Tötung aus »niedrigen Beweggründen«: Eine erfahrungswissenschaftlich-strafrechtsdogmatische Untersuchung zur Motivgeneralklausel bei Mord [1 ed.] 9783428465590, 9783428065592

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Tötung aus »niedrigen Beweggründen«: Eine erfahrungswissenschaftlich-strafrechtsdogmatische Untersuchung zur Motivgeneralklausel bei Mord [1 ed.]
 9783428465590, 9783428065592

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GÜNTER HEINE

Tötung aus "niedrigen Beweggründen"

STRAFRECHT UND KRIMINOLOGIE Untersuchungen und Forschungsberichte aus dem Max- Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg im Breisgau herausgegeben von Hans-Heinrich lescheck . Günther Kaiser Albin Eser

Band 11

Tötung aus "niedrigen Beweggründen" Eine erfahrungs wissenschaftlichstrafrechtsdogmatische Untersuchung zur Motivgeneralklausel bei Mord

Von

Günter Heine

Duncker & Humblot . Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Heine, Günter: Tötung aus "niedrigen Beweggründen": eine erfahrungswissenschaftlich-strafrechtsdogmatische Untersuchung zur Motivgeneralklausel bei Mord / von Günter Heine. - Berlin: Duncker & Humblot, 1988 (Strafrecht und Kriminologie; Bd. 11) Zug!.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1987 ISBN 3-428-06559-X NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0720-6860 ISBN 3-428-06559-X

Vorwort Die Abgrenzung von Mord und Totschlag: bei diesem Dauerproblem der Strafrechtsgeschichte ist 1977 durch das Bundesverfassungsgericht eine neue Diskussion eingeleitet worden, der sich weder der Bundesgerichtshof (mit seiner zweifelhaften "Rechtsfolgelösung", 1981) noch der Gesetzgeber (durch Einführung der Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe, 1981) gänzlich zu entziehen vermochte. Dabei ging es in erster Linie um eine Zurückdrängung der lebenslangen Freiheitsstrafe, die an sich ja bei Mord obligatorisch zu verhängen ist, mithin vor allem um eine Flexibilisierung solcher Mordmerkmale, die als zu starr empfunden wurden. Darüber wurde nahezu vergessen, daß es gerade umgekehrt auch Mordmerkmale gibt, die durch ihre weitgehende Unbestimmtheit zu nachhaltigen Bedenken Anlaß geben, wie insbesondere die "Tötung aus sonst niedrigen Beweggründen". Wenn die vorliegende Arbeit vor allem dieser Motivgeneralklausel gewidmet ist, so geschieht dies nicht zuletzt deshalb, weil gerade die "niedrigen Beweggründe" - in krassem Mißverhältnis zu ihrer praktischen Bedeutung und in kaum erkannter Relevanz für die Grundlagen des Strafrechts - vernachlässigt wurden. Dies gilt nicht nur für die dogmatische Diskussion, dies gilt auch im Hinblick auf eine notwendige empirische Betrachtung und sozialwissenschaftliche Fundierung. Demgemäß konnte es nicht nur um eine rein rechtliche Studie gehen, vielmehr war die normative Untersuchung mit tatsächlichen Gegebenheiten zu konfrontieren, um so zu einer umfassend abgesicherten Aussage über Inhalt und Grenzen dieses Mordmerkmals zu kommen. Dabei sollen nicht nur die mit der Bezugnahme auf innerpsychische Prozesse vorgegebenen Probleme dieser Klausel transparent gemacht werden, insbesondere geht es um die Herausarbeitung einer Auslegung, die sich um dogmatische Konsistenz wie auch um praktikable Umsetzung bemüht und weitestmöglich auch erfahrungswissenschaftlich abgesichert ist. Bei einem so verstandenen Forschungsziel steht natürlich ein umfassend untermauerter Weg für eine rationale Interpretation und Handhabung der Motivgeneralklausel im Vordergrund. Freilich ergeben sich zwangsläufig Folgerungen für die Auslegung der Konzeption der Tötungsdelikte insgesamt. Und last not least soll ein Beitrag zur Technik und Methodik von gleichartigen Arbeiten im Grenzbereich von Strafrecht und Kriminologie geleistet werden.

Vorwort

VI

Die vorliegende Untersuchung wurde mitinspiriert durch ein Gutachten, das mein verehrter wissenschaftlicher Lehrer, Herr Prof. Dr. Albin Eser, 1980 für den 53. Deutschen Juristentag erstattet hat. nun, der nicht nur durch stets hilfreiche Förderung und großmütige Geduld meine Arbeit begleitete, sondern auch für überaus fruchtbare Rahmenbedingungen Sorge trug und die Veröffentlichung der Untersuchung in der vorliegenden Reihe initüerte, bin ich sehr zu Dank verpflichtet. Wertvolle Anregungen verdanke ich auch Herrn Professor Dr. Josef Kürzinger. Die Arbeit hat darüber hinaus vor allem im methodischen Bereich sehr von der Beratung und Hilfe meiner wissenschaftlichen Kollegen am Freiburger MaxPlanck-Institut profitiert. Ich danke insoweit besonders Herrn Dr. Rüdiger Ortmann für sozialwissenschaftliche Hilfestellungen und Ratschläge. Herrn Dr. Walter Perron gilt mein Dank für seine uneingeschränkte Gesprächsbereitschaft und gedankliche Förderung in dogmatisch-struktureller Hinsicht. Meinen geschätzten "Alt-Tübingern", Dr. Walter Gropp, Dr. HansGeorg Koch und Dr. Margret Spaniol, weiß ich mich durch manch unentbehrliche Orientierungshilfe verbunden. Ganz speziellen Dank schulde ich meiner Frau und meinen Töchtern, die, jede gerade auf ihre Art, entscheidend zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Mein Dank gilt ferner den Hilfskräften, welche die Rechnerarbeiten besorgt und sich um Literaturbeibringung bemüht haben. Die Sekretärinnen des Max-Planck-Instituts, insbesondere Frau Rose Marie Heidel und Frau Christa Wimmer sowie Frau Babette Bonn, haben mit großer Sorgfalt und Geduld die Reinschrift gefertigt: herzlichen Dank. Schließlich schulde ich Dank Herrn Professor Dr. Dr. h. c. mult. HansHeinrich Jescheck und Herrn Professor Dr. Günther Kaiser für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Strafrecht und Kriminologie" und der VG Wort für einen großzügigen Druckkostenzuschuß. Last not least gilt mein Dank dem Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht für vielfältige Unterstützung. Freiburg, im Oktober 1987

Günter Heine

Inhaltsverzeichnis § 1 AufgabensteIlung: Abgrenzung und Gang der Untersuchung

1. Problemstellung

1 1

II. Zum Gang der Untersuchung ..................................

4

A. Forschungsansatz ..........................................

4

B. Durchführung

6

§ 2 Darstellung des Untersuchungsmaterials

7

1. Methode und Durchführung

7

I1. Bestimmung der Variablen

11

III. Grundstrukturen des Fallmaterials .............................

13

A. Gesetzliche Kriterien

13

B. Sozialmerkmale der Verurteilten und der Opfer ..............

15

C. Tatbezogene Kriterien

15

Erster Teil GRUNDLAGEN UND GRUNDPROBLEME DER MOTIVGENERALKLAUSEL § 3 Der historische Hintergrund der Konzeption der Tötungsdelikte die heutige Ausgangslage ........................................

18

1. Rückblick: Die Überlegungs konzeption von 1871 und die" Verwerflichkeitskasuistik" von 1941 ...................................

18

A. Die Überlegungskonzeption des RStGB 1871

19

B. Die an Tätertypen orientierte Kasuistik der Novelle von 1941 . 1. Die Bedeutung der normativen Tätertypenlehre

23

.. . . . . . . . . .

24

2. Die Ethisierung des Strafrechts durch den Gesinnungsverfall des Täters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

VIII

Inhaltsverzeichnis C. Konsequenz: Relativ weite Fassung bzw. starre Beschaffenheit der Tatbestände - Fehlen eines konzisen Maßstabes . . . . . . ..

11. Zur Ausgangslage

28 29

A. Zentrales Leitprinzip: Keine Entscheidung durch den Nachkriegsgesetzgeber ..........................................

29

B. Die reine Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

. . . . . . . . . . . ..

30

...............................................

30

2. Normative Einschränkungen bei der " inneren " Tatseite im einzelnen

31

3. Offene Fragen ...........................................

34

§ 4 Der Bezugspunkt "Beweggründe": Definitionsvielfalt, Ambivalenz und fehlende Trennschärfe als Grundprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

35

1. Überblick

1. Stellenwert und Mehrdeutigkeit des Begriffs "Beweggrund"

36

A. Stellenwert ................................................

36

B. Übersicht über die Definitionsvielfalt ........................

37

11. Die ambivalente Wertbesetzung der Motivation und die geringe Charakterisierungskraft einzelner Motive .. . . . .. . . . . ... . . . . . . ..

40

A. Die (amorphe) Vielzahl von Motiven als praktischer Regelfall ..

40

B. Die gegenseitige Relativierung der Beweggründe

44

C. Zwischen überlegungen : Extreme Strafbarkeitsalternativen ?

47

D. Mangelnde Trennschärfe der Motive

48

E. Bilanz .....................................................

53

§ 5 Die "bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH auf dem Prüfstand ...............................................

54

1. Notwendigkeit und Grenzen einer sittlichen Rückbindung .......

55

A. Das allgemeine Normgeltungsbewußtsein als innerer Geltungsanspruch des Rechts .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

55

B. Die begrenzte Aussagekraft sittlicher Maßstäbe

..............

58

C. Unterschiedliche Gebrauchsregelsysteme und fehlender sittlicher Konsens als Einbruchstellen für divergierende Wertungen? ...

60

11. Mangelnde Präzision bei der Handhabung: Notwendigkeit einer Versachlichung ...............................................

63

A. Die Fragilität des sittlichen Wertmaßstabs am Beispiel von BGHUrteilen ...................................................

64

Inhaltsverzeichnis

IX

B. Geringe Revisionsfestigkeit schwurgerichtlicher Urteile? Wertungsunterschiede auf vertikaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

c. Wertungsunterschiede

66

auf horizontaler (instanzgerichtlicher) Ebene? ....................................................

68

D. Rache als "niedriger Beweggrund": Empirische Zusammenhänge in der instanzgerichtlichen Praxis ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

1. Gesamtüberblick : Die differenzierungsstärksten Merkmale bei der richterlichen Bewertung des Motivs Rache ......... . ..

70

2. Vertiefung: Handhabungsschwierigkeiten - Gefährlichkeitsansätze? ................................................ a) Zusammenhänge mit bestimmten Merkmalen ........... b) Probleme der inneren Tatseite am Beispiel von § 21 StGB

78 78 83

3. Ergebnis

................................................

85

E. Die Umsetzung der verschärften Anforderungen des BGH an die "innere" Tatseite: Erhebliche Anwendungsprobleme .........

86

F. Kontraproduktivität einer Rationalisierung: Umsetzung kollektivpsychologischer Bedürfnisse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

89

II1. Zwischenergebnis: Notwendigkeit eines konzisen Qualifikationsprinzips - Fragilität rein innerpsychischer Einschränkungsversuche - Klärung des Anknüpfungspunktes "Beweggründe" ..

90

§ 6 Die richterliche Motivfeststellung: Einwände der Erfahrungswissenschaften und empirische Befunde aus der Praxis ..................

92

1. Die Motivfeststellung im kritischen Licht der Erfahrungswissenschaften ......................................................

93

A. Die Täteraussagen als Grundlagen

94

1. Einschränkung der Mitteilbarkeit bei subliminaler Wahrneh-

mung

...................................................

95

2. Motivverschiebung durch Bewußtseinsdominanz ethisch höher bewerteter Tatantriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

B. Die Ermittlung von Beweggründen aus den äußeren Tatumständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

98

1. Die Bedeutung sozialer Situationen: Verzerrungen durch den

dispositionellen Attributionsfehler?

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

2. Die Handlungszielorientierung als Aufklärungsmittel

99

....... 100

C. Der Halo-Effekt als Einflußfaktor

102

D. Zusammenfassung

105

x

Inhaltsverzeichnis

11. Die Motivfeststellung in der Rechtsprechung

105

A. Feststellungsprobleme im Spiegel der BGH-Urteile ........... 106 B. Zur Bedeutung (scheinbar) nicht aufklärbarer Motive in der Rechtsprechung ........................................... 108 1. Der Stellenwert unsicherer Motivfeststellung .............. 109 2. Die Nichtaufklärung der Motive als Instrument tatrichterlicher Rechtsfindung ........................................... 110 a) Allgemeine Tendenzen: Vermeidung von §211 StGB und Nichtanwendung von §213 StGB ....................... 110 114 b) (Normative) Affekte als mögliche Einflußfaktoren? II1. Gesamtbi/anz

118

Zweiter Teil VERSUCH EINER RATIONALISIERUNG § 7 Die (formalen) Ausgangspositionen: 15 Jahre Freiheitsstrafe als unterer Strafrahmen - vierstufige Konzeption - Möglichkeit von Unrechtssteigerungen ........................................... 121

1. Überlegungen zu einem formalen Beziehungsmodell zwischen Schuld und Strafe bei den TötungsdeUkten ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 122 A. Vorüberlegungen: Proportionalität von Schuld und Strafe

123

B. Die denktheoretische Möglichkeit von Unwertquantifizierungen bei § 211 StGB ............................................. 126 II. § 5 7 a StGB als formaler Orientierungspunkt für den notwendigen

MordschuldvOTWurf ........................................... 130

A. Die "besondere Schwere der Schuld" als Kriterium dernachträglichen Strafkonkretisierung ................................. 131 B. 15 Jahre Freiheitsstrafe als untere Grenzmarke des Mordunwerts ................................................... 135 II1. Vierstufige Konzeption der Tötungsdelikte? ..................... 136

N. Quantifizierbarkeit des Tötungsunwerts ........................ 137 § 8 Begriffs- und Strukturanalyse der "Beweggründe" ................ 139

1. Der (begrenzte) Beitrag der Erfahrungswissenschaften A. Zur Bedeutung sozialwissenschaftlicher Stellungnahmen

140 141

Inhaltsverzeichnis

XI

1. Der Schulenstreit in der Psychologie

141

2. Unterschiedliches Selbstverständnis unterschiedliche Begriffsbildung .......................................... 143 B. Motive im psychologischen Verständnis

..................... 146

1. Die Begriffsinhalte ....................................... 147 2. Zur (allgemeinen) Phänomenologie des Motivationsgeschehens 148 3. Parameter des Motivationsprozesses ...................... 150 4. Zusammenfassung ....................................... 152 C. Die Bewußtseinsproblematik: Zur Qualität und zum Gegenstand psychischer Vorgänge ...................................... 152 1. Befunde der (forensischen) Psychologie

. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 153

2. Die Sicht der (forensischen) Psychiatrie: Unterschiedliche Repräsentation der Erlebnisinhalte aus phänomenalem und transphänomenalem Bereich .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 154 D. Zusammenfassung und Ertrag

158

11. Die phänomenologische Struktur des Merkmals in Rechtsprechung und Lehre .................................................... 158 A. Der gemeinsame Nenner der h. M.: Beweggründe als Vorstellungen, Zielsetzungen, Emotionen ............................. 160

B. Beweggründe und intellektuelle Erfordernisse

162

1. Bewußte Handlungsantriebe als zentrale Bewertungsfaktoren 162 1. Bewußtseinsinhalte und -gegenstände: Zum Streitstand .... 163 a) Motivbewußtsein ..................................... 163 b) Sachverhaltskenntnis ................................. 165 lli. Versuch einer Umorientierung: Beweggründe als Motivationstrias 165 A. Voruberlegungen: Zur Notwendigkeit eines funktionalen Ansatzes .................................................. 165

B. Beweggründe als Oberbegriff für primär intentionale, primär reaktive und primär zuständliche Motivationselemente 167 1. Primär intentionale und primär reaktive Motivformen ...... 167 2. Primär zuständliche Motivationsformen

................... 169

C. Offene Fragen: Das Motivmodell auf dem Prüfstand .......... 171 1. Sicherung einer einheitlichen Motivationsbestimmung

172

2. Systematische Harmonisierung der subjektiven Mordmerkmale ............................................... 172 3. Lösungsbeitrag bei Motivbündeln ......................... 173

XII

Inhaltsverzeichnis 4. Anknüpfilllgspilllkt Tat

175

5. Konstitutive Bewußtseinsprozesse ........................ 175 a) Motivationselemente als Vorsatzgegenstand ? ............ 175 b) Notwendige Bewußtseinsinhalte, -formen illld -gegenstände ................................................ 176 § 9 Leitprinzip für die Auslegung: Der Archimedische Punkt niedriger Beweggründe ................................................... 180 I. Sichtung der bisherigen Lösungs ans ätze

........................ 182

A. Niedrige Beweggründe als Ausdruck besonderer Verwerflichkeit ....................................................... 183 1. Anwendilllgsbereich für Typenkorrekturen ?

183

2. Konkretisierilllgen der besonderen Verwerflichkeit ........ 185 a) Modifizierte Überlegilllgskonzeption: KÖHLERs "illlmittelbar normreflektiert-überlegte Tatentscheidilllg" ......... 185 b) Die besonders verwerfliche Gesinnilllg als Gradmesser? .. 191 B. Niedrige Beweggründe als Ausdruck besonderer Gefährlichkeit? ...................................................... 195 1. Illegimität von Gefährlichkeitsüberlegilllgen? .............. 196 a) Zur Klarstellilllg: Gefährlichkeit als Orientierilllgslinie Anknüpfilllg an Tatschuld - kein Verzicht auf Vorwerfbarkeit .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 196 b) Legitimation der Mordstrafe durch präventive Aspekte? .. 198 2. Konkretisierilllgen der Gefährlichkeitsprämien . . . . . . . . . . .. 199 a) Tätergefährlichkeitsansätze : Gesetzliche illld kriminalpolitische Bedenken .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 199 b) Generalpräventive Bezugspilllkte: Zur Tragfähigkeit von Plausibilitätserwägilllg ................................. 202 C. Niedrige Beweggründe in (alleiniger) Abhängigkeit von Mittel illld Zweck? ................................................... 206 1. Die Weite der allgemeinen Formel

........................ 207

2. Die Enge eines quantitativen Mißverhältnisses (geringfügiger Anlaß) .................................................. 208 D. Zwischenbefillld: Offene Fragen

209

II. Auslegungsvarschlag: Niedrige Beweggründe als Ausdruck solipsistischer Rücksichtslosigkeit .................................... 210 A. Die intentionale Bezugnahme auf mitbetroffene schutzwürdige Interessen illld Rechtsgüter als Unwertsteigerilllg? ........... 210 B. Die solipsistische soziale Rücksichtslosigkeit: Besondere Verwerflichkeit illld spezifische Gefährlichkeit .................. 213

Inhaltsverzeichnis 1. Der gemeinsame Qualifizierungsgrund der 1. und 3. Gruppe des §211 Abs. 2 StGB ....................................... a) Solipsistische Interessenverfolgung - Herabsetzung des Rechtswerts Leben überhaupt ......................... b) Die Gefährlichkeit dieser Verhaltensmuster: Gemeinschaftsbedrohlichkeit und Abschreckungsprävention c) Ergebnis: Die solipsistische soziale Rücksichtslosigkeit als Leitprinzip .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Übertragung auf die Motivgeneralklausel: Erheblicher Erkenntnisgewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Grundsätze ........................................... b) Konsequenzen für die Auslegung ...................... c) Zur Notwendigkeit von zusätzlichen Erklärungsmustern ..

xm 213 213 215 217 220 220 223 225

§ 10 Systematische Einordnung: Die Motivgeneralklausel als komplexes Merkmal ........................................................ 226

I. Gesinnungsmerkmale al$ zwangsläufig reine Schuldmerkmale?

226

II. Niedrige Beweggrunde al$ "echtes" Gesinnungsmerkmal? ........ 227 A. Die Motivgeneralklausel als komplexes Merkmal ............. 228

B. Konsequenzen für die Behandlung von Irrtum und Teilnahme? 231 1. Irrtum

.................................................. 231

2. Teilnahme

232

§ 11 Die solipsistische soziale Rücksichtslosigkeit der Interessenverwirklichung: (positive) Indizien ....................................... 235

I. Befunde der instanzgerichtlichen Praxis: Erkenntnishilfe durch typische Fallkonstellationen? ................................... 235 II. (Positive) Erklärungsmuster für die Niedrigkeit der Beweggrunde 238 A. Das kraße Mißverhältnis zwischen Ziel und/oder Anlaß der Motivation im Vergleich zu dem Antrieb der Tötung .............. 238

B. Das kalkulierende Hinwegsetzen über die Rechtswahrungsfunktion des Staates als Ausdruck solipsistischer Rücksichtslosigkeit 242 C. Das solipsistische Anstreben besonders rechtsfeindlicher Erfolge .................................................... 244

III. Zusammenfassung § 12 Wertungsmuster zur Einschränkung der Motivationsklausel

247 248

I. BGH: Spezifische Motivationsfähigkeit, Teilbarkeit von Motivationsbeherrschungsvermögen und Tötungshemmung ................. 248

Inhaltsverzeichnis

XIV

11. Tendenzen in der instanzgerichtlichen Praxis

252

II1. Leitgesichtspunkte für eine systematisch-typisierende Einschränkung ......................................................... 255 A. Schwere Persönlichkeitsstörung und starke Herabsetzung der Fähigkeit zu sinnhafter Motivation als Gegenindikatoren 256 1. (Normal-psychologische) Affekte als zwangsläufige Ausschließungsgrunde der Niedrigkeit? ............................ 257 a) Affekte: unterschiedliche Intensitätsgrade und Wirkungen 258 259 b) Friktionen mit Wertentscheidungen des Gesetzgebers 2. Normative "Eingangspforte" für Persönlichkeitsstörungen Wirkungen auf psychologische Fähigkeiten ................ 260 B. Provokationsbedingte Affekte und personalkonfliktgeprägte Affektlagen als Gegenindikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 264 1. Teilverwirklichung von gesetzlichen Wertentscheidungen

265

2. Provokationsbedingte Affekte als Entlastungsproblem ...... 267 3. Personalkonfliktgeprägte Affektlagen als Entlastungsproblem ................................................ 271 C. Fehlendes Potential, sich der besonderen sozialethischen Abwertung der Tat bewußt werden zu können, als Gegenindikator .. 274

IV. Überprüfung der Ergebnisse: Instanzgerichtliche Befunde ........ 275 § 13 Zusammenfassung und Ausblick § 14 Anhang

279

......................................................... 283

1. Vorbe11terkung ................................................ 283 11. Tabellen ...................................................... 285 Literaturverzeichnis ................................................. 329

Verzeichnis der Tabellen, Schaubilder und Übersichten Nr. 1: Verteilung der SoziaImerkmale der Verurteilten

................

16

Nr. 2: Die Motivhäufigkeit in instanzgerichtlichen Urteilen

42

Nr. 3: Motivbündel in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung an den Beispielen "Rache" und "Haß" ................................

45

Nr. 4: Die Definitionsstärke bestimmter Beweggründe

51

Nr. 5: Zusammentreffen von Motiven mit gegenläufigen Bewertungstendenzen: Einordnung als "Niedriger Beweggrund" ...........

53

Nr. 6: Die "Revisionsfestigkeit" der Tötung aus Niedrigen Beweggründen (BGH-Urteile vom 1. Mai 1979 - 30. April 1981) ................

67

Nr. 7: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und Tötungen aus Rache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Nr. 8: Zusammenhänge zwischen Affekttötungen und der Nationalität der Täter ........................................................

75

Nr. 9: Zusammenhänge zwischen Konflikttötungen und der Nationalität der Täter ....................................................

76

Nr. 10: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und bestimmten Tötungsmitteln bei Rachetötungen .........................

80

Nr. 11: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und bestimmten Tötungsmitteln ohne Rachemotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

Nr. 12: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und der TäterOpfer-Beziehung bei Rachetötungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

Nr. 13: Vorbelastung und Definition von Tötung aus "niedrigen Beweggründen" ........................................................ 104 Nr. 14: Zusammenhänge zwischen motivatorisch nicht voll aufgeklärten Taten und Niedrigen Beweggründen ........................... 110 Nr. 15: Zusammenhänge zwischen motivatorisch nicht voll aufgeklärten Tatenund§213StGB ........................................ 111

XVI

Verzeichnis der Tabellen, Schaubilder und Übersichten

Nr. 16: Motivfeststellung und Rechtsfolgen ............................ 113 Nr. 17: Motivfeststellung und Affekte

................................. 116

Nr. 18: Phänomenaler und transphänomenaler Bereich psychischer Strukturen ........................................................ 156 Nr. 19: Zusammenhänge zwischen Nah-/Fernraumtötungen und niedrigen Beweggründen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 187 Nr. 20: Zusammenhänge zwischen Spontantötungen und "niedrigen Beweggründen" ..................................................... 188 Nr. 21: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und der TäterOpfer-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 236 Nr. 22: Die Verneinung der Niedrigkeit der Beweggründe: Übersicht über defmitionsstarke Kriterien ..................................... 253 Nr. 23: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und personalkonfliktbedingten Affekten .................................... 276 Nr. 24: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und provokationsbedingten Affekten ....................................... 277 Nr. 25: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und Affekten bei Ehrverletzungen u. ä. . ..................................... 278 Nr. 26: Richterliche Defmition von "Tötung aus sonst niedrigen Beweggründen" ..................................................... 286 Nr. 27: Richterliche Definition von Affekt unter Berücksichtigung der Affektstärke .................................................. 288 Nr. 28: Richterliche Definition von Konflikt unter Berücksichtigung von Kurz- und Langzeitkonflikt .................................... 290 Nr. 29: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und uneingeschränkt schuldfähigen Tätern ............................... 292 Nr. 30: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und Konfliktlosen Tötungen .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 294 Nr. 31: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und affektfreien Tötungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 296 Nr. 32: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und vorbedachten Tötungen ............... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 298 Nr. 33: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und Tötungen ohne Provokation ............................................. 300

Verzeichnis der Tabellen, Schaubilder und Übersichten

XVII

Nr. 34: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und Tatvollendung ...................................................... 302 Nr. 35: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und Tötungen aus Rache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 304 Nr. 36: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und Tötungen aus Wut ..................................................... 306 Nr. 37: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und dispositionalen, konstellativen und sonstigen Faktoren bei Nichtvorliegen von anderen Mordmerkmalen ..................................... 308 Nr. 38: Zusammenhänge zwischen besonders qualvollen Tötungshandlungen und bestimmten Variablen ................................ 310 Nr. 39: Zusammenhänge zwischen vorbedachter Tötung und bestimmten Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 312 Nr. 40: Zusammenhänge zwischen Provokation und bestimmten Variablen 314 Nr. 41: Zusammenhänge zwischen Rache und bestimmten Variablen .... 316 Nr. 42: Zusammenhänge zwischen Wut und bestimmten Variablen

318

Nr. 43: Zusammenhänge zwischen Haß und bestimmen Variablen

320

Nr. 44: Zusammenhänge zwischen Zorn und bestimmten Variablen ..... 322 Nr. 45: Zusammenhänge zwischen Kummer, Gram, Schmerz, Trauer und bestimmten Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 324 Nr. 46: Zusammenhänge zwischen minder schweren Tötungsfällen (§213 StGB) und bestimmten Variablen .............................. 326 Nr. 47: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und Affekten 328 Nr. 48: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und Alkoholisierung ...................................................... 328

Abkürzungsverzeichnis· a.A.

= anderer Ansicht

a.a.O.

=

abI.

= ablehnend

Abs.

=

am angegebenen Ort Absatz

AE

=

Alternativentwurf

a.E.

=

am Ende

a.F.

=

alte Fassung

AG

= Amtsgericht

Anm.

=

Art.

= Artikel

AT

=

Aufl.

= Auflage

Anmerkung Allgemeiner Teil

B

=

Berlin

Bad

=

Baden-Baden

BayObLG

=

Bayerisches Oberstes Landesgericht

BBl.

=

Bundesblatt (Schweiz)

Bd.

=

Band

BGE

=

Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts

BGBl.

=

Bundesgesetzblatt

BGH

=

Bundesgerichtshof

BGHSt

=

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

BT

=

Besonderer Teil

BT-Drs.

=

Bundestagsdrucksache

BVerfG

=

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

=

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

C

=

Korrelationskoeffizient

• Weitere Abkürzungen werden jeweils im Text erläutert.

Abkürzungsverzeichnis =

XIX

Verfahren zur Bestimmung der Sicherheit eines statistischen Zusammenhangs

dens.

=

denselben

df

=

d.h.

=

das heißt

Diss.

=

Dissertation

DJ

=

Deutsche Justiz

DJT

=

Deutscher Juristentag

DR

=

Deutsches Recht

DRiZ

=

Deutsche Richterzeitung

DRZ

=

Deutsche Rechtszeitschrift

E

=

Entwurf

ebda.

=

ebenda

degree of freedom (Freiheitsgrade). Kenngröße der mathematischen Funktion chi2, mit der bestimmt wird, ob ein chi 2-Wert signifikant ist oder nicht

ELL

=

Ellwangen

etc.

=

et cetera

f.

=

folgend

ff.

=

folgende (Seiten)

Fn.

=

Fußnote

FR

=

Freiburg

GA

=

Goltdammer's Archiv für Strafrecht

GG

=

GS

=

Der Gerichtssaal

GSSt

=

Großer Strafsenat

H.

=

Heft

Hbbd.

=

Halbband

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

v. 23.5.1949

HeH

=

Hechingen

HD

=

Heidelberg

HESt

=

h.L.

=

herrschende Lehre

h.M.

=

herrschende Meinung

Höchstrichterliche Entscheidungen. Sammlung von Entscheidungen der Oberlandesgerichte und der Obersten Gerichte in Strafsachen

xx

Abkürzungsverzeichnis Heilbronn

HN

=

HRR

=

Hrsg., hrsg.

= Herausgeber,herausgegeben

i.d.F.

=

in der Fassung

i. e.

=

id est (das ist)

insbes.

=

insbesondere

i. S.

= im Sinne

i.V.m.

=

Höchstrichterliche Rechtsprechung. Vereinigte Entscheidungssammlung

in Verbindung mit

JA

=

Juristische Arbeitsblätter

jew.

=

jeweils

Journ. App. Psychol.

=

Journal of Applied Psychology

Journ. Exp. Psychol.

=

Journal of Experimental Psychology

JR

=

Juristische Rundschau

Jura

=

Juristische Ausbildung

JuS

=

Juristische Schulung

JW

=

Juristische Wochenschrift

JZ

=

Juristenzeitung

KA

=

Karlsruhe

KG

=

Kammergericht

KN

=

Konstanz

Krim. Abh.

=

kriminalistische Abhandlungen

krit.

=

kritisch

LdR

=

Lexikon des Rechts

LG

=

Landgericht

LH

=

Lehrheft

Liechtenstein JZ

=

Liechtensteinische Juristenzeitung

LK

=

Leipziger Kommentar

LM

=

MA

=

Mat.

=

MDR

= Monatschrift für Deutsches Recht

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes im Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs von Lindenmaierl Möhring Mannheim Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. I-XV, Bonn 19541962

Abkürzungsverzeichnis

XXI

MMW

=

Münchner Medizinische Wochenschrift

MOS

=

Mosbach

MschrKrim

=

Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform

m. weit. Nachw.

=

mit weiteren Nachweisen

N

=

absolute Zahlen

Nachw.

=

Nachweise

n.B.

=

niedrige Beweggründe

Nds.

=

NJ

=

NJW

=

Neue Juristische Wochenschrift

NStZ

=

Neue Zeitschrift für Strafrecht

OF

=

Offenburg

OG

=

Obergericht (Schweiz)

OGHSt

=

OLG

=

Niederschrift über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission. Bd. I-XIV. Bonn 1956-1960 Neue Justiz

Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone in Strafsachen Oberlandesgericht

OWiG

=

Ordnungswidrigkeitengesetz

P

=

Mathematischer Wert für die Angabe der Signifikanz

Prot.

=

Protokolle

Psychol. Beitr.

=

Psychologische Beiträge

Psychol. Bull.

=

Psychological Bulletin

Psychol. Rev.

=

Psychological Review

Rdnr.

=

Randnummer

RG

=

Reichsgericht

RGBl.

=

Reichsgesetzblatt

RGSt

=

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen

Rspr.

=

Rechtsprechung

RuP

=

Recht und Politik

RV

=

Ravensburg

RW

=

Rottweil

S.

=

siehe

SI

=

Stuttgart, 1. Strafkammer

=

Stuttgart, 2. Strafkammer

sn

XXII

Abkürzungsverzeichnis

Schweiz. Arch. Neuro!. Psychiatrie

=

SchwJZ

=

SchwStGB

=

Schweizerisches Archiv für neurologische Psychiatrie Schweizerische Juristenzeitung Schweizerisches Strafgesetzbuch v. 21.12.1937, in Kraft seit 1.1.1942

SchwZStr

=

Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht

SJZ

=

Süddeutsche Juristenzeitung

sog.

=

sogenannte

SK

=

Systematischer Kommentar Statistical Package for the Social Sciences

SPSS

=

StGB

= Strafgesetzbuch

StPO

=

Strafprozeßordnung

StrÄG

=

Strafrechtsänderungsgesetz

StRspr.

=

ständige Rechtsprechung

StrV

=

Strafverteidiger

Tab.

=

Tabelle

tot.

=

total

u. U.

=

unter Umständen

VE

=

Vorentwurf

vg!.

=

vergleiche

VO

=

Verordnung

zahlr.

=

zahlreich

z. B.

=

zum Beispiel

ZfBR

=

Zeitschrift für Baurecht

Ziff.

=

Ziffer

zit.

=

zitiert

ZRP

=

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZStW

=

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

z. T.

=

zum Teil

zust.

=

zustimmend

z. Zt.

=

zur Zeit

§ 1 AufgabensteIlung: Abgrenzung und Gang der Untersuchung I. Problemstellung Die Abgrenzung von Mord und Totschlag ist in den letzten Jahren verstärkt in das Rampenlicht der juristischen Interessen gerückt. Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. 6.1977 1 waren die Fronten zwischen Rechtsprechung und großen Teilen der Lehre klar abgesteckt. Die Rechtsprechung verstand § 211 Abs. 2 StGB grundsätzlich als eine sowohl positiv wie negativ abschließende Umschreibung der Tötungsfälle, die das Gesetz als besonders verwerflich und deshalb als Mord beurteilt! Um den Zwang zur Annahme von § 211 StGB und damit die lebenslange Freiheitsstrafe zu vermeiden, wurde das Heil in einer punktuell einschränkenden Auslegung gesucht. 3 Solchen "Halbheiten'" setzte die Wissenschaft die Lehren von den Typenkorrekturen entgegen. 5 Mord aber erst auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung von Tat und Täter zu bejahen, einem solchen Verständnis glaubte die Rechtsprechung Rechtsunsicherheit und eine Gefährdung des besonderen Rechtsschutzes, den das höchste Gut gebietet, bescheinigen zu müssen. 6 Eine gewisse Wende in dieser statischen Polarisierung erbrachte jene BVerfG-Entscheidung: Der lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord wurde nur insoweit die Verfassungsmäßigkeit bestätigt, als bei ihrer Verhängung im Einzelfall der Grundsatz "sinn- und maßvollen Strafens" gewährleistet sei.' Die juristische Diskussion entzündete sich in der Folgezeit neu, und zwar wiederum an Merkmalen, bei denen allein ein bestimmter Zweck oder eine bestimmte Begehungsweise die Tötung zu Mord stempeln. Zwei weitere Marksteine in der Entwicklung der Tötungsdelikte brachten insoweit gewisse Entschärfungen: -

Mit der sog. Rechtsfolgenlösung des Großen Strafsenats des BGH vom 19.5. 1981 8 wird zwar weiterhin grundsätzlich an der tatbestandlichen

BVerfGE 45, S. 187ft. Vgl. z. B. BGHSt 3, S. 186; BGHSt 9, S. 389; BGH GA 1971, S. 155. 3 Etwa durch das Erfordernis einer "feindlichen Willensrichtung" bei Heimtücke (BGHSt 9, S. 390), vgl. auch die Nachw. b. Eser, in Schönke / Schröder, § 211 Rdnr. 9. • Es er, in Schönke/Schröder, § 211 Rdnr. 10. S S. unten § 9 LA.l. 6 Vgl. BGHSt 9, S. 389. 7 BVerfGE 45, S. 253. 1

2

1 Heine

2

§ 1 Aufgabenstellung: Abgrenzung und Gang der Untersuchung

Exklusivität der Mordmerkmale festgehalten, aber andererseits (zunächst beschränkt auf das Mordmerkmal Heimtücke) bei Vorliegen außergewöhnlicher schuldmindernder Umstände die Absolutheit der lebenslangen Freiheitsstrafe durch den Milderungsrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB ersetzt. -

Auch der Gesetzgeber fühlte sich durch das Bundesverfassungsgericht angesprochen und ermöglichte mit der Einführung des § 57a StGB durch das 20. StrÄG vom 8. 12. 1981 9 die Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe nach einer 15jährigen Mindestverbüßungszeit.

Beide Impulse waren vor allem ver anlaßt durch Mordmerkmale, die wegen ihrer rigiden Ausgestaltung dem starren Automatismus von exklusivem Mordkriterium und absoluter Strafe schwerlich entziehbar schienen (z. B. Heimtücke, Verdeckungsabsicht). Diese Bemühungen um Lockerung einer strikten Mordtypisierung mit jener besonderen Rechtsfolge verbannten die "niedrigen Beweggründe" etwas ins Abseits der wissenschaftlichen Diskussion - ganz zu Unrecht, setzt doch das Verfassungsgebot "sinn- und maßvollen Strafens" eine adäquate Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag voraus. Eine solche scheint bei diesem Motivmerkmal aber nicht ohne weiteres vom Gesetz vorgegeben zu sein. Ist es bei der Mehrzahl der übrigen Mordmerkmale des § 211 Abs. 2 StGB die zu starre Beschaffenheit des Tatbestandes, so gibt bei den "niedrigen Beweggründen" - vice versa - die tatbestandliehe Unbestimmtheit zu Bedenken Anlaß: Nicht nur, daß die überwiegend akzeptierte Formel von der "sittlich tiefsten Stufe", auf der diese Beweggründe "nach allgemeiner Wertung" stehen müssen,'0 die Entwicklung "lokaler Wertungstraditionen"" und damit von individuellen richterlichen Vorurteilen geprägte Entscheidungen befürchten läßt; auch erscheint der Begriff Beweggrund weder definitorisch einwandfrei geklärt noch als geistigseelisches Faktum ohne gewisse Verzerrungen feststellbar und zweifelsfrei beweisbar zu sein. Man behilft sich durchweg damit, daß man eine "Gesamtwürdigung aller Umstände" entscheiden läßt 12 und erhofft sich so nicht nur konzise Ergebnisse, sondern auch die Sicherung eines absoluten Lebensschutzes - obwohl die Rechtsprechung bei anderen Mordmerkmalen eine solche umfassende Bewertung gerade wegen einer befürchteten Aufweichung dieses Schutzes strikt ablehnt. 13 Angesichts derartiger Unstimmigkeiten und Bedenken überrascht kaum, daß 8 BGHSt 30, S. 105ff. • BGBI. I 1329. Zu Konsequenzen im Hinblick auf das Gefüge der Tötungsdelikte s. § 7 11. 10 S. unten § 3 II.B., zu und bei Anm. 67f. H Kerner, Festschrift 600 Jahre Universität Heidelberg, S.439. 12 S. b. Anm. 10.

I. Problemstellung

3

für die Streichung des Mordmerkmals "niedrige Beweggründe" die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer des 53. Deutschen Juristentages 1980 in Berlin eintrat" und -

selbst Befürworter dieser Klausel einräumen, daß sie die notwendige richterliche Differenzierungshilfe schwerlich zu leisten vermag.' 5 Andererseits bleibt als Faktum zu berücksichtigen, daß

-

die "niedrigen Beweggründe" seit Jahrzehnten bundesweit durchweg die höchste Anwendungshäufigkeit aller Mordmerkmale aufzuweisen haben,'6 und daß

-

mit der Implementation des Merkmals betraute Praktiker dieses Mordmerkmal als "brauchbar", ja sogar als "unerläßlich" befinden,'? und gerade dessen Offenheit als praktisches Bedürfnis schätzen.

Damit ist bereits eines der maßgeblichen Spannungsfelder umrissen, innerhalb derer sich die Arbeit bewegen wird: Ziel der Untersuchung soll es einerseits sein, die mit der "strengen" Subjektivität des Merkmals "niedrige Beweggründe" vorgegebenen Probleme transparent zu machen. Andererseits soll versucht werden, eine Auslegung zu finden, die sich um dogmatische Konsistenz wie auch um praktikable Umsetzung bemüht, und die soweit wie möglich erfahrungswissenschaftlich abgesichert werden kann.' 8 Wenn eine solche Interpretation angestrebt wird, so geschieht dies in der Überzeugung, daß es bis zu einer prinzipiell gebotenen Reform der Tötungstatbestände wohl noch Grundsätzliches in dogmatischer und rechtsphilosophischer Hinsicht und (noch mehr) Politisches auszudiskutieren gilt. Für ein so verstandenes Forschungsziel erscheint ein integraler Ansatz unverzichtbar: ein Ansatz, der sich durchgängig um Hilfestellung bei Zuletzt BGHSt 30, s. 105 ff. •• S. DJT-Sitzungsbericht, M 164. Vgl. auch z. B. Geilen, Lackner-Festschrift, S.581. 15 Vgl. Z. B. Fuhrmann, DJT-Sitzungsbericht, M 19; Jähnke, LK, § 211 Rdnr.26. 1. So entfielen im Zeitraum 1945-1975 auf das Mordmerkmal "niedrige Beweggründe" knapp 30% der Verurteilungen wegen Mordes (s. die Umfrage des BVerfG b. Bertram, in Jescheck j Triffterer, S. 161, ferner die Nachw. b. Eser, DJT-Gutachten, D 40). Und auch in dem Untersuchungsmaterial (s. dazu § 2) nimmt die unbenannte Motivklausel die führende Stellung ein: Danach entfielen auf dieses Merkmal 37% (Zahl der Verurteilungen wegen Mordes insgesamt N = 41), gefolgt von Heimtücke (30%), Verdeckungsabsicht (17%) und Habgier (7%). Daß dieses Merkmal nach wie vor eine Spitzenposition einnehmen dürfte, zeigen die Befunde von Eser (NStZ 1981, S.384; NStZ 1983, S.435). 17 Vgl. Fuhrmann, DJT-Sitzungsbericht, M 19; Siol, DJT-Sitzungsbericht, M 125; Staiger, in JescheckjTriffterer, S. 184. ,. V gl. auch Alexy, Juristische Argumentation, S. 356 f., der als "Minimalbestand" einer Theorie des rationalen juristischen Diskurses Konsistenz, Zweckrationalität und Wahrheit der benutzten empirischen Sätze fordert. 13

l'

4

§ 1 AufgabensteIlung: Abgrenzung und Gang der Untersuchung

außerjuristischen Wissenschaften bemüht und sich daher befleißigen muß, gewisse (latente) Vorbehalte durch ergänzende Erläuterungen abzubauen. Dies'gilt nicht nur für den Versuch, dogmatische Postulate jeweils mit empirischen Erkenntnissen zu konfrontieren und auf ihre praktisch umsetz bare Konsistenz zu überprüfen. Dies gilt auch für die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Stellungnahmen, die im Bereich der Erforschung der Motivation und der Bewußtseinsprozesse juristischen Erkenntnisgewinn versprechen. Unter Zuhilfenahme dieses Instrumentariums sollen insbesondere folgende Fragestellungen einer Lösung zugeführt werden: -

Welche grundlegenden Schwächen sind einem außerrechtlichen (sittlichen) Maßstab in Koppelung mit einem unbestimmten psychischen Kriterium immanent?

-

Inwieweit läßt sich das Merkmal mit Postulaten in Einklang bringen, die sich nicht nur mit der Frage begnügen, bei welchem Schuld grad die besondere Mordstrafe berechtigt sein könnte, sondern vielmehr danach fragen, bei welcher Art von Tötungsmotivation sie als notwendig erscheint?

-

Wie läßt sich eine teilweise gebotene Umorientierung mit dogmatischen Positionen harmonisieren?

Daß freilich "angesichts der Vielfalt der Probleme ... bis heute ... keine voll befriedigende Lösung gefunden worden (ist)", war auch dem Bundesverfassungsgericht nicht entgangen. '9 Und daß es nicht einmal de lege ferenda bisher möglich war, allseits konsensfähige Konzeptionen der Tötungsdelikte vorzulegen, hat sich durch mehrere Untersuchungen und Tagungen bestätigt. 20 Daher dürfte für eine, zumal interdisziplinär angelegte, Arbeit, die das geltende Recht jenes "Dauerproblems der Strafrechtsgeschichte" untersucht, von vornherein die alte Wahrheit gelten, daß die Entfaltung und Verwirklichung des Rechts nur die Kunst des Möglichen ist.

11. Zum Gang der Untersuchung A. Forschungsansatz

Fragen nach dem Wesensgehalt des Mordmerkmals "niedrige Beweggründe" werden häufig so beantwortet, daß zunächst allgemein bestimmt wird, was Unrecht und Schuld bedeuten. In einem zweiten Schritt wird dann das Merkmal je nach Vorverständnis zugeordnet - mit der KonseBVerfGE 45, S, 270. Vgl. die Nachw. zu Reformvorschlägen b. Eser, DJT-Gutachten, D 11ft.; D 197ft. S. auch jüngst Veh, Mordtathestand, S. 19ft. 19

20

H. Zum Gang der Untersuchung

5

quenz, daß dessen Substanz präjudiziert ist. Nicht zuletzt diese Vorgehensweise, in der sich letztlich eine Neuauflage des alten Streits um die Trennung von Rechtswidrigkeits- und Schuldurteil offenbart, führte dazu, daß sich die Vertreter in ihren Grundsatzpositionen des "reinen Gesinnungsmerkmals" bzw. - vice versa - des "subjektiven Tatbestandsmerkmals" anscheinend unversöhnlich gegenüberstehen. 21 Substantielle Konstruktionselemente werden dementsprechend regelmäßig von dem (unrechtserhöhenden?) "krassen Mißverhältnis zwischen dem Tatmotiv und der Tat" bzw. eher pauschal von "allgemeinen Schuld erfordernissen" abgeleitet 22 - wobei freilich selbst bei extrem divergierenden Standpunkten im Verständnis von Unrecht bzw. Schuld mitunter Einigkeit erzielt wird, wenn es um die Bewußtseinsinhalte der "niedrigen Beweggründe" geht,23 Nicht nur deshalb wurde hier ein möglichst offener sachproblembezogener Ansatz bevorzugt. Ein solcher empfahl sich insbesondere auch, um gegenüber dem Anspruch auf interdisziplinäre Betrachtung die gebotene Unvoreingenommenheit zu wahren. Um einen Grundmangel der bisherigen Diskussion über die "niedrigen Beweggründe" etwas auszugleichen, nämlich daß die Auseinandersetzung überwiegend rein rechtsdogmatisch und ohne hinreichende kriminologisch-empirische Fundierung geführt wird, wurden zur Erweiterung der bisher spärlichen empirischen Basis eigene Erhebungen durchgeführt. Der Schwerpunkt lag insoweit auf einer Auswertung sämtlicher schwurgerichtlicher Urteile aus Baden-Württemberg und Berlin aus den Jahren 1977 / 78. Ergänzend wurden (veröffentlichte und unveröffentlichte) BGH-Urteile statistisch ausgewertet. Dem problemorientierten Anlaß entsprechend war die empirische Analyse nicht - wie häufig anzutreffen - separat, sondern eingeflochten in die Sachdiskussion vorzunehmen. Freilich konnte die Berücksichtigung empirischer Befunde nicht ausschließlich nach Maßgabe dogmatischer Vorgaben erfolgen: Zum einen ist die Vielschichtigkeit des Motivationsprozesses zu bedenken. Zum anderen wird vermutet, daß Beweggründe nicht bloß Gegenstand des richterlichen Wertungsprozesses, sondern bereits dessen Bestandteil seien, daß also bereits in die Feststellung solch psychischer Umstände (wertend) sanktionierende bzw. de-sanktionierende Elemente miteinfließen. 2. Daher waren auch scheinbar eher abseits gelegene Fragestellungen, wie etwa Probleme der richterlichen Motivfeststellung, miteinzubeziehen.

S. unten § 8 11. und § 9. S. unten § 8 II., § 9 I. 23 S. unten § 8 II.B.2.a. .. Vgl. Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S. 2, 42f. rn.zahlr. Nachw. 21

22

6

§ 1 AufgabensteIlung: Abgrenzung und Gang der Untersuchung

B. Durchführung Eine Arbeit, die versucht, eine Antwort auf mögliche Mängel des Mordmerkmals "niedrige Beweggründe" bzw. dessen Interpretation zu finden, setzt zwei gewissermaßen janusköpfige Untersuchungsschritte voraus: Im Ersten Teil sind die Grundlagen und Grundprobleme dieses Kriteriums darzustellen und zu bilanzieren. Im Zweiten Teil soll ein Beitrag zur Versachlichung der Diskussion geleistet werden. Dabei steht im Vordergrund die Suche nach einem angemessenen Verständnis von Beweggründen, nach einem Maßstab für die besondere Strafwürdigkeit von Tötungsmotivationen und nach einer deliktstypischen Präzisierung des Merkmals. Diesen Hauptteilen sind die Grundstrukturen des Untersuchungsmaterials vorangestellt (§ 2). Dort sind auch die statistischen Methoden erläutert. Im Anhang (§ 14) findet sich eine Dokumentation über empirische Befunde aus der Praxis. Eine Bestandsaufnahme der Grundprobleme im Ersten Teil verlangt zunächst eine Erörterung der Vorgeschichte der Tötungstatbestände (§ 3). Nachdem der Nachkriegsgesetzgeber das Manko eines überzeugenden Leitprinzips für die besondere Strafwürdigkeit von bestimmten Tötungsmotiven nicht korrigierte, begnügt sich die überwiegende Meinung diesbezüglich mit allgemeinen Verwerflichkeitsbetrachtungen. Differenzierungshilfe zwischen verwerflichen (§ 212 StGB) und besonders verwerflichen (§ 211 StGB) Beweggründen sollen vor allem scharfe Anforderungen an die "innere" Tatseite gewährleisten. Daß normative head-lines geboten sind, zeigt indes bereits die mangelnde Generalisierungsmöglichkeit einzelner, jedenfalls im Alltagsverständnis als "minderwertig" angesehener Motive (§ 4). Daß aber die auf besondere Bewußtseinsformen abstellende Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH die dem Mordtatbestand zugeschriebene Abgrenzungsfunktion wohl nicht hinreichend sicherstellt, dies wird durch eine eingehende Untersuchung instanzgerichtlicher und höchstrichterlicher Urteile belegt (§ 5). Begünstigt das pauschale Abheben auf die "sittlich tiefste Stufe" unterschiedliche richterliche Wertungen, so sind die spezifisch normativ-psychologisierenden Anforderungen kaum umsetzbar. Hinzu kommt, daß die Vorteile einer elastischen Regelung angesichts einer Vielzahl tatsächlicher oder jedenfalls potentieller Einbruchstellen für verkürzte oder ausufernde Bewertungen zurücktreten - worauf sozialwissenschaftliche Befunde hinweisen (§ 6). Auch wenn dementsprechend im Grunde alles für eine Verabschiedung dieses Merkmals de lege ferenda spricht, so wird im Zwei ten Teil versucht, die aufgezeigten Schwächen auf dem Boden der lex lata soweit wie möglich einzudämmen. Dazu wird zunächst der formale Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich die Diskussion um die für Mord notwendige Unrechts- bzw. Schuldquantität bewegen muß: § 57a StGB, der eine

11. Zum Gang der Untersuchung

7

Mindestverbüßungszeit bei Mord von 15 Jahren vorsieht, erscheint dabei gleichsam als untere Grenzmarke des Mordunwerts - zumal "Schuld" und Strafe in ein Äquivalenzverhältnis zu bringen sind (§ 7). Sodann ist einer Begriffs- und Strukturanalyse des Kriteriums "Beweggründe" breiter Raum zu gewähren (§ 8). Unter Einbeziehung fachwissenschaftlicher Stellungnahmen wird entwickelt, daß dieses Merkmal als Oberbegriff für primär zuständliche, primär reaktive und eher zuständliche Motivationselemente zu begreifen ist. So ergeben sich nicht nur neue Perspektiven für die praktische Erfassung der von § 211 StGB gemeinten psychischen Strukturen und die notwendigen Bewußtseinsprozesse. Auch läßt sich auf dieser Grundlage der archimedische Punkt "niedriger Beweggründe" überzeugender bestimmen: Als gemeinsamer Nenner der subjektiven Merkmale des § 211 Abs. 2 StGB erweist sich die solipsistische, allein an den eigenen Bedürfnissen ausgerichtete soziale Rücksichtslosigkeit der Interessenverwirklichung. Nicht nur, daß bei solchen Tötungen der Täter den Rechtswert Leben - sei es aus Gleichgültigkeit, sei es aus kalkulierendem egozentrischem Verwirklichungsinteresse - generell herabsetzt. Hinzu kommen in diesen Fällen besondere Präventionsbedürfnisse, welche die Androhung der Mordstrafe (mit-)legitimieren (§ 9). Diese leitlinienhafte Grundaussage ermöglicht die Bildung von Fallgruppen, die der richterlichen Rechtsanwendung eine Richtschnur sein sollen und den Deliktstypus präzisieren. Dabei werden sowohl Erklärungsmuster für die Niedrigkeit von Motivationen gegeben, als auch solche, welche einer derartigen Einschätzung regelmäßig entgegenstehen (§§ 11, 12). Verbrechenssystematisch erweist sich die Motivgeneralklausel als komplexes Merkmal, das nicht bloß Schuldwertungen enthält (§ 10).

§ 2 Darstellung des Untersuchungsmaterials I. Methode und Durchführung Die in § 1 formulierten Fragestellungen sollen soweit wie möglich mit empirischen Daten verglichen und überprüft werden. Dabei wird im Vordergrund der empirischen Untersuchung die Ermittlung derjenigen Faktoren stehen, die in der instanzgerichtlichen Praxis maßgebenden Einfluß auf die Bewertung einer "sittlich besonders verwerflichen" Tatmotivation haben. Darüber hinaus sollen die empirischen Befunde aber auch dazu dienen, dogmatische Fragestellungen und Lösungsansätze auf ihre Praktikabilität zu überprüfen. Zudem wird versucht, für die Motivgeneralklausel typische Tat- und Tätermuster zu benennen. Dazu bot sich mangels einschlägiger kriminologischer Forschungsarbeiten die Analyse des von Eser bereits für sein DJT-Gutachten 1 erfaßten 1

Eser, DJT-Gutachten, passim, insbes. D 22.

8

§ 2 Darstellung des Untersuchungsmaterials

Rohmaterials an. Dabei handelt es sich zunächst um sämtliche Schwurgerichtsurteile aus Baden-Württemberg und Berlin, die vom 1. 1. 1977 bis 31. 12. 1978 auf Anklage wegen eines (versuchten oder vollendeten) vorsätzlichen Tötungsdelikts (unter Einbeziehung von §§ 226 und 330a i. V. m. §§ 211, 212, 216 oder 217 StGB) ergangen sind, und zwar 200 Urteile aus Baden-Württemberg und 89 aus Berlin. Für die vorliegende Arbeit wurden sämtliche Urteile (N = 80) ausgewählt, in denen das Mordmerkmal "Tötung aus sonst niedrigen Beweggründen" im weitesten Sinne (positiv oder negativ) thematisiert wurde und die zu einer Verurteilung wegen § 211 StGB, § 212 StGB bzw. §§ 212,213 StGB führten. Was Personenmehrheiten auf Täter- bzw. Opferseite angeht, so wurden nur Verurteilte mit dem schwerwiegendsten Tatbeitrag zugrunde gelegt. Auch wenn sich damit der Überprüfung entzog, inwieweit auf bloße Beihilfe statt (Mit-)Täterschaft bei Bejahung des Mordmerkmals ausgewichen wird,2 so erwies sich diese Beschränkung zur Vermeidung von statistischen Verzerrungen durch identische Opferdaten als erforderlich. 3 Auf der Opferseite stellte sich dieses Problem aus tatsächlichen Gründen nicht. 4 Da die jeweiligen Tötungsbeweggründe den Urteilen entnommen, also nicht mit Methoden der wissenschaftlichen Motivforschung erhoben werden, ist die Aussagekraft bei der Analyse der Motivationsprozesse von vornherein beschränkt auf den richterlichen Definitions- und Entscheidungsprozeß.5 Da für bestimmte Merkmalsausprägungen geringe Häufigkeiten zu erwarten sind, könnte diese Grundgesamtheit methodische Probleme aufwerfen." Indes beschränkt sich die Darstellung in diesen Fällen auf die (erläuternde) Dokumentation klarer Prozentuierungen. 2 Vgl. dazu die Nachw. bei Eser, DJT-Gutachten, D 56, sowie die Ergebnisse von Röhl, Lebenslange Freiheitsstrafe, S. 43, der etwa bei nationalsozialistischen Gewaltverbrechern, die vom 8. 5. 1945 bis 1. 1. 1946 als Mörder verurteilt wurden, einen bemerkenswert hohen Anteil von §§ 211, 27 StGB feststellen mußte. 3 Andernfalls nämlich hätten einzelne Opfer wegen Tätermehrheiten bei der Fallauswertung mehrfach in Ansatz gebracht werden müssen mit der Konsequenz einer Überrepräsentation der opferbezogenen Daten. Zum Problem vgl. Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S. 57. • Zwar waren in ca. 10% sämtlicher Schwurgerichtsfälle mehrere Opfer betroffen, jedoch gelangten insoweit andere Mordmerkmale zur Anwendung, die hier nicht ergänzend thematisiert werden. 5 Zu den Definitions- und Selektionsprozessen im Vorfeld der richterlichen Entscheidungsfindung vgl. z. B. Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S. 88ff.; Blankenburg / Sessar / Steifen, Staatsanwaltschaft, passim. Kerner, ZStW 98 (1986), S. 881 f. Die Problematik der richterlichen Motivfeststellung wird unter § 6 theoretisch untersucht und am Beispiel der in den Urteilen zum Ausdruck gekommenen unsicheren Feststellungsgrundlage punktuell diskutiert. • Methodische Probleme insofern, als bestimmte Rechnungsmethoden, wie z. B. die ergänzend eingesetzte sog. multiple Regression, nur ab einer bestimmten

L Methode und Durchführung

9

Die Datenanalyse erfolgte über die Rechenanlage des Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg und besteht überwiegend 7 aus Kreuztabellierungen bestimmter Variablen mit Hilfe des SPSS-Programms. 8 Verwendet wird damit die in der empirischen Sozialforschung am meisten verbreitete Methode, mit der Zusammenhänge zwischen sogenannten unabhängigen Variablen, also solchen, die in einer Beziehung als vermutlicher Faktor fungieren, und sogenannten abhängigen Variablen dargestellt werden können. Letztere verändern sich im Idealfall in Abhängigkeit von der unabhängigen Variablen: So wird etwa untersucht, ob die unabhängige Variable "Konflikttötung" Einfluß auf die abhängige Variable "Tötung aus sonst niedrigen Beweggründen" hat.

Obwohl sämtliche Tötungsfälle aus den beiden Bundesländern Berlin und Baden-Württemberg analysiert wurden, bei denen die Instanzrichter das Mordmerkmal niedrige Beweggründe in irgendeiner Weise thematisierten, somit insoweit eine Totalerhebung vorliegt, wurden Signifikanztests durchgeführt, um allgemeine Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren. Denn durch die Einbeziehung zweier Bundesländer ist eine Streuung zu erwarten, die über die untersuchte Population bzw. den Untersuchungszeitraum hinausgehende Rückschlüsse zuläßt. 9 Zwar wurde keine Zufallsstichprobe aus sämtlichen Bundesländern erhoben, gleichwohl soll mit den (auch in solchen Fällen) einer häufigen Praxis 10 entsprechenden Signifikanztests eine wahrscheinlichkeitstheoretische Absicherung der Ergebnisse über den untersuchten Bereich hinaus angedeutet und die für die Untersuchungsjahre erzielten Ergebnisse bekräftigt werden. l l Daher Anzahl von Fällen sinnvoller Weise eingesetzt werden kann (vgl. die Nachw. b. Anm.7). 7 Lediglich unterstützend wurde in wenigen Fällen eine sogenannte multiple Regressionsanalyse durchgeführt, mit der Zusammenhänge zwischen einer abhängigen Variablen und einem Satz von unabhängigen Variablen simultan ermittelt werden (vgl. zum Verfahren Christmann, Statistische Verfahren, S. SOff.; Renner, Methoden, S. 75ff.). Erkenntnisziel ist dabei die Filtrierung jener Variablen, die (für sich genommen) die beste Vorhersage bei der Entscheidung über Mord (Tötung aus sonst niedrigen Beweggründen) bzw. Totschlag ermöglichen. • Statistical Package far the Social Sciences; vgl. hierzu Beutel / Schubö, SPSS 9. 9 Eine Streuung insofern, als durch unterschiedliche sozio-kulturelle Verhältnisse (Berlin: norddeutsch, rein städtisch, Baden-Württemberg: süddeutsch, gemischt ländlich-städtisch) eine gewisse Nivellierung im Hinblick auf die intendierte Bezugsgröße Bundesrepublik Deutschland erwartbar ist. 10 Vgl. etwa Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S.57. 11 Dies erscheint auch deshalb berechtigt, weil es bei diesem Untersuchungsgegenstand für alle Verfahren generelle strukturelle Ähnlichkeiten geben dürfte (s. auch unten Anm. 13). Und ferner ist nicht zu übersehen, daß in der Praxis der empirischen Forschung wegen einer geringen Erreichbarkeit (etwa bei Befragungen) im Ergebnis mit Stichproben gearbeitet werden muß, die im strengen Sinne

10

§ 2 Darstellung des Untersuchungsmaterials

werden auch nicht signifikante Zusammenhänge bei eindeutiger Prozentverteilung dargestellt und interpretiert; sie haben insoweit Relevanz für den Untersuchungszeitraum in den beiden Bundesländern. Die Berechnung der Signifikanz erfolgt mit dem ChP-Verfahren. Es besteht in einem Vergleich zwischen den empirisch gefundenden Häufigkeiten mit den bei Annahme einer Nullhypothese zu erwartenden Häufigkeiten. So lautet für die hier überwiegend verwendeten Kreuztabellen die Nullhypothese: In der Gesamtheit aller Fälle, für welche die Auswertung gelten soll, gibt es keine Zusammenhänge zwischen den Variablen. Angepeilt werden daher mit diesem Test Aussagen von über den Untersuchungszeitraum hinausgehender allgemeiner Gültigkeit. Dabei soll mit dem Signifikanztest überprüft werden, ob sich die Verhältnisse in der untersuchten Population auch darüber hinaus widerspiegeln bzw. (vice versal jene Zusammenhänge allein für die Tötungsfälle in Baden-Württemberg und Berlin 1977 / 78 Geltung beanspruchen können.

Das Signifikanzniveau wird, in Übereinstimmung mit einer ständigen Übung, 12 auf der lO%-Stufe festgelegt (p !:. 0,11), d. h., die Wahrscheinlichkeit, daß die Nullhypothese verworfen wird, obwohl sie richtig ist, beträgt 10%. Es gibt für die vorliegende Untersuchung keinen Grund, davon abzuweichen. Da es sich in diesen Fällen um bloße Tendenzen handelt, 13 werden vor allem niedrigere p-Werte (p !:. 0,01; p !:. 0,001 etc.) in den Vordergrund gerückt; bei solchen Ergebnissen reduziert sich die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums entsprechend. Während der Signifikanztest den Zweck verfolgt, Aussagen darüber zu treffen, ob der Zusammenhang zwischen bestimmten Merkmalen auf Zufall beruht oder nicht, gibt der Korrelationskoeffizient C Auskunft über die Stärke des Zusammenhangs - ohne anzugeben, als wie stark gesichert dieser Zusammenhang erachtet werden darf. 14 nicht repräsentativ sind (wegen der nicht zufälligen Ausfälle), und bei denen dann dennoch konventionell Signifikanzberechnungen angestellt werden. 12 Vgl. etwa Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S.57. 13 Dies gilt vor allem auch deshalb, weil mit der statistischen Untersuchung keine Aussagen über das hierarchisch geordnete Selektionssystem der Verbrechenskontrolle getroffen werden sollen, sondern die .. Mikro ebene" (Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S. 23) der richterlichen Entscheidungsfindung mit der umfassenden Entscheidungskompetenz, aber auch der umfassenderen rechtsstaatlichen Kontrolle beleuchtet wird. Auch wenn jene eine - naturgemäß beschränkte - revisionsrechtliche ist, so kann gleichwohl erwartet werden, daß sich innerhalb einer bestimmten .. Bandbreite" tendenziell gleichförmige Entscheidungsstrukturen bei den Instanzgerichten entwickeln - sofern die Vorgaben bzw. Anweisungen des BGH an die Instanzgerichte stringent sind und sich durch Kontinuität auszeichnen (vgl. dazu unten § 4). Dem widersprechen nicht die häufig beobachteten sog. Vermeidungsstrategien der Gerichte (vgl. dazu Eser, DJT-Gutachten, D 53 ff.) - ganz im Gegenteil scheinen sich darin bestimmte, in der Tendenz konstante Muster widerzuspiegeln, die intern die Funktion haben, zu einem vertretbaren Ergebnis zu kommen und extern dazu dienen, der (formalen) Nachprüfung durch den BGH standzuhalten.

11. Bestimmung der Variablen

11

So kann etwa überprüft werden, ob Zusammenhänge mit einer konfliktbedingten Tötung und der Bewertung der Tat als Mord statistisch gesichert sind (also nicht bloß auf Zufall beruhen), und es können Aussagen darüber getroffen werden, wie differenzierungsstark der entsprechende Faktor ist: Beispielsweise lassen sich so Zusammenhänge zwischen der Beurteilung der Tat als Mord / Totschlag und Affekttötungen nachweisen, wobei der Korrelationskoeffizient Auskunft darüber gibt, ob solche Affekttötungen regelmäßig oder eher selten zur Verneinung der Niedrigkeit der Beweggründe führen.

11. Bestimmung der Variablen Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung entscheidet über die Niedrigkeit der Tötungsbeweggründe die Gesamtwürdigung von Tat und Täter. '5 Dabei sind grundsätzlich alle Umstände, die mit der Motivation zur konkreten Tat zusammenhängen, einzubeziehen. '6 Die Weite dieses Ansatzes bedingt eine Auswahl möglicher Faktoren, die zunächst durch den Informationsgehalt der Erhebungsgrundlagen (Urteilsanalyse) präjudiziert sind. Inhaltlich orientierte sich die Festlegung von Bewertungsmerkmalen im wesentlichen an traditionellen Kriterien," und zwar an täterbezogenen, opferbezogenen und tatbezogenen Faktoren. Darüber hinaus wurden die von den Instanzgerichten genannten Beweggründe erfaßt und die Tötungszwecke strukturiert. '8 Ferner wurden als sonstige Kriterien die Sanktionen und das gleichzeitige Vorliegen anderer Mordmerkmale berücksichtigt; ausgewertet wurde auch, ob von den Instanzgerichten die "innere Tatseite" geprüft worden war. '9 Auf die Darstellung eines detaillierten Hypothesenmusters zur Auswahl der Variablen wird an dieser Stelle verzichtet. Denn gerade weil die empirischen Befunde auch zur Überprüfung ganz unterschiedlicher ,. Vgl. Mittenecker, Planung und Auswertung, S.36ff.; Sachs, Statistische Methoden, S. 44ff. 15 Vgl. nur BGHSt 1, s. 369; NJW 1958, S. 189; StrV 1981, S.231 sowie etwa die Nachw. bei Eser, in SchönkejSchröder, § 211 Rdn. 18 (ganz h. M.). 1. st. Rspr., vgl. z. B. BGH NJW 1954, S. 565; GA 1974, S.370; NStZ 1984, S. 281 sowie die Nachw. bei Eser, NStZ 1981, S. 385:f1n. 29 und NStZ 1983, S. 435, Fn. 37 -45. 17 Vgl. insbesondere Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S. 39ff. Ferner z. B. GÖlz, GA 1977, S. 321 ff.; Research committee for female crime, Keio Law Review 1983, S.1ff.; Pracejus, NStZ 1985, S.22ff.; Rangol, MschrKrim 52 (1969), S.275ff.; Rieß, MschrKrim 53 (1970), S.21ff.; s. auch Wul!, Kriminelle Karrieren, passim, sowie Siol, Mordmerkmale, passim. ,. Bei den Variablen "Beweggründe", wie z. B. Rache, Wut, Zorn etc., wurde auf die von Gerichten ausdrücklich so bezeichneten Motive abgestellt (Textanalyse). Die Tötungszwecke wurden anhand des Gesamtzusammenhangs der Urteile zusammengestellt. 19 Vgl. eingehend die im Anhang § 14 aufgelisteten Variablen.

12

§ 2 Darstellung des Untersuchungsmaterials

dogmatischer Fragestellungen dienen sollen, kann es einen vorab formulierten Satz konkreter Hypothesen nicht geben. 20 Dementsprechend werden solche theoretischen Annahmen den betreffenden Analysen vorangestellt. Immerhin jedoch waren bei täterbezogenen Faktoren folgende Überlegungen mitleitend: Der BGH macht die Verurteilung wegen Tötung aus sonst niedrigen Beweggründen u. a. davon abhängig, ob der Täter seine gefühlsmäßigen oder triebhaften Regungen gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern konnte. 21 Als Faktoren, die diese psychologische Fähigkeit zu beeinflussen vermögen, dürften (neben der Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit) vor allem folgende Gesichtspunkte in Frage kommen: abnorme Persönlichkeitsstrukturen, starke Alkoholisierung, Affekte wie auch ein starker Motivationsdruck aufgrund von personalen Konflikten. 22 Darüber hinaus war auch ein Vergleich zwischen Deutschen und Ausländern anzustellen, zumal möglicherweise individuell abweichenden kulturellen Prägungen Rechnung zu tragen ist. 23 Nicht ausgeschlossen ist ferner, daß die kriminelle Vorbelastung des Delinquenten im Rahmen der Gesamtwürdigung negativ zum Tragen kommt. Schließlich wurden erhoben die Schichtzugehörigkeit und das Geschlecht des Täters. Aber auch opferbezogene Kriterien könnten bei der Bewertung der Beweggründe eine Rolle spielen: So ist bei provokationsbedingten Tötungen möglicherweise die Motivation eher verstehbar bzw. die Tötung wegen ihrer strukturellen Nähe zu dem Notwehrexzeß schuld gemindert. Dementsprechend ist ganz allgemein auch die Täter-OpferBeziehung zu betrachten, zumal teilweise die These vertreten wird, daß je näher sich Täter und Opfer gestanden haben, desto eher entspringe die Tat einer schuldmindernden Affekt- bzw. Verzweiflungssituation. 24 Ferner wurde das Geschlecht des Opfers als Variable ausgewählt. Bei den tatbezogenen Wertungsgrundlagen wird u.a. auf die Tötungsdistanz abgestellt: Nicht nur, daß Tötungen im Nahraum möglicherweise 20 Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil es gerade auf die tatsächliche Anwendung der untersuchten Normen ankommt. Eine notwendige Vorstrukturierung in der Fragestellung ist aber deshalb gegeben, weil aus Rechtssätzen sich ergebende Regelungsstrukturen anhand empirischer Verteilung untersucht werden sollen. 21 st. Rspr., vgl. z. B. BGHSt 28, s. 212; bei Holtz, MDR 1980, S. 629, 986; NStZ 1981, s. 101 sowie unten § 3 II.B. 22 An dieser Stelle sei nur kurz darauf hingewiesen, daß diese Kriterien natürlich auch unter anderen Gesichtspunkten, wie z. B. fehlenden Präventions bedürfnissen bei einmaliger Konfliktsituation, eine Rolle spielen können. 23 Vgl. Z. B. BGH JZ 1970, S. 238 mit zust. Anm. Köhler. Eingehend unten § 5II.D. und § 12. 24 Rengier, ZStW 92 (1980), S. 477. Vgl. auch grundlegend Eser, DJT-Gutachten, D 131ft.

III. Grundstrukturen des Fallmaterials

13

eher schuldmindernden Motivationslagen entspringen. 25 Auch sind bei Fernraumtötungen erhöhte Präventionsbedürfnisse wegen der Austauschbarkeit des Opfers nicht absolut ausgeschlossen. 26 Untersucht werden ferner Spontantötungen im Vergleich zu Tötungshandlungen mit einem (gewissen) Vorbedenken: Nachwirkungen der historischen Überlegungskonzeption 21 in der instanz gerichtlichen Praxis werden immer wieder behaupteF8 und haben möglicherweise auch bei der Motivgeneralklausel einen legitimen Stellenwert. 29 Wegen der Nähe zu anderen Mordmerkmalen wurde schließlich noch untersucht, ob der besonders qualvollen Tatausführung Bedeutung zukommt. Ähnliche Unwertsteigerungen (besondere Tätergefährlichkeit, besonders verwerfliche Gesinnung) könnten auch der Angriffsdauer, den Tatbegehungsweisen (Tatwaffen) und dem Verletzungsgrad des Opfers entnommen werden. Ferner wurde der Tatausgang (Vollendung /Versuch) ausgewertet.

111. Grundstrukturen des Fallmaterials Da die empirische Überprüfung der dogmatischen Überlegungen auch von der Struktur des Fallmaterials abhängt, sind vorab dessen wesentliche Merkmale zu skizzieren. A. Gesetzliche Kriterien

In knapp 20% der Fälle bejahten die Instanzgerichte das Mordmerkmal Tötung aus sonst niedrigen Beweggründen; in 1/5 der Totschlagsfälle wurde die Strafzumessungsregel des § 213 StGB angewendet. Das Verhältnis der vollendeten zu den versuchten Tötungen beträgt 61 % :39%. Ein Vergleich mit dem Verhältnis des Tatausgangs bei Aburteilungen wegen §§ 211,212,213 StGB in der Strafverfolgungsstatistik 1978 30 (50% :50%) sowie mit der von Rieß bei seiner Untersuchung der von den Schwurgerichten in Hamburg von 1954 bis 1966 abgeurteilten Kriminalität festgestellten Quote (50%:50%)31 zeigt eine gewisse Überrepräsentation der vollendeten Tötungen in dem hier untersuchten Fallmaterial.

2' Vgl. aus empirischer Sicht Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S. 181 ff.; aus dogmatischer Sicht Eser, DJT-Sitzungsbericht, M 85; Hoffmann, DJTSitzungsbericht, M 81. 2. Vgl. Eser und Hoffmann, aaO (Anm.25). 27 S. unten § 3 II.A. 28 Köhler, JuS 1984, S. 765; Rengier, ZStW 92 (1980), S.475. 29 So entschieden Köhler, GA 1980, S. 121ft. Differenzierend z.B. Otto, ZStW 83 (1971), S.54. Eingehend unten § 9 I. 30 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Strafverfolgungsstatistik 1978, S.82f. 31 RieB, MschrKrim 53 (1970), S.49, Tabelle 3.

14

§ 2 Darstellung des Untersuchungsmaterials

Dies deutet möglicherweise darauf hin, daß die Motivfeststellung erschwert ist: Sofern nämlich das Opfer nicht mehr lebt, ist eine insoweit wichtige Beweisgrundlage entfallen (vgl. unten § 6). Was die Häufigkeit der registrierten Anwendung von § 21 StGB bzw. § 20 StGB angeht, so ist der Anteil der Fälle mit verminderter bzw.

ausgeschlossener Schuldfähigkeit bemerkenswert hoch: In lediglich rund

30% der Tötungsfälle waren die Täter voll schuldfähig, in 60% soll § 21 StGB vorgelegen haben und in immerhin 10% gelangte § 20 StGB zur Anwendung. Bemerkenswert ist dies deshalb, weil etwa RieB bei seiner Untersuchung Hamburger Schwurgerichtsurteile, die in den Jahren 19541966 wegen eines Tötungsdelikts (§§ 211- 213 StGB) ergangen waren, 48%

voll schuldfähige Täter feststellen konnte.32

Nach einer aktuellen Untersuchung von Kerner fand bei den Aburteilungen wegen Mordes seit 1954 eine kontinuierliche Steigerung in der Anwendung von § 21 StGB statt;33 seit 1976 ist die Entwicklung relativ stabil (bei ca. 1/3 der Aburteilungen wurde verminderte Schuldfähigkeit zugebilligt). Für 1984 konnte Kerner dagegen einen beachtlichen Rückgang verzeichnen (ca. 22%).l4 Auch ein Vergleich mit den Daten aus sämtlichen Verurteilungen wegen §§ 211,212,213 StGB im Untersuchungszeitraum (N = 193) bestätigt die Überrepräsentation der vermindert schuldfähigen Täter in unserer Population (Anteil der voll schuldfähigen Täter rund 40%). Es ist zu vermuten, daß sich hier das richterliche Forschen nach rein subjektiven Merkmalen im Vergleich zu primär objektiv orientierten Merkmalen auswirken könnte, und zwar weil die Befassung mit Elementen des Motivationsprozesses eine starke Affinität zu den Schuldvoraussetzungen im engeren Sinne aufweist. Möglicherweise sind die Tatmuster auch stark durch Affekttötungen geprägt. Und nicht zuletzt erscheint es möglich, daß sich die Tatrichter durch großzügige Bejahung der Voraussetzungen des § 21 StGB einen Spielraum bei der gebotenen Strafsanktion verschaffen (vgl. § 49 StGB).35 32 33 3.

Rieß, MschrKrim 53 (1970), S.48.

Kerner, ZStW 98 (1986), S.893. Kerner, ZStW 98 (1986), S.894.

35 In diese These lassen sich die von Kerner, ZStW 98 (1986), S. 893ff. berichteten Tendenzen mühelos einfügen. Auffällig ist nämlich, daß ab 1977 der kontinuierliche Anstieg der Anwendungshäufigkeit von § 21 StGB bzw. deren Einpendeln auf relativ hohem Niveau (s. oben zu und bei Anm. 33f.) sich (drastisch) änderte. 1977 erging die erwähnte Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 45, S. 187ff.), welche die Instanzgerichte auch auf der Tatbestandsseite für die Problematik der Verhängung der absoluten Strafe sensibilisiert haben dürfte. Und in der Folgezeit waren die Bemühungen des BGH groß, Einschränkungsmöglichkeiten des objektiven (und insbesondere des subjektiven) Tatbestandes aufzuzeigen (s. unten § 3 H: § 8 II). Dann

III. Grundstrukturen des Fallmaterials

15

Bei den Rechtsfolgen umfaßt die Kategorie ,,6-15 Jahre Freiheitsstrafe" über 55% der Fälle (Gruppe ,,6-10 Jahre" und ,,10-15 Jahre" je 27,5%); in lediglich 5% der Urteile wurde eine lebenslange Freiheitsstrafe ausgesprochen. Auf 6 Monate bis 3 Jahre Freiheitsstrafe entfällt ebenso ein geringer Anteil (knapp 9%) wie auch auf Maßregeln der Besserung und Sicherung (5%). Diese Verteilungen wecken das Interesse bereits insoweit, als mit dem Anteil der lebenslangen Freiheitsstrafen (5%) nicht ein entsprechender Anteil der Verurteilungen wegen Tötung aus sonst niedrigen Beweggründen (20%) korrespondiert. 36

B. Sozialmerkmale der Verurteilten und der Opfer Bei den Verurteilten sind im Vergleich zum Bevölkerungsanteil Männer, Ausländer sowie 21-40jährige überrepräsentiert (Tabelle 1). Dieser Trend hält sich im Rahmen bisheriger Untersuchungen zu den Tötungsdelikten. 37 Frauen und Männer sind bei den Opfern praktisch dem Anteil an der Wohnbevölkerung entsprechend vertreten (52,5% : 47,5%). Bei der interpersonellen Täter-Opfer-Beziehung überwiegt deutlich die Tötung von Familienangehörigen, Freunden/innen, engen Verwandten (primäre Täter-Opfer-Beziehung: ca. 47%). Fremde Opfer 38 waren nur in rund 17% betroffen, während auf Bekannte (sekundäre Täter-Opfer Beziehung) ein Anteil von ca. 36% entfällt. Auch diese Verteilung liegt im Rahmen früherer Feststellungen zur Tötungskriminalität. 39

C. Tatbezogene Kriterien In bezug auf die Tötungsdistanz ist hervor he bungs bedürftig, daß sich lediglich ca. 6% der Tötungshandlungen im Fernraum 40 abspielten. Bei aber verlieren Vermeidungsstrategien durch großzügige Zubilligung von § 21 StGB an Bedeutung. 36 Zur Entwicklung der Zahl der Verurteilungen zu lebenslanger Freiheitsstrafe s. Kerner, ZStW 98 (1986), S.892, 905; Lüdemann, Gesetzgebung, S. 16ff. 37 Vgl. Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S. 59. Ferner Pracejus, NStZ 1986, s. 22f.; Rangol, MschrKrim 52 (1969), S. 276ff.; RieB, MschrKrim 53 (1970), S. 58f. 38 Unter der Kategorie "Fremde" wurden auch solche Opfer eingeordnet, die seit weniger als einem Tag mit dem Täter bekannt waren. 39 Vgl. Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S.61, 182; Götz, GA 1977, S.328 . • 0 In die Gruppe Fernraumtötungen wurden sämtliche Fälle eingestuft, bei denen die Tötungshandlung aus einer Distanz von mehr als 6 m unternommen wurde. Giftbeibringung wurde ebenfalls dieser Kategorie zugerechnet, sofern der gefährliche Angriff nicht unmittelbar, etwa durch eine Spritze, sondern mittelbar, etwa durch Giftbeibringung in Getränke, erfolgte. - Wenn mit dieser Kategorie insbesondere auf örtlich / räumliche Distanz abgestellt wird, so um zusätzlich

16

§ 2 Darstellung des Untersuchungsmaterials

Tabelle 1: Verteilung der Sozialmerkmale der Verurteilten

Sozialmerkmale Geschlecht Männer

F raue n

I

n.B.

I Totschlag I I

Summe

I

Bevölkerungsanteil % ~ Bundesgebiet*

I Berlin/Bad.-Württbg. I 47,4 52,6

47,6 52,4

91,0 9,0

93,6 6,4

(N)

Nationaliät Deutsche Nichtdeutsche (N) Schicht Unterschicht Mittelschicht Oberschicht (N) Alter (Jahre)18-20 J. 21-30 J. 31-40 J. 41-50 J. 51-60 J. 61-70 J. andere Altersgr. (N)

Quelle: * Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (Hrsg.), S.21.

2,9 13,0 14,7 12,9 10,4 10,6 34,9

Statistisches Taschenbuch,

Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1978. -

Beschränkt auf die Darstellung sämtlicher Tötungsfälle.

Angaben in Prozent.

mögliche unterschiedliche Aggressionshemmungen und Reflexionen erfassen zu können (s. unten § 9 Anm.31). Denn auf alltagstheoretischer Grundlage wird vertreten, daß auch die räumliche Distanz Einfluß auf Tötungshemmung und Überlegung habe (vgl. Noll, Universitas 1971, S. 1025f.). Teilweise werden die Begriffe Fernraum- / Nahraumtötungen jedoch auch bloß im Sinne personaler Nähe (sozialer Nahraum) verwendet (Brauneck, Kriminologie, S. 12ff.; 222ff.; Eser, DJT-Gutachten, D 109). Die damit avisierte Unterscheidung nach Tötungssituationen erscheint freilich zumindest für das hier verfolgte Forschungsziel zu grobkörnig: Das zutreffende Grundanliegen dieser Ätiologie, nämlich Tötungen als Produkt einer personalkonfliktbedingten Gemütsbewegung dogmatisch und kriminalpolitisch fruchtbar zu machen (s. Eser, ebda), wird durch zusätzliche Variablen verfolgt (Affekt-, Konflikttötungen, Täter-Opfer-Beziehung), die sich ihrerseits abstufen lassen und kombiniert werden können. (In diesem Sinne auch Kaiser, Kriminologie, S.402ff.; Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S.57ff., 180ff.

III. Grundstrukturen des Fallmaterials

17

der Tatbegehung stehen zwei Ausführungen im Vordergrund: In 38% der Fälle wurde der Angriff mittels eines Stichwerkzeuges durchgeführt, knapp 30% der Täter verwendeten bei der Tatausführung eine Schußwaffe." Die restlichen Begehungsweisen verteilen sich wie folgt: Schläge mit Hammer, Beil etc: ca. 17%; Würgen, Drosseln mit den Händen ca. 8%; Ersticken mit Strangulationswerkzeugen ca. 3%. Die Untersuchung wird sich daher wegen der zu geringen N-Basis der übrigen Kategorien primär auf die beiden erstgenannten Gruppen konzentrieren. Weitere Merkmale sind jeweils im Text dargestellt.

Und s. auch Brauneck, Kriminologie, S. 224, welche die "entscheidende Trennung" bei den Tötungsdelikten denn auch nicht zwischen Nah- und Fernraumtötungen sieht). .. N = 79. Diese zwei Ausführungsarten ergaben auch bei Sessar, Definition der Tötungskriminalität (sämtliche Strafverfahren, die 1970/71 in Baden-Württemberg den Verdacht einer nicht bloß fahrlässigen Tötung enthielten) einen Anteil von 51,5% (S.58). 2 Heine

ERSTER TEIL

Grundlagen und Grundprobleme der Motivgeneralklausel Bevor wesentliche Mängel des Mordmerkmals und Schwierigkeiten bei seiner Anwendung, auch unter Einbeziehung sozialwissenschaftlicher und empirischer Befunde, bewußt zu machen sind (unten §§ 4ff.), ist zu untersuchen, welche Überlegungen zu dem geltenden Recht geführt haben, welche Ziele es sich gesteckt hat und vor allem, nach welchem materiellen Abgrenzungsprinzip Mord und Totschlag zu unterscheiden sein sollten. Möglicherweise beruhen nämlich heutige Schwierigkeiten auf den programmatischen Grundintentionen des historischen Gesetzgebers. Darüber hinaus ist nicht ausgeschlossen, daß sich aus den historischen Erfahrungen auch wichtige Gesichtspunkte für die aktuelle Diskussion ergeben. 1 Dabei kann sich die Darstellung auf die wichtigsten Prämissen beschränken, nachdem die Thematik Gegenstand jüngerer Untersuchungen war. 2

§ 3 Der historische Hintergrund der Konzeption der Tötungsdelikte - die heutige Ausgangslage Zunächst ist auf die Vorgeschichte der geltenden Regelung einzugehen (I), im Anschluß wird die aktuelle Ausgangslage für die weitere Untersuchung skizziert (11).

I. Rückblick: Die "Überlegungskonzeption" von 1871 und die "Verwerflichkeitskasuistik" von 1941 Innerhalb der vorsätzlichen Tötungsdelikte entspricht die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag überliefertem Rechtsdenken. Gemessen an dieser langen Abgrenzungsgeschichte J stammt die gegenwärtige 1

Hingewiesen sei nur auf die Renaissance des Überlegungskriteriums: Vgl. z. B.

FrommeI, JZ 1980, S. 564; Geilen, Bockelmann-Festschrift, S. 646; Jähnke, MDR 1980, S. 707; Köhler, GA 1980, S. 136, 142; M.K. Meyer, JR 1979, S. 488; Woesner, NJW 1978, S. 1027. Eingehend unten § 9. 2 Eser, DJT-Gutachten, D 23ff.; FrommeI, JZ 1980, S. 559ff.; Thomas, Geschichte

des Mordparagraphen, S. 201 f.

1. "Überlegungskonzeption" 1871 und "Verwerflichkeitskasuistik" 1941

19

Fassung der §§ 211, 212 StGB aus neuerer Zeit: Bevor die Strafrechtsnovelle von 1941 4 betrachtet wird, die vom Wortlaut her im wesentlichen dem heute geltenden Recht entspricht (unten B), ist vorab kurz das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 zu beleuchten. Denn da sich die Gesetzesänderung von 1941 als bewußte Abkehr einer im gemeinen Recht wurzelnden, "auf den Intellekt eingestellten"5 Konzeption der Tötungsdelikte verstand, lassen sich die Prämissen jener Neuorientierung nicht ohne die Grundannahmen der Überlegungskonzeption von 1871 verstehen: A. Die Überlegungskonzeption des RStGB 1871 Strukturell sah die ursprüngliche Fassung des RStGB von 1871 6 ein Dreistufigkeitsmodell vor: Vom Grundtatbestand der vorsätzlichen Tötung (§ 212 RStGB 1871)' wurden ein erhöhter Unwert gehalt aufgestuft (§ 211 RStGB 1871) und mildere Fälle abgestuft (§ 213ft. RStGB 1871) .

Nicht etwa dieses Grundgerüst, sondern das materielle Abgrenzungskri-

3 Vgl. hierzu die Übersicht bei Jähnke, LK, Vorbem. 35 vor § 211 sowie etwa (eingehend) AIlfeId, Entwicklung, passim; His, Geschichte des Deutschen Strafrechts, § 23; Eb.Schmidt, Einführung, § 17, § 41, § 94 mit Hinweisen auf Schwarzenberg, die Constitutio Criminalis Bambergensis (1507) und die Constitutio Criminalis Carolina (1532). In der Carolina findet sich die Unterscheidung von "fursetzlichem Morder" und "unfursetzlichem Todtschleger" (Art. 137 CCC). "Unfursetzlich" bedeutete dabei die das kalte Überlegen beeinträchtigende Erregung und Aufwallung (s. Eb.Schmidt, Einführung, § 94). Nach germanischem Rechtsdenken war demgegenüber Mörder, wer die Tat zu verheimlichen trachtete (s. Eisenhardt, Rechtsgeschichte, S. 65, vgl. auch noch Ziff. 9 der Friedensurkunde König Heinrich VII für Sachsen (1223), abgedruckt bei Kroeschell, Rechtsgeschichte. Bd. 1, S.290, 292). Und im Basler Rechtsleben wurde unterschieden zwischen dem "redlichen" Totschlag und dem "schamlichen" Mord, s. eingehend Hagemann, Basler Rechtsleben im Mittelalter, Basel 1981, S.278ff., 284. Vgl. auch Ruoff, Die Radolfzeller Halsgerichtsordnung von 1506, Karlsruhe 1912, S. 113, der für das 16. Jahrhundert bereits von der Unterscheidung zwischen "ehrloser Gesinnung" (Mord), also Tötung ohne jede Veranlassung, und Totschlag (Tötung nach vorheriger Herausforderung) berichtet. Zum Ganzen umfassend Thomas. Geschichte des Mordparagraphen, S. 5 ff. • Gesetz zur Änderung des RStGB vom 4.9.1941 (RGB1. I, S.549). • FreisIer, DJ 1941, S. 933. Das gemeine Recht sah das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal zwischen Mord und Totschlag in der vorherigen Überlegung. Über das französische Recht, das bayerische StGB von 1813 und das preußische StGB von 1851 ging das intellektuell gefaßte Abgrenzungskriterium in das RStGB 1871 ein, vgl. Kroner, S. 5ff.; Wachen/eId, Mord und Totschlag, S. 118f., 177ff. 6 Gesetz betr. die Redaktion des StGB für den Norddeutschen Bund als StGB für das Deutsche Reich v. 13.5.1871 (RGBl., S.127). Insoweit kam dem Preußischen Strafgesetzbuch von 1851 Vorbildfunktion zu: vgl. Thomas, Geschichte des Mordparagraphen, S. 184ff., 201. • Allerdings mit weiteren Unterstufungen (vgl. §§ 214ff. RStGB 1871), die für die Grundsystematik und die vorliegende Betrachtung ohne Bedeutung sind.

2'

20

§ 3 Historie und Ausgangslage

terium der unterschiedlichen Unrechts- und / oder Verschuldensgrade innerhalb der Tötung, gekoppelt mit einer absoluten Strafe, gab jedoch den Ausschlag für die Gesetzesänderung von 1941: Die vorsätzliche Tötung eines Menschen wurde bis dahin mit dem Tode bestraft, "wenn (der Täter) die Tödtung mit Überlegung ausgeführt hat".8 Die Haupteinwände galten zunächst nicht dem Umstand, daß damit "einem Funktionsvorgang des Verstandes die Entscheidung" über die Bewertung der Tat als Mord ohne die Möglichkeit eines Rekurses auf die "sittliche Wertung des Täters" beigemessen wurde. 9 Vielmehr standen insbesondere zwei Komplexe im Kreuzfeuer der Kritik: Einmal der Automatismus zwischen Überlegung und Todesstrafe, zum anderen die damit eng verbundene tatschuldangemessene Interpretation des Abgrenzungsmerkmals "Überlegung". Denn was bereits v. Holtzendorff 1875 monierte'O , konnte der E 1936 "durch Erfahrung bestätigen", nämlich daß die Überlegung weder regelmäßig ein Anzeichen für höhere Strafwürdigkeit darstellt noch daß ihr Mangel in allen Fällen auf geringere Schuld schließen läßt". Beide Komponenten sind aber logische Voraussetzungen einer Konzeption, die das Abgrenzungskriterium mit einer absoluten Strafandrohung verschweißt. Daß das Überlegungskriterium sich aber je nach Sachlage als zu eng bzw. als zu weit erwiesen hatte, darüber bestand 1935 in der amtlichen Strafrechtskommission "volle Einigkeit"." Und dies nicht zuletzt deshalb, weil die Überlegung als solche nur einen Ausschnitt im Hinblick auf die Höchststrafwürdigkeit gewährleistete.'3 Zwar wurde die grundsätzliche Verwerflichkeit bzw. Gefährlichkeit der mit Überlegung ausgeführten Tötung kaum bestritten, gleichwohl blieb die Symptomatisierung der Höchstschuld mittels der Verabsolutierung eines psychologischen Kriteriums zwiespältig: Die lex lata konnte wertemäßig stärker besetzten Elementen, wie etwa der Art und der Stärke des Tatmotivs sowie tatumstandsbedingten Gefährlichkeitsindizien, kaum Rechnung tragen. Denn ob der Täter nun seinen todkranken Angehörigen von • § 211 RStGB 1871. Zu der Geschichte der sog. Prämeditationslehre, vgl. Eser, DJT-Gutachten D 24ff., sowie eingehend Thomas, Geschichte des Mordparagraphen, S. 184ff. 9 So jedoch Freisler, DJ 1941, S.933; vgl. auch Rietzsch, S. 169ff. 10 v. Holtzendorff, Verbrechen des Mordes, S.256ff., vgl. auch lohn, Entwurf, S. 51,53. 11 E 1936, S. 245. Ebenso bereits Rosenfeld als Berichterstatter des 21. Strafrechtsausschusses in der Sitzung vom 23. 4. 1929 (Verhandlungen Bd. 11, IV. Wahlperiode, S. 3); vgl. auch Alexander für die KP (Sitzung vom 25. 4. 1929, S. 7). Gleichwohl wurde trotz dieser Bedenken bis zum E 1930 an dem Überlegungsprinzip in Ermangelung eines besseren festgehaUen: vgl. Schwalm NdS. Xlll S. 149, E 1962 Begr. S.272; plastisch Rosenfeld (aaO.), vgl. hierzu auch v.Gleispach, Tötung, S. 371 ff. 12 v. Gleispach, Tötung, S.372. 13 Freisler, DJ 1941, S.933; bereits v. Liszt, Verbrechen und Vergehen, S. 63.

1. "Überlegungskonzeption" 1871 und "Verwerflichkeitskasuistik" 1941

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schweren Schmerzen befreien oder sich einer Barschaft ermächtigen wollte, ob er, um sein Ziel zu erreichen, ein Gebäude in Brand setzte oder die Tötung in bandenmäßigem Zusammenschluß ausführte, blieb unerheblich, sofern sich die Ausführungsmodalität oder das Motiv nicht auf die Überlegung auswirkte." Gerade in dem erstgenannten Fall müßte aber die Tat desjenigen, der sich seine Entscheidung nicht leicht gemacht hatte, sondern sich nach langer Überlegung für eine Mitleidstötung entschloß, als Mord gewertet und mit Todesstrafe sanktioniert werden ein Ergebnis, das v. Liszt bereits 1905 veranlaßte, die Überlegungskonzeption als "gescheitert" zu bezeichnen. l5 Andererseits scheint die damalige Praxis Mittel und Wege gefunden zu haben, in einigen Fällen unter Hintanstellung dogmatischer Stringenz die Rigidität des Merkmals zu unterlaufen '6: Andernfalls wäre die Begründung im VE 1909 für die Beibehaltung des Überlegungskriteriums kaum erklärbar. Denn die Schwierigkeiten mit diesem Abgrenzungsmerkmal wurden damit abgetan, daß die "Überlegung" häufig nicht nur aus Irrtum (der Geschworenen), sondern deshalb verneint worden sei, weil die absolute Todesstrafe "in dem gegebenen Fall als zu hart erscheint"" - ein Eingeständnis, das seine Parallelität in dem Eindruck Esers - 75 Jahre später - für die heutige Instanzenpraxis findet.'8 Aber nicht nur solche Vermeidungsstrategien wiesen auf die Brüchigkeit der Tötungsdeliktekonzeption des RStGB 1871 hin - bereits die Auslegung des Merkmals Überlegung in seinem materiellen Kern bereitete sowohl dem Schrifttum als auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung kaum zu bewältigende Schwierigkeiten.'9 Weder konnte überzeugend geklärt werden, zu welchem Tatzeitpunkt mit Überlegung zu handeln sei, noch welche Dauer und Intensität dem "inneren Vorgang" zugesprochen werden müsse?O Auch der Inhalt der Prämeditation blieb .. Vgl. hierzu die Rechtsprechungsanalyse von Thomas, Geschichte des Mordparagraphen, S. 205ff., dessen Fazit wie folgt lautet (S. 238): "Der Versuch, mit einer im idealistischen Denken verhafteten Kategorie - Reflexion von ,Sollen' und (entgegengesetztem) ,Wollen' - den idealtypischen ,Mörder' zu erfassen, war ... fehlgeschlagen". 15 v. Liszt, Verbrechen und Vergehen, S. 36. 1. In diesem Sinne auch Schmidt-Leichner, DR 1941. S. 2147. 17 VE 1909, S. 639, "und die Geschworenen deshalb (!) davon Abstand nahmen". 18 Eser, DJT-Sitzungsbericht, M 86: "Dort, wo die Privilegierung aus irgendwelchen Gründen gewollt war, hat man gar nicht mehr so furchtbar genau nach den Motiven geforscht und damit konnten natürlich auch keine niedrigen entdeckt werden." S. auch Sessar, MschrKrim 63 (1980), S. 193ff. mit empirischen Beobachtungen zur Umgehung der lebenslangen Freiheitsstrafe. Hierauf ist noch zurückzukommen, vgl. unten § 6 n. 19 Vgl. im einzelnen die Rechtsprechungsanalysen bei Blühm, S.98ff.; Conen, Tötungsdelikte, S. 20ff,; Otto, ZStW 83 (1971), S. 52f., sowie Thomas, Geschichte des Mordparagraphen, S. 205ff.

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§ 3 Historie und Ausgangslage

bis zuletzt umstritten: Während etwa für v. Holtzendorff das Vorbedenken des Planes und der für die Tötung ausgewählten Mittel entscheidend war 2', glaubten (abwertend) sogenannte "Vorläufer einer Philosophie, die meinte, auch das Letzte verstandesmäßig erklären, erfassen und werten zu können" 22 , die in das Bewußtsein des Täters getretenen "Abhaltungsgründe" als konstitutiv für das Überlegungsmerkmal ansehen zu können?3 Die Rechtsprechung hatte sich seit RGSt 42, S.260 für eine kumulative Interpretationsrichtlinie entschieden: Danach bestand der Überlegungsbegriff aus der Reflexion der Motive ("Abwägung der zum Handeln drängenden und von diesem abhaltenden Beweggründe") und dem Bedenken der "zur Herbeiführung des gewollten Erfolges erforderlichen Tätigkeit'?' Letztlich orientierte sich die jüngere Reichsgerichtsrechtsprechung aber mehr an dem "verstandesklaren und kühlen Abwägen"25 - ein Kriterium, das offenbar dezisionistische Entscheidungen begünstigte: Wie Thomas in seiner Analyse der Judikatur belegt hat, konnten solche Attribute dem Täter vom erkennenden Gericht je nach subjektiver Überzeugung zugeschrieben werden.26 Dementsprechend untertrieb v. Gleispach eher, als er 1935 zusammenfaßte, es sei "nicht gelungen", den Inhalt des Begriffs der Überlegung "einwandfrei festzulegen"?'

20 Vgl. v. Liszt, Verbrechen und Vergehen, S. 42ff. m.w.N.; Wachenteid, Überlegung, S. 14; Frank, StGB, 2. Aufl. § 211 Anm. 2; v. Gleispach, Überlegung, S. 372. Vgl. zur Problematik auch ausführlich Eser, DJT-Gutachten, D. 27ff. m.w.N. 21 v. HoItzendortt, Handbuch, S. 427. Rigoros lehnte auch Katzenstein, ZStW 24 (1904), S. 503ff. eine "voluntaristische" Begriffsbildung und damit eine Reflexion der Motive ab: Eindimensional an dem "Wie" der Tötung orientiert, warf er Vertretern der wohl herrschenden Lehre vor, mit ihrem Abstellen auf das "Ob" der Tat "jene gewerbsmäßigen Mörder, wie sie uns Shakespeares Meisterhand zeichnet, (zu Unrecht) nicht als Mörder (bezeichnen zu können)" (S. 525). 22 So polemisch, aber charakteristisch für die herrschende Ideologie FreisIer, DJ 1941, S.373. 23 V gl. Bindung, Lehrbuch, S. 27; Mittermaier, GA 2, S. 300; Hälschner, Strafrecht, S. 36, 48; ferner Frank, StGB, 2. Aufl. § 211 Anm. 2; Wachenteid, Lehrbuch, S. 305; derselbe, Tötungsdelikte, S.29f. 2. Vgl. etwa RG JW 1926, S. 1187; RG JW 1927, S. 902 und S. 2019; RG JW 1931, S. 939 und S. 2805; RG JW 1935, S. 864. Vgl. auch v. Liszt, Verbrechen und Vergehen, S. 42f. sowie derselbe, Strafrecht, S.316: ,,(Die Überlegung) bezieht sich ... auf die Entscheidung der DoppeUrage: 1. ob, 2. wie gehandelt werden soll". 25 Jenes Kriterium findet sich soweit ersichtlich - zuerst in RG JW 1935, S.3468. Vgl. ferner RG JW 1936, S.2556 sowie RG JW 1936, S.3462. 2. Thomas, Geschichte des Mordparagraphen, S. 205, 222. 27 v. Gleispach, Tötung, S. 372. Zum Ganzen eingehend Thomas, Geschichte des Mordparagraphen, S.222ft.

I. "Überlegungskonzeption" 1871 und "Verwerflichkeitskasuistik" 1941

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B. Die an Tätertypen orientierte Kasuistik der Novelle von 1941 Mit der neuen Mordkonzeption glaubte man, die Ungereimtheiten der

§ 211 ff. RStGB 1871 dadurch bereinigen zu können, daß - in Anlehnung an den Entwurf von Stooss von 1894 28 - sozialethisch besonders verwerf-

liche Tötungsfälle vom "Normalfall" der Tötung aufgestuft und die hierfür charakteristischen Motive, Absichten und Begehungsweisen typisiert wurden.

Diese Kasuistik von mordqualifizierenden Umständen (§ 211 StGB) umfaßt gesetzestechnisch drei Gruppen, die (prima vista) teils durch die Niedrigkeit der "Motive" (1.Gruppe: Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier, sonstige niedrige Beweggründe), teils durch die besondere Gefährlichkeit oder inhumane Art der Tatausführung (2.Gruppe: heimtückisch, grausam, mit gemeingefährlichen Mitteln), teils durch die besonderen deliktischen Zielsetzungen (3.Gruppe: Ermöglichung oder Verdeckung einer Straftat) charakterisiert werden können. Zwar sind weder die strukturell dreistufige Tötungskonzeption noch die tatbestandliche Ausgestaltung Kennzeichen typisch nationalsozialistischen Gedankenguts. Gleichwohl ist auf die Besonderheiten der nationalsozialistischen Rechtslehre deshalb einzugehen, weil nur so innerhalb des historischen Kontexts - der Optimismus und die Sicherheit zu veranschaulichen sind, mit der die damalige h.M. meinte, für jeden Fall einer Tötung die richtige Einstufung vornehmen zu können.29 Wie sich zeigen wird, beruhte diese Einschätzung u. a. auf der Orientierung an der rechtstheoretischen Figur des Typus und der im Strafrecht propagierten Lehre vom normativen Tätertyp. Mit diesen Instrumenten sollte die "formal-logische Subsumtionstechnik" des "Kaiserrechts" überwunden und ein Maßstab geschaffen werden, der es ermöglichte, die "grundsätzlich andere Wesensart des Mörders" zu kennzeichnen.30 Zwei Komplexe scheinen für das Verständnis der Novelle von 1941 besonders bedeutsam zu sein: einmal die - tendenzielle - Auflösung der Tatbestände in Richtung auf normative Tätertypen (1), zum anderen eng verbunden hiermit - die Umorientierung von der Bewertung der Tat auf die alleinige Beurteilung der Gesinnung des Täters (2). 28 8tooss, Vorentwurf 1894, S.38 (Art. 50). Der Vorentwurf von 1916 (Art. 104) fügte dem Entwurf von 1894 eine verallgemeinernde Klausel an: Benannte Beweggründe wurden um das Merkmal "oder aus anderen gemeinen Beweggründen" erweitert. Dabei war diese Anlehnung aufgrund der unterschiedlichen kriminalpolitischen Konzepte kaum mehr als eine äußerliche: vgl. FrommeI, JZ 1980, S.462; Thomas, Geschichte des Mordparagraphen, S.242ff., insbesondere S. 248f. sowie den nachfolgenden Haupttext. 29 Vgl. Freisler, DJ 1941, S. 933ff.; v. Gleispach, Tötung, S. 372ff.; Dahm, DR 1942, S.405. 30 Freisler, DJ 1941, S. 934, vgl. auch Dahm, Tätertyp, passim; derselbe, DR 1942, S.401ff.

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§ 3 Historie und Ausgangslage

1. Die Bedeutung der normativen Tätertypenlehre

Bereits 1936 vertrat v. Gleispach in seinem "Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission" die Ansicht, daß bei der Reform der Tötungsdelikte nicht daran gedacht sein sollte, kasuistisch-abschließend die besonders verwerfliche Tötung zu erfassen.31 Vielmehr sollten die Merkmale lediglich "Hinweise" für die Bewertung des Täters darstellen, die dem Richter die Einordnung des Täters als Mörder oder Totschläger erleichtern sollten. Angesprochen ist damit eine das nationalsozialistische Strafrecht kennzeichnende Tatbestandstechnik: Auflockerung der Tatbestände und Hinwendung zum" Tätertyp im Strafrecht".32 Nachdem indes eine Verbindung zwischen § 211 StGB und dem nationalsozialistischen Rechtsdenken immer wieder in Abrede gestellt wird,33 gilt es, diesen Punkt etwas näher zu beleuchten: Erkenntnisgewinn verspricht dabei zunächst ein Blick auf die unterschiedliche Entwicklung der Konzeption der Tötungsdelikte in der Schweiz und in Deutschland, nachdem sich beide Rechtsordnungen auf denselben Paten berufen können: Offenbar beeinflußt durch die vernichtende Kritik v. Liszts 34 an den von Stooss geprägten, kasuistischen Vorentwürfen, hat der schweizerische Gesetzgeber einen gänzlich anderen Weg als der deutsche beschritten: Da sowohl im Ständerat wie auch im Nationalrat die gesetzestechnische Methode der Aufzählung höchststrafwürdiger Fälle als unbefriedigend empfunden wurde,35 orientierte sich das schweizerische StGB an einer allgemeinen Umschreibung der qualifizierenden Umstände.3• Geht man der Frage nach, warum die von der Schweiz verworfene Mordkasuistik vom deutschen Gesetzgeber übernommen wurde, so 31 Denn sonst würden dem Richter Schranken auferlegt, die ihm die richtige Würdigung des Falles unmöglich machen, v. Gleispach, Tötung, S. 372ff. 32 So der Titel der bekannten Antrittsrede von Dahm 1940 an der Universität Leipzig. 33 OGHSt 1, S.76f.; OGHSt 1, S.84f.; Eb. Schmidt, DRZ 1949, S.201; Lange, Schröder-Gedächtnisschrift S. 217; vgl. auch Maurachj Schroeder, Strafrecht BT 1, S.23, die von einer "glücklicherweise folgenlos gebliebenen Konzession an den damals ,herumspukenden' Gedanken des Täterstrafrechts" sprechen. A.A. etwa Frommel, JZ 1980, S.563; Thomas, Geschichte des Mordparagraphen, S.247ff. 34 v. Liszt, Verbrechen und Vergehen, S. 67, der die Kasuistik als "Beweis dafür" ansah, "daß der Gesetzgeber entweder nicht gewußt hat, was er wollte, oder daß es ihm noch nicht gelungen ist, seinen Gedanken zu jener Reife abzuklären, ohne die nun einmal die legislative Verwertung nicht möglich ist". 35 Vgl. die Nachw. aus Ständerat, Nationalrat und Expertenkommission bei Thormann j v.Overbeck, Schweizerisches Strafgesetzbuch, 2. Band, Besondere Bestimmungen, S. 9 f. 36 Mord ist in der Schweiz dadurch gekennzeichnet, daß .. der Täter unter Umständen oder mit einer Überlegung (tötet), die seine besonders verwerfliche Gesinnung oder seine Gefährlichkeit offenbaren". (Art. 112 schwStGB).

I. "Überlegungskonzeption" 1871 und "Verwerflichkeitskasuistik" 1941

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dürfte kein Weg an dem spezifischen Rechtsdenken des Nationalsozialismus vorbeiführen: Programmatische Unverbindlichkeit und Dezisionismus waren entscheidende Kennzeichen jener Epoche. Wenn der Gesetzgeber gleichwohl eine kasuistische Regelung der Tötungsdelikte wählte, so offenbar deshalb, weil mit der tätertypisch formulierten Umschreibung ein Freiraum für erwünschte Einschränkungen oder Ausweitungen geschaffen werden sollte: Als Beleg lassen sich nicht nur Kommentierungen und "amtliche" Begründungen zu diesem Gesetz anführen; auch der Gesamtzusammenhang der Gesetzgebung jener Zeit weist in diese Richtung: Dahm, FreisIer, v. Gleispach und Rietzsch 31 waren sich darin einig, daß weder § 211 Abs. 2 StGB bei Vorliegen eines Mordmerkmals dazu zwinge,

den Täter als Mörder zu verurteilen, noch daß bei Nichtvorliegen eines Mordmerkmals eine Verurteilung wegen Mordes ausgeschlossen sei. Dem steht auch nicht entgegen, daß die Gesetzesfassung anders als der Vorentwurf 1936 auf den Zusatz "in der Regel" verzichtete.38 Denn wie Dahm und Freisler übereinstimmend erklärten, sei auf die Hervorhebung der Regelbeispieltechnik nur deshalb verzichtet worden, weil dadurch eingestanden worden wäre, daß es auch nicht besonders verwerfliche Tötungen gäbe - was "durchaus unerwünscht" seP9 Selbst wenn beiden Stimmen diesbezüglich Unvoreingenommenheit abzusprechen ist, so kann jedenfalls nicht darüber hinweggesehen werden, daß das "Arbeiten mit Tätertypen" zum Zeitpunkt der endgültigen Fassung der Novelle von 1941 als "Notwendigkeit" erachtet wurde 40 und die Begründung zum Vorentwurf 1936 bereits von "Mördertypen" sprach: Mit jener Technik sollte der Richter "die Einreihung in den Typus ausdrücklich im Urteil vollziehen .... Das wird die erzieherische Wirkung der Strafrechtspflege steigern" .41 37 Dahm, DR 1942, S.405; FreisIer, DJ 1941, S.935; v. GIeispach, Deutsches Strafrecht 8 (1941), S. 2ff.; Rietzsch, S. 173f. Die im Text vorgenommene Einschätzung wird geteilt von RieB, NJW 1968, S. 629 (freilich beschränkt auf die Korrektur unerwünschter Ausweitungen). S. auch Jähnke, LK, Vorbem. 36 vor § 211; Rüping, JZ 1979, S. 618. 38 Vgl. dazu v. GIeispach, Tötung, S.385, a.A. als der Haupttext aber BGHSt 9, S.388. 39 FreisIer, DJ 1941, S.935; vgl. Dahm, DR 1942, S. 405. Vgl. aber auch SchmidtLeichner, DR 1941, S. 2148, der es nicht für "nötig" befand, "neben der Feststellung der Tatbestandsmerkmale des Mordes stets noch die weitere Feststellung eines Tätertyps des Mörders zu verlangen", offenbar aber jedenfalls für bestimmte Fälle eine tätertypen-orientierte Klassifizierung nicht ausschloß. 40 v. GIeispach, Deutsches Strafrecht 8 (1941), S.3 . .. v.GIeispach, Tötung, S.374. Daher kann Geilen, JR 1980, S.311 zugestimmt werden, der die tätertypisch formulierte Umschreibung der Tötungsdelikte als "Versuchsballon des Gesetzgebers" bezeichnet, "der dadurch einer ihm sympathisch erscheinenden Lehrmeinung ein erstes Exerzierfeld im StGB einräumen wollte". Ebenso Maurach, JuS 1969, S. 252.

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§ 3 Historie und Ausgangslage

Schließlich weist auch die Einbettung dieser Tötungsregelungen in die übrige Gesetzgebung darauf hin, daß der nationalsozialistische Gesetzgeber diese Typentechnik anscheinend deshalb verwendete, um sich von der hinderlichen Einbindung tatbestandlicher Garantien zu befreien. Die Bindung des Richters an die Gesetze wurde durch eine Vielzahl von Verordnungen gelockert, die durchweg Tatbestände mit umfassend ausfüllungs bedürftigen Wertbegriffen enthielten: Verwiesen sei auf die Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939, die Verordnung gegen Gewaltverbrecher vom 5. Dezember 1939 und die Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher vom 4. Oktober 1939.42 All jenen Maßnahmen war gemeinsam, daß der Bezugnahme auf einen "tatbestandlichen Tätertyp ... verbindliche Kraft" zukommen sollte.43 Mit diesem Typus war indes nicht eine phänomenologisch bestimmte Tätergruppe gemeint, sondern eine rein normativ-idealistische.·4 Dahm hat die Begriffsinhalte wie folgt verdeutlicht, wobei zugleich Licht geworfen wird auf die Bedeutung des Tatbestandes: Es fragt sich,,, ... ob es Sinn hat, etwa den Mord ... , also die Tat, mit dem Täter in Verbindung zu bringen. Das wäre offenbar dann der Fall, wenn es gelänge, die Tat selbst besser zu verstehen, ihren kriminellen Gehalt zu deuten und ihre Grenzen zu bestimmen. Dies kann nun offenbar nicht in der Weise geschehen, daß die Tat nur in ihrer symptomatischen Bedeutung für ein kriminologisches Tätersein aufgefaßt wird ... , sondern es kann sich hier nur darum handeln, ob jemand ... im Sinne der Volksanschauung als Mörder, Landesverräter, Dieb usw. erscheint, und ob er dem Täterbilde entspricht, das dem Gesetzgeber bei der Aufstellung seiner Gebote vor Augen stand".45 Leitender Gesichtspunkt des nationalsozialistischen Gesetzgebers für höchststrafwürdige Tötungen war dementsprechend die gedankliche Konstruktion des Typus "gemeiner Mörder", der als minderwertig von der Volksgemeinschaft auszuschließen war.·6 Der Einschätzung Frommels 6 ergeben sich Parallelen zu Lampe. Soweit indes Eser in diese Definition "Emotionen" miteinbezieht, dürften jene psychischen Elemente umschrieben sein, die Lampe als Gefühle bezeichnet?? Andere wiederum gehen eher verbrechensbegrifflich-systematisch vor und halten dafür, daß mit Beweggrund - im Unterschied zur Absicht - nur das voluntative Element angesprochen seP8 - ganz im Gegenteil zu den erwähnten Autoren, die auf die (auch intellektuellen) Vorstellungen abstellen. Aber wie auch immer - dieser Streifzug hat gezeigt, daß wenig Klarheit besteht über die inhaltlichen Strukturen dieses psychischen Merkmals. Gerade im Bereich der Höchststrafwürdigkeit gilt indes in besonderem Maße, daß eindeutige Grundbegriffe zugrundezulegen sind. Nur so können Verfälschungen des gemeinten Bezugspunktes und Ungerechtigkeiten seiner Bewertung vermieden werden. Klarheit kann dabei letztlich nur eine Begriffs- und Strukturanalyse des Merkmals Beweggrund schaffen (unten § 8).

20 21

Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 229. Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 227 f: "Als Beweggrund kommt ... nur

in Betracht, was sich zugleich als Willens- und Handlungsziel erfassen läßt". Vgl. auch Paeffgen, GA 1982, S. 258, 260, der einen psychologischen Motivbegriff vertritt, wobei maßgebliche Aufklärungsfunktion der Intentionalität zukommt. Vgl. aber auch Oehler, NJW 1966, S. 1637, wonach Beweggründe nicht durch die Vorstellung der Zweckerreichung gekennzeichnet seien. 22 Lampe, Das personale Unrecht, S. 141. Vgl. auch Eser, in SchönkejSchröder, § 211 Rdnr. 14. Demgegenüber machen nach Oehler, NJW 1966, S. 1637 die "Vorstellungen von dem Absichtsinhalt den Beweggrund"(?) aus. 23 Lampe, Das personale Unrecht, S. 141. 24 Maurachj Zipf, Strafrecht AT 1, S. 304. Vgl. auch Jakobs, NJW 1970, S. 1089 und Geilen, Lackner-Festschrift, S. 581 f. 25 Lampe, Das personale Unrecht, S. 140. 26 Eser, in SchönkejSchröder, § 211 Rdnr.14; derselbe, NStZ 1981, S.385, bei Fn.25. Vgl. auch Hardwig, ZStW 68 (1956), S. 15. 27 Lampe, Das personale Unrecht, S. 118: "Bei ihnen handelt es sich um affektive Vorgänge (Gemütsbewegungen)". 28 Arzt / Weber, Strafrecht BT LH 1, S.52.

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§ 4 Der Bezugspunkt "Beweggründe"

Die Vielschichtigkeit der definitorischen Umschreibungen legt es nahe, daß auch bei der praktischen Befassung mit Tötungsmotiven vielschichtige Probleme auftauchen könnten:

11. Die ambivalente Wertbesetzung der Motivation und die geringe Charakterisierungskraft einzelner Motive Von einem Merkmal, das über die Höchststrafe des Sanktionensystems entscheidet, muß erwartet werden, daß es Differenzierungshilfe bei der Frage leistet, unter welchen Voraussetzungen die Tat als Mord zu bezeichnen und diese besondere Rechtsfolge geboten ist. Die damit angesprochene Rolle des Gesetzes wäre dementsprechend gewahrt, wenn die Gerichte Tötungsbeweggründe zu beurteilen hätten, denen die Niedrigkeit gleichsam auf die Stirn geschrieben ist. Indes wird sich zeigen, daß in der Rechtswirklichkeit regelmäßig Motivbündel vorliegen, die sich (unter sozialethischen Gesichtspunkten) gegenseitig zu relativieren scheinen (unten A -D). Dementsprechend hängen selbst so minderwertige Motive wie "kalte Rache" oder "Vernichtungshaß" so sehr von den Umständen des Einzelfalles ab, daß sie sich einer verbindlichen Generalisierung entziehen (unten D). A. Die (amorphe) Vielzahl von Motiven als praktischer Regelfall

Stellungnahmen in der Literatur vermitteln zuweilen den Eindruck, als ginge es bei der Motivgeneralklausel nur darum, Rache oder Haß festzustellen, diese Beweggründe seien dann "niedrig motiviert".29 Indes kam Binder bereits 1952 bei seiner Untersuchung von Basler und Züricher Gerichtsakten zu dem Ergebnis, daß von den verschiedenen Umständen eines Tötungsdelikts, wie z. B. Motivation oder Ausführungsart, "kein einziger an und für sich schon so eindeutig ist, daß aus ihm allein die juristische Bewertung des Delikts ohne weiteres erfolgen könne."3o Und auch in den Sitzungen der Großen Strafrechtskommission in den 50er Jahren wurde darauf hingewiesen, daß Beweggründe häufig in einem sich gegenseitig überlagernden Verbund auftreten: Insbesondere Eb. Schmidt vertrat die Meinung, daß wegen der Überlagerung einer Vielzahl von Motiven durchweg eine "Bilanz" erforderlich sei. 31 29 Blei, Strafrecht II, S. 23. Vgl. auch Meurer, Grundkurs Strafrecht III, S. 124. S. im übrigen bereits Grau / Krug / Rietzsch, Deutsches Strafrecht, S. 299. 30 Binder, SchwZStr 67 (1952), S. 322, vgl. auch Glatzel, Mord und Totschlag, S. 61. 31 Eb. Schmidt, NdS. VII, S. 48 unter Bezugnahme auf psychiatrische Erkenntnisse mit Beispielen aus seiner eigenen Praxis. Vgl. auch Bockelmann, NdS. VII, S. 48; Gallas, NdS. VII, S. 33; Welzel, NdS. VII, S. 48. Dementsprechend wurden auch von der Mehrheit der Mitglieder der Großen Strafrechtskommission die Vorschläge der Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums, soweit sie die Mordmerkmale "aus

11. Geringe Charakterisierungskraft der Motive

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Psychiatrisch-psychologische Stellungnahmen stützen diese Stimmen: Nach Rasch wirken bei der Motivation zu viele Handlungsgründe zusammen, "um zu einer Merkmalsverdichtung zu gelangen".32 Lempp erachtet es sogar für "unmöglich", ein einzelnes Motiv herauszuarbeiten. 33 Dementsprechend überrascht es kaum, daß die Vielschichtigkeit des Motivationsprozesses zunehmend die BGH-Senate beschäftigt: Im Gegensatz zu älteren BGH-Urteilen, bei denen regelmäßig nur thematisiert wurde, ob Eifersucht,'" Haß35 oder Rache 36 als niedriger Beweggrund angesehen werden kann, ist die jüngere höchstrichterliche Rechtsprechung häufig mit der Überprüfung einer Vielzahl von festgestellten Motiven befaßt. 31 Um uns ein Bild von der praktischen Relevanz des beschriebenen Phänomens zu machen, sind nachfolgend die Ergebnisse aus den instanzgerichtlichen Urteilen dargestellt: Schaubild 2 zeigt die Bedeutung von Motivbündeln in der Praxis. Berücksichtigt werden sämtliche Motivformen, die von den Instanzgerichten festgestellt wurden. Es sind dies: Zorn, Wut, Rache, Ärger, Unmut, Eifersucht, Ehrverletzung, Kränkung, Enttäuschung, Verzweiflung, Verdruß, Haß, Furcht, Kummer, Gram, Gleichgültigkeit. Auf die Berücksichtigung der Tatzwecke und -ziele im engeren Sinne wurde hier verzichtet, und zwar zum einen deshalb, weil andernfalls eine Quantifizierung nicht möglich gewesen wäre. Zum anderen sollen ja gerade diese "Beeinflussungen der Willensbetätigung"3. die maßgebenden Rachgier", "aus Neid", "aus niederträchtigem Haß" betrafen, abgelehnt. Vgl. NdS. VII, S.52, 351. 32 Rasch, in Handwörterbuch der Kriminologie, Bd.3, S. 389; vgl. ferner in diesem Zusammenhang auch Bresser, Lange-Festschrift, S. 682ff.; Brückner, Kriminologie, S. 13f.; Bürger-Prinz, Motiv und Motivation, passim; Jäger, MschrKrim 61 (1978), S.297ff. 33 Lempp, Jugendliche Mörder, S. 163, der so das Ergebnis seiner Tat- und Täteranalyse von 80 wegen eines Tötungsdelikts angezeigten oder angeklagten Jugendlichen bzw. Heranwachsenden zusammenfaßt. Vgl. auch denselben, DJTSitzungsbericht, M 76. 34 BGHSt 3 S. 182. Vgl. auch noch BGHSt 22, s. 13. 35 BGH GA 1974, S. 370. 36 BGHSt 1, S. 369, BGH NJW 1958, S. 189. Vgl. aber auch BGH 4 StR 212/213/53 v. 3. 12. 1953. 31 Vgl. die Rechtsprechungsanalyse von Es er, NStZ 1981, s. 385 zu und bei Fn.27; ders., NStZ 1983, S.435f.; sowie Alwart, GA 1983, S.433ff. Dabei läßt sich nur vermuten, daß diese Tendenz zu intensiverer motivatorischer Ausleuchtung des Tatgeschehens mit der Entscheidung des BVerfGE 45, S.187ff. und der damit ausgelösten vermehrten wissenschaftlichen Diskussion (vgl. nur den Überblick bei Heine, LdR 8/1680, S.3f.) zusammenhängt. Denn dem Grundsatz ..sinn- und maßvollen Strafens" (BVerfGE 45, S. 259 f.) Raum zu verschaffen, legt gerade bei rein subjektiven Merkmalen nahe, verstärkt die Motivationsgenese in die normative Betrachtung miteinzubeziehen (vgl. auch unten § 9f.). 3. S. die Nachw. oben Anm. 12.

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46

§ 4 Der Bezugspunkt "Beweggründe"

Und auch der hohe Anteil von Ehrkränkungsfällen 48 weist auf erhebliche Wertungsambivalenzen hin: So wurden bei Tötungen aus Rache in über einem Drittel der Fälle solche provokationsnahen Motive festgestellt. Bei Tötungen aus Haß beträgt der entsprechende Anteil sogar knapp 40%. Während Rachetötungen nach der Rechtsprechung grundsätzlich niedrige Motive sein können,49 legen Ehrkränkungsfälle die Prüfung von § 213 1.AU. StGB nahe: Die Rechtsprechung läßt für die Reizung zum Zorn (nach vorausgegangener schwerer Kränkung)50 jede heftige Gemütsbewegung genügen 51 und verlangt bei Motivbündeln lediglich, daß jener Antrieb seine "nicht ganz untergeordnete Bedeutung beibehäU".52 Insofern ist die Heterogenität der Wertfaktoren bei ein und derselben Tötung offensichtlich. 53 Und auch wenn etwa der motivationspsychologische Zusammenhang zwischen dem provozierenden VerhaUen des Opfers und der Tötungshandlung fehlen sollte (und dementsprechend die Voraussetzungen des § 213 1.AU. StGB nicht gegeben wären),54 so sich die Gesamtwürdigung dementsprechend nicht auf die für § 213 1.Alt. StGB relevanten Faktoren beschränken darf (Ständige Rechtsprechung, vgl. BGH 2 StR 656 / 79 v. 31. 10. 1979 sowie die bei Eser, NStZ 1984, s. 54 Fn. 264 und in Middendorff-Festschrift, S.75, Fn. 71 f. berichteten Entscheidungen), wird den im Haupttext genannten Motivationen in der Rechtsprechung häufig über die unbenannte Strafzumessungsklausel des § 213 StGB Rechnung getragen (vgl BGH 4 StR 635/78 v. 20.12.1978; BGH 2 StR 434/81 v. 30.9.1981, BGH 3 StR 1/83 v. 7.2.1983: Verzweiflung; BGH 3 StR 186/81 v. 12. 6.1981: asthenische Reaktionen wie Kummer, Verdruß. Vgl. auch die Nachw. bei Eser, NStZ 1981, s. 432 zu und bei Fn. 206-211). •• Als Ehrkränkungsfälle werden Sachverhalte eingestuft, bei denen der Täter durch eine (verbale oder tätliche) Beleidigung des Opfers in seiner Ehre gekränkt wurde und er (u.a.) wegen dieser Provokation den tädlfchen Angriff durchführte . • 9 BGH NJW 1958, S. 189, StrV 1981, S. 231. Vgl. auch die Analyse der instanz gerichtlichen Urteile bei Eser, DJT-Gutachten, D 41: Eser kommt zum Ergebnis, daß Rache (und Haß) grundsätzlich als niedrig eingestuft werden. Vgl. aber auch eingehend unten C, D. 50 Nach der Rechtsprechung genügt insoweit jede schwere Kränkung: s. bereits BGH GA 1970, S. 214 sowie die Nachw. bei Eser, NStZ 1984, s. 52, Fn. 216, derselbe, Middendorff-Festschrift, S. 73. Krit. Jähnke, LK, § 213 Rdnr. 4. 51 BGH MDR 1981, S. 980; BGH 3 StR 218/83 v. 13. 9. 1983. S. auch die Nachw. bei Eser, NStZ 1984, S. 53 zu und bei Fn. 240-242, derselbe, in Middendorft-Festschrift, S. 37. Aus der Lehre vgl. z. B. zustimmend Eser, in Schänke / Schräder, § 213 Rdnr. 8; Heine, LdR 8/1680, S. 2. AA z. B. Bernsmann, JZ 1983, S. 45, 50. 52 BGH JR 1978, S. 341 mit krit. Anm. Geilen. Vgl. auch BGH StrV 1983, S. 198, BGH 3 StR 218/83 v. 13.9.1983. AA Bernsmann, JZ 1983, S.50: Danach muß der Zomaffekt aufgrund seiner Durchschlagskraft "alle übrigen Motive aus dem Bewußtsein des Handelnden verdrängt haben". Zu Recht krit. Eser, NStZ 1984, s. 53, Fn. 251. Zum Ganzen unten § 10. 53 Darauf hat bereits Geilen, Dreher-Festschrift, S. 359ft. aufmerksam gemacht. Vgl. auch die (nicht überzeugenden Bemühungen, s. unten § 12) Bernsmanns, JZ 1983, S. 49ft., durch Anhebung der Voraussetzungen bei § 213 StGB Konkurrenzfragen mit § 211 StGB auszuschließen. 50 Zwar verlangt § 213 StGB, daß der Täter "auf der Stelle" zur Tat hingerissen worden sein muß. Der BGH versteht dieses Erfordernis aber nicht rein zeitlich,

11. Geringe Charakterisierungskraft der Motive

41

bleibt als "Auffangprivilegierung" immer noch der "sonst minder schwere Fall" des Totschlags (§ 213 2.Alt. StGB).55 Die bisherigen Befunde geben Anlaß zu folgenden Zwischenüberlegungen:

c. Zwischenüberlegungen: Extreme Strafbarkeitsalternativen? Die h.M. beurteilt die Niedrigkeit der Beweggründe nach den "Gesamtumständen". 56 Dies erscheint insofern plausibel, als dadurch sichergestellt werden könnte, daß Mord letztlich nur dort angenommen wird, wo nach der Gesamtwürdigung (von Tat und Täter) der Strafensprung des § 211 StGB gerechtfertigt ist. Auch wenn dementsprechend ein Höchstmaß an Einzelfallgerechtigkeit erreichbar sein könnte, so haben die Befunde aus der Rechtswirklichkeit doch auf ein spezifisches Problem der Systematik der §§ 211 ff. StGB hingewiesen: Die Übergänge zwischen den §§ 211, 212, 213 StGB mögen zwar vom Gesetzgeber trennscharf gedacht worden sein,5' in Wirklichkeit dürften nicht selten fließende Grenzen bestehen. 58 Zumindest wenn man nämlich die Meinung vertritt, daß für die "Tötung aus sonst niedrigen Beweggründen" genügt, "daß von mehreren Motiven des Täters eines ein niedriges ist",59 und man andererseits bei § 213 StGB lediglich eine heftige Gemütsbewegung von "nicht ganz untergeordneter Bedeutung" verlangt,60 so eröffnet sich bei Teilen der dargestellten Fälle eine Strafbarkeitsalternative, die extremer gar nicht denkbar ist: Denn wenn Berührungspunkte mit § 211 StGB, wie etwa bei Rache, gegeben sind und wenn andererseits Gesichtspunkte des § 213 StGB vorliegen, so steht im Grunde für die Gesamtwürdigung ein Strafrahmen von "lebenslänglich" bis zu sechs Monaten Freiheitsstrafe zur Verfügung. 61 Dies gilt umso mehr, wenn man sich die sehr vagen sondern primär motivationspsychologisch: BGH NStZ 1984, S. 53, BGH 5 StR 549 / 80 v. 4. 11. 1980 sowie die Nachw. bei Eser, NStZ 1981, S. 431, NStZ 1984, S. 53, Fn. 246 und in Middendorff-Festschrift, S.74. Zustimmend z. B. Dreher / Tröndle, StGB, § 213 Rdnr. 6, Eser in Schönke / Schröder, § 213 Rdnr. 9; differenzierend Jähnke, LK, § 213 Rdnr. 12. 55 Zu den im Vergleich zur 1. Alt. des § 213 StGB herabgesetzten Anforderungen s. Anm.47. 56 S. die Nachw. oben § 3 Anm. 67. 57 Vgl. dazu Geilen, JR 1980, S.314 und Es er, DJT-Gutachten, D 32f. mit weit.Nachw. Ebenso Geilen, Dreher-Festschrift, S. 358ff. mit Beispielen und weit.Nachw. 5' Bockelmann, Strafrecht Besonderer Teil 2, S.9. Vgl. auch Jähnke, LK, § 211 Rdnr.24f. 60 S. die Nachw. oben Anm. 51. 61 Dies wird besonders deutlich in BGH 3 StR 177/84 v. 22.8. 1984 (teilweise abgedruckt bei HoItz, MDR 1984, S. 980): Dort lagen "objektiv" niedrige Beweggründe vor, die aber wegen einer "hochgradigen Gemütsaufwallung" subjektiv nicht

5.

48

§ 4 Der Bezugspunkt "Beweggründe"

leitlinienhaften Grundaussagen für den oberen und den unteren Bereich der Tötungsdelikte vergegenwärtigt: Entscheidet bei § 211 StGB die besondere Verwerflichkeit der Motive, so soll es bei § 213 StGB letztlich die "Verständlichkeit" der Gemütsbewegung sein.61 a Daß solche Bewertungskonflikte in der Praxis auftauchen, wurde gezeigt; die weitere Frage ist, wie es dann um die Trennschärfe von Motiven im Hinblick auf die Bewertung als niedrige Beweggründe i. S. d. § 211 StGB bestellt ist:

D. Mangelnde 'D:ennschärfe der Motive Wenn das Gesetz durch Fallgruppen Tötungshandlungen zu konkretisieren versucht, bei denen ein besonderer sozialethischer Unwert zum Ausdruck kommt,62 so drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß es Motive geben müsse, die regelmäßig die Niedrigkeit der Tatmotivation belegen. Denn wenn § 211 Abs. 2 StGB als niedrige Beweggründe die Tötung aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs und aus Habgier bezeichnet, so erscheint es naheliegend, daß auch bei der Motivgeneralklausel bestimmte besonders verwerfliche Tatantriebe konkretisiert werden könnten. 63 Zur Überprüfung dieser These werden die instanzgerichtlichen Urteile ausgewertet. Um eine etwaige Charakterisierungskraft bestimmter Motive ausfindig zu machen, wird der sogenannte Korrelationskoeffizient C berechnet. Mit ihm kann die Stärke eines Zusammenhangs zwischen mehreren Variablen bestimmt werden; im folgenden wurde untersucht, ob Zusammenhänge zwischen der Bewertung der Beweggründe als Mord und bestimmten, von den Instanzgerichten festgestellten Motiven bestehen. Die Stärke dieses Zusammenhangs wird in dem nachfolgenden Schaubild 4 in Prozentzahlen ausgedrückt,'" wobei hohe Prozentzahlen vorwerfbar waren. Es erfolgte eine Verurteilung wegen Totschlags, wobei das Instanzgericht die Anwendung des § 2132. Alt. StGB nach einer Gesamtwürdigung ablehnte. Vgl. auch die Kritik von Geilen, Dreher-Festschrift, S. 359f. und JR 1978, S.343 sowie JR 1980, S.314. Zu den unterschiedlichen Lösungsansätzen bei Zusammentreffen von mordqualifizierenden Umständen mit privilegierenden Sachverhalten vgl. nur die Nachw. bei Eser, in Schönke/Schröder, § 211 Rdnr.3 und eingehend unten § 10. ·'a Maurach / Schroeder, Strafrecht, BT 1, S.43. s. ferner z. B. BGH StrV 1983, S. 199; Lackner, StGB, § 213 Anm. 3; WesseIs, Strafrecht BT 1, S. 40. • 2 S. oben § 3 n. • 3 S. etwa die Beispielsfälle bei Grau / Krug / Rietzsch, Deutsches Strafrecht, S.299 (Haß, Rache, Eigennutz) sowie die Nachw. oben bei Anm. 29. • 4 Dazu wurden die im Anhang, Tabelle 26 dokumentierten Werte der Korrelationskoeffizienten quadriert. Zur Methode vgl. Renner, Mathematisch-statistische Methoden, S. 68.

11. Geringe Charakterisierungskraft der Motive

49

auf einen bedeutenden Zusammenhang hinweisen. Berücksichtigt werden nur solche Variablen, die signifikant sind, die also Zusammenhänge aufweisen, die über den Untersuchungszeitraum hinaus Geltung beanspruchen können. 65 Die Stärke eines Zusammenhangs von zwei Variablen kann zwischen 0% und 100% variieren. Das Extrem 0% beschreibt den Sachverhalt, daß die Kenntnis der unabhängigen Variablen (z. B. Rache) statistisch gesehen in keiner Weise dazu beiträgt, das Urteilsverhalten des Gerichts vorherzusagen. Das andere Extrem 100% bedeutet demgegenüber, daß die Kenntnis der unabhängigen Variablen die genaue und fehlerfreie Vorhersage des Urteilsergebnisses ermöglicht, also darüber Auskünft gibt, ob die Tat als Mord oder Totschlag eingestuft wird.·· Was die Erfassung der Motive angeht, so wurden bei den Beweggründen im engeren Sinne, wie z. B. Rache, Haß und Zorn, sämtliche von den Tatrichtern definierten Begriffe berücksichtigt. Auch die Tötungszwecke und -ziele wurden ausgewertet; freilich waren insoweit bestimmte Gruppen zu bilden, um überhaupt eine Analyse durchführen zu können. Auf eine Orientierung an bestimmten der (früher) teilweise verwendeten Kategorien "Gewinnmörder, Konfliktmörder, Dekkungsmörder, Sexualmörder"·' wurde indes verzichtet: Die Problematik einer solchen Einteilung hängt vor allem mit ihrem grob vereinfachenden Charakter zusammen, welche die Komplexität und Dynamik des Gesamtgeschehens nicht zum Ausdruck bringt.·· Daher galt es, einen Kompromiß zu finden, der einerseits die Schwächen einer zu pauschalen Typisierung vermeidet und andererseits auch eine statistische Auswertung erlaubt. Orientiert an den von Siol formulierten

.5 S. dazu oben § 2 I.

•• Technisch gesprochen handelt es sich um denjenigen Anteil der Varianz der zu erklärenden Variablen (Urteilsergebnis Mord bzw. Totschlag), der durch die Gemeinsamkeit mit der unabhängigen Variablen tatsächlich erklärt werden kann, also den prozentualen Anteil der erklärten Varianz an der Gesamtvarianz. •• Vgl. Exner, MschKrim 20 (1929), S.1ff., der Leidenschaft-, Sexual- und Raubmorde unterscheidet, sowie Krämer, MschrKrim 23 (1923), S. 129ff. mit der Differenzierung von Leidenschafts-, Konflikts-, Sexual- und Gewinnmord; Gruhle, Affekthandlungen, S.9f. Schröder, Schweiz. Arch. Neurol. Psychiatrie 69 (1952), S. 287ff. orientierte sich an den Motivschemata Raub-, Eliminations-, Eifersuchtsmord, Mord aus Haß, aus Angst, aus Verzweiflung bei chronischem Affekt, aus Notwehr, aus Solidarität, Lustmord, wobei bereits die Begriffe einige Fragezeichen hinterlassen. Die Einteilung Konflikt-, Sexual-, Gewinn- und Deckungsmord geht auf v. Hentig, Der Mord, passim, zurück. Vgl. in diese Richtung auch bereits Loduchowski, Tötungsdelikte, S. 81 f.; Gast, Krim. Abhandl. Bd. 11 (1930), S. 36 sowie Bruckner, Kriminologie des Mordes, S. 18 und Middendorff, Archiv für Kriminologie 169 (1978), S. 66f., derselbe, Kriminologie der Tötungsdelikte, S. 19ff., 88ff., 92ff. Wieder anders Glatzei, Mord und Totschlag, S. 61 ff . •• Ebenso Diesinger, Affekttäter, S. 84; Kaiser, Kriminologie, S. 402f., Kürzinger, Kriminologie, S.239; Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S.42f.; Siol, Mordmerkmale S. 42ff. Vgl. ferner Will, Homicides, dessen Unterscheidung von "crime specific homicides" und ..social conflict homicides" freilich wegen ihrer Grobkörnigkeit ebensowenig als Vorbild dienen konnte. Die Komplexität des Gesamtgeschehens wird mit weiteren Variablen zu erfassen versucht. Vgl. dazu unten § 5. 4 Heine

50

§ 4 Der Bezugspunkt "Beweggründe"

Fallkonstellationen 69 wurden die im Anhang § 14 aufgeschlüsselten Variablen zusammengestellt.

Aus Schaubild 4 ist auch ersichtlich, ob Zusammenhänge mit der Bewertung der Tat als Mord bzw. als Totschlag bestehen: (nB -) bedeutet, daß bei dem entsprechenden Motiv das Vorliegen der Motivgeneralklausel eher verneint wird, also eine Tendenz zu Verurteilungen nach §§ 212, 213 StGB zu beobachten ist. Als Grundtenor ist festzuhalten, daß zwar mit einigen Beweggründen 70 signifikante Zusammenhänge im Hinblick auf die Einordnung als niedrig / nicht niedrig bestehen. Indes tragen diese nur in eher geringer Weise dazu bei, das Urteilsverhalten des Gerichts vorauszusagen. So müssen etwa - statistisch gesehen und plastisch verdeutlicht - bei dem Beweggrund Rache noch 24 (!) andere Merkmale mit gleich großem Erklärungswert hinzukommen, die sich in diesem Erklärungswert nicht überdecken dürfen, um zu einer absoluten Vorhersage (100%) zu gelangen. Anderes gilt insoweit nur für sexuelle Tötungsbeweggründe, bei denen immerhin ein Zusammenhang mit über 10% Stärke im Hinblick auf die Bewertung als niedrig festzustellen war. Auch wenn die geringe Fallzahl in Rechnung gestellt werden muß,71 so ist dieser Trend plausibel: Zwar kann nach Ansicht des BGH die Motivgeneralklausel dann nicht bejaht werden, wenn das spezielle Mordmerkmal "zur Befriedigung des Geschlechtstriebs" vorliegt. 72 Auch umfaßt dieser gesetzlich genannte niedrige Beweggrund weite Bereiche sexualmotivierter Tötungen, und zwar nicht nur den eigentlichen Lustmord, sondern auch die Tötung zum Zwecke sexuellen Mißbrauchs des Opfers sowie schließlich die sogenannte Nekrophilie.?3 Indes verbleibt für die unbenannte Motivklausel bei Sexualtötungen nach wie vor ein Anwendungsbereich, nämlich bei Tötungen zur .. Erregung" der Geschlechtslust. 74 Aus Schaubild 4 ist ferner ersichtlich, daß die Mehrzahl der Beweggründe, die überhaupt in irgendeiner Weise vorhersagerelevant sind, negative Zusammenhänge aufweisen, d. h. daß die Niedrigkeit der Beweggründe eher negativ definiert zu werden scheint. Freilich sind die Prozentzahlen zu niedrig, um von einem Trend zu sprechen. Siol, Mordmerkmale, S. 44. S. die Gesamtauswertung in Tabelle 26, Anhang § 14. 71 Lediglich 2 der 80 Fälle waren ausweislich der Urteile sexualmotiviert; vgl. Tabelle 26, Anhang § 14. 72 BGH 4 StR 116/79 v. 10.5.1979, zit. auch bei Eser, NStZ 1981, s. 384, Fn. 18 und 86. Vgl. auch Eser, Strafrecht III, S.32. 73 Vgl. außer BGHSt 7, s. 353 und BGHSt 19, s. 101 die bei Es er, NStZ 1983, s. 434, Fußn. 23f. zitierten BGH-Urteile . .. BGH b. HoItz, MDR 1982, S. 102 sowie bereits BGHSt 2, S.337. 69 70

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Schaubild 4

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Beweggründe

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Beweggründe • nicht sicher feststellbar • Tendenz (p < .11) • Signifikanzniveau nach dem X2

Rache

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52

§ 4 Der Bezugspunkt .. Beweggründe"

Hervorhebungsbedürftig ist weiter, daß nur bei 6 der 21 untersuchten Beweggründe'5 signifikante Zusammenhänge mit dem Urteilsverhalten der Gerichte zu registrieren waren: Weder Tötungen aus Haß, die im Alltagsverständnis doch offenbar als .. minderwertig" erachtet werden,'6 noch solche zur Vergeltung eines Übels oder die Tötung eines Rivalen konnten als relevant festgestellt werden. Was schließlich Zusammenhänge mit dem Umstand angeht, daß Beweggründe nicht sicher feststellbar waren, so erscheint dieser Befund gesetzestechnisch betrachtet - konsequent: Denn wenn Motive nicht sicher zu ermitteln sind, können sie regelmäßig l1 auch nicht als niedrig bewertet werden. Möglicherweise spiegelt sich darin aber auch eine Art Vermeidungs strategie der Gerichte wider: So hat Eser nämlich bei der Untersuchung instanzgerichtlicher Urteile den Eindruck gewonnen, daß sich die Instanzgerichte offenbar .. notfalls zu einem stillschweigenden ,corriger les faits' ... verstehen" und naheliegende Motive einfach nicht weiter erforscht werden.' 8 Auf damit angesprochene Probleme der Motivfeststellung wird noch ausführlich zurückzukommen sein (unten § 6).

Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten, daß die Motive, welche die Richter ermittelten, offenbar so sehr von den Umständen des Einzelfalles abhängen, daß sie sich einer verbindlichen Generalisierung entziehen. Die gegenläufige Tendenz der in Schaubild 4 dargestellten Motivformen wirft ferner die Frage auf, welche Zusammenhänge sich ergeben, wenn so unterschiedlich wertbesetzte Motive, wie z. B. Rache und Verzweiflung, zusammentreffen. Gezeigt wurde, daß Rache häufig zusammen mit einer Vielzahl von anderen Motiven ermittelt wurde. Tabelle 5 gibt Auskunft über die Ergebnisse in der Praxis, wenn Motive zusammentreffen, die im Alltagsverständnis eher als minderwertig bzw. eher als verständlich eingestuft werden. Exemplarisch wurden ausgewählt die Motivbündel Rache und Verzweiflung (Spalte 3) bzw. Rache und Ehrverletzung, Kränkung (Spalte 6). Zum Vergleich wurden jeweils die sonstigen Motive gegenübergestellt (Gruppe Rache, Verzweiflung verneint (Spalte 2) bzw. Rache, Ehrkränkung verneint (Spalte 5). Vg1. im einzelnen Anhang § 14, Tabelle 26. 7. Vg1. dazu etwa BlOckhaus Enzyklopädie, Stichwort Haß (Bd. 8, S. 217), wo von einem .. gerichteten Vernichtungsaffekt" die Rede ist. Ferner Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Stichwort Haß (Bd. 11 S. 495), wo Haß als gegen Personen gerichte75

tes, extrem starkes Abneigungsgefühl definiert wird, das mit einem Vernichtungsbedürfnis einhergehen kann. S. auch die Nachw. bei Eser, DJT-Gutachten, D 41 sowie Lersch, Aufbau der Person, S. 169, 187. 77 Zu diffizilen Wahlfeststellungsproblemen vgl. BGH GA 1980, S. 23 sowie die Nachw. b. Eser, NStZ 1981, S.386 und unten § 6. 78 Eser, DJT-Gutachten, D 55 und DJT-Sitzungsbericht, M 86.

53

11. Geringe Charakterisierungskraft der Motive

Motive

Einoronung (I) nierlri ge

Beweggründe vernei nt

:I

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:

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Auffällig ist, daß Rache in Verbindung mit letztlich begreiflichen Motiven in keinem Fall als niedriger Beweggrund eingestuft wurde (Spalte 3 bzw. 6).79 Daß darüber hinaus sämtliche irgendwie verständlichen Beweggründe anscheinend geeignet sind, die Niedrigkeit auszuschließen, zeigt eine Einzelbetrachtung der Urteile: Bei Rache aus Enttäuschung,80 nach Beleidigung durch das Opfer 8t oder nach familiärer Zerrüttung 82 wurde ebenso wenig die Motivgeneralklausel bejaht wie bei Rache wegen Verweigerung finanzieller Unterstützung 83 oder bei "Bestrafung" des vermeintlich nach dem Leben trachtenden Gegners. 84 Damit ist aber auch die Frage nach dem Maßstab angesprochen: Welche Beweggründe oder motivatorischen Umständen sind irgendwie verständlich? Im nächsten Kapitel wird darauf ausführlich einzugehen sein.

E. Bilanz Die zusammenfassende Bilanz fällt ernüchternd aus: Offenbar hängen selbst (im Alltagsverständnis) so minderwertige Motive wie Rache, Haß oder Zorn so sehr von den Umständen des Einzelfalles ab, daß sie sich einer konsistenten Generalisierung durchweg entziehen. 7. Insofern wird die Beobachtung Esers (DJT-Gutachten, D 41 f. mit zahlreichen Beispielen) untermauert, der bei seiner Analyse instanzgerichtlicher Urteile feststellen konnte, daß Rache jedenfalls bei Koppelung mit irgendwie nachvollziehbaren Motiven nicht als niedrig eingestuft wird. 80 TÜ 4, UL 5. Die Abkürzungen betreffen die LG-Bezirke des Untersuchungsmaterials. 8. B 83, ELL 3, HN 1, KN 1, MOS 4, S I 27, S I 32. 82 KN 6 . • 3 S I 25, vgl. auch KA 7. 84

FR 4.

54

§ 5 "Bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

Die Vielschichtigkeit des Motivationsprozesses scheint Ursache dafür zu sein, daß von der Feststellung eines singulären Motivs kaum Differenzierungshilfe bei der Beurteilung der Niedrigkeit der Beweggründe zu erwarten ist: Nicht nur, daß nahezu im Regelfall Motivbündel zu beurteilen sind; auch und gerade die Ambivalenz der Motivationsmuster dürfte die Wertung erschweren. Denn wenn die Beweggründe feststehen, so ist zwar der Weg in den Mordtatbestand eröffnet, gleichwohl kann man aufgrund des statistischen Erscheinungsbildes nicht einmal von einer Indizfunktion isolierter Motive sprechen. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, daß in Einzelfällen anderes gelten mag. Wenn nun aber von einzelnen Motiven letztlich keine ausschlaggebende Differenzierungshilfe zu erwarten ist, so stellt sich die Frage, ob mit dem Maßstab der sittlich als verbindlich anerkannten Anschauungen 85 überhaupt eine Auslegungsmaxime gefunden ist, welche die dem Mordtatbestand zugeschriebene Abgrenzungsfunktion hinreichend gewährlei stet.

§ 5 Die "bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH auf dem Prüfstand Eine vorsichtige Emanzipation des Strafrechts von Regeln des "Sittengesetzes" ist nicht nur eines der Hauptanliegen der Kriminalpolitik der Gegenwart, ihr erster Ausdruck findet sich bereits in der von v. Pufendorf 1 und von Thomasius 2 vollzogenen Trennung von Legalität und Moralität. 3 Im Zeitalter des gesellschaftlichen Wertpluralismus, der den vielbeschworenen Relativismus Radbruchs' abgelöst hat, ist der Bereich der Werte, deren Verwirklichung von jedermann gefordert und bei jedermann 85 S. die Nachw. oben § 3 Anm. 72. Vgl. auch BGHSt 3, s. 132; BGH NJW 1967, S.1140; BGH GA 1977, S.235; Dreher / Tröndle, StGB, § 211 Rdnr.5a; Eser, in Schönke / Schröder, § 211 Rdnr. 18; Jähnke, LK, § 211 Rdnr. 26; Lackner; StGB, § 211 Anm. 3a, bb; Wessels, Strafrecht BT 1, S. 22, jew. m. weit. Nachw. 1 v. Pufendorf, Bd. I Kap.V § 3, zit. nach Welzel, Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, S. 38. 2 Thomasius, Fundamenta Juris Naturae et Gentium 1. IV. 90; Honestum dirigit actiones insipientum internas; decorum externa, ut aliorum benevolentiam aquirant; justum externas, ne pacem turbent et ut turbatam restuant, zit. nach Welzel, in Schaffstein-Festschrift, S.45. Instruktiv dazu auch Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, S. 147ff., 286ff. 3 Wenn dabei hier und im folgenden eher undifferenziert von Moral, Sittlichkeit und Ethik die Rede ist, so soll damit keinesfalls der unterschiedliche Bedeutungsgehalt dieser Termini wie auch deren unterschiedlicher Funktionalismus verkannt werden: vgl. dazu etwa instruktiv Henkel, Rechtsphilosophie, S. 66ff. mit zahlreichen Nachweisen; Art. Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, S. 7. Ferner Höffe, Neue Hefte für Philosophie 17 (1979), S.51ff., der zwischen "konventioneller Moral", "Sittlichkeit" und "Moralität" unterscheidet. • Radbruch, Rechtsphilosophie, S. l06ff., 347ff.

I. Notwendigkeit und Grenzen einer sittlichen Rückbindung

55

vorausgesetzt wird, immer mehr zusammengeschrumpft. Die Reduktion all jener Strafbestimmungen, die ihre ausschließliche kriminalpolitische Legitimation nur in bestimmten sittlichen Verhaltensregeln finden können bzw. die allein nach diesen Prämissen ausgelegt werden, ist daher das konsequente Hauptanliegen dieser Strömungen. 5 Dementsprechend wird eine Definition, welche die besondere Strafwürdigkeit von Tötungsmotivationen ausschließlich dem außerrechtlichen Maßstab der Sittlichkeit überantwortet, von vornherein auf nachhaltige Kritik stoßen. Auch wenn indes der Rekurs auf eine sittliche Bewertung letztlich unverzichtbar ist (dazu unten I), so muß doch die Sicherheit dieses Maßstabs bei der Handhabung im Einzelfall in Frage gestellt werden (dazu unten II). Eine eingehende Untersuchung der Rechtsprechung wird zeigen, daß mit der "bewußtseinsintensiven Verwerflichkeitsbetrachtung" des BGH bei dem Mordmerkmal "niedrige Beweggründe" für weite Bereiche keine klare und vorweg kalkulierbare Aussage über solche Tötungsmotivationen getroffen sein dürfte, für die als Mord eine besondere Strafe geboten ist.

I. Notwendigkeit und Grenzen einer sittlichen Rückbindung Die teilweise geharnischte Kritik an der "moralisierenden" Rechtsprechung erfordert zunächst einige klarstellende Bemerkungen zur Notwendigkeit einer ethischen Rückbindung (A). Freilich läßt sich bereits an der Systematik der §§ 211ff. StGB die Relativität der Aussagekraft eines solchen außerrechtlichen Maßstabes belegen (B). A. Das allgemeine Normgeltungsbewußtsein

als innerer Geltungsanspruch des Rechts

Das allgemeine Verhältnis von Recht und Ethik steht hier nicht zur Diskussion. 6 Und auch die Frage, ob und inwieweit ein ethisierender 5 Vgl. etwa Baumann / Weber, Strafrecht AT, S.8f.; Baumann, JZ 1962, S.41; Maurach / Zipf, Strafrecht AT 1, S.226f.; Roxin, JuS 1966, S.377ft.; derselbe, in Strafrechtliche Grundlagenprobleme, S.184fI.; Rudolphi, SK, StGB, Vorbemerkung, 1 ff. von § 1; Schneider, JR 1967, S. 281; Stratenwerth, Strafrecht AT I, S. 34f.; je mit zahlreichen Nachweisen. Vgl. auch Zipf, Kriminalpolitik, S.40. 98I. mit Hinweisen auf gesetzgeberische Entwicklungen. Ferner Art. Kaufmann, in Strafrecht zwischen Gestern und Morgen, S. 171ff. Vgl. aber auch z. B. Schmidhäuser,

Gesinnungsmerkmale, der 1958 noch eine "fortschreitende Ethisierung des Strafrechts" (S.268) beobachten zu können glaubte. 6 Bei dieser Frage stehen sich in der Rechtsphilosophie zwei Denkrichtungen gegenüber, die man schlagwortartig als die naturrechtliche und die rechtspositivistische Position charakterisieren kann. Während der Rechtspositivismus eine strikte begriffliche Trennung zwischen Recht und Moral vornimmt, behauptet das Naturrechtsdenken eine gewisse Überschneidung. Exemplarischen Ausdruck findet letztere Auffassung in einer Passage Radbruchs: .. Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewußt verleugnen, ... dann fehlt diesen Gesetzen die Geltung,

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Einfluß auf das Strafrecht wünschenswert und bestimmten Zielen zuträglich sein kann, ist in diesem Zusammenhang nicht grundsätzlich zu beantworten. 7 Einzugehen ist indes näher auf Stimmen, die dem BGH einen "Rückschritt um Jahrzehnte" vorwerfen, weil er die "Schleusen moralisierender Wertung" geöffnet habe. 8 Insbesondere Woesner hat sich in den letzten Jahren mehrfach gegen das "undankbare, Andersdenkende verletzende Geschäft des Moralisierens" gewandt 9 und einer (völligen) Entethisierung das Wort geredet: So ist in seinem Modell "einer rationale(n) Verabsolutierung der Mordmerkmale"'o kein Raum für "Angelegenheiten der Sozialethik";" in der Abhängigkeit von sozial ethischen Prämissen sieht Woesner das Grundübel der geltenden Tötungskonzeption, '2 und auch Lüderssen hält (in deutlicher Sprache) dafür, daß sich bei der Argumentationsweise der Rechtsprechung "dem Ethiker der Magen umdrehen" müsse. '3 In der Tat drängt sich bei der Lektüre mancher Urteile der Eindruck auf, daß bei der Entscheidung nicht so sehr ein Verständnis von Strafrecht als dann schuldet das Volk ihnen keinen Gehorsam, dann müssen auch die Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen" (Radbruch, in Hoerster, S. 42). Für die Gegenposition kommt Kelsen zu Wort: .. Eine Rechtsnorm gilt nicht darum, weil sie einen bestimmten Inhalt hat, ... sondern darum, weil sie in einer bestimmten Weise erzeugt ist ... Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein" (Kelsen, Rechtsordnung, S.29). Vgl. als einen Vertreter der modernen deutschen positivistischen Schule Hoerster, JZ 1982, S. 265ff. sowie derselbe, Neue Hefte für Philosophie Heft 17 (1979), S. 77ff. Ähnlich wie Kelsen argumentieren auch die Vertreter der analytischen Rechtstheorie: vgl. Hart, Law, Liberty and Morality; derselbe, Recht und Moral. Zu den Klassikern Kant und Fichte vgl. instruktiv Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, S.147ff.; 286ff. Vermittelnd Höffe, Neue Hefte für Philosophie 17 (1979), S. 1ff. 7 Vgl. dazu etwa Baumann / Weber, Strafrecht AT, S. 8f.; Baumann, JZ 1962, S. 42 und jüngst Wasek, ZStW 99 (1987), S.304f. Zur Beschränkung auf die "einfache, elementare Sittlichkeit", vgl. Art. Kaufmann, Strafrechtspraxis und sittliche Normen, S. 178ff. Die Gefahr eines "sittlichen Vakuums" sieht Eser (Peters-Festschrift, S. 511f.) bei den Bemühungen um eine totale Entmoralisierung. Demgegenüber plastisch Class, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 33: "Die Moral kräftigt nicht das Recht, sie flüchtet ins Recht und verlangt Asyl. Aber damit stellt sie ihm eine Aufgabe, die das Recht nicht tragen kann". 8 Woesner, NJW 1978, S. 1026. 9 Woesner, NJW 1978, S.1027; derselbe, NJW 1980, S.1136. Vgl. auch Arzt / Weber, Strafrecht BT LH 1, S. 57; Hamm, DJT-Sitzungsbericht, M 55 ("Mittelalterlicher Ballast"); Hassemer, JuS 1971, S. 627; Horn, SK, § 211 Rdnr. 8; Jäger, Henkel-Festschrift, S. 137; Jakobs, NJW 1969, S.489; Rüping, JZ 1979, S.619; Schünemann, Bockelmann-Festschrift, S. 131 f. Ferner Müller-Dietz, Jura 1983, S.57310 Woesner, NJW 1980, S. 1138. 11 Woesner, NJW 1978, S. 1026. 12 Woesner, NJW 1980, S. 1140. 13 Lüderssen, Kriminalpolitik, S. 70.

I. Notwendigkeit und Grenzen einer sittlichen Rückbindung

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Mittel der sozialen Konflikterledigung leitend ist als vielmehr die emotional bedingte (individuelle) Entrüstung über die Straftat: so etwa, wenn auf die "Verabscheuungswürdigkeit" bzw. die "besondere Gemeinheit" oder die "Bösartigkeit" abgestellt wird,l< wenn die "Verächtlichkeit" bemüht wird 15 oder sich folgende Wendung findet: Der Täter ist "seiner Begierde so stark erlegen, daß er ihretwegen bewußt alle natürlichen menschlichen Hemmungen außer acht ließ, sich über alle menschlichen Rücksichten hinwegsetzte" und "erbarmungslos" tötete. 16 Insofern ist die Kritik an der Ausdrucksweise berechtigt, also daran, wie moralisch argumentiert wird. Soweit mit ihr jedoch eine strikte Loslösung der Tötungstatbestände von ethischen Bezügen angestrebt werden sollte,l? ist in der gebotenen Kürze auf eine unerläßliche ethische Rückbindung des Strafrechts hinzuweisen: Erinnert sei nur an die von Schultz zutreffend so genannte "genetische Funktion der Ethik für das Recht".18 Gemeint ist damit jene materielle Ethik, welche die Rechtsunterworfenen auch innerlich anspricht, und die (vergröbernd) aus dem jeweiligen Grundkonsens einer Gemeinschaft über richtiges soziales Verhalten in einer bestimmten historischen Phase ihrer Entwicklung resultiert. 19 Weil solche Ethik (wohl auch) aus Gefühl und Wollen entsteht und an den Willen bzw. das Verhalten des einzelnen appelliert, ist sie eine "geistige Macht".20 Das Recht hat zwar seinen ,. BGHSt 15, S.295; BGH LM Nr.8, 31 zu § 211 StGB; BGH 3 StR 385/80 v. 12.11. 1980. Vgl. auch BGH 1 StR 434/80 v. 2.9.1980. 15 BGHSt 3, s. 132; BGH NJW 1967, S. 1140; BGH GA 1977, S.235; BGH 4 StR 346/80 v. 21.8.1980. ,. BGH VRS 17, S. 190. Ebenso BGH 1 StR 714/79 v. 11. 12. 1979. Insofern steht zu befürchten, daß bei solchen Erwägungen nicht bloß "ein letzter Schuß irrationaler Erwägungen" hinzukommt (Gallas, Nds. XII., S. 164f.), sondern ausschlaggebend ist. 17 Vgl. Woesner, NJW 1978, S. 1027. S. auch Beckmann, GA 1979, S. 449; Schünemann, Bockelmann-Festschrift, S. 131 f. sowie unten § 9. ,. Schultz, in Studia Philosophica, S. 49, zustimmend Henkel, Rechtsphilosophie, S.89. Vgl. auch Wasek, ZStW 99 (1987), S. 299. 19 Zur umstrittenen Frage, ob Grundsätze der christlichen Ethik, der utilitaristischen Ethik, der Naturrechtsethik oder anderer Gesellschaftslehren nur "subjektive" Bereiche des Sollens darstellen oder ihnen ein "objektiver" ethischer Wert beizumessen ist vgl. einerseits Kelsen, Allgemeine Theorie, S. 50 sowie andererseits die Nachw. b. Henkel, Rechtsphilosophie, S. 71 ff., S. 89ff. Ferner Engisch, Einführung, S. 127. Vgl. auch noch BGHSt 6, s. 52, wo apodiktisch eine strenge Form der christlich abendländischen Moral als unabänderliche Sollensätze angesehen werden: "Ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln". 20 Moos, Ethische Grundlagen des Strafrechts, Vortrag vor dem Strafrechtsseminar österreichischer und sowjetischer Juristen am 15. 5. 1984 in Linz. Der Begriff findet sich bereits bei Merkel, Krim.Abh. Bd. I, S. 46, wo er allerdings für das Wesen des Rechts Verwendung fand.

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äußeren Geltungsgrund im verfassungsmäßigen Gesetzgebungsakt, seinen inneren Geltungsanspruch leitet es aber letztlich auch aus jener "geistigen Macht" des allgemeinen Normgeltungsbewußtseins ab. Dementsprechend sind weitreichende Legitimationsprobleme angesprochen, wenn pauschal eine Entethisierung des Strafrechts gefordert wird: Das Recht besitzt zwar den äußeren Zwang der Legalität, ohne die Sozialethik fehlt ihm aber die innere Legitimität. 2 ! Entäußert sich das Recht (jeglicher) ethischer Rückbindung, so fehlt auch der (erwarteten) Determinierungskraft des Strafrechts jedes stabile Fundament. 22 Insofern erscheint es nicht grundsätzlich fragwürdig, wenn im Bereich der Tötungsdelikte außerrechtlichen Wertvorstellungen Raum gegeben wird. 23 Und insoweit kann man wohl davon ausgehen, daß Höchststrafen für Tötungen grundsätzlich von einem gesellschaftlichen Konsens, der seinerseits moralische Regeln hervorbringt, gedeckt sind. 2• Eine ganz andere Frage ist dagegen die Sicherheit eines ethischen Maßstabs für die Abgrenzung von Mord und Totschlag bei Tötungsmotivationen: B. Die begrenzte Aussagekraft sittlicher Maßstäbe Der pauschale Rekurs auf die sittliche Bewertung, die über die Niedrigkeit der Beweggründe und damit über die besondere Strafwürdigkeit der Tat entscheiden soll, birgt insoweit Gefahren in sich, als ein Kernproblem in den Hintergrund gerückt wird: Ob man es nun begrüßt, daß mit dem Mordmerkmal "niedrige Beweggründe" "ganz unmittelbar das sittlich-wertwidrige geistige Verhalten des Täters in seinem spezifischen Unwert als Strafvoraussetzung" genannt wird,25 oder ob man wegen des Verweises auf die Sittlichkeit eine 21 Lüderssen, in Lüderssen, S. 63, hat jenen Komplex unter der Prämisse von Konsens und Geltung wie folgt zutreffend umschrieben: "Mit steigender Kongruenz wächst die Wahrscheinlicht, daß es sich (auch) um Moral handelt, mit sinkender, daß (nur) Recht vorliegt, wobei ... irgendwo (je nach historischem Bewußtsein) der Konsensanteil so minimal wird, daß die Abgrenzung zur Macht erreicht ist". Vgl. zu den Legitimationstheorien den Überblick bei Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 78ff. m.w.Nachw. 22 Vgl. Bockelmann, Radbruch-Gedächtnisschrift, S. 259; Eser, Peters-Festschrift, S. 511ff.; Noll, OLG-Zweibrücken-Festschrift, S. 226; Wasek, ZStW 99 (1987), S. 299f. 23 S. auch unten § 9. 24 Vgl. indiziell die Abstimmungsergebnisse auf dem 53. Deutschen Juristentag 1980 in Berlin, DJT-Sitzungsbericht, M 151ff. Vgl. aber auch Arzt, in Göppinger / Bresser, S. 54, der nicht für Strafen, sondern für Sicherungsmaßregeln plädiert. Vgl. ferner Haffke, GA 1978, S.49, der feststellen zu können glaubt, daß "dort, wo das Bedürfnis zu strafen besonders ausgeprägt ist, wir paradoxerweise noch am ehesten zum Strafverzicht bereit (sind)". 25 Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 268. S. auch Alwart, der von einer "moralischen Tiefenanalyse" spricht (JR 1981, S.294; GA 1983, S.440). Zur geset-

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"Einsickerung eines Gesinnungsstrafrechts" befürchtet,26 jedenfalls führt kein Weg an der Frage vorbei, weshalb der ethische Unwert zur schärfsten Sanktion des Strafensystems zwingt. Begnügt man sich aber nicht schon mit der Bestimmung des Unrechts- bzw. Schuldgrades, bei dem der Strafensprung von § 212 StGB zu § 211 StGB berechtigt sein könnte,2' sondern wirft man auch die Frage auf, bei welcher Art von Tötungsmotivation diese erhöhte Strafe notwendig erscheint, so sind der Bezugnahme auf sittliche Wertmaßstäbe Grenzen gesetzt. Denn die "sittlich tiefste Stufe", nach der sich die Niedrigkeit der Beweggründe richtet, mag zwar, sofern überhaupt operationalisierbar, u. U. die für Mord erforderliche Unwertsteigerung zum Ausdruck bringen. Doch ob bei jedem "sittlich verächtlichen" Beweggrund die Höchstsanktion geboten ist, hat § 211 Abs. 2 StGB nicht präjudiziert. Denn daß die Tötung eines Menschen typischerweise auf ethisch tiefstehend zu bewertenden Beweggründen beruht, kann schlechterdings nicht zweifelhaft sein: 28 Wenn es richtig ist, daß Recht und Ethik sich wie zwei teilweise überschneidende Kreise verhalten, in deren Deckungsbereich das Recht die zu festen Formen auskristallisierten Minimalanforderungen der Ethik enthält,29 und wenn weiter richtig sein sollte, daß Strafe (ganz allgemein) nur gegen Rechtsgutsverletzungen, die zugleich sozialethisch besonders zu mißbilligende Pflichtverletzungen darstellen, angewandt werden darf,30 so muß es sich bei Tötungsbeweggründen typischerweise um zestechnischen Bedeutung s. Lenckner, JuS 1968, S. 254f., der solche wertausfüllungsbedürftigen Begriffe als Ausdruck einer von der Sache selbst geforderten Entwicklung ansieht, nämlich der "fortschreitenden, die Gegebenheiten des Einzelfalls berücksichtigenden Verfeinerung und Vervollkommnung des Rechts". 26 Welzel, Strafrecht, S.80. Krit. auch z. B. Noll, OLG-Zweibrücken-Festschrift, S.209ff.; Oehler, Objektives Zweckmoment, S.139f.; Rüping, JZ 1979, S.619; Stratenwerth, v. Weber-Festschrift, S. 171 ff.; Woesner, NJW 1978, S. 1026 und NJW 1980, S. 1136ff. Zur Diskussion um die Gesinnungsmerkmale vgl. die grundlegende Arbeit von Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, passim, sowie einerseits z. B. Jescheck, Lehrbuch, S.39, 379ff.; Lenckner, in Schönke / Schröder, Vorbem. 11, 122f.vor §§ 13ff. sowie bereits Gallas, ZStW 67 (1955), S. 46 und andererseits (krit.) Horn, SK, § 211 Rdnr. 3; Jakobs, Strafrecht AT, S. 253f. Eingehend unten § 9. 2. S. dazu unten § 7, auch zur Bedeutung des (neu eingefügten) § 57 a StGB. 28 Ebenso bereits Schröder, JZ 1952, S. 526. Eingehend auch Eser, DJT-Gutachten, D 160 ff. Zustimmend auch Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 225; derselbe, in Göppinger / Bresser, S. 110. 29 Zum Begriff des .. ethischen Minimums" im Recht vgl. Jellinek, Sozialethische Bedeutung, S.45. Instruktiv auch Henkel, Rechtsphilosophie, S.87ff. und Art. Kaufmann, Strafrecht S. 173. Krit. z. B. Baumann / Weber, Strafrecht AT, S. 8 m. weit. Nachw. S. auch Stratenwerth, Strafrecht AT, S.34 und Wasek, ZStW 99 (1987), S.302f. 30 Zur umstrittenen Frage, ob sich die den Strafrechtsnormen zugrundeliegenden Werturteile nicht nur auf die zu schützenden Rechtsgüter beziehen, sondern auch auf die Qualität des Verhaltens des Täters vgl. (bejahend) z. B. Jescheck, Lehrbuch S. SI., 39, derselbe, LK, Vorbem.9 vor § 13, Lenckner, in

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ethisch besonders mißbilligte handeln. Wann ist dann aber die spezifische Rechtsfolge des § 211 Abs.2 StGB geboten? Dies könnte dann der Fall sein, wenn man die "sittlich tiefste Stufe" auf Motive beschränken könnte, die per se in besonderem Maße sittenwidrig oder rechtswidrig sind. Indes wurde in § 4 gezeigt, daß bei der Motivgeneralklausel einzelnen Motiven kaum Differenzierungskraft zukommt. Darüber hinaus relativiert der BGH seine Ausrichtung an dieser sozialethischen Stufe selbst, können doch seiner Ansicht nach "unter den Tötungen aus niedrigen Beweggründen noch Abstufungen der Tatschwere vorkommen".31 Wenn aber die Tötung eines Menschen "ohnehin schon ein sehr verwerfliches Delikt ist"32 und wenn man daher für § 211 StGB einen Superlativ der sittlichen Verwerflichkeit glaubt ausmachen zu müssen, wie soll dann dieses Optimum an sittlicher Verwerflichkeit einzuordnen sein? Unmittelbar im Zusammenhang mit diesen systematischen Ungereimtheiten steht die Frage nach etwaigen Disharmonien außerrechtlicher Wertmaßstäbe bei der Anwendung im Einzelfall:

c. Unterschiedliche Gebrauchsregelsysteme und fehlender sittlicher Konsens als EinbruchsteIlen für divergierende Wertungen~ Teilweise wird darauf hingewiesen, daß die Motivgeneralklausel wegen ihrer Wertausfüllungsbedürftigkeit ein enormer Unsicherheitsfaktor im Hinblick auf eine gleichförmige Handhabung sei. 33 Indes sind solche Generalklauseln nicht begriffsnotwendig unbestimmt. Wertausfüllungsbedürftigkeit heißt ja zunächst nur, daß der Richter bei der Rechtsanwendung gezwungen ist, zu einem bestimmten Sachverhalt ein Werturteil abzugeben: An die Stelle der rechtlichen Normierung bzw. zu deren Ergänzung tritt die verweisende Übernahme anderer Regelkomplexe, die damit für die Richter die Bedeutung eines (quasi) verbindlichen Urteilsmaßstabes erlangen. 34 Auch wenn diese außerrechtlichen Maßstäbe nun keinen absolut festen Inhalt haben, so ergeben sich insoweit jedenfalls keine grundlegenden Unterschiede zu Seinsurteilen: SchönkejSchröder, Vorbem. 8ff. vor §§ 13ff., Wesseis, Strafrecht AT, S.4, je mit weit. Nachw. AA z. B. Baumann j Weber, Strafrecht AT, S. 9 f.; Rudolphi, MaurachFestschrift, S. 71 f.; derselbe, SK, Vorbem. 2 vor § 1, je mit weit. Nachw. 31 BGH LM Nr. 31 zu § 211 StGB. 32 Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 225. 33 Vgl. Class, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 123f., 129. Siehe auch Beckmann, GA 1979, S.448f.; Woesner, NJW 1978, S. 1026. 34 S. dazu auch unten § 9 Anm. 2.

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Es ist eine wesentliche Erkenntnis der Methodenlehre, daß auch die vom Gesetzgeber unmittelbar in die Tatbestände aufgenommenen Begriffe überwiegend "unscharfe Ränder" aufweisen, daß also jeder Begriff gewissermaßen einen inneren Kern und einen äußeren Hof besitzt, an dem seine Konturen verschwimmen. 35 Der zu subsumierende Sachverhalt kann verschieden weit vom Kern des Begriffs entfernt sein und je nachdem die Subsumtion erschweren oder erleichtern. Auch Erkenntnisse der Sprachphilosphie belegen im Ergebnis diese Feststellung: Die Genauigkeit eines Begriffs ist ausschließlich vom Maß der Übereinstimmung seiner Verwendung abhängig. Erst die sog. Gebrauchsregelsysteme verleihen einem Wort die Bedeutung. 36 Dementsprechend hat die Mehrdeutigkeit eines Ausdrucks ganz allgemein ihre Ursache darin, daß es verschiedene, nebeneinander bestehende Regelsysteme zu seinem Gebrauch gibt. Insofern stellt sich die Frage, ob ein (mehr oder weniger) einheitliches Gebrauchsregelsystem besteht im Hinblick auf die Verwendung des Ausdrucks "sittlich tiefste Stufe" von Tötungsmotivationen. Dies jedoch erscheint unter mehreren Aspekten fraglich: Wenn auch mittlerweile ein Gemeinplatz, so kommt man doch nicht an der Tatsache vorbei, daß der heutigen Gesellschaft ein einheitliches Werte- und Ordnungsbild fehlt - mit der Konsequenz, daß die Anschauungen darüber, welche Tötungsmotivationen auf tiefster Stufe stehen, möglicherweise weit auseinandergehen. Dagegen wird nun freilich eingewandt, daß es sich bei dieser Bewertungskategorie (sittliche tiefste Stufe bei Tötungen) um einen Extrembegriff handele, über dessen Verwendung von allen möglichen Ideologien und Gebrauchsregelsystemen her leicht ein Konsens zu erzielen sei: So geht Noll davon aus, daß die Mißbilligung etwa eines Raubmordes nach allen "Bedeutungsfeldern"31 von Ethik "völlig einheitlich" sei. 38 Dies mag zwar für das von Noll 35 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 202ff.; Engisch, Einführung, S. 108ff.,und die Nachw. bei Alexy, Juristische Argumentation, S.23. Aus der neueren Literatur s. Koch / Rüßmann, Begründungslehre, S. 193, 201 ff. und plastisch S.203: .. Unbestimmtheit ist kein Kriterium für Wertbegriffe". Demgegenüber bringen Wertbegriffe nach Alexy (in Hassemer, S. 190f.) eine spezifische Form von Unbestimmtheit ("evaluative Offenheit") in gesetzliche Regelungen hinein. Dagegen aber zutreffend Koch/ Rüßmann (aaO), S.204f. 3. Vgl. Essler, Analytische Philosophie, S.115; Kutschera, Sprachphilosophie, S. 136ff., je m. weit. Nachw. 37 Also sowohl auf der Grundlage der Sozialmoral, d. h. der Wertung .. aller billig und gerecht Denkenden", wie auch bei Abstellen auf die .. autonome Sittlichkeit" (Gewissensethik), die .. Hochethik des hier geltenden religiösen und weltanschaulichen Systems" oder die .. Humanmoral", also solchen Grundsätzen, die nicht auf eine im Raum und Zeit zusammenlebende Sozietät bezogen sind, sondern für alle denkbaren menschlichen Gemeinschaften gelten. Siehe dazu Henkel, Rechtsphilosophie, S. 67ff., 73. Vgl. auch Hötte, in Höffe/Kadelbach/Plumpe, S. 51; derselbe, Neue Hefte für Philosophie 17 (1979), S.7f. 38 Noll, OLG-Zweibrücken-Festschrift, S. 226.

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gewählte Beispiel eines Raubmordes (bei abstrakter Betrachtungsweise) richtig sein. 39 Indes erscheint es sehr fraglich, ob ein allgemeiner Konsens über die sittliche Bewertung 40 von Tötungsmotivationen besteht. So ist nur schlaglichtartig in Erinnerung zu rufen, wie ganz unterschiedlich spektakuläre Tötungsfälle in der öffentlichen Meinung bewertet werden. Zwar wird versucht, solche Einwände mit der These von der "esoterischen Moral" des Strafrechts auszuräumen: So versteht Bockelmann wertausfüllungsbedürftige gesetzliche Merkmale als rechtliche "Titel", die "gegen Antastungen aus rechtsfremden Bereichen gefeit" seien. 41 Soweit er damit die Definitionskompetenz des Strafrechts zu bekräftigen sucht, ist ihm sicher zuzustimmen. 42 Nur - selbst wenn das Strafrecht eine absolut eigenständige Moral hätte, so erscheint nach wie vor fraglich, ob selbst in diesem Kreis Konsens herrscht, ob und wann niedrige Beweggründe eine Tötung zu einem besonders strafwürdigen Fall machen. Wäre es anders, so würde von Strafrechtlern nicht immer wieder die Frage aufgeworfen, ob "überhaupt innerhalb der vorsätzlichen Tötung tatbestandlieh differenziert werden" sollte. 43 Und nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, daß, wie gezeigt wurde (oben

§ 4 11), Motivbündeln in der Praxis durchweg ein ho her Stellenwert

zukommt und nicht selten sozialethisch ganz unterschiedlich besetzte Antriebe bei Tötungen eine Rolle spielen. Das Gros der zu bewertenden Motivationen dürfte in jenen Bereich fallen, für den Noll "von allen geltenden oder behaupteten außerrechtlichen Ordnungen her" dieselben Schwierigkeiten ausmacht,44 also in die Grenzzone von "sittlich besonders mißbilligenswert" (§ 211 StGB) und "sittlich (nur) erheblich mißbilligenswert" (§ 212 StGB). Damit ist bereits die Anwendung des Wertmaßstabs auf den Einzelfall angesprochen: Wer kann nun aber in generalisierbarer Weise und frei von persönlichen Vorurteilen sagen, wann Rache, Haß und Zorn, Eifersucht und Wut jenen Superlativ an sittlicher Verwerflichkeit erreicht haben, ohne daß - um den BGH beim Wort zu nehmen 45 - ein Optimum an sozialethischer Niedrigkeit vorliegen müßte?46 3. Vgl. aber die Differenzierung bei Eser, DJT-Gutachten, D 175f. 40 Während der BGH mit der h. L. regelmäßig auf die Sozialmoral Bezug nimmt (siehe oben § 4 II B, aber auch BGH JZ 1981, S.547), stellen andere auf die Individualethik ab, s. z. B. Stock, Süddt. JZ 1947, S.531. .. Bockelmann, Radbruch-Gedächtnisschrift, S.253, insbes. S.257ff. 42 S. auch unten §§ 8, 9. 43 V gl. z. B. die von Eser, DJT-Gutachten, D 20 grundsätzlich aufgeworfene Frage

sowie die Ergebnisse der Abstimmung auf dem 53. Deutschen Juristentag 1980, DJT-Sitzungsbericht, M 158, wo mit überwältigender Mehrheit empfohlen wurde, auf das Mordmerkmal "niedrige Beweggründe" zu verzichten . • 4 Noll, OLG-Zweibrücken-Festschrift, S. 226. 45 S. oben zu und bei Anm. 31.

11. Mangelnde Präzision bei der Handhabung

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Angesichts dieser Vorüberlegungen erscheint es zweifelhaft, ob die pauschale Ausrichtung der Motivgeneralklausel an der "sozialethisch tiefsten Stufe" eine rationale Unterscheidung zwischen § 212 StGB (Tötungsbeweggründe mit sittlich negativer Bewertung) und § 211 StGB (Tötungs beweggründe mit sittlich besonders I äußerst negativer Bewertung) ermöglicht.

11. Mangelnde Präzision bei der Handhabung: Notwendigkeit einer Versachlichung Um die oben genannte These zu überprüfen, werden nicht nur BGHUrteile daraufhin untersucht, ob der sittliche Maßstab zu konsistenten Wertungen führt (A), auch die instanzgerichtliche Ebene ist in diese Analyse miteinzubeziehen: Dabei wird zunächst geprüft, wie es um die Revisionsfestigkeit der schwurgerichtlichen Urteile bestellt ist - könnten sich doch an hohen Aufhebungsquoten unterschiedliche sozialethische Wertvorstellungen zwischen den BGH-Senaten und den Untergerichten niederschlagen (B). Einzugehen ist ferner darauf, ob die Praxis bei der Umsetzung des sittlichen Maßstabs zu einer einheitlichen Linie gefunden hat: Insofern ist zunächst anhand von Beispielsfällen nachzuprüfen, ob vergleichbare Tötungsmotivationen gleich bewertet werden (C). Im Anschluß werden empirische Zusammenhänge in der instanzgerichtlichen Praxis am Beispiel des Motivs Rache dargestellt (D). Nachdem dabei verschiedene Faktoren auf Schwierigkeiten hinweisen, die speziellen Anforderungen des BGH zur inneren Tatseite umzusetzen, befaßt sich der darauffolgende Abschnitt speziell mit derartigen Anwendungsproblemen (E). Auch wenn sämtliche Befunde auf die Notwendigkeit einer Rationalisierung der "bewußtseinszentrierten Verwerflichkeitsprüfung" des BGH hinweisen, so muß sich ein solches Postulat abschließend einem grundsätzlichen Einwand stellen: Wenn nämlich, wie verschiedentlich vertreten wird 47 , Merkmale, die auf psychische Umstände oder auf ethische Werte Bezug nehmen, bloße Schaltstellen zur Befriedigung kollektivpsychischer Bedürfnisse sein sollten, muß es dann nicht bereits vom Grundansatz her verfehlt sein, diesbezüglich eine rationalere Handhabung anzustreben? (F) . •• Ebenso die Bedenken von Beckmann, GA 1979, S.447; Class, Eb. SchmidtFestschrift, S. 125, 134; Es er, DJT-Gutachten, D 160ff.; derselbe, DJT-Sitzungsbericht, M 84f., M 129; Jakobs, NJW 1969, S. 489; Lackner, DJT-Sitzungsbericht, M 87; Paeffgen, GA 1982, S.266; s. auch Lüderssen, in Lüderssen, S.69f.; Rüping, JZ 1979, S. 619; Schünemann, Bockelmann-Festschrift, S. 131 f.; Stratenwerth, v. WeberFestschrift, S. 190; Woesner, NJW 1978, S. 1026 und NJW 1980, S. 1138. Vgl. auch bereits Welzel, Nds. VII, S.35 sowie Gallas, Nds. VII, S. 33ff. Ferner Lenckner, in Schönke / Schröder, § 34 Rdnr. 44. .. Vgl. hier nur Haffke, GA 1978, S.36ff.

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§ 5 "Bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

A. Die Fragilität des sittlichen Maßstabs am Beispiel von BGH-Urteilen Betrachten wir zunächst die zusammenfassenden Werturteile der BGH-Entscheidungen über die Tötungsmotivationen, so scheint kaum ein Zweifel daran zu bestehen, daß sittlich besonders verwerfliche Beweggründe vorliegen: So wurden als niedrig bezeichnet "egoistisches Geltungsbedürfnis und übersteigertes Ehrgefühl", teilweise gepaart mit "Gefühlskälte und Haß",'· "Rachegesinnung und Rachsucht",'9 "Neid und Geltungsdrang"50 oder "Vergeltungssucht und Mißgunst".51 Gleiches gilt bei "Lust an körperlicher Mißhandlung"52 oder "willkürliche(m) Aufwerfen zum Herrn über die körperliche Unversehrtheit anderer".53 Und auch bei "krasser Selbstsucht" bzw. "krassem Egoismus"" ist man geneigt, die Beweggründe mit dem BGH jener sittlich tiefsten Stufe zuzuordnen. Freilich ist sofort die Frage aufzuwerfen, aufgrund welcher Tatumstände solche Schlußfolgerungen vorgenommen werden. Dabei wird die Fragestellung noch dadurch komplizierter, daß die BGH-Senate teilweise unterscheiden zwischen einer "krassen Eigensucht", die besonders verwerflich sei," und einer krassen "Eigensucht besonderer Ausprägung", die nicht auf sittlich tiefster Stufe stehe. 56 Ist also selbst auf dieser Wertungsebene nicht klar, wann "niedrige Beweggründe" vorliegen, so verstärken sich die Zweifel ob der Richtigkeit des verwerfenden Gesamturteils, wenn konkrete Fälle betrachtet werden: So töteten in dem von BGHSt 9, s. 180, 183 entschiedenen Fall die in kleinen dörflichen Verhältnissen lebenden Großeltern das uneheliche Kind ihrer Tochter gleich nach der Geburt, nachdem sie von der Schwangerschaft der Tochter nichts gewußt hatten. Dadurch wollten sie der zu erwartenden Schande und gesellschaftlicher Ächtung entgehen,

•• BGHSt 9, S. 180, 183f. Vgl. auch BGH 1 StR 526/79 v. 13.11.1979. • 9 BGH NJW 1958, S. 189; BGH StrV 1981, S. 231; BGH NJW 1982, S.2738 (nur verkürzt abgedruckt); BGH StrV 1984, S.72. Vgl. auch bereits OGHSt 1, S.364. Ferner BGH 5 StR 529/79 v. 23. 10. 1979. S. auch die Nachw. bei EBer, NStZ 1983, S. 435, Fn. 50 f. 50 BGH b. Dallinger, MDR 1969, S. 723. 51 BGH 2 StR 280/77; BGH 5 StR 426/78; BGH 1 StR 369/77, jeweils zitiert nach EBer, DJT-Gutachten, D 41. Vgl. ferner OGHSt 2, S. 177. 52 BGH 4 StR 298/79 v. 26. 7. 1979; BGH 4 StR 201/80 v. 31. 7. 1980; BGH 3 StR 385/80 v. 12.11. 1980. S. auch die Nachw. bei EBer, NStZ 1981, S.385, Fn. 38. 53 BGH NJW 1971, S. 571; BGH 3 StR 385/80 v. 12. 11. 1980. 54 BGH 1 StR 714/79 v. 11. 12. 1979; BGH 3 StR 34/81 v. 25.2.1981; BGH 3 StR 26/81 v. 25. 3.1981; BGH 1 StR 159/81 v. 7.5.1981. Siehe auch die Nachw. bei EBer, NStZ 1983, S. 435 f., Fn. 53. 55 S. Anm. 53f. 56 BGH 1 StR 159/81 v. 7.5. 1981.

Ir. Mangelnde Präzision bei der Handhabung

65

der sie in ihrer sozialen Umgebung ausgesetzt sein würden. Ein vergleichbarer Sachverhalt liegt dem BGH-Urteil vom 21. 5.1969 zugrunde: 5 ? Die Täterin tötete das uneheliche Kind ihrer Schwester nach der Geburt, um die "Schande im Dorf" zu verhindern und ihrer herzkranken Mutter Aufregungen zu ersparen. In bei den Fällen wurde die besondere Verwerflichkeit der Tötungsbeweggründe wegen eines übersteigerten Ehrgefühls bejaht, ohne daß der hier zugrundeliegende Sozialkonflikt insoweit 58 berücksichtigt worden wäre. 59 Aber auch wer den Satz unterschreiben möchte, daß sittlich besonders verwerflich handelt, wer "seine Ehefrau töten will, um sich einer anderen Frau zuzuwenden",60 bekommt Zweifel, ob die betreffende Tötungsmotivation im konkreten Fall einen derart vernichtenden sozialethischen Tadel verdient hatte: Der vom BGH entschiedene Fall spielte sich nämlich vor dem Hintergrund einer offenbar langjährig zerrütteten Ehe ab. Macht man sich das Konfliktpotential solcher nur noch formeller Partnerschaften klar, so muß als Defizit empfunden werden, daß der BGH es bei der eher lakonischen Feststellung beließ: Niedrige Beweggründe liegen auch dann vor, "wenn die Ehe unglücklich ist, weil die Gatten nicht zueinander passen".61 Waren bisher die Bedenken davon geprägt, daß die besondere Verwerflichkeit der Tatmotivation zu Unrecht bejaht wurde, so erscheint in dem folgenden Fall fraglich, ob die Tatmotive zu Recht als "einfühlsam" bezeichnet wurden. Das Opfer hatte mit seinem Pkw versehentlich die Zufahrt zur Garage des Täters verstellt. Wütend darüber, daß das Opfer nicht sofort den Pkw entfernte, beschädigte der Angeklagte zunächst das Auto des Opfers und versuchte in der anschließenden Auseinandersetzung, den Gegner zu töten. 62 Der BGH verneinte die - vom Instanzgericht bejahte - sittlich tiefste Stufe der Motivation u.a. mit der Erwägung, daß das Opfer "den Anlaß dafür gegeben hatte, daß (der Angeklagte) sich einen nicht geringfügigen Schadensersatzanspruch eingehandelt hatte". Soll dementsprechend selbst der banalste Anlaß durch das Opfer ausreichen, um die Tatbeweggründe nicht mehr als besonders verwerflich erscheinen zu lassen?63 BGH b. Dallinger, MDR 1969, S. 723. Zur Vorgehensweise des BGH, durch verschärfte Anforderungen an die "innere Tatseite" zu gerechten Ergebnissen zu kommen (wie im letztgenannten Fall), s. unten E. 59 Krit. auch Eser, DJT-Gutachten, D 43. 60 BGH LM Nr.31 zu § 211 StGB. S. auch die Nachw. bei Eser, NStZ 1981, s. 385, Fn. 42. 61 BGH LM Nr. 31 zu § 211 StGB. Vgl. auch OLG Kiel HESt I, s. 90 sowie BGH 4 StR 84/59 v. 24. 4. 1959 b. Pfeiffer / Maul/Schulte, StGB, S. 527. Ähnlich krit. wie der Haupttext auch Jähnke, LK, § 211 Rdnr. 30. 62 BGH 3 StR 130/80 v. 2.3. 1980. 63 S. dazu unten §§ 9, 10.

5. 57

5 Heine

66

§ 5 "Bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

Ergeben sich aber schon auf der Ebene des BGH gewisse Irritationen bei der Anwendung des rein sittlichen Maßstabs, wie ist es dann um die schwurgerichtliche Praxis bestellt?

B. Geringe Revisionsfestigkeit schwurgerichtlicher Urteilei Wertungsunterschiede auf vertikaler Ebene Um einen gewissen Trend ausfindig zu machen, ob BGH und Instanzgerichte über identische Regelsysteme für die Verwendung des Begriffs "sittlich besonders verwerfliche Tatmotivationen" verfügen, wurden sämtliche BGH-Urteile ausgewertet, die sich zwischen dem 1. 5. 1979-30.4. 1981 64 mit Revisionen zu befassen hatten, mit denen die fehlerhafte Anwendung der Motivgeneralklausel gerügt wurde. Ziel war es, die "Revisionsfestigkeit" der Instanzurteile zu testen, und zwar insbesondere im Hinblick darauf, ob die sittlichen Bewertungen übereinstimmten. 65 Tabelle 6 zeigt die Ergebnisse, wobei zum Vergleich ein Mordmerkmal herangezogen wird, das wegen seiner strikt objektiven Konturen insoweit als Gegenpol zu den rein subjektiven "niedrigen Beweggründen" gelten kann: die "heimtückische Tötung". Daß über zwei Drittel der Schwurgerichtsurteile, die berücksichtigt werden konnten, aufgehoben werden mußten, besagt zunächst wenig: Die Erledigungen nach § 349 Abs. 2 StPO konnten nicht einbezogen werden. Unter der Voraussetzung, daß sich die Entscheidungsstrukturen bei den Mordmerkmalen gleichen, legt die Aufhebungsquote bei dem rein subjektiven Mordmerkmal im Vergleich zu der "heimtückischen" Tötung (Aufhebungsquote ein Drittel) indes den Schluß auf deutliche Wertungsdiskrepanzen zwischen BGH und instanzgerichtlicher Praxis nahe: J edenfalls mußten prozentual mehr als doppelt soviele Verurteilungen wegen "niedrigen Beweggründen" aufgehoben werden als bei "Heimtücke". Für die eingangs gestellte Frage nach Disharmonien bei der Anwendung ethischer Wertmaßstäbe ist nun bedeutsam, daß in nahezu jedem zweiten der materiell erfolgreich gerügten Urteile eine fehlerhafte Gesamtwürdigung vorlag. 66 Denn gerade dort wird (vor allem) entschieden, ob die •• Der Auswertungszeitraum 1979-1981 wurde wegen der zeitlichen Nähe zu der Untersuchung der erstinstanzgerichtlichen Praxis gewählt. • 5 Die offensichtlich unbegründeten Fälle des § 349 Abs. 2 StPO konnten nicht berücksichtigt werden. Ebensowenig wurden Urteile ausgewertet, die allein wegen Verfahrensfehler bzw. wegen Sachrügen, welche die Problematik des Mordmerkmals unberührt ließen, aufgehoben wurden . •• Diese Befunde decken sich mit den von Eser, NStZ 1981, S. 385, insbes. zu und bei Fn.24 mitgeteilten Tendenzen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Siehe auch Eser, NStZ 1983, S. 435. Insofern ist die immer wieder aufgestellte Behauptung von Praktikern, daß die Annahme von "niedrigen Beweggründen" auch unter Revisionsgesichtspunkten keine Probleme aufwerfe (vgl. Bertram, in

67

11. Mangelnde Präzision bei der Handhabung Tabelle 6: Die "Revisionsfestigkeit" der Tötung aus Niedrigen Beweggrlmden ( BGH-Urtei 1e vom 1. Mai 1979 - 30. Apri 1 1981)

: I Revisionen insgesamt Bestätigung Aufhebung aus materie11en mordmerkmalsbezogenen Gründen Aufhebungsgründe* - fehlerhafte Gesamtwürdigung - fehlerhafte "inne"re Tatseite - sonst.

: I :

:

I : I I I I I I

niedrige Beweggründe N %

: I

Heimtücke % N

37

100

:

12

100

12

32

:

8

67

25

68

I

4

33

I

I I

11

44

17

- **

68

4

3

12

I

2

* Daß die Summe der Aufhebungsgründe die Zahl der erfolgreichen Revisionen übersteigt, ergibt sich aus der Berücksichtigung mehrfacher Fehler. ** Die Notwendi gkeit ei ner (sehr beschränkten) Gesamtwürdi gung besteht für die Rechtsprechung erst seit dem Urteil des GSSt vom 19.5.1981 (BGHSt 30, 5.105) mit der Möglichkeit, in Grenzfällen über § 49 Abs.l StGB di e Mordstrafe zu vermei den. Auf ei ne Prozentui erung wurde wegen des geringen N verzichtet.

Bewertung der Motive als besonders verwerflich von den konkreten Umständen gedeckt ist. Soweit nämlich der BGH Gesamtwürdigungsdefizite glaubt ausmachen zu können, geht es darum, daß die Einstufung der Beweggründe als besonders verwerflich von den Urteilsgründen nicht hinreichend getragen wird; insoweit scheinen sich unterschiedliche Auffassungen über die sozial-ethische Beurteilung der Motivation niederzuschlagen. Ein Beispiel soll diese These verdeutlichen: So hatte das Landgericht Essen mit Urteil vom 29. 1. 1980 die Tötung eines Zuhälters deshalb "nach allgemeiner sittlicher Anschauung als verachtenswert" und als "auf tiefster Stufe menschlichen Verhaltens" angesehen, weil der Täter (ebenfalls ein Zuhälter) "seine finanziellen Interessen an der Prostituierten wahren" wollte. Indes hatte das Opfer versucht, mit verbalen und tätlichen Bedrohungen seine Geschäftsinteressen an der Dirne durchzusetzen. Dieser Umstand war für den Wertmaßstab der Tatrichter ebensowenig von Bedeutung wie die Tatsache, daß der Täter mit der Prostituierten seit längerer Zeit eine enge menschliche Bindung eingegangen war, ein gemeinsamer Lebensplan vorlag und das Vorgehen des Opfers einen Einbruch in diese Lebensbeziehungen darstellte. JescheckjTriffterer, S. 168f.; Staiger, in JescheckjTriffterer, S. 184f.), doch erheblich zu relativieren. Zu den Problemen der inneren Tatseite s. unten E. S"

68

§ 5 "Bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

Auch wenn der Leitsatz des instanzgerichtlichen Urteils (Tötung zur Wahrung finanzieller Interessen an einer Prostituierten ist sozialethisch besonders mißbilligenswert) Geltung beanspruchen darf, so zeigen doch gerade die erwähnten Einzelumstände, wie fragil die Subsumtion nach Maßgabe der "besonderen Verwerflichkeit unter Gesamtwürdigung aller Umstände" im Grunde ist, und daß dieser Maßstab Raum für ganz individuelle (richterliche) Wertvorstellungen bietet. Der BGH hob das Urteil zu Recht auf. 67

Wenn nun aber unterschiedliche Einschätzungen bei der Anwendung dieser sozial ethischen Leitlinie zwischen BGH und Instanzgerichten zu registrieren sind, ergeben sich dann nicht auch Bewertungsunterschiede in der instanzgerichtlichen Praxis?

c. Wertungsunterschiede auf horizontaler (instanzgerichtlicher) Ebene ~

Eser hat bereits in seinem DJT-Gutachten 1980 maßgebliche Wertungsaspekte der Instanzpraxis herausgearbeitet und eine "im wesentlichen einheitliche Linie" mit - "von gewissen Voreingenommenheiten abgesehen" - "plausiblen Ergebnissen" resümiert.68 Und in der Tat ergeben sich auf den ersten Blick gewisse gleichförmige Tendenzen: So werden etwa Wut, Zorn und Verärgerung als sittlich besonders verwerflich eingestuft, wenn sie sich auf (die Verweigerung von) Geschlechtsverkehr beziehen.69 War jedoch Anlaß dieser Motive eine Ehrverletzung durch das Opfer70 oder wußte der Täter seine Wut mit Enttäuschung oder Verzweiflung zu erklären,71 so wurde die Niedrigkeit verneint. Dagegen macht Eifersucht die Tötung häufig dann zu Mord, wenn sie von Mißgunst geprägt ist oder das Opfer keinerlei Anlaß für solche "Gefühle" gab. 12 Sofern dabei freilich Verzweiflung, Ohnmachts gefühl oder eine besondere Leidenschaft motivierend wirkt, bleibt dem Täter die Bewertung als niedrig erspart. 13

Daß andererseits auch Divergenzen festzustellen sind, zeigen die folgenden Beispiele: In Gefolgschaft der höchstrichterlichen Rechtsprechung wird etwa die Tötung zur Aufrechterhaltung eines ehebrecherischen Verhältnisses wegen des sozialethisch zu mißbilligenden Zieles überwiegend als niedriger Beweggrund eingestuft. 74 Demgegenüber 67

BGH 4 StR 346/80 v. 21. 8. 1980.

68

Eser, DJT-Gutachten, D 43.

Aus dem Untersuchungsmaterial: TÜ 2, S I 1, MA 8. S I 38. 71 B 4, B 6, B 16, B 48, B 64, FR 8, HN 4, MA 8, S I 5, S I 34, S I 36. 72 MOS 1, S I 4, S I 14. 73 MA 13, MA 16, S 11 12. 7. BGHSt 6, s. 329; BGH NJW 1955, S. 1727 sowie die Nachw. bei Eser, NStZ 1981, S.385, zu und bei Fn. 42f. Vgl. HD 11, MOS 5. 6' 70

II. Mangelnde Präzision bei der Handhabung

69

wurde im Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.5.1978 bei Tötung des im Wege stehenden Ehemanns der Geliebten die Niedrigkeit der Beweggründe nicht einmal erwogen.·5 Im Gegensatz dazu steht die Entscheidung des Landgerichts Mosbach vom 21. 4.1977:. 6 Auch hier tötete der Angeklagte den Ehemann der Geliebten, um sein Verhältnis mit dieser ungestört fortsetzen zu können. Dabei erscheint aber gerade in diesem Fall - im Unterschied wiederum zu der erwähnten Karlsruher Entscheidung - die Einstufung als niedrig problematisch, hatte doch das Schwurgericht eine konfliktbeladene Dreiecksbeziehung festgestellt und waren der Tat seit längerem heftige verbale und tätliche Auseinandersetzungen zwischen dem Opfer und dem Angeklagten vorausgegangen. Auch hatte sich das Opfer einer Scheidung nur wegen der hohen Rente der Ehefrau widersetzt. Auch wenn es sich dabei nur um singuläre Beispiele handelt, so belegen sie doch, daß auch auf der Schwurgerichtsebene Divergenzen bei der sittlichen Einschätzung von Beweggründen vorkommen. Und selbst wenn beruhigend sein mag, daß .. die Divergenzen nicht noch größer sind"," stellt sich die Frage, an welchen Wertstrukturen sich die Instanzgerichte eigentlich orientieren. Da eingangs festgestellt werden konnte (§ 411), daß von allen untersuchten Tatantrieben jedenfalls bei dem Motiv Rache gewisse Zusammenhänge mit der tatrichterlichen Bewertung als niedriger Beweggrund bestehen, bietet sich an, beispielhaft anhand dieses Tötungsmotivs die Fragestellung anzugehen!S

D. Rache als "niedriger Beweggrund": Empirische Zusammenhänge in der instanzgerichtlichen Praxis Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist Rache zwar nicht stets, jedenfalls dann aber ein niedriger Beweggrund, wenn er auf "niedriger Gesinnung" beruht.·9 Diese ist aufgrund einer Gesamtwürdigung von Tat und Täter zu ermitteln, wobei grundsätzlich alle Umstände, die mit der Motivation zur konkreten Tat zusammenhängen, einzubeziehen sind. so Bereits bei den methodischen Vorbemerkungen ist die LG Karlsruhe v. 30. 5. 1978, Ks 3/78. LG Mosbach v. 21. 4.1977,2 Kls 4/77. 77 Eser, DJT-Gutachten, D 43. 78 Dazu kommt, daß dieser Tatantrieb in den Urteilen am häufigsten genannt wurde. 79 Ständige Rspr: BGHSt 1, s. 369; NJW 1958, S. 189; StrV 1981, S.231 sowie die Nachweise bei Eser, NStZ 1981, S.385, zu und bei Fn.33 und NStZ 1983, S.435, Fn. SOff. Dazu daß die besondere Verwerflichkeit der Tat und die besonders verwerfliche Gesinnung im Grunde bedeutungsgleich verwendet werden, s. Eser, DJT-Gutachten, D 159. 75

76

70

§ 5 "Bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

Auswahl möglicher Faktoren bei dieser Gesamtwürdigung skizziert worden (vgl. oben § 2 11). In einem ersten Schritt wird ein Überblick über signifikante und differenzierungsstarke Wertkriterien gegeben (a). Hieran schließt sich eine detaillierte Betrachtung dieser Tendenzen (b). Dabei soll durchweg versucht werden, die Bedeutung der jeweiligen Merkmale an dogmatischen Überlegungen zu messen. Insofern wird auch darauf zu achten sein, ob und inwieweit die Befunde der instanzgerichtlichen Praxis mit den höchstrichterlichen Vorgaben zu vereinbaren sind. Da zu vermuten ist, daß sich die Bewertung der Rachemotivation auch rechtsfolgenbezogen an einem "vernünftigen Ergebnis" orientieren wird, sind ferner die Strafaussprüche miteinzubeziehen. 1. Gesamtüberblick: Die differenzierungsstärksten Merkmale bei der richterlichen Bewertung des Motivs Rache

Tabelle 7 zeigt in einer Übersicht die differenzierungsstärksten Faktoren bei der Bewertung von solchen Tötungen, bei denen die Instanzgerichte "Rache" als (Mit-)Beweggrund feststellten. SI In 23 Fällen (knapp 30% der untersuchten Population) nahmen die Schwurgerichte entsprechende Vergeltungsmotivationen an. Diese Urteile wurden im Hinblick auf die Bejahung bzw. Verneinung der Niedrigkeit des Beweggrundes (abhängige Variable) analysiert. Die Variablen mit dem stärksten Zusammenhang sind nachfolgend dargestellt. Dabei geht es um die Ermittlung typischer Definitionsstrukturen für die eine (Niedrigkeit bejaht) oder andere (Niedrigkeit verneint) Alternative dieser abhängigen Variablen. In der Ausprägung des sogenannten Korrelationskoeffizienten C liegt dabei der Informationsgewinn und gleichzeitig die Prädiktion für die Behandlung von Rachetötungen: Je mehr sich C dem Wert 1 annähert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer Bejahung / Verneinung des Mordmerkmals. Das Vorzeichen (nB+: nB-) bringt zum Ausdruck, ob der entsprechende Faktor zur Bejahung oder zur Verneinung der Motivgeneralklausel führt. Berücksichtigt werden nur signifikante Zusammenhänge. B2 Um eine sinnvolle Analyse zu ermöglichen, wurde nicht zwischen objektiver Niedrigkeit der Beweggründe und subjektiver Vorwerfbarkeit unterschieden. B3

Hervorhebungsbedürftig ist zunächst, daß sich Affekt- und Konflikttötungen S4 als die entscheidungsstärksten Merkmale darstellen: Die Ba Ständige Rspr., vgl. z. B. BGH NJW 1954, S.565: GA 1974, S.370: NStZ 1984, S. 261 sowie die Nachweise bei Eser, NStZ 1981, S. 385, Fn. 29 und NStZ 1983, S. 435, Fn.37-45. 81 Vgl. im Anhang § 14 die Gesamtauswertung (Tabelle 26). B2 Vgl. auch die Erläuterungen in den Vorbemerkungen zum Anhang § 14. 83 Eine solche Trennung konnte deshalb nicht vorgenommen werden, weil in den Urteilen häufig insoweit nicht unterschieden wird. Indes erscheint der Verzicht auf eine solche Unterscheidung nicht als Nachteil, ist doch zu vermuten, daß Motive in besonderem Maße Kategorien der Zuschreibung sind (s. auch Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S.42f.). Um so mehr gewinnen Tat- und Täterumstände für die Bewertung des Falles Bedeutung.

11. Mangelnde Präzision bei der Handhabung

71

Tabelle 7: Zusammenhänge zwischen Niedrigen Beweggründen und Tötungen aus Rache Rang

Signifikanz

1.

Täterbezogene Knten en

1

1 1

1.1 Konflikt (Lang-, Kurzzeitkonflikt)

0,5

1

1

1 1

1 1

1

1

1

I

1 1

-0,43"""

Sons t i ges

1

0,49 I 1

++

6

1 1

And. i'iordmerkma 1e

+++

3

-..j

Beweggründe

Irrtumswahrscheinl Irrtumswahrscheinl IrrtUlliswahrschei nl Irrtumswahrscheinl

3

1

-0,5

Verletzte Ehre, Kränkung

+

r-

1

1

1.4 Staatsangehörigkeit (Ausländer)

(+ )

2

1 1 -0,62~

1.3 Affekt (heftig, höchstgradig)

3.

1

-0,581_

1.2 Alkoholisierung ( < 0,3%0)

2.

1

chkeit chkeit chkeit chkeit

1

1

1

I

~I

(Tendenz) ( signifikant) 0,01 (sehr signifikant) 0,001 (sehr signifikant)

0,11 p ~ 0,05

p,

P ~pL

Information über das Vorliegen einer heftigen Gemütsbewegung verbessert die Vorhersage, ob Rache als niedriger Beweggrund bewertet wird, um über 60%. Ähnliches gilt, wenn ein Konflikt der Tötung zugrunde liegt (Steigerung der Prädiktion: knapp 60%). Tötungen aus Rache scheinen dementsprechend vor allem bei Affekt- und Konflikthandlungen als nicht besonders verwerflich angesehen zu werden. Die Zuordnung zu der Gruppe Affekt basiert auf der Beschreibung eines affektiven Geschehens im Urteil und/oder auf der Verwendung bestimmter Begriffe in der instanzgerichtlichen Entscheidung. 85 Die Angabe eines emotiona8< S. auch die detaillierte Aufschlüsselung im Anhang § 14 (Tabellen 26ff.). Zu signifikanten Zusammenhängen zwischen Affekt- und Konflikttötungen s. unten § 10 sowie Tabellen 26ff. im Anhang § 14. 85 Folgende Ausdrücke waren diesbezüglich relevant: Affekt, Affektausbruch, Affektdruck, Affektexplosion, Affektreaktion, Affektsituation, Affektspannung, Affektstau, Affektsturm, Affekttat, Affektzustand, affektive Aufladung, affektive Augenblickshandlung, affektive Belastung, affektive Besetzung, affektive Be-

72

§ 5 "Bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

len Motivs, wie z. B. "Ärger", reichte per se für die Annahme eines Affekts nicht aus; in solchen Fällen mußte das Urteil ein affektives Geschehen ausdrücklich als maßgebend für das Tatgeschehen bewerten. Nur solche Antriebslagen wurden als Affekte berücksichtigt, die nicht lediglich infolge der Tat auftraten und auch nicht ausdrücklich als "unbedeutend" für den Tatausgang oder als "absolut geringfügig" bezeichnet wurden. Insofern ist das Merkmal "Affekt" hier nicht etwa in einem ausschließlich psychiatrisch-psychologischen Sinne·· zu verstehen. Zutreffender erscheint es, von einem "normativen Affekt" zu sprechen, wobei natürlich den Stellungnahmen der Fachdisziplinen eine wichtige Funktion zukommen wird. Eine strikte Trennung zwischen krankhaft bedingten, sog. "psycho-pathologischen" und sog. normal psychologischen Affekten, also nicht auf den Begriff der "krankhaften seelischen Störung" iSd § 20 1. Alt. StGB zurückführbare Gemütsbewegungen, war angesichts teilweise unscharfer Feststellungen in den Urteilen nicht möglich.·' Auch die Konflikttaten wurden sowohl unter erfahrungswissenschaftlichen wie auch unter wertenden Gesichtspunkten ausgewählt. Inhaltlich wurden nur sog. Beziehungskonflikte, also Kollisionslagen, in die der Täter und eine andere Person verwickelt waren, berücksichtigt.·· Von der Tatdynamik her sind Kurzzeit- und Langzeitkonflikte zu unterscheiden. Während jene als eher plötzlich auftretende, situationsgebundene interpersonelle Konfrontation verstanden werden, ist die andere Form durch eine längerfristige Vorgeschichte gekennzeichnet, die - wie die Psychologie belegt·' - regelmäßig mit einem ganz besonderen Motivationsdruck einhergeht.'· wußtseinstrübung (-verengung), affektive Erregung, affektive Überstürzung, Aggressionsaffekt, Aggressionsentladung, Aggressionstat, Aktualaffekt, Explosivreaktion, Frustrationsexplosion, Gefühlsexplosion, Gemütsaufwallung, gesteigerte Aggression, Horizontverengung und hohe Erregung, Impulsivhandlung / -reaktion, Kurzschlußreaktion, protrahierter Affekt, psychische Überreizung, rasende Erregung, reizbarer affektiver Wutzustand, Verzweiflungstat. Zu diesen als Synonym für die Gruppe Affekt betrachteten Begriffen vgl. Diesinger, Affekttäter, S. 15ff., 102f., je m. weit. Nachw.; v. Hentig, 11, S.58; Kretschmer, b. Diesinger, S.215f.; Steigleder, in Handwörterbuch der Rechtsmedizin, Bd.lI, S. 59ff. Vgl. ferner den Überblick b. Eser, DJT-Gutachten, D 125 m. weit. Nachw. und bei SaB, Der Nervenarzt 1983, S.557ff. •• Vg1. dazu den Überblick bei Behrendt, Affekt und Vorverschulden, S. 13ff. mit zahlr. Nachweisen . •, Insbesondere war in zahlreichen Fällen nicht eindeutig zu klären, ob die Affekte als somatisch-pathologisch bedingt angesehen wurden. Zum Problem und zur Vieldeutigkeit des Begriffs "krankhafte seelische Störung" iSd § 20 StGB vg1. Diesinger, Affekttäter, S. 93. S. auch unten § 12. •• S. Diesinger, Affekttäter, S. 107; Ghysbrecht, Psychologische Dynamik, S. 50ff.; Langelüddecke / Bresser, Gerichtliche Psychiatrie, S. 256ff.; Steigleder, in Handwörterbuch der Rechtsmedizin, Bd.lI, S.59ff.; Witter, in Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. 11, S. 966ff., 1023ff. Bloße Innenkonflikte (dazu Diesinger, Affekttäter, S. 107, m. weit. Nachw.), die vor allem durch psychische Defekte veranlaßt sind, werden mit der Variablen "abnorme Persönlichkeitsstrukturen" erfaßt. Vg1. aus der Sicht der forensischen Psychologie auch Fröhlich, in Handbuch der Psychologie, Bd. 11, S. 513ff.; Thomae, Konflikt, S. 156ff., je m. zahlr. Nachw. Aus jurist. Sicht s. Götz, GA 1977, S.324; RieB, MschrKrim 53 (1970), S.27. Ferner Eser, DJT-Gutachten, D 145.

11. Mangelnde Präzision bei der Handhabung

73

Näher besehen könnten diesem Trend unterschiedliche Privilegierungsansätze zugrunde liegen: Während bei den Affektfällen die Wahrnehmungs- und Beherrschungsfähigkeit beeinträchtigt und damit die Schuld gemindert sein könnte,9' bewegen sich die Konflikttötungen möglicherweise im Umfeld des entschuldigenden Notstandes. 92 Die Differenzierungsstärke der Konflikthaftigkeit einer Tötungshandlung läßt sich aber auch so interpretieren, daß in der Praxis weniger Verwerflichkeitsüberlegungen als vielmehr Gefährlichkeitsaspekte in die Bewertung miteinfließen: Gerade bei singulären Konflikttötungen dürften nicht nur spezialpräventive Reaktionsbedürfnisse zu verneinen sein - ist doch unter dem Gesichtspunkt der Tätergefährlichkeit wegen der Einmaligkeit der Konfliktlage eine Wiederholungsgefahr regelmäßig nicht gegeben. 93 Möglicherweise sind für diesen Trend auch generalpräventive Erwägungen mitverantwortlich - erscheint doch bei Tötungen, die aus einer speziellen Konfliktlage resultieren, das kollektive Gefühl der Sicherheit gegenüber Lebensbedrohungen durch andere nicht gefährdet. 94 Im Einklang damit steht auch der Umstand, daß Rachetötungen ohne Konflikt durchweg als sittlich besonders verwerflich eingestuft werden. 9s Ein weiteres Indiz für diese These ist der relativ starke Zusammenhang mit dem Merkmal Alkoholisierung: 96 Mit der Zunahme (!) der Alkoholisierung steigt die Wahrscheinlichkeit, daß Rachetötungen als niedrige Beweggründe eingestuft werden. Stellt man in Rechnung, daß eine solche Alkoholisierung regelmäßig zur Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit führt, so wäre zu erwarten gewesen, daß in diesen Fällen Mord eher abgelehnt wird. Der BGH jedenfalls betont, daß bei Taten unter Alkoholeinfluß zweifelhaft sei, ob der Täter seine Motive gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern vermochte - und zwar auch bei einer Alkoholisierung, welche die Schwelle des § 21 StGB nicht erreicht. 97 Daß 89 Vgl. Diesinger, Affekttäter, S. 106ff.; J. W. DuncanjG. M. Duncan, in Kutash, S. 172ff.; Ghysbrecht, Psychologische Dynamik, S. SOff. S. auch Sessar, in DrapkinjViano, S. 33ff. sowie Eser, DJT-Gutachten, D 145. 90 Sofern es die Häufigkeitsverteilungen zulassen, werden diese Konfliktformen separat ausgewiesen. In dem hier interessierenden Zusammenhang mußte auf eine getrennte Ausweisung verzichtet werden. 9. Vgl. hier nur die Zusammenfassung bei Behrendt, Affekt und Vorverschulden, S. 37f. und die Übersicht bei Saß, Der Nervenarzt 1983, S. 562 sowie unten §§ 9,12. 92 Vgl. Eser, DJT-Gutachten, D 129. S. auch Günther, JR 1985, S.268; Köhler, JuS 1984, S. 762ff. 93 Vgl. eingehend unten § 9 I 2. •( Vgl. hier nur Eser, DJT-Gutachten, D 167 sowie eingehend unten § 9. 95 Allerdings n = 4. 96 Folgende Unterteilungen wurden vorgenommen: 0-0,29%0; 0,3-1,29%0; 1,330/00; < 3,0%0.

74

§ 5 "Bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

bezüglich dieser dogmatischen Bewertung die Instanzgerichte dem BGH die Gefolgschaft offenbar versagen, kann mehrere Gründe haben: So kann eine Rolle spielen, daß Taten mit Alkoholeinfluß als besonders bedrohlich empfunden werden. 98 Denkbar ist aber auch, daß die vom BGH geforderten diffizilen Erwägungen zur Motivationsfähigkeit in der Praxis nicht ohne weiteres umgesetzt werden können,99 dementsprechend zwar das Mordmerkmal bejaht wird, die "verdiente" Sanktion aber auf anderem Wege, z. B. durch die großzügige Bejahung von § 21 StGB, 100 erreicht wird. Betrachtet man nämlich die Rechtsfolgen, so ergibt sich folgendes Bild: Wurde Rache als niedriger Beweggrund eingestuft, so verhängten die Gerichte gleichwohl nur in einem Falllai die absolute Strafe. Der Schwerpunkt der strafrechtlichen Reaktion bei Rachetötungen als Mord liegt bei einer Strafdauer von 10-15 Jahren (über 70% der Fälle), während diese Sanktionsdauer bei den Rachetötungen, bei denen bloßer Totschlag angenommen wurde, nur etwas über ein Drittel ausmacht. 102

Eine gewichtige Prädiktion kommt bei Rachetötungen auch der Nationalität zu: Bemerkenswerterweise werden bei ausländischen Delinquenten Rachetötungen tendenziell nicht als Mord eingestuft. 103 Wenn wir berücksichtigen, daß es sich bei den ausländischen Tätern ganz überwiegend um Gastarbeiter handelt, die aus Süd- bzw. Südosteuropa und der Türkei stammen, läßt sich dieser instanzgerichtliche Trend mit den Grundsätzen des BGH in Einklang bringen: Denn auch wenn Tötungsbeweggründe "nach den in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Wertungen unverständlich und mißbilligenswert" seien, folge daraus nicht zwingend, daß ein solches Verhalten als "besonders verächtlich" zu bezeichnen sei. In die Gesamtwürdigung von Tat und Täter sollen nämlich - so der BGH ' 04 - auch die individuellen Bedingungen der Tat .7 Ständige Rspr., BGHSt NStZ 1981, s. 100; BGH 1 StR 287/84 vom 24.7. 1984, Leitsatz abgedruckt in StrV 1984, S.465. Ferner BGH 5 StR 474/79 vom 4.9. 1979; BGH 3 StR 381/80 vom 14. 11. 1980 sowie die Nachweise bei Eser, NStZ 1981, s. 386, Fn.72. •• Vgl. H.-J. Albrecht, Bewährungshilfe 1985, S. 348ff. m. weit. Nachw. 99 Vgl. eingehend unten D 2. b. 100 Daß solche Strategien gerade bei den Tötungsdelikten zum Tragen kommen, hat Eser (DJT-Gutachten, D 53ff.) ausführlich aufgezeigt: So ist beispielsweise bei der Zubilligung verminderter Schuldfähigkeit (§§ 21, 49 StGB) seit 1954 ein ständig steigender Trend zu verzeichnen. S. eingehend unten Anm. 136. 101 N = 7. 102 N = 16. 103 Und zwar wurde bei keinem (!) der ausländischen Delinquenten (n = 10) Rache als niedriger Beweggrund bewertet. Vgl. auch die vergleichbaren Ergebnisse von Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S. 182 sowie seine Ausgangshypothesen (aaO, S. 46). 104 BGH NJW 1980, S. 537. Dementsprechend wird hier sogar eine Verschiebung des sozial-ethischen Maßstabs angenommen.

75

II. Mangelnde Präzision bei der Handhabung

einzubringen sein, zu denen die Bindungen des Täters an die besonderen Wertvorstellungen seines Lebenskreises gehören. Auch könne es bei einer Verhaftung in "sizilianische Denkweisen" oder - ganz allgemein - bei Vorliegen eines kulturellen sozialen Zwanges jedenfalls an der - vom Schuldprinzip geforderten - speziellen "Wertungsfähigkeit" mangeln. 105 Daß sich solche kulturbedingten Unterschiede aber auch in anderen (schuldmindernden)'06 Konstellationen wiederfinden, zeigen die Zusammenhänge der Merkmale Affekt und Konflikt mit der Nationalität der Täter: Berücksichtigt werden sämtliche Tötungsfälle, um Verzerrungen durch geringe Fallhäufigkeit zu vermeiden. Tabelle 8: Zusammenhänge zwischen Affekttötungen Lind der Nationalität der Täter

Kein Affekt

heftiger Affekt höchstgradiger Affekt Total

i i

Deut~che

13 93 90 (30 90 )

I I

I I

I I I I I I

: I

Täter

-

28 53 % (64 %) 3 37 90 (7 %) 44 59 %

i i I I

I

I I I I I I I

i I

Ausländische Täter 7 (3

I I

I 0'

10

90 )

25 47 90 ( 81 70 ) 5 63 (16

14 19 % 53 71 %

8

90

%)

31 41 90

Total

:I

11

%

75 100

%

Auffällig ist, daß in der Gruppe "Kein Affekt" deutsche Täter eklatant überrepräsentiert sind: Während der Anteil inländischer Delinquenten an der Gesamtpopulation knapp 60% ausmacht, beträgt deren Quote bei 105 BGH bei Holtz, MDR 1977, S. 809f.; BGH StrV 1981, S.399; BGH NJW 1983, S. 55; vgl. auch bereits BGH GA 1967, S. 244. Im Ergebnis überwiegend zustimmend die Lehre (vgl. z. B. Arzt / Weber, Strafrecht BT LH 1, S. 59, Fn. 33; Dreher / Tröndle, StGB, § 211 Rdnr. 5c; Eser , in Schänke / Schröder, § 211 Rdnr. 18,39; Köhler, JZ 1980, S. 238ff.; Lackner, StGB, § 211 Anm. 3a bb; Paeffgen, GA 1982, S. 271f.; Sonnen, JA 1980, S. 747; Wessels, Strafrecht BT 1, S. 23; vgl. auch Jähnke, LK, § 211 Rdnr. 39; a. A. Geilen, Jura 1980 Karteikarte 5 zu § 211 StGB; Kohlhaas, Anm. zu BGH LM Nr. 59 zu § 211 StGB. 106 Wenn hier und im folgenden von Schuldminderung die Rede ist, so soll damit keine Festlegung i. Sinne der dogmatischen Begriffskategorien erfolgen. Nicht ausgeschlossen ist insbesondere, darin auch Varianten des personalen Handlungsunwerts zu erblicken. Da hier nicht abschließend zu der Frage Stellung genommen werden kann, wie sich diese Begriffe voneinander abgrenzen, seien der Kürze halber etwaige Milderungsfaktoren einfach als Schuldminderung verstanden.

76

§ 5 "Bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

Tötungshandlungen ohne Affekt über 90%. Demgegenüber sind bei höchstgradigen Affekttötungen ausländische Täter stark vertreten. Eindrucksvoll ist es auch, wenn wir die Nationengruppen daraufhin untersuchen, ob die Tötungshandlungen im Affekt durchgeführt wurden. Bei inländischen Tätern stellten die Instanzgerichte in rund 70% der Fälle einen zumindest heftigen Affekt fest. Bei ausländischen Tätern beträgt der entsprechende Wert sogar über 95%. Insofern wird erklärbar, daß bei den ausländischen Tätern niedrige Beweggründe tendenziell verneint werden - hat sich doch bereits eingangs gezeigt, daß Affekttötungen anscheinend mordentlastende Bedeutung beigemessen wird. Ein weiteres (und mit den Affekttötungen eng verflochtenes) Erklärungsmuster ist ferner darin zu sehen, daß bei den nichtdeutschen Tätern häufiger als bei inländischen Tätern Konflikttötungen zu registrieren waren: Tabelle 9: Zusammenhänge zwischen Konflikttötungen und der Nationalität der Täter

i

Langzeitkonflikt

:I I

i

27

:

54 '70 (56 '70) 9 60 '70 (19 '70)

Ku rzzei tkünfli kt

12

kein Konflikt Total

Deutsche Täter

80

%

(25 '70)

I

48 60 %

I I

I I I I I I I I

i

I

Ausländische Täter

i

23

:

46 '70

(72 '70)

6 40 % (19 '70)

3

20 (9

% %)

32

40 '70

I I

I

Total

50 63 '70

I I I

15 19 '70

I

15 19 %

I I

i

I

80

Tabelle 9 zeigt, daß Tötungen ohne Konflikt ganz überwiegend von deutschen Tätern begangen werden (80% : 20%). Auffällig ist ferner, daß bei ausländischen Delinquenten nur in knapp 10% der Tötungshandlungen keine Konflikte vorliegen, dagegen in über 70% der Fälle (regelmäßig besonders zermürbende) Langzeitkonflikte. Die entsprechenden Werte bei den Deutschen unterscheiden sich erheblich: Ein Viertel der Tötungen wurden ohne irgendwelche Konfliktlagen durchgeführt, und "nur" in etwas über der Hälfte der Fälle waren Konflikte vorausgegangen. Möglicherweise reflektieren diese Zusammenhänge unterschiedliche sozio-kulturelle Dispositionen und ein divergierendes (herabgesetztes) individuelles Beherrschungspotential: Aber wie auch immer - für den Zusammenhang erscheint wesentlich, daß bei Affekt- und Konflikttötun-

11. Mangelnde Präzision bei der Handhabung

77

gen in der Praxis offenbar eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit besteht, daß die Niedrigkeit der Rachemotivation verneint wird. Im Einklang damit steht auch der starke Zusammenhang zwischen der Ablehnung der Motivgeneralklausel und dem Umstand, daß Anlaß für das Rachemotiv eine Kränkung war, die ihrerseits zu einer Ehrverletzung führte (vgl. oben Tabelle 9): sind doch solche Verhaltensmerkmale regelmäßig Ausdruck von interpersonellen Konflikten. ,07 Auch ist naheliegend, daß diese Anlässe häufig zu Affekthandlungen führen. ,08 Dementsprechend wird man bei diesen Fällen zu Recht nicht von der geforderten (vorwerfbaren) "Verächtlichkeit" der Rachemotivation sprechen können. Auch bewegen sich solche Provokationstötungen möglicherweise im Umfeld des Notwehrexzesses und erscheinen dementsprechend (latent) schuldgemindert. 109 Man kann aber auch noch einen Schritt weitergehen und die Ablehnung der Niedrigkeit der Rachemotivation in Fällen eines Mitverschuldens des Opfers mit viktimologischen Erwägungen erklären. 110 Indessen, ob und inwieweit solche Überlegungen in die richterliche Praxis miteinfließen, muß offenbleiben. Ob sich aus diesen Tendenzen aber Gesichtspunkte für eine Versachlichung der Motivgeneralklausel ergeben, wird unten (§§ 9ff.) zu prüfen sein. Schließlich bleibt andererseits festzuhalten, daß bei Vorliegen anderer Mordmerkmale offenbar eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, daß zusätzlich noch die Rachemotivation als besonders verwerflich bezeichnet wird. 'll Dies erscheint insofern plausibel. als sich die Tatrichter bei Tatumständen, die, wie etwa eine "hinterhältige Art der Tatausführung", der damit schon vorgegebenen besonderen Verwerflichkeit kaum entziehen werden. Dieser Überblick über zusammenhangsstarke Merkmale bei der Bewertung von Rache als Tötungsbeweggrund hat in mehrfacher Hinsicht interessante Aspekte aufgezeigt: 101 In der Gesamtpopulation waren bei der Variablen "verletzte Ehre, Kränkung" folgende Konfliktmuster zu registrieren (N = 22): 73% Langzeitkonflikte, 22% Kurzzeitkonflikte. 108 Jedenfalls konnten die Instanzgerichte bei der Variablen "verletzte Ehre, Kränkung" nur in einem Fall (N = 22) keinen Affekt feststellen. 109 S. speziell Eser, DJT-Gutachten, D 129. Allgemein zu den Voraussetzungen des sog. intensiven Notwehrexzesses, vgl. Jescheck, Lehrbuch, S. 397f.; Lenckner, in Schönke / Schröder, § 33 Rdnr. 1 ff., je m. weit. Nachw. 110 Vgl. Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, passim, insbes. S.269f.; derselbe, Einfluß des Opferverhaltens, S.20; Schünemann, Bockelmann-Festschrift, S. 130, 132, Fn. 61. Ferner Eser, DJT-Gutachten, D 129 und Rengier, ZStW 92 (1980), S.477. 111 Bemerkenswerterweise handelte es sich dabei um das relativ leicht zu bejahende Mordmerkmal der heimtückischen Tötung. Wegen der geringen Zahl der Fälle ist dieser Zusammenhang indes nicht überzubewerten (N=5).

78

§ 5 "Bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

Affekt- und Konflikttötungen erwiesen sich als die differenzierungsstärksten Variablen bei der Frage, ob und wann Rachemotivationen als niedrige Beweggründe eingestuft werden, und zwar in dem Sinne, daß bei Vorliegen dieser Umstände eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit besteht, daß Mord verneint wird. Dies deutet darauf hin, daß letztlich die (menschliche) Nachvollziehbarkeit der Racheemotion bei der Tatbewertung ausschlaggebend sein dürfte. Gezeigt wurde aber auch, daß sich dieser Privilegierungsansatz zudem mit Argumenten, die der Ebene der strafrechtlichen Reaktion entnommen sind, abstützen läßt. Freilich finden sich in den Urteilen keine dezidierten Ausführungen zur Notwendigkeit der (absoluten) Strafe. Daß sich in der instanzgerichtlichen Praxis offenbar Schwierigkeiten ergeben, die teilweise diffizilen Anforderungen des BGH zur "inneren" Tatseite '12 zu erfüllen, ein solcher Verdacht wurde durch die Zusammenhänge mit dem Merkmal "Alkoholisierung" genährt. Darauf wird noch zurückzukommen sein (unten b.bb). Nach diesen allgemeinen Tendenzen sind einige Merkmale noch gesondert zu betrachten: 2. Vertiefung: Handhabungsschwierigkeiten Gefährlichkeitsansätze?

In einem ersten Schritt wird untersucht, mit welchen weiteren Tat- und Tätermerkmalen Zusammenhänge bei der Bewertung der Rachemotivation bestehen (a). Im Anschluß wird die oben erwahnte These weiterverfolgt, daß in der instanzgerichtlichen Praxis die speziellen Anforderungen des BGH zur "inneren" Tatseite teilweise anderen Bewertungsmustern unterworfen sein könnten (b). a) Zusammenhänge mit bestimmten Merkmalen Bei der Gesamtwürdigung, ob die Vergeltungsmotivation als sittlich besonders verwerflich zu bewerten ist, könnte der Tatausgang eine Rolle spielen, ist doch bei einer vollendeten Tötung im Vergleich zu einer bloß versuchten Tötungshandlung der Erfolgsunwert erhöht. 113 Indes ergeben sich insoweit keine Zusammenhänge mit der Tatbewertung: Sowohl bei Versuch wie auch bei Vollendung bejahten die Instanzgerichte in rund 30% der Rachemotivationen eine niedrige Gesinnung." 4 Dieser Befund bekräftigt im Ergebnis die von Sessar bei seiner empirischen Untersuchung zur Tötungskriminalität festgestellten Resultate: Zwar wird danach 112 113 114

S. oben § 3 Ir B. Vgl. aber § 23 Abs. 2 StGB: fakultativer gesetzlicher Strafmilderungsgrund. N =23.

H. Mangelnde Präzision bei der Handhabung

79

von den Richtern vom Tatausgang auf den Tötungsvorsatz geschlossen. Eine darüber hinausgehende Bedeutung der Schwere des Handlungserfolgs in bezug auf die Bewertung der Tat als Mord war jedoch nicht nachzuweisen." 5 Sessar vermutet insofern zwei unterschiedliche Definitionsebenen: So sollen Handlungen des Verdächtigen primär die Frage des Tötungsvorsatzes präjudizieren. Sofern der Tötungsvorsatz bejaht sei, gerate bei der Einordnung der vorsätzlichen Tötungshandlung als Mord oder Totschlag das situative Geschehen in den Vordergrund. Dabei werde der notwendige Mordunwert ganz maßgeblich durch die Beziehungen zwischen Täter und Opfer bestimmt. 116 Diese Schlußfolgerung findet sich zunächst bestätigt, wenn wir den

Verletzungsgrad des Opfers betrachten: Zwar führten nahezu 95% der

Rachemotivationen zu schwerer Invalidität des Opfers bzw. sogar zu dessen Tod,117 gleichwohl ergaben sich keine signifikanten Bewertungsunterschiede im Hinblick auf § 211 bzw. § 212 StGB bei bloß leichten Verletzungen des Opfers. Auch bei der Angriffsdauer" 8 waren keine Zusammenhänge mit der Bewertung der Tat als Mord bzw. Totschlag zu erkennen: Obwohl sich auf der Grundlage der "Sittlichkeitsprämisse" vertreten ließe, daß Rachetötungen bei lang andauerndem Angriff auf das Opfer besonders "verächtlich" seien, wurde die Niedrigkeit sowohl bei kurzem wie auch bei nachhaltigem Angriff jeweils in ca. einem Drittel der Fälle bejaht. 119 Möglicherweise kommt aber bei lang andauernden Tötungshandlungen die Affekthaftigkeit schuldmindernd zum Tragen. '2• Was schließlich den Einfluß der Tötungsmittel anbelangt, so beschränkt sich deren Bedeutung nach der These von Sessar auf die Definition des Tötungsvorsatzes. 121 Auch wäre bei konsequenter Beibehaltung des Verwerflichkeitsgrundsatzes zu erwarten, daß besonders gefährlichen Tatmitteln keine mordrelevante Definitionsstärke zukommt. Denn ob dem Opfer der Tod durch Erdrosseln, Ersticken, Erschlagen oder Erschießen 115 116

Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S. 182, 188. Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S. 188f.

111 N = 23. Gleiches gilt insofern auch für Tötungen, bei denen ausschließlich andere als Rachemotive vorlagen (N = 57). Tod, Invalidität und schwere Verletzung wurden zusammengefaßt. 118 Als nachhaltiger Angriff wurden eingestuft: Mehr als zwei Schüsse, Stiche bzw. Schläge, länger andauerndes Würgen, Drosseln bzw. Ersticken. 119 N = 23. 120 Jedenfalls ergaben sich in der Gesamtpopulation Zusammenhänge zwischen Affekthandlungen und lang andauernden Tötungsausführungen (siehe im Anhang § 14 Tabelle 27). 121 Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S. 182, 188f. Freilich zeigte sich dann bei seiner Untersuchung, daß dieser Variablen - im Einklang mit den Befunden im Haupttext - durchaus Bedeutung bei der Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag zukam: s. Sessar, aaü, S. 182, Tabelle 38, rechte Spalte.

80

§5

"Bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

beigebracht wird, macht vom Unrechts- und Schuldgehalt der Rachetötungen her keinen Unterschied. 122 Jedoch scheinen sich in der instanzgerichtlichen Praxis insoweit Gefährlichkeitsmomente bei der Bewertung der Rachemotivationen niederzuschlagen. Tabelle 10 zeigt die Ergebnisse, wobei zum Vergleich die Verteilungen bei anderen Beweggründen als Rache gegenübergestellt sind (Tabelle 11): Tabelle 10:

Zusa~~en~än~

bestim~~n

zwischen Niedrigen Beweggründen und

Tötu~~~itteln~!!.achetötun~

Stich: werkzeuge :

I

,

I sonstige I

: I

Total

: : 19% : 16 50'70 31'70 69% I ( 56'70) I I I (80%) ( 75'70) I I I I -------------r----------r---------l----------T--------niedrige I 2 I 4 I I I 7 Beweggründe I 29'3'0 57'70 I 14'70 I 30 bej aht I (20'70) (44%) I (25'70 ) I niedrige Beweggründe vernei nt

:

I

Schußwaffen

8

5

3

i

Total

: I

10 44%

: I

9 39'70

: I

4 17%

: I

23 100'70

Tabelle 11: ~us~~~en~~~~~~ische~_ Niedrige~ Be~~~Q~de~_:!.~~ bestimm~':!._ Tötu':!.~mitteln ohne Rachemotivation

I StichI : werkzeuge :

Schußwaffen

17

13

niedrige Beweggründe verneint

: I

sonstige

: I

Total

: 35% : 25% : 39% : 49 I I (93%) I I 87.5'70 (85'70) (86'70) I I I I -------------r----------r---------l----------T--------niedrige I 3 I I I 3 I 7 Beweggründe I 43'70 I 14'70 I 43'70 I 12 59bejaht I (15%) I (7%) I (14%) I .0 Total

: I

20 36'70

: I

14 25%

19

: I

22 39%

: I

56 100'70

Mit dem Merkmal "sonstige Tatmittel" sind folgende Tatausführungen erfaßt: Würgen, Drosseln oder Ersticken mit den Händen bzw. Strangulationswerkzeugen, Schlagen mit einem Gegenstand oder mit Fäusten. '23 Insofern wurde eine Gefähr122 Jedenfalls sofern keine zusätzlichen Qualen zugefügt wurden. Ebenso Eser, DJT-Gutachten, D 172. 123 Auf eine gesonderte Ausweisung der Schlagwaffe mußte wegen einer zu geringen Häufigkeit in Tabelle 10 verzichtet werden.

11. Mangelnde Präzision bei der Handhabung

81

lichkeitsstufung zugrunde gelegt, erscheinen doch Tötungshandlungen mit Stichwerkzeugen gefährlicher als die vorgenannten Tatausführungen. Daß darüber hinaus von einer Schußwaffe eine weitaus größere Gefährlichkeit als von jedem anderen Tatmittel ausgeht, daran dürfte (aus präventiver Sicht) kein Zweifel bestehen. Und zwar nicht nur deshalb, weil das Opfer einem mit Schußwaffe auftretenden Täter ungleich wehrloser gegenübersteht als einem unbewaffneten oder nur mit einer Stichwaffe ausgerüsteten Täter, gegen den eine Abwehr wohl nicht völlig ausgeschlossen ist. Auch dürfte die Hemmschwelle zur Tötung sehr viel niedriger sein, wenn der Täter sich aufgrund der Möglichkeit, eine Schußwaffe einsetzen zu können, überlegen fühlt.

Auffällig ist zunächst, daß bei Tötungen aus Rache Stichwerkzeuge (Messer, Dolch, Schere etc.) und Schußwaffen als Tatmittel im Vergleich zu Tötungen aus sonstigen Beweggründen überrepräsentiert sind (83% bei Rachetötungen, 61 % bei anderen Beweggründen). Dies könnte darauf hindeuten, daß bei Vergeltungstötungen der Täter sich eher vorsieht, seinem Abrechnungsdenken auch durch entsprechend wirksame Tatmittel zum Erfolg zu verhelfen. Im Hinblick auf die richterliche Bewertung fällt auf, daß bei Tötungen mit einer Schußwaffe, sofern sie aus Rache eingesetzt wurde, in fast jedem zweiten Fall Mord bejaht wurde. Demgegenüber kommt bei der Vergleichsgruppe (Tabelle 11) dieser Tatwaffe kaum Bedeutung im Hinblick auf § 211 StGB zu. Bemerkenswert ist auch der in den Tabellen zum Ausdruck kommende unterschiedliche Trend: Bei Rache als Tötungsmotiv nehmen die Prozentanteile der Urteile, bei denen Mord bejaht wurde, mit der Gefährlichkeit der Tatwaffe zu (sonstige Tatwaffen: 14% niedrige Beweggründe; Stichwerkzeuge: 29% niedrige Beweggründe; Schußwaffen: 57% niedrige Beweggründe). Bei ausschließlich anderen Tatmotiven dagegen ist die Tendenz eher gegenläufig: Bei den Tatausführungen mittels Schußwaffe wurde nur in jedem 7. Fall die besondere Verwerflichkeit der Tatmotivation bejaht. Insofern läßt sich vermuten, daß Vergeltungsdenken um so eher als "verächtlich" eingestuft wird, je rücksichtsloser der Täter seine Interessen durchzusetzen versucht. 12. Auch besser mit Gefährlichkeitsansätzen 125 zur Deckung zu bringen sind gewisse Zusammenhänge mit der Beziehung zwischen Täter und Opfer:

Aus Tabelle 12 ergibt sich folgender Trend: Je enger die Täter-OpferBeziehung ist, desto weniger häufig sind Rachemotive als niedrige Beweggründe eingestuft: Wird bei primärer Täter-Opfer-Beziehung nur jeder 7. Fall als Mord bezeichnet, so sind es bei sekundärer Täter-OpferBeziehung knapp ein Drittel der Rachetötungen. 126 12. Vgl. in diesem Zusammenhang Eser, DJT-Gutachten, D 172, der de lege ferenda als zumessungsqualifizierendes Regelmerkmal die "Tötung mit unerlaubt mitgeführter Schußwaffe" vorschlägt. 125 Vgl. dazu eingehend unten § 9 11.

6 Heine

82

§ 5 "Bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

:

primäre T-O-Beziehung

I

6 40 % (86 ')'0)

I I

niedrige Beweggründe verneint niedrige Beweggründe bejaht Total

I I I I I I

i

I

14 (14

1

% %)

7 32 ')'0

chi 2 = 3,23

: I I

I I I

I

I I I

I I

sekundäre T-O-Beziehung 6 40 ')'0 (75 %) 2 29 ')'0 (25 ')'0) 8 36 ')'0 df = 2;

i

keine Beziehung

I

3 20 ')'0 (43 ')'0)

I I I I

I

I I I

i

I p

4 57 % (57 ')'0) 7 32 %

i

I I

I

I I

Total 15 68 ')'0

I I I I

32

I

22 100 ')'0

I

7

%

= 0,19

Bei Tötungen von Fremden dagegen wurde bei knapp 60% der Vergeltungsmotive die Niedrigkeit des Beweggrundes bejaht. Insofern ließe sich damit argumentieren, daß bei Rachetötungen, die nicht aus einer speziellen Täter-Opfer-Beziehung resultieren, eine besondere Gemeinschaftsbedrohlichkeit dokumentiert ist - kann doch Opfer solcher Vergeltungsaktionen potentiell jeder werden. Deshalb ist nicht absolut ausgeschlossen, daß solche sozialpsychologischen Mechanismen unter dem Aspekt der positiven Integrationsprävention, also der Erhaltung des Vertrauens der Allgemeinheit in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung,127 Eingang finden in die richterliche Definition. 128 Denkbar ist freilich auch, daß die Tat umso eher einer (schuldmindernden) Affekt~ bzw. Konfliktsituation entspringt, je näher sich Täter und Opfer gestanden haben. Die geschlechtsspezifischen Täter-Opfer-Verhältnisse lassen zunächst keine Relevanz bei der Bewertung von Racheemotionen erkennen: Bei gleichgeschlechtlicher und gegengeschlechtlicher Täter-Opfer-Beziehung bejahten die Tatrichter in je knapp einem Drittel der Tötungshandlungen eine niedrige Gesinnung. '29 Sofern wir aber zum Vergleich die 126 Für die Zuordnung zur Gruppe der primären Täter-Opfer-Beziehung waren folgende Verhältnisse entscheidend: Ehegatten, einschließlich Verlobte und Lebensgefährten, ferner enge Freundschaften. Bekanntschaften, auch flüchtige, wurden ebenso der Gruppe sekundäre Täter-Opfer-Beziehung zugewiesen wie entferntere Verwandte. In der dritten Gruppe wurden fehlende Beziehungen zusammengefaßt, insbesondere Fremde. 127 Zu der gängigen Unterscheidung zwischen negativer Abschreckungsprävention und positiver Integrationsprävention vgl. hier nur statt vieler Müller-Dietz, Grundfragen, S. 18, 26, 40ff. sowie eingehend unten § 9. 128 S. eingehend unten § 9 I B. 129 N = 16 bzw. N = 7.

11. Mangelnde Präzision bei der Handhabung

83

Tötungen ohne Rachemotive heranziehen, fällt auf, daß dort bei Gleichgeschlechtlichkeit in keinem Fall, bei Gegengeschlechtlichkeit dagegen in knapp über 20% dieser Fallgruppe niedrige Beweggründe angenommen werden. 130 Die Tötung von Mann/Frau bzw. Frau/Mann '3' verliert also an Bedeutung, wenn Rache festzustellen war. In allen Gruppen waren meistens Frauen Opfer von Männern. So gesehen scheinen die Richter in dem Umstand, daß Opfer der Tötung eine Frau war, bei Rachetötungen im Gegensatz zu anderen Motiven - keinen sozial ethischen Unterschied zu sehen. Wenden wir uns nun der Frage zu, ob sich die weiter oben erwähnte These, daß die vom BGH mit speziellen Anforderungen zur "inneren" Tatseite gelösten Sachverhalte in der instanzgerichtlichen Praxis möglicherweise anderen Bewertungsmustern unterworfen sind, erhärten läßt: b) Probleme der inneren Tatseite am Beispiel von § 21 StGB Da es sich bei der Formel des BGH, der Täter müsse fähig gewesen sein, seine gefühlsmäßigen Regungen gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern, 132 letztlich nur um eine Spezifizierung der allgemeinen Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) handelt, 133 werden im folgenden Zusammenhänge mit dem gesetzlichen Schuldminderungsgrund des § 21 StGB untersucht. Zu erwarten wäre, daß bei Vorliegen von verminderter Schuldfähigkeit meistens die Niedrigkeit der Motivation verneint wird, sofern die dogmatischen Vorgaben des BGH in der instanzgerichtlichen Praxis befolgt und umgesetzt werden. Denn wenn schon bei schwerer, im Vorfeld der §§ 20,21 StGB liegender seelischer Abartigkeit das erforderliche Motivationsbewußtsein und das notwendige Beherrschungsvermögen nach Ansicht des BGH fraglich sind,'34 so muß dies tendenziell umso mehr gelten, wenn sogar die ("biologischen" und "psychologischen") 130 N = 23 bzw. N = 34. Auch Sessar (Definition der Tötungskriminalität, S. 182) konnte bei seiner Untersuchung die Bedeutung der gegengeschlechtlichen (Mann/Frau bzw. Frau/Mann) Täter-Opfer-Beziehung bei der Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag belegen. 131 Wobei nur in einem Fall eine Frau verurteilt wurde (N = 23). So gesehen scheinen Rachetötungen - mehr noch als die Tötungskriminalität überhaupt (vgl. oben Tabelle 1) - typische Männerdelikte zu sein. 132 S. die Nachweise oben § 3 11 B zu und bei Anm. 70. 133 Ebenso Eser, NStZ 1981. S. 386. Siehe auch Horn, SK, § 211 Rdnr.17, aber auch Jähnke, LK, § 211 Rdnr.36. S. auch unten § 12 I. m. 134 BGH bei HoItz, MDR 1980, S. 985; BGH 1 StR 159/81 vom 7. 5. 1981 sowie die Nachw. b. Eser, NStZ 1981, S. 385f. und NStZ 1983, S. 436. Vgl. auch Dreher / Tröndle, StGB, § 211, Rdnr. 12; Eser, in Schönke / Schröder, § 211 Rdnr. 39; Horn, SK, § 211 Rdnr. 17; Lackner, StGB, § 211 Anm. 3a bb; WesseIs, Strafrecht BT 1, S. 23. S. auch Jähnke, LK, § 211 Rdnr. 36.

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§ 5 "Bewußtseinsintensive" Verwerflichkeitsbetrachtung des BGH

Voraussetzungen dieser gesetzlichen Schuldmilderungsgründe erfüllt sind. 135 Was zunächst die allgemeine Bedeutung der Zubilligung verminderter Schuldfähigkeit angeht, so erscheint die hier festgestellte Quote von knapp 60% bei sämtlichen Rachetötungen hoch. 136 Dies entspricht freilich dem Anteil des § 21 StGB in der Grundgesamtheit der untersuchten Tötungsdelikte. 131 Im Vergleich zu früheren Studien, die zur Tötungskriminalität (insgesamt) durchgeführt wurden (sich also nicht auf 1 Mordmerkmal beschränkten), sind diese Werte indessen extrem. 138 Möglicherweise spiegelt sich in diesen Unterschieden eine spezielle Instrumentalisierung des § 21 StGB bei der Motivgeneralklausel wider: Denn gerade wenn ein Merkmal objektive Konturen weitestgehend vermissen läßt und sich die Auslegung an ausschließlich sittlichen Maßstäben orientiert, erscheint es plausibel, wenn (möglicherweise vorschnell) auf das (scheinbar)13' sicherere Terrain gesetzlicher Bewertungsgesichtspunkte zurückgegriffen wird. Diese These wird erhärtet, wenn die rechtliche Bewertung betrachtet wird: Trotz Vorliegens von § 21 StGB bejahten die Instanzgerichte in rund 40% von Vergeltungstötungen die Niedrigkeit des Beweggrundes. 140 Werden als Vergleich die Tötungshandlungen 135 In diesem Sinne auch Rengier, ZStW 92 (1980), S.474. Zum Verhältnis von niedriger Gesinnung und verminderter Schuld fähigkeit vgl. einerseits Rengier, ebda, der eine Trennbarkeit verneint, und andererseits Stratenwerth, v. WeberFestschrift, S. 186 f: Nach ihm berührt § 21 StGB die verwerfliche Einzeltatgesinnung nicht, eine verminderte Schuldfähigkeit schmälere nur den Vorwurf, eine solche Gesinnung in die Tat umgesetzt zu haben. S. auch Lenckner, in SchönkejSchröder, Vorbem. 119 vor §§ 13ff. m. weit. Nachw. , 136 N = 23.

N = 80, dabei wurde in 49 Fällen § 21 StGB bejaht. Zwar ist seit 1954 bis Ende der 70er Jahre ein ständig steigender Trend bei der Zubilligung von § 21 StGB zu verzeichnen, eine derart hohe Quote konnte indes bisher in keiner Untersuchung festgestellt werden: So nahm der Anteil von Tötungen, bei denen eine verminderte Schuldfähigkeit angenommen wurde, nach einer Untersuchung von Röhl (Lebenslange Freiheitsstrafe, S. 40) im Zeitraum von 1954-1966 von 6,3% auf 17% zu. Rieß kam bei seiner Studie zur Tötungskriminalität (vorsätzliche Tötungen, die in Hamburg von 1954 bis 1966 abgeurteilt wurden, N = 130) sogar zu einem entsprechenden Wert von 40% (MschrKrim 53 (1970), S.48). Kreuzer registrierte 1974 einen Anteil von einem Drittel vermindert Schuldfähigen (wegen eines Morddelikts verurteilten Erwachsenen; ZRP 1977, S. 51). Und Sessar (Definition der Tötungskriminalität, S. 180f.) stellte bei seiner Untersuchung (230 vorsätzliche und fahrlässige Tötungsdelikte, Aktenuntersuchung in Baden-Württemberg 1970 j 71) fest, daß in 48% der Urteile § 21 StGB zugebilligt wurde (s. auch oben § 2 III A und Kerner, ZStW 98 (1986), S.893f.). 139 Zu den Schwierigkeiten, die "psychologischen Voraussetzungen" iSd §§ 20,21 StGB (Minderung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit) zu bestimmen, vgl. nur Lenckner, in SchönkejSchröder, § 21 Rdnr. 5 m. zahlr. Nachw. und Glatzel, Mord und Totschlag, S. 25ff. 140 N = 13. 137

13.

11. Mangelnde Präzision bei der Handhabung

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herangezogen, bei denen andere als Rachemotive vorlagen, so ergibt sich folgendes: Bei verminderter Schuldfähigkeit wurde nur in knapp 10% der Fälle Mord bejaht.'·' Diese Bewertungsunterschiede lassen die Schlußfolgerung zu, daß sich spezifische schuldfähigkeitsbeeinträchtigende Störungen - jedenfalls bei Motivationen, die im Zusammenhang mit Tötungen sozialethisch tendenziell eher zu mißbilligen sind - in der Praxis nicht so sehr bei dem Mordschuldvorwurf niederschlagen als vielmehr rechtsfolgenorientiert an einem "vernünftigen" Ergebnis: Sofern nämlich eine Strafmilderungsmöglichkeit gesetzlich vorgesehen ist und deren Voraussetzungen bejaht werden, kann ohne Rücksicht auf dogmatische Zwänge sowie unter Verzicht auf schwierige Interpretationen der "gedanklichen" Beherrschungsfähigkeit des Täters die gebotene Strafsanktion aus einem Strafrahmen von 3 -15 Jahren Freiheitsstrafe "ausgewählt" werden (§ 49 Abs. 1 Ziff. 1 StGB).142 3. Ergebnis

Als Ergebnis können damit Gesichtspunkte auf unterschiedlichen Ebenen fest gehalten werden: Gezeigt wurde, daß sich die Bewertung bei Rachemotiven in der Praxis offenbar sehr stark daran orientiert, ob Affekt- und Konflikttötungen vorliegen. In diesen Fällen besteht eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, daß die Rachemotivation als nicht besonders verwerflich eingestuft wird. Gezeigt wurde aber nicht nur, daß sich diese Privilegierungsansätze teilweise auch mit Gefährlichkeitsprämissen untermauern lassen. Auch war festzustellen, daß in der Praxis möglicherweise Gefährlichkeitskriterien mit in die Gesamtwürdigung von Tat und Täter einfließen. Eine ganz andere Frage ist natürlich, ob und inwieweit auf solche Gesichtspunkte legitimerweise abgestellt werden kann (vgl. dazu unten § 9). Der Überblick über die Bewertung von Rachemotiven hat ferner gewisse Unterschiede bei der Anwendung der speziellen Anforderungen des BGH zur inneren Tatseite deutlich gemacht. Am Beispiel der verminderten Schuldfähigkeit konnte demonstriert werden, daß sich die Instanzgerichte anscheinend häufig rechtsfolgenbezogen an "vernünftigen" ErN=36. Vgl. in diesem Sinne auch Kreuzer, ZRP 1977, S. 50f.; Sessar, Definition der Tötungskriminalität, S. 181 ff., 192ff. S. auch Eser, DJT-Gutachten, D 54 und bereits oben § 2 III. A. - Daß sich die Praxis bei obligatorischer Höchststrafe wohl zwangsläufig um derartige Umgehungsstrategien bemühen muß (s. aber unten §§ 9, 11, 12), zeigt auch ein Blick in die Schweiz: Recht vorsichtig drückt sich der schweizerische Bundesrat aus, wenn er die Einführung eines flexiblen Strafrahmens bei Mord de lege ferenda deshalb empfiehlt, weil "in Mordfällen manchmal etwas gekünstelte Strafmilderungsgründe" angenommen werden, "um die lebenslange Zuchthausstrafe vermeiden zu können" (BBl. 1985 11 S. 1022). 1