemand mehr zu töten war. Die Zahl der Waisenkinder, die gesammelt worden waren, betrug mehr als 300, aber von diesen konnten etwa 100 Kinder Deyr-i Zor nicht erreichen«.67 66 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [11]. 67 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 197.

153 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

Es gibt drei wichtige Punkte, die hier erwähnt werden sollten. Der erste Punkt ist die Eröffnung eines Waisenhauses in Meskene; der zweite ist die Tatsache, dass Hakkı die Person war, die nach Meskene berufen wurde, damit er diese Einrichtung schloss und ihre Bewohner, zusammen mit anderen, in den Tod schickte. Der dritte Punkt ist die Beauftragung des bereits erwähnten »Resul« aus Rumeli als Helfer bei Deportationen und Tötungen. Diese Gegebenheiten werden durch verschiedene osmanische Archivdokumente und durch die Erinnerungen verschiedener Armenier, die die Deportationen überlebt haben, bestätigt. Wie wir es bereits in Zusammenhang mit den Untersuchungen im Sommer 1916 erwähnten, war es Talat nicht bekannt, dass in Meskene ein Waisenhaus eröffnet worden war. In einem Telegramm an Aleppo vom 4. August 1916 erkundigte sich Talat, auf wessen Anordnung das Waisenhaus eröffnet werden durfte und welches Amt die Kosten trage.68 Talat schickte diese Depesche, nachdem der Gouverneur von Aleppo ihm Mitte Juli gemeldet hatte, dass die Deportationen aus Meskene eingestellt werden mussten. In diesem Telegramm hatte sich der Gouverneur auch über die Eröffnung des Waisenhauses in Meskene beschwert. Von Hakkı, der erst danach in Meskene eintraf, wurde erwartet, dass er die Deportationen wieder in Gang bringt und dass er nach der Schließung des Waisenhauses die Waisenkinder nach Deyr-i Zor deportiert. Eine wichtige Information zu dieser Entwicklung stammt vom Kommandanten des Büros für logistische Unterstützung in Meskene, Oberstleutnant Galip, der für die Errichtung des Waisenhauses dort verantwortlich war. In seinen Aussagen, die er im Zusammenhang mit Ermittlungen der osmanischen Regierung wegen Korruptionsvorwürfen und Unregelmäßigkeiten im Lager Meskene machte, erklärte Galip, dass ihm der Befehl zur Errichtung eines Waisenhauses am 16. Mai 1916 vom Büro des Kommandanten schriftlich erteilt worden war. Der Offizier ließ das Waisenhaus ab Anfang Juni gemäß dem ihm erteilten Befehl bauen und übergab es am 18. August 1916 der Zivilverwaltung. Die Person, der er die Schlüssel übergab, war Hakkı, der stellvertretende Direktor für Deportationen.69 Am 1. März 1917 schickte der Innenminister ein Telegramm an 68 BOA.DH.ŞFR., 66/136: Verschlüsseltes Telegramm vom 4. August 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. »Durch welche Verordnung wurde das vom Kommandanten des Büros für logistische Unterstützung in Meskene errichtete Waisenhaus ins Leben gerufen? Erklären Sie klar und deutlich, welche Institution die Kosten für dieses Waisenhaus übernommen hat, zusammen mit seinem derzeitigen Zustand und seiner Bedeutung«. 69 Genelkurmay Başkanlığı: Ermeni Faaliyetleri, Bd. 7, a.a.O., S. 73–75. In den Aussagen, die während der Untersuchungen gemacht wurden, waren die Zeiten und Daten »Anfang Juni« und »3. Juli«.

154 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

5) DIE ERMORDUNG ARMENISCHER KINDER

das Büro des Gouverneurs von Aleppo und erkundigt sich, zu welchem Ort »die Marschkolonne der Waisenkinder von Hakkı Bey geschickt wird?«.70 Es liegen viele Schilderungen in den schriftlichen Erinnerungen der armenischen Überlebenden zu den Taten von Hakkı vor. »Als Hakkı Bey die südlich des Transitlagers von Meskene lebenden Kinder zusammentrieb und sie dann nach [Deyr-i] Zor schickte, starben mehr als 800 Kinder. […] Die meisten von ihnen waren krank oder behindert. […] Sie starben unter diesen Bedingungen an Erschöpfung. […] Achthundert Waisenkinder wurden geschickt […] in 17 Wagen. […] Sie wurden zusammen mit anderen Waisenkindern in Deyr-i Zor lebendig verbrannt. […] Derjenige, der sie vertrieben hatte, war Hakkı Bey«.71

Einige Erinnerungen aus dieser Zeit bestätigen, dass Hakkı veranlasst hatte, die Waisenkinder von »einem unehrenhaften Mann aus Rumeli namens Resul« töten zu lassen. Krikor Ankut, ein Überlebender, erinnert sich, dass Resul von Hakkı Bey zu seinem Assistenten ernannt worden war und fügt hinzu: »Um die letzten verbliebenen armenischen Deportierten zwischen Aleppo und Deyr-i Zor zu vernichten, trieb Hakkı Bey, zusammen mit seinem Assistenten Resul aus Rumeli, alle Deportierten von Aleppo aus entlang der Euphrat-Route. Er schickte sie direkt nach [Deyr-i] Zor oder sogar noch weiter südlich. Fast 300 junge Männer und Kinder, die das Lager Hamam überlebt hatten, wurden in einer gesonderten Marschkolonne gen Süden geschickt. Über sie kamen glaubhafte Berichte an, dass sie in Rakka, südlich von Sebka, getötet worden waren. An anderer Stelle erfuhren wir unzweifelhaft, dass in der Gegend um Şamiye 300 Kinder in eine Höhle geworfen, über sie Gas gegossen und sie dann lebendig verbrannt wurden«.72

Hakkı (um Andonian zu zitieren) gelang, »was Naim Bey und Hüseyin Efendi, der Leiter des Meskene-Lagers, nicht geschafft hatten; er trieb die über die gesamte Länge des Euphrats verteilten Deportierten zum Schlachthof von Deyr-i Zor hinunter«.73 Am 14. Februar 1917 berichtete der Landrat von Deyr-i Zor, dass »die Armenier, die während des 70 BOAH, DH ŞFR, 74/15: Verschlüsseltes Telegramm vom 1. März 1917, Innenministerium an die Provinz Aleppo. 71 Kévorkian: Soykırımın İkinci Safhası, a.a.O., S. 251. Diese Informationen wurden aus den sogenannten »geheimen Zeitungen« entnommen, die von den in den Lagern lebenden Armeniern während dieser Zeit zur Kommunikation untereinander verwendet wurden. Die Überlebenden schrieben ihre Erinnerungen auf Papierfetzen, damit andere das Erlebte entdecken und erfahren konnten. Die Aufgabe, auf diese Weise zu kommunizieren, wurde größtenteils kleinen Kindern anvertraut, deren Bewegungen im Lager von Wachen oder anderen nicht so sehr wahrgenommen wurden. 72 Kévorkian: Soykırımın İkinci Safhası, a.a.O., S. 280, S. 311. 73 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 109.

155 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

Marsches oder aus dem Lager geflohen waren, nach [Deyr-i] Zor unter der Aufsicht des stellvertretenden Direktors für Deportationen Hakkı Bey unterwegs sind«.74 Hakkı muss seine Aufgaben mit vollem Erfolg erledigt haben, denn Talat schickte am 22. Februar 1917 eine Botschaft an die Provinz Aleppo und fragte, »ob Hakkı Bey, der stellvertretende Direktor für Deportationen, irgendwelche physischen Bedürfnisse hat, um die ihm anvertrauten Aufgaben fortzusetzen?«.75 Die Antwort wurde am 25. Februar von Gouverneur Mustafa Abdülhalik verfasst, der schrieb, dass »es keine Notwendigkeit für Hakkı Bey gebe, seine Arbeit fortzusetzen« und dass Hakkı Bey »mit einer Gruppe von Waisenkindern nach Istanbul aufgebrochen sei«.76 Um nur eine letzte Bemerkung hinzuzufügen: Hakkı Bey war nicht nur in die Region geschickt worden, um die Deportationen und Massaker wieder in Gang zu bringen, sondern auch, um eine Untersuchung der dort aufgetretenen Korruption und Unregelmäßigkeiten einzuleiten. Dabei hat er den Deportierten reichlich Bestechungsgelder und bahşiş abgenommen.77

6) Die Deportation der armenischen Eisenbahner Naim übergab Andonian drei Telegramme von Talat Pascha, die in Zusammenhang mit den Deportationen der armenischen Bahnarbeiter, die bei der Bagdadbahn tätig waren, stehen. Außerdem fügte er einige zusätzliche, klärende Anmerkungen hinzu. Das erste Telegramm ist von Innenminister Talat an den Gouverneur von Aleppo, trägt die Registernummer 801 und ist datiert vom 8. Januar 1916: »Es wurde beschlossen, dass die Armenier, die in allen Einrichtungen, im Eisenbahnbetrieb und im Bau beschäftigt sind, ebenfalls in die Umsiedlungsgebiete deportiert werden, und die Verordnungen, wie diese durchzuführen sind, wurden vom Kriegsministerium an die Armeekommandeure geschickt. Um Berichterstattung über die Resultate wird gebeten«.78

Und Naim fügt hinzu: »Die Mehrheit der Beamten, die sowohl in den Bau- als auch in den Betriebsgesellschaften arbeiteten, waren Armenier. Die Regierung gab diesen Befehl aus Angst, dass die Armenier Verrat begehen könnten. Im 74 BOA.DH.ŞFR., 73/8: Verschlüsseltes Telegramm vom 14. Februar 1917, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 75 BOA.DH.ŞFR., 73/58: Verschlüsseltes Telegramm vom 22. Februar 1917, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 76 BOA.DH.ŞFR., 545/91: Verschlüsseltes Telegramm vom 25. Februar 1917, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium. 77 Kévorkian: Soykırımın İkinci Safhası, a.a.O., S. 280, S. 311. 78 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [23].

156 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

6) DIE DEPORTATION DER ARMENISCHEN EISENBAHNER

Zusammenhang mit diesem Befehl wurde der Bahnkommissar um eine Liste mit den Namen der armenischen Angestellten gebeten«.79

Diesem Telegramm folgten zwei weitere: Die Nummer 840 (vom 29. Januar 1917) und die Nummer 845, die als Ergänzung zu Nummer 840 geschickt wurde. Das erste lautet: »Es wird festgestellt, dass 40.000 bis 50.000 Armenier – die meisten von ihnen verwitwete Frauen und elternlose Kinder – entlang der Bahnstrecke von Aleppo zu den Lagern in Intilli und Ayıran leben. Da die schwersten Strafen für diejenigen verhängt werden, die eine solche Konzentration von Armut und Elend auf den wichtigsten Kommunikations- und Transportwegen der Armee verursacht haben, wird erwartet, dass nach Rücksprache mit dem Provinzgouverneur von Adana [diese mittellosen Armenier] zügig in die Gebiete der Umsiedlung deportiert werden, ohne sie durch Aleppo zu führen. Die Ergebnisse [dieser Operation] sind innerhalb einer Woche zu melden«.80

Das Telegramm Nummer 845, das als Nachtrag zum vorangegangenen gesendet wurde, hat den folgenden Inhalt: »Auch wenn es als schwierig angesehen wird, die in den Lagern von Intilli und Ayıran verbliebenen Armenier, die bis zum Abschluss der Bauarbeiten dort beschäftigt sind, abzuschieben, ist es nicht angebracht, ihre Familien dortzubehalten; sie [die Familien] sollten stattdessen vorübergehend in die umliegenden Gemeinden und Dörfer um Aleppo umgesiedelt werden und die übrigen Frauen und Kinder, die keine Vormunde oder Familie haben, sollen gemäß den vorherigen Anweisungen deportiert werden«.81

Laut Naim beruht die Versendung des Telegramms 845 auf den Beschwerden der verantwortlichen Ingenieure der Eisenbahngesellschaft, dass »die Entfernung armenischer Arbeiter die Einstellung der Bauarbeiten bedeuten würde«.82 Aber dennoch waren die Familien der Armenier, die an der Bahnlinie arbeiteten, »in mehreren Deportationskolonnen nach Aleppo gebracht worden. Sie sollten (ursprünglich) in die Dörfer umgesiedelt werden. Ihre Namen wurden aufgenommen, Register erstellt, und die armen Schlucker sahen Grund zur Hoffnung. Diese Hoffnung war vergeblich. Zunächst wurden sie von der Polizei aus ihrer Bleibe vertrieben; dagegen reichten sie ihre offiziellen Anträge und Petitionen ein, und die [Beamten taten so, als ob] die Petitionen ernst genommen würden. Sie liefen von einem Amt zum anderen, und so vergingen die Tage. Es bestand nie die Absicht, die Petitionen 79 Ebd., [23]. 80 Ebd., [27]. 81 Ebd., [28]. 82 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 60.

157 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

zu bearbeiten, denn innerhalb weniger Tage befanden sich diejenigen, die sie eingereicht hatten, in den Fängen des Grauens und der Barbarei in Meskene. Diese armen beraubten Frauen und Mädchen fielen den lustvollen Wünschen der lokalen Bevölkerung oder der Gendarmen zum Opfer«.83 Naims Memoiren ist zu entnehmen, dass die Deportation aller Armenier, ob bei der Bahn oder im Baugewerbe, geplant war; aber aufgrund der Warnung der Bahngesellschaft, die Arbeit würde ohne sie einfach zum Erliegen kommen, durften einige der Arbeiter bleiben, und ihre Familien wurden in die Gegend um Aleppo umgesiedelt. Diese Ruhepause dauerte jedoch nicht lange, und das Kommissariat für militärische [Eisenbahn-]Strecken notierte zunächst die Namen der Armenier, die bei der Bahn und im Bau arbeiteten, und deportierte sie dann mit ihren Familien nach Deyr-i Zor. Die im Osmanischen Archiv verfügbaren Dokumente beweisen, dass alle hier von Naim stammenden Informationen zutreffend sind. Wir haben dazu zunächst überprüft, ob die beiden im Telegramm von Talat (Nummer 801) enthaltenen Informationen auch in den osmanischen Dokumenten zu finden sind. Die erste Information war, dass etwa 40.000 bis 50.000 verwitwete Frauen und verwaiste Kinder entlang der Bahn­ trasse von Intilli-Ayıran bis Aleppo lebten. Diese Zahlen werden auch in den beiden telegrafischen Depeschen vom 6. und 9. November 1915 genannt, die vom Provinzgouverneur von Adana, Hakkı, beziehungsweise vom Distriktgouverneur von Osmaniye, Fethi, verschickt wurden.84 Die zweite Information aus Naims Memoiren, die wir erörtern werden, betrifft die Deportation der bei der Eisenbahn tätigen Armenier und ihrer Familien auf Ersuchen des Kriegsministeriums. Die Deportationen der armenischen Eisenbahner waren aus der Sicht der osmanischen Regierung ein kompliziertes Unternehmen, das einen unebenen Verlauf hatte. Zu Beginn der Vertreibungen wurde beschlossen, nicht alle armenischen Arbeiter zu deportieren85 – trotz der Telegramme verschiedener lokaler Beamter, die darauf hinwiesen, dass die Zahl der Armenier, die im Eisenbahnbau und -betrieb beschäftigt waren, zu groß sei, dass sie eine potenzielle Bedrohung für die Sicherheit 83 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [29]. 84 BOA.DH.EUM., 2.Şb., 73/61 und BOA.DH.ŞFR., 666/122: Verschlüsseltes Telegramm vom 6. November 1915, Provinzgouverneur Ismail Hakkı Bey aus Adana an das Innenministerium. BOA.DH.EUM., 2.Şb., 73/60-01: Verschlüsseltes Telegramm vom 9. November 1915, Distriktgouverneur aus Osmaniye, Fethi, an das Innenministerium. 85 Für einige Beispiele von Telegrammen, die in die Provinzen geschickt wurden, um die armenischen Eisenbahner nicht zu deportieren, sondern sie an Ort und Stelle zu lassen, siehe BOA.DH.ŞFR., 55/48, 287, 318; 54-A/307.

158 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

6) DIE DEPORTATION DER ARMENISCHEN EISENBAHNER

darstellten und dass ihre Zahl unbedingt reduziert werden müsste.86 Später jedoch wurde eine Kommission berufen, die entscheiden sollte, welche Beschäftigte der Bahn und aus welchen Gründen diese deportiert werden.87 Şükrü Bey, der Direktor des Deportationsamtes in Aleppo, schickte von dort aus am 25. September 1915 ein Telegramm und forderte, dass »eine Liste der Handwerker und Arbeiter unter den Armeniern, die in den Betriebs- und Bauabschnitten der Eisenbahn beschäftigt sind, […] sofort zusammenzustellen ist […], sodass diejenigen, die als unbedingt notwendig erachtet werden, bleiben können«. Die zu deportierenden Personen sollten »von den Stationsvorstehern an die militärischen und zivilen Bahnbeauftragten übergeben« werden, sodass »die Horden von Arbeitern, die bis jetzt noch unter dem einen oder anderen Vorwand von Stationsvorstehern und Bauingenieuren zurückgehalten wurden, sofort deportiert werden können«.88 Das Kriegsministerium war der Ansicht, dass die Abschiebung der an den Bahnlinien arbeitenden Arbeiter und ihrer Familien hinausgezögert werden sollte, bis die Kommission eine endgültige Entscheidung getroffen hätte, die auch schließlich Mitte Oktober erfolgte. Die Kommission entschied, dass grundsätzlich alle Armenier deportiert und ihre Arbeitsplätze von muslimischen Arbeitern übernommen werden sollten. Aber da bestimmte spezielle Tätigkeiten technische Kenntnisse und Fähigkeiten erforderten, mussten armenische Arbeiter, die solche Arbeitsplätze innehatten, schrittweise von ihnen abgezogen und deportiert werden. Daher wurde der Eisenbahngesellschaft auferlegt, Namenslisten von allen Arbeitnehmern samt ihrer jeweiligen Tätigkeit zu erstellen. Von Provinzund Distriktgouverneuren wurde eine Zusammenarbeit mit den Vertretern der Bahngesellschaft erwartet.89 Cemal Pascha vertrat die Ansicht, dass die Verzögerung der Deportation der Arbeiter ein Sicherheitsrisiko darstellen würde, und forderte die Verantwortlichen auf, sich zu beeilen.90 Kriegsminister Enver Pascha 86 Drei Beispiele für solche Telegramme, die im August und September 1915 gesendet wurden, sind BOA.DH.ŞFR., 482/30; 488/80 und 489/99. 87 BOA.DH.ŞFR., 56/77: Verschlüsseltes Telegramm vom 19. September 1915, Innenministerium an die Provinzen Konya, Ankara, Hüdavendigar (Bursa) und Adana; sowie an die Provinzkreise İzmit‑Karahisar-ı, Sahib, Kütahya, Eskişehir und Niğde. 88 BOA.DH.ŞFR., 490/95: Verschlüsseltes Telegramm vom 25. September 1915, Direktor der Behörde für Deportationen in Aleppo, Şükrü Bey, an das Innenministerium. 89 Nähere Informationen zur Entscheidung der Kommission finden Sie hier: Krikor Guerguerian Archive: 07, »02-Andonian Analysis Dossier IX«, [.pdf, S. 117–128]. 90 BOA.DH.ŞFR., 492/129 und 493/62: Verschlüsseltes Telegramm vom 9. Oktober 1915 und 13. Oktober 1915, Cemal Pascha an das Innenministerium.

159 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

war derselben Meinung und schickte ein Telegramm an Talat, in dem er ihn darüber informierte, dass die Arbeitsplätze der armenischen Arbeiter von muslimischen Arbeiterbataillonen übernommen werden sollten.91 Am 27. Oktober 1915 richtete die Eisenbahnverwaltung des General­ stabs ein Schreiben an den Militärkommissar bei der Bagdadbahn und bat ihn, eine Liste mit den armenischen Beamten und Arbeitern zu erstellen, die in der Gesellschaft beschäftigt sind. Die betreffende Liste wurde am 8. Dezember 1915 fertiggestellt.92 Eine der wichtigsten Entscheidungen in dieser Angelegenheit wurde am 11. November 1915 in Aleppo getroffen. Bei einem Treffen von Cemal Pascha, dem Gouverneur von Aleppo Mustafa Abdülhalik, dem Direktor des Deportationsamts Şükrü Bey und dem Generaldirektor für Sicherheit Ismail Canpolat, der nur für diese Besprechung aus Istanbul angereist war, wurde beschlossen, Aleppo von den dort nicht ansässigen Armeniern zu räumen und den Anweisungen der Armee in Bezug auf die Mitarbeiter der Bahn Folge zu leisten.93 Ab Anfang Dezember 1915 begann Cemal Pascha, armenische Arbeiter aus dem Gebiet um Intilli, wo sie sich in großer Zahl aufhielten, zu deportieren,94 was jedoch zu einer Gegenreaktion des deutschen Unternehmens führte, das die Strecke betrieb. Die Bahngesellschaft behauptete, dass solche Deportationen armenischer Arbeiter den Bahnbau und die Fahrten auf dieser Linie zum Erliegen bringen würden. Das war anscheinend so überzeugend, dass Cemal Pascha die Deportationen vorübergehend einstellte.95 Durch den immensen Druck des deutschen Unternehmens auf die militärischen Führer in der osmanischen Regierung wurden nicht nur die Deportationen gestoppt, sondern auch einige der bereits deportierten Armenier tatsächlich auf ihre Positionen zurückgebracht. Am 23. Januar 1916 beschwerte sich der Gouverneur von Aleppo, Mustafa Abdülhalik, beim Ministerium, dass die entstandene Lage auch alle anderen Deportationen direkt beeinflusst und forderte das Kriegsministerium auf, das deutsche Unternehmen in klarer 91 BOA.DH.ŞFR., 58/25: Verschlüsseltes Telegramm vom 16. November 1915, Innenministerium an den Direktor der Deportationsbehörde [in Aleppo] Şükrü Bey. 92 BOA.DH.EUM. 2.ŞB 73/64: Schriftliche Mitteilung vom 8. Dezember 1915, Militärkommissar der Bagdader Eisenbahn an die Generaldirektion für Sicherheit in Istanbul. 93 BOA.DH.ŞFR., 479/19: Verschlüsseltes Telegramm vom 11. November 1915, Direktor des Deportationsamtes (Muhacirin Müdürü) Şükrü Bey an das Innenministerium. 94 BOA.DH.ŞFR., 58/223: Verschlüsseltes Telegramm vom 9. Dezember 1915, Innenministerium an die Provinz Adana. 95 BOA.DH.ŞFR., 501/42: Verschlüsseltes Telegramm vom 14. Dezember 1915, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium.

160 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

6) DIE DEPORTATION DER ARMENISCHEN EISENBAHNER

und unmissverständlicher Sprache über die geplanten Umsiedlungen zu informieren.96 Das Problem war nicht nur der Druck des deutschen Unternehmens, mit dem die Regierung konfrontiert war.97 Vielmehr war es auch vielen Armeniern durch Bestechung gelungen, bei der Bahn angestellt zu werden. Sie hielten sich entlang der Bahnstrecke oder an den Bahnhöfen auf.98 Das Innenministerium befahl am 16. Januar 1916 den betroffenen Provinzen, eine Liste von Personen zu erstellen, die durch ihre Anstellung bei der Bahn von Deportationen befreit worden waren. Darüber hinaus wurde die Erstellung von Listen mit den Namen der Personen gefordert, die auf Antrag der Eisenbahngesellschaft wieder beschäftigt wurden.99 Wie Naim schreibt, war das Bahnbüro für Logistik der osmanischen Armee für die Erstellung dieser Listen verantwortlich. So zählte dieses Büro in Aleppo 3.134 Personen, die im Bahnbau tätig waren, von denen jedoch nur 430 nachträglich eine Arbeitserlaubnis erhalten hatten. Das Innenministerium forderte die Abschiebung von Personen, die auf diesen Listen als überflüssig eingestuft wurden.100 Am 17. April 1916 schickte das Innenministerium eine weitere Nachricht mit der Frage, ob die Bahnkommissare ihre Listen vervollständigt hätten.101 Zwei Tage später kam die Antwort von Mustafa Abdülhalik, der Talat mitteilte, dass nur zwei Namenslisten der »armenischen Beschäftigten und Handwerkern« in der Region Intilli erstellt worden seien, aber »an den Listen der sonstigen Angestellten, Handlanger und dergleichen« noch gearbeitet werde.102 Die Zahl der Armenier, die sich um die verschiedenen Bahnhöfe und Baustellen zusammengefunden hatten, war groß und wuchs stetig an. So 96 BOA.DH.ŞFR., 506/64: Verschlüsseltes Telegramm vom 23. Januar 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium. 97 Weitere Informationen über die Versuche der Eisenbahngesellschaft, die Abschiebung von Armeniern zu verhindern, finden Sie hier: Kaiser: Bagdadbahn Railway, a.a.O., S. 67–112. 98 Die vollständige detaillierte Geschichte dieser Affäre wird in den Kapiteln 11 bis 13 des Buches »Armenian Golgotha« von Grigoris Balakyan erzählt; vgl.: Balakyan: Armenian Golgotha, a.a.O., S. 77–95. 99 BOA.DH.ŞFR., 60/157: Verschlüsseltes Telegramm vom 29. Januar 1916, Innenministerium an die Provinzen Adana und Aleppo. 100 BOA.DH.ŞFR., 61/1: Verschlüsseltes Telegramm vom 13. Februar 1916, Innenministerium an die Provinzen Adana und Aleppo. 101 BOA.DH.ŞFR., 63/23: Verschlüsseltes Telegramm vom 17. April 1916, Innenministerium an die Provinzen Ankara, Konya, Hüdavendigar (Bursa), Adana und Aleppo; sowie an die Provinzkreise Izmit, Eskişehir, Karahisar-ı Sahib, Kütahya und Niğde. 102 BOA.DH.ŞFR., 516/81: Verschlüsseltes Telegramm vom 19. April 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium.

161 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

informierte Talat in einer Botschaft an Cemal, den Gouverneur von Syrien und den Oberbefehlshaber der Vierten Armee: »Obwohl er (Cemal) der Eisenbahngesellschaft die Erlaubnis erteilt hatte, nur etwa dreihundert Handwerker zu behalten[,] […] die sie beim Bahnbau auf den Streckenabschnitten Ayıran, Intilli und Islahiye beschäftigen durften, läge die Zahl der armenischen Arbeiter [in diesen Gebieten] bei etwa 7.000«; Talat fragte Cemal, ob er auch eine Erlaubnis für diese Personen erteilt hätte, die da geblieben waren.103 Hakkı, der Provinzgouverneur von Adana, hatte in einem Telegramm vom 22. Januar 1916 behauptet, dass die Zahl der Armenier entlang der Bahnlinie bei fast 10.000 liege.104 Cemal war anscheinend schockiert über diese Zahlen und telegrafierte dem Innenminister als Antwort, dass er bisher »darauf nicht aufmerksam gemacht worden sei, dass irgendwelche Armenier, die über die von ihm genehmigten hinausgehen, im Eisenbahnbau beschäftigt werden« und, »nachdem er nun auf diese Tatsachen aufmerksam gemacht worden sei, eine sofortige Untersuchung angeordnet habe«. Er versicherte Talat, dass all die zusätzlichen Armenier, die angestellt worden seien, »zu den abgesprochenen Bestimmungsorten« deportiert würden.105 Talat teilte diese Antwort des syrischen Gouverneurs mit den Provinzen Adana und Aleppo: »Der Oberbefehlshaber der vierten Armee, Cemal Pascha, hat uns mitgeteilt, dass die Zahl der armenischen Arbeiter, die im Eisenbahnbau in den Gebieten Ayıran, İntilli und Islahiye beschäftigt sind, die zulässige Menge weit überschritten hat und diese daher in bestimmte ausgewiesene Gebiete gehen werden«.106

Und doch hielten die Verzögerungen bei den Deportationen armenischer Eisenbahner, die sowohl auf deutschen Druck als auch auf die Bestechlichkeit osmanischer Beamter zurückzuführen waren, bis März 1916 an, bis Cevdet Bey, der Gouverneur der Provinz Van, zum neuen Gouverneur von Adana ernannt wurde.107 Unmittelbar nach der Übernahme des Amtes begann der Gouverneur mit der Deportation dieser Arbeiter. Er schickte am 18. Juni einen Bericht nach Istanbul und behauptete, er habe 103 BOA.DH.ŞFR., 61/17: Verschlüsseltes Telegramm vom 15. Februar 1916, Innenministerium an [den Oberkommandierenden der Vierten Armee] Cemal Pascha. 104 BOA.DH.ŞFR., 506/48: Verschlüsseltes Telegramm vom 22. Januar 1916, Gouverneur Hakkı aus Adana an das Innenministerium. 105 BOA.DH.ŞFR., 510/69: Verschlüsseltes Telegramm vom 22. Februar 1916, Cemal Pascha an das Innenministerium. 106 BOA.DH.ŞFR., 61/128: Verschlüsseltes Telegramm vom 27. Februar 1916, Innenministerium an die Provinzen Adana und Aleppo. 107 Zum Datum seiner Ernennung siehe BOA.MV., 241/287: Entwurf (layiha) vom 9. März 1916; und BOA.DH.İ.MMS. 201/25: Erlass der Hohen Pforte

162 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

7) BAHNKOMMISSAR HAYRI BEY

das Geschrei der deutschen [Eisenbahn-]Gesellschaft einfach ignoriert und begonnen, die armenischen Arbeiter in der Umgebung von Amanos zusammen mit ihren Familien abzuschieben. Um bei seinen Worten zu bleiben: »Nachdem die Armenier, die entlang des Baugeländes der Toros-Strecke leben und dabei von der Firma geschützt werden, deportiert sind«, werden alle Armenier in Adana und in der Umgebung »auf eine Art und Weise vertrieben, dass eine Rückkehr nicht möglich ist«.108 Nicht alle armenischen Arbeiter wurden deportiert. Viele von ihnen waren qualifizierte Handwerker, besaßen Fähigkeiten, die sie unentbehrlich machten, und, wie das deutsche Eisenbahnunternehmen gewarnt hatte, hätte ihre Deportation den Betrieb auf der Strecke zum Erliegen gebracht. In Anbetracht dieser Situation wurden »die Familien derjenigen, die als ›Personal‹ bei der Eisenbahn beschäftigt sind (zum Beispiel in Aleppo), in Aleppo zurückgelassen«, und »die Familien derjenigen, die als Hilfsarbeiter beschäftigt waren, wurden wie die Familien des militärischen Personals behandelt«.109 Somit beschäftigte der Status der armenischen Eisenbahnarbeiter die osmanische Verwaltung während des ganzen Jahres 1917. Naim schreibt in seinen Memoiren dazu: »Obwohl alle Eisenbahner armenisch waren, und trotz der Tatsache, dass die Armenier während der gesamten vier oder fünf Jahre der allgemeinen Mobilisierung Unterdrückung und Grausamkeiten ausgesetzt waren, haben diese Personen nichts anderes getan, als absolut treu zu dienen; es wurde kein einziger Vorfall auf oder in der Nähe der Bahnlinien gemeldet«.110

7) Bahnkommissar Hayri Bey In seinen Memoiren erwähnt Naim einen Regierungsfunktionär namens Hayri Bey, der in Aleppo als Bahnkommissar arbeitete (Hat Komiserliği). Sein Name steht im Zusammenhang mit den Deportationen der Eisenbahner: vom 11. Februar 1916. Tatsächlich kam Cevdet lange vor seiner Ernennung als Gouverneur in die Region Aleppo. In der armenischen Version der Memoiren findet ihn Andonian bereits im Februar dort [Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 52]. Ein offizielles Dokument aus dem Osmanischen Archiv bestätigt dies. Siehe zum Beispiel BOA.DH.ŞFR, 61/197: Verschlüsseltes Telegramm vom 6. März 1916, Innenminister Talat an den Gouverneur der Provinz Van, Cevdet (der in Aleppo ist). 108 BOA.DH.ŞFR., 523/54: Verschlüsseltes Telegramm vom 18. Juni 1916, Provinzgouverneur Cevdet aus Adana an das Innenministerium. 109 BOA.DH.ŞFR., 515/88: Verschlüsseltes Telegramm vom 31. März 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium. 110 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [23] – [24].

163 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

»Die Mehrheit der Beamten, die sowohl in den Bau- als auch in den Betriebsgesellschaften arbeiteten, waren Armenier. Die Regierung gab diesen Befehl aus Angst, dass die Armenier Verrat begehen könnten. Im Zusammenhang mit diesem Befehl wurde der Bahnkommissar um eine Liste mit den Namen der armenischen Angestellten gebeten. In dieser Angelegenheit bewiesen sowohl Hayri Bey, der Kommissar der Eisenbahnlinien, als auch Cemal Pascha große Menschlichkeit«.111 Wer dieser Hayri Bey war, können wir nicht genau sagen, obwohl im Osmanischen Archiv mehrere Dokumente mit seinem Namen zu finden sind. Aus diesen Dokumenten erfahren wir, dass Hayri mithilfe seiner Familie dazu beigetragen hat, eine große Anzahl armenischer Frauen und Mädchen nach Istanbul zu schmuggeln und ihnen somit das Leben zu retten. Sein Engagement war so groß, dass gegen ihn wegen der Unterstützung der Armenier ermittelt wurde. Hayri Bey wurde nicht auf frischer Tat ertappt, sondern von der eigenen Schwägerin, die wütend auf den Rest der Familie war, bei der Polizei angezeigt. Die Schwägerin hatte nicht ertragen können, dass Hayri Beys Bruder, Emiri, sich von ihr scheiden ließ. Sie informierte die Polizei von den Aktivitäten der ganzen Familie.112 Aus der Korrespondenz während der Ermittlungen geht hervor, dass Hayri Bey im März 1916 zunächst zwei armenischen Frauen geholfen hatte, mithilfe seiner Familie (seiner Mutter, seiner Frau, der Frau seines Bruders Emiri und anderen Verwandten) nach Istanbul zu fliehen, und 40 Tage später nahm er selbst drei weitere armenische junge Frauen mit und brachte sie nach Istanbul. Dort gingen die armenischen Mädchen entweder zu ihren Verwandten oder wurden von Hayri bei verschiedenen Familien untergebracht. Da Hayri der verantwortliche Offizier bei der Bahn in Aleppo war, mischte sich Talat direkt in die Ermittlungen und informierte mit zahlreichen Schreiben Enver und die anderen. In seinen Mitteilungen an die Polizeidirektion Istanbul und an den Provinzgouverneur von Aleppo behauptet Talat, dass einige der Mädchen, denen Hayri und seine Familie geholfen hatten, nach Istanbul zu fliehen, Mitglieder des Komitees seien. Zwar gibt es unter den vorhandenen Dokumenten keine protokollierte Aussage Hayri Beys, allerdings können wir aus den Anmerkungen in den anderen Dokumenten rekonstruieren, dass er bei seinen Vernehmungen behauptet hatte, nie Menschen geschmuggelt zu haben; vielmehr habe er die Mädchen nach Istanbul gebracht, nachdem er vom Provinzgouverneur von Aleppo, Mustafa Abdülhalik, die Erlaubnis dazu erhalten hatte. Letzterer antwortete jedoch per Telegramm an Talat, dass er Hayri nie die Erlaubnis für irgendetwas erteilt hätte. Nach Angaben des Gouverneurs hatte Hayri diese armenischen Frauen, die ihn nach 111 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [23]. 112 Die Informationen hier stammen von BOA.DH.2.Şube, 29/43.

164 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

8) DIE AMERIKANISCHEN KONSULATE UND DIE AUFGENOMMENEN FOTOS

Istanbul begleiteten, in islamische Kleidung verpackt und behauptet, »als die Ausweise der Frauen überprüft werden sollten, sie seien seine Ehefrauen, deren Schwestern, Verwandte und Nachbarinnen«. Da es der muslimischen Bevölkerung erlaubt war, frei zu reisen, konnten diese Personen ohne jegliche Kontrolle in den Zug einsteigen.113 Aus einem offiziellen Schreiben Talats an Enver lässt sich herauslesen, wie wichtig ihm dieses Thema war. Nach Angaben des Innenministers war Hayri für die Sicherheit der Züge verantwortlich. Während diejenigen, die keine Reisegenehmigung hatten, so etwas nie tun durften, hatte Hayri die armenischen Frauen unter ihre Tschadors versteckt und ihnen so ermöglicht, ohne Dokumente nach Istanbul zu reisen. Er wurde wegen »Missbrauchs seiner Stellung und Autorität« bestraft und diese Strafe sollte »abschreckend für Nachahmer ausfallen«.114 Einige dieser Frauen wurden später in Istanbul festgenommen, aber mindestens eine von ihnen wurde von der Polizei wieder freigelassen, als Hayri für sie Kaution bezahlte. Dieser Umstand machte Talat wütend. Als Reaktion darauf gab er der Polizeidirektion eine klare Anweisung. Er wollte, dass alle Frauen, die bei Fluchtversuchen erwischt würden, der gleichen Behandlung unterzogen werden, wie diejenigen, die versuchten, den Deportationskolonnen zu entkommen oder zu fliehen. Solche Frauen seien sofort zu deportieren. Obwohl das starke Engagement des Innenministers in dieser Angelegenheit auf den ersten Blick übertrieben, ja sogar unverständlich erscheint, zeigen uns die Archivdokumente, dass seine zugrunde liegende Angst bei all dem darin bestand, dass die aus Syrien stammenden Armenier bei ihrer Ankunft in Istanbul anderen erzählen würden, was sie gesehen und erlebt hatten. Für Talat war jede armenische Reisende aus Syrien nach Istanbul eine potenzielle Zeugin der Massaker und anderer Grausamkeiten, die dort stattfanden. Allein die Anwesenheit solcher Personen in Istanbul drohte, all seine Bemühungen um Geheimhaltung der Massaker und Gräueltaten zunichte zu machen. Talat erklärte Enver in den folgenden Zeilen seine Bedenken: »Es ist von größter Wichtigkeit, dass sie nicht auf den Straßen von Istanbul unterwegs sind, da sie genau wissen, was in dieser Region geschieht, und daher von den Ereignissen [in Syrien] Zeugnis ablegen könnten. Da es sich um Frauen handelt, die in Aleppo zusammengetrieben wurden, um in die Gebiete der Umsiedlung geschickt zu werden, konnten sie leicht und ohne Vorankündigung mit armenischen Revolutionären in Kontakt treten, von denen jede Art von Übel und Unglück zu erwarten ist. Die Frauen könnten alle Arten von Informationen, die [von 113 BOA.DH.2.Şb., 30/7: Verschlüsseltes Telegramm vom 31. Oktober 1916, Provinzgouverneur von Aleppo an das Innenministerium. 114 BOA.DH.2.Şube, 29/43.

165 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

Revolutionären] erzeugt werden, aufgreifen und diese Informationen als lebende Tatzeuginnen den Istanbuler Armeniern weitergeben«.115

Für Talat war es notwendig, ein solches Szenario zu verhindern. Die Dokumente und die Informationen über Hayri Bey sind als eine weitere Bestätigung für die Richtigkeit von Naims Berichte anzusehen.

8) Die amerikanischen Konsulate und die auf den Deportationsrouten aufgenommenen Fotos Einer der wichtigsten Punkte in Naims Memoiren ist die Erwähnung von Berichten und Unterlagen, die von ausländischen Beobachtern, vor allem von amerikanischen und deutschen Konsularbeamten und Missio­ naren, aus den Gebieten, in denen die Deportationen stattfanden, geschickt wurden. Als »Seniorpartner« des Zentralmächtebündnisses und aufgrund der relativen militärischen Schwäche der Osmanen entsandte Deutschland während des Ersten Weltkrieges zahlreiche militärische und zivile Mitarbeiter in das Osmanische Reich, und viele waren in verschiedenen Regionen des Reiches, in denen die Deportationen stattfanden, präsent. Vor dem Eintritt der USA in den Krieg arbeiteten mehrere amerikanische Konsuln und Missionare in den Gebieten der Umsiedlungen. Diese Personen schickten regelmäßig Berichte an ihre Botschaften in Istanbul und berichteten über die schlimmen Ereignisse, die sie miterleben mussten. In einigen Fällen gelang es ihnen sogar, Fotos von Leichen zu schicken, die sich entlang der Deportationsrouten auftürmten. Gelegentlich erreichten diese Berichte auch die westliche Presse, die Geschichten darüber schrieb, wie die Armenier auf osmanischem Boden vernichtet wurden. Als Reaktion auf die erhaltenen Fotos, Berichte und Mitteilungen schickten sowohl die deutsche als auch die amerikanische Regierung über ihre Botschaften in Istanbul diplomatische Noten an die Hohe Pforte. Das osmanische Regime war wegen dieses Umstandes stark verunsichert und versuchte, mit verschiedenen Mitteln und Initiativen zu verhindern, dass solche Berichte aus Deportationszonen Istanbul erreichten.116 Naim übergab Aram Andonian zwei Telegramme von Talat, die seine Bemühungen dokumentierten, die Aktivitäten der Konsulate und ausländischer Funktionäre in der Region einzuschränken. Das erste dieser 115 Ebd. 116 Als Beispiel zeigt das folgende Dokument das Unbehagen (und die darauf folgende Korrespondenz), das innerhalb des osmanischen Regimes durch einen Bericht in einer Berliner Zeitung entstanden ist, in dem behauptet wurde, dass mehr als eine Million Armenier, darunter 100.000 Katholiken (darunter vier Bischöfe) getötet worden seien: HR.SYS., 02883/6.

166 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

8) DIE AMERIKANISCHEN KONSULATE UND DIE AUFGENOMMENEN FOTOS

Telegramme ist auf den 1. Dezember 1915 datiert. Darin beschwert sich Talat darüber, dass die amerikanischen Konsulate in den Provinzen Informationen aus einer Vielzahl von verschiedenen Kanälen sammeln und sie dann an ihre Botschaft in der Hauptstadt weiterleiten würden. Talat forderte, dass besonderes Augenmerk darauf gelegt weren sollte, bei der Deportation von Armeniern Vorkommnisse zu vermeiden, die in der Nähe von Städten, Gemeinden [und anderen Bevölkerungszentren] Aufmerksamkeit erregen könnten. Diejenigen, die für die ausländischen Vertretungen solche Berichte erstellten, müssten verhaftet und den Kriegsgerichten überstellt werden.117 Im zweiten von Talats Telegrammen aus Naims Memoiren (vom 24. Dezember 1915) gibt der Innenminister folgende Befehle: »Es wurde berichtet, dass eine Reihe von armenischen Reportern sich dort in der Gegend aufhält, um diverse Katastrophen zu fotografieren und zu dokumentieren und um das Material dann dem amerikanischen Konsul zu übergeben. Solche schädlichen Personen müssen verhaftet und liquidiert werden«.118

Naim fügte seinen eigenen Kommentar zu dieser Mitteilung hinzu: 117 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 136, S. 141–143, S. 146. In dem uns vorliegenden Memoirentext ist das Telegramm nicht vorhanden, sondern nur die Fotografie, die in Andonians Ausgabe erschienen ist. Naims Name wird auch im Telegramm erwähnt. Wir haben den Text aus dem Foto übersetzt: »Uns ist aus einigen schriftlichen Interventionen der amerikanischen Botschaft in Istanbul ersichtlich, dass die amerikanischen Konsulate aus verschiedenen Regionen gewisse Informationen eingeholt haben. Auch wenn wir ihnen in unseren Antworten mitgeteilt hatten, dass die Deportationen der Armenier ruhig und mühelos ablaufen würden, scheinen diese Antworten sie nicht überzeugt zu haben. Aus diesem Grund müssen Sie bei den Deportationen von Armeniern aus Städten und größeren Gemeinden sowie aus Gebieten in der Nähe von Ballungszentren Vorsicht walten lassen; ziehen Sie die Aufmerksamkeit nicht auf sich, um die Ausländer, die sich in diesen Gebieten herumtreiben, im Glauben zu lassen, dass der Zweck der Deportationen nichts anderes ist als eine Umsiedlung. Um dies zu erreichen, ist aus politischen Gründen eine weitgehende Zurückhaltung erforderlich und die Ihnen bekannten üblichen Maßnahmen (Massaker) sollten in den entsprechenden Regionen durchgeführt werden. Die Personen, die das Gebiet zu Beobachtungszwecken überwachen, sollten mit Scheinvorwürfen festgenommen und mit diesen Vorwürfen einem Kriegsgericht überstellt werden«. 118 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.o., [22]. Laut Andonian handelte es sich bei dem Reporter der armenischen Zeitung Jamanag, der in dem Dokument erwähnt wurde, um Yervant Odian. Was den Fotografen betrifft, so war es Matthew Yeretzian (Mateos Yeretzian), Sekretär des Erzbischofs von Aleppo; schließlich war es Aram Gülyan, der diese Dokumente und solche an Jackson, den amerikanischen Konsul, übergab. Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 146f.

167 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

»Für solche Aufgaben wurden zivile Beamte beauftragt. Es gab ständig einen Beamten in der Umgebung des amerikanischen Konsulates, dessen Aufgabe es war, es zu überwachen. Es wurde berichtet, dass einer der Autoren der Tageszeitung Zhamanag, oder einer anderen Zeitung, einmal dort gesehen wurde. Die Bedeutung der Untersuchung dieser [Vorfälle] kann mit Worten nicht beschrieben werden. Letzten Endes wurde niemand festgenommen«.119

Amerikanische Dokumente bestätigen Naims Auskünfte. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein offizieller Bericht beschreibt die allgemeine Politik der osmanischen Regierung in Aleppo wie folgt: »Alle Versuche, den Flüchtlingen zu helfen, werden von den Behörden sofort im Keim erstickt und Spione beobachten das amerikanische Konsulat«.120 Im Osmanischen Archiv befinden sich zahlreiche Dokumente, in denen die Bemühungen der Regierung in Istanbul dargestellt werden, ausländischen Diplomaten und Missionaren die Möglichkeiten zu verwehren, auf ihren Reiserouten auf deportierte Armenier zu treffen, oder ihnen zu verbieten, entlang der Deportationsrouten zu fotografieren, außerdem Ermittlungen gegen Personen einzuleiten, die die ausländischen Konsulate mit Fotos oder Dokumenten über die Deportationen versorgen. Anhand dieser Dokumente kann nachgewiesen werden, dass die Befehle in den Talat-Pascha-Telegrammen und die Informationen in den ergänzenden Erläuterungen von Naim zutreffend sind.121 In einigen Botschaften an die Provinzen forderte das Innenministerium – in der Regel in der Person Talats –, dass »armenische (Deportations-)Kolonnen nicht auffallen sollten«, besonders beim Passieren von Ortschaften, wo sich auch Ausländer aufhalten könnten. Zu den erteilten Verordnungen gehörten die Verhinderung des direkten Kontaktes der ausländischen Konsulatsangestellten mit Armeniern, die Verweigerung der Erlaubnis, Armeniern direkte Hilfe zu leisten; die Personen, die das versuchten, sollten daran gehindert werden.122 Die Provinzverwaltungen wurden angewiesen, dass jeder osmanische Beamte, der seine Pflichten in diesen Angelegenheiten ignoriere oder vernachlässige, mit einer schweren Strafe rechnen müsse. »Als Erwiderung auf die Mitteilung des Büros des Oberkommandos [in Istanbul] wird allen Provinzen mitgeteilt, dass diejenigen Beamten, die geheime und direkte Geldzahlungen an Armenier durch amerikanische oder deutsche Institutionen zulassen oder die dies durch einen Bericht oder eine 119 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [22]. 120 United States Official Records on the Armenian Genocide 1915–1917, hrsg. von Ara Sarafian, London 2004, S. 386. 121 Für Beispiele siehe BOA/DH.ŞFR., 59/40, 46, 47, 48; 76/42, 43-1, 44, 210. 122 Für Beispiele siehe BOA/DH.ŞFR., 60/178, 281; 62/90, 129, 181; 65/25; 69/210; 72/18; 74/66.

168 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

8) DIE AMERIKANISCHEN KONSULATE UND DIE AUFGENOMMENEN FOTOS

Untersuchung erfahren, aber nichts dagegen unternehmen, hart bestraft werden müssen«.123 Insbesondere 1916 wurden Verbote nicht nur für konsularisches Personal und Missionare verkündet, sondern auch für alle ausländischen Staatsangehörigen, die sich frei bewegen durften, insbesondere in Syrien.124 Jesse Jackson, der amerikanische Konsul in Aleppo, dessen Verhalten die oben genannten Talat-Telegramme ausgelöst hatte, war einer der aktivsten Konsuln. Ein für die Zensur zuständiger osmanischer Beamter formuliert in seinem Bericht: »Für ihre Briefe nach Amerika oder in die verschiedenen anderen Länder benutzen die Armenier, die nach Aleppo kommen, die Adresse des amerikanischen Konsulates in Aleppo als Postamt«, »für Geld und Briefe«.125 Der Gouverneur von Aleppo, Bekir Sami, und sein Nachfolger Mustafa Abdülhalik brachten ständig ihre Beschwerden über Jackson zum Ausdruck. So teilte Bekir Sami dem osmanischen Innenministerium am 5. Oktober 1915 in einem Telegramm mit, dass »Monsieur Jackson sich ständig in armenische Angelegenheiten einmischt und heimlich Geld an Bürger feindlicher Staaten gibt und gleichzeitig als Mittelsmann fungiert, bei dem die Armenier über [Ereignisse in] den östlichen Provinzen berichten und von dem sie wiederum Nachrichten aus anderen Gegenden bekommen«.126 Der Gouverneur, der den Konsul als charakterlos bezeichnet, warnt: »Er wird mich eines Tages so weit provozieren, dass ich einen unangenehmen Vorfall verursache«, und fordert, dass »der Konsul so schnell wie möglich von hier abgezogen wird«.127 Mustafa Abdülhalik war nicht zurückhaltender mit seinen Beschwerden. In seiner Antwort auf Talats Telegramm vom 30. Oktober 1916, in dem eine Untersuchung über die geheime Verteilung von Geldern an die Armenier angeordnet wurde, berichtet Abdülhalik, dass »aus der Untersuchung hervorging, dass Gelder vom amerikanischen Konsul in Aleppo an die hier angekommenen Armenier ausgehändigt worden sind«. Der Gouverneur fügt hinzu: »Eine große Anzahl von Armeniern, die Geld erhalten haben, geben zu, dass sie es vom Konsulat bekamen«, und Jack­ son »hat ohne Zögern mir ins Gesicht gesagt, dass er […] den Armeniern geholfen hat«.128 123 BOA/DH.ŞFR., 62/210. 124 BOA/DH.ŞFR., 61/32: Verschlüsseltes Telegramm vom 13. Februar 1916, Innenministerium an die Provinzen Aleppo, Adana, Mosul und Diyarbakır; sowie an die Distrikte Urfa und [Deyr-i]Zor. 125 BOA/DH.EUM. 2.Şb., 73/42: Offizielle Mitteilung vom 20. September 1915, Zensurbeamter Artin an die Zensurbehörde. 126 BOA/DH.ŞFR., 492/41: Verschlüsseltes Telegramm vom 5. Oktober 1915, Gouverneur Bekir Sami an das Innenministerium. 127 BOA/DH.ŞFR., 492/41. 128 BOA/DH.ŞFR., 508/29: Verschlüsseltes Telegramm vom 6. Februar 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium.

169 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

Wie Naim es in seinen Memoiren beschreibt, bestand eine Maßnahme der Regierung gegen diese Bemühungen des amerikanischen Konsulates darin, alle ausländischen Missionen genau zu überwachen und zu versuchen, alle verdächtigen Personen, die das Konsulat betreten und verlassen, zu überprüfen oder zu verhaften. Diese Bemühungen gingen jedoch so weit und waren so umfangreich, dass sich Konsul Jackson verpflichtet fühlte, der amerikanischen Botschaft in Istanbul über die Lage zu berichten. Als Reaktion auf die Intervention der Botschaft vor der Hohen Pforte sah sich Talat gezwungen, am 8. März 1916 ein Telegramm an Gouverneur Abdülhalik zu schicken, in dem er darauf hinwies, dass »die [amerikanische] Botschaft berichtet hat, dass ihr Konsulat in Aleppo überwacht worden sei und dass diejenigen, die das Gelände betreten und verlassen hätten, verärgert seien [wegen der dabei erlebten Belästigung]«, und befahl, die »notwendigen Anordnungen zu erteilen, dass die Beobachtung des Konsulates in einer Art und Weise erfolgt, die nicht zu einer öffentlichen Beschwerde führen kann«.129 Auf Wunsch des Innenministers sollte die Überwachung des Konsulates nicht mehr so intensiv durchgeführt werden, damit keine Beschwerden mehr aus dem Konsulat kamen. In seiner Antwort, noch im März 1916, teilte Mustafa Abdülhalik Talat mit: »Hunderte von Frauen und Männern aus dem Kreis der armenischen Flüchtlinge […] versammeln sich jeden Tag vor dem Konsulat, und dann wird ihnen Geld ausgehändigt«. Sogar die Briefe, die die Armenier schicken wollten, sei es in die Vereinigten Staaten oder in die anderen Gebiete des Osmanischen Reiches, würden zum Konsulat gebracht, anstatt sie den osmanischen Behörden anzuvertrauen. Nach Angaben des Gouverneurs erfüllte die Polizei ihre Aufgabe nicht durch Beobachtungen, sondern durch Personenbefragungen auf den Straßen und durch Überwachung oder Verfolgung gemäß den Gesetzen. Als Ergebnis der durchgeführten Kontrollen wurden bestimmte Dokumente sichergestellt und »dem Kriegsgericht vorgelegt«. Abdülhalik fügte hinzu: »Die Personen, die das Konsulat betreten und verlassen und behaupten, gestört oder belästigt worden zu sein, sind Armenier, die eine osmanische Staatsbürgerschaft besitzen und dort nachweislich Geld erhalten haben, unabhängig von ihrem Status oder ihrer Lage«.130 Wie auch Naim erwähnt, waren diese Maßnahmen der Provinzverwaltung nicht besonders erfolgreich. Trotz der Bemühungen der Regierung schickten die amerikanischen und vor allem die deutschen Konsularbeamte und Missionare in der Region weiterhin ihre Berichte und 129 BOA/DH.ŞFR., 61/226: Verschlüsseltes Telegramm vom 8. März 1916, Innenminister Talat an die Provinz Aleppo. 130 BOA.DH.ŞFR., 513/34: Verschlüsseltes Telegramm vom 16. März 1916, Gouverneur Mustafa Abdülhalik an das Innenministerium.

170 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

9) DAS PROBLEM DER AUF DEN STRASSEN VERBLIEBENEN LEICHEN

Dokumente, aus denen hervorging, dass der wahre Zweck der Umsiedlungsbemühungen der osmanischen Regierung die Vernichtung ihrer armenischen Bevölkerung war, an ihre jeweiligen Botschaften in Istanbul. Die Beweise dafür waren die Fotos von Leichenbergen, die auf den Deportationsrouten aufgenommen wurden.

9) Das Problem der auf den Straßen verbliebenen Leichen Zu den wichtigsten Beweisen für den von der Osmanischen Regierung veranlassten Völkermord an Armeniern zählen die Fotografien, auf denen die völlige Hoffnungslosigkeit und die Verzweiflung der Menschen in den armenischen Deportationskolonnen und die unzähligen Opfer, die auf dem Marsch ums Leben kamen, festgehalten sind. Aus diesem Grund hielt es das osmanische Regime für unerlässlich, die Straßen von den Leichen zu säubern und zu verhindern, dass sie fotografiert wurden. Naim gab Andonian dazu zwei Telegramme, eines von Talat, das sich mit diesem Thema beschäftigt, und ein zweites, verschickt aus dem Deportationsbüro in Aleppo. Außerdem fügte Naim die eigenen Erläuterungen und auch Kommentare hinzu. Das erste Telegramm ist vom 11. Januar 1916. Darin teilt der Innenminister den Empfängern des Telegramms mit: »Es wird berichtet, dass entlang der Deportationsstrecken ausländische [Militär-]Offiziere die Leichen bestimmter bekannter Individuen gesehen und fotografiert haben. Ihnen wird mit größter Dringlichkeit geraten, diese Leichen sofort zu begraben und keine weiteren mehr im Freien liegenzulassen«. Naim fügte die folgende Erläuterung hinzu: »700 bis 800 Armenier starben jeden Tag [zu diesem Zeitpunkt] an Elend, Not und Krankheit. Ihre Leichen versanken im Schlamm, ihre Überreste verstreut von den Aasvögeln, die sich an ihnen ergötzten; es war ein Zustand, der das menschliche Gewissen zermürbte. Den deutschen und österreichischen Offizieren entgingen diese Anblicke nicht, und sie schickten schriftliche Berichte in ihre Heimatländer. Talat Pascha hatte davon gehört und wollte seine Verbrechen unter einer Schaufel voller Dreck verstecken, sie begraben; aber selbst größte Umwälzungen zwischen Himmel und Erde können diese bitteren Katastrophen nicht aus den Erinnerungen verdrängen oder vergessen machen«.131

Das zweite Telegramm ist vom Deportationsbüro in Aleppo verschickt worden und lautet wie folgt: 131 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.o., [24].

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KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

»Sie dürfen nicht zulassen, dass ein einziger Armenier in Bab zurückbleibt. Die Kraft und Entschlossenheit, die Sie während der Deportationen aufbringen werden, kann das angestrebte Ziel sicherstellen. Achten Sie darauf, keine Leichen auf der Straße oder im Freien liegenzulassen. Sie sollten uns über den maximalen Lohn informieren, der den Personen, die Sie zu diesem Zweck beschäftigen, gezahlt wird. Beschäftigen Sie sich nicht mit der Anschaffung von Transportmitteln, die können zu Fuß gehen. Die wöchentlichen Listen mit den Zahlen der Toten sind nicht zufriedenstellend. Daraus wird ersichtlich, dass diese Personen dort noch recht angenehm leben. Abschiebungen sind keine Ausflüge. Beschwerden und Schmerzensschreie sollten nicht beachtet werden. Die notwendigen Mitteilungen wurden von der Provinzregierung an das Büro des Landratsamtes geschickt. Sie sollten bei diesem Unternehmen mehr Anstrengungen zeigen«.132

In seiner ergänzenden Anmerkung zu diesem zweiten Telegramm schreibt Naim: »Gemäß dieser letzten Anweisung wurden alle Armenier in Bab innerhalb von 24 Stunden aus der Stadt vertrieben. Sie konnten die Stadt verlassen, wohin sie wollten. Egal wohin, diese Vertreibung bedeutete ihren Tod. Es war Winter, und sie wurden nackt vom Kopf bis zu den Zehen in Marsch gesetzt. Sie fielen bald um und starben am Straßenrand. Von Bab bis nach Meskene füllten sich die Felder entlang der Straße mit den Leichen der Armenier. Nicht mal eine Handvoll Erde bedeckte ihre Körper. Als die Regierung erfuhr, dass die Leichen im Freien liegengelassen worden waren, geriet sie in Panik. Als sie dann noch erfuhr, dass diese Leichen von Ausländern gesehen wurden, befahl die Regierung, sie zu begraben. Spaten und Hacken wurden organisiert. Totengräber wurden mobilisiert. Auf diese Weise sollten die Spuren der Verbrechen vertuscht werden«.133

Die osmanischen Archivdokumente zeigen, dass die Ereignisse, die sowohl in den Telegrammen als auch in Naims Anmerkungen erwähnt werden, zutreffend sind. In den Archiven liegen viele Berichte über 132 Ebd., [10]. Datiert ist das Telegramm vom 2. Februar 1917, während die Entleerung des Lagers in Bab tatsächlich im Januar oder Februar 1916 erfolgte. Daher muss davon ausgegangen werden, dass das angegebene Jahr falsch ist und 1916 sein sollte. Da wir das Bild dieses Dokumentes nicht besitzen (Andonian hat nie ein Originalbild davon veröffentlicht), haben wir nicht die Möglichkeit, das Datum zu überprüfen und zu korrigieren. 133 Andonian: Medz Vojirě, a.a.O., S. 97f. Diese Anmerkungen von Naim finden sich nicht in den Memoiren, die sich in unserem Besitz befinden.

172 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

9) DAS PROBLEM DER AUF DEN STRASSEN VERBLIEBENEN LEICHEN

Ausländer – und insbesondere über Deutsche –, die entlang der Routen der Deportationskolonnen die dort verstreuten Leichen fotografierten. So meldete beispielsweise der Landrat von Deyr-i Zor, Ali Suat, am 24. Januar 1916 in einem Telegramm nach Istanbul, dass »die deutschen Offiziere, die in den Irak weiterreisen, auf der Suche nach den kranken und toten Körpern der Armenier sind« und dass sie daran interessiert seien, Fotos [davon] zu machen.134 Am 30. Oktober 1916 schickte ein osmanischer Funktionär einen ausführlichen Bericht über die Deportationslage in den Gebieten um Meskene und Deyr-i Zor. Er enthielt folgende Nachricht: »Als die verwaisten Flüchtlinge nach [Deyr-i] Zor abgeschoben wurden, wurden sie von [einigen] deutschen Offizieren fotografiert, die aus Bagdad gekommen waren«.135 Es gibt zahlreiche Dokumente im Osmanischen Archiv, insbesondere Telegramme, die von Istanbul an die Provinzen geschickt wurden und Anordnungen enthalten, wonach die entlang der Deportationsrouten verstreuten Leichen entfernt und begraben werden müssen. Ein bedeutender Teil dieser Erkenntnisse wurde während der Ermittlungen gegen die Führer der Unionisten (KEF), die für die Deportationen und Massaker in den Jahren 1918 und 1919 verantwortlich waren, gewonnen. Einige von diesen telegrafischen Depeschen wurden später als Beweismittel in den Prozessen selbst herangezogen. In dem später als »Hauptverfahren« bezeichneten Prozess gegen Mitglieder des Zentralkomitees der Partei für Einheit und Fortschritt, gegen die Führer der sogenannten »Spezialorganisation« (Teşkilat-ı Mahsusa) und gegen die Mitglieder der damaligen Regierung wurden in der ursprünglichen Anklageschrift als Beweismittel diese Telegramme verwendet. Unter diesen Telegrammen nehmen die von Talat und Cemal gesendeten Depeschen eine Sonderstellung ein. Eine, die Cemal am 14. Juli 1915 an den Provinzgouverneur von Diyarbakır geschickt hat, formuliert, dass »die Leichen, die im Süden des Euphrats verstreut liegen, wahrscheinlich die Leichen der Armenier sind, die durch einen Rebellenangriff getötet wurden; diese müssen in den Gebieten begraben werden, in denen sie entdeckt wurden, und ihre Überreste dürfen nicht im Freien zurückgelassen werden«. Der Gouverneur antwortet, dass »es wahrscheinlich ist, dass es die Leichen von Personen sind, die aus Erzurum und Mamuretülaziz kamen (Elazığ). Diejenigen, die bei Rebellenaktionen getötet 134 BOA.DH.ŞFR., 510/95: Verschlüsseltes Telegramm vom 24. Januar 1916, Distrikgouverneur Ali Suat aus Deyr-i Zor an das Innenministerium. 135 DH.EUM. 2.Şb. 74/30-01: Bericht vom 30. Oktober 1916, [Verfasser unklar] an das Innenministerium. Aus dem Text geht hervor, dass der Bericht von einem Beamten verfasst wurde, der in die Gebiete von Meskene, Rakka und Deyr-i Zor geschickt wurde, um verschiedene Probleme im Zusammenhang mit den Deportationen zu lösen.

173 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

wurden, werden entweder in tiefe Höhlen geworfen oder auf die bis jetzt praktizierte Art und Weise verbrannt«.136 Ein ähnliches Telegramm wurde am 3. August 1915 von Talat an die Provinzen Diyarbakır und Elazığ sowie an die Distrikte Urfa und Deyr-i Zor geschickt. Darin befiehlt Talat den lokalen Verwaltungen, »die Leichen auf den Straßen und die Habseligkeiten, die sie entlang der Straßen hinterlassen haben, verschwinden zu lassen, nicht indem sie die Leichen in die Schluchten, in die Flüsse oder in die Seen werfen«.137 Ein weiteres Telegramm zu diesem Thema, das in der Anklageschrift zitiert wurde, war vom Provinzgouverneur von Mamuretülaziz, Sabit, an den Landrat von Malatya geschickt worden. In der Botschaft vom 2. Januar 1916 teilt Sabit ihm mit, dass er ein Telegramm des Innenministeriums erhalten hat, in dem er darüber informiert wird, dass, »wenn Leichen innerhalb der Grenzen der Landkreise gefunden werden, der Gemeindeverwalter, der Dorfvorsteher und die Gendarmerie-Kommandanten unverzüglich von ihren Posten entfernt und den Gerichten überstellt werden sollen«.138 In den oben genannten Anklageschriften wurde dieses Telegramm nicht erwähnt, aber es ist im Archiv von Guerguerian verfügbar. In diesem Telegramm zitiert Sabit aus den Telegrammen, die er am 1. Januar von Talat erhielt. Talat teilt darin mit, dass »Berichte eingetroffen sind, wonach in bestimmten Gebieten Leichen gefunden wurden, die nicht vergraben, sondern im Freien zurückgelassen wurden«, und er befiehlt: »Wenn auf Ihrem Verantwortungsgebiet Leichen aufgefunden werden, die nicht vergraben sind, so muss dies sofort an die zuständigen Stellen übermittelt werden; sollte man später erfahren, dass in dem einen oder anderen Bezirk solche Leichen entdeckt, aber nicht begraben worden sind, ist der zuständige Beamte von seinem Posten zu entfernen«; das Ministerium solle über die Lage auf dem Laufenden gehalten werden.139 Der Inhalt dieses Telegramms ist nahezu identisch mit dem von Naim gelieferten Telegramm vom 11. Januar 1916. Es ist davon auszugehen, dass im Dezember und Januar die Räumung der Straßen einer der wichtigsten Punkte auf der Tagesordnung der Regierung war. Doch trotz diverser Befehle, die an die Provinzen geschickt wurden, erwies sich die Aufgabe, die Leichen wegzuräumen oder sie zu verstecken, weitaus schwieriger als erwartet. Nicht nur die Felder und Flächen entlang der Deportationsrouten waren voller Leichen, sondern auch die 136 Takvim-i Vekayi 3540 vom 05.05.1919. Die Anklage wurde in der ersten Sitzung des Prozesses am 27. April 1919 verlesen. 137 Ebd. 138 Ebd. 139 Guerguerianisches Archiv, 24 Krieger 02, 01 Box V 01, PDF S. 334. Guerguerian nahm dieses Dokument aus dem Archiv des armenischen Patriarchats in Jerusalem; es befindet sich in dessen Bestand unter der Nummer M578.

174 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

10) DIE ERMITTLUNGEN GEGEN UNTER VERDACHT STEHENDE ARMENIER

Gewässer der Region und vor allem der Fluss Tigris. Die Zahl der Leichen im Tigris war so groß, dass viele von ihnen, die in der Nähe von Diyarbakır in den Fluss geworfen wurden, Mosul erreichten. Vor allem deutsche Offiziere und Regierungsfunktionäre, die in der Region unterwegs waren, durchquerten Gebiete, die als »Felder des Todes« benutzt wurden. Holstein etwa, der deutsche Konsul in Mosul, traf auf eine große Anzahl von Leichen, die »nur halb begraben« waren. An vielen Orten waren die Toten nicht nur nicht begraben, sondern sie wurden auch in Kirchen zurückgelassen oder in die Zisternen geworfen. Die schriftlichen Berichte und Fotos dieser Beamten wurden regelmäßig an ihre Botschaft in Istanbul geschickt. In den diplomatischen Noten der Botschafter an die Hohe Pforte lässt sich feststellen, dass diese Berichte und Fotos aus den Provinzen eine große Wirkung hinterlassen hatten.140 Osmanische Regierungsbeamte schlussfolgerten schließlich, dass sich einfache Verbote, diese Szenen in den Provinzen zu fotografieren, als unzureichend erwiesen hatten und drohten dem deutschen zivilen und militärischen Personal mit Verhaftungen und Prozessen, falls sie noch weiterhin fotografieren sollten. Dabei spielte Cemal Pascha die Hauptrolle. Nach Erhalt von Berichten, dass deutsches Personal der Bagdad­ eisenbahn die armenischen Deportationen fotografiert habe, schickte er am 10. September 1915 einen Brief an den Leiter der Eisenbahngesellschaft und teilte ihm mit, dass er gehört habe, dass »bestimmte Mitarbeiter und Ingenieure der Bagdad-Eisenbahn Fotos von der Umsiedlung der Armenier gemacht hätten« und gab den Befehl, »dass diese Ingenieure innerhalb von 48 Stunden die Filme dieser Aufnahmen mit allen Abzügen beim Militärkommissariat abzugeben haben«. Darüber hinaus drohte der Kommandant der Vierten Armee den deutschen Beamten: »Wer diese Fotografien nicht herausgibt, wird bestraft und verurteilt, als ob er ohne Genehmigung Fotos vom Kriegsschauplatz gemacht hätte«.141

10) Die Ermittlungen gegen unter Verdacht stehende Armenier in Dörtyol und Hadjin In seinen Memoiren erwähnt Naim viele derartige Begebenheiten. An einer Stelle erwähnt er Ermittlungen, die in den Regionen Dörtyol und 140 Kaiser, Hilmar: The Extermination of Armenians in the Diarbekir Region, Istanbul 2014, S. 189, S. 348–350. 141 DE/PA-AA/BoKon/170: Anhang 1 zum Bericht vom 27. September 1915, vom deutschen Konsul in Aleppo, Rössler, an die deutsche Botschaft in Istanbul. Online verfügbar: armenocide.net, http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$$AllDocs-de/1915-09-27-DE-014?OpenDocument [Zugriff: 13. Februar 2016].

175 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

Hadjin gegen mehrere verdächtige Armenier durchgeführt worden seien, von denen angenommen wurde, dass sie entlang der Deportationsrouten Fotos gemacht und diese nach Istanbul geschickt hatten. Naim fügte dazu ein Telegramm von Talat vom 25. Oktober 1915 ein, in dem der Innenminister befiehlt: »Bitte besorgen und senden Sie innerhalb einer Woche die in der geheimen Mitteilung Nummer 1923 vom 8. Oktober 1915 angeforderten Dokumente«.142 Naim stellte die von Talat erwähnten offiziellen Dokumente nicht zur Verfügung, sondern gab dazu eine umfangreiche Zusammenfassung aus seiner Erinnerung: »In diesen geheimen Mitteilungen war angeordnet worden, dass einige [prominente] Armenier aus Dörtyol, Hadjin und Mersin gefunden und belohnt werden müssten, um sie zu überreden, Erklärungen zu unterschreiben, die besagen, dass ›[die Dashnaks] Vorbereitungen getroffen hätten und die [notwendige] Infrastruktur überall vorhanden sei, um während des Krieges eine Rebellion zu starten‹, und dass diese ausgesuchten Personen auf jeden Fall bekannte [prominente] Persönlichkeiten sein sollten«.143

Naim schreibt, dass eine Reihe von Ermittlungen zu diesem Thema durchgeführt wurde und bietet noch die folgenden zusätzlichen Informationen an: »In dieser Zeit wurden einige Personen verhaftet. Sie wurden ins Gefängnis gesteckt. Ich weiß, dass ihre Zeugenaussagen von einem Komitee aufgenommen wurden, das sich aus einem Offizier des Kriegsgerichts, einem Mitarbeiter des Justizministeriums und Eyüp Bey, dem Direktor des [Amtes für] Siedlungswesen und Immigration, zusammensetzte. Die Fotos der verhafteten Personen sollten veröffentlicht werden. Ich habe es nicht geschafft, die endgültigen Ergebnisse in Erfahrung zu bringen«.144

Im Osmanischen Archiv findet sich eine umfangreiche Dokumentation über die Ermittlungen, die im Zusammenhang mit »armenischen Revolutionären in den Gebieten Dörtyol und Hadjin« durchgeführt wurden. Wie auch Naim schreibt, ordnete das Innenministerium an, dass Berichte über die Aktivitäten von Personen in diesen Gebieten, die unter Verdacht stehen, Mitglied armenischer revolutionärer Organisationen zu sein, erstellt, dazu die Verdächtigen fotografiert und ihre Bilder in die Hauptstadt geschickt werden müssten.145 So wird beispielsweise in einem Telegramm vom Innenministerium an die Provinz Aleppo am 19. März 1916 gefordert, dass »Fotos von der Festnahme der armenischen 142 Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [08]. 143 Ebd., [09]. 144 Ebd., [09]. 145 Die Forderung nach Fotos und anderen Dokumentationen von Tötungen und Verwüstungen der »armenischen Revolutionäre« in Anatolien

176 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

10) DIE ERMITTLUNGEN GEGEN UNTER VERDACHT STEHENDE ARMENIER

Banditen im Landkreis Süleymanlı zusammen mit denen, die ihre Verbrechen dokumentieren, in die Hauptstadt geschickt werden«.146 Die Regierung schickte sogar Esat Bey, den Direktor der Zweiten Abteilung im Innenministerium, in die Region, um sicherzustellen, dass diese Fotos auch tatsächlich gemacht wurden.147 Während des Frühlings 1916 wurden kontinuierlich Telegramme nach Aleppo geschickt, um Fotos von Armeniern zu erhalten, die in den Regionen Adana, Maraş und Aleppo (einschließlich der Gebiete Dörtyol und Hadjin) als verdächtig eingestuft worden waren, und diese Bilder sollten anschließend in die Hauptstadt gebracht werden. Naim erwähnt in seinen Erinnerungen diese Korrespondenz über Telegramme, die während seiner dortigen Tätigkeit (Winter 1915 und Frühjahr 1916) im Deportationsbüro eintrafen. Neben dem bereits erwähnten Telegramm vom 19. März schickte die Zentralregierung in diesem Zeitraum ständig eine ganze Reihe weiterer Depeschen zu diesem Anliegen nach Aleppo. Um nur drei Beispiele zu nennen: Eine Botschaft vom 3. Mai 1916 fordert, dass »Informationen zu den Ergebnissen der Untersuchungen über die bewaffneten armenischen Banden übermittelt werden«.148 Eine weitere, die fünf Tage später in Aleppo einging, verlangt, »dass Fotos der gefangenen Mitglieder der bewaffneten Armenierbanden und derjenigen, die ihnen Unterstützung, Unterkunft anboten, und mit deren beschlagnahmten Waffen und so weiter aufgenommen, zusammengelegt und [in die Hauptstadt] überbracht werden«,149 und eine war eine wichtige Kampagne der Regierung. Das osmanische Regime veröffentlichte diese Bilder und Dokumente 1916 in einem als »Weißbuch« bekannten Werk. Für eine aktuelle Wiederveröffentlichung dieser Arbeit siehe Ermeni Komitelerinin Âmâl ve Harekât-ı İhtilâliyesi. İlân-ı Meşrutiyetten Evvel ve Sonra [Türkisch. Ziele und revolutionäre Aktivitäten der armenischen Komitees vor und nach der konstitutionellen Monarchie], hrsg. von Erdoğan Cengiz, Ankara 1983. Für die von den betreffenden Regionen angeforderten Unterlagen siehe BOA.DH.ŞFR, 54-A/213; 55/150; 56/382. 146 BOA.DH.ŞFR., 62/57: Verschlüsseltes Telegramm vom 19. März 1916, Innenministerium an den Provinzbezirk Maraş. 147 BOA.DH.ŞFR., 59/127; 63/263, 272, 282. Esat Bey, der später den Nachnamen Uras annahm, veröffentlichte später das bekannte Werk: Tarihte Ermeniler ve Ermeni Meselesi [Türkisch. Armenier in der Geschichte und die armenische Frage] Ankara 1950. Diese Arbeit ist eine der wichtigsten Informationsquellen für die »offizielle Version« der Geschichte nach der denialistischen Erzählart türkischer Regierungen. 148 BOA.DH.ŞFR., 63/185: Verschlüsseltes Telegramm vom 3. Mai 1916, Innenministerium an die Provinz Aleppo. 149 BOA.DH.ŞFR., 63/241­: Verschlüsseltes Telegramm vom 8. Mai 1916, Innenministerium an die Provinz Aleppo.

177 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 5: DIE BESTÄTIGUNG DER ERWÄHNTEN THEMEN UND EREIGNISSE

vom 9. Mai 1916 bittet erneut darum, »Fotos von bewaffneten armenischen Banden bereitzustellen und sie zusammen mit einem detaillierten Bericht über die Ergebnisse der umfangreichen Ermittlungen in die Hauptstadt zu schicken«.150 Was waren die Ergebnisse dieser Untersuchungen? Wie wir oben bereits erwähnt haben, berichtet Naim, dass einige Personen in Gewahrsam genommen und ihre Aussagen protokolliert wurden, dass er allerdings nicht die Möglichkeit hatte, »die endgültigen Resultate« zu erfahren. Wir erinnern uns, dass Naim seinen Posten im Deportationsbüro irgendwann in den Sommermonaten verließ, und seine Unkenntnis von den Untersuchungsergebnissen wird nachvollziehbar, da die Zentralregierung in diesen Monaten selbst gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigte. Am 13. Juli 1916 schickte Talat ein Telegramm nach Aleppo und erkundigte sich: »Wann ist mit dem Abschluss der Prozesse gegen die Leiter und führenden Mitglieder des Revolutionskomitees, die dem Kriegsgericht überstellt worden waren, und gegen die festgenommenen einzelnen Bandenmitglieder, die sich ergeben hatten und deportiert worden sind, zu rechnen?«. Talat forderte, dass er persönlich über »die Ergebnisse der Untersuchungen und Prozesse, die bisher vom Kriegsgericht durchgeführt worden sind«, informiert werde.151 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das, was Naim Efendi in seinen Memoiren vorstellt, seine eigenen Erinnerungen an Ereignisse sind, die er hautnah miterlebt hat, und diese Informationen können durch verschiedene Dokumente aus dem Osmanischen Archiv bestätigt werden.

150 BOA.DH.ŞFR., 63/248: Verschlüsseltes Telegramm vom 9. Mai 1916, Innenministerium an die Provinz Aleppo. 151 BOA.DH.ŞFR., 65/201: Verschlüsseltes Telegramm vom 13. Juli 1916, Innenministerium an die Provinz Aleppo.

178 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Kapitel 6: Nachwort Es gibt ein türkisches Sprichwort, das besagt: »Wahrheiten haben die schlechte Angewohnheit, irgendwann ans Licht zu kommen« (Gerçeklerin bir gün açığa çıkmak gibi kötü huyu vardır). Im Laufe der Jahrzehnte versuchten alle türkischen Regierungen, die Vernichtung des armenischen Volkes als historische Wahrheit zu verbergen oder ganz zu negieren. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Strategien entwickelt und umgesetzt. Die wichtigste war der Versuch, einen alternativen Komplex von »Fakten« zu präsentieren, die, entsprechend arrangiert, eine andere Realität vermitteln sollten; nämlich die, dass der eigentliche Zweck der Deportationen darin bestand, die armenische Bevölkerung gewaltlos aus den Kriegsgebieten zu entfernen und umzusiedeln – und nicht in ihrer Vernichtung. Eine andere Strategie lag im Versuch, alle Unterlagen zu vernichten, die zeigen, dass die Armenier durch einen gezielten Plan der Regierung der Unionisten ermordet wurden. Diese Strategie beinhaltet auch das Bemühen, alle überlieferten Beweise zu diskreditieren. Ein Resultat dieser bis heute geführten Kampagne ist, dass das Trauma der armenischen Überlebenden kein Ende finden kann. Als ob es nicht genug wäre, dass ihre Vorfahren ermordet wurden: Selbst die Überlebenden und ihre Nachkommen sind nicht in der Lage, auf ein Ende ihrer Trauer und ihres Verlustes hinzuarbeiten, da das begangene Verbrechen nicht einmal als solches anerkannt wird. Stattdessen stehen sie bis heute vor der schwierigen Aufgabe, zu »beweisen«, dass ihr Volk ermordet wurde; jedes Zeugnis, das sie geben, wird automatisch als »eine voreingenommene und unzuverlässige Quelle« verdächtigt, nur weil es von einem Armenier stammt. Es gibt jedoch Hoffnung. Wir sehen – trotz der koordinierten Versuche der Türkei, diese Geschichte zu verschweigen –, dass in den letzten Jahrzehnten ernsthafte wissenschaftliche Arbeiten erfolgreich die Scheiben des Glashauses namens Denialismus zerstört und die Vernichtung der osmanischen Armenier als eine unbestreitbare historische Wahrheit etabliert haben. Dennoch vertritt der klassische türkische Denialismus seine Ansichten weiterhin auf der Grundlage zweier wichtiger Argumentationen. Die erste lautet: »Es gibt keine Originaldokumente, die darauf hindeuten, dass es eine geplante Vernichtung der Armenier gab; wenn sie existieren sollten, dann legen Sie sie vor«. Die zweite lehnt vorhandene Dokumente ab, indem sie diese grundsätzlich als von den Armeniern produzierte Fälschungen bezeichnet. Einer der wichtigsten Sachbeweise für den Völkermord ist eine Reihe von Dokumenten, die als »Talat-Pascha-Telegramme« und Memoiren von Naim Efendi bekannt sind. Erstere sind osmanische Regierungste179 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 6: NACHWORT

legramme von Talat Pascha, die Regierungspläne zur Vernichtung der armenischen Bevölkerung anordnen oder in sonstiger Weise anzeigen. Diese Telegramme wurden von dem osmanischen Beamten Naim Efendi verkauft, der im Deportationsbüro Aleppo arbeitete. Er war für die Ausführung der Befehle zuständig. Aber neben den Dokumenten selbst schrieb Naim auch erklärende Notizen und Erinnerungen an diese Zeit, die sich mit den Ereignissen befassten. Bis vor Kurzem wurden die hier vorliegende Arbeit und die dazugehörigen Dokumente sowohl von wissenschaftlichen als auch von populären Kreisen weitgehend als »unzuverlässig« und »höchstwahrscheinlich gefälscht« abgetan. Diese Ablehnung basierte auf der folgenden Logik: Erstens, es ist unwahrscheinlich, dass es eine Person namens Naim Efendi gab; zweitens, eine nicht existierende Person kann ihre Memoiren nicht veröffentlichen; daher: Drittens, die Talat Pascha zugeschriebenen Telegramme sind Fälschungen. Laut den Autoren Orel und Yuca ist das gesamte Werk – Erinnerungen, Telegramme und Anmerkungen – nur eine Erfindung des armenischen Journalisten Aram Andonian. Bis vor Kurzem war es recht schwierig, ein überzeugendes sachliches Argument gegen diese drei Behauptungen vorzubringen. Zunächst war es nicht möglich gewesen, ein osmanisches Originaldokument vorzulegen, das die Existenz eines osmanischen Bürokraten namens Naim Efendi bestätigt. Zweitens gab es nicht viele Beweise, um die Authentizität der von Naim angebotenen Informationen oder der Originaldokumente zu bestätigen, da die Materialien im Osmanischen Archiv oft lückenhaft oder unvollständig sind. Drittens war der Verbleib der Originalmemoiren von Naim Efendi und der Originaltelegramme von Talat Pascha nicht bekannt und sie wurden als verschollen angesehen. So war das Thema ohne überzeugende Beweise schwierig zu diskutieren und die Behauptung der Fälschung konnte nicht widerlegt werden. Ernstzunehmende Wissenschaftler aus der Genozidforschung haben es daher weitgehend vermieden, entweder Andonians veröffentlichte Versionen von Naim Efendis Memoiren oder aber Talat Paschas Telegramme zu verwenden oder sie zu zitieren. Sie haben das Thema oft ganz vermieden. Mit dieser Studie ist die lange Zeit des Schweigens und der Vermeidungshaltung nun zu Ende. Wie wir nachgewiesen haben, gab es tatsächlich einen osmanischen Bürokraten namens Naim Efendi; es gibt authentische Erinnerungen, die von ihm verfasst wurden. Basierend auf der Bestätigung osmanischer Dokumente, die inzwischen entdeckt wurden, ist es leicht nachzuweisen, dass der Inhalt der Memoiren, Beschreibungen und Behauptungen, die sich hier finden, wahr sind. Das Gleiche gilt für die Telegramme von Talat Pascha; alle Argumente, die die denialistische Geschichtsschreibung gegen die Echtheit der Telegramme vorbrachte (insbesondere die Diskussion über die Verwendung von linierten Papieren, osmanische Verschlüsselungsmethoden in 180 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

KAPITEL 6: NACHWORT

Kriegszeiten und die Unterschriften auf den Dokumenten), sind einfach falsch. So ist beispielsweise die Verwendung von linierten Papieren und das zweistellige Verschlüsselungsverfahren, das in den von Naim Efendi bereitgestellten Telegrammen verwendet wird, kein Beweis für ihren gefälschten Charakter; das Gegenteil ist der Fall: Es ist ein überzeugendes Argument für ihre Authentizität, da diese Papiere und Verfahren von den Direktoren des Deportationsbüros, in dem Naim arbeitete, verwendet wurden. Die Wahrheit ist ganz einfach: Die original verschlüsselten Telegramme, die Naim Efendi dem Journalisten Andonian übergab, sind authentisch. Wenn dennoch entweder die türkische Regierung oder ihre denialistischen Verbündeten behaupten wollen, dass es sich bei diesen Dokumenten um Fälschungen handelt, sollten sie die Verschlüsselungsnotizbücher mit der jeweiligen Chiffre veröffentlichen, um die Fälschung auf der Grundlage dieser Notizbücher aufzuzeigen. Diese Notizbücher existieren, und diejenigen, die autorisiert und befähigt sind, sie zu veröffentlichen, sind dieselben, die behaupten, die Dokumente seien falsch. Tatsächlich behaupten wir, dass der Grund für die Nichtveröffentlichung dieser Verschlüsselungsnotizbücher darin besteht, dass sie die Authentizität dieser Telegramme bestätigen würden. Wir fordern die türkische Regierung auf: Die Beweislast liegt nun bei ihr. Diese Arbeit hat nicht nur gezeigt, dass Talats Telegramme authentisch sind, sondern bestätigt auch die seit Generationen überlieferten Geschichten von Überlebenden des armenischen Völkermords sowie die Berichte von nicht armenischen Augenzeugen. Ebenso wurden die historischen Wahrheiten, die Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema schon aufgedeckt haben, erneut bestätigt: Während des Ersten Weltkrieges verfolgte die Regierung der Unionisten im Osmanischen Reich eine vorsätzliche und gezielte Vernichtungspolitik gegen ihre armenische Bevölkerung. »Wahrheiten haben die schlechte Angewohnheit, irgendwann ans Licht zu kommen«.

181 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Anhänge

182 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Anhang 1-A und 1-B Wir haben nicht die eine einzige und vollständige Version der Memoiren von Naim Efendi. Was wir haben, sind zwei verschiedene Texte! Einer ist der ursprüngliche osmanisch-türkische Text, den wir im Guerguerianischen Archiv entdeckt haben, und der zweite ist die Sammlung von Passagen, die von Aram Andonian veröffentlicht wurden. Der ursprüngliche osmanisch-türkische Text und die von Andonian veröffentlichten Passagen sind identisch, aber es gibt auch große Unterschiede, da Andonian nicht alle Seiten des ursprünglichen osmanisch-türkischen Materials veröffentlicht hat. In einigen Fällen hielt er einige Seiten für unwichtig und ließ sie einfach weg. Andererseits fehlen in unserem osmanisch-türkischen Text bestimmte Seiten, die Aram Andonian aber in seinem Buch veröffentlicht hat. Wir wissen auch, warum diese Seiten im osmanisch-türkischen Text fehlen: Andonian hatte sie nach Istanbul geschickt, um sie dort dem Gerichtstribunal zur Verfügung zu stellen. Anhang 1-A ist die vollständige Übersetzung des osmanisch-türkischen Originaltextes. Anhang 1-B enthält die von Andonian veröffentlichten Passagen, die aber im osmanisch-türkischen Original fehlen. Natürlich gibt es auch mehrere Seiten, die im osmanisch-türkischen Original und im armenischsprachigen Buch Andonians identisch sind. Für die überlappenden Seiten haben wir das osmanisch-türkische Original verwendet, da Andonian den gleichen Text ins Armenische übersetzt hat. Durch die Zusammenstellung dieser beiden Dokumente erhalten wir eine vollständige Version des Textes von Naim Efendi.

Anhang 1-A – Das osmanisch-türkische Original der Memoiren von Naim Efendi (1) [01] Ein Dorfbewohner aus Bâb nahm zwei Kinder auf – eines im Alter von zehn Jahren, das andere acht Jahre alt –, die waren ohne Mutter, ohne Vater oder sonst jemanden auf der Erde. Tage später brachte dieser Mann die Waisen nach Aleppo, um ihnen Kleidung zu besorgen. Auf Befehl des Richters (kadı) nahmen Soldaten die Kinder fest und sperrten sie im Polizeipräsidium ein. Nach Ermittlungen in Bâb wurde festgestellt, dass diese Kinder von dort aus dem Kreis der [vielen] Waisenkinder stammten. Abdulahad Nuri Bey setzte unter dem ganzen Schriftverkehr in dieser Angelegenheit die folgende Randnotiz: »Auch wenn festgestellt ist, dass diese Kinder Vollwaisen sind, sollen sie dennoch in die laufenden 183 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

Deportationen miteinbezogen werden, da sie möglicherweise in [Deyr-i] Zor auf Verwandte treffen könnten«. Die Papiere wurden dem Gouverneur vorgelegt. Er schrieb darunter: »Stimmt überein! [mit den Dienstvorschriften]«. Diese beiden armen Kinder rettete letztlich Haçatur [Khatchadour] Efendi, der damalige Verwaltungsassistent der Polizei. (2) [02] Das Innenministerium erteilt Soğomon [Soghomon] Kuyumcuyan Efendi, einem Verwandten des Parlamentsabgeordneten Nalbantyan Efendi aus Kozan, die Erlaubnis, sich in Aleppo niederzulassen. Soğomon Efendi war zuvor in den Landkreis Maara deportiert worden, hat aber durch die Vermittlung des Parlamentsabgeordneten Nalbantyan die Genehmigung erhalten, sich in Aleppo niederzulassen. Als die Anweisung des Ministeriums im Regionalbüro für Deportationen eintraf, wurde Soğomon Efendi hier vorstellig und stellte einen Antrag auf Vollzug der Anweisung. Unter dieses Schriftstück wurde notiert, dass er sich weiterhin in Maara aufhalten müsste. Tage später kam der Befehl, Maara zu evakuieren. Soğomon Efendi stellte einen erneuten Antrag. Obwohl er auf Anordnung des Innenministeriums nach Aleppo verlegt werden sollte, notierte Abdulahad Nuri Bey unter dem Antrag: »Seit diese Person aus Maara geflohen und hierhergekommen ist, belästigt sie immer wieder das Regionalbüro der Deportationsbehörde und muss daher mit den laufenden Deportationen verschickt werden«. Der Gouverneur der Provinz stimmte dem zu. Die Unterlagen zu diesem Verfahren sind im Besitz von Soğomon Efendi. In Diyarbakir wurde im Besitz einer mittellosen und alleinstehenden Frau ein größerer Teller gefunden, mit die armenische Freiheit symbolisierenden Bildern darauf. (3) [03] Sowohl die Frau als auch der Teller wurden ins Büro gebracht. Diesem [Teller] wurde große Bedeutung beigemessen. Die Frau wurde gefragt, wo sie den Teller gekauft hatte und ob sie über dessen Bedeutung Bescheid wisse. Die Frau antwortete, dass dieser Teller seit Jahren bei ihr stand. Sie folterten die Frau acht oder zehn Tage in einem Sonderraum der Feldgendarmerie. Sie sagte nichts. Und diese arme Frau ist dort durch Folter und Hunger gestorben. Die Polizei war an solchen Verbrechen nicht beteiligt. Polizeichef Fikri Bey zeigte in dieser Angelegenheit Patriotismus und bewies Ehre. Eine Frau, bekannt als Antepli Sultan, hatte eine Schneiderei eröffnet und arbeitete dort mit sechs oder sieben Mitarbeiterinnen. Das waren Witwen, alleinstehende Frauen oder Mädchen. Eine der Arbeiterinnen – ein Mädchen im Alter von 15 oder 16 Jahren – wurde von der Polizei geschnappt 184 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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und zeigte ihr, wo sie arbeitete. Dieser Wichtigtuer aus der Polizei ging hin und sammelte alle Kolleginnen des Mädchens ein. (4) [04] Alle wurden zum Regionalbüro für Deportationen gebracht. Diese armen Frauen und Mädchen, die zueinandergefunden hatten, um dort ein paar Groschen zu verdienen, wurden unter dem Vorwand zusammengetrieben, dass, wenn sie in Aleppo blieben, andere sich ihnen anschließen und sie die Deportationen stören könnten. Sie wurden ins Lager von Karlık geschickt und von dort aus weiter deportiert. Das war ein merkwürdiger Zwischenfall: Eine Familie aus Merzifon, in der Provinz Amasya, konvertierte wenige Tage vor Beginn ihrer Deportation zum Islam; sie informierte per Telegramm das Familienoberhaupt, das sich damals in Çorum aufhielt, über ihre Bekehrung. Als der Vater von der Konvertierung seiner Frau und der Kinder erfuhr, trat dieser Mann [dort zum Islam] über. Das konnte die Familie nicht vor der Deportation retten. Der Vater kam den ganzen Weg nach Aleppo. Hier stellte er seinen Antrag. Da er in Çorum und der Rest seiner Familie in Merzifon zum Islam konvertiert seien, beantragte er für seine Familie die Erlaubnis, zum Heimatort zurückkehren zu dürfen. Merzifon und Çorum wurden angefragt. Obwohl es amtlich bestätigt wurde, dass der Mann zum Islam konvertiert war und den Namen Yusuf Ziya angenommen hatte, entschied Abdulahad Nuri Bey: »Es spielt keine Rolle, ob und wie er konvertiert ist; er kann nicht von der Deportation befreit werden«. (5) [05] Er solle »im Rahmen der üblichen Deportationen mit seiner Familie in [Deyr-i] Zor wieder vereint werden«. Der Provinzgouverneur bestätigte diese Entscheidung, sie sei mit den Dienstvorschriften konform. Ein Priester, aus Ankara stammend, wurde um acht Uhr abends vom Polizeikommissar Fevzi Efendi aus Bâb-ül-Farac von seiner Unterkunft in Cedîde abgeholt und sollte nach Karlık gebracht werden.1 Unterwegs wurde er erschossen. Er wurde auf dem muslimischen Friedhof in der Nähe der Kaserne begraben. Am nächsten Tag wurde die Information [über den Vorfall] an das Regionalbüro für Deportationen weitergeleitet. Die Befehle, die Armenier aus Sivas, Harput und anderen Gebieten zu berauben und zu töten, wurden von hier aus [Aleppo] an das Büro des Landrates (Kaymakam) von Rumkale geschickt. Der Kaymakam stellte eine bewaffnete Bande aus [ortsansässigen] Kurden zusammen und setzte sie dann in Richtung Samsat in Bewegung, mit der Anweisung, die 1



Cedîde, ein Stadtteil von Aleppo; Karlık, ein Siedlungsgebiet in der Nähe von Aleppo.

185 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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armenischen Marschkolonnen [der Deportierten], die über die »Adıyaman-Route« nach Behisni unterwegs waren, zu überfallen und sie zu massakrieren. Mehrere tote Armenier wurden in den Euphrat geworfen. Nach Schätzungen eines offiziellen Berichtes töteten marodierende kurdische Banden in der Region Samsat 14.000 Armenier. (6) [06] Kopie des verschlüsselten Telegramms Nummer 603 des Innenministeriums vom 18. November 1915: »Es wird berichtet, dass einige muslimische Familien die verwaisten Kinder gewisser bekannter Personen aufgenommen haben, die aus den Provinzen Sivas, Mamuretülaziz und Diyarbakır deportiert worden waren und auf dem Weg umgekommen sind. Sie haben diese Kinder adoptiert oder sie zu ihren Bediensteten gemacht. Es wird hier in Form eines allgemeinen Memorandums verordnet, dass solche Kinder in Ihrer Provinz zusammengeführt und in die Siedlungsgebiete geschickt werden und dass die notwendigen Diskussionen zu diesem Thema in einer für die Bevölkerung verständlichen Art und Weise geführt werden«.

Kopie des verschlüsselten Telegramms Nummer 502 des Innenministeriums vom 16. September 1915: »Es wird empfohlen, die Behandlung, die zuvor für den männlichen Anteil bestimmter bekannter Individuen (Armenier) angeordnet wurde, auch auf ihre Frauen und Kinder auszudehnen und dabei die Mitarbeit zuverlässiger Beamter in Anspruch zu nehmen«.2

(7) [07] Kopie des verschlüsselten Telegramms Nummer 537 des Innenministeriums vom 12. Oktober 1915: »Es wird berichtet, dass einige aus der lokalen Bevölkerung oder Regierungsbeamte armenische Frauen geheiratet hätten. Sie werden mit großer Dringlichkeit ermahnt, solche Ehen energisch zu verhindern und solche Frauen ausnahmslos zu deportieren«.

Kopie des verschlüsselten Telegramms Nummer 544 des Innenministeriums vom 16. Oktober 1915: »Der Grund für die Entscheidung, den Provinzkreis [Deyr-i] Zor als Siedlungsgebiet zu benutzen, wurde in der früheren vertraulichen Korrespondenz Nummer 1843 vom 15. September 1915 erläutert. Da die allgemeinen Verbrechen und Missetaten, die von der [lokalen] Bevölkerung gegen bestimmte bekannte [abgeschobene] Individuen auf ihrem 2



Wir nehmen die belasteten und ominösen »Bürokraten« in diesen Telegrammen und ihre absichtliche euphemistische Verschleierung (»bestimmte bekannte Personen«, »Behandlung«, »zuverlässige Beamte«) zur Kenntnis.

186 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Weg begangen werden, sicherstellen, dass die von der Regierung verfolgten Ziele erreicht werden, ist es nicht notwendig, diesbezüglich rechtliche Ermittlungen anzustellen. Die notwendige Botschaft wurde an die Provinzbezirke [Deyr-i] Zor und Urfa übermittelt«.

(8) [08] Kopie des verschlüsselten Telegramms Nummer 563 des Innenministeriums vom 25. Oktober 1915: »Bitte besorgen und senden Sie innerhalb einer Woche die in der geheimen Mitteilung Nummer 1923 vom 8. Oktober 1915 angeforderten Dokumente«.

In diesen geheimen Mitteilungen war angeordnet worden, dass einige [prominente] Armenier aus Dörtyol, Hadjin und Mersin gefunden und belohnt werden müssten, um sie zu überreden, unterschriebene Erklärungen abzugeben, die besagen, dass »[die Dashnaks] Vorbereitungen getroffen hätten und die [notwendige] Infrastruktur überall vorhanden sei, um während des Krieges eine Rebellion zu starten«, und dass diese ausgesuchten Personen auf jeden Fall bekannte [prominente] Persönlichkeiten sein sollten. (9) [09] Obwohl eine Reihe von Maßnahmen als Reaktion auf dieses Telegramm ergriffen wurde, weiß ich nicht, welche das waren oder wer sie umgesetzt hat. In dieser Zeit wurden einige Personen verhaftet. Sie wurden ins Gefängnis gesteckt. Ich weiß, dass ihre Zeugenaussagen von einem Komitee aufgenommen wurden, das sich aus einem Offizier des Kriegsgerichts, einem Mitarbeiter des Justizministeriums und Eyüp Bey, dem Direktor des [Amtes für] Siedlungswesen und Immigration, zusammensetzte. Die Fotos der verhafteten Personen sollten veröffentlicht werden. Ich habe es nicht geschafft, die endgültigen Ergebnisse in Erfahrung zu bringen. Von hier aus wurde der Feldgendarmerie befohlen, darauf zu achten, dass die [Deportierten] ohne Wasser und Nahrung in Marsch gesetzt werden.3 Kopie der geheimen Mitteilung Nummer 344 : »Ich bin zuversichtlich, dass Sie das Vertrauen, das das Gouverneursbüro in Sie setzt, sowie die Bedeutung der Aufgabe, die Ihnen das Gouverneursbüro auf der Grundlage dieses Vertrauens übertragen hat, zu würdigen wissen.

3 Das bedeutet, dass die Feldgendarmerie dafür sorgt, dass die Deportierten ohne Essen und Wasser auf den Weg geschickt werden.

187 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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(10) [10] Sie dürfen nicht zulassen, dass ein einziger Armenier in Bab zurückbleibt. Die Kraft und Entschlossenheit, die Sie während der Deportationen aufbringen werden, kann das angestrebte Ziel sicherstellen. Achten Sie darauf, keine Leichen auf der Straße oder im Freien liegenzulassen. Sie sollten uns über den maximalen Lohn informieren, der den Personen, die Sie zu diesem Zweck beschäftigen, gezahlt wird. Beschäftigen Sie sich nicht mit der Anschaffung von Transportmitteln, die können zu Fuß gehen. Die wöchentlichen Listen mit den Zahlen der Toten sind nicht zufriedenstellend. Daraus wird ersichtlich, dass diese Personen dort noch recht angenehm leben. Abschiebungen sind keine Ausflüge. Beschwerden und Schmerzensschreie sollten nicht beachtet werden. Die notwendigen Mitteilungen wurden von der Provinzregierung an das Büro des Landratsamtes geschickt. Sie sollten bei diesem Unternehmen mehr Anstrengungen zeigen«. (11) [11] Obwohl ein verschlüsseltes Telegramm vom [Innenministerium] kam und befahl, dass die Familien von Leon Amiralyan, Toros Çağlasyan [Tchaglassian], Dişçekenyan [Dishchekenian], Hezarebenyan und Çorbacıyan [Chorbajian] hierbleiben und sich in Aleppo niederlassen dürfen, deportierte die Provinz[-Regierung] diese Familien, von denen einige auf der Route umkamen. Hamam, das in der Umgebung von Rakka liegt, ist ein Inferno des Todes und der Zerstörung. Frauen und Kinder leiden am stärksten unter Entbehrungen und Verlusten. Das Dossier mit den amtlichen Dokumenten über das, was über diese Angelegenheit bekannt ist, hat der stellvertretende Generaldirektor Abdulahad Nuri Bey. Hakkı Bey hat diese Katastrophe verschlimmert. Er hat die Massentötungen von mehreren Hundert Waisenkindern angeordnet, die die Deportationen überlebt hatten. Er beauftragte einen Schurken aus Rumeli mit dem Namen »Resul«, einem aus dem Polizeidienst entlassenen Kommissar, und übertrug ihm die Verantwortung für diese Angelegenheiten. Diese Person versammelte in sich alle unmoralischen Verhaltensweisen der Welt. Er entwickelte eine Leidenschaft zum Töten, und das wurde für ihn zu einer heiligen Praxis. (12) [12] Es darf nicht vergessen werden, dass es unter denjenigen Beamten, die in dieser Funktion dienten und dabei Grausamkeiten und Unterdrückung ausübten, kaum Türken gab. Sie kamen aus anderen Volksgruppen wie Rumelili, Tscherkessen und Tschetschenen. Vier Monate zuvor fand in Rumkale das folgende Vorkommnis statt. Ein ehrenwertes und keusches Mädchen aus Sivas namens Binnaz hatte 188 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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sich drei Jahre lang den ständigen Übergriffen der Regierungsbeamten und anderen aus der Bevölkerung widersetzt. Sie hat ihre Ehre geschützt. Zum Schluss versuchte es der neu ernannte Landrat (Kaymakam), diese »Festung der Tugend« einzunehmen. Das Mädchen begriff, dass sie dem nicht standhalten wird, und flüchtete. Sie hat es bis zu Behisni geschafft. Daraufhin schickte das Landratsamt eine Kompanie aus acht Soldaten nach ihr. Der Landrat schrieb eine Botschaft an seinen Kollegen in Behisni und beschuldigte die Frau des Diebstahls. Sie schleiften das arme Mädchen zurück und brachten sie zu ihm. (1) [13] Die Kopie einer Botschaft des Provinzgouverneurs von Aleppo an das Innenministerium in der Sache gegen Ali Suat Bey, den Distriktgouverneur von [Deyr-i] Zor: Aus dem Bericht von Abdulahad Nuri Bey, der kürzlich in Ras-al-Ayn war, um zu untersuchen, warum die Armenier, die dorthin geschickt wurden, dortblieben beziehungsweise sich dort niedergelassen haben und dabei vom Distriktgouverneur von [Deyr-i] Zor, Ali Suat Bey, vorsätzlich beherbergt wurden. Es wurden Ansammlungen von Tausenden von Armeniern festgestellt, die in ein strategisch wichtiges Gebiet wie Ras-alAyn gelangten und dortblieben. Sie wurden trotz unserer wiederholten Aufforderungen nicht deportiert, mit dem Vorwand: »Wir haben nicht die nötigen Transportmittel«. Alle unsere wiederholten Mahnungen zur Fortführung der Deportationen blieben erfolglos. Der Schutz für diese genannten [Armenier] war überraschend groß, gerüchteweise so sehr, dass er [Ali Suat] die Kinder persönlich waschen und ernähren und mit ihnen über die Katastrophe trauern würde, die ihren Eltern widerfahren ist. Die Armenier, die dorthin geschickt wurden, erreichten auf diese Weise eine besondere Art des Wohlbefindens, sodass sie sich Ali Suat Bey für diese Entwicklung zu Dank verpflichtet fühlten. Da eine Fortführung dieses Zustandes zwangsläufig zu einer Verzögerung der Deportationen aus Aleppo führen würde, liegt es in Ihrer Verantwortung, dass das Notwendige getan wird. (5. Januar 1916) Der Gouverneur Mustafa Abdülhalik Verschlüsseltes Telegramm vom Innenministerium am 28. Januar 1917 an den Gouverneur von Aleppo: Es wird festgestellt, dass die Kinder der [bestimmten] bekannten Individuen (eşhası malume) in die Waisenhäuser aufgenommen werden, die an verschiedenen Orten eingerichtet worden sind. Der Staat ist sich sicher, dass es schadet, wenn diese [Kinder] am Leben bleiben; wenn es dann jemand versucht, aus Mitleid die Versorgung aufrechtzuerhalten 189 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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und auf die Hilfe für solche [Kinder] hinzuarbeiten – sei es aus der Unfähigkeit heraus, den Ernst der Lage zu begreifen, oder sei es ein Verhalten, dass aus Hilflosigkeit den Ernst der Lage herunterspielt –, (2) [14] handelt er gegen den klaren Willen der Regierung. Es wird darauf hingewiesen, dass weder für die Aufnahme solcher Kleinkinder in die Waisenhäuser noch für die Einrichtung anderer Waisenhäuser Anstrengungen unternommen werden dürfen. Der Innenminister Talat Kopie des verschlüsselten Telegramms vom Innenministerium, vom 14. Dezember 1915, an den Gouverneur von Aleppo: Die wichtigste Zielgruppe, deren Vernichtung erreicht werden sollte, ist der religiöse Klerus. Es wäre ein großer Fehler, ihnen (Angehörigen des Klerus) die Erlaubnis zu erteilen, in gefährliche Gebiete wie Syrien und Jerusalem zu reisen und sich dort niederzulassen. Der beste Ort der Ansiedlung für diese Personen, deren Charakter dazu neigt, sich böswillig gegen die Regierung zu verschwören, ist der Ort, an dem sie ausgerottet werden. Der Innenminister Talat Kopie des verschlüsselten Telegramms vom Innenministerium an den Gouverneur der Provinz Aleppo vom 4. März 1916:4 Die von den Armeekommandeuren aufgezeigte Notwendigkeit, Handwerker aus [Gruppen von] bestimmten bekannten Individuen im Militärdienst einzusetzen, wurde im Detail geprüft. Da diese nicht mehr in den Städten bleiben dürfen, sie in militärische Gebiete geschickt werden und es erlaubt ist, sie im Straßenbau und im Außenbereich einzusetzen, solange ihre Familien nicht in die allgemeinen Deportationen einbezogen wurden, und da das Innenministerium den verschiedenen Armeekommandos diesbezüglich besondere Anweisungen erteilt hat, sind sie gemäß den vorangegangenen Anweisungen zu behandeln, wie zuvor mitgeteilt. Der Innenminister

4 Das Datum auf dem Dokument ist der 20. Februar [1]332; es gibt jedoch kein solches Datum im osmanischen Kalender. Die Daten zwischen dem 16. und 28. Februar 1332 wurden aus dem islamisch-osmanischen Kalender entfernt, um die 13 Tage Differenz auszugleichen. Das Datum sollte hier 1331 sein!

190 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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(3) [15] Kopie des verschlüsselten Telegramms des Innenministeriums vom 21. September 1915, das an das Amt des Distriktgouverneurs von Urfa geschickt wurde: Ein solches Waisenhaus ist nicht nötig. Es ist nicht die Zeit, aus einer gewissen Gefühlslage heraus Zeit [und Energie] für die Versorgung und Bewahrung der [Waisenkinder-]Leben aufzuwenden. Wir erwarten gespannt Ihre Berichte zu den Deportationen. Der Innenminister Kopie der geheimen Mitteilung des Innenministeriums vom 22. September 1915 an den Gouverneur der Provinz Aleppo: Die Armenier haben kein Recht mehr, auf türkischem Boden zu leben und zu arbeiten, da dieses Recht abgeschafft worden ist. Die Regierung übernimmt für diese [Situation] die gesamte Verantwortung: Nicht ein einziger von ihnen soll übrigbleiben – nicht einmal die Kinder in der Wiege; diese wirkungsvollen Maßnahmen sind in einigen Provinzen mit durchschlagendem Erfolg durchgeführt worden. Trotz dieser Anordnung sind einige bekannte Individuen aus der Geheimhaltung unterliegenden Gründen vorübergehend außergewöhnlich gut behandelt und nicht direkt zu ihren [endgültigen] Umsiedlungsorten deportiert worden; sie können stattdessen in Aleppo spazieren gehen, weswegen die Regierung vor einer weiteren Schwierigkeit steht. Anscheinend setzen sich bei einigen, als Folge der Ignoranz, die materiellen Interessen gegen den Patriotismus durch. Die Menschen, die die Politik der Regierung in dieser Frage nie verstehen werden, müssen unbedingt daran gehindert werden, diese bekannten Individuen zu schützen oder ihr Leben zu retten. (4) [16] Hinsichtlich der Ausschaffung dieser Personen ist keine Entschuldigung oder Ausnahme zu akzeptieren, sei es für Frauen, Kinder oder Personen, die nicht mal stehen oder gehen können. Sie sollten keine Zeit verlieren: Arbeiten Sie mit Ihrer ganzen Seele und Ihrem Wesen, denn die Gewalt und die Schnelligkeit (şiddet ve hız), die Sie demonstrieren, [und] die Vernichtung [solcher Personen] durch die Härten der Deportation und durch lebensbedrohliche Entbehrungen, die an anderen Orten Helfer ausgeführt haben, können dort ohne [solche] Mittelsmänner realisiert werden. Das Kriegsministerium hat den Armeekommandanten den allgemeinen Befehl erteilt, sich nicht in die Deportationen einzumischen. Benachrichtigen Sie die Beamten, die in diesem Dienst tätig sind, dass sie sich nicht mit [der Frage der] Verantwortung befassen müssen, sondern sich darum zu bemühen [haben], das wahre Ziel [der Operation] zu 191 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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erreichen. Bitte seien Sie so freundlich und melden Sie uns wöchentlich verschlüsselt die Resultate Ihrer Bemühungen. Der Innenminister Talat Kopie des verschlüsselten Telegramms vom Innenministerium vom 16. Februar 1917 an den Gouverneur der Provinz Aleppo: Die Kommission unter der Leitung von Mustafa Nail Bey, die nach Urfa entsandt wurde, um die revolutionären Einfälle und Bestrebungen einiger bekannter Personen zu untersuchen und die dafür notwendige Dokumentation zu erstellen, (5) [17] ist, nachdem sie ihre Arbeit dort beendet hat, in das Gebiet um Antep und Kilis weitergereist, das zu Ihrer Provinz gehört; [bitte] den betreffenden Dienststellen heimlich die Notwendigkeit mitteilen, [die] Bemühungen der Kommission zu unterstützen. Innenminister Talat Das Buch über die Armenier, das später veröffentlicht wurde, ist das Ergebnis der Arbeit dieser Kommission.5 Kopie des verschlüsselten Telegramms von Zeki, dem Distriktgouverneur von [Deyr-i] Zor, an den Gouverneur der Provinz Aleppo, vom 13. August 1916: Ich habe vom Innenministerium den Befehl erhalten, dass im Zuge der laufenden Deportationen aus Aleppo das Siedlungsgebiet derer, die derzeit hier leben, geändert werden soll. Vor diesem Hintergrund bitten wir Sie, uns mitzuteilen, wie lange die Deportationen anhalten werden. Der Distriktgouverneur Zeki Kopie des am 24. Januar 1917 vom Amt des Provinzgouverneurs von Aleppo an das Amt des Distriktgouverneurs von Antep geschriebenen und verschlüsselt zugesandten Telegramms: Erlauben Sie keinem der Armenier aus Sivas oder Mamuretülaziz, die sich derzeit in Ihrem Distrikt aufhalten, sich dort zusammenzufinden 5 Naim Efendi bezieht sich auf das »Weißbuch«, das von der osmanischen Regierung Ende 1916 unter dem Titel Ermeni Komitelerinin Âmâl ve Harekât - ı İhtilâliyesi veröffentlicht wurde: Ermeni Komitelerinin Âmâl ve Harekât - ı İhtilâliyesi. İlan - ı Meşrutiyetden Evvel ve Sonra [Türkisch. Ziele und revolutionäre Aktivitäten der armenischen Komitees vor und nach der konstitutionellen Monarchie], Istanbul 1916.

192 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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oder niederzulassen, sondern behandeln Sie sie im Rahmen der bekannten und zuvor kommunizierten Richtlinien und berichten Sie uns Ihre Resultate. Der Gouverneur (6) [18] Dieses Telegramm wurde an diejenigen geschickt, die die Armenier töteten, die in diesen Gebieten aufgefunden wurden. Der Satz »[Umgang mit ihnen] nach bekannten und zuvor kommunizierten Richtlinien« impliziert, dass sie getötet werden sollten. Sieben Tage später kam die folgende Botschaft des Distriktgouverneurs aus Antep im Zusammenhang mit der Mitteilung des Landrats aus dem genannten Landkreis. C. 24. Januar 1917 An den Gouverneur der Provinz Aleppo Aus der Botschaft des zuständigen Landrats geht hervor, dass in Rumkale, im Bezirk Liva, mehr als 500 bestimmte bekannte Individuen leben, Frauen und Kinder, die aus den genannten Provinzen stammen; sie wurden gemäß den bekannten und zuvor kommunizierten Richtlinien zum Umgang mit ihnen in Begleitung von kurdischen Wachen deportiert, damit sie nicht wieder hierher zurückkehren. Das besagt, dass die 500 Armenier, meist Frauen und Kinder, auf Befehl getötet wurden. Aus den Sätzen »damit sie nicht wieder hierher zurückkehren« und »in Begleitung von kurdischen Wachen« geht hervor, dass sie ermordet wurden. (7) [19] Kopie des chiffrierten Telegramms, das vom stellvertretenden Direktor des Amtes für Siedlung von ethnischen Gruppen und Einwanderern am 26. Februar 1916 an den Generaldirektor des Amtes für Siedlungswesen und Immigration (das Amt für Deportationen- İskân-ı Aşâir ve Muhacirîn Müdüriyet-i Umumiyesi) geschickt wurde:6 Mit Ausnahme derer, die als Handwerker nach Syrien gebracht wurden, hat nur ein Viertel der deportierten Armenier die Umsiedlungsgebiete erreicht; der Rest ist auf dem Weg aus natürlichen Gründen gestorben. Die notwendigen Maßnahmen können ergriffen werden, um die Deportationen derjenigen zu beschleunigen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht aus Aleppo vertrieben wurden. Aus dieser Botschaft lässt sich folgende Realität ablesen: Die Befehle und Wünsche der Zentralregierung von Talat Pascha wurden erledigt: Die Armenier starben oder wurden getötet. Das wird hiermit offiziell mitgeteilt. 6 Das Datum auf dem Dokument ist der 26. Februar 1332. Es gibt kein solches Datum im osmanischen Kalender. Vgl. a.a.O., 431.

193 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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(1) [20] Obwohl seitens der Regierung schon länger die Absicht bestand, die armenische Existenz zu vernichten, die seit Jahrhunderten versucht, die Fundamente unseres Staates zu zerstören, und daher eine Plage für die Regierung darstellt, waren die (geeigneten) Voraussetzungen nicht geschaffen, weswegen diese heilige Absicht nicht verwirklicht werden konnte. Da nun alle Hindernisse [für diese Vorgehensweise] beseitigt sind und die Zeit gekommen ist, die Heimat von diesen gefährlichen Elementen zu befreien, ist es notwendig, bewusst und mit vollem Einsatz und ohne das Gefühl der Barmherzigkeit und ohne dem eigenen Mitgefühl nachzugeben, die Bezeichnung »Armenier« in der Türkei auszulöschen, indem man ihrer Existenz ein Ende setzt. Es ist dringend darauf zu achten, dass die Beamten, die bei diesem Unternehmen eingesetzt werden, Personen von größter Ehre und Anstand sind, um dieses Ziel zu erreichen. Der Innenminister Dies ist eine Kopie eines Telegramms; es wurde unter den als geheim eingestuften Dokumenten des stellvertretenden Direktors gefunden. Es gibt keine Hinweise darauf, wann es angekommen ist oder an wen es gerichtet war. 3/691 An den Gouverneur der Provinz Aleppo Die Armenier aus den östlichen Provinzen, die dort in Ihre Hände geraten sind, sollten durch geheime Maßnahmen eliminiert werden. 5. Dezember 1915 Der Innenminister Talat (2) [21] Nach Erhalt dieses Telegramms wurden sofort Ermittlungen von der Polizei durchgeführt, und solche Personen wurden unter Bewachung den üblichen Deportationen unterworfen, damit jeder von ihnen beseitigt werden konnte. An den Gouverneur der Provinz Aleppo 723 Die Armenier, die früher in der Gegend um Aleppo angesiedelt waren, sollten ohne eine weitere Verzögerung in die Umsiedlungsgebiete deportiert werden. 16. Dezember 1915 Der Innenminister Talat Als Aleppo zu Beginn der Deportationen zu einem Umsiedlungsgebiet erklärt worden war, wurden viele Deportierte in den umliegenden Dörfern 194 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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untergebracht; und diese armen Menschen begannen in den Gebieten, in denen sie angesiedelt wurden, zu arbeiten, in der Hoffnung, dass sie von weiteren Maßnahmen verschont blieben. Nach dem Empfang dieses Telegramms wurde sowohl berittene als auch Feldgendarmerie aufs Land geschickt, die Tausende Menschen aus den Dörfern zusammentrieben, von denen viele dabei starben. (3) [22] An den Gouverneur der Provinz Aleppo 745 Es wurde berichtet, dass eine Reihe von armenischen Reportern sich dort in der Gegend aufhält, um diverse Katastrophen zu fotografieren und zu dokumentieren und um das Material dann dem amerikanischen Konsul zu übergeben. Solche schädlichen Personen müssen verhaftet und liquidiert werden. 24. Dezember 1915 Der Innenminister Talat Für solche Aufgaben wurden zivile Beamte beauftragt. Es gab ständig einen Beamten in der Umgebung des amerikanischen Konsulates, dessen Aufgabe es war, es zu überwachen. Es wurde berichtet, dass einer der Autoren der Tageszeitung Zhamanag, oder einer anderen Zeitung, einmal dort gesehen wurde. Die Bedeutung der Untersuchung dieser [Vorfälle] kann mit Worten nicht beschrieben werden. Letzten Endes wurde niemand festgenommen. An den Gouverneur der Provinz Aleppo 762 C. 15. Dezember 1915 Denjenigen Armeniern, die zum Islam konvertieren wollen, um die Umsiedlung zu vermeiden, muss gesagt werden, dass sie sich auch während der Deportation bekehren lassen können. 30. Dezember 1915 Der Innenminister Talat (4) [23] In der Zeit, als die Deportationen an Stärke zunahmen und jeden Tag Berichte über Tausende von Todesfällen eintrafen, meldeten sich verlorene Seelen bei den Behörden, die zum Islam konvertieren wollten und dachten: »Vielleicht werden wir gerettet, wenn wir Muslime werden«. 195 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

Die Bekehrung des einen oder anderen zum Islam wurde erlaubt. Als die Zahl der Anträge auf Konvertierung stieg, wurde das Ministerium um eine generelle Richtlinie zum weiteren Verfahren gebeten. Die folgende Antwort traf ein: An den Gouverneur der Provinz Aleppo 801 Es wurde beschlossen, dass die Armenier, die in allen Einrichtungen, im Eisenbahnbetrieb und im Bau beschäftigt sind, ebenfalls in die Umsiedlungsgebiete deportiert werden, und die Verordnungen, wie diese durchzuführen sind, wurden vom Kriegsministerium an die Armeekommandeure geschickt. Um Berichterstattung über die Resultate wird gebeten. 8. Januar 1916 Innenminister Talat Die Mehrheit der Beamten, die sowohl in den Bau- als auch in den Betriebsgesellschaften arbeiteten, waren Armenier. Die Regierung gab diesen Befehl aus Angst, dass die Armenier Verrat begehen könnten. Im Zusammenhang mit diesem Befehl wurde der Bahnkommissar um eine Liste mit den Namen der armenischen Angestellten gebeten. In dieser Angelegenheit bewiesen sowohl Hayri Bey, der Kommissar der Eisenbahnlinien, als auch Cemal Pascha große Menschlichkeit. Dessen ungeachtet muss die Ungerechtigkeit des Talat Pascha betont werden. Obwohl alle Eisenbahner armenisch waren, (5) [24] und trotz der Tatsache, dass die Armenier während der gesamten vier oder fünf Jahre der allgemeinen Mobilisierung Unterdrückung und Grausamkeiten ausgesetzt waren, haben diese Personen nichts anderes getan, als absolut treu zu dienen; es wurde kein einziger Vorfall auf oder in der Nähe der Bahnlinien gemeldet. An den Gouverneur der Provinz Aleppo 809 Es wird berichtet, dass entlang der Deportationsstrecken ausländische [Militär-]Offiziere die Leichen bestimmter bekannter Individuen gesehen und fotografiert haben. Ihnen wird mit größter Dringlichkeit geraten, diese Leichen sofort zu begraben und keine weiteren mehr im Freien liegenzulassen. 11. Januar 1916 Der Innenminister Talat 700 bis 800 Armenier starben jeden Tag [zu diesem Zeitpunkt] an Elend, Not und Krankheit. Ihre Leichen versanken im Schlamm, ihre Überreste 196 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A – DAS OSMANISCH-TÜRKISCHE ORIGINAL DER MEMOIREN

verstreut von den Aasvögeln, die sich an ihnen ergötzten; es war ein Zustand, der das menschliche Gewissen zermürbte. Den deutschen und österreichischen Offizieren entgingen diese Anblicke nicht, und sie schickten schriftliche Berichte in ihre Heimatländer. Talat Pascha hatte davon gehört und wollte seine Verbrechen unter einer Schaufel voller Dreck verstecken, sie begraben; aber selbst größte Umwälzungen zwischen Himmel und Erde können diese bitteren Katastrophen nicht aus den Erinnerungen verdrängen oder vergessen machen. (6) [25] Dieser Anblick von Gewissenlosigkeit zerriss nicht nur die Herzen der Christen, sondern auch die der Muslime. An den Gouverneur der Provinz Aleppo 820 Allen Parteien wird mitgeteilt, dass die Armenier, die demnächst aus dem Norden kommen werden, unter Umgehung von Dörfern, Städten und Gemeinden direkt an die Umsiedlungsorte weiterzuleiten sind. 17. Januar 1917 Der Innenminister Talat Das Ziel dieses Telegramms war es, sicherzustellen, dass die armenischen Deportierten auf den Straßen blieben und nicht in die Dörfer oder Städte gingen, um dort Hilfe und Unterstützung zu suchen. Wenn sie dann die Härten der Umsiedlung, Hunger und Elend nicht mehr ertragen konnten, würden sie auf den Straßen liegen bleiben. (7) [26] An den Gouverneur der Provinz Aleppo 830 Waisenkinder bestimmter bekannter Individuen, die nicht in der Lage sind, sich an das Geschehene mit ihren Eltern zu erinnern, müssen zusammengetrieben und versorgt werden. Der Rest soll mit den Deportationskolonnen verschickt werden. (25. Januar 1917) Der Innenminister Talat Ich halte es nicht für notwendig, dies ausführlich zu erläutern; der Inhalt des Telegramms ist eindeutig. Kinder, die sich nicht mehr an die Katastrophen erinnern konnten, die ihre Eltern erlebten, waren zwei, drei und vier Jahre alt. Das heißt, dass alle Kinder, die älter als vier waren, zum Tode verurteilt wurden. Und das war in der Tat ihr Schicksal. Was 197 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

geschah mit den Waisenkindern, die in das Waisenhaus in Meskene gebracht wurden? Sie sind alle tot, sie wurden alle ermordet. (8) [27] An den Gouverneur der Provinz Aleppo 840 Es wird festgestellt, dass 40.000 bis 50.000 Armenier – die meisten von ihnen verwitwete Frauen und elternlose Kinder – entlang der Bahnstrecke von Aleppo zu den Lagern in Intilli und Ayıran leben. Da die schwersten Strafen für diejenigen verhängt werden, die eine solche Konzentration von Armut und Elend auf den wichtigsten Kommunikations- und Transportwegen der Armee verursacht haben, wird erwartet, dass nach Rücksprache mit dem Provinzgouverneur von Adana [diese mittellosen Armenier] zügig in die Gebiete der Umsiedlung deportiert werden, ohne sie durch Aleppo zu führen. Die Ergebnisse [dieser Operation] sind innerhalb einer Woche zu melden. 29. Januar 1916. Der Innenminister Talat Er gibt es selbst zu: War diese Gruppe verlorener Seelen überhaupt noch in der Lage, irgendwas zu tun – eine Gruppe, die aus Frauen und Waisen bestand? Und sie blieben dort monatelang. Welche Art von Aktivitäten [dieser Personen] wurde beobachtet? Kann man vor diesen wenigen unglücklichen Seelen Angst haben? Nein, sie [Talat und das KEF] hatten keine Angst; sie hatten keinen anderen Gedanken im Sinn, als die Geschichte und die Zukunft der Türken zu beflecken, (9) [28] und darum zu kämpfen, jede Spur der Armenier auszulöschen. An den Gouverneur der Provinz Aleppo 845 Der Nachtrag zum Telegramm Nummer 840 vom 29. Januar 1917. Auch wenn es als schwierig angesehen wird, die in den Lagern von Intilli und Ayıran verbliebenen Armenier, die bis zum Abschluss der Bauarbeiten dort beschäftigt sind, abzuschieben, ist es nicht angebracht, ihre Familien dort zu behalten; sie [die Familien] sollten stattdessen vorübergehend in die umliegenden Gemeinden und Dörfer um Aleppo umgesiedelt werden und die übrigen Frauen und Kinder, die keine Vormunde oder Familie haben, sollen gemäß den vorherigen Anweisungen deportiert werden.

198 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A – DAS OSMANISCH-TÜRKISCHE ORIGINAL DER MEMOIREN

(10) [29] Die Familien dieser Personen waren in mehreren Deportationskolonnen nach Aleppo gebracht worden. Sie sollten (ursprünglich) in die Dörfer umgesiedelt werden. Ihre Namen wurden aufgenommen, Register erstellt, und die armen Schlucker sahen Grund zur Hoffnung. Diese Hoffnung war vergeblich. Zunächst wurden sie von der Polizei aus ihrer Bleibe vertrieben; dagegen reichten sie ihre offiziellen Anträge und Petitionen ein, und die [Beamten taten so, als ob] die Petitionen ernst genommen würden. Sie liefen von einem Amt zum anderen, und so vergingen die Tage. Es bestand nie die Absicht, die Petitionen zu bearbeiten, denn innerhalb weniger Tage befanden sich diejenigen, die sie eingereicht hatten, in den Fängen des Grauens und der Barbarei in Meskene. Diese armen beraubten Frauen und Mädchen fielen den lustvollen Wünschen der lokalen Bevölkerung oder der Gendarmen zum Opfer. Ihre Ehemänner, ihre Väter und ihre Brüder arbeiteten mit uns zusammen für das Wohl der Nation, während dort die Töchter und die Bräute dieser Männer geschändet und getötet wurden. (11) [30] Kaum hatte das Ministerium angeordnet: »Siedeln Sie die Familien solcher Personen in der Gegend um Aleppo an«, kam ein Telegramm, das diesen Befehl wieder zurücknahm. 860 An den Gouverneur der Provinz Aleppo C. 9. Februar 1917. Solche Personen müssen sofort in die Umsiedlungsgebiete deportiert werden, in der Gewissheit, dass ihre männlichen Angehörigen sich ihnen später anschließen werden. 15. Februar 1917 Der Innenminister Talat Wie seltsam. Man brauchte hier nicht um Erlaubnis zu fragen, ob diese Familien gehen oder bleiben sollten, denn das Innenministerium hatte angeordnet, dass diese Menschen in die Siedlungen und Dörfer um Aleppo umgesiedelt werden müssten. Der Befehl zur Abschiebung zeigt die Unkenntnis des Ministeriums über seine eigene Entscheidung – und dass jedes Mitgefühl innerhalb der Regierung mit den Armeniern (12) [31] verschwunden war.

199 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

An den Gouverneur der Provinz Aleppo 853 Während es unter den Flüchtlingen und gefallenen muslimischen Soldaten Tausende von Waisen und Witwen gibt, die Schutz und Unterstützung benötigen, besteht keine Notwendigkeit, unnötig Ressourcen für die verlassenen Kinder bestimmter bekannter Individuen aufzuwenden, die in Zukunft noch mehr Schäden und Probleme (für den Staat) verursachen werden. Diese Personen sollten – entsprechend der letzten Anweisung – mit den Deportationskolonnen nach Sivas geschickt werden. 5. Februar 1917 Der Innenminister Talat Was für eine entsetzliche Grausamkeit. Es sieht aus, als ob sie das letzte Stück Brot aus dem Mund einer Schar bedauernswerter, unschuldiger Seelen wegschnappen, deren einziges Verbrechen darin bestand, armenisch geboren worden zu sein. Ihnen wird das Existenzrecht verweigert. (13) [32] Es gab eine deutsche Dame, eine Menschenfreundin – ich glaube, ihr Name war Hoh –, die mithilfe anderer 100 oder 200 unschuldige Kinder um sich gesammelt hatte; sie forderte die Regierung auf, sich um diese Waisenkinder zu kümmern. Ein solches Mitgefühl ärgerte den Provinzgouverneur und erzürnte das Regionalbüro für Deportationen. Niemand wagte es, öffentlich etwas zu sagen. Diese barmherzige und mitfühlende Frau zeigte diesen Kindern die Barmherzigkeit, die nur deren Mütter ihnen hätten zeigen können; sie wollte, dass die Kinder leben. Die Regierung hat daraufhin einen Trick angewandt. »Diese Waisenkinder werden in Sivas zusammengebracht«, sagte sie. »Dort wird ein großes Waisenhaus eröffnet und für sie gesorgt«. Das Ziel war, diese armen Wesen unterwegs zu ermorden. Ich war derjenige, dem befohlen wurde, sie wegzuschicken und die ganze Sache zu leiten. Die Kinder sollten mit dem Zug, begleitet von einem speziellen Beamten, in Ereğli ankommen und wurden von dort aus in Kutschen nach Sivas geschickt werden. Ich sollte auf Ereğli stationiert werden. Zu diesem Zeitpunkt waren aber die zugewiesenen Gelder für das Amt für Siedlungswesen und Immigration erschöpft. Neue Gelder wurden erwartet, (14) [33] aber das hat sich verzögert, sodass die ganze Operation fehlschlug. Sieben oder acht Monate später wurden diese Kinder nach Istanbul gebracht. Wenn es in Talat Pascha, der Person, die diesen Befehl gab, nur einen Hauch von muslimischer Religiosität gegeben hätte, wäre er nicht 200 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A – DAS OSMANISCH-TÜRKISCHE ORIGINAL DER MEMOIREN

an der Tötung dieser beraubten und elternlosen Seelen beteiligt, dieser armen Wesen, die aufgrund seiner Befehle und seiner Grausamkeit zu Waisen geworden waren, deren Eltern Schlägen und Unterdrückung ausgesetzt waren. Wie wird sich die Menschheit an diesen Tyrannen erinnern, der die Geschichte einer großen Nation beschmutzt hat? An den Gouverneur der Provinz Aleppo 745 Auch wenn es nicht schadet, diese Telegramme aufzunehmen, die Beschwerden bestimmter bekannter Individuen enthalten, ist es nicht notwendig, Anfragen und Ermittlungen einzuleiten, die nur Zeitverschwendung wären; stattdessen sollten die Beschwerdeführer darüber informiert werden, dass sie ihre Rechte an den Orten der Umsiedlung geltend machen können. 22. Januar 1917 Der Innenminister Talat (15) [34] Der Grund für dieses verschlüsselte Telegramm ist folgender: Beschwerdetelegramme erreichten aus verschiedenen Orten die Büros des Provinzgouverneurs und die Behörde für Siedlungswesen und Immigration. Eine geheime Anweisung wurde geschrieben und an den Provinzgouverneur und die Direktion der Post und des Telegrafenamts in Aleppo geschickt, in dem sie angewiesen wurden, solche Telegramme nicht anzunehmen. Es scheint, dass der Generaldirektor an das Ministerium für Post und Telegrafie geschrieben hatte und das Ministerium wiederum Talat Pascha über das weitere Vorgehen angefragt hatte. Wäre der Schaden groß, wenn diese Briefe und Telegramme angenommen würden? Die Staatseinnahmen würden sich [wegen der Gebühren für die Telegramme] erhöhen, aber das war nicht wichtig, denn die Armenier hatten in diesem Land keine Rechte mehr, ihr Recht auf Leben war aufgehoben worden. Welche Auswirkungen könnten die Beschwerden der zum Tode Verurteilten haben? Diese Klagen waren wie Stimmen aus dem Grab. Die Regierung hatte Angst vor diesen Stimmen; es fiel ihnen schwer, sie zu hören. (16) [35] Kurz, es gab kaum einen, der angesichts dieser skrupellosen Verbrechen nicht geweint hätte.

201 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

Anhang 1-B – Die Passagen von Naim Efendis Memoiren, wie sie von Aram Andonian veröffentlicht wurden. In diesem Abschnitt sind die fehlenden osmanisch-türkischen Originalseiten von Naim Efendis Memoiren enthalten, wie sie von Aram Andonian veröffentlicht wurden. Um den Textfluss zu erhalten, haben wir Passagen, die wir im osmanisch-türkischen Original und in den Erklärungen von Aram Andonian haben, beibehalten. Naims Text ist in normaler Schrift, Andonians Erklärungen sind kursiv. In Klammern fettgedruckte Wörter sind Ergänzungen zu Naims Text, von Andonian zu Erklärungszwecken hinzugefügt. Wenn nicht besonders gekennzeichnet, stammen alle Fußnoten im Text aus dem Buch Andonians. Die Kapitelnummern sind daraus entnommen, sodass der Leser diese mit dem armenischen Text vergleichen kann. Wir haben uns erlaubt, einige von Andonians Fußnoten nicht aufzunehmen, weil diese sich auf andere Seiten in seinem Buch beziehen, was hier keinen Sinn ergeben hätte. Kapitel eins Naim Beys Erinnerungen beginnen in den Tagen der Vorbereitungen des Massakers von Ras-al-Ayn, einer Siedlung, die, auf den Ruinen des ehemaligen mesopotamischen Reiches (erbaut), aus knapp fünfzig von Tschetschenen errichteten Häusern bestand. Früher war er einer der unwichtigen Orte, der der Verwaltung von Zor unterstellt war; dank seiner Lage an der Bahnlinie nach Bagdad erlangte er plötzlich Bedeutung, und der Amtssitz des Kaymakam [Landrat], der zuvor im nahe gelegenen tschetschenischen Dorf Sefa war, wurde nach Ras-al-Ayn verlegt. Während der von Naim Bey erwähnten Zeit war der Kaymakam Yusuf Ziya Bey, der die ihm erteilten Befehle zum Massaker nicht ausführen wollte, und deswegen später aus dem Amt entfernt wurde. Naim Bey hat das Wort. Ich denke, dass die Frage der tragischen Deportation und Ermordung der Armenier die Bezeichnung Türke dem ewigen Fluch der Menschheit aussetzt und keinem der schrecklichen Vorfälle in der Weltgeschichte bis heute ähnelt. Egal, in welcher Ecke des Territoriums der Türkei gesucht wird, egal, welche dunkelste Höhle untersucht wird, Tausende von Leichen und Skeletten von Armeniern werden gefunden, die auf gnadenlose Art und Weise abgeschlachtet wurden. Ich hatte meine Arbeit im Deportationsamt noch nicht aufgenommen; ich war der Sekretär der Regie (Tabakmonopol-TA) in Ras-al-Ayn. Ich sah auf der anderen Seite des Dorfes eine Kolonne, bestehend aus 202 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-B – DIE PASSAGEN VON NAIM EFENDIS MEMOIREN

Hunderten von Frauen und Kindern, die am Ufer des Flusses herumirrten. Jeden Morgen kamen sie ins Dorf und bettelten. Manche trugen Wasser ins Dorf und versuchten, von dem Stück Brot zu leben, das sie dafür erhielten. Es war Sommer. Sie konnten sich vor der Sonne hinter den Felsen, in Gräben oder in den Spalten eines Erdhaufens Zuflucht verschaffen. Als der Winter kam, hörte man in der Stille der Nacht das Stöhnen derer, die wegen Kälte und Hunger im Sterben waren. Die tschetschenischen Einwohner des Dorfes hörten sie auch, aber dieses Rasseln der Qualen erreichte nicht ihr Gewissen oder ihre Seele. Ich werde die eine Nacht nie vergessen. Ich war im Haus des Kaymakam (Landrat-TA). Draußen tobte ein furchtbarer Sturm. Aus der Entfernung von zehn Gehminuten hörten wir die Wehklagen und das Stöhnen dieser armen Menschen. Die tschetschenischen Einwohner des Dorfes hörten diese Schreie, reagierten nicht darauf. Der Kaymakam, Yusuf Ziya Bey, war ein sehr anständiger und sorgsamer Mensch. Gemeinsam standen wir auf und gingen zum Haus des »Agha« (Großgrundbesitzer) und in einige andere Häuser im Dorf. Von dort holten wir zwei oder drei Zelte ab. Sie wurden mithilfe von zehn bis 15 Gendarmen und von einigen aus der Bevölkerung aufgebaut, dass diese armen Menschen zumindest einen Unterschlupf hatten. Ihr Tod war tragisch, aber der Anblick entwickelte sich zu einer unendlich schmerzvollen Szene, als Hunde ihre Leichen zerrissen. Sie waren die armen armenischen Vertriebenen, die Übriggebliebenen aus Sivas, aus Diyarbakır und Harput. Eine Million Menschen waren unterwegs, deportiert aus fünf oder sechs Provinzen. Bis sie ihre Verbannungsorte erreichen konnten, waren 100 bis 150 Frauen und Kinder aus jeder Marschkolonne übriggeblieben, was beweist, dass der Rest bei der Übersiedlung massakriert wurde. Während Naim Bey in Ras-al-Ayn war, waren Hunderttausende Deportierte aus der Umgebung von Istanbul und aus Kilikien dort nicht eingetroffen. Wenig später kamen sie langsam dort an, mit der Eisenbahn, andere zu Fuß, und bald kam der Befehl zu ihrer Vernichtung. Naim Bey setzt fort: Ich kam in Aleppo an. Das Schicksal hatte arrangiert, dass ich zum Chefsekretär von Abdulahad Nuri Bey ernannt wurde, der erst vor drei oder vier Tagen als Stellvertreter des Direktors des Regionalbüros für Deportationen in Aleppo angekommen war. Als ich in Ras-al-Ayn war, hatte ich sie zwar mit eigenen Augen gesehen, ich hatte das Ziel dieser Verbrechen nicht fassen können. Später erst konnte ich es im Ganzen begreifen. Als ich die geheimen verschlüsselten Botschaften registrierte, war ich erschüttert. Eine ganze Nation samt Frauen und Kinder war zum Tode verurteilt. Ich begann zu begreifen, dass es sich nicht um ein schlichtes Drama handelte, sondern 203 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

dass sich die Sache zu einer schrecklichen Katastrophe entwickelte. Die Entscheidung der Regierung, die als Siedlungsgebiete für die deportierten Armenier die Bezirke Maara, Bab und Aleppo bestimmt hatte, wurde revidiert und es wurden Befehle mit der Maßgabe erteilt, dass »das neue Siedlungsgebiet für Armenier das Gebiet entlang des Habur-Flusses ist« (bei Der Zor). Um diesen letzten Absatz von Naim Bey zu verstehen, muss man wissen, dass es sehr vielen aus den Gebieten wie Konstantinopel oder aus Gebieten entlang der anatolischen Eisenbahnlinie und aus Kilikien zuvor gelungen war, sich in Aleppo oder in den nahe gelegenen Ortschaften wie Ayaz, Kilis, Bab, Maara und Muncup niederzulassen. Ich weiß nicht, ob dazu eine Entscheidung des Staatsrates ergangen ist –, wie dem auch sei, die Deportierten, denen es in der Regel durch hohe Bestechungsgelder gelungen war, an den genannten Orten zu bleiben, wurden schnell von dort entfernt und zum Teil nach Ras-al-Ayn oder nach Der Zor geschickt, um dort massakriert zu werden. Für die Deportierten gab es keinen Ort des endgültigen Exils. Sie wurden ständig ohne Unterbrechung von einem Ort zum anderen geschoben. Es genügte bloß, dass sie weitergingen und dabei ausgelöscht wurden. …… .. Eines Tages, so Naim Bey weiter, schickte das Innenministerium das folgende Chiffretelegramm: »Die Vertreibung der bekannten Individuen dient zur Sicherung des zukünftigen Wohlergehens der Heimat, weil sie, wo immer sie sich niederlassen werden, nie auf ihre verfluchten Ideen verzichten werden; es ist notwendig, dafür Sorge zu tragen, dass ihre Zahl so weit wie möglich reduziert wird«.7

Dieses Telegramm kam im November des Jahres 1915 an. Acht Tage später, ohne die vom Gouverneur hinzugefügte Randnotiz, wurde es an Abdulahad Nuri Bey übergeben. In derselben Nacht, um 11:30 Uhr (türkische Zeit), eilten der Direktor des Regionalbüros für Deportationen, Eyüp Bey, und der Kommandant der Gendarmerie, Emin Bey, ins Büro Abdulahad Nuri Beys. Nuri Bey teilte ihnen sofort den Inhalt der empfangenen Befehle mit, und sie sprachen etwa eine Stunde lang miteinander. Das Thema ihrer Diskussion war, wie die Armenier vernichtet werden sollten. Eyüp Bey war für eine offene und direkte Vernichtung. Abdulahad Nuri Bey, der ein sehr gerissener und schlauer Mann war, lehnte diese Idee ab. Seiner Meinung nach war es am besten, die 7 In allen verschlüsselten offiziellen Mitteilungen über Deportationen und Massaker sowie damit zusammenhängende Aktivitäten wird für die Armenier in der Regel der Begriff »bekannte Individuen« verwendet.

204 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-B – DIE PASSAGEN VON NAIM EFENDIS MEMOIREN

deportierten Armenier dem Hunger und der Kälte des Winters zu überlassen und sie auf diese Weise zu töten, was in Zukunft dazu dienen würde, die These zu verteidigen und zu untermauern, dass die Armenier eines natürlichen Todes gestorben seien. Wenn 10.000 bis 15.000 vertriebene Armenier an einem Ort zusammengebracht würden, wären sie natürlich schnell Entbehrungen, Hunger und Krankheiten ausgesetzt. Später, wenn man sie plötzlich deportieren, sie in Marsch setzen würde, wären diese Menschen nicht in der Lage, Transportmittel zu finden; sie wären daher gezwungen, zu Fuß zu gehen, und sie würden auf den Straßen umfallen. Am Ende setzte sich seine Idee durch. Bis dahin mischten sich die Gendarmen in Aleppo nicht in die Angelegenheiten der Deportationsbehörde ein. Das Hauptquartier der Feldgendarmerie begann irgendwann, mit dem Polizeipräsidium zusammenzuarbeiten. Schnell entfalteten sich in Aleppo große Aktivitäten. Die Deportierten in Katma, in der Gegend von Kilis und um Aleppo wurden nach Akterin und von dort aus nach Bab geschickt. Es geschah, wie sie es sich ausgedacht hatten. Die Nachrichten von Hunderten von Menschen, die täglich an Hunger, Kälte und Krankheit starben, erreichten uns. Eyüp Bey ging nach Azaz. Bei seiner Rückkehr marschierte er lachend ins Büro. Er prahlte, wie er dort die Zelte anzünden ließ. Bab war voll. Typhus war ausgebrochen. Die Kaymakam, die verantwortlichen Beamten für Deportationen, schickten jeden Tag Berichte über Todesfälle. Der Tod traf nicht nur die Armenier, sondern auch die einheimische Bevölkerung. Eines Tages sagte ich zu Abdulahad Nuri Bey: »Bey Efendi, lassen Sie uns die Deportationen etwas verlangsamen, denn der Tod bedroht ganz Mesopotamien; bei diesem Tempo wird niemand mehr außer den Dämonen [tev‘s] in diesem riesigen Gebiet übrigbleiben. Auch der Landrat von Ras-al-Ayn will, dass die Transporte gedrosselt werden«.

Nuri Bey lachte. »Mein Sohn«, sagte er mir, »auf diese Weise zerstören wir zwei schädliche Elemente auf einmal. Sind es nicht die Araber, die gemeinsam mit Armeniern krepieren? Ist das etwa schlimm? Somit wird die Zukunft des Türkentums vorbereitet«.

Ich schwieg. Diese schreckliche Antwort ließ mich erschaudern. *** Was hat diesen Mann motiviert, dass er ohne Scheu und beherzt die Umsetzung eines so gnadenlosen und teuflischen Plans verfolgen konnte? Darüber lässt sich viel sagen. Doch allein die Kopie eines Befehls, der in den geheimen Papieren der Generaldirektion der Deportierten gefunden 205 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

wurde, reicht aus, um jene ungeheure Dreistigkeit zu erklären, mit der Nuri Bey die ihm anvertraute Aufgabe – die Arbeit an der generellen Vernichtung der Armenier – ausgeführt hat. Hier ist der Befehl. »Obwohl seitens der Regierung schon länger die Absicht bestand, die armenische Existenz zu vernichten, die seit Jahrhunderten versucht, die Fundamente unseres Staates zu zerstören, und daher eine große Plage für die Regierung darstellt, waren die (geeigneten) Voraussetzungen nicht geschaffen, weswegen diese heilige Absicht nicht verwirklicht werden konnte. Da jetzt alle Hindernisse [für diese Vorgehensweise] beseitigt sind und die Zeit gekommen ist, die Heimat von diesem gefährlichen Element zu befreien, ist es notwendig, bewusst und mit vollem Einsatz, ohne das Gefühl der Barmherzigkeit und ohne dem eigenen Mitgefühl nachzugeben, die Bezeichnung »Armenier« in der Türkei auszulöschen, indem man ihrer Existenz ein Ende setzt. Es ist dringend darauf zu achten, dass die Beamten, die bei diesem Unternehmen eingesetzt werden, Personen von größter Ehre und Anstand sind, um dieses Ziel zu erreichen. Der Innenminister«

Dies ist die Kopie eines Telegramms; es wurde unter den geheimen Papieren des stellvertretenden Direktors gefunden. Es gibt keine Hinweise darauf, wann es angekommen ist oder an wen es geschrieben wurde. ……… .. Diese furchtbaren Massaker und Ereignisse, die in Naim Beys Memoiren festgehalten werden, fanden vor allem nach der Ernennung von Mustafa Abdülhalik Bey zum Generalgouverneur von Aleppo statt. Zu Anfang, so Naim Bey weiter, gab es in der Direktion des Regionalbüros für Deportationen eine Sonderkommission, unter deren Federführung die Deportationen (in die Wüste) organisiert wurden. Solange diese Arbeit in den Händen dieser Kommission blieb, waren die Deportierten von Überfällen und Repressalien verschont geblieben. Die Regierung, die bald erkannte, dass die von ihr verfolgten Ziele nicht auf diese Weise erreicht werden konnten, ließ den Gouverneur (Bekir Sami Bey) aus seinem Amt zurücktreten und schickte an seiner Stelle Mustafa Abdülhalik [Renda] Bey, der für die Realisierung der Ziele der Regierung besser geeignet war. Dieser Mann war ein Feind der Armenier und versuchte als türkischer Nationalist, die armenische Nation zu vernichten. Die Befehle, die er dem Regionalbüro erteilte, waren so hart, dass seine Absichten, die Armenier zu vernichten, sehr deutlich wurden. Einige armenische Abgeordnete des osmanischen Parlamentes, wahrscheinlich erst nach tausendfachem Begehren, erhielten vom Innenministerium die 206 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-B – DIE PASSAGEN VON NAIM EFENDIS MEMOIREN

Erlaubnis, dass ihre Familien in Aleppo bleiben durften. Das Ministerium schickte dem Gouverneur die dazu notwendigen Anweisungen, aber er verheimlichte den Familien diese Befehle und ließ diese Familien trotzdem in die Wüste deportieren. Ich kenne 15 bis 20 Familien, deren Aufenthalt in Aleppo angeordnet worden war, die der Gouverneur aber in die Wüste geschickt hatte. Die Regierung hatte diesem Gouverneur Abdulahad Nuri Bey als Assistenten beigeordnet, als stellvertretenden Direktor des Regionalbüros für Deportationen. Nuri Bey war ein äußerst gerissener und von Natur aus grausamer Mensch und vor allem von feindseligsten Gefühlen gegen Armenier beseelt. Die Katastrophe und das Elend der Armenier, die Berichte über aufeinanderfolgende Todesfälle, erfüllten ihn so sehr mit Freude, dass er in eine Art Rauschzustand geriet. Er war sehr glücklich, denn all das war das Ergebnis seiner Befehle. Er erzählte, die Regierung wolle nicht, dass diese Menschen am Leben blieben. Er berichtete, dass der Staatssekretär des Innenministers ihm, als er in diese Position berufen wurde und nach Aleppo gehen sollte, geraten habe, sich, bevor er abreiste, mit Talat Pascha zu treffen. Nuri Bey ging zur Hohen Pforte. Der Pascha hatte mehrere Gäste. »Wann wirst du abreisen?«, habe er Nuri gefragt. Danach sei er von seinem Platz aufgestanden, habe ihn in die Nähe des Fensters mitgenommen und mit leiser Stimme gesagt: »Natürlich weißt du, was deine Arbeit dort sein wird. Von nun an will ich diese Verfluchten (Armenier) nicht mehr lebend in der Türkei sehen«.8

Cemal Pascha befahl, fünf oder sechs armenische Familien (sie waren Kutscher), die mit ihren Wagen in Intilli arbeiteten, nach Damaskus zu verlegen. Der Gouverneur übermittelte diesen Befehl an Nuri Bey und fügte ihm die folgende Notiz dazu: »Braucht diese mächtige Regierung, die Hunderttausende von Armeniern deportiert, die alten, gebrechlichen Kutschen einiger Armenier, die dadurch von der Deportation (in 8 Ihsan Bey, der ehemalige Kaymakam von Kilis und dann von Zahle, der zu diesem Zeitpunkt Direktor des Sondersekretariats des Innenministeriums in Konstantinopel war, bestätigte in seinen Erinnerungen diese Aussage Naim Beys. Ihsan Bey gab eine Erklärung von ähnlicher Bedeutung bezüglich dieser Worte von Abdulahad Nuri Beys ab, und seine Erklärung wurde in der Anklage des Prozesses gegen die Partei für Einheit und Fortschritt (KEF) wie folgt wiedergegeben: »Ihsan Bey sagt, dass Abdulahad Nuri Bey, der von Konstantinopel nach Aleppo geschickt worden war, versucht hatte, ihn davon zu überzeugen, dass das Ziel der armenischen Deportation die Vernichtung der Armenier war – er hätte Talat Bey getroffen und von ihm persönlich den Befehl zur Vernichtung erhalten, für die Rettung des Landes«. (Verhörunterlagen, S. 15)

207 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

die Wüste) ausgenommen werden, weil einer sie nach Damaskus beordert?«. Er war sehr sauer.9 Abdulahad Nuri Beys Stellvertreter und gleichzeitig auch bester Kumpel war sein direkter Untergebener, Eyüp Bey, ein blutrünstiger und korrupter Mann. Er hat immer gearbeitet, um zu töten, aber vor allem, um auszurauben. Nachdem er das Regionalbüro für Deportationen mit einem riesigen Eigenvermögen verlassen hatte, übernahm er Transportund Bauauftragsarbeiten. Dieser Mann, der dank des enormen Vermögens, das er von den Armeniern geplündert hatte, reich war, hatte noch nie etwas Gutes für einen Armenier getan. Geld war seine Religion und sein Gewissen zugleich. Er hatte die Grausamkeiten gegen die Armenier nicht im Sinne eines nationalen Ideals begangen. Er hatte die für die Versorgung und den Transport der deportierten Armenier bereitgestellten Summen weitgehend für sich beansprucht, dadurch vervielfachte er deren Hunger und Elend.10 Durch die Befehle dieser beiden Personen, des Gouverneurs von Aleppo, Mustafa Abdülhalik Bey, und des stellvertretenden Direktors des Büros für Deportationen, Abdulahad Nuri Bey, kamen die ganzen Deportationen so richtig ins Rollen. Damit auch die Tötungen. Ein neuer und schrecklicher Befehl, der vom Innenministerium nach Aleppo kam, gab ihnen alle Freiheiten zum Töten. Die brauchten einen diesbezüglichen Befehl schon lange nicht mehr. Dies ist die Kopie der geheimen Mitteilung des Innenministeriums an den Gouverneur von Aleppo, vom 22. September 1915: »Die Armenier haben kein Recht mehr, auf türkischem Boden zu leben und zu arbeiten, da diese Rechte abgeschafft worden sind. Die Regierung übernimmt für diese (Situation) die gesamte Verantwortung: Nicht mal ein einziger von ihnen soll übrigbleiben – nicht einmal die Kinder in der 9 Abdulahad Nuri Bey ließ sich nie bestechen. »Ich mag zwar Bestechungsgelder«, sagte er gewöhnlich, »aber ich habe Angst, sie anzunehmen. Ich fürchte, dass anstelle des Geldes, das in meine Tasche fließt, ein Armenier, ein einzelner Armenier, entkommt«. 10 Die Regierung, die zu Beginn der armenischen Deportationen sehr vorsichtig agierte, stellte jedem Deportierten einen Kredit aus, um das wahre Ziel der Deportation zu verschleiern. Da das Eigentum und der Reichtum der deportierten Armenier beschlagnahmt worden waren, wurde dieser Kredit aus dem daraus entstandenen Vermögen entnommen. Aber das war eine formale Angelegenheit, sie gaben einmal am Tag und das auch nur an wenigen Stellen, und für eine sehr kurze Zeitperiode, jedem deportierten Armenier ein Stück Brot und hörten damit später ganz auf. Die türkischen Beamten, die die Deportationen überwachten, hatten die zugeteilten Summen ohnehin weitgehend an sich gerissen.

208 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-B – DIE PASSAGEN VON NAIM EFENDIS MEMOIREN

Wiege; die Umsetzung dieser wirkungsvollen Maßnahmen sind in einigen Provinzen mit durchschlagendem Erfolg durchgeführt worden. Trotz dieser Anordnung sind einige Personen aus der Geheimhaltung unterliegenden Gründen vorübergehend außergewöhnlich gut behandelt und nicht direkt zu ihren [endgültigen] Umsiedlungsorten deportiert worden; sie können stattdessen in Aleppo spazieren gehen, sodass die Regierung nun vor einer weiteren Schwierigkeit steht. Anscheinend setzen sich bei einigen, als Folge der Ignoranz, die materiellen Interessen gegen den Patriotismus durch. Die Menschen, die die Politik der Regierung in dieser Frage nie verstehen werden, müssen unbedingt daran gehindert werden, diese bekannten Individuen zu schützen oder ihr Leben zu retten. Hinsichtlich der Ausschaffung dieser Personen ist keine Entschuldigung oder Ausnahme zu akzeptieren, sei es für Frauen, Kinder oder Personen, die nicht mal stehen oder gehen können. Sie dürfen keine Zeit verlieren: Arbeiten Sie mit Ihrer ganzen Seele und Ihrem Wesen, denn die Gewalt und die Schnelligkeit (şiddet ve hız), die Sie demonstrieren, [und] die Vernichtung [solcher Personen] durch die Härten der Deportation und durch lebensbedrohliche Entbehrungen, die an anderen Orten Helfer ausgeführt haben, können dort ohne [solche] Mittelsmänner realisiert werden. Das Kriegsministerium hat den Armeekommandanten den allgemeinen Befehl erteilt, sich nicht in die Deportationen einzumischen. Benachrichtigen Sie die Beamten, die in diesem Dienst tätig sind, dass sie sich nicht mit [der Frage der] Verantwortung befassen müssen, sondern sich nur noch darum zu bemühen [haben], das wahre Ziel [der Operation] zu erreichen. Bitte seien Sie so freundlich und melden Sie uns wöchentlich verschlüsselt die Resultate Ihrer Bemühungen. Der Innenminister Talat« Durch diesen Befehl hatte die Leitung des Regionalbüros des Deportationsamtes in Aleppo auf Anordnung des Gouverneurs die Ermächtigung, alle möglichen Operationen durchzuführen. Der Sinn, alle Vorgänge der Deportationen in die Hände einer einzigen Person zu legen, bestand darin, dass die Befehle zur Durchführung der Barbarei so weit wie möglich geheim bleiben sollten; womit die Verbrechen stillschweigend begangen wurden, ohne, dass Gerüchte dar­über entstehen konnten. Der berüchtigte Berggipfel Karlık, zwanzig Minuten von Aleppo entfernt, war die allgemeine Sammelstelle für zu Deportationen vorgesehene Personen. Von hier aus wurden sie in die Wüste geschickt. Das Leben der Armenier dort lag in den Händen eines Korporals der Gendarmerie und eines Beamten des Deportationsamtes. 209 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

Für diejenigen, die den Weg aus Aleppo nach Karlık hinter sich hatten, gab es keine Hoffnung mehr aufs Überleben. Die gesamte Strecke von Karlık bis nach Der Zor war zum Inbegriff der Not, war in einen Friedhof verwandelt worden. Die verlässlichen Beamten, die mit der Abschiebung der Flüchtlinge beauftragt wurden, sollten sich auf keinen Fall zurückhalten, Grausamkeiten zu verüben, die den Tod verursachen. Das beweisen die beiden folgenden Telegramme, die beide von Innenminister Talat Bey gesendet wurden. Das erste Telegramm: »An den Generalgouverneur von Aleppo Wir hören, dass einige Beamte dem Kriegsgericht überstellt wurden, unter dem Vorwurf, bekannte Individuen (Armenier) geplündert und schwer misshandelt zu haben. Dieses, egal ob es sich dabei um eine Formalität handelt oder nicht, kann die Verwegenheit anderer Beamten verringern. Aus diesem Grund befehle ich, dass solche Ermittlungen nicht mehr erlaubt sind.11 Der Innenminister Talat«

Das zweite Telegramm: »An den Generalgouverneur von Aleppo Die Berücksichtigung von Beschwerden und Klagen bekannter Individuen (Armenier) in persönlichen Angelegenheiten sind nicht nur die Ursache für die Verzögerung ihrer Deportation (in die Wüste), sondern ebnen auch den Weg für weitere Schritte, die wahrscheinlich in Zukunft zu politischen Unannehmlichkeiten führen können. Aus diesem Grund dürfen diese Beschwerden nicht berücksichtigt werden und entsprechende Anweisungen sind den zuständigen Beamten zu erteilen. Der Innenminister Talat« 11 An einer der Stationen entlang der Euphratlinie war der Müdür von Abu­ harrar, Korporal Rahmeddin, zu einem Schrecken für die sich dort aufhaltenden Deportierten geworden. Dieser Korporal schien unzertrennlich von seinem schrecklichen Knüppel zu sein, mit dem er ständig Menschen tötete. Er wurde nach zahlreichen Protesten nach Aleppo berufen, zu einem solchen Prozess vor einem Kriegsgericht. Nach diesem Telegramm wurde er jedoch sofort wieder auf seinen Posten zurückgeschickt, ohne weitere Ermittlungen. Bei seiner Rückkehr, als er durch Meskene ging, um nach Abuharrar zu gelangen, schoss er mit seinem Revolver auf die Deportierten und schrie: »Du hast protestiert, und was ist passiert? Schau, ich gehe wieder in mein Büro«. Es versteht sich von selbst, dass die Barbarei dieses Mannes, den die Deportierten »Knochenbrecher« nannten, nach seiner Rückkehr noch größere Ausmaße annahm.

210 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-B – DIE PASSAGEN VON NAIM EFENDIS MEMOIREN

Da gelegentlich die Beschwerdebriefe der Vertriebenen gegen diverse Beamte auch beim Gouverneur und im Regionalbüro des Deportationsamtes eintrafen, befahl ein weiteres Telegramm des Innenministers, diese Art von Protestschreiben anzunehmen, aber sie nicht weiter zu berücksichtigen. Der Gouverneur von Aleppo schickte daraufhin eine geheime Anweisung an die Postdirektion der Stadt, Beschwerdetelegramme von deportierten Armeniern nicht mehr anzunehmen. Es scheint, dass der Direktor der Postverwaltung von Aleppo eine Anfrage um weitere Klärung in dieser Angelegenheit an das Postministerium in Istanbul gestellt hatte, und auf dieses Ersuchen hin hatte das Innenministerium das oben erwähnte Telegramm gesendet. Wenn ein Verzweifelter, dessen Familie und Kinder auf den Straßen geschlachtet wurden, dessen Tochter ihm gewaltsam entführt [und] ihre Ehre befleckt wurde, mit Mühe und Not eine Stadt erreichen konnte und seinen beklagenswerten Zustand mittels eines Telegramms offenbaren und um Hilfe ersuchen wollte, wurde er von den Beamten im Telegrafenamt zurückgewiesen. Aber das waren Proteste der zum Tode Verurteilten; sie ähnelten Stimmen aus einem Grab. Die Regierung hatte Angst vor diesen Stimmen. Sie zu hören war für die Regierung eine Art Folter. Sie wollte sie nicht mehr hören. Kapitel zwei Naim Bey schreibt: Als die Deportierten noch per Bahn nach Ras-al-Ayn geschickt wurden, teilte Kaymakam Yusuf Ziya Bey mit, dass fortan kein Platz mehr vorhanden sei, um Armenier in Ras-al-Ayn unterzubringen, dass jeden Tag 500 bis 600 Deportierte starben, [und] dass sie keine Zeit mehr fänden, die Lebenden weiter in den Süden zu schicken und die Toten zu begraben. Yusuf Ziya Bey bat darum, die Deportationen nach Ras-al-Ayn einzustellen. Es wurde wie folgt beantwortet: Beschleunigen Sie die Deportationen; in diesem Fall werden diejenigen, die nicht in der Lage sind zu laufen, einige Stunden von der Stadt entfernt umfallen und sterben. So kann der Bezirk [kaza] sowohl von den Lebenden als auch von den Toten erlöst werden. Aus den letzten Berichten des örtlichen Deportationsbeamten und des Kaymakams geht hervor, dass im Laufe von vier Monaten zwischen 13.000 und 14.000 Armenier an Hunger und Krankheiten starben. ......

211 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

Ein Befehl folgte auf den anderen. Allerdings konnten die strengen Anordnungen Abdulahad Nuri Beys an den Deportationsbeamten von Rasal-Ayn nicht ausgeführt werden. Aber es ist besser, wenn Naim Bey selbst diese Vorfälle erzählt. Die Befehle aus Aleppo an den Deportationsbeamten Ras-u-Ayn, so schrieb er in seinen Memoiren, wurden nicht ausgeführt. Der stellvertretende Direktor für Deportationen in Aleppo fand heraus, dass der Gouverneur von Der Zor, Ali Suat Bey, derjenige war, der die Armenier nicht in die Wüste schickte. Abdulahad Nuri Bey berichtete über die Lage an Generalgouverneur Abdülhalik Bey, der Ali Suat Bey sofort chiffriert befahl: »Tausenden von Armeniern zu erlauben, in Ras-al-Ayn zu bleiben, widerspricht dem heiligen Ziel unserer Regierung. Vertreiben Sie sie sofort von dort!«. Ali Suat Bey antwortet: »Da ich keine Transportmittel habe, kann ich sie nicht vertreiben. Wenn es das Ziel der Regierung ist, diese Menschen zu töten, kann ich es weder selbst tun noch anderen befehlen, dies zu tun«. Daraufhin schickte Mustafa Abdülhalik Bey dieses Telegramm des Gouverneurs von Der Zor weiter nach Istanbul, an das Innenministerium, und fügte dazu einen Bericht über Ali Suat Bey bei.12 …. Der neue Kaymakam von Ras-al-Ayn entwickelte sich zu einem wunderbaren Werkzeug in den Händen der Hyänen von Aleppo. Es gab keinen Widerstand mehr gegen sie, weil es ihnen auch gelang, Ali Suat Bey, den Gouverneur von Der Zor, zum Rücktritt zu bewegen. Am 17. März begann Kerim Refii Bey mit den Deportationen. Diese Aufgabe wurde den Tschetschenen anvertraut, an deren Spitze der Gemeindedirektor, Arslan Bey, stand, über den Naim Bey in seinen Memoiren ausführlich berichtete: Aus den Tschetschenen in Ras-al-Ayn wurde eine Bande zusammengestellt, um die Deportierten aus dem Ort während ihres Marsches vor Angriffen zu schützen. Diese angebliche Schutztruppe wurde auch mit Waffen ausgestattet. Diese Männer hatten aber einen einzigen Auftrag: Die Deportierten auf der Strecke zu berauben und zu töten. Die Tötungsbefehle an diese Bande aus Ras-al-Ayn kamen direkt aus Aleppo. Einige der Banditen waren nach Aleppo gekommen und hatten sich mit dem Generalgouverneur Mustafa Abdülhalik Bey getroffen.13 12 Den vollständigen Bericht, den Naim erwähnt, finden Sie im Anhang 1-A, im osmanisch-türkischen Original der Memoiren: Naim Efendi: Hatırat [Memoiren], a.a.O., [13]. 13 Unter ihnen war Arslan Beys Bruder, Hüseyin Bey, der nach dem Tod von Arslan Bey (Anfang 1917) ihm als Direktor des Stadtteils Ras-al-Ayn folgte.

212 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-B – DIE PASSAGEN VON NAIM EFENDIS MEMOIREN

Vier oder fünf Tage nach ihrer Rückkehr meldete der Kaymakam von Ras-al-Ayn (Kerim Refii Bey) durch eine chiffrierte Botschaft, dass sie zurückgekommen waren und er die Anweisungen erhalten hatte. Die Massaker folgten praktisch den Deportationen. Sie fanden an Orten in der Nähe des Ausgangspunktes statt. Vor allem an den Ufern von Cırcıb und auf der Straße, die nach Şeddadiye führte, wurden die Vertriebenen massakriert. Die Armenier wurden Gruppe für Gruppe auf brutalste Weise ermordet. Manchmal gelang es einigen zu entkommen; sie kamen nach Ras-al-Ayn-es zurück, denn eine andere Fluchtrichtung gab es nicht – [und] sie erzählten über furchtbare Zustände. Die Menschen, die diesen Geschichten lauschten, erfuhren über die schrecklichen herzzerreißenden Emotionen, über den Schrecken, dem die armen wehrlosen Menschen ausgesetzt waren. Sie wurden mit Peitschenhieben, Gewehrkolben, Stöcken und Knüppeln zu diesen Schlachthöfen getrieben; alle, Jugendliche, Kranke und Kinder. … … Kapitel drei … Die Regierung hatte anfänglich ein sehr vorsichtiges und umsichtiges Verhalten bezüglich der Deportationen der Armenier an den Tag gelegt. Sie wusste immer noch nicht, mit welchem Ergebnis der Krieg enden würde. Aus diesem Grund bemühte sie sich, den Schein zu wahren und das eigentliche Ziel der Deportationen zu verschleiern. Als sie jedoch Sicherheit über den Sieg erlangte, sah sie die Notwendigkeit dieser Dissimulation nicht mehr ein und schickte direkte Befehle zur generellen Vernichtung der Armenier. Aus diesem Grund wurde der zuvor erteilte Befehl, der den armenischen Deportierten den Aufenthalt in der Umgebung von Aleppo ermöglichte, aufgehoben.14 Die beiden Brüder spielten auch eine große Rolle bei den Massakern von Deyr-i Zor. Hüseyin Bey pendelte ständig nach Aleppo und zurück, um die Gegenstände zu verkaufen, die er und sein Bruder mit ihrer Bande den Deportierten geraubt hatten. Weder die Kranken und die Alten noch die Kinder wurden verschont. 14 Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, dass der Befehl zur allgemeinen Abschiebung der Armenier erteilt wurde, nachdem Marschall Makensen die russische Front durchbrach; dadurch erschien der türkischen Regierung die Zerstörung Russlands und damit auch der endgültige Sieg gesichert.

213 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

Allerdings hatten im Laufe der Zeit viele Armenier, vor allem durch Bestechung,15 die Städte Bab, Maara, [und] Muncup und die Dörfer in deren Umgebung besiedelt. Darüber hinaus lebten die Vertriebenen entlang der Euphrat-Linie bis Der-es-Zor in Meskene, Dipsi, Abuharrar, Hamam, Rakka und in Sebka. Nach der Gründung der sogenannten Yıldırım-Armee sollten alle Armenier aus diesen Regionen nach Der-esZor getrieben und massakriert werden. Naim Bey: Als der Befehl kam, die Armenier, die zuvor in den Dörfern um Maara, Bab und Aleppo angesiedelt waren, zu vertreiben, schrieb Naim Bey, wurden den Kaymakams Befehle erteilt, die so gnadenlos waren, dass es einem kaum möglich war, die Tränen beim Lesen zu unterdrücken. Von Aleppo aus wurde den Gendarmen befohlen, auf den Straßen dafür zu sorgen, dass die Armenier möglichst hungrig und durstig marschieren mussten, um die Zahl der Deportierten so weit wie möglich zu reduzieren. Die Kopie der geheimen Botschaft Nummer 344: »Nr.344 Ich bin zuversichtlich, dass Sie das Vertrauen, das das Gouverneursbüro in Sie setzt, sowie die Bedeutung der Aufgabe, die Ihnen das Gouverneursbüro auf der Grundlage dieses Vertrauens übertragen hat, zu würdigen wissen. Sie dürfen nicht zulassen, dass ein einziger Armenier in Bab zurückbleibt. Die Kraft und Entschlossenheit, die Sie in den Abschiebungen zeigen werden, kann das angestrebte Ziel sicherstellen. Achten Sie darauf, keine Leichen auf der Straße oder im Freien liegenzulassen. Sie sollten uns über den maximalen Lohn informieren, der den Personen, die Sie zu diesem Zweck beschäftigen, gezahlt wird. Beschäftigen Sie sich nicht mit der Anschaffung von Transportmitteln, die können zu Fuß gehen. Die wöchentliche Liste der Toten ist nicht zufriedenstellend. Daraus wird ersichtlich, dass diese Personen dort noch recht angenehm leben. Abschiebungen sind keine Ausflüge. Beschwerden und Schmerzensschreie sollten nicht beachtet werden. Die notwendigen Mitteilungen wurden von der Provinzregierung an das Büro des Landratsamtes geschickt. Sie sollten bei diesem Unternehmen mehr Anstrengungen zeigen. Abdulahad Nuri« Muharrem Bey war der ehemalige Polizeichef von Bagdad und der blutrünstigste unter den für die Deportationen ausgesuchten Beamten. 15 Allein in Aleppo sammelten 100 bis 200 Menschen großen Reichtum, indem sie Bestechungsgelder annahmen oder als Vermittler für Bestechungsgelder dienten, um den armenischen Deportierten eine befristete Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen.

214 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-B – DIE PASSAGEN VON NAIM EFENDIS MEMOIREN

Die ihm anvertraute Arbeit war sehr wichtig, und damit er mit der Zeit durch andere Verlockungen gegenüber den Vertriebenen nicht weich werden konnte, erhielt er ein monatliches Gehalt von 150 Goldmünzen. Dieser Mann führte sehr große Deportationen durch. Er allein sorgte dafür, dass Tausende Armenier auf den Marschrouten gnadenlos getötet wurden. Abdulahad Nuri Bey stellte diesem grausamen Mann als Mitstreiter einen Hauptmann der berittenen Gendarmerie zur Seite und schickte mit ihm die folgende Anweisung an Muharrem Bey: »Der Landkreis Bab wird für die während der Evakuierung der Armenier angewandten Zwangsmaßnahmen nicht verantwortlich gemacht. Abdulahad Nuri« Dieser Hauptmann, der fünf bis zehn weitere Gendarmen mitbrachte, scheute sich nicht davor, alle möglichen Verbrechen zu begehen. Gemäß dieser letzten Anweisung wurden alle Armenier in Bab innerhalb von 24 Stunden aus der Stadt vertrieben. Sie konnten die Stadt verlassen, wohin sie wollten. Egal wohin, diese Vertreibung bedeutete ihren Tod. Es war Winter, und sie wurden nackt vom Kopf bis zu den Zehen in Marsch gesetzt. Sie fielen bald um und starben am Straßenrand. Von Bab bis nach Meskene füllten sich die Felder entlang der Straße mit den Leichen der Armenier. Nicht mal eine Handvoll Erde bedeckte ihre Körper. Als die Regierung erfuhr, dass die Leichen im Freien liegengelassen worden waren, geriet sie in Panik. Als sie dann noch erfuhr, dass diese Leichen von Ausländern gesehen wurden, befahl die Regierung, sie zu begraben. Spaten und Hacken wurden organisiert. Totengräber wurden mobilisiert. Auf diese Weise sollten die Spuren der Verbrechen vertuscht werden. Alle 15 Tage wurde die Zahl der Toten nach Istanbul gemeldet. Dies zeigt auch, dass das Deportationsamt mit einer völlig kriminellen Absicht eingerichtet worden war. Dennoch war Abdulahad Nuri Bey noch nicht zufrieden. Die Entsendung der Deportierten wurde immer noch nicht mit der von ihm geforderten Geschwindigkeit durchgeführt. … Es waren Tage des wahren Grauens, schreibt Naim Bey weiter: Die Regierung forderte die Vernichtung des Lebens und der Würde der Armenier. Fortan blieb ihnen das Recht zu leben, das Recht zu existieren, nicht mehr erhalten. Talat Pascha schrieb: »Diejenigen, die die Existenz der Armenier sicherstellen wollen – der Armenier, die seit Jahrhunderten zu einem Drangsal für die Türkei geworden sind und zuletzt versuchten, das gesamte Osmanische Reich im Blut zu ersticken –, müssen unter einem falschen Vorwand als Verräter des Vaterlandes bestraft werden; bitte informieren Sie heimlich die dafür zuständigen Beamten.« 215 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

In diesem Teil seiner Memoiren hat Naim Bey eine Reihe von Ereignissen festgehalten, die zeigen, welche Auswirkungen diese aufeinanderfolgenden kriminellen Anweisungen des Innenministeriums auf die Armenier hatten. Wir geben einige Beispiele aus diesen Ereignissen wieder. Zu einem Zeitpunkt, als Typhus sich ausbreitete, schreibt Naim Bey, ist auch die Zahl der Deportationen aus Aleppo stark gestiegen. Die Polizei und die Gendarmen zerrten die Armenier, die keinen anderen Zufluchtsort als Gott hatten, aus den Häusern hinaus. Sie wurden mit Seilen festgebunden und geschleift, als wären sie Schweine. So wurden die armen Armenier vertrieben. »Eines Tages beschwerte sich ein armer Hilfsbedürftiger mit einer Petition, dass seine ganze Familie, infiziert mit Typhus, auf die Straße geworfen, in Güllewagen gelegt und raus aus der Stadt, nach Karlık, gebracht worden sei. Der arme Mann flehte uns an und weinte: Er bat darum, wenigstens noch zehn Tage in der Stadt bleiben zu dürfen. Der Unglückliche wusste nicht, dass er zum Tode verurteilt war. Niemand hatte Mitleid mit ihm. Während meiner Amtszeit wurden etwa 10.000 Petitionen von armenischen Deportierten an unser Büro gerichtet. Ich habe es nicht erlebt, dass vielleicht zehn von ihnen gelesen wurden.« … … Einer namens Ardaşes wurde als eine verdächtige Person denunziert. Sie haben lange nach ihm gesucht, ihn aber nicht gefunden. Schließlich verhafteten sie seinen Bruder und schickten ihn unter Bewachung weg, und auf der Strecke töteten sie ihn, den unschuldigen Mann. Nachdem ich Zeuge Tausender solcher Dramen in Aleppo geworden war, wurde ich als Deportationsbeamter nach Meskene geschickt. Als ich ging, rief mich Eyüp Bey zu sich. »Naim Bey«, sagte er, »wir haben bis jetzt schlechte Erfahrungen mit den Deportationsbeamten, die wir nach Meskene geschickt hatten, gemacht. Sie sind in der Sache drin, Sie kennen die Befehle, die gegeben wurden. Sorgen Sie dafür, dass diese Menschen (die Armenier) nicht am Leben bleiben: Wenn nötig, töten Sie sie mit Ihren eigenen Händen. Und sie zu töten, macht Freude«. Ich ging nach Meskene. In Abuharrar erfuhr ich von den Verbrechen eines Gendarmerie-Korporals. Ich blieb zwei Monate dort. Ich habe nur einmal eine Deportation der Vertriebenen durchgeführt. Es waren insgesamt 30 Personen, die ich deportiert habe. Bevor ich Aleppo verlassen hatte, war das folgende Telegramm aus Istanbul gekommen. 216 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-B – DIE PASSAGEN VON NAIM EFENDIS MEMOIREN

Kopie des verschlüsselten Telegramms vom 14. Dezember 1915, geschickt aus dem Innenministerium an den Gouverneur der Provinz Aleppo: »Die wichtigste Zielgruppe, deren Vernichtung erreicht werden sollte, ist der religiöse Klerus. Es wäre ein großer Fehler, ihnen (den Angehörigen des Klerus) die Erlaubnis zu erteilen, in gefährliche Gebiete wie Syrien und Jerusalem zu reisen und sich dort niederzulassen. Der beste Ort der Ansiedlung für diese Personen, deren Charakter dazu neigt, sich böswillig gegen die Regierung zu verschwören, ist der Ort, an dem sie ausgerottet werden. Der Innenminister Talat« Als ich in Meskene arbeitete, war der frühere Prälat von Nikomedia [Izmit] dort. Er hatte sich in ein kleines Zelt zurückgezogen und meditierte über sein Schicksal. Er würde denen, die zu ihm kommen würden, sagen, dass dieses Unglück von Gott kommt, und er würde jedem raten, keine Sünde zu begehen. Es ist nicht klar, wie dieser Mann, der niemandem auf der Welt Schaden zufügen konnte, dem Stellvertreter des Regio­ nalbüros für Deportationen auffallen konnte. Eyüp Bey schickte die Nachricht, dort sei der Prälat von Nikomedia [Izmit]; warum ich ihn an ihm festhielte? Schicken Sie ihn weiter; lassen Sie ihn auf der Strecke verrecken! »Ich konnte nicht Nein sagen, oder, dass ich sowas nicht tun kann«. Aber wir haben ihn nicht behalten.16 Eines Tages hatten sie zwei verheiratete Priester ergriffen und nach Meskene geschickt. Der Befehl war klar und lautete, ich solle sie töten. Ich habe auch diese beiden verheirateten Priester nicht weitergeschickt; ich habe sie dort behalten. Ich kann mich nicht an ihre Namen erinnern, aber ich glaube, die beiden sind jetzt in Aleppo.17 Die Station zwischen Meskene und Abuharrar namens Dipsi war einer der wichtigsten Tatorte. Die zum Tode Verurteilten wurden dort getötet und in den Fluss geworfen.18 Meskene war von einer Ecke bis zur anderen mit Skeletten gefüllt; es hatte einfach das Aussehen eines Knochenfeldes angenommen. 16 Später, nach dem Aufruf des Katholikos von Kilikien, erlaubte Cemal Pascha diesem Geistlichen, nach Jerusalem zu gehen. Nach diesem Aufruf des Katholikos erhielten auch einige andere Geistliche die gleiche Erlaubnis. 17 Das waren katholische Priester, die aus Ankara deportiert wurden. Als der Müdür von Meskene ersatzlos entlassen wurde, nutzten sie die herrschende Verwirrung und flohen nach Aleppo, mithilfe der Zahlung von Bestechungsgeldern an einen Kommandanten der Gendarmerie und andere Beamte. 18 In Dipsi starben ganze Familien an Hunger. Später brachten sie keine Marschkolonnen mehr dorthin, sie gingen direkt nach Abuharrar. Durch den Gestank der Leichen war es nicht möglich, dort anzuhalten. Arabische Hirten töteten dort 36 armenische Frauen, weil sie das Heu der Tiere gegessen hatten.

217 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

Allein aus Aleppo wurden 200.000 Armenier über Ras-al-Ayn und Meskene deportiert, und von dieser riesigen Menge blieben etwa 5.000 bis 6.000 Menschen am Leben. Kinder wurden getötet, indem sie in den Euphrat geworfen wurden. Frauen wurden barbarisch von der einheimischen Bevölkerung und von den Gendarmen mit Bajonetten oder Schusswaffen getötet. Kapitel vier/2 Nach der Planung und Durchführung der Massaker hat die türkische Regierung alle möglichen Maßnahmen ergriffen, damit die zivilisierte Welt nichts über die armenischen Massaker erfährt. Und jedes Mal, wenn sich die Gelegenheit ergab, widerlegte sie mit den frechsten Lügen jede Nachricht, die sich über diese Massaker verbreitete. Aber vor allem die Mitarbeiter der amerikanischen Konsulate fanden immer wieder Wege, Informationen an ihre Botschaft in Istanbul zu schicken, was die türkische Regierung sehr beunruhigte.19 Das folgende Dokument ist einer der Beweise für diese Sorge; es könnte auch einer der wichtigsten Beweise für die Vernichtungspolitik der Regierung gegenüber den Armeniern werden. Verschlüsseltes Telegramm des Innenministeriums an den Gouverneur von Aleppo: »Uns ist aus einigen schriftlichen Interventionen der amerikanischen Botschaft in Istanbul ersichtlich, dass die amerikanischen Konsulate aus verschiedenen Regionen gewisse Informationen eingeholt haben. Auch wenn wir ihnen in unseren Antworten mitgeteilt hatten, dass die Deportationen der Armenier ruhig und mühelos ablaufen würden, scheinen diese Antworten sie nicht überzeugt zu haben. Aus diesem Grund müssen Sie bei den Deportationen von Armeniern aus Städten und größeren Gemeinden sowie aus Gebieten in der Nähe von Ballungszentren Vorsicht walten lassen; ziehen Sie die 19 Der verstorbene Dr. Shepherd erzählt den folgenden Vorfall: Nach den armenischen Massakern kam eine Gruppe junger amerikanischer Damen von Kharpert [Harput] nach Aleppo, um nach Amerika zurückzukehren. Diese jungen Damen wurden unterwegs ausgeraubt und hatten große Schwierigkeiten. Die türkischen Beamten durchsuchten die Damen unterwegs mehrfach nach Fotos und Schriften. Sie untersuchten sogar die Zöpfe ihrer Haare. »Wonach suchst du?«, soll eines der Mädchen den Beamten gefragt haben, »was du suchst, ist nicht bei uns, sondern in unserem Geist, in unseren Augen, in unseren Herzen. Du kannst es nur auslöschen, indem du uns tötest«.

218 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-B – DIE PASSAGEN VON NAIM EFENDIS MEMOIREN

Aufmerksamkeit nicht auf sich, um die Ausländer, die sich in diesen Gebieten herumtreiben, im Glauben zu lassen, dass der Zweck der Deportationen nichts anderes ist als eine Umsiedlung. Um dies zu erreichen, ist aus politischen Gründen eine weitgehende Zurückhaltung erforderlich und die Ihnen bekannten üblichen Maßnahmen (Massaker) sollten in den entsprechenden Regionen durchgeführt werden. Die Personen, die das Gebiet zu Beobachtungszwecken überwachen, sollten mit Scheinvorwürfen festgenommen und mit diesen Vorwürfen einem Kriegsgericht überstellt werden«.

Innenminister, Talat, 18. November [1. Dezember], 1915 Randnotiz: Ohne dieses verschlüsselte Telegramm zu erwähnen, treffen Sie sich mit dem Leiter der Polizei. Gibt es solche Ermittler, die Beweise sammeln, wirklich? Sorgen Sie in Übereinstimmung mit dem Auftrag des Ministeriums an diesen Orten etwas für Mäßigung. Solche Personen sollen dem Regionalbüro des Deportationsamtes überstellt werden. An den stellvertretenden Direktor (des Deportationsamtes) 21. November, [1]915 Gouverneur Mustafa Abdülhalik Ich war mir der Existenz dieser Art von Menschen sicher, und ich hatte den Polizeichef mehrmals darum gebeten, die notwendigen Nachforschungen anzustellen, aber es hat nichts gebracht. Wenn das Amt des Gouverneurs ihm dies befehlen würde, könnte es vielleicht etwas helfen. In dieser Angelegenheit liegt die Befehlsgewalt bei Ihnen. 21. November 1915 Stellvertreter des Direktors Abdulahad Nuri An den stellvertretenden Direktor des Regionalbüros für Deportationen Sie sollten auch an die Deportationsbeamten schreiben. 22. November 1915 Generalgouverneur Mustafa Abdülhalik Schreiben Sie an Naim Efendi (Abdulahad Nuri) Das ist schon erledigt – Dossier 741-16 Die Randnotizen zeigen die Vorgänge, die im Zusammenhang mit dem verschlüsselten Telegramm durchgeführt wurden. Die Reproduktion des folgenden verschlüsselten Telegramms, das sich auf diese Angelegenheit bezieht und etwa einen Monat zuvor verschickt worden war, findet sich auch in den Memoiren von Naim Bey. 219 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

»An den Gouverneur der Provinz Aleppo 745 Es wurde berichtet, dass diverse armenische Reporter sich dort in der Gegend aufhalten, um schlimme Zustände zu fotografieren und zu dokumentieren, um sie dann dem amerikanischen Konsul zu übergeben. Solche schädlichen Personen müssen verhaftet und liquidiert werden. 24. Dezember 1915 Der Innenminister Talat« Naim Bey bestätigt, dass geheim arbeitende Beamte zur Überwachung dieser Reporter eingesetzt wurden; sogar Spione hielten sich in der Nähe des amerikanischen Konsulates auf. Eines Tages sei der Herausgeber von Zhamanag oder einer anderen Zeitung in Aleppo gesehen worden. Seiner Verfolgung wurde große Bedeutung beigemessen, aber am Ende wurde er nicht festgenommen. …

Kapitel vier/3 Der stellvertretende Direktor des Deportationsamtes in Aleppo, Abdulahad Nuri Bey, informierte – den diversen Ministerbefehlen aus dem Innenministerium Folge leistend – Istanbul täglich über alle Verbrechen. Eines von Nuri Beys verschlüsselten Telegrammen an die Zentralregierung in Istanbul enthält Informationen über die Vorgehensweise des Deportationsamts in Aleppo. Nr. 57 »An die Generaldirektion für Siedlungswesen und Immigration [Deportationsamt-TA]. Nach einer Untersuchung wird mitgeteilt, dass etwa zehn Prozent der von der allgemeinen Umsiedlung betroffenen Armenier ihre Bestimmungsorte erreicht haben und der Rest auf der Strecke an natürlichen Ursachen wie Hunger oder Krankheit gestorben ist. Es wird darauf hingewiesen, dass unsererseits versucht wird, auch bei Überlebenden ein besseres Ergebnis zu erreichen, indem mit Gewalt gegen sie vorgegangen wird. 10. Januar [1]916 Stellvertretender Direktor Abdulahad Nuri« … Unten ein verschlüsseltes Telegramm von Abdulahad Nuri Bey, das in diesem Zusammenhang viel darüber aussagt. 220 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-B – DIE PASSAGEN VON NAIM EFENDIS MEMOIREN

Nr. 76 »An die Generaldirektion für Siedlungswesen und Immigration Antwort auf das Telegramm vom 3. März 1916 Aus den uns vorliegenden Informationen geht hervor, dass bis heute 35.000 in der Gegend von Bab und Meskene, 10.000 in Aleppos Deportationslager (Karlık), 20.000 in der Gegend um Dipsi, Abuharrar und Hamam, [und] 35.000 in Ras-al-Ayn, insgesamt 95.000 Armenier, aus diversen Gründen gestorben sind.20 7. März[1]916, stellvertretender Direktor« (Abdulahad Nuri) … Manchmal kamen Befehle aus Istanbul, die bestimmte Individuen betrafen; über diese Personen war das Ministerium informiert worden. Das folgende verschlüsselte Telegramm des stellvertretenden Direktors des Regionalbüros des Deportationsamtes in Aleppo zeigt, welchen Inhalt solche Anweisungen etwa hatten und wie sie ausgeführt werden sollten. Nr. 51 »An die Generaldirektion für Siedlungswesen und Immigration Es wurde durch die verschlüsselten Telegramme des Innenministeriums vom 9. September [1]915 und vom 20. November [1]915 befohlen, die Personen Hapet Aramian, Garabed Antunian, [und] Arsen Shahbazian festzunehmen.21 Da diese sich in Ras-al-Ayn aufhielten, wurde die gemäß dem Ministerialbefehl erforderliche Operation von einem von hier aus entsandten Beamten durchgeführt und das Ministerium über diese Operation durch den Gouverneur [der Provinzregierung] in Kenntnis gesetzt. 13. Dezember [1]915, stellvertretender Direktor« (Abdulahad Nuri) … Eines von Abdulahad Nuri Beys verschlüsselten Telegrammen beschreibt die Methode, die üblicherweise angewendet wurde, um berühmte Armenier zu töten, die einzeln deportiert wurden. Nr. 76 »An die Generaldirektion für Siedlungswesen und Immigration Antwort auf das Telegramm vom 10. Februar 1916 20 Die Addition der Zahlen im Telegramm ergibt 100.000. Es ist nicht aktenkundig, ob dieser Additionsfehler damals jemandem aufgefallen war (Anm. d. Übersetzers – K.T.). 21 Wir konnten nur feststellen, dass Arsen Shahbazian aus Kilikien kam. Es ist uns unbekannt, wer die anderen beiden sind und woher sie kamen.

221 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

Aus dem Bericht des Landkreises Harran (Tell Abiyat) geht hervor, dass die genannte Person in Adana von der Polizei verhaftet, unter Aufsicht hierher gebracht und von hier aus nach Mardin geschickt wurde; unterwegs unternahm die Person einen Fluchtversuch und wurde dabei von den zu seiner Bewachung bestellten Beamten erschossen. 17. Februar 1916, stellvertretender Direktor« (Abdulahad Nuri) Wessen Schicksal beschreibt dieses verschlüsselte Telegramm? Wer war das Opfer, das bei der Flucht erschossen wurde? Der Fluchtversuch war nur ein Vorwand, einen Gefangenen zu ermorden. Eigentlich waren alle diese Personen, die unter Einzelbewachung deportiert wurden, zum Tode verurteilt. Naim Bey schreibt in seinen Memoiren dazu: Es gab das Problem, unter Aufsicht deportiert zu werden. Es gab keine Hoffnung und keine Möglichkeit mehr für die, die diesem Unglück ausgesetzt waren, am Leben zu bleiben. Sie waren in der Regel Jugendliche, die als verdächtig eingestuft wurden. Sie wurden zunächst in einen schmutzigen und engen Raum im Innenhof des (Aleppo-)Gefängnisses eingesperrt. Nicht mal Hunde würden an einem solchen Platz leben wollen. Nachdem sie dort nach zehn bis 15 Tagen dem Hungertod nahe waren, wurden sie mit gefesselten Händen und Armen, begleitet von Gendarmen, deportiert. Da die Gendarmen zuvor den Befehl erhalten hatten, sie zu töten, wurden sie an einem einsamen Ort auf der Strecke getötet. Danach wurde die Angelegenheit dem Büro des stellvertretenden Direktors des Regionalbüros für Deportationen wie folgt gemeldet: »Die Personen, die am jeweiligen Datum verschickt wurden, sind an ihrem Bestimmungsort angekommen«. Diejenigen, die unter Aufsicht deportiert wurden, waren ohne Zweifel zum Tode verurteilt. Wie bereits erklärt, wurden diese Unglücklichen anfänglich angeblich nach Diyarbakir geschickt, und später deportierte man sie anscheinend nach Mardin, wie von Abdulahad Nuri Bey im verschlüsselten Telegramm erwähnt. …

Kapitel vier/4 Einige Wochen zuvor wurde der Versuch unternommen, ein Waisenhaus in Aleppo zu errichten, und man begann, Waisenkinder von der Straße zu sammeln, nicht etwa aus Mitleid mit ihnen, sondern weil sie die Träger verschiedener ansteckender Krankheiten waren: Vor allem Typhus, der sich in der Stadt ausbreitete, während sie ihn von Straße zu Straße übertrugen. 222 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-B – DIE PASSAGEN VON NAIM EFENDIS MEMOIREN

Doch die Regierung, die darüber informiert wurde, befürchtete, dass auf diese Weise die Waisenkinder gerettet würden, und schickte sofort den folgenden Befehl. »An den Gouverneur von Aleppo Es gibt keine Notwendigkeit für ein solches Waisenhaus. Es ist nicht der Moment, Zeit zu verschwenden, indem man den eigenen Gefühlen folgt, sie (die Waisenkinder) füttert und ihr Leben verlängert. Schickt sie (in die Wüste) und gebt uns Bescheid. 21. September 1915, Minister für innere Angelegenheiten Talat« Nach dieser Anweisung telegrafierte das Büro des stellvertretenden Direktors des Deportationsamtes von Aleppo am 16. November nach Istanbul, an die Generaldirektion für Siedlungswesen und Immigration: Nr. 31 »An die Generaldirektion für Siedlungswesen und Immigration Über 400 Kinder befinden sich derzeit im Waisenhaus; sie werden den Karawanen zugeteilt und somit zu ihren Umsiedlungsorten verschickt. 26. November [1]915 Stellvertretender Direktor« (Abdulahad Nuri) … »Nr. 63 An die Generaldirektion für Siedlungswesen und Immigration Indem man die Waisenkinder zu dieser Jahreszeit an diesen ausgesuchten Ort mit der strengsten Kälte schickt,22 wird ihre ewige Ruhe gesichert. Daher bitten wir um Ihre Genehmigung zur Gewährung des beantragten Kredites. 28. Januar[1]916 Stellvertretender Direktor« (Abdulahad Nuri) … … Zu diesem Zweck wurden die Waisenkinder in der Nähe von Militärbasen versammelt. Da Meskene auch zu einem Militärstützpunkt umfunktioniert worden war, wurden sie dort zusammengetrieben. Sie gaben jedem ein kleines Stück Brot täglich und manchmal, ein- bis zweimal pro Woche, heißes Wasser, das mit einer Suppe kaum Ähnlichkeiten aufwies. 22 Sivas.

223 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

Die Zentralregierung erfuhr jedoch schnell davon, und sofort kam der Befehl, der anordnete, diese Kinder aus der Betreuung der Militärs herauszunehmen und sie zu vernichten. Verschlüsseltes Telegramm des Innenministeriums, an den Gouverneur von Aleppo »Damit sie keinen Verdacht schöpfen, holen Sie die Kinder der bestimmten Individuen (Armeniern) unter dem Vorwand, dass sie alle gemeinsam von der Deportationsbehörde in einem Sammellager versorgt werden, aus den Militärstützpunkten heraus und vernichten sie! Bitte um Meldung des Resultates. 7. März [1]916, Minister des Innern Talat«

… Kapitel vier/5 Während die Regierung einerseits Verbrechen förderte, versuchte sie andererseits, den Beamten in den Provinzen das Wesen des angestrebten Ziels zu verdeutlichen und sie so zu befähigen, mit Begeisterung zur Umsetzung dieses Ziels beizutragen. Das wäre der beste Patriotismus und zugleich die schönste Eigenschaft, die diese Beamten in ihrem Beruf zeigen könnten. Hier ist ein Telegramm zur Steigerung der Motivation: »An den Gouverneur von Aleppo Ihnen ist vor einiger Zeit mitgeteilt worden, dass die Regierung auf Befehl des Cemiyet (des Komitees für Einheit und Fortschritt (KEF)) beschlossen hat, alle in der Türkei lebenden Armenier vollständig zu vernichten. Diejenigen, die sich diesem Befehl und dieser Entscheidung widersetzen, können nicht der offiziellen Struktur des Staates angehören.23 Ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder, [und] Behinderte; so tragisch die Methoden der Vernichtung auch sein mögen: ohne dabei auf die Stimme des eigenen Gewissens zu hören, muss ihre Existenz (die der Armenier) beendet werden. 16. September [1]915 Der Innenminister Talat« … 23 Wir lesen in der Anklageschrift der aktuellen türkischen Regierung gegen das Ittihad-Komitee: »Diejenigen, die sich nicht an den genannten Verbrechen beteiligen wollten, galten als Verräter der Heimat«.

224 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-B – DIE PASSAGEN VON NAIM EFENDIS MEMOIREN

Kapitel vier/6 Schon kurz nach der Mobilmachung drohte ein vorläufiges Gesetz denjenigen mit der Todesstrafe, die ihre Waffen nicht abgeben wollten. Türken, Armenier, Kurden eilten, um ihre Waffen, sogar Messer, an den Staat auszuhändigen. Die Regierung behielt nicht die Waffen der Türken und Kurden, aber den Armeniern nahmen die Behörden sogar die Messer ab. Dies erfolgte viel früher als die allgemeine Deportation der Betroffenen. Wenn alle bis 45-Jährigen in der Armee waren, wenn alle Waffen bis hin zum Messer konfisziert worden waren, wenn die gesamte intellektuelle und wohlhabende Schicht in Gefängnissen oder im Exil war, was konnte dann die jämmerliche Menge der noch verbliebenen älteren Menschen, Frauen, [und] Kinder tun, als die Regierung diese allgemeine Deportation durchführte und argumentierte, dass sie befürchte, die Armenier könnten die Linie des Rückzuges der osmanischen Armeen bedrohen? Wie kann man dieses Argument dann auch auf die Armenier übertragen, die sehr weit von den Grenzen oder in den Provinzen bei Konstantinopel angesiedelt waren, die in einer solchen Entfernung überhaupt keine Bedrohung darstellten und die ebenfalls deportiert und massakriert wurden? Es gibt einen Abschnitt in Naim Beys Memoiren darüber, den ich hier wiederhole. Während dieses Verbrechen (die armenischen Deportationen) begangen wurde, ließ Talat Pascha nach Belegen suchen, die seine Unschuld beweisen sollten; er hatte Beamte ernannt, die diese zusammentragen und für ihn aufstellen sollten, und Geld dafür aus der Staatskasse war auch da. Indem er sich vor mehreren Waffen, Gewehren, die angeblich in den Häusern der Armenier gefunden worden waren, fotografieren ließ, wollte er sein Verbrechen maskieren. Aber ... wenn die Existenz von Waffen ein Zeichen für Aufruhr und Rebellion ist, dann müssen alle Teile der Türkei Brutstätten der Rebellion gewesen sein. Egal, in welches türkische Dorf du gehst, du wirst Hunderte von Martinis [und] Mausern finden. Diese Waffen werden nicht bereitgehalten, um die Rebellion [und] Aufruhr anzuheizen, sondern aus Angst vor Banditen aufbewahrt, um Eigentum und Leben gegen sie zu verteidigen. Diese Wahrheit offenbart auch, wie die Regierung die eigene Bevölkerung in Unsicherheit gebracht hat. Am obigen Telegramm wird deutlich, dass die Regierung empfiehlt, der von ihr entsandten Kommission falsche Beweise zu der armenischen Schuld zu liefern. Und das von dieser Kommission veröffentlichte Buch basiert ausschließlich auf dieser Art von Beweisen. …

225 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 1-A UND 1-B

Fazit Die Verordnungen, die ständig aus Istanbul verschickt wurden, um die Verbrechen an Armeniern, die »vom türkischen Volk« begangen wurden, ungestraft zu lassen, waren sicherlich nicht dazu geeignet, die Unschuld des Volkes zu beweisen. Auch jene muslimischen Elemente, die nicht an den Massakern in der Zeit von [Sultan Abdül] Hamid II. teilgenommen hatten und ihre armenischen Nachbarn – wie in der Region Adiyaman, die Kurden von Kyakhta, die Bevölkerung von Dersim, die Türken von Muş uns so weiter – verteidigten, nahmen diesmal mit großer Begeisterung den Plan der Vernichtung an. Die Unionisten hatten ihr Gift bis in alle Schichten verbreitet; es war ihnen gelungen, in jedem den Instinkt zum Massaker und zur Plünderung anzufachen. Der Krieg hat gerade erst begonnen – schreibt Naim Bey in seinen Memoiren –, Hunger und Elend tauchten in der kraftlosen Türkei auf. Es war notwendig, das verhungernde Volk zu betrügen, es wieder satt zu kriegen, und dies konnte mit von den Armeniern zurückgelassenen Gütern und Geldern realisiert werden. In den Provinzen Erzurum, Bitlis, Diyarbakır, Mamuretülaziz und Sivas begannen die Massaker an den Armeniern und die Plünderung ihrer Güter. Das Volk hatte eine Beschäftigung und vergaß alles andere. Es war auch notwendig, Syrien und Mesopotamien zu beschäftigen. Die Ebenen von Mesopotamien, die Straßen, die Wüsten von Syrien wurden mit Armeniern gefüllt. Der riesige Reichtum, den die Armenier durch jahrhundertelange ehrenvolle Arbeit erworben hatten, ging in seiner ganzen Pracht und Größe verloren. Was übrig blieb, wurde in diesen Wüsten verteilt, deren Bevölkerung schnell begriff, dass diese Karawanen aus Deportierten als Opfer zu ihnen geschickt wurden. Zunächst führten sie verschiedene kleine Angriffe durch. Aber als sie das verstanden, übernahmen sie die Aufgabe des Massenmordes. Die herzzerreißendsten Vorfälle fanden in diesen Wüsten statt. Nicht nur der Reichtum der Armenier, sondern auch ihre Frauen, Töchter und ihre Kinder wurden weggenommen. Wie viele Türken haben von dieser Plünderung nicht profitiert? Wie viele türkische Häuser gibt es, in denen nicht eine entführte armenische Frau, ein armenisches Mädchen oder ein armenischer Junge bedient?

226 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Anhang 2 – Dr. Avedis Nakkaschians Brief an Andonian 6. Oktober 1925 New York Sehr geehrter Herr Andonian, lieber vertriebener Landsmann, ich habe Ihren Brief vom 21. September erhalten. Bitte verzeihen Sie diese späte Antwort; ich war für ein paar Tage in Boston. Ich weiß nicht, ob ich Ihre beiden Fragen beantworten kann. Es ist für einen Armenier nicht gerade einfach zu sagen, welcher der traurigste oder welcher der glücklichste Moment in seinem bisherigen Leben war. Immer mit einem kleinen, alten, klapprigen Boot auf einem stürmischen Meer herumirrend, ist es für denjenigen, der sich auf dieser Reise befindet, nicht einfach zu bestimmen, welche Momente traurig oder glücklich waren. Ich begann meine Laufbahn als Mediziner Ende 1894, zu einer Zeit, als ich noch kein Vertrauen in die damaligen armenischen Reformbestrebungen hatte. Aber bevor ich mich an einem sicheren Ort niederlassen konnte, war ich in Maraş – und Augenzeuge des ersten Massakers. Es war eine traurige Zeit gleich zu Beginn meines Lebens, das doch voll mit jugendlichem Elan für Frieden und die Nation war. Ich hatte dort gerade den Distriktgouverneur operiert, und er nahm mich daher unter seinen Schutz und schickte mich in Begleitung eines Sicherheitsbeamten nach Antep. Ich überließ Maraş und meine Bekannten dort ihrem Schicksal. Für mich persönlich war es aber ein wohltuender Moment. In Antep heuerte ich einen Tscherkessen an, der mich und meine zwei Brüder nach Iskenderun führte. Die Reise war sehr beschwerlich und tragisch zugleich. Wir konnten uns nur nachts bewegen. Ich musste meine Eltern und Hunderte von Verwandten und Freunden in Antep zurücklassen. An dem Tag, als in Antep das Massaker begann, kam ich in Iskenderun an. Der Kampf in Zeytun und die anderen Massaker gingen weiter. Eines Tages ordnete der Distriktgouverneur von Iskenderun meine Verbannung an. Ich ließ mich einem Schiff zuteilen und erreichte so Mersin. Monate vergingen, und ich begann in Adana wieder als Chirurg und Arzt zu arbeiten. Ein Jahr später, 1897, ging ich nach Paris und London. In London traf ich damals Miss Mellinger, eine aus Amerika stammende Dame, die Vorträge hielt und Spendenaktionen mit den »Friends of Armenia« (Freunde Armeniens) organisierte, indem sie durch alle englischen Städte tourte, die mit dieser Organisation irgendwie verbunden waren. Miss Mellinger und Miss Fraser sind zwei Persönlichkeiten, die sich für Armenier, wie 227 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 2 – DR. AVEDIS NAKKASCHIANS BRIEF AN ANDONIAN

uns, eingesetzt haben. Miss Fraser starb in Bulgarien. Mellinger heiratete mich und starb ein Jahr später bei der Geburt unserer kleinen Tochter auf einer Reise nach Haçin. Als sie noch lebte, korrespondierte sie mit namhaften Persönlichkeiten und Beamten aus England, um Armeniern in Not zu helfen. Es gelang ihr, das Leid der Armenier deutlich zu lindern. Ihr Tod war eine der tragischsten Erfahrungen in meinem Leben. Die türkische Monarchie wurde ausgerufen. Damals war ich in Istanbul, und es war ein sehr glücklicher Moment, wir hatten vor Freude Tränen in den Augen. Ich dachte, wir wären befreit worden, wir hätten fortan eine Chance, als Menschen zu leben. Für mich aber hielt dieses Glück nur zwei Wochen an. In einem Gespräch mit dem Augenarzt Esad Pascha, einem der Führer der Jungtürken, sagte dieser zu mir, der Grund für den Niedergang der osmanischen Regierung sei das christliche Element gewesen. Er fügte hinzu: »Verdammt sei dieser Scheich-ül-Islam, Zembilli Ali Efendi, der Sultan Selim nicht erlaubt hatte, alle Christen niederzumachen«. Ich wusste in diesem Augenblick, was diese Jungtürken mit uns vorhatten. Ich ging nicht wieder nach Adana. Ich zog nach Istanbul und war dort arbeitslos, denn meine Klinik und meine Arbeit waren in Adana. Ich habe darauf gewartet, dass sich die Bedingungen verbessern würden. Ich hörte, dass sich in Adana viele bewaffneten und sogar in der Öffentlichkeit mit ihren Waffen herumhantierten. Meine Hoffnungen waren zerstört, denn ich war niemand, der glaubte, dass man mit Waffen Probleme lösen kann. Ich fand diese Entwicklung auch sehr gefährlich. Ich habe mich leider nicht getäuscht. Ich will nicht behaupten, dass die Massaker befohlen wurden, weil auf den Straßen fast jedes Kind eine Waffe in der Hand hatte und auf den Märkten offen Waffen verkauft wurden. Sie waren aber der Nährboden, der Anlass der Massaker. Eines Morgens wachte ich in meinem Haus in Gedikpascha durch Schüsse auf der Straße auf. Tausende Schüsse. Ich ging heraus aus dem Haus. An der Ecke der Divan Yolu [Hauptgeschäftsstraße im damaligen Istanbul – Anm. d. Übers.] sah ich, wie ein Militäroffizier erschossen zu Boden fiel. Ich rannte nach Hause zurück. Die Lage war furchtbar. Ich bin mit meiner Familie nach Aghias Stefano [Yesilköy – damals ein Dorf vor den Toren von Istanbul, wo heute der Flughafen ist – Anm. d. Übers.] geflohen. Armeeeinheiten schritten ein und wir feierten sie und freuten uns, aber gleichzeitig erhielten wir die Nachricht, dass in Kilikien Armenier massakriert worden waren. Meine beiden neuen Häuser und meine Läden dort waren niedergebrannt. Ich verbrachte den Sommer 1910 in Amerika in der Hoffnung, mich dort niederlassen und weitere Armenier zur Einwanderung ermutigen zu können, indem ich ihnen Informationen über das Land gab. Ich begann, in New York zu schreiben. Einige angesehene Armenier dort hielten allerdings meine Art zu schreiben für schädlich. Sie wollten mich überreden, nicht mehr zu schreiben. Ich sagte ihnen: »Ich weiß, dass ich recht behalten werde. Aber gut, ich werde nicht 228 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 2 – DR. AVEDIS NAKKASCHIANS BRIEF AN ANDONIAN

mehr schreiben«. Im November desselben Jahres kehrte ich nach Adana zurück und ließ meine Gebäude dort neu bauen. Als ich mich während des Balkankrieges auf der großen Prinzeninsel vor Istanbul aufhielt, konnte ich den Kanonendonner aus Çatalca hören. Ich hoffte immer, die Befreiung sei nah. Aber sie kam nicht. Der Große Krieg begann. Ich wartete in Istanbul auf den Sieg der Gerechtigkeit. Der Glaube daran hinderte mich, ins Ausland zu gehen. Ich will diesen Moment mit eigenen Augen erleben, sagte ich mir die ganze Zeit. Ich wurde im April 1915 verhaftet und nach Ayaş gebracht. Es war ein tragischer Moment, aber ich war immer noch hoffnungsvoll, bin es auch jetzt noch. Meine Entlassung aus dem Gefängnis von Ayaş ließ mich zwar wieder glücklich sein, jedoch vermischt mit einigen meiner traurigsten Erinnerungen. Ich war drei Jahre lang Soldat in Pera, und meine einzige Freude dort waren die armenischen Jungs. Die gibt es jetzt nicht mehr. Endlich sah ich in Istanbul mit eigenen Augen die Ankunft der alliierten Flotte. Ich war Augenzeuge, als General Sarrail an Land ging. Ich ging dann noch weiter ins Gefängnis von Istanbul. Ich sah dort die Menschen, die unzählige Morde und Massaker begangen hatten. Ich sprach mit einigen von ihnen. Ich schaute in die schrecklichen Gesichter dieser Menschen, die einst die Macht hatten, die mit einem einzigen Befehl Tausende getötet hatten. Es war sogar der gleiche Tag, glaube ich, als ich das Buch sah, das Sie geschrieben hatten. Insbesondere habe ich darin den Schriftverkehr zwischen Talat und Abdulahad Nuri gelesen. Ich verstand, welche Rolle dieses Monster Nuri gespielt hatte. Ich hatte darüber auch von anderen schon gehört. Menschen, die in Aleppo waren, zitterten immer noch, wenn sie sich an diesen verkrüppelten Teufel erinnerten: Wie er die Gouverneure von Deyr-i Zor und anderswo ständig absetzen ließ und wie er Menschen, die um Aleppo herum Zuflucht gefunden hatten, ihren Henkern auslieferte. Aber dieser Mann war verschwunden. Nicht einmal sein Name existierte. Ich suchte die englische Botschaft auf, fragte Commissaire Reislick (Commander Rusketlick) nach diesem Namen. Er antwortete, dass er den Namen nicht kenne, er sei ihm nicht gemeldet worden. Eines Tages saß ich auf der Bosporusfähre und bemerkte, wie ein hinkender Mann an mir vorbeiging und denjenigen, der neben mir saß, begrüßte. Mein Sitznachbar stand sofort auf und grüßte ihn zurück. »Wer ist dieser Efendi?«, fragte ich ihn. »Abdulahad Nuri«, antwortete er mir. »Was macht er?«, fragte ich weiter. »Ich weiß es nicht«, war die Antwort. Ich suchte diesen hinkenden Mann in der darauffolgenden Woche jeden Tag und überall. Im Innenministerium, im Außenministerium, in anderen Ministerien und in den Polizeikreisen. Ich hing die ganze Zeit am Telefon. Schließlich sagte man mir, dass er die Schreibstube der osmanischen Handelsschifffahrtsbehörde leitete. Ich führte ein Gespräch mit dem 229 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 2 – DR. AVEDIS NAKKASCHIANS BRIEF AN ANDONIAN

Vorsitzenden des Militärgerichtshofes, mit Mustafa Pascha, und wir beschlossen, dass ich sofort eine Strafanzeige erstatten sollte. Das habe ich auch getan, aber Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig es für mich war, bei dieser obersten Hierarchie des Militärgerichtes persönlich vorstellig zu werden. Es war schon 16 Uhr. Ich rannte wieder zu Mustafa Pascha und sagte ihm, wenn Sie ihn heute nicht verhaften, haut er bestimmt ab. Der Pascha schickte sofort zwei Polizisten und einen Offizier in einem Automobil, um ihn zu holen. Ich saß noch bei ihm, als sie die Bestie hereinbrachten. Ich kann Ihnen sagen, dass dies der glücklichste Moment in meinem Leben war. Er war bleich wie eine Leiche, zitterte am ganzen Körper, konnte kaum stehen. In diesem Moment dachte ich an 60.000 Tote in Katma und an die 300.000 toten Frauen, talentierten Kinder, Kaufleute und Handwerker in Deyr-i Zor. Ich hörte ihre Freude, als ob alle mir aus ihren Gräbern heraus applaudierten, ich spürte, wie Hunderte tote Kinder als Engel meine Hände berührten. Es waren die Kinder, die von dieser Bestie in den Fluss in Meskene geschmissen worden waren. »Am Galgen wirst du hängen!«, schrie Kürt (Kurde) Mustafa Pascha. »Hast du überhaupt kein Herz? Das Heilige Buch (Mashafı Scherif) verbietet alle Sünden, die du begangen hast«. Dieser Mann ohne Gewissen, der Hunderttausende zum Weinen gebracht hatte, weinte jetzt vor mir. Ich war sehr glücklich. Der Tag des Gerichtsverfahrens war gekommen. Ich habe über eine halbe Stunde ausgesagt. Nuri weinte und schluchzte nur. Ich nannte die Namen von etwa 20 Zeugen, darunter Ihsan Bey, der Distriktgouverneur von Kilis. Nuri hatte Ihsan Bey nach Aleppo bestellt und ihn gefragt, warum es noch immer Armenier in Kilis gäbe. Ihsan Bey hatte geantwortet, dass, nach dem ihm erteilten Befehl, Familien von Soldaten, von Handwerkern, von Protestanten und Katholiken vor weiteren Maßnahmen verschont werden sollten. Abdulahad Nuri erwiderte ihm daraufhin, »das Ziel der Deportationen ist die Vernichtung«, und Ihsan müsse dafür sorgen, dass alle vertrieben werden. Ihsan Bey hatte damals diese Anweisung abgelehnt und geantwortet, dass er nur einem offiziellen Befehl Folge leisten würde. Daraufhin verlor er sofort seinen Posten als Distriktgouverneur. Das Verfahren war kurz vor dem Ende. Ich bereitete mich darauf vor, am Beyazıt Meydanı (damals der größte Platz im Zentrum der Altstadt) Nuri am unteren Ende eines Stranges hängen zu sehen, wie es mir Richter Mustafa Pascha versprochen hatte – eine andere Art von Glücksmoment. Eines Morgens klopfte es an meine Tür, und ein Priester, den ich nicht kannte, stand da. »Ich bin Vater Dajad«, stellte er sich vor. »Meine Reise wurde von der Nationalregierung in Ankara bezahlt, um Abdulahad Nuri zu befreien. Diese Bestie ist der Bruder von Yusuf Kemal, dem Außenminister in Ankara. Sie werden hier diesen Köter aufhängen, und dafür werden dort 2.000 bis 3.000 Armenier vernichtet. Ich flehe Sie an, sorgen Sie dafür, dass dieser Mann frei kommt«. 230 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 2 – DR. AVEDIS NAKKASCHIANS BRIEF AN ANDONIAN

Es war ein tragischer Moment für mich. In diesem Augenblick verschwanden all meine Träume, sie lösten sich in Luft auf. Es war nicht mehr eine Frage der Vergangenheit; vor mir stand unsere Zukunft. Was sollte ich tun? Rache und Gerechtigkeit waren gut und schön, aber das Leben einiger Tausend Armenier stand im Vordergrund. Die Serie von Tragödien endete damit aber nicht. Während wir noch daran arbeiteten, eine Lösung zu finden und unsere Bemühungen zu organisieren, wurde das Kabinett von Ferid Pascha abgelöst, und eine Regierung, die mit den Nationalisten in Ankara sympathisierte, nahm seinen Platz ein. Das Kriegsgericht wurde auch komplett neu besetzt. Als ich vors Gericht bestellt wurde, lautete der erste Vorwurf: »Sie wagen es, einen aufrechten, ehrenwerten Beamten, der die Interessen dieses Landes und der Armee loyal vertrat, zu beschuldigen und zu quälen?«. Wen sollte ich jetzt schützen? Mich? Abdulahad Nuri? Oder die Armenier vor den Nationalisten in Ankara? Das Verfahren dauerte nicht lang. »Warten Sie hier!«, sagten sie zu mir, und ich wurde einem Polizisten anvertraut. Ich habe eine Stunde gewartet. Sie können davon ausgehen, dass dies einer der traurigsten Momente meines Lebens war. Eine Stunde später erlaubten sie mir, nach Hause zu gehen. Mustafa Pascha musste ins Gefängnis und konnte gerade so der Todesstrafe entgehen. Abdulahad Nuri wurde freigelassen. Das war aber noch lange nicht das Ende. Im Jahre 1921 ging ich nach Adana, um mir den Zustand der Praxis und der Häuser anzuschauen. Der Vertrag von Ankara wurde publik gemacht. Ich gehörte zu den ersten, die flohen, hinterließ aber 50.000 Armenier und wusste genau, welches Schicksal sie dort erwartete. Ich wusste, dass Kilikien, die von vielen ersehnte Heimat, verloren war. Der letzte tragische Moment, bei dem ich knapp dem Tod entging, geschah in Balıkesir. Ich ging im Frühjahr 1922 dorthin, um zu arbeiten und dabei auch noch meinen Bruder zu besuchen. Die Griechen waren da. Alles war friedlich. Die Offensive in Afyonkarahisar startete. Ein paar Tage später hörte ich gerüchteweise, dass die griechischen Soldaten schon aus der Stadt geflohen wären. Am selben Tag setzte ich mich, zusammen mit meiner Schwägerin und ihrem Kind, in einen Zug. Einige haben es bemerkt. Sie dachten, ich sei verrückt geworden. Ich wünschte, es wäre so… Ich habe zwei Kinder aus der Verwandtschaft mitgenommen. Wir verließen Balıkesir um 16 Uhr und fuhren bis nach Bandırma. Am selben Abend wurden die Straßen endgültig gesperrt. Die Rebellen waren auf dem Vormarsch und massakrierten die Christen. Wir schafften es mit Mühe auf ein Boot und setzten über nach Rodosto (Tekirdağ). Ein Visum für die Ausreise aus Istanbul nach Ägypten mit der gesamten Familie war ebenfalls ein großer Erfolg. Nachdem wir die Araber dort eineinhalb Jahre lang demonstrieren sahen: »Nieder mit England! Hoch lebe Zaghloul«, und nachdem wir den Triumph der Anhänger von Zaghloul erlebt hatten, fuhren wir nach Amerika. Die Ankunft hier war 231 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 2 – DR. AVEDIS NAKKASCHIANS BRIEF AN ANDONIAN

ein glücklicher Tag für uns. Ich habe eine Prüfung abgelegt und bin jetzt offiziell Arzt. Nun, lieber Herr Andonian, sagen Sie mir, welches die traurigen oder die glücklichen Momente in dieser sehr kurzen Geschichte sind. Ich weiß nicht, warum Sie diese Informationen brauchen. In Kürze wird ein Buch mit Bildern über die Geschichte in Ayaş erscheinen. Ich schicke Ihnen ein Exemplar zu. Ich habe ein Foto für dieses Buch machen lassen. Sie finden es im Anhang. Ich werde versuchen, Ihnen noch andere Bilder zu schicken. Hochachtungsvoll, A. Nakkaschian

232 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Anhang 3 – Aram Andonians Brief an Maria Terzian Dr. Mary Terzian Pension Molrose 12, Clos Belmont Genf, Schweiz 28. Juli 1937 Paris Madam, ich bitte um Verzeihung, dass ich erst jetzt auf Ihren Brief vom 14. Juni antworte. Ich musste nach alten, bei mir in Vergessenheit geratenen Papieren und Notizen suchen, die ich vor vielen Jahren beiseitegelegt hatte; das nahm einige Zeit in Anspruch. Die Originale der in meinem Buch wiedergegebenen Telegramme befinden sich derzeit in London beim Armenischen Büro, das von armenischen Persönlichkeiten aus Manchester mit der Veröffentlichung meines Berichtes in englischer Sprache beauftragt worden ist. Ich glaube, Sie haben diese englische Version davon. Es ist nur eine Zusammenfassung unter dem Titel »The Memoirs of Naim Bey. Turkish Official Documents relating to the Massacres of Armenians« – Die Memoiren von Naim Bey: Türkische offizielle Dokumente zu den Massakern an den Armeniern1 mit einer Einführung von Viscount Gladstone. Die Telegramme werden in dieser Zusammenfassung jedoch vollständig wiedergegeben. Ich verließ London, bevor sie veröffentlicht wurden, und ich konnte nur jene Originalversionen der Telegramme mitnehmen, die bereits auf Zinkplatten übertragen waren. Der Rest blieb in London, um für den Druck vorbereitet zu werden, und ich hatte sie bis zu dem Tag völlig vergessen, an dem Abdulahad Nuri Bey2 – der ehemalige stellvertretende Leiter des Deportationsamtes in Aleppo, der inzwischen als Beamter in der Handelsmarinebehörde in Istanbul tätig war – dort aufgrund der Anzeige 1 Hier wird der Titel der englischen Übersetzung falsch zitiert. Die richtige Version lautet: The Memoirs of Naim Bey: Turkish Official Dokuments Relating to the Deportation and the Massacres of Armenians, also: Die Memoiren von Naim Bey: Offizielle türkische Dokumente über die Deportation und die Massaker an den Armeniern. 2 In dieser Übersetzung haben wir Andonians Fehler und sprachliche Inkonsistenzen in Groß- und Kleinschreibung nicht so wiedergegeben, wie sie im französischen Original vorkommen.

233 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 3 – ARAM ANDONIANS BRIEF AN MARIA TERZIAN

von Dr. A. Nakkaschian verhaftet wurde. Das war im August 1920. Das Monster, völlig bestürzt über seine Verhaftung und die möglichen fatalen Folgen, musste vor dem bekannten Militärgericht unter dem Vorsitz von Mustafa [Kürt Mustafa] (Mustafa der Kurde) Pascha Rechenschaft ablegen. Vor jenem Richter, der bereits einige berüchtigte Massenmörder zum Tode durch den Strang verurteilt hatte. In Anbetracht des Prozesses bat Dr. Nakkaschian – über Seine Eminenz, Patriarch Zaven von Konstantinopel – Boghos Noubar [Nubar] Pascha, den Präsidenten der armenischen Nationaldelegation, dringend darum, mich zu fragen, ob ich die in meinem Buch wiedergegebenen Originaldokumente an das Patriarchat schicken könne. Ich erhielt einen diesbezüglichen Brief von Boghos Nubar Pascha und schrieb sofort an das Armenische Büro in London, es möge alle Originalversionen an das Patriarchat schicken, was auch getan wurde. Gleichzeitig schickte ich ein langes Gedächtnisprotokoll, das Naim Bey mit Bleistift über Abdulahad Nuri Bey geschrieben hatte, ein belastendes Dokument über seinen finsteren Vorgesetzten sowie einige weitere Originaldokumente, die ich zu Hause hatte, in denen Abdulahad Nuri Bey auch erwähnt wurde. Der Prozess fand jedoch nicht statt. Abdulahad Nuris eigener Bruder Yusuf Kemal Bey, Minister für auswärtige Angelegenheiten der Regierung der Großen Nationalversammlung, der in Angora [Ankara] lebte, schickte Hochwürden Dadjad, den religiösen Führer der Armenier in Kastamouni [Kastamonu], nach Konstantinopel, damit der dort die Drohung überbrachte, dass er, Yusuf Kemal Bey, alle Armenier in den der kemalistischen Regierung obliegenden Regionen in Anatolien ohne Gnade massakrieren lassen würde, wenn sein Bruder in diesem Prozess zum Tode verurteilt werden sollte – was mehr als wahrscheinlich war. Der arme armenische Priester, der davon überzeugt war, dass dies keine leere Drohung sei, war nach Konstantinopel gereist, um das armenische Patriarchat und Dr. Nakkaschian zu bitten, sich aus dem Prozess zurückzuziehen. Zu dieser Zeit musste das Kabinett Ferid Pascha, das in Konstantinopel an der Macht war und den Vertrag von Sèvres unterzeichnet hatte, unter dem Druck der kemalistischen Bewegung zurücktreten. Die Kritik am Vertrag und die Proteste dagegen breiteten sich schnell aus. Selbst in Konstantinopel war der Protest nach der Veröffentlichung der verheerenden und katastrophalen Bestimmungen des in Sèvres unterzeichneten Vertrages deutlich vernehmbar. Ein neues Kabinett, das eindeutig mit der kemalistischen Bewegung verbunden war, übernahm die Führung der Regierung in Konstantinopel, und eine ihrer ersten Handlungen war nicht nur die Freilassung von Abdulahad Nuri Bey, sondern die Verhaftung von Mitgliedern des Kriegsgerichtes, seines Präsidenten Mustafa Pascha und Dr. Nakkaschians. Sie wurden vor einem neuen Kriegsrat angeklagt, und Dr. Nakkaschian wurde erst festgenommen, dann wieder freigelassen. 234 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 3 – ARAM ANDONIANS BRIEF AN MARIA TERZIAN

Wenn dieser Fall Sie interessiert, können Sie Dr. Nakkaschian selbst um die weiteren Einzelheiten bitten. Er hat sich in New York niedergelassen. Die letzte Adresse, die ich von ihm habe, ist 530 W. 166th Street, New York City. Was die Dokumente betrifft, die dem Patriarchat entweder aus London oder von mir direkt zugeschickt wurden – und die der Akte der Klage gegen Abdulahad Nuri hinzugefügt wurden –, so blieben sie natürlich dort. Ich habe nie erfahren, was mit ihnen passiert ist. Ich hatte aufgehört, an diese Dokumente zu denken, bis ich im ­April 1921 – wenn ich mich nicht irre – als Zeuge vor das Gericht von Moabit nach Berlin geladen wurde, wo der Prozess um die Ermordung des ehemaligen Großwesirs Talat Pascha stattfinden sollte. Ein junger Armenier, Soghomon Tehlirian, hatte ihn in der Hardenbergstraße in Berlin erschossen. Tehlirians Anwälte hatten mir gleichzeitig mitgeteilt, dass es sehr nützlich wäre, dort mein Buch zu erläutern, das sie während des Prozesses als Beweismittel verwenden wollten – ich brachte ihnen einige Originalversionen der im Buch wiedergegebenen Telegramme mit. Ich fuhr also mit den Dokumenten, die ich hatte, nach Berlin, insbesondere mit den Briefen von Bahaettin Şakir Bey sowie mit einigen der entschlüsselten Versionen von chiffrierten Telegrammen samt Notizen des Vali, des Gouverneurs von Aleppo, Mustafa Abdülhalik Bey. Natürlich wurde die Frage nach ihrer Authentizität von den Anwälten Tehlirians bei unseren ersten Treffen in Berlin aufgeworfen. Am 10. Juni 1921 gab ich ihnen ein kurzes Memorandum über die Herkunft dieser Dokumente. Ich schicke Ihnen ein Exemplar davon, das Sie im Anhang finden. Dieses Memorandum, das nur für eine Seite des Verfahrens von Wert war, konnte das Problem nicht lösen, und Tehlirians Anwälte – dar­ unter zwei der bekanntesten Mitglieder der Berliner Anwaltskammer, Dr. von Gordon und Dr. Werthauer, und einer der bedeutendsten Juristen in Deutschland, Prof. Niemayer von der Universität Kiel – haben alles in ihrer Macht Stehende getan, um sich von der Echtheit der Dokumente zu überzeugen, bevor sie verwendet und dem Gericht vorgelegt wurden. Zu diesem Zweck baten sie Dr. Lepsius, mein Buch und die darin enthaltenen Dokumente einem Beamten des Außenministeriums, Herrn W. Rössler, der während des gesamten Krieges deutscher Konsul in Aleppo war, vorzulegen. So wollten die Anwälte die Dokumente nochmals überprüfen lassen und auf diesem Weg auch einen Augenzeugen der Gräueltaten gegen die Armenier als Zeugen für das Verfahren gewinnen. Herr W. Rössler, der in Eger lebte, begrüßte die Bitte von Dr. Lepsius und antwortete mit einem langen Bericht, der zu dem Schluss kam, dass die Dokumente authentisch seien.

235 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 3 – ARAM ANDONIANS BRIEF AN MARIA TERZIAN

Dieser Bericht, datiert vom 25. April 1921, erreichte die Anwälte allerdings erst am 12. oder 13. Juni, da sein Verfasser sich als Beamter verpflichtet sah, ihn seinem Minister zur Genehmigung vorzulegen, bevor er ihn an Dr. Lepsius schickte. Der Minister gab seine Zustimmung nur unter der Bedingung, dass der für die Unterstützung der Vorträge der Anwälte vorgesehene Bericht streng vertraulich bliebe und nicht vor Gericht erwähnt würde. Gleichzeitig hatte der Minister, der jede Einmischung in den Prozess vermeiden wollte, Konsul Rössler verboten, vor Gericht auszusagen, was in einem großen Teil der Berliner Presse ziemlich abfällige, ironische Angriffe auslöste. Der Bericht Rösslers überzeugte die Anwälte, sodass Dr. Paul Pfeffer aus Berlin sofort die deutsche Übersetzung der Depeschen von Talat Pascha in Auftrag gab und diese als vierseitige Broschüre veröffentlichen ließ, die dann an die Mitglieder des Gerichtes, an die Geschworenen, an die Presse und an diverse andere Persönlichkeiten weitergegeben wurde. Nachdem die Vorarbeit geleistet war, wussten die Anwälte, wie man die Originalversionen einiger dieser Dokumente vor Gericht geschickt einsetzen konnte. Sie spielten eine wichtige Rolle und trugen wesentlich zum guten Ergebnis des Verfahrens bei. Sie müssen wissen, dass Tehlirian freigesprochen wurde. Der große deutsche Publizist Maximilian Harden – im Gegensatz zu seinem nicht weniger bekannten Glaubensgenossen Emile Ludwig (beide waren Juden), der mit der protürkischen Sache verbunden war – hat eine ganze Ausgabe seiner berühmten Wochenzeitung »Die Zukunft« meinem Buch gewidmet (Ausgabe vom 4. Juni 1921; er hat davon von den Anwälten erfahren, wahrscheinlich durch Dr. Lepsius) und war einer der glühendsten Verteidiger des Angeklagten und der Armenier im Allgemeinen während des gesamten Prozesses. Eine Kopie der Broschüre mit der Übersetzung von Dr. Pfeffer liegt bei. Vom Bericht des Herrn Rössler habe ich ein Exemplar, das mir der verstorbene Dr. Lepsius allerdings unter der Bedingung gegeben hatte, dass ich es nie öffentlich erwähne, ohne vorher die schriftliche Genehmigung von Konsul Rössler einzuholen. Dieser Brief ist in Deutsch. Er enthält eine beträchtliche Menge an Kritik an der Zusammensetzung meines Buches, die er für völlig unsachlich hält. Außerdem widerspricht er den meisten Passagen des Buches über das Verhalten der Deutschen in der Türkei während des Krieges. Natürlich hat er in den meisten der von ihm hervorgehobenen Fälle Recht. Er vergaß nur, dass mein Buch kein historisches Werk, sondern als Propaganda gedacht war und natürlich nicht frei von den inhärenten Unvollkommenheiten dieser Art von Publikationen sein konnte. Wir dürfen nicht vergessen, dass es damals unumgänglich war, in den von der Entente kontrollierten Gebieten etwas Verächtliches über Deutschland zu sagen. Lassen Sie mich hinzufügen, dass sich das Armenische Büro in 236 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 3 – ARAM ANDONIANS BRIEF AN MARIA TERZIAN

London und die armenische Nationaldelegation in Paris im Verlauf der Veröffentlichung meines Buches – in Anbetracht der Notwendigkeiten in dieser wichtigen Angelegenheit, für die sie sich einsetzten – etwas uninteressiert in Bezug auf mein Manuskript verhalten haben. Aber Konsul Rössler war fair. Obwohl er sich über die Anschuldigungen, die ich in meinem Buch gegen die Deutschen erhoben hatte, sehr ärgerte, war er in dem Teil seines Berichts, in dem es um die Einschätzung der Dokumente zu den Massakern ging, sehr objektiv gewesen. Dieser Teil seines Berichtes ist überzeugend und zugleich lehrreich für das Verständnis der armenischen Tragödie, die er beleuchtet. Unter den fraglichen Originaldokumenten fand ich in meinen Unterlagen nur den Brief von Bahaettin Şakir Bey vom 18. Februar. Sein zweiter Brief sowie die Originalversionen einiger Telegramme wurden der Gerichtsakte Tehlirians hinzugefügt. Sie müssen noch da sein. Nach meiner Rückkehr nach Paris unternahm ich zwei Versuche, sie zurückzuholen, aber ohne Erfolg. Im September 1921 ging einer von Tehlirians Anwälten, Dr. Werthauer, mit seiner Frau durch Paris. Nachdem ich von einem Freund darüber informiert worden war, besuchte ich ihn im Hôtel Crillon, wo er sich aufhielt, und nutzte die Gelegenheit, um die Frage der Rückholung dieser Dokumente anzusprechen. Dr. Werthauer versprach mir, dass er sich nach seiner Rückkehr nach Berlin darum kümmern würde, aber ich habe nie etwas von ihm gehört. Sie fragen mich, warum ich den Namen von Bahaettin Şakir Bey nicht in meinem Buch als Unterzeichner der beiden Briefe an Cemal Bey erwähnt habe, obwohl ich gewusst haben müsste, dass Şakirs Unterschrift den Zeitungen in Konstantinopel bereits bekannt war? Die Antwort ist sehr einfach. Während der Veröffentlichung meines Buches wusste ich noch nicht, dass diese Briefe von Bahaettin Şakir Bey stammen. Als Unterschrift gab es unter diesen Briefen nur eine unleserliche Paraphe, die auf den ersten Blick wie eine übliche Kennzeichnung erschien. Ich erfuhr die Wahrheit über diese Paraphe in Berlin, einige Monate nach der Veröffentlichung meines Buches 1921. Ein armenisches Komitee, das sich dort mit Tehlirians Verteidigung befasste, hatte eine Reihe armenischer Zeitungen, in denen es Publikationen zu den Massakern gab, gesammelt. Da ich in Paris keine Gelegenheit hatte, Zeitungen aus Istanbul zu lesen, schaute ich sie aus Neugierde durch und stieß plötzlich auf eine Übersetzung einer der Briefe von Bahaettin Şakir Bey, unterschrieben mit seinem Namen. Es war ein Ausschnitt aus einer alten, undatierten Ausgabe der Zeitung »Joghovurti Tzaine«, die wahrscheinlich 1920 erschienen war. Da in meinem Buch der fragliche Brief nicht mit einem Namen unterschrieben war, war ich natürlich neugierig, warum Bahaettin Şakirs Name am Ende der Übersetzung stand. Ich schrieb daher einen Brief an die türkische Zeitung (wahrscheinlich »Sabah« des Armeniers Mihran Bey, der Chefredakteur war Ali Kemal Bey, bekannt 237 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 3 – ARAM ANDONIANS BRIEF AN MARIA TERZIAN

für seine Neigungen gegen die Einheit- und Fortschrittspartei (KEF)), die ihn mit der Unterschrift von Bahaettin Şakir Bey veröffentlicht hatte. Später erfuhr ich, dass die Initialen unter den Dokumenten in meinem Buch das Wort »Baha« enthalten, ein Spitzname, mit dem Bahaettin Şakir von seinen engen Freunden benannt wurde. Wie Sie sehen, ist die Sache nicht so kompliziert, wie es im ersten Moment erscheint. Noch eine weitere Frage, die Sie mir stellen: Sie wollen wissen, ob Cemal Bey, der Empfänger der beiden Briefe von Bahaettin, unter dem Befehl von Naim Bey stand. Nein! Ich hatte Ihnen in meinem ersten Brief ausführlich darüber geschrieben. Der Unterschied zwischen den beiden Männern ist enorm. Naim Bey war ein völlig unbedeutender Beamter, während Cemal Bey als verantwortlicher Sekretär, Katib-i Mesulü, des Komitees für Einheit und Fortschritt in Aleppo der absolute Herrscher der ganzen Provinz war, sogar einflussreicher als der Gouverneur (Vali) selbst, wenn auch natürlich nur in den Angelegenheiten der Zivilverwaltung. Er konnte nicht in militärische Entscheidungen eingreifen, aber umso mehr waren die zivilen Angelegenheiten – wie Deportationen und Massaker – vollständig seiner Autorität unterworfen. Bitte lesen Sie dazu meinen ersten Brief sowie Seite 100 meines Buches noch einmal durch. Es scheint, dass der stellvertretende Direktor des Deportationsamts, Abdulahad Nuri Bey, sich dem Komitee Einheit und Fortschritt voll und ganz verpflichtet hatte und daher als sehr zuverlässig galt und Cemal Bey die beiden Briefe von Bahaettin Şakir an Abdulahad Nuri als eine Anweisung zum weiteren Vorgehen gegeben hatte, die Abdulahad Nuri natürlich genauestens befolgte. Dies erklärt gleichzeitig, warum Naim Bey sie fand und mit den anderen Dokumenten aus dem Büro von Abdulahad Nuri Bey, wo er als Sekretär arbeitete, entwendete. Es war eines der unorganisiertesten Büros, mit einer unbeschreiblichen Unordnung von Gegenständen, von Dokumenten, die willkürlich in die Schubladen gestopft waren, ohne Nummerierung, ohne Beschriftung, ohne jede Art von Klassifizierung. Jedoch befanden sich alle Ämter, die sich mit den Deportierten in Städten oder in ländlichen Regionen befassten, in einem ähnlichen Zustand der Unordnung. In einer Notiz, die ich an Tehlirians Anwälte in Berlin geschickt hatte und von der Sie jetzt mit diesem Brief eine Kopie erhalten, werden Sie die Beschreibung der Umstände finden, unter denen wir die in meinem Buch wiedergegebenen Dokumente beschaffen konnten. Diese Beschreibung ist allerding nicht ganz vollständig. Es gab Dinge, die ich weder in meinem Buch veröffentlichen noch an Tehlirians Anwälte weitergeben konnte, um die Person von Naim Bey nicht zu diskreditieren. Für uns war er ein Spion geworden, der sein Land verriet. Und das ist alles, was es dazu zu sagen gäbe! Als Beamter hatte er ein furchtbares Renommee, aber die anderen im Büro duldeten ihn natürlich, da sie über seinen Verrat nichts erfuhren; und dabei war er keine auffällige Ausnahme unter 238 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 3 – ARAM ANDONIANS BRIEF AN MARIA TERZIAN

dem Verwaltungspersonal in der Stadt Aleppo, dem auch einige echte Gauner angehörten. Im Vergleich dazu könnte Naim Bey als Heiliger gelten. Er war ein Trinker und ein eingefleischter Spieler, und das waren genau die Laster, die ihn zum Verrat führten. Die Wahrheit ist, dass wir alle Dokumente, die er uns beschafft hat, gekauft haben. Aber der Kern seines Wesens war gut. Trotz des zerstörerischen Umfeldes, dem er auch ausgesetzt war, strahlte er völlige Vertrauenswürdigkeit aus. Wir konnten uns immer auf ihn verlassen. Ich traf ihn zum ersten Mal in einem der Sammellager für Deportierte in der mesopotamischen Wüste, in Meskene, wohin das Deportationsamt ihn vorübergehend als Ersatz für den Direktor (Müdür) Hüseyin Bey, auch Hüseyin der Tscherkesse genannt, geschickt hatte. Hüseyin war suspendiert worden, weil er keine allzu große Begeisterung bei der Ausführung der ihm erteilten Befehle aus Aleppo gezeigt hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Massaker in Deyr-i Zor begonnen, und der stellvertretende Direktor des Deportationsamts in Aleppo übte Druck auf Hüseyin Bey aus; er sollte das Lager in Meskene evakuieren, indem er die Deportierten nach Deyr-i Zor zur Vernichtung schickte. Aber Hüseyin Bey wollte nicht von seinen Deportierten getrennt werden, zumindest nicht von seinen wohlhabenden Deportierten, die ihn für sein Wohlwollen bezahlten. Naim Bey, der darauf wartete, dass Hüseyin Bey eine Möglichkeit fand, sich rechtfertigen zu können, folgte dem gleichen Weg. Das veranschaulicht perfekt diese Zeit, in der jeder mit der schrecklichen Angst lebte, in die Gebiete der Massaker zurückgedrängt zu werden, wo die Nachrichten täglich immer schrecklicher wurden. Unter diesen Umständen schlug Naim Bey bestimmten wohlhabenden Familien vor, nach Aleppo zu fliehen, und versprach ihnen, in dieser Angelegenheit behilflich zu sein, natürlich nur gegen Geld. Diese Familien – ursprünglich aus Konya, Adana, Akşehir und so weiter – hatten keine Wahl, wagten es aber nicht, den Vorschlag Naim Beys Folge zu leisten; sie dachten ganz vernünftig, dass die Flucht als Gruppe von sechs, sieben oder zehn Personen auf der langen Route, die Meskene mit Aleppo verband, nicht unbemerkt bleiben würde und schwerwiegende Folgen für Leib und Leben haben könnte. Naim Bey schlug daraufhin vor, zuerst einen Mann nach Aleppo zu schicken, um Kontakt mit einem bestimmten arabischen Kutscher aufzunehmen, den er kannte. Naim Bey zufolge war dieser Kutscher, den er Nakhli nannte, ein zuverlässiger Mann, diskret, sehr ehrlich und durchaus in der Lage, die Familien zu transportieren, ohne sie einer Gefahr auszusetzen. Da er aus dieser Gegend kam, konnte er während der Reise bei den arabischen Dorfbewohnern in der Umgebung, die oft zusammenhielten, Hilfe holen. Da ich mit den betroffenen Familien eng verbunden war und von ihren Gesprächen mit Naim Bey wusste, baten mich diese Familien, die Rolle 239 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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des Abgesandten zu übernehmen. Ich hatte keine Wahl, und es dauerte nicht lange – ich nahm ihren Vorschlag an und versuchte mein Glück. Zu diesem Zweck hatte ich mehrere Treffen mit Naim Bey, der mir ein Empfehlungsschreiben an den besagten Nakhli gab, und eines Nachts machte ich mich auf den Weg nach Aleppo. Aber da ich Naim Beys wahren Charakter noch nicht gut genug durchschaut hatte – seine Position als türkischer Beamter weckte bei mir ein natürliches Misstrauen –, folgte ich nicht dem von ihm angegebenen Weg, da ich Angst vor einem Hinterhalt hatte. Statt, wie von ihm empfohlen, die nach rechts gehende Route zu nehmen – und das war wirklich eine Abkürzung –, ging ich die linke Route, die viel mühsamer und länger war, aber viele Sand- und Kalkhügeln am Wegrand hatte, die es mir erlaubten, mich tagsüber zu verstecken und zu schlafen, da ich nur nachts laufen konnte. Ich brauchte nach Aleppo fünf Tage und vier Nächte, nur mit steinhartem Brot und einem Vorrat aus Johannisbrot und Gurken als Proviant, immer ein bis zwei Kilometer neben der Route gehend, ohne die Telegrafenlinie aus den Augen zu verlieren, die sich entlang des gesamten Wegs schlängelte und die einzige Möglichkeit für mich war, mich auf meinem Weg in die Stadt zu orientieren. Manchmal wurde ich von zwei oder drei Hyänen begleitet, die mir nachts in bestimmter Entfernung ruhig folgten, als würden sie auf meinen Sturz warten, um dann anzugreifen. Im Morgengrauen versteckten sie sich, genau wie ich. Ich habe sie nie im Tageslicht gesehen, in der Nacht auch nicht richtig. Ich sah nur die finsteren Schimmer ihrer Augen, die im Dunkeln wie Irrlichter tanzten. Naim Bey hatte mich bereits vor ihnen gewarnt, indem er mir empfahl, meinen Weg ruhig weiterzugehen, ihre Anwesenheit zu ignorieren und niemals vor ihnen wegzulaufen – was sie nämlich dazu veranlassen könnte, mich anzugreifen. Die dritte Nacht war kaum angebrochen, als sie mich für immer verließen, um der Fährte einer großen Gruppe von Krähen zu folgen, die wahrscheinlich zu herumliegenden Leichen unterwegs waren. In Aleppo angekommen, fand ich den Kutscher Nakhli sehr leicht. Er war wirklich ein freundlicher und zuverlässiger Mann, der keine Schwierigkeiten machte, den Vorschlag anzunehmen, und in mehreren Fuhren 16 Familien nach Aleppo transportieren konnte. Wie mit Naim Bey vereinbart, nahm er bei jeder Fahrt auch ein oder zwei armenische Intellektuelle samt Familien umsonst mit, die sich in Meskene ohne jegliches Geld aufgehalten hatten. Natürlich war es Naim Bey zu verdanken, dass Nakhli 16 Familien und Intellektuelle sicher transportieren konnte, ohne dass irgendjemand etwas davon erfuhr. Beide wurden deshalb von diesen Familien gut belohnt. Später wurden in Aleppo einige Personen aus diesen Familien als Flüchtige aus Meskene erkannt und verhaftet. Ich wurde auch verhaftet, 240 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 3 – ARAM ANDONIANS BRIEF AN MARIA TERZIAN

aber sie haben mich dank einer Bescheinigung, die mir Freunde besorgt hatten, sofort freigelassen. Man konfrontierte Naim Bey, der inzwischen auch nach Aleppo zurückgekehrt war, mit den Verhafteten. Naim Bey schwor bei seiner Ehre, dass er diese Personen in Meskene nie gesehen hätte, was ihre Freilassung ermöglichte. Der Kutscher Nakhli, auch er wurde nach einer Denunziation verhaftet, leugnete energisch alles, wie es die Araber gut können. Sie hielten den Kutscher monatelang im Gefängnis, aber er hat niemanden denunziert. Naim Bey hätte diesen Vorfall ausnutzen können, um die Familien zu erpressen, die ja durch Bestechung geflohen waren, aber er hat sie in Ruhe gelassen. Er dachte sicher jedes Mal an diese Leute, wenn er mal wieder kein Geld mehr hatte, was öfter der Fall war, aber er fragte sie nicht direkt. Normalerweise diente ich als Vermittler, und da diese Leute über gewisse Ressourcen verfügten und außerdem wegen seiner Hilfe ein ausgeprägtes Wohlwollen für Naim Bey hatten, den sie als ihren Retter ansahen, waren meine Fürsprachen für Naim nie erfolglos. Außerdem waren die Summen, die Naim Bey verlangte, ziemlich bescheiden. Auch ich konnte nach und nach die Vorteile seiner Nähe für mich nutzen. Ich ließ mich von ihm zunächst über den Verlauf der Ereignisse und über die Absichten der lokalen Regierung informieren, um ihn dann aufzufordern, die Dokumente aus den Akten im Deportationsbüro zu besorgen. Das Büro wurde damals nicht mehr gebraucht, da die Massaker in Deyr-i Zor schon Monate zuvor beendet waren. Die Briten standen schon vor Damaskus, Aleppo drohte auch bald zu fallen. Ich sagte Naim Bey, dass er, sobald die Briten in Aleppo einziehen würden, alle Arten von Dokumenten über die Massaker zu einem guten Preis an die armenischen Behörden verkaufen könnte. Gleichzeitig ermutigte ich ihn, seine Memoiren über die armenische Sache zu schreiben. Aus diesem Grund blieb er in Aleppo. Nach der Besetzung der Stadt durch die Briten gründeten die Armenier die Nationale Union, die ihm nach zahlreichen Untersuchungen die gestohlenen Dokumente abkaufte. Der Kauf erfolgte unter den in meiner Notiz aus Berlin vom 10. Juni 1921 beschriebenen Bedingungen. Ich schreibe das alles streng vertraulich, nur um Ihre Neugier zu befriedigen. Ich habe in meinem Buch ein ganz anderes Bild von Naim Bey entworfen, denn die Wiedergabe der tatsächlichen Wahrheit über seine Person würde niemandem nutzen. Naim Bey war ein völlig unmoralisches Wesen. Er hatte Laster, weswegen er dazu neigte, für Geld vieles zu tun, aber eben nicht alles. Dieser Unterschied ist von Bedeutung. Ich kann nicht vergessen, dass er im Laufe unserer langen Beziehung nie gelogen hat. Mit einem Wort, sein Charakter bestand aus völlig widersprüchlichen Eigenschaften, sowohl guten als auch schlechten. Aus dem, was ich geschrieben habe, können Sie ersehen, dass wir von den guten profitieren konnten, ohne von den schlechten behelligt zu werden. Ich 241 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 3 – ARAM ANDONIANS BRIEF AN MARIA TERZIAN

denke ständig und immer mit einer Art von Sympathie an ihn, die selbst nach einer solch langen Zeit kaum nachgelassen hat. Es liegt auch daran, dass ich in meiner Beziehung zu ihm oft meinen Kopf riskiert habe – eine gefährliche Übung, aber meinem abenteuerlichen Geist entsprechend – und er mich nie verraten hat. Was die genaue Bezeichnung seiner Position angeht, haben wir sie in der englischen Ausgabe meines Buches als »Chief Secretary of the Deportations Committee of Aleppo« übersetzt. Das ist nicht ganz zutreffend. Es sollte »Sekretär des Büros für Deportierte in Aleppo« sein. Leider kann ich kein Englisch und Ihnen deshalb nicht die richtige Version in Englisch nennen. Ich hoffe, Sie schaffen es, das allein zu regeln. Bitte verzeihen Sie mir die Länge dieses Briefes. Ich habe Ihre Neugierde genutzt, um ein paar Erinnerungen an jene denkwürdigen Tage aufzuschreiben, die von der Zeit noch nicht abgenutzt sind. Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihrer Arbeit und hoffe, dass Sie mich darüber auf dem Laufenden halten werden. Ich sende Ihnen meine besten Grüße. Mit tiefster Ergebenheit, Aram Andonian

242 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Anhang 4 – Brief von Konsul W. Rössler an Dr. Lepsius Konsul W. Rössler1 Eger, den 25. April 1921 Sehr geehrter Herr Dr. Lepsius! Das mir gütigst übersandte Buch von Aram Andonian über die armenischen Massaker habe ich erhalten und mich durch seine Lektüre sehr lebhaft nach Aleppo zurückversetzt gefühlt. In der nachfolgenden Besprechung werde ich zunächst einige Vorbehalte machen und dann auf den Wert des Berichtes von Naim Bey und der Dokumente eingehen. Der Verfasser ist meiner Ansicht nach nicht fähig, objektiv zu sein, sondern lässt sich von der Leidenschaft hinreißen und schreibt außerdem mit gewisser Tendenz, die, wie wir ja leider gewohnt sind, gegen Deutschland geht. An den verschiedensten Stellen des Buches schreibt er in der gehässigsten Weise über Deutschland, dagegen unterdrückt er im Allgemeinen die Nachrichten über deutsches Einschreiten zugunsten der Armenier. Wenn er einmal nicht anders kann, als das deutsche Dazwischentreten anzuerkennen, so sucht er die Wirkung durch Zusätze abzuschwächen. Wenn das Telegramm von Enver Pasche S. 158 echt ist, so ist die deutsche Einwirkung, von der er spricht, von der größten Wichtigkeit und von durchschlagendem Erfolge gewesen. Der Verfasser führt sie auf Liebknecht und Ledebour zurück. Erkennt er die Intervention der Anatolischen- und Bagdadbahn an, so sind es nur Schweizer gewesen, die er anführt. Nur auf Seite 51 spricht er allgemein von den »Ingenieuren«, schränkt aber den Eindruck gleich wieder durch die Anmerkung ein, in der er einem Schweizer Lob zollt. – Vom Werk der Schwester Beatrice, von Schwester Paula Schäfer, von Urfa und Marasch kein Wort! Die Tatsache, dass große Mengen von Armeniern nach Der-­ es-Sor getrieben worden sind, sucht er auf deutsche Veranlassung zurückzuführen (Seite 56) und behauptet, dass die Zusammenstellung der Armee Yıldırım die Ursache dazu gewesen sei. Er vergisst hierbei, dass die Vertreibung nach Der-es-Sor in die Jahre 1915 und 1916 fällt, dass die Armee Yildirim aber erst im Sommer 1917 zusammengestellt worden ist. Hier könnte dem Verfasser vielleicht eine Verwechslung mit militärischen Wünschen untergelaufen sein, die von deutscher Seite in den Jahren 1915 und 1916 ausgesprochen sein mögen und die darauf abzielten, 1 Dieser Brief wurde aus dem Original ohne Korrekturen übernommen.

243 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 4 – BRIEF VON KONSUL W. RÖSSLER AN DR. LEPSIUS

eine Verseuchung der Eisenbahn durch die erkrankten Vertriebenen zu verhindern, ein Bestreben, das bekanntlich nur zum Teil Erfolg hatte. Solche Wünsche wurden aber mit der größten Rücksicht auf die Armenier geäußert und vielmehr zu dem Versuche benutzt, den Armeniern zu helfen und sie in einiger Entfernung von der Eisenbahn 10 bis 20 km festzuhalten, ihre Verpflegung von der Eisenbahn aus zu ermöglichen. In der Datierung der veröffentlichten Dokumente laufen gelegentlich Fehler unter, die das ganze Dokument unmöglich machen würden, doch handelt es sich offensichtlich um Irrtümer. Das Dokument S. 132 des Buches hat einen Sinn, wenn es vom 15. Januar 1916 datiert ist und nicht vom 15. Januar 1915. Ebenso wie das Dokument S. 133 Nr. 853 vom 23.1.1916 datiert sein muss und nicht 23.1.1915. Ähnlich ist auf der Seite 148 Dokument Nummer 762 der Fehler offenbar. Dort ist ein Telegramm vom 17.12.1915 als Antwort auf ein Telegramm vom 2.12.1916 angeführt. Auf Seite 72 steht im Text 20. Januar 1917, im Telegramm dagegen 20. Januar 1916. Die Zusammenhänge sind von dem Verfasser nicht immer klar erfasst. Die Darstellung springt besonders in Kapitel III (Die Massaker von Deres-Sor) andauernd hin und her, scheint an vielen Stellen nur von dem Bestreben diktiert, alle Dokumente, die vorlagen, auch in die Darstellung zu verweben. (z. B. Tel. Seite 70 passt nicht in den Zusammenhang). Von diesen Ausstellungen abgesehen, muss ich sagen, dass der Inhalt des Buches in seinen einzelnen Zügen einen glaubwürdigen Eindruck macht und dass die veröffentlichten Dokumente, verglichen mit dem Hergang der Dinge, durchaus die innere Wahrscheinlichkeit für sich haben. Viele mir bekannte einzelne Züge sind unbedingt zutreffend geschildert, andere mir bis dahin nicht bekannte geben die Erklärung für Erscheinungen, die ich beobachtet habe und mir damals nicht erklären konnte. Das trifft z. B. auf die Tatsache zu, dass von Meskene aus eine Zeit lang eine Menge Armenier nach Aleppo zurückkehrten. Die Erklärung wird jetzt von dem Verfasser durchaus glaubwürdig auf Seite 13 des Buches dahingehend gegeben, dass Naim Bey ebenso wie der Mudır (Leiter) von Meskene, Hussein (Hüseyin) Bey, die ihnen erteilten grausamen Befehle nicht ausführten. Ich glaube mich des Hüseyin Bey zu erinnern, jedenfalls gab es einen Moment, in dem ich durch ein Empfehlungsschreiben nach Meskene erreichte, dass aus einem amerikanischen Seminar sechs vertriebene Armenierinnen die Erlaubnis erhielten, nach Aleppo zurückzukehren. Der Verfasser nennt in seinem Vorwort das Verschickungsskommissariat (sousdirection générale des deportés sise à Alep) die hauptsächliche Organisation für die Verschickung. Darin wird er Recht haben. Als der Verschickungskommissar aus Konstantinopel (Istanbul) ankam, und ich im ersten Augenblick glaubte, es handelte sich um das Bestreben, die Versorgung der Verschickten mit Lebensmitteln zu organisieren, überhaupt 244 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 4 – BRIEF VON KONSUL W. RÖSSLER AN DR. LEPSIUS

für sie ein wenig zu sorgen, und mich mit der Bitte an den Verschickungskommissar wandte, einige Armenier, die in deutschen Diensten gestanden hatten, freizugeben, schlug er dieses in der schroffsten Weise ab und sagte mir in einem unsagbaren hochmütigen Tone, den ich nie vergessen werde: »Vous ne comprenez pas ce que nous voulons. Nous voulons une Arménie sans Arméniens«.2 Damit hatte er, wie jetzt aus dem Buche von Andonian hervorgeht, seine Aufgabe umschrieben. Den Namen dieses Kommissars habe ich allerdings vergessen, aber es muss Abdulahad Nuri Bey gewesen sein, wenn es nicht sein Vorgesetzter Schukri (Sükrü) Bey war, der sich eine Zeit lang in Aleppo aufhielt. Ebenso wenig entsinne ich mich des Namens Naim Bey, was nicht weiter zu verwundern ist, da ich mich gegenüber den Verschickungsbeamten sehr zurückhalten musste und nur durch Mittelpersonen intervenieren konnte. Dagegen entsinne ich mich sehr wohl des Eyub Bey, der die Verschickung vor dem Eintreffen des Konstantinopeler Kommissars in der Hand hatte und diesem später zugeteilt wurde. Seine Charakteristik in dem Buche halte ich für durchaus zutreffend. Die Telegramme aus Konstantinopel, enthaltend die Verfügungen des Ministeriums des Innern, sind in ihrer Echtheit natürlich sehr schwer nachzuprüfen, denn sie geben ja nur die Handschrift des Telegrafenbeamten oder des Schreibers, der die Entzifferung besorgte, wieder. Dagegen glaube ich mich der Unterschrift des Wali Mustafa Abdul Khalik Bey zu entsinnen. Jedenfalls wird ja diese Unterschrift in Aleppo nachzuprüfen sein, dadurch würde zugleich ein indirekter Beweis für die Echtheit der Telegramme des Ministeriums des Innern erbracht werden. Der Verfasser teilt die Dokumente (Seite 16) in solche, die Naim Bey aufbewahrt hat, und in solche, die er aus dem Gedächtnis niedergeschrieben habe (transorité au fur et a mesure de ses souvenirs).3 Die Möglichkeit, dass Naim Bey amtliche Dokumente in seinem Privatbesitz zurückbehalten habe, anstatt sie zu den Akten zu geben, ist durchaus zuzugeben. Die Türken haben ihre Akten meines Wissens nie geheftet. Zwar bestand bei manchen Behörden ein ganz gut geordnetes Registraturwesen, doch sehr zweifelhaft ist, ob sie bei einer so vorübergehenden Behörde, wie dem Verschickungskommissariat, noch dazu bei der Natur von dessen Tätigkeit irgendwelchen Wert auf Aktenwesen gelegt haben. Die als Originaldokumente bezeichneten könnten also durchaus echt sein. Was die aus dem Gedächtnis Niedergeschriebenen betrifft, so müsste man die Persönlichkeit Naim Beys kennen, um ein Urteil über den Grad der Zuverlässigkeit abgeben zu können. Ein innerlich Unwahrscheinliches ist mir auch unter diesen nicht begegnet. Vielmehr finden Tatsachen, die ich kenne, durch die Dokumente eine gute Erklärung. Auch ihre Fassung spricht eher für ihre Echtheit als für das Gegenteil. 2 Sie verstehen nicht, was wir wollen. Wir wollen ein Armenien ohne Armenier. 3 Vorübergehend, wenn sein Gedächtnis wächst.

245 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 4 – BRIEF VON KONSUL W. RÖSSLER AN DR. LEPSIUS

Über die Echtheit oder Unechtheit des außerordentlich wichtigen, allen Verschickungen vorangehenden Briefes des jungtürkischen Komitees an seinen Vertreter in Adana Djemal (Cemal) Bey vom 18. Februar 1915 (Seite 96 des Buches) sowie über die übrigen Briefe des jungtürkischen Komitees vermag ich nichts zu sagen, wüsste auch keinen Weg, wie ihre Echtheit nachzuprüfen wäre. Ich stelle ergebenst anheim, auch Schwester Beatrice Rohner um eine Äußerung zu bitten. Sie hat mit den Verschickungskommissaren wohl mehrfach direkt zu verhandeln gehabt. Eyub Bey kennt sie persönlich. Ob sie auch Naim kennt oder Abdul Nuri Bey, kann ich nicht sagen. Jedenfalls wird ihre Äußerung von Wert sein. Auch Konsul Hoffmann, derzeit bei der Pressestelle des Auswärtigen Amtes, Behrenstr. 21, wird möglicherweise ein begründetes Urteil abzugeben in der Lage sein. Noch einige Einzelheiten zu den Angriffen des Verfassers auf Deutschland. Die Fotografie hinter Seite 56 »Gott strafe England« stellt die Mannschaft des Kreuzes »Emden« auf einem ihr zu Ehren von den Deutschen Aleppos gegebenen Gartenfest dar, bedeckt mit arabischen Kopftüchern, wie sie sie nach Verlust ihrer eigenen Matrosenkleider zum Schutze gegen die Hitze in Arabien zu tragen gezwungen waren. Auch hatte der Wali von Aleppo Offizieren wie der Mannschaft zum Empfang neue Kopftücher geschenkt und einigen auch Mäntel, die sie hier gerade anhaben. Dass Angehörige der deutschen Marine, die von den Engländern so viel gelitten, sich eine Tafel mit den Worten »Gott strafe England« erwählten, um sich darunter photographieren zu lassen, ist am Ende verständlich. Die Photographie wird vom Verfasser in einen ganz falschen Zusammenhang gestellt, Mücke kam schon im Mai 1915 durch Aleppo durch. Mit Propaganda unter den Arabern, um sie zum Kampfe gegen die Engländer zu treiben, hatte dieses nichts zu tun. Die Emdenmannschaft war sogar auf die Araber recht wenig gut zu sprechen. Hatten sie doch gegen die Araber fechten müssen und Reimann verloren, wie man in Mückes Ayescha nachlesen kann. Über die Propaganda, die der Verfasser Frau Koch nachsagt, bin ich nicht genau unterrichtet. Durch meine Hand ist eine zum Heiligen Krieg auffordernde arabische Broschüre, aus der eine Seite auf Seite 60 des Buches von Andonian photographiert worden ist, nicht gegangen. Es könnte aber sein, dass hier einmal eine Ungeschicklichkeit von deutscher Seite begangen worden ist, und es könnte auch sein, dass eine Broschüre, die nur für Nord-Afrika bestimmt war, sich nach Aleppo verirrt hat. Für Ihre Mitteilungen über den Stand der Akten-Publikation sage ich Ihnen aufrichtigen Dank. (gez.) W. Rössler

246 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Anhang 5 – Aram Andonians Brief an die Anwälte von Soghomon Tehlirian Berlin, den 10. Juni 1921 Die Dokumente, die in meinem Buch »Documents officiels concernant les massacres arméniens« »Dokumente zu den Massakern an den Armeniern« (Paris, 1920) wiedergegeben sind, befanden sich im Besitz von Naim Bey, Sekretär im Regionalbüro des Deportationsamtes in Aleppo. Die Zentrale des Deportationsamts war in Istanbul, und die gesamte Organisation wurde von einem jungen Mitglied des Komitees für Einheit und Fortschritt, Şükrü Bey, geleitet. Dieses Regionalbüro in Aleppo war zuständig für die Ausführung aller Befehle und Maßnahmen bezüglich der armenischen Deportierten, auch für die Vertreibung der Armenier von Aleppo in die Wüsten Syriens und Mesopotamiens. Naim Bey war ein durch und durch anständiger, harmloser Mann. Er bewies den Armeniern in Aleppo, aber auch an anderen Orten – sogar während des Krieges –, unzählige Male seinen guten Willen und seine Freundlichkeit, auch gegenüber ihren deportierten Landsleuten. Die verschlüsselten Befehle aus dem osmanischen Innenministerium (Talat Pasa) wurden zunächst entschlüsselt, dann dem Gouverneur von Aleppo vorgelegt. Der Gouverneur unterzeichnete die Befehle, setzte eine Apostille darunter und schickte die Befehle an das Deportationsamt, dessen Sekretär Naim Bey war. Deshalb bestehen keine Zweifel, dass diese Dokumente aus den Akten des regionalen Deportationsbüros entnommen worden sind. Als Naim Bey zugestimmt hat, uns diese Dokumente zu geben, hat die armenische Nationale Union von Aleppo, die eine offizielle Institution war, die Dokumente und die Unterschriften, die in den Apostillen zu sehen waren, von Experten überprüfen lassen. Diese Untersuchungen dauerten eine Woche. Sie haben diese Dokumente mit anderen Dokumenten verglichen, die von Gouverneur Mustafa Abdülhalik Pascha unterschrieben und ebenfalls mit einer Apostille versehen waren. Sie verglichen sie sorgfältig bis ins kleinste Detail. Am Ende wurden die Apostillen auf diesen Dokumenten ohne jegliche Einschränkung als die Handschrift und Unterschrift des Präfekten Mustafa Abdülhalik Pascha identifiziert, was keinen Zweifel mehr an der Echtheit der Dokumente zuließ. Nachdem die Nationale Union von der Echtheit dieser Dokumente völlig überzeugt war – und weil ich über die Massaker und die Gräueltaten, die begangen wurden, ziemlich gut informiert war, da ich selbst zwei Jahre unter diesen schrecklichen Anordnungen gelitten hatte –, beauftragte mich die Nationale Union, unter den Dokumenten aus Naim 247 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ANHANG 5 – ANDONIANS BRIEF AN DIE ANWÄLTE VON SOGHOMON TEHLIRIAN

Beys Besitz diejenigen auszuwählen, die unzweideutig die Verantwortung für die armenischen Massaker belegen konnten. Bei der Prüfung dieser Dokumente stellte ich fest, dass fast alle Befehle, die die Vertreibung und die Tötung der kleinen Kinder betrafen, von Talat Pascha, dem Innenminister und späteren Großwesir, kamen. Er war derjenige, der seine Beamten anspornte, aber auch rügte, um so die Vernichtung des armenischen Volkes so schnell wie möglich vollziehen zu können, und zwar ohne jegliche Ausnahme. Weder Kinder noch Greise sollten verschont werden. Talat Pascha teilte seinen Beamten mit, dass die Vernichtung ihre Pflicht sei, dass sie um jeden Preis und so schnell wie möglich erfolgen müsse, und der Minister sprach seine Beamten von jeglicher Verantwortung oder Strafverfolgung frei. Dieses kriminelle Unterfangen wurde von Talat Pascha zur größten patriotischen Verpflichtung erklärt, die ein Beamter erfüllen konnte. Aus diesen Dokumenten habe ich die wichtigsten ausgewählt und ich versichere Ihnen, dass ich, bevor ich die schriftlichen Befehle aus dieser furchtbaren Zeit zwischen 1915 und 1916 vor mir hatte, deren Durchführung bereits gesehen oder selbst erlebt hatte. Schließlich wurde ich von der armenischen Nationalen Union von Aleppo beauftragt, diese Dokumente nach Europa zu bringen und sie der armenischen Nationalen Delegation auf der Friedenskonferenz zu übergeben; so stand es auch in dem von den französischen Militärbehörden in Aleppo ausgestellten Laissez-passer (Passierschein), den ich als Reisedokument benutzte. Ich erledigte diese Aufgabe, indem ich den Dokumenten von Naim Bey einige Kommentare und Klarstellungen in einem ausführlichen Bericht anfügte, der in London auf Englisch, in Paris auf Französisch und in Boston auf Armenisch veröffentlicht wurde. Aram Andonian

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Abbildungsverzeichnis 1. Bild Kapitel 1.1 – Seiten der Anklageschrift des Militärtribunals von 1919–1921, veröffentlicht in Takvim-i Vekayi (Amtsblatt) Nummer 3540, die Zitate aus den Telegrammen von Mahmut Kamil Pascha und Bahaettin Şakir, rot unterlegt. 2. Bild Kapitel 1.2 – Der Befehl des Kommandanten der Dritten Arme Mahmut Kamil Pascha, 24. Juli 1915. 3. Bild Kapitel 1.3 – Bahaettin Şakirs entschlüsseltes Telegramm, 4. Juli 1915. 4. Bild Kapitel 1.4 – DH.ȘFR., 531/46-1: Verschlüsseltes Telegramm aus der Stadt Elazığ vom 7. September 1916. 5. Bild Kapitel 2.1 – Andonians handschriftliche Notizen zu seinen Gesprächen mit Naim Efendi. 6. Bild Kapitel 4.1 - DH.ȘFR., 472 /111-1: Verschlüsseltes Telegramm vom 27. Mai 1915, von Finanzminister Cavit aus Berlin, mit fünfstelligem Zifferncode. 7. Bild Kapitel 4.2 - DH.ȘFR., 500/53: Verschlüsseltes Telegramm vom 7. Dezember 1915, von Inspektor Fuat, mit dreistelligem Zifferncode. 8. Bild Kapitel 4.3 – DH.ȘFR., 490/96: Verschlüsseltes Telegramm des Direktors vom 12. Oktober 1915, von der Behörde für Umsiedlung von ethnischen Gruppen und Einwanderern, Şükrü, mit zweistelligem Zifferncode. 9. Bild Kapitel 4.4 – DH.ȘFR., 513/73: Verschlüsseltes Telegramm vom 18. März 1916 aus Niğde. 10. Bild Kapitel 4.5 – DH.ȘFR., 513/101: Verschlüsseltes Telegramm vom 20. März 1915 aus Trabzon. 11. Bild Kapitel 4.6 – Tabelle mit den Signaturen des Gouverneurs Mustafa Abdülhalik. 12. Bild Kapitel 4.7 – Die Handschriften des Gouverneurs Abdülhalik und der osmanischen Beamten im Vergleich, wie sie von Andonian in Medz Vojirě [Das große Verbrechen] veröffentlicht wurden. 13. Bild Kapitel 4.8 – Vergleichende Handschriften des Gouverneurs Mustafa Abdülhalik. 14. Bild Kapitel 5.1 – Vier armenische Namen in Naim Efendis Memoiren. 15. Bild Kapitel 5.2 – Armenische Namen im Telegramm vom 14. März 1916, von Talat Pascha. 16. Bild Kapitel 5.3 – Der Name »Soğomon Kuyumcuyan« in Naim Efendis Memoiren. 17. Bild Kapitel 5.4 – Der Name »Soğomon Kuyumcuyan« in einem osmanischen Dokument, DH.EUM., 2.Şube, 57/12.

249 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Bibliographie Archivalien Bibliothèque Nubar, Fonds Andonian, Matériaux pour l’histoire du génocide: »Déportations et massacres: Zohrab, Vartkès et divers«. BOA.A. Ministerialregister (Sadaret Defteri) BOA.BEO. Registratur der Kanzlei des Großwesirs an der Hohen Pforte (Babıali Evrak Odası Evrakı) BOA.DH.EUM. Direktion für öffentliche Sicherheit im Innenministerium (Dahiliye Nezareti Emniyet-i Umumiye Müdürlüğü) BOA.DH.EUM. 2. Şube: Zweite Abteilung für öffentliche Sicherheit im Innenministerium (Dahiliye Nezareti Emniyet-i Umumiye İkinci Şube) BOA.DH.EUM.MH. Registratur der Beamten der Direktion für öffentliche Sicherheit im Innenministerium (Dahiliye Nezareti Emniyeti Umumiye Memurin Kalem Evrakı) BOA.DH.EUM.LVZ. Registratur des Beschaffungsamtes der Direktion für öffentliche Sicherheit im Innenministerium (Dahiliye Nezareti Emniyeti Umumiye Levazım Kalemi) BOA.DH.EUM.VRK. Registratur des Archivs der Direktion für öffentliche Sicherheit im Innenministerium (Dahiliye Nezareti Emniyeti Umumiye Evrak Odası Kalemi Evrakı) BOA.DH.KMS. Registratur des Privatsekretariats des Ministers im Innenministerium (Dahiliye Nezareti Dahiliye Kalemi Mahsusa Evrakı) BOA.DH.ŞFR. Chiffrierabteilung des Innenministeriums (Dahiliye Nezareti Şifre Kalemi) BOA.İ.MMS. Direktion der Personal- und Dienstregister (İrada Meclisi Mahsus) BOA. MF.MKT. Das Sekretatriat des Bildungsministeriums (Maarif Nezareti Mektubi Kalemi) BOA.ŞD. Dokumente des Staatsrates (Şuray-ı Devlet Evrakı) DE/PA-AA Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Krikor Guerguerian Archiv

Zitierte Literatur Zeitungen Alemdar »Les explications de Bernard Lewis«, in: Le Monde vom 01.01.1994. Joghovurti Tzayn Takvim-i Vekayi 250 https://doi.org/10.5771/9783748906568 Generiert durch Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), am 11.02.2020, 15:46:42. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

ZITIERTE LITERATUR

Şurayı Ümmet Vakit gazetesi Yeni Gazete

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