Träume eines Geistersehers. Der Unterschied der Gegenden im Raume 9783787326303, 9783787303113

Die Träume eines Geistersehers (1766) sind von Interesse, weil sie den Autor als Skeptiker in Sachen Metaphysik ausweise

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Träume eines Geistersehers. Der Unterschied der Gegenden im Raume
 9783787326303, 9783787303113

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IMMANUEL KANT

Träume eines Geistersehers Der Unterschied der Gegenden im Raume Unter Verwendung des Textes von Karl Vorländer mit einer Einleitung herausgegeben von KLAUS REICH

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 286 1905 Herausgegeben von Karl Vorländer (PhB 46b) 1975 Unter Verwendung des Textes von Karl Vorländer mit einer Einleitung herausgegeben von Klaus Reich

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der Ausgabe von 1975 identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-0311-3 ISBN eBook: 978-3-7873-2630-3

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1975. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­ papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in www.meiner.de Germany.

INHALT Vorwort von Klaus Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung von Klaus Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik Ein Vorbericht, der sehr wenig für die Ausflihrung verspricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der erste Teil, welcher dogmatisch ist Erstes Hauptstück . . . . . . . . . . Zweites Hauptstück . . . . . . . . . . Drittes Hauptstück . . . . . . . . . . Viertes Hauptstück . . . . . . . . . .

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Der zweite Teil, welcher historisch ist Erstes Hauptstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Hauptstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drittes Hauptstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Beilage: Kants Brief über Swedenborg an Fräulein

Charlotte von Knobloch . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang: Kants Brief an Mendelssohn über die "Träume eines Geistersehers" . . . . . . . . . . . . . . .

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Register A. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VORWORT Die vorliegende Ausgabe der beiden letzten Veröffentlichungen Kants vor der lateinisch geschriebenen Abhandlung "Über die Form und die Prinzipien der Sinnen- und Geisteswelt", die 1770 schon die der "Kritik der reinen Vernunft" zugrunde gelegte eigentümliche Raumtheorie Kants enthält, gibt den Text der Vorländersehen Ausgabe in der Philosophischen Bibliothek von 192 f, dasselbe gilt für den als Beilage eingelegten Brief Kants über Swedenborg an Fräulein von Knobloch. Im Interesse einer allgemeineren Brauchbarkeit werden am Rand die Seitenzahlen des II. bzw. X. Bandes der Akademieausgabe von Kants gesammelten Schriften angegeben. Als Anhang folgt Kants Brief an Mendelssohn über die "Träume eines Geistersehers" nach dem Text der Schöndörfferschen Ausgabe in der Philosophischen Bibliothek. Die Einleitung des Herausgebers versucht, Kants Behandlung des Raumbegriffs in beiden Veröffentlichungen zu bestimmen; es ist dies eine für das Verständnis der Genese und damit auch der Eigenart - der Raumtheorie der "Kritik der reinen Vernunft" unerläßliche Aufgabe. Das Mittel des Versuchs ist wesentlich die Konfrontation beider Abhandlungen; das Ziel: die Aufdeckung der gedanklichen Situation, wie sie nach beiden Veröffentlichungen flir den Autor bestand. Marburg/Lahn

Klaus Reich

•Vorländers Fußnoten blieben erhalten. Sie geben Erläuterungen zu Namen, Übersetzungen fremdsprachiger Zitate und Varianten der Erstdrucke, späterer Ausgaben bzw. Bearbeiter und der Akademieausgabe. Die Siglen A. B und C stehen für die drei vorhandenen Drucke der 1766 anonym erschienenen Schrift .Träume eines Geistersehers" in der von Warda (Die Druckschriften Immanuel Kants, Wiesbaden 1919, S. 21. Nr. 41-43) angegebenen Reihenfolge.

EINLEITUNG Kants Behandlung des Raumbegriffs in den "Träumen eines Geistersehers" und im "Unterschied der Gegenden im Raum" Verglichen mit dem Hauptwerk aus Kants früher schriftstellerischer Epoche, dem "Einzigmöglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" (von 1762/3), zeigen seine "Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik" (verfaßt Herbst 1765, erschienen Anfang 1766) unverkennbar eine weitaus skeptischere Haltung in Sachen der Metaphysik. Das theoretische Endresultat: das einflirallemal Abgetanseinlassen eines Kernstücks der Leibniz-Wolffischen Philosophie, der Rationalen Psychologie (Pneumatologie)- ist in dieser Beziehung deutlich genug. Aber offensichtlich ist der Autor auch kein Skeptiker schlechthin: "Geometrie und Erfahrung" bleiben unangefochtene Autoritäten und John Locke steht - obwohl nicht genannt - als wahrer "Kritiker der Vernunft" im Hintergrund. In einem Punkte freilich mag der Autor bei näherem Zusehen nicht sonderlich "kritisch" erscheinen: das ist die Art und Weise wie er in der Schrift den Raumbegriff faßt: er legt ihn ganz so, wie ihn die Wolffische Philosophie versteht, zugrunde. Dies kann verwundern. Denn schon 1763 in dem "Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen" übt Kant Kritik an dieser Fassung des Raumbegriffs. Vorrede, 3. Absatz: "Die Metaphysik sucht z. E. die Natur des Raumes und den obersten Grund zu finden, daraus sich dessen Möglichkeit verstehen läßt. Nun kann wohl hiezu nichts behülflicher sein, als wenn man zuverlässig erwiesene Data irgend woher entlehnen kann, um sie in seiner Betrachtung zum Grunde zu legen. Die Geometrie liefert deren einige, welche die allgemeinsten Eigenschaften des Raumes betreffen, z. E. daß der Raum gar nicht aus einfachen Theilen bestehe; allein man geht sie vorbei und setzt sein Zutrauen lediglich auf das zweideutige Bewußt-

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sein dieses Begriffs, indem man ihn auf eine ganz abstracte Art denkt. Wenn dann die Speculation nach diesem Verfahren mit den Sätzen der Mathematik nicht übereinstimmen will, so sucht man seinen erkünstelten Begriff durch den Vorwurf zu retten, den man dieser Wissenschaft macht, als wenn die Begriffe, die sie zum Grunde legt, nicht von der wahren Natur des Raumes abgezogen, sondern willkürlich ersonnen worden. Die mathematische Betrachtung der Bewegung, verbunden mit der Erkenntniß des Raumes, geben gleicher Gestalt viel Data an die Hand, um die metaphysische Betrachtung von der Zeit in dem Gleise der Wahrheit zu erhalten. Der berühmte Herr Euler hat hiezu unter andem einige Veranlassung gegeben [Histoire de l'Acad. Royale des sc. et helles lettr. L'ann. 1748], allein es scheint bequemer, sich in finstern und schwer zu prüfenden Abstractionen aufzuhalten, als mit einer Wissenschaft in Verbindung zu treten, welche nur an verständlichen und augenscheinlichen Einsichten Theil nimmt." Das zweideutige Bewußtsein des Raumbegriffs, wobei man ihn auf eine ganz abstrakte Art denkt, bezieht sich auf Wolffs Definition des Raumes als Feld der Wechselwirkungen von Substanzen überhaupt. Was mit der Zweideutigkeit und der ganz abstrakten Art gemeint ist, erhellt gut aus dem Gebrauch, den Kant schon zwei Jahrzehnte früher in seiner Erstlingsschrift "Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte" davon macht. In § 6 wird der Begriff des In-einem-Orte-Seins oder Dem-Raume-nach-verbundenSeins definiert als "das, was die Wirkungen der Substanzen in einander andeutet", und erläutert, daß demzufolge sowohl der Einfluß der Seele auf die Materie als deren Bewegungsursache wie auch die Eindrückung von Vorstellungen und Bildern in die Seele durch die Materie ortsbestimmte, also im Raum auftretende Vorkommnisse sind. Genau das ist der Aspekt in den "Träumen eines Geistersehers". Der Unterschied ist dabei der, daß Kant hier die Möglichkeit des Einflusses von Seele auf Leib und Leib auf Seele keineswegs mehr wie 1746 begreiflich findet. Handelt es sich doch dabei um Grundkräfte, und Grundkräfte sind grundsätzlich nicht begreiflich, sondern können nur durch

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die Erfahrung bekannt sein. Dies ist der Fall mit der "Solidität" der Materie, die diese von einem Gespenst oder bloßen Schattenbild unterscheidet: Wir kennen durch Erfahrung den Widerstand, den ein materieller Körper einem in "seinen" Raum eindringenden materiellen Körper leistet; die Frage nach der Möglichkeit davon aber ist unangreifbar, weil der Begriff eines bestimmten materiellen Körpers bloß empirisch, u. z. eben von jener Widerstandserfahrung abstrahiert ist: res extensa. Diese Auffassung schließt die Möglichkeit von irgendetwas im Raume Wirkenden und insofern im Raume Gegenwärtigen, das diese Solidität nicht besitzt, nicht aus, aber sofern es nicht in die Sinne fällt, gibt es von ihm keinen Erfahrungsbegriff, und mit der Frage nach der Möglichkeit davon steht es natürlich nicht besser als mit der im Fall der Solidität. Setzt man also ein auf die Materie wirkendes rein geistiges Wesen (oder auch unmittelbar aufeinander wirkende reine Geister) an, so steht, obwohl die Möglichkeit der Art seiner Gegenwart im Raume nicht konkret gedacht werden kann - es leistet dem materiellen Ding, auf das es wirkt, ja keinen Widerstand -, dem Gedanken seiner unmittelbaren Gegenwart im Raum allerdings nichts entgegen - im Gegenteil, dieser Begriff ist dann ganz zwangläufig. Der Raumbegriff ist also wirklich in den "Träumen eines Geistersehers" so vieldeutig und ganz abstrakt gefaßt wie anno 1746. Nur: 1746 vertritt Kant wirklich - wie die ganze Abhandlung über den Streit um die lebendigen Kräfte zeigt diesen Lehrbegriff, während ihm 1766 - ebenso wie 1763 - klar ist, daß "es nicht ganz just mit dieser Sache" ist. Warum läßt er sie dann in den "Träumen eines Geistersehers" doch gut sein? Was immer man dazu sagen können mag, eins ist jedenfalls sicher: Dieser zweideutige und ganz abstrakte Lehrbegriff vom Raume ist ein kaum entbehrliches Hilfsmittel der eigentlichen Grundabsicht des witzigen Werkchens: "Erläuterung der Träume eines Geistersehers und der Träume der Metaphysik durch einander". Denn mit Hilfe dieser Raumtheorie wird einerseits das Hellsehen (von dem Swedenborg Kunde gibt) wenigstens ein theoretisch möglicher (wenn-

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gleich nicht in concreto denkbarer) Begriff, und andererseits hängt die metaphysische Rationale Psychologie Wolffs (kosmischer Charakter des Verhältnisses von Leib und Seele, Unsterblichkeit der Menschenseele) auch an seinem Raum- (und Zeit-)begriff. Daß es sich bei dem von Kant in den ,.Träumen eines Geistersehers" verwendeten Raumbegriff um Wolffs Theorie handelt, kann ein Blick in dessen Ontologie (§ 544-641, speziell § 588-593) bestätigen. Das nähere Studium dieser Paragraphen kann uns aber auch über die Absicht, der der Wolffische Lehrbegriff seinen Ursprung verdankt, belehren. In § 611 nota gibt er einen Überblick über die Genese seiner Raumdefinition. Nachdem er auf Descartes Bezug genommen hat, fährt er fort: "propius tarnen ad veritatem accessit de Cordemoy in Dissertatione de corporibus et materia, dum spatium concipit meram possibilitatem corporum ponendorum: spatium enim resultat ex possibilitate coexistendi (§ 591)." Damit ist angedeutet, daß das Problem der Erklärung der leibseelischen Zuordnung bei der Bildung seiner "Definition des Raumes" Pate gestanden hat. Geraud de Cordemoy ist der Urheber des Okkasionalismus. Wir gewinnen also die Erkenntnis, daß es sich in den "Träumen eines Geistersehers" bei Kants Widerlegung der Rationalen Psychologie Wolffs um eine partiell jedenfalls immanente Widerlegung handelt, immanent nämlich, was den dabei verwendeten Raumbegriff anlangt. Was er darüber hinaus mit ins Spiel bringt, wurde schon angedeutet: einen "kritischen" Grundsatz über die Grenzen der menschlichen Vernunft (John Locke): daß sie keine Grundkräfteapriori erdenken darf und daß demzufolge die Widerspruchslosigkeit einer angenommenen Grundkraft nichts für ihre Möglichkeit beweist und die Möglichkeit einer Grundkraft unmöglich a priori behauptet werden kann. Die Abfuhr der Wolffischen ,,Pneumatologie" ist dann einfach. Eben sein Raumbegriff stützt etwas, das nach dem Grundsatz über die Grenzen der menschlichen Vernunft nicht a priori als Möglichkeit behauptet werden darf, a priori als Möglichkeit ab, u. z. durch seine eigene "Zweideutigkeit" und "bloße Abstraktheit", nämlich als "Begriff des Verhältnisses des zu-

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gleich Existierenden sofern es nämlich zusammen existiert" (Ontologie§ 589), wobei zu beachten sei(§ 591): "spatium adeo resultat ex possibilitate coexistendi." Als ob Raum, wo immer er vorläge, im Prinzip als Folge einer in den Augen der Vernunft vorhergehenden realen Möglichkeit angesehen werden müsse, und als ob so gedachte reale Möglichkeiten ein Feld erlaubter Spekulationen abgäben, mittels derer die Vernunft sich auf Geheimnisse, auf die sie im Felde der Erfahrung stößt, einen Vers machen dürfe. Z. B. auf das Geheimnis der Leib-Seele-Beziehung. 1 ) (Der ganz junge Kant des "Streits um die lebendigen Kräfte" hat sofort die in Wolffs Raumbegriff liegende Konsequenz gezogen.) So mag also die Absicht, Geisterseherei und metaphysische Psychologie zu parallelisieren, und die andere, Wolffs Rationale Psychologie wenigstens zum Teil mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, Kants Verwendung des Wolffischen Raumbegriffs in den "Träumen eines Geistersehers" verständlich machen, obwohl er ihn nicht ftir sich selber akzeptiert. Ohne weiteres verständlich ist bei dieser Sachlage jedenfalls ferner, daß Kant in seiner nächsten Publikation, die freilich nur in einem Königsherger Lokalblatt erfolgt ist, dem Essay "Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume" (Februar 1768), es unternimmt, Wolffs Raumbegriff, bzw. eine Anwendung desselben - die auf den wirklichen Weltraum - zu widerlegen. Ein solches Unternehmen ist nämlich keineswegs notwendigerweise als eine Umkippung gegenüber einer von Kant in den "Träumen eines Geistersehers" vertretenen Position anzusehen; viel angemessener scheint es zu sein zu

1) Für die Beurteilung des Ergebnisses der "Träume eines Geistersehers" bezüglich der Möglichkeit des Geistersehens folgt aus seiner Abhängigkeit von dem zugrundegelegten Raumbegriff, daß es bei einer Abänderung der Theorie vom Wesen des Raumes seinerseits dem Schicksal ausgesetzt ist, abgeändert werden zu müssen. Die "Kritik der reinen Vernunft" nimmt denn auch zu dem Problem in sehr verschärfter Form Stellung, vgl. etwa 2. Aufl., S. 712 und 799/800 und überhaupt das ganze Kapitel "Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen".

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sagen, es handele sich dabei um ein Weiterspinnen der in den "Träumen" vorliegenden "dialektischen Situation" oder "argumentativen Lage": anstelle eines mit Absicht gewählten Pro tritt ein mit Absicht gewähltes Kontra. Ein solches Verfahren ist ja nur fair. Eine Bestätigung dieser Auffassung scheint in der im ersten Absatz der Abhandlung beschworenen Partnerschaft zu liegen. Verdanken wir dem lobenden Hinweis der "Negativen Größen" von 1763 auf Leonhard Eulers den Grundlagen der Mechanik gewidmete philosophische Reflexionen über Raum und Zeit die Kenntnis von Kants Einschätzung des Wolffschen Lehrbegriffs des Raumes als ein sich Aufhalten in "finsteren und schwer zu prüfenden Abstraktionen", so vernehmen wir am Anfang unseres Essays die Berufung auf ebendieselbe Eulersche Schrift als bestes methodisches Vorbild. Als gemeinsames Ziel beider Versuche bezeichnet Kant einen Beweis, daß der absolute Raum unabhängig von dem Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe, wobei Euler sich auf die allgemeinsten Bewegungsgesetze und Kant auf gewisse Grundlagen der Geometrie zu stützen suchen. Zum Verständnis dieses Lobes und der Problemstellung der Abhandlung ist folgendes zu beachten. Vorausgesetzt ist, daß die Meßkünstler (Geometer) einen absoluten Raum, d. h. einen immateriellen, nicht empirischen Raum als Feld von Konstruktionen in Form von frei entworfenen, in Gedanken durchführbaren Bewegungen gebrauchen, um durch solche Konstruktionen Grundbegriffe und zum Beweis von Sätzen notwendige Hilfslinien einzuführen: wie es eben in Euklids klassischem Lehrbuch der geometrischen Elemente geschieht. Daß das ein legitimes "heuristisches" Verfahren ist, darüber sind Wolffund Euler und Kant einig (ebenso wie Lambert und D'Alembert, um noch ein paar andere kompetente Zeigenossen zu nennen). Die Frage ist, ob man auch die Wirklichkeit dieses imaginären absoluten Raumes "der Geometer" behaupten oder, anders formuliert, ob man diesen Begriff in den Lehrbegriff der Naturwissenschaft aufnehmen kann. Die Leibnizianer leugnen es, Euler tut es. Er

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will es, um für die Mechanik den Unterschied von Bewegung und Ruhe als einen absoluten zu gewinnen. In diesem Punkte in Übereinstimmung mit Newton und Clarke. Diese allerdings suchten eine positive Entscheidung darüber mit den Mitteln einer auch den Gottesbegriff verwendenden Spekulation zu erzwingen {ähnlich wie Leibniz und Wolff im berühmten Briefwechsel mit jenen die negative These) und gerieten dabei in die Notwendigkeit der Annahme der Realität des leeren Raumes, d. h. der Wirklichkeit des Raumes ohne irgendwelche in ihm existierende Dinge, d. h. als Feld der göttlichen Schöpferkraft. Davon nun ist Euler weit entfernt. In seiner Theoria motus corporum solidarum seu rigidorum ( 1765), in der er denselben Standpunkt einnimmt wie in der von Kant gerühmten Abhandlung von 1748, formuliert er seine These auf Seite 47 wie folgt: "Est ergo locus" - und ebenso spatium - "aliquid a corporibus non pendens neque merus mentis conceptus; quid autem extra mentem realitatis habeat, definire non ausim, etiamsi in eo aliquam realitatem agnoscere debeamus." Kant nun billigt Eulers so formuliertes Beweisziel "irgendeine eigene Realität des absoluten Raumes, wobei die Art dieser Realität noch ein Rätsel bleibt" ebenso wie seine Methode, allerdings keineswegs seinen Rettungsversuch für den Begriff des absoluten Unterschiedes von Ruhe und Bewegung. Es ist wichtig, dies zu betonen, weil die Historiker der Kantischen Philosophie im allgemeinen Kants Position von 1768 mit der von Newton und Clarke identifizieren. Das ist ebenso falsch wie die Behauptung, daß überhaupt eine radikale sachliche Urnkippung in Sachen der Auffassung vom Wesen des Raumes in Kants Kopf zwischen 1765/66 und 1768 stattgefunden habe. Hiervon war ja schon die Rede. 2 )

2) Um sich zu überzeugen, daß Kant die Annahme der Realität eines leeren absoluten Raumes - jedenfalls von 175& ab - nicht ernst genommen hat, lese man den "Neuen Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe" von 1758, 2. Absatz, Ende; zweitens Herders Metaphysiknachschrift (1762/64), S. 161 (Akad. Ausg. von Kants Schriften, Bd. XXVIll); drittens Kants Dissertation von 1770 § 150. Freilich wirft die letzte Stelle die Frage auf, ob und wenn in welcher

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Freilich könnte einen der aus dem Gesamtzusammenhang herausgerissene Anfang der Kantischen Formulierung des Beweisziels seiner Abhandlung ("daf~ der absolute Raum unabhängig von dem Dasein aller Materie ... ") zu der Vermutung führen, daß er die Existenz des leeren absoluten Raumes beweisen wolle. Aber eben der Gesamtzusammenhang und der so nachdrücklich hervorgehobene Punkt der positiven Übereinstimmung mit Euler zwingt zu der Deutung: evident gemacht werden soll eine eigene (im übrigen erst noch näher zu bestimmende) Realität des Raumes indifferent gegen den Unterschied voller und leerer Raum, und dies so, daß damit die Möglichkeit eines bloß leeren Raumes als existierender Wirklichkeit gar nicht in Betracht gezogen sein, vielmehr die eigene Realität des absoluten Raumes wesensmäßig auf die Struktur der Materie Bezug haben soll. 3 ) Neben Eulers verglichen mit Newton bescheidenem Beweisziel wird seine Methode gelobt. Dies im Gegensatz zu Woltfs Vorgehen: Euler stützt sich auf "zuverlässig erwiesene Data", um seine philosophische These zu beweisen, er sucht die Gewinnung der Entscheidung "gleichsam a posteriori auszuführen (nämlich vermittelst anderer unleugbaren

Form die Dissertation an der Idee der Abhandlung von 1768 Kritik übt. Nötig ist das bei dem literarischen Charakter und dem problematisch bleibenden Resultat der Schrift von 1768 keineswegs. 3) Eine Bestätigung liefert eine Randbemerkung zu der Raumdefinition in Baumgartens "Metaphysik", Akad. Ausg. von Kants Schriften, Bd. XVII, Nr. 3892 aus der Zeit 1766/68: "Ob es ein Spatium absolutum odertempusabsolut um gebe, würde so viel sagen wollen, ob man zwischen zwey Dingen im Raume alles dazwischen liegende vernichten könne und doch die bestimmte leere Lücke bleiben würde, und ob, wenn ein ganzes Jahr Bewegungen und Veränderungen überhaupt aufhöreten, nicht das folgende anheben könne, so daß ein leeres Zwischenjahr verlaufen wäre. Wir lösen diese Schwierigkeiten nicht auf, sondern antworten unsern Gegnern durch die retorsion, weil ihre Auffassung eben diese S.chwierigkeiten hat." Man sieht, was als Gegenstand der Untersuchung in Betracht gezogen wird, ist lediglich die Art der Beziehung zwischen vollen und leeren Räumen (Zeiten), keineswegs aber das Problem einer Wirklichkeit des absoluten leeren Raumes.

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Sätze, die selbst zwar außer dem Bezirke der Metaphysik liegen, aber doch ... einen Probierstein ihrer Richtigkeit abgeben können)". Man wird das, was hier ftir besonders lobenswert erklärt wird, flir einesteils recht trivial, andernteils reichlich unbestimmt ansehen mögen. Da dürfte es nützlich sein, sich zu vergegenwärtigen, daß die hier genannten Forderungen nur ein Resümee dessen sind, was sich als philosophische Methodenlehre aus den "Träumen eines Geistersehers" herausziehen läßt. Gegenüber Mendelssohn, der da urteilte: .,Der scherzende Tiefsinn, mit welchem dieses Werkchen geschrieben ist, läßt den Leser zuweilen im Zweifel. ob Herr Kant die Metaphysik hat lächerlich, oder die Geisterseherey glaubhaft machen wollen", sieht Kant sich genötigt, das methodisch Wesentliche seiner Kritik an Wolffs Rationaler Psychologie zu präzisieren. Brief vom 8. April 1766: "Meiner Meinung nach kommt alles darauf an, die Data zu dem Problem aufzusuchen, wie ist die Seele in der Welt gegenwärtig sowohl den materiellen Naturen als den anderen von ihrer Art. Man soll also die Kraft der äußeren Wirksamkeit und die Receptivität von außen zu leiden bei einer solchen Substanz finden, wovon die Vereinigung mit dem menschl. Körper nur eine besondere Art ist. Weil uns nun keine Erfahrung hierbei zu statten kommt, dadurch wir ein solches Subjekt in den verschiedenen Relationen könnten kennen lernen, welche einzig und allein tauglich sind, seine äußere Kraft oder Fähigkeit zu offenbaren und die Harmonie mit dem Körper nur das Gegenverhältnis des innern Zustandes der Seele (des Denkens u. Wollens) zu dem äußeren Zustande der Materie unseres Körpers, mithin kein Verhältnis einer äußeren Tätigkeit zu einer äußeren Tätigkeit entdeckt, folglich zur Auflösung der quästiongar nicht tauglich ist, so frägt man ob es an sich möglich sei durch Vernunfturteile a priori diese Kräfte geistiger Substanzen auszumachen." Antwort: Nein, das ergibt bloß bloßes Blendwerk, "und mein Versuch von der Analogie eines wirklichen sittlichen Einflusses der geistigen Naturen mit der allgemeinen Gravitation ist eigentlich nicht eine ernstliche Meinung von mir sondern ein Beispiel wie weit man und zwar ungehindert in philosophischen Erdichtun-

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gen fortgehen kann wo die data fehlen, und wie nötig es bei einer solchen Aufgabe sei auszumachen was zur solution des problems nötig sei und ob nicht die dazu notwendigen data fehlen. Wenn wir demnach die Beweistümer aus der Anständigkeit oder den göttlichen Zwecken so lange bei Seite setzen und fragen ob aus unseren Erfahrungen jemals eine solche Kenntnis von der Natur der Seele möglich sei die da zureiche die Art ihrer Gegenwart im Weltraume sowohl in Verhältnis auf die Materie als auch auf Wesen ihrer Art daraus zu erkennen, so wird sich zeigen ob Geburt (im metaphysischen Verstande), Leben und Tod etwas sei, was wir jemals durch Vernunft werden einsehen können. Es liegt hier daran auszumachen, ob es nicht hier wirklich Grenzen gebe, welche nicht durch die Schranken unserer Vernunft, nein der Erfahrung, die die data zu ihr enthält, festgesetzt sind." Während also die Frage nach der Art der Gegenwärtigkeit der Seele im Raum aus Mangel an Data, nämlich auf Grund von Schranken der Erfahrung, die die Data zu aller unserer Erkenntnis enthält, u. z. letztlich wegen der Diskrepanz der Data des äußeren und des inneren Sinnes, unbeantwortbar ist und so die Vernunftidee des Geistes leer bleibt, mag unsere Erfahrung vielleicht hinreichende Data enthalten, um die Frage nach der Wirklichkeit des absoluten Raumes zu entscheiden. Man muß neugierig sein, welcher Art solche Data sind. Es handelt sich in der Abhandlung "von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume" zwar eigentlich nur um ein einziges "Datum", aber dieses wird erst nach dreifacher Vorbereitung gewonnen. Der Weg führt nach und nach zum Ziel, bisweilen aber auch mit erläuternder Vorwegnahme von solchem, was seinen systematischen Ort erst später hätte. Zunächst lenkt Kant die Aufmerksamkeit auf das Verfahren, dessen wir Menschen uns zur Bestimmung der Lage wirklicher Objekte bedienen. (Ich modernisiere in der Wiedergabe etwas.) Wir führen in Gedanken ein Bezugssystem ein und wählen eben dadurch flir den Raum eine Orientierung. Denn alle rechtwinkligen Koordinatensysteme zerfallen in zwei Klassen, die sich wie rechte und linke

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Hand verhalten: es ist nicht möglich, das eine mit dem anderen durch Drehen oder Fortbewegen zur Deckung zu bringen, aber jedes rechtwinklige Koordinatensystem kann entweder mit dem einen oder dem anderen System koinzidieren. Es ist erforderlich, das Verhältnis zu dem gewählten Koordinatensystem (als einem Objekt) jedem weiteren Objekt als "Eigenschaft" zuzuschreiben, die es ohne Bezug auf das erstere nicht besäße. Es ist also nicht möglich, zwei Gegenstände dadurch vollständig zu beschreiben, daß man nur diejenigen Eigenschaften angibt, die ihnen einzeln zukommen, unter Vernachlässigung ihrer Eigenschaften in bezug auf den Raum als Feld der Anordnung. Aber dies ist ein Gesetz unseres Beschreibens der Lagen wirklicher Dinge und nicht ein Gesetz der Natur dieser Dinge selbst. So Absatz 2 und 3. Ein zweites Datum ist die beim Menschen im allgemeinen vorhandene subjektiv klare Empfindung des Unterschiedes der rechten und der linken Körperseite und damit eine Möglichkeit, rechts und links spontan zu unterscheiden unter Vermeidung des Umwegs über die Himmelsrichtungen, eine Möglichkeit, deren sich der Mensch bei der Lagebestimmung von Objekten seiner Umgebung zu bedienen pflegt. Absatz 4. Der dritte Punkt, auf den die Aufmerksamkeit gelenkt wird, ist das empirisch gegebene Vorkommen von Artefakten oder Naturgegenständen, die ungeachtet der Kongruenz ihrer homologen Stücke als ganze nicht durch Drehen oder Fortbewegen zur Deckung zu bringen sind, wie manche Schraubengewinde oder auch die rechte und die linke Hand eines Menschen, oder es gilt dies sogar von Sorten {Arten) von Naturerzeugungen (Lebewesen), wie Schneckenarten, Bohnenarten, Hopfenarten. Bei diesen werden wir also, gestützt auf die empirische Anschauung, darauf aufmerksam gemacht, daß wir es dabei jeweils mit zwei verschiedenen "Dingen" oder Sorten von "Dingen" zu tun haben. Absatz 5. Der eigentlich relevante Punkt muß ja aber nach Kants These über den Raum mit "der gewöhnlichen Evidenz der Meßkünstler" etwas zu tun haben. Dies ist nun beim vierten

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Punkt der Fall: Absatz 6. Das Vorkommen solcher Dinge wie der eben genannten Arten inkongruenter Gegenstücke muß nicht lediglich als ein der empirischen Anschauung zu entnehmendes Faktum angesehen werden, sondern es läßt sich von solchen inkongruenten Gegenstücken vielmehr auch "die Möglichkeit zeigen", "ihre Möglichkeit läßt sich verstehen". Wie? Durch in Gedanken vorgestellte Erzeugung des inkongruenten Gegenstücks zu einem vorgelegten Stück: Man nehme einen Körper an, der ... , man falle die und die Senkrechten ... , man verlängere sie so und so weit ... , so machen die Endpunkte ... das Gesuchte aus. Das hier von Kant angewandte Verfahren ist die sogenannte genetische Definition der Gegenstände. In ihm haben wir das Mittel, das Christian Wolff vom Grafen Tschirnhaus (Medicina mentis 1687) als "Weg zur Erkenntnis der Möglichkeit von Gattungen und Arten der Dinge" übernommen hat und anerkennt, und dies ist ebenfalls nach Christian Wolff gleichzeitig das legitime Mittel, dessen sich die Geometer bedienen, um zu zeigen, ..was für Figuren möglich sind und welches die den Figuren an sich zukommenden Eigenschaften sind", wobei sie sich ersichtlich "ihres absoluten Raumes" (spatium imaginarium) bedienen. So zu lesen in Wolffs Ontologie§ 263-265. 4 )

4) § 263: Generum et specierum possibilitas per genesin rerum sub iis contentarum agnoscitur. . : . Sane Geometrae vel per con· structiones, vel per geneses figurarum ostendunt, ... figuras esse possibiles. . . . Immo iam Euclides in Elementis, quando defini· tionibus geneticis utitur, per geneses species praesertim solidorum constituit. § 264: Ex genesi rerum deduci possunt omnia, quae vel con· veniunt, vel convenire possunt cum speciei, turn generi dato. . .. Exempla habemus in Geometria, ubi ex definitionibus geneticis deducuntur figurarum proprietates. . . . Cum de Tschirnhausen ex spriptis Geometrarum didicisset, quantus sit definitionum geneticarum usus ... , in Medicina mentis artis inveniendi praecepta generalia traditurus definitiones geneticas unice commendat. § 265: . . . Non ... negamus, quod in Logicis adstruximus (§ 191.195 .Log.), definitiones geneticas eam habere praerogativam prae nominalibus, ut res definitas esse possibiles ex istis sine ulteriori probatione intelligatur multaque subinde vel intuitiva ratione cognoscantur ....

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In Absatz 7-9 folgt dann die Widerlegung Wolffs. In ihr wird Gebrauch gemacht von einer doppelten Anwendung, die Wolff von seinem .,ontologischen" Raumbegriff, mit dessen Hilfe Kant Wolffs Rationale Psychologie durch eine immanente Widerlegung aus den Angeln gehoben hatte, machen zu können behauptet: Erstens, daß der wirkliche Weltraum (spatium reale) nur in dem äußeren Verhältnis der nebeneinander befindlichen Teile der Materie bestehe (anders ausgedrückt: daß der Begriff des wirklichen Weltraums nur aus der Abstraktion von dem Verhältnis wirklicher Dinge entspringt): so Ontologie ~ 600 unter Rückbezug auf ~ 4 72. Zweitens, daß die possibilitas specierum et generum ex genesi rerum erkannt werden kann. so wie es die Geometrie mittels des spatium imaginarium tut: so Ontologie ~ 263-265. Durch das Zusammennehmen beider Sätze ergibt sich, daß im Fall der Annahme der Existenz von einer und nur einer Menschenhand als der einzigen Wirklichkeit diese Menschenhand sowohl allen Raum einnimmt wie auch nur in Relation zu ihrem Gegenstück als einer von der Geometrie erkannten objektiven Möglichkeit ein vollständig bestimmter Gegenstand ist. Individuum est omnimode determinatum. Dies ist nun wiederum eine zum guten Teil immanente Widerlegung Wolffs. wie auch der Schlußabsatz unserer Abhandlung (Absatz 10) ausdrücklich zugibt, - genau wie in den "Träumen eines Geistersehers". Darüber hinaus wird hier im Schlußabsatz angedeutet, was nötig wäre, um über die partiell immanente Widerlegung des Wolffschen Raumbegriffs zu einer stringenten reinen Sachbegründung der These von der Wirklichkeit des absoluten Raumes zu gelangen: man müßte die Realität des absoluten Raumes, die bei der Reflexion auf zuverlässig erwiesene Data klar ist und von Wolff wider bessere Teileinsicht wegvernünftelt wird, "durch Vernunftideen fassen". Was mag das heißen können? Ich meine, man muß es verstehen als die Aufforderung, die inkongruenten Gegenstücke, die es wirklich gibt und deren Möglichkeit zugleich verstanden werden kann, als Indiz zu verwenden flir eine besondere Qualität ( qualitas sui generis) des absoluten Raumes, die ihn von anderen Gegen-

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Einleitung

ständen, denen man eine absolute Qualität zuschreiben möchte, unterschiede. Bei solchen anderen Gegenständen darf man wohl an die" Vernunftidee von Geistern" ("Träume eines Geistersehers", Erster Teil, Viertes Hauptstück, erster Absatz) denken. Dies wäre der Versuch einer neuen "Ontologie" von unten her. 5 ) Ein solcher Versuch müßte sich im Hinblick auf die "Träume eines Geistersehers" ja wohl alsbald mit der Erwägung konfrontiert sehen, weswegen denn die "Vernunftidee von Geistern" leer, ein bloß negativer Begriff bleiben muß. Und die Antwort würde nach dem Brief an Mendelssohn lauten: wegen der Diskrepanz der Data des äußeren und inneren Sinnes. Welche Konsequenz für die Idee des absoluten Raumes "als Vernunftidee gefaßt" liegt nahe? Vielleicht, daß die Idee des absoluten Raumes nur dann dem Schicksal der Vernunftidee von Geistern entgehen könnte, wenn sie im Unterschied zu dieser mit der Sinnlichkeit wesentlich etwas "der Form nach" zu tun hätte. Aber bis zur Aufstellung einer solchen Hypothese ist flir Kant noch ein weiter Weg. Erst im Herbst 1769 wird er eingeschlagen. Marburg/Lahn

Klaus Reich

5) Eine vorzügliche Beschreibung der doch wohl an John Locke orientierten Auffassung von Ontologie als einer Disziplin, in der gestützt auf vorher entwickelte Tatsachen "das Einfache und All· gemeinste" zuletzt kommen muß, findet man in der "Vorlesungsan· kündigung flir das Wintersemester 1765/66" unter dem Stichwort "Metaphysik".

I.

Träume eines Geistersehers, erläutert durch

Träu1ne der Metaphysik. - - Velut aegri somnia, vanae Finguntur species.a) Hor.

1766.

a) Tt·ügerische Gestalten gleich den Traumbildern eines Kranken, werden erdichtet. (Horaz, De Arte Poetica, v. 7 u. 8.)

/

Ein Vorbericht, der sehr wenig für die Ausführung Terspricht. Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten. Hier finden sie ein unbegrenztes Land, wo sie sich nach Belieben anbauen können. Hypochondrische Dünste, Ammenmärchen und Klosterwunder lassen es ihnen an Bauzeug nicht ermangeln. Die Philosophen zeichnen den Grundriß und ändern ihn wieder11m oder verwerfen ihn, wie ihre Gewohnheit ist. Nur das heilige Rom hat daselbst einträgliche Provinzen; die zwei Kronen des un- 10 sichtbaren Reiches stützen die dritte als das hinfällige Diadem seiner irdischen Hoheit, und die Schlüssel, welche die beiden Pforten der anderen Welt auftun, öffnen zugleich sympathetisch die Kasten der gegenwärtigen. Dergleichen Rechtsame des Geisterreichs, insofern es durch die Gründe der Staatsklugheit bewiesen ist, erheben sich weit über alle ohnmächtige Einwürfe der Schulweisen, und ihr Gebrauch oder Mißbrauch ist schon zu ehrwürdig, als daß er sich einer so verworfenen Prfif11ng auszusetzen nBtig hätte. Allein die gemeinen Erzählungen, die soviel 20 Glauben findan und•) wenigstens so schlecht bestritten sind, weswegen laufen die so ungenützt oder ungeahndet umher und schleichen sich selbst in die Lehrverfassungen ein, ob sie gleich den Beweis vom Vorteil hergenommen (argumentum ab utili) nicht für sich haben, welcher der überzeugendste unter allen ist? Welcher Philosoph bat nicht einmal zwischen den Beteuerungen eines vernünftigen und festfiberredeten Augenzeugen uni\ der inneren Gegenwehr eines unüberwindlichen Zweifels die einfältigste Figur gemacht, die man sich vorstellen kann? Soll er die Richtig- so a) oder ? (Vermutung W i 11 es.)

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch etc.

keit aller solcher Geistererscheinungen gllnzlich ableugnen 1 Was kann er für Gründe anführen, sie zu widerlegen? 318 Soll er auch nur eine einzige dieser Erzählungen als wahrscheinlich einräumen? Wie wichtig wäre ein solches Geständnis, und in welche erstaunliche Folgen sieht man hinaus,•) wenn auch nur eine solche Begebenheit als bewiesen vorausgesetzt werden könnte ! Es ist wohl noch ein dritter Fall übrig, nämlich sich mit dergleichen vorwitzigen oder müßigen Fragen gar nicht zu bemengen, 10 und sich an das Nützliche zu halten. Weil dieser Anschlag aber vernünftig ist, so ist er jederzeit von grllndlichen Gelehrten durch die Mehrheit der Stimmen verworfen worden. Da es ebensowohl ein dummes Vorurteil ist, von vielem, das mit einigem Schein der Wahrheit erzählt wird, ohne Grund nichts zu glauben, als von dem, was das gemeine Gerlicht sagt, ohne Prüfung a 11 es zu glauben, so ließ sich der Verfasser dieser Schrift, um dem ersten Vorurteile auszuweichen, zum Teil von dem letzteren fortschleppen. 20 Er bekennt mit einer gewissen Demtitigung, daß er so treuherzig war, der Wahrheit einiger Erzählungen von der erwähnten Art nachzuspüren. Er fand - - - wie gemeiniglich, wo man nichts zu suchen hat - - - er fand nichts. Nun ist dieses wohl an sich selbst schon eine hinllingliche Ursache, ein Buch zu schreiben; allein es kam noch dasjenige hinzu, was bescheidenen Verfassern schon mehrmals Bücher abgedrungen hat, das ungestllme Anhalten bekannter und unbekannter Freunde. "O"berdem war ein großes Werk gekauft und, welches noch schlimmer so ist, gelesen worden, und diese Mühe sollte nicht verloren sein. Daraus entstand nun die gegenwärtige Abhandlung, welche, wie man sich schmeichelt, den Leser nach der Beschaffenheit der Sache v6llig befriedigen soll, indem er das Vornehmste nicht verstehen, das andere nicht glauben, das übrige aber belachen wird. a) B und C: "hieraus"; Tieftrunk, Rosenkranz, Hartenstein: "und welche ..• zieht man hieraus". Erst Kehrbach hat den ursprünglichen Text wiederhergestellt.

Der erste Teil, welcher dogmatisch ist.

Erstes Hauptstück. Ein verwickelter metaphysischer Knoten, den man nach Belieben auflösen oder abhauen kann. Wenn alles dasjenige, was von Geistern der Schulknabe herbetet 1 der große Haufe erzählt und der Philosoph demonstriert, zusammengenommen wird, so scheint es keinen kleinen Teil von unserem Wissen auszumachen. Nichtsdestoweniger getraue ich mich zu behaupten, daß, 10 wenn es jemand einfiele, sich bei der Frage etwas zu verweilen: was denn das eigentlich für ein Ding sei, wovon man unter dem Namen eines Geistes soviel zu verstehen glaubt, er alle diese Vielwisser in die beschwerliebste Verlegenheit versetzen würde. Das methodische Geschwätz der hohen Schulen ist oftmals nur ein Einverständnis, durch veränderliche Wortbedeutungen einer schwer zu lösenden Frage auszuweichen, weil das bequeme und mehrenteils vernünftige: Ich weiß nicht, auf Akademien nicht leichtlieh gehört wird. Gewisse neuere 20 Weltweisen, wie sie sieb gern nennen lassen, kommen sehr leicht über diese Frage hinweg. Ein Geist, heißt es, ist ein Wesen, welches Vernunft hat. So ist es denn also Imine Wundergabe, Geister zu sehen; denn wer Menschen sieht, der sieht Wesen, die Vernunft haben. Allein, fährt man fort, dieses Wesen, was im Menschen Vernunft hat, ist nur ein Teil vom Menschen, und dieser 'feil, der ihn belebt, ist ein Geist. Wohlan denn: ehe ihr also beweiset, daß nur ein geistiges Wesen Vernunft haben kllnne, so sorget doch, daß ich zuvörderst verstehe, so

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch

was ich mir unter einem geistigen Wesen für einen Begriff zu machPn habe. Diese Selbsttäuschung, ob sie gleich grob genug ist, um mit halb offenen Augen hemerkt zu werden, ist doch von sehr begreiflichem Ur320 sprunge. Denn, wovon man frühzeitig als ein Kind sehr viel weiß, davon ist man sicher, späterhin und im Alter nichts zu wissen, und der :Mann der Gründlichkeit wird zuletzt höchstens der Sophist seines Jugendwahns. Ich weiß also nicht, ob es Geister gebe, ja was noch 10 mehr ist, ich weiß nicht einmal, was das Wort Geist bedeute. Da ich es indessen oft selbst gebraucht oder andere habe brauchen hören, so muß doch etwas darunter verstanden werden, es mag nun dieses Etwas ein Hirngespinst oder was Wirkliches sein. Um diese versteckte Bedeutung auszuwickeln, so halte ich meinen schlecht verstandenen Begriff an allerlei Fälle der Anwendung, und dadurch, daß ich bemerke, auf welchen er trifft und welchem er zuwider ist, verhoffe ich dessen verborgenen Sinn zu entfalten.*) *) Wenn der Begriff eines Geistes von unseren eigenen Er· fahrnngsbegriffen abgesondert wäre, so würde das Verfahren, ihn deutlich zu machen , leicht aein , indem man nur diejenigen Merkmale anzuzeigen bitte, welche uns die Sinne an dieser Art Wesen offenbarten, und wodurch wir sie von materiellen Dingen unterscheiden. Nun aber wird voa Geistern geredet selbst als· dann, wenn man zweifelt, ob es gar dergleichen Wesen gebe. Also kann der Begriff von der geistigen Natur nicht als ein von der Erfahrung abstrahierter behandelt werden. Fragt ihr aber: Wie ist 'man denn zu diesem Begriff überhaupt gtikommen, wenn es nicht durch Abstraktion geschehen ist? Ich antworte: Viele Begriffe entspringen durch geheime und dunkle Schlüsse bei Ge· legenhalt der Erfahrungen und pflanzen sich nachher auf andere fort, ohne Bewußtsein der Erfahrung selbst oder du Schlusses, welcher den Begriff über dieselbe errichttst 0 ) bat. Solche Be· Dergleichen sind griffe kann man erschlich e n e nennen. viele, die zum Teil nichts als ein Wahn der Einbildung, zum Teil auch wahr sind, indem auch dunkle Schlüsse nicht imml'r irren. Der Redegebrauch und die Verbindung eines Ausdrucks mit verschiedenen Erzählungen, in denen jederzeit einerlei Hauptmerkmal anzutr11ffen ist, geben ihm eine bestimmte a) B und C: "erreicht"; so auch die bisherigen Hera11.1geber, :außer der Akademie·Ausgabe.

Träume der ~retaphysik. I. Teil. 1. Hauptst.

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Nehmt etwa einen Raum von einem Kubikfuß und setzet, es sei etwas, das diesen Raum erfüllt, d. i. dem Eindringen jedes anderen Dinges widersteht, so wird niemand das Wesen, was auf solche Weise im Raum ist, geistig nennen. Es würde offenbar materiell heißen, weil es ausgedehnt, undurchdringlich und, wie alles Kllrperliche, der Teilbarkeit und den Gesetzen des Stoßes unterworfen ist. Bis dahin sind wir noch auf dem gebahnten Gleise anderer Philosophen. Allein denkt euch ein einfaches Wesen und gebt ihm zugleieh Vernunft; wird 10 dies alsdann die Bedeutung des Wortes Geist gerade ausfüllen? Damit ich dieses entdecke, so will ieh die 321 Vernunft dem besagten einfachen Wesen als eine innere Eigenschaft lassen, für jetzt es aber nur in äußeren Verhältnissen betrachten. Und nunmehr frage ich: Wenn ich diese einfache Substanz in jenen Raum vom Kubikfuß, der voll Materie ist, setzen will, wird alsdann ein einfaches Element derselben den Platz räumen müssen, damit ihn dieser Geist erfülle? Meinet ihr, ja? wohlan, so wird der gedachte Raum, um einen zweiten Geist ein- 20 zunehmen, ein zweites Elementarteilchen verlieren müssen, und so wird endlich, wenn man fortfährt, ein Kubikfuß Raum von Geistern erfüllt sein, deren Klumpe ebensowohl durch Undurchdringlichkeit widersteht, als wenn er voll Materie wäre, und ebenso wie diese der Gesetze des Stoßes fähig sein muß. Nun würden aber dergleichen Substanzen, ob sie gleich in sich Vernunftkraft haben mögen, doch äußerlich von den Elementen der Materie gar nicht unterschieden sein, bei denen man auch nur die Kräfte ihrer äußeren Gegenwart kennt und, was so zu ihren inneren Eigenschaften gehören mag, gar nicht weiß. Es ist also außer Zweifel, daß eine solche Art einfacher Substanzen nicht geistige Wesen heißen würden, davon Klumpen zusammengeballt werden k!lnnten. Ihr werdet also den Begriff eines Geistes nur beibehalten können, wenn ihr euch Wesen denkt, die sogar in einem von Materie erfüllten Raume gegenwärtig sein Bedeutung, welche folglieh nur da.durch kann entfaltet werden, da.J ma.n diesen versteckten Sinn durch eine Vergleichung mit allerlei Fällen der Anwendung, die mit ibm einstimmig sind oder ihm widerstreiten, aua seiner Dmkelheit hervorzieht.

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch

können*): Wesen also, welche die Eigenschaft der Undurrhdringlichkeit nicht an sich haben, und deren, so viele als man auch will. vereinigt, niemals ein solides Ganze ausmachen. Einfache Wesen von dieser Art werden immaterielle Wesen und, wenn sie Vernunft haben, Geister genannt werden. Einfache Substanzen aber, deren Zusammensetzung ein undurchdringliches und ausgedehntes Ganze gibt, werden materielle Einheiten, ihr Ganzes aber Materie heißen. Entweder der Name eines Geistes ist ein Wort ohne allen 10 Sinn, oder seine Bedeutung ist die angezeigte. 322 Von der Erklärung, was der Begriff eines Geistes enthalte, ist der Schritt noch ungemein weit zu dem Satze, daß solche Naturen wirklich, ja auch nur möglich seien. Man findet in den Schriften der Philosophen a) recht gute Beweise, darauf man sich verlassen kann: daß alles, was da denkt, einfach sein müsse, daß eine jede vernünftigdenkende Substanz eine Einheit der Natur sei, und das unteilbare Ich nicht könne in einem Ganzen von viel verbundenen Dingen verteilt sein. Meine Seele wird also 20 eine einfache Substanz sein. Aber es bleibt durch diesen Beweis noch immer unausgemacht, ob sie von der Art derjenigen sei, die in dem Raume vereinigt ein ausgedehntes und undurchdringliches Ganze geben und also materiell, oder ob sie immateriell und folglich ein Geist sei, ja sogar, ob eine solche Art Wesen als diejenige, so man geistige nennt, nur möglich sei. *) Man wird hier leichtlieb gewahr, dall ich nur von Geistern, die als Teile zum Weltganzen gehören, und nicht von dem un· endlieben Geiste rede, der der Urheber und Erhalter desselben ist. Denn der Begriff von der geistigen Natur des letzteren ist leicht, weil er lediglieb negativ ist und darin beatebt , daß man die Eigenschaften der Materie an ibm verneint, die einer unendlichen und schlechterdings notwendigen Substanz wider· streiten. Dagegen bei einer geistigen Substanz 1 die mit der Materie in Vereinigung sein soll, wie z. E. dar menschlieben Seele, äullert sieb die Schwierigkeit, dai ich eine wechselseitige Verknüpfung derselben mit körperlieben Wesen zu einem Ganzen denken nnd dennoch die einzige bekannte Art der Verbindung, welche unter materiellen Wesen stattfindet, aufheben aoll. a) Kant denkt an Mäoner wie Darjes und Baumgarten {illetaphyllica § U2 ft'.).

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Und hierbei kann ich nicht umhin, vor übereilten Entscheidungen •) zu warnen, welche in den tiefsten und dunkelsten Fragen sich am leichtesten eindringen. Was nämlich zu den gemeinen Erfahrungsbegriffen gehört, das pflegt man gemeiniglich so anzusehen, als ob man auch seine Milglichkeit einsehe. Dagegen, was von ihnen abweicht und durch keine Erfahrung, auch nicht einmal der Analogie nach, verständlich gemacht werden kann, davon kann man sich freilich keinen Begriff machen, und darum pflegt man es gern als unmilglich sofort zu verwerfen. 10 Alle Materie widersteht in dem Raume ihrer Gegenwart und heißt darum undurchdringlich. Daß dieses geschehe, lehrt die Erfahrung, und die Abstraktion von dieser Erfahrung bringt in uns auch den allgemeinen Begriff der Materie hervor. Dieser Widerstand aber, den Etwas iri dem Raume seiner Gegenwart leistet, ist auf solche Weise wohl erkannt, aber darum nicht begriffen. Denn es ist derselbe sowie alles, was einer Tätigkeit entgegenwirkt, eine wahre Kraft und, da ihre Richtung derjenigen entgegensteht, wonach die fortgezogenen Linien der An- 20 näherung zielen, so ist sie eine Kraft der Zurückstoß u n g, welche der Materie und folglich auch ihren Elementen muß beigelegt werden. Nun wird sich ein jeder Vernünftige bald bescheiden, daß hier die menschliche Einsicht zu Ende sei. Denn nur durch die Erfahrung kann man ionewerden, daß Dinge der Welt, welche wir m a t er i e 11 nennen, eine solche Kraft haben, niemals aber die Milglichkeit derselben begreifen. Wenn ich nun Substanzen anderer Art setze, die mit anderen Kräften im Raume gegenwärtig sind als mit jener trei- so benden Kraft, deren Folge die Undurchdringlichkeit ist, so kann ich freilich eine Tätigkeit derselben, welche 323 keine Analogie mit meinen Erfahrungsvorstellungen hat, gar nicht in concreto denken, und indem ich ihnen die Eigenschaften nehme, den Raum, in dem sie wirken, zu erfüllen, so steht mir ein Begriff ab, wodurch mir sonst die Dinge denklieh sind, welche in meine Sinne fallen, und es muß daraus notwendig eine Art von Undenklichkeit entspringen. Allein diese kann darum nicht als eine erkannte Unmöglichkeit angesehen werden, eben dal'Um, 40 a) So A und Akademie; die iibrlg•n: "Entacblie.!lungen"."

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch

weil das Gegenteil seiner Möglichkeit nach gleichfalls uneingesehen bleiben wird, obzwar dessen Wirklichkeit in die Sinne fällt. Man kann demnach die Möglichkeit immaterieller Wesen annehmen ohne Besorgnis, widerlegt zu werden, wiewohl auch ohne Hoffnung, diese Möglichkeit durch Vernunftgründe beweisen zu können. Solche geistige Naturen würden im Raume gegenwärtig sein, sodaß derselbe demungeachtet für körperliche Wesen immer 10 durchdring·lich bliebe, weil ihre Gegenwart wohl eine Wirksamkeit im Raume, aber nicht dessen Erfüllung, d. i. einen Widerstand als den Grund der Solidität enthielte. Nimmt man nun eine solche einfache geistige Substanz an, so würde man unbeschadet ihrer Unteilbarkeit sagen können, da.ß der Ort ihrer unmittelbaren Gegenwart nicht ein Punkt, sondern selbst ein Raum sei. Denn um die Analogie zu Hilfe zu rufen, so müssen notwendig selbst die einfachen Elemente der Körper ein jegliches ein Räumchen in dem Körper erfüllen, der ein pro'20 portionierter Teil seiner ganzen Ausdehnung ist, weil Punkte gar nicht 'feile, sondern Grenzen des Raumes sind. Da diese Erfüllung des Raumes vermittelst einer wirksamen Kraft (der Zu1ücksto.ßung) geschieht und also nur einen Umfang der größeren Tätigkeit, nicht aber eine Vielheit der Bestandteile des wirksamen Subjekts anzeigt, so widerstreitet sie gar nicht der einfachen Natur desselben •), obgleich freilich die Möglichkeit hiervon nicht weiter kann deutlich gemacht werden, welches niemals bei den ersten Verhältnissen der Ursachen und Wirkungen 80 angeht. Ebenso wird mir zum wenigsten keine erweisliche Unm6glichkeit entgegenstehen, obschon die Sache selbst unbegreiflich bleibt, wenn ich behaupte, da.ß eine geistige Substanz, ob sie gleich einfach ist, dennoch einen Raum einnehme (d. i. in ihm unmittelbar tätig sein könne), ohne ihn zu erfüllen (d. i. materiellen Substanzen darin Widerstand zu leisten). Auch wiirde eine solche immaterielle Substanz nicht ausgedehnt genannt werden müssen, so wenig wie es die Einheiten der Materie sind; denn nur dasjenige, was abgesondert von allem und a) sc. dea wirksamen S11bj.,kta; Kant: "derselben" (sc. gelatigen S11bstanz); corr. Wüle.

Träume der Metaphy;;ik. I. Teil. 1. Hauptst.

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für sich allein existierend einen Raum einnimmt, ist 324 ausgedehnt; die Substanzen aber, welche Elemente der Materie sind, nehmen einen Raum nur durch die äußere Wirkung in andere ein, für sich besonders aber, wo keine anderen Dinge in Verknüpfung mit ihnen gedacht werden, und da in ihnen selbst auch nichts außereinander Befindliches anzutreffen ir.t, enthalten sie keinen Raum. Dieses gilt von Körperelementen. Dieses würde auch vou geistigen Naturen gelten. Die Grenzen der Ausdehnung bestimmen die Figur. An ihnen würde also keine Figur 10 gedacht werden können. Dieses sind schwer einzusehende Uründe der vermuteten Möglichkeit immaterieller Wesen in dem Weltganzen. Wer im Besitze leichterer Mittel ist, die zu dieser Einsicht führen können, der versage seinen Unterricht einem Lernbegierigen nicht, vor dessen Augen im Fortschritt der Untersuchung sich öfters Alpen erheben, wo andere einen ebenen und gemächlichen Fußsteig vor sich sehen, den sie fortwandern oder zu wandern glauben. Gesetzt nun, man hätte bewiesen, die Seele des Menschen sei ein Geist (wiewohl aus dem vorigen zu sehen ist, 20 daß ein solcher Beweis noch niemals geführt worden), so würde die nächste Frage, die man tun könnte, etwa diese sein: Wo ist der Ort dieser menschlichen Seele in der Körperwelt? Ich würde antworten: Derjenige Körper, dessen Veränderungen meine Veränderungen sind, dieser Körper ist mein Körper, und der Ort desselben ist zugleich mein Ort. Setzt man die Frage weiter fort: Wo ist dein Ort (der S~ele) in diesem Körper? so würde ich etwas Verfängliches in dieser Frage vermuten. Denn man bemerkt leicht, daß darin etwas schon vorausgesetzt so werde, was nicht durch Erfahrung bekannt ist, sondern vielleicht auf eingebildeten Schlüssen beruht: nämlich daß mein denkendes Ich in einem Orte sei, der von den Örtern anderer Teile desjenigen Körpers, der zu meinem Selbst geMrt, unterschieden wäre. Niemand aber ist sich eines besonderen Ortes in seinem Körper unmittelbar bewußt, sondern desjenigen, den er als Mensch in Ansehung der Welt umher einnimmt. Ich würde mich also an der gemeinen Erfahrung halten und vorläuft&" sagen: Wo ich empfinde, da bin ich. Ich bin ebenso 4() unmittelbar in der Fingerspitze, wie in dem Kopfe. Ich bin es selbst, der in der Ferse leidet, und welchem das

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch

Herz im Affekte klopft. Ich fühle den schmerzhaften •) Eindruck nicht an einem Gehirnnerve, wenn mich mein Leichdorn peinigt, sondern am Ende meiner Zehen. Keine Erfahrung lehrt mich, einige Teile meiner Empfindung von mir für entfernt zu halten, mein unteilbares Ich in 325 ein mikroskopisch kleines Plätzchen des Gehirns zu versperren , um von da aus den Hebezeug meiner Körpermaschine in Bewegung zu setzen oder dadurch selbst getroffen zu werden. Daher würde ich einen strengen Be10 weis verlangen, um dasjenige ungereimt zu finden, was die Schullehrerb) sagten: Meine Seele ist ganz im ganzen Körper und ganz in jedem seiner Teile. Der gesunde Verstand bemerkt oft die Wahrheit eher, als er die Gründe einsieht, dadurch er sie beweisen oder erläutern kann. Der Einwurf würde mich auch nicht gänzlich irre machen, wenn man sagte, daß ich auf solche Art die Seele ausgedehnt und durch den ganzen Körper verbreitet gedächte, so ungefähr, wie sie den Kindern in der gemalten Welt•) abgebildet wird. Denn ich würdil 20 dies Hindernis dadurch wegräumen, daß ich bemerkte: die unmittelbare Gegenwart in einem ganzen Raume beweise nur eine Sphäre der äußeren Wirksamlteit, aber nicht eine Vielheit innerer Teile, mithin auch keine Ausdehnung oder Figur, als welche nur stattfinden, wenn in einem Wesen für sich allein gesetzt ein Raum ist, d. i. Teile anzutreffen sind, die sich außerhalb einander befinden. Endlich würde ich entweder dieses wenige von der geistigen Eigenschaft meiner Seele wissen oder, wenn man es nicht einwilligte, auch zufrieden sein, davon gar so nichts zu wissen. Wollte man diesen Gedanken die Unbegreiflichkeit oder, welches bei den meisten für einerlei gilt, ihre Unmöglichkeit vorrücken, so könnte ich es auch geschehen lassen. Alsdann würde ich mich zu den Füßen dieser Weisen niederlassen, um sie also reden zu hören: Die Seele des Menschen hat ihren Sitz im Gehirne, und ein a) So A, C, Akanemie; die übrigen: "schmerzhaftesten". b) So Darjes in seiner Psychologia naturalis § 103: Totam animam in toto corpore omnibusqua partibus corporis organicis praesentem esse. c) d. i. dem zuerst von Amos Comenius {Nürnberg 1657) herausgegebenen Orbis pictus.

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unbeschreiblich kleiner Platz in demselben ist ihr Aufenthalt.*) Daselbst empfindet sie, wie die Spinne im Mittelpunkt ihres Gewebes. Die Nerven des Gehirns stoßen oder erschüttern sie, dadurch verursachen sie aber, daß nicht dieser unmittelbare Eindruck, sondern der, so auf ganz entlegene Teile des Körpers geschieht, jedoch als *) Man bat Beispiele von Verletzungen, dadurch ein guter Teil des Gehirns verloren worden, ohne daß es dem Menschen das Leben oder die Gedanken gekostet bat. Nach der gemeinen Vorstellung, die ich hier anführe, würde ein Atomus desselben haben dürfen entführt oder aus der Stelle gerückt werden, um in einem Augenblick den Menschen zu entseelen. Die herrschende Meinung, der Seele einen Platz im Gehirno anzuweisen, scheint hauptsäeblich ihren Ursprung darin zu haben, daß man bei starkem Nachsinnen deutlich fühlt, dai die Gehirnnerven angestrengt werden. Allein wenn dieser Scblui richtig wärs, so würde er auch noch andere Örter der Seele beweisen, In der Bangigkeit oder der Freude scheint die Empfindung ihren Sitz im Herzep. zu haben. Viele Affekte, ja die mebrsten äuiem ihre Hauptstärke im Zwerchfell. Das Mitleiden bewegt die Eingeweide, und andere Instinkte äußern ihren Ursprung und Empfindsamkeit in anderen Organen. Die Ursache, die da macht, daß man die nachdenkende Seele vornehmlieb im Gehirne zu empfinden glaubt, ist vielleicht diese. Alles Nachsinnen erfordert die Vermittlung der Z e i c b e n flir die zu erweckenden Ideen, um in deren Begleitung und Unterstützung diesen") den erforderlichen Grad derb) Klarheit zu geben. Die Zeichen unserer Vorstellongen aber sind vornehmlieb solche, die entweder durchs Gehör oder das Gesiebt empfangen sind, welche beide Sinne durch die Eindrücke im Gehirne bewegt werden c), indem ihre Organe auch diesem Teile am nächsten liegen. Wenn nun die Erweckung dieser Zeichen, welche Ca r t es i u s d) ideas materiales nennt, eigentlich eine Reizung der Nerven zu einer ähnlichen Bewegung mit derjenigen ist, welche die Empfindung ehedem hervorbrachte, so wird das Gewebe des Gehirns im Nachdenken vornehmlich genötigt werden, mit vormaligen Eindrücken harmonisch zu beben und dadurch ermüdet werden. Denn wenn das Denken zugleich affektvoll ist, so empfindet man nicht allein Anstrengungen des Gehirns, sondern zugleich Angriffe der reizbaren Teile, welche sonst mit den Vorstellungen der in Leidenschaft versetztau Seele in Sympathie stehen. a) b) c) d)

Kant: "dessen", corr. Tieftrunk. "der" binzugefugt von Tieftrunk, Rosenkranz, Hartenstein, Wille vermutet: "Stellen im Gehirn bewegen". Paslliones animae I, art. 28 ff., 86, 42.

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch

ein außerhalb dem Gehirne gegenwärtiges Objekt vorgestellt wird. Aus diesem Sitze bewegt sie auch die Seile und Hebel der ganzen Maschine und verursacht willkürliche Bcwt>gungen nach ihrem Belieben. Dergleichen Sätze lassen sich nur sehr seicht oder gar nicht beweisen und, weil die Natur der Seele im Grunde nicht bekannt genug ist, auch nur ebenso schwach widerlegen. Ich würde also mich in keine Schulgezänke einlassen, wo gemeiniglich beide Teile alsdann am meisten zu sagen 10 haben, wenn sie von ihrem Gegenstande gar nichts verstehen; sondern ich würde lediglich den Folgerungen nachgehen, auf die mich eine Lehre von dieser Art leiten kann. Weil also nach den mir angepriesenen Sätzen meine Seele in der Art, wie sie im Raume gegenwärtig ist, von jedem Element der Materie nicht unterschieden wäre, und die Verstandeskraft eine innere Eigenschaft ist, welche ich in diesen Elementen doch nicht wahrnehmen Mnnte, wenngleich selbige in ihnen allen angetroffen würde, so könnte kein tauglicher Grund angeführt werden, 20 weswegen nicht meine Seele eine von den Substanzen sei, welche die Materie ausmachen, und warum nicht ihre besonderen Erscheinungen lediglich von dem Orte herrühren sollten, den sie in einer künstlichen Maschine, wie der tierische Körper ist, einnimmt, wo die Nervenvereinigung der inneren Fähigkeit des Denkens und der Willkür zu statten kommt. Alsdann aber würde man kein eigentümliches Merkmal der Seele mehr mit Sicherheit erkennen, welches sie von dem rohen Grundstoffe der 327 körperlichen Naturen unterschiede, und Leib n i z e n s so scherzhafter Einfall, nach welchem wir vielleicht im Kaffee Atome verschluckten, woraus Menschenseelen werden sollen, wäre nicht mehr ein Gedanke zum Lachen. Würde aber auf solchen Fall dieses denkende Ich nicht dem gemeinen Schicksale materieller Naturen unterworfen sein, und, wie es durch den Zufall aus dem Chaos aller Elemente gezogen worden, um eine tierische :Maschine zu beleben, warum sollte es, nachdem diPse zufällige Vereinigung aufgehört hat, nicht auch künftig dahin wiederum zurückkehren? Es ist bisweilen nötig, den Denker, der •o auf unrechtem Wege ist, durch die Folgen zu erschrecken, damit er aufmerksamer auf die Grundsätze werde, durch welche er sich gleichsam träumend hat fortführen lassen.

Träume der Metaphysik. I. Teil. 1. Hauptst.

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Ich gestehe , daß ich sehr geneigt sei, das Dasein immaterieller Naturen in der Welt zu behaupten und meine Seele selbst in die Klasse dieser Wesen zu versetzen.*) Alsdann aber wie geheimnisvoll wird nicht die Gemeinschaft zwischen einem Geiste und einem Körper! Aber wie natürlich ist nicht zugleich diese Unbegreiflichkeit, da unsere Begriffe äußerer Handlungen von denen der Materie abgezogen worden und jederzeit mit den Bedingungen des Druckes oder Stoßes verbunden sind, die hier nicht stattfinden! Denn wie sollte wohl eine im- 10 materielle Substanz der Materie im Wege liegen, damit diese in ihrer Bewegung auf einen Geist stoße, und wie können körperliche Dinge Wirkungen auf ein fremdes Wesen ausüben, das ihnen nicht Tindurchdringlichkeit entgegenstellt, oder welches sie auf keine Weise hindert, 328 sieh in demselben Raume, darin es gegenwärtig ist, zugleich zu befinden? Es scheint, ein geistiges Wesen sei der Materie innigst gegenwärtig, mit der es verbunden ist, und wirke nicht auf diejenigen Kräfte der Elemente, womit diese untereinander in Verhältnissen sind, sondern 2() *) Der Grund biervon, der mir selbst sehr dunkel ist und wabrsebeinlieherweise aueh wohl") so bleiben wird, tri1ft zugleieh auf das empfindende Wesen in den Tieren. Was in der Welt ein Prinzipium des Lebens enthält, sebelnt immaterieller Natur zu sein. Denn alles L e b e n beruht auf dem inneren Vermö"en, sieh selbst nach W i 11 k ü r zu bestimmen. Da hingegen das wesentliche Merkmal der Materie in der Erfüllung des Raumes durch eine notwendige Kraft besteht, die dureb äußere Gegenwirkung besebränkt ist. Daher der Zustand alles dessen , was materiell ist, äußerlieb ab b ä n g end und g ez w n n g e n ist, diejenigen Naturen aber, die s e 1 b s tt ä ti g und aus ihrer inneren Kraft wirksam den Grund des Lebens enthalten sollen, kurz diejenigen, deren eigene Willkür sieb von selber zu bestimmen und zu verändern vermögend ist, sebwerlicb materieller Natur sein können. Man kann vernünftigerweile nicht verlangen, daß eine so unbekannte Art Wesen, die man mehrenteils nur hypothetisch erkennt, in den Abteilungen ihrer verschiedenen Gattungen sollte begriffen werden; zum wenigsten sind di~enigen immateriellen Wesen, die den Grund des tierischen Lebens enthalten, von denjenigen unterschieden , die in ihrer Selbsttätigkeit Vernunft begreifen und Geister genannt werden. a) "wohl" fehlt bei B, C und den bisherigen Herausgebern (au.ller der Akademie).

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch

auf das innere Prinzipium ihres Zustandes. Denn eine jede Substanz , selbst ein einfaches Element der Materie, muß doch irgend eine innere Tätigkeit als den Grund der äußerlichen Wirksamkeit haben, wenn ich gleich nicht anzugeben weiß, worin solche bestehe.*) Andererseits würde bei solchen Grundsätzen die Seele auch in diesen inneren Bestimmungen als Wirkun?:en den Zustand des Universums anschauend erkennen, der die Ursache derselben ist. Welche Notwendigkeit aber verursache, daß 10 ein Geist und ein Körper zusammen Eines ausmache, und welche Gründe bei gewissen Zerstörungen diese Einheit wiederum aufheben, diese Fragen übersteigen nebst verschiedenen anderen sehr weit meine Einsicht, und wie wenig ich auch sonst dreist bin, meine Verstandesfähigkeit an den Geheimnissen det Natur zu messen, so bin ich gleichwohl zuversichtlich genug, keinen noch so fürchterlich ausgerüsteten GPgner zu scheuen (wenn ich sonst einige Neigung zum Streiten hätte), um in diesem Falle mit ihm den Versuch der Gegengründe im Widerlegen 20 zu machen, der bei den Gelehrten eigentlich die Geschicklichkeit ist, einander das Nichtwissen zu demonstrieren. *) Leib n iz sagte, dieser innere Grund aller seiner äuleren Verhältnisse und ihrer Veränderungen sei eine Vor st e II ungsk r a ft, und spätere Philosophen empfingen diesen unausgeführten Gedanken mit Gelächter. Sie hätten aber nicht übel getan, wenn sie vorher bei ~ich überlegt hätten, ob denn eine Substanz, wie ein einfacher Teil der Materie ist, ohne allen inneren Zustand möglich sei, und wenn sie dann diesen etwa 11.icht ausschließen wollten, so würde ihnen obgelegen haben, irgend einen anderen möglichen inneren Zustand zu ersinnen als den der Vorstellungen und der Tätigkeiten, die von ihnen abhängend sind"). Jedermann sieht von selber, daß, wenn man auch den einfachen Elementarteilen der Materie ein Vermögen dunkler Vorstellungen zugesteht, daraus noch keine Vorstellungskraft der Materie selbst erfolge, weil viel Substanzen von solcher Art, in einem Ganzen verbunden, doch niemals eine denkende Einheit ausmachen können. a) Tieftrunk: "seyn", Hartenstein und K.,hrbach: "seien".

Träume der Metaphysik. I. Teil. 2. Hauptst.

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Zweites Hauptstück. Ein Fragment der geheimen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Geisterwelt zu eröffnen. Der Initiat hat schon den groben und an den äußerlichen Sinnen klebenden Verstand zu höheren und abgezogenen Begriffen gewöhnt, und nun kann er geistige und von körperlichem Zeugo enthüllte Gestalten in derjenigen Diirnmerung sehen, womit das schwache Licht der Metaphysik das Reich der Schatten sichtbar macht. Wir wollen daher nach der beschwerlichen Vorbereitung, welche 10 überstanden ist, uns auf den gefährlichen Weg wagen. Ibant obscuri sola sub nocte per umbras, l'erque domos Ditis vacuas et inania regna. ") Virgilius.

Die tote :Materie, welche den Weltraum erfüllt, ist ihrer eigentümlichen Natur nach, im Stande der Trägheit und der Beharrlichkeit, in einerlei Zustande; sie hat Solidität, Ausdehnung und Figur, und ihre Erscheinungen, die auf allen diesen Gründen beruhen, lassen eine physische Iiner Pf\rson rerbunden sind. um sich vermittelst desselben ihres Orts in dem nult.eriellen Weltg-auzen und durch künstliche Organe des VerhUltnisses der ausgedehnten Wesen gegen sich und gegeneinander bewußt zu werden, daß sie aber wohl in die Seelen der Menschen als Wesen von einerlei Natur einfließen kilnuen und auch wirklich jederzeit mit ihnen •) in wechselseitiger Gemeinschaft stehen, doch so, daß in der Mitteilung der Vorstellungen diPjenigen, welche die Seele als ein von der Körperwelt abhängendes Wesl'n in sich l'nthiilt, nicht in andere geistige Wesen, und die Begriffe der letzteren, als anschaul'nde Vorstellungen von immateriellen Ding·en. nicht in das klare Bewußtsein des Menschen übergehen können, wenigstens nicht in ihrer eigentlichen Beschaffenheit, weil die Matl'rialil'n zu beiderlei Ideen von verschiedener Art sind. Es würde sehön sein, wenn eine dergleichen systemat.isehe Verfassung der Geisterwelt, als wir sie vorstellen, nicht lediglich aus dem Begriffe von der g-eistigen Natur überhaupt, der gar zu sehr hypothetisch ist, sondern aus irgend Piner wirklichen und allgemein zug-estandenen Beobachtung könnte geschlossen oder auch nur wahrscheinlich vermutet werden. Daher wage ich es auf die Nachsicht des Lesers, einen Versuch von dieser Art hier einzuschalten, der zwar etwas außer meinem Wege liegt und auch von der Evidenz weit genug entfernt ist, gleichwohl a) Kant: ,.ihr"; corr. Wille.

Träume der Metaphysik. I. Teil. 2. Hauptst.

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aber zu nicht unangenehmen Vermutungen Anlaß zu geben scheint. Unter den Kr'J.ften, die das menschliche Herz bewegen, scheinen einige der miichtigsten außerhalb demselben zu liegen, die also nicht etwa als bloße Mittel sich auf Eigennützigkeit•) und Privatbedürfnis als auf ein Ziel, das innerhalb dem Menschen selbst liegt, beziehen, sondern welche machen, daß die Tendenzen unserer Regungen den Brennpunkt ihrer Vereinigung außer uns in andere vernünftige ·wesen versetzen; woraus ein Streit zweier Kr'cifte 10 entspringt, nämlich der Eigenheit, die alles auf sielt bezieht, und der Gemeinnützigkeit, dadurch das Gemüt gegen andere außer sich getrieben oder gezogen wird. Ich halte mich bei dem Triebe nicht auf, vermöge dessen wir so ~tark und so allgemein am Urteile anderer hiingen und fremde Billigung oder Beifall zur Vollendung des unsrigen von uns selbst so nötig zu sein erachten, woraus wenngleich bisweilen ein übelverstandener Ehrenwahn entspringt, dennoch selbst in der uneigennützigsten und wahrhaftesten GPmütf'lart ein geheimer Zug verspürt wird, dasjenige, was man 20 für sich seihst als gut oder wahr erkennt, mit dem Urteil anderer zu vergleichen undb) beide einstimmig zu machen; imgleichen eine jede menschliche Seele auf dem Erkenntniswege gleichsam anzuhalten, wenn sie einen anderen Jt'ußsteig zu gehen scheint, als den wir eingeschlagen haben; welches alles vielleicht eine empfundene Abhängigkeit unserer eigenen Urteile vom allgemeinen menschlichen Verstande ist und ein Mittel wird, dem ganzen denkenden W!'SP.TJ. eine Art von Vernunfteinheit zu verschaffen. I eh übergehe aber diese sonst nicht unerhebliche Be- so tracbtung und halte mich für jetzt an eine andere, welche ••inleul'htender und beträchtlicher ist, soviel es unsere Absicht betrifft. Wenn wir äußere Dinge auf unser Bedürfnis beziehen, so können wir dieses nicht tun, ohne uns zugleich durch eine gewisse Empfindung gebunden und eingeschr'ci.nkt zu fühlen, die uns merken läßt, daß in uns gleichsam ein fremder Wille wirksam sei und unser eigenes Belieben die Bedingung von äußerer Beistimmung a) Kehrbach, Akademie: ,. die Eigennütlligkeit "• b) Akademie: "um".

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch

nötig habe. Eine geheime Macht nötigt uns, unsere Absic.ht zugleich auf anderer Wohl oder nach fremder Willkür zu richten, ob dieses gleich öfters ungern geschieht und der eigennützigen Neigung stark widerstreitet, und 335 der Punkt, wohin die Richtungslinien unserer Triebe zusammmenlaufen, ist also nicht bloß in uns, sondern es sind noch Kräfte, die uns bewegen, in dem Wollen anderer außer uns. Daher entspringen die sittlichen Antriebe, die uns oft wider den Dank des Eigennutzes fortreißen, 10 das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit, deren jede•) uns manche Aufopferung abdringt und, obgleich beide dann und wann durch eigennützige Neigung überwogen werden, doeh nirgend in der menschlichen Natur ermangeln, ihre Wirklichkeit zu äußern. Dadurch sehen wir uns in den geheimsten Beweggründen b) abhängig von der Rege I des a ligemeinen Willens, und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine m o r a I i s c h e Einh e i t und systematische Verfassung nach bloß geistigen 20 Gesetzen. Will man diese in uns empfundene Nötigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen das sittliche Gefühl nennen, so redet man davon nur als von einer Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursachen derselben •) auszumachen. So nannte Newton das sichere Gesetz der Bestrebungen aller Materie 4), sich einander zu nähern, die Gravitation derselben, indem er seine mathematischen Demonstrationen nicht in eine verdrießliche Teilnehmung an philosophischen Streitigkeiten verflechten wollte, die so sich über die Ursache derselben ereiguen können. Gleichwohl trug er kein Bedenken, diese Gravitation als eine wahre Wirkung einer allgemeinen Tätigkeit der Materie 4 ) ineinander zu behandeln, und gab ihr daher auch den Namen der Anziehung. Sollte es nicht möglich sein, die Erscheinung der sittlichen Antriebe in den denkenden Naturen, wie solche sich aufeinander wechselsweise beziehen, gleichfalls als die Folge einer wahrhaftig tätigen Kraft, dadurch geistige Naturen ineinander einfließen, a) jedes (BC. Gesetz)? [Menzer]; jeder (BC. Antrieb)? [Kehrbach]. b) B, C und die früheren Herausgeber: .,Bewegnngsgründen"; Tgl. 8. 25 11. c) Akademie: "desselben". d) Materien? [Menzer]; vgl. S. 25 1).

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vorzustellen, sodaß das sittliche Gefi\hl diese e m p fu ndene Abhängigkeit des Prh·atwillens vom allgemeinen Willen wäre und eine Folge der natürlichen und allgemeinen Wechselwirkung, dadurch die immatedelle Welt ihre sittliche Einheit erlangt, indem sie sich nach den Gesetzen dieses ihr eigenen Zusammenhanges zu einem Rystem von geistiger Vollkommenheit bildet? Wenn man «Hesen Gedanken soviel Scheinbarkeit zugesteht, als erforderlich ist, um die Mühe zu verdienen, sie an ihren Folgen zu messen, so wird man vielleicht durch den 10 Reiz derselben unvermerkt in einige Parteilichkeit gegen sie verflochten werden. Denn es scheinen in diesem l''alle die Unregelmäßigkeiten mehrenteils zu verschwinden, rlie sonst bi dem Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen hier auf aer Erde 336 so befremdlich in die Augen fallen. Alle Moralität der Handlungen kann nach der Ordnung der Natur niemals ihre vollständige Wirkung in dem leiblichen Leben des Menschen haben, wohl aber in der Geisterwelt nach pneumatischen Gesetzen. Die wahren Absichten, die ge- to heimen Beweggründe vieler aus Ohnmacht fruchtlosen Bestrebungen, der Sieg über sich slbst oder auch bisweilen die verborgene Tücke bei scheinbarlieh guten Handlungen sind mehrenteils für den physischen Erfolg in dem körperlichen Zustande verloren; sie würden aber auf solche Weise in der immateriellen Welt als fruchtbare Gründe angesehen werden müssen und in Ansehung ihrer, nach pneumatischen Gesetzen zufolge der Verknüpfung des Privatwillens und des allgemeinen Willens, d. i. der Einheit und des Ganzen der Geisterwelt, eine der sittlichen ao Beschaffenheit der freien Willkür angemessene Wirkung ausüben oder auch gegenseitig empfangen. Denn weil das Sittliche der Tat den inneren Zustand des Geistes betrifft, so kann es auch natürlicherweise nur in der unmittelbaren Gemeinschaft der Geister die der ganzen Moralität adäquate Wirkung nach sich ziehen. Dadurch würde es nun geschehen, daß die Seele des Menschen schon in diesem Leben, dem sittlichen Zustand zufolge, ihre Stelle unter den geistigen Substanzen des Universums einnehmen müßte, sowie nach den Gesetzen der Bewegung die Materien •) 40 a) A.: "Materie"; corr. Tieftrunk.

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch

des Weltraumes sich in solche Ordnung gegeneinander setzen, die ihren Körperkr'J.ften gemäß ist.*) Wenn denn endlich durch den Tod die Gemeinschaft der Seele mit der Körperwelt aufgehoben worden, so würde das Leben in der anderen Welt nur eine natürliche Fortsetzung derjenigen Verknüpfung sein, darin sie mit ihr schon in diesem Leben gestanden war, und die gesamten Jt'olgen der hier ausgeübten Sittlichkeit würden sich dort in den Wirkungen wiederfinden, die ein mit der ganzen 10 Geisterwelt in unauflöslicher Gemeinschaft st{'hendes Wesen schon vorher daselbst nach pneumatischen Gesetzen ausgeübt hat. Die Gegenwart und die Zukunft würden also gleichsam aus einem Stücke sein und ein stetiges Ganzes 337 ausmachen, selbst nach der Ordnung der Natur. Dieser letztere Umstand ist von besonderer Erheblichkeit. Denn in einer Vermutung nach bloßen Gründen der Vernunft ist es eine große Schwierigkeit, wenn man, um den Übelstand zu heben, der aus der unvollendeten Harmonie zwischen der Moralität und ihren Folgen in dieser Welt 210 entspringt, zu einem außerordentlichen göttlichen Willen seine Zuflucht nehmen muß; weil, so wahrscheinlich auch das Urteil über denselben nach unseren Begriffen von der göttlichen Weisheit sein mag, immer ein starker Verdacht übrig bleibt, daß die schwachen Begriffe unseres Verstandes vielleicht auf den Höchsten sehr verkehrt übertragen worden, da des Menschen Obliegenheit nur ist, von dem göttlichen Willen zu urteilen aus der Wohlgercimtheit, die er wirklich in der Welt wahrnimmt, oder weicht! er nach der Regel der Analogie, gemäß der Naturordnung, ao darin vermuten kann; nicht aber nach dem Entwurfe seiner eigenen Weisheit, den er zugleich dem göttlichen Willen zur Vorschrift macht, befugt ist, neue und will•j Die aus dem Grunde der Moralität entspringenden Wechsel· wirkungen des Menschen und der Geisterwelt, nach den Gesetzen des pneumatischen Einßusses, kllnnte man darein setzen, dal daraus natürlicherweise eine nllhere Gemeinschaft einer guten oder bösen Seele mit guten und bösen Geistern entspringe, und jene dadurch sich selbst dem Teile der geistigen Republik zugesellten, der ihrer Bittlichen Bcscbaft'enheit gemlli ist, mit der Teilnehmung an allen Folgen, die daraus uach der Ordnung der Natur entstehen mögen.

Träume der Metaphysik. I. Teil. 2. Hauptst

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kürliehe Anordnung·f'n in der gegenwärtigen oder künftigen Welt zu ersinnen. Wir lenken nunmehr unsere Betrachtung wiederum in den vorigen Weg ein und niihern uns dem Ziele, welches wir uns vorgesetzt hatten. Wenn es sich mit der Geisterwelt und dem Anteile, den unsere Seele an ihr hat, so verhält, wie der Abriß, den wir erteilten, ihn vorstellt. so scheint fast nichts befremdlicher zu sein. als daß die Heistergemeinschaft nicht eine ganz allgemeine und gewöhnliche Sache ist, nnd das Außerordentliche betrifft fast 10 mehr die Seltenheit der Erscheinungen als die Möglichkeit derselben. Diese Schwierigkeit Hißt sich indessen ziemlich gut heben und ist zum Teil auch schon gehoben worden. Denn die Vorstellung, die die Seele des Menschen von sich selbst als einem Geiste durch ein immaterielles Anschauen hat, indem sie sich in VerhältniH gegen Wesen von ähnlicher Natur betrachtet, ist von derjenigen ganz verschieden, da ihr Bewußtsein sich selbst als einen Menschen vorstellt, durch ein Bild. das seinen Ursprung aus dem Eindrucke körperlicher Organe hat, und 20 welches in•) Verhältnis gegen keine anderen als materielle Dinge vorgestellt wird. Es ist demnach zwar einerlei Subjekt, was der sichtbaren und unsichtbaren Welt zugleich als ein Glied angehört, aber nicht ebendieselbe Person, weil die Vorstellungen der einen, ihrer verschiedenen Beschaffenheit wegen, keine begleitenden Ideen von denen der anderen Welt sind und daher, was ich als Geist 338 denke, von mir als Mensch nicht erinnert wird, und umgekehrt mein Zustand als eines Menschen in die Vorstellung· meiner selbst als eines Geistes gar nicht hinein- SO kommt. Übrigens mögen die Vorstellungen von der Geisterwelt so klar und anschauend sein, wie man will,*) so ist ") Man kann dieses durch eine gewisse Art von zwiefacher Persönlichkeit, die der Seele selbst in Ansehung dieses Lebens sukommt, erläutern. Gewisse Philosophenb) glauben, sich ohne den mindesten besorglichen Einspruch auf den Zustand des festen Schlafes berufen zu können, wenn sie die Wirklichkeit dunkler Vorstellungen beweisen wollen, da sich doch nichts a) "in" fehli bei Tieftrunk, Hartenstein, Rosenkranz. b) z. B. Darjes (l'Byclwlogia empirica § 26).

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch

dieses doch nieht hinlänglich, um mir deren als Mensch howußt zu werden; wie denn sogar di Eröffnung des Ohrs treffen, sondern auf andere Stellen des Haupts fallen, sodaß man ~dauhen muß. die Richtungslinien der Erschütterung werden in der Vorstellung der Seele äußerlich f01tgczogen, und das schallende Objekt in den Punkt ihres Zusammenstoßes versetzt. Ebendasselbe kann, wie mich dünkt, auch von den übrigen drei Sinnen gesagt werden, welche sich darin von dem Gesichte und Gehör unterscheiden, daß der Gegenstand der Empfindung mit den Organen in unmittelbarer 20 Berührung steht und die Richtungslinien des sinnlichen Reizes daher in diesen OrgauPn s!Jlhst ihren Punkt der Vereinigung haben. Um dieses auf die Bilder der Einbildung anzuwenden, so (>rlaube man mir, dasjenige, was Cartesius annahm und die mehrsten Philosophen nach ihm billit,rten , zum Grunde zu legen: nämlich daß alle Vorstellungen der Einbildungskraft zugleich mit gewissen Bewegungen in dem Nervengewebe oder Nervengeiste des Gehirns begleitet sind, welche man ideas materiales nennt •), d. i. vielleicht mit 80 der Erschütterung oder Bebung de.~ feinen Elements, welche~ von ihnen abgesondert wird, und die deljenigen Bewegung ähnlich ist, welche der sinnliche Eindruck machen könnte, wovon er die Kopie ist. Nun verlange ich aber mir cinzur'.iumpn : daß der vornehmste Untcrschied der Nervendaselbst in einem Punkte. Daher, wenn die Empfindung lediglich in diesem Nerven vorgeht, der joCtUJ imagina.rim nich~ auler dem Körper, sondern im Boden des Auges ge11etzt werden mülte, welches eine l:!chwierigkeit macb.t, die ich jetzt nicht auflösen kann , und die mit den obigen 8ätzen sowohl als mit der Erfahrung unvereinbar scheint. a)

Vgl. oben :';. 13 Anm.

Träume der l\Ietaphy$ik. I. Teil. 3. Haupts!.

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bewegung in den Phantasien von der in der Empfindung darin bestehe, daß die Richtungslinien der Bewegung bei jenen a) sich innerhalb dem Gehirne, bei dieser b) aber ;tußerhalb schneiden; daher, weil der foeus imaginarius, darin das Objekt vorgestellt wird, bei den klaren Empfindungen des Wachens außer mir, der von den Phantasien aber, die ich zu der Zeit etwa habe, in mir g-esetzt wird, ich, solange ich wache, nicht fehlen kann, die Einbildungen a.ls meine eigenen Hirngespinste von dem Eindruck der Hinne zu unterscheiden. 1o Wenn man dirses einriiumt. so dünkt mich, daß ich 346 iiber diejenige .Art von Störnng ·des Gemüts, die man den Wahnsinn und im höheren Grade die Verrückung nennt, etwas Begreiflichs zur Ursache anführen könne. Das tm historischen und also die Vernunftgründe vor der Erfahrung voranschickte, so gab ich Ursache zu dem Argwohn, als wenn ich mit Hinterlist umginge und, da ich die Geschichte schon vielleicht zum voraus im Kopfe gehabt haben mochte, mich nur so angestellt hätte, als wüßte ich von nichts als von reinen, abgesonderten Betrachtungen, damit ich den Leser, der nichts dergleichen besorgt, am Ende mit 10 einer erfreulichen Bestätigung aus der Erfahrung überraschen könnte. Und in der Tat ist dieses auch ein Kunstgriff, dessen die Philosophen sich mehrmalen sehr glücklich bedient haben. Denn man muß wissen, daß alle Erkenntnis zwei Enden habe, bei denen man sie fassen kann, das eine a priori, das andere a posteriori. Zwar haben verschiedene Naturlehrer neuerer Zeit vorgegeben, man müsse es bei dem letzteren anfangen und glauben, den Aal der Wissenschaft beim Schwanze zu erwischen, indem sie sich genugsamera) Erfahrungskenntnisse versichern und dann so allmählich zu allgemeinen 10 und höheren Begriffen hinaufrücken. Allein ob dieses zwar nicht unklug gehandelt sein möchte, so ist es doch bei weitem nicht gelehrt und philosophisch genug; denn man ist auf diese Art bald beib) einem Warum, worauf keine Antwort gegeben werden kann, welches einem Philosophen gerade soviel Ehre macht als einem Kaufmann, der bei einer Wechselzahlung freundlich bittet, ein andermal wieder anzusprechen. Daher haben scharfsinnige Männer, um diese Unbequemlichkeit zu vermeiden, von der entgegengesetzten äußersten Grenze , nämlich dem so obersten Punkte der Metaphysik angefangen. Es findet sich aber hierbei eine neue Beschwerlichkeit, nämlich daß man anfängt ich weiß nicht wo und kommt ich weiß nicht wohin, und daß der Fortgang der Gründe nicht auf die Erfahrung treffen will, ja daß es scheint, die Atome des Epik ur dürften eher, nachdem sie von Ewigkeit her immer gefallen, einmal von ungefähr zusammena) B, C und ihnen folgend Tieftrunk , Rosenkranz, Hartenstein: "grausamer"; corr. Kehrbach, b) B und die übrigen: "auf"; corr. Kehrbaeh.

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Träume eines Geistet~~ehcrs, erläutert durch

stoßen, um eine Welt zu bilden, als die allgemeinsten und abstraktesten Begriffe, um sie zu erklären. Da also der Philosoph wohl sah, daß seine Vernunftgründe einerseits und die wirkliche Erfahrung oder Erzählung andererseits, wie ein paar Parallellinien wohl ins Undenkliche nebeneinander fortlaufen würden, ohne jemals zusammenzutreffen, so ist er mit den übrigen, gleich als wenn sie darüber Abrede genommen hätten, übereingekommen, ein jeder nach seiner Art den Anfimgspunkt zu nehmen und 10 darauf nicht in geraden Linien der Schlußfolge, sondern mit einem unmerklichen Clinamen•) der Beweisgründe, 359 rladnrn, aus einer bekannten Gegend, z. E. Norden, zu wissen, auf welcher Seite des Horizonts ich den Sonnenaufgang zu suchen hätte. Ebenso ist es mit der geographischen, ja mit unserer gemeinsten Kenntnis der Lage der Örter hewandt, die uns zu nichts hilft, wenn wir die so ge380 20 ordneten Dinge und das ganze System der wechselseitigen Lagen nicht durch die Beziehung auf die Seiten unseres Körpers nach den Gegenden stellen können. Sogar hPsteht ein sehr namhaftes Kennzeichen der Naturerzeugungen, welches gelegentlich selbst zum Unterschiede der Arten Anlaß geben kann, in der bestimmten Gegend, wonach die Ordnung ihrer Teile gekehrt ist, und wodurch zwei Ge8Chtipfe können unterschieden werden , obgleich sie sowohl in Ansehung der Größe als auch der Proportion und selbst der Lage der Teile untereinander völlig übereinkommen 30 möchten. Die Haare auf dem Wirbel aller Menschen sind \'On der Linken gegen die Rechte gewandt. Aller Hopfen windet sich von der Linken gegen die Rechte um seine Stange; die Bohnen aber nehmen eine entgegengesetzte Wendung. Fast alle Schnecken, nur etwa drei Gattungen ausgenommen. haben ihre Drehung, wenn man von oben herab, d. i. von der Spitze zur Mündung geht, von der J_,inken gegen die Rechte. Diese bestimmte Eigenschaft wohnt ebenderselben Gattung von Geschöpfen unveränderlich bei ohne einiges Verhältnis auf die Halbkugel, woselbst sie sich befinden, und 40 auf die Richtung der täglichen Sonnen- und Mondbewegung, die uns von der Linken gegen die Rechte, unseren Antipoden aber diesem entgegenläuft; weil bei den angeführten Natur-

der Gegenden im Raume.

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produkten die Ursache der Windung in den Samen selbst liegt, dahingegen, wo eine gewisse Drehung dem Laufe dieser Himmelskörper zugeschrieben werden kann, wie Mariotte•) ein solches Gesetz an den Winden will beobachtet haben, die vom neuen zum vollen Lichte gern von der Linken zur Rechten den ganzen Kompaß durchlaufen, da muß diese Kreisbewegung· auf der anderen Halbkugel nach der anderen Hand herumgehen, wie es auch wirklich Don Ulloab) durch seine Beobachtungen auf dem siidlichen Meere bestätigt zu finden meint. Da das verschiedene Gefühl der rechten und linken 10 Seite zum Urteil der Gegenden von so großer Notwendigkeit ist, so hat die Natur es zugleich an die mechanische Einrichtung des menschlichen Körpers geknüpft, vermittelst deren die eine, nämlich die rechte Seite eint>n ungezweifelten Vorzug der Gewandtheit und vielleicht auch der Stärke vor der linken hat. Daher alle Völker der Erde rechtseil siml {wenn man einzelne Ausnahmen beiseite setzt, welche, sowie die des Schielens, die Allgemeinheit der Regel nach der natürlichen Ordnung nicht umstoßen können). Man bewegt seinen Körper leichter von der 20 Rechten gegen die Linke als diesem entgegen, wenn man aufs Pferd steigt oder über einen Graben schreitet. Man schreibt allerwiirts mit der rechten Hand, und mit ihr tut man alles, wozu Geschick und Stärke erfordert wird. 381 Sowie aber die rechte Seite vor der linken den Vorteil der Bewegkraft zu haben scheint, so hat die linke ihn vor der rechten in Ansehung der Empfindsamkeit, wenn man einigen Naturforschern glauben darf, z. E. dem Borelli 0 ) und Bonnet, 4 ) deren der erstere von dem linken Auge, der andere auch vom linken Ohre behauptet, daß Su der Sinn in ihnen stärker sei als der an den gleichnamigen Werkzeugen der rechten Seite. Und so sind die beiden Seiten des menschlichen Körpers, ungeachtet ihrer großen äußeren Ähnlichkeit, durch eine klare Empfindung genugsam unterschieden, wenn man gleich die verschiedene Lage der inwendigen Teile und das merkliche a) E. Mari o t t e (1620-1684). berühmter französischer Physiker, in seinem Werke De Ia nature de /'air (1679). b) Don Antonio de Ulloa (1716-1795), spanischer Marineoffizier und Mitglied der Londoner Royal society. c) Bore 11 i (1608-1679), italienischer Physiker. d) Bonne t (1720-1793), schweizerischer Naturforscher.

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Von dem ersten Grunde dea Unterschiedei

Klopfen des Herzens beiseite setzt, indem dieser Muskel bei seinem jedesmaligen Zusammenziehen mit seiner Spitze in schiefer Bewegung an die linke Seite der Brust anstöit. Wir wollen also dartun; daß der vollständige Bestimmungsgrund einer körperlichen Gestalt nicht lediglich auf dem Verhältnis und der•) Lage seiner Teile gegeneinander beruhe , sondern noch überdem auf einer Beziehung gegen den allgemeinen absoluten Raum, so wie ihn sich die Maßkünstler denken , doch so , daß dieses Ver10 hältnis nicht unmittelbar kann wahrgenommen werden, aber wohl diejenigen Unterschiede der Körper, die einzi~ und allein auf diesem Grunde beruhen. Wenn zwei Figuren, auf einer Ebene gezeichnet, einander gleich und ähnlich sind, so decken sie einander. Allein mit der körperlichen Ausdehnung oder auch den Linien und Flächen, die nicht in einer Ebene liegen, ist es oft ganz anders bewandt. Sie können völlig gleich und ähnlich, jedoch an sich selbst so verschieden sein , daß die Grenzen der einen nicht zugleich die Grenzen der anderen sein können. 20 Ein Schraubengewinde, welches um seine Spille von der Linken gegen die Rechte geführt ist, wird in eine solche Mutter niemals passen, deren Gänge von der Rechten gegen die Linke laufen; obgleich die Dicke der Spindel und die Zahl der Schraubengänge in gleicher Höhe einstimmig wären. Ein sphärischer Triangel kann einem anderen völlig gleich und ähnlich sein, ohne ihn doch zu decken. Doch das gemeinste und klarste Beispiel haben wir an den Gliedmaßen des menschlichen Körpers, welche gegen die Vertikalfläche desselben symmetrisch geordnet so sind. Die rechte Hand ist der linken ähnlich und gleich, und wenn man bloß auf eine b) derselben allein sieht, auf die Proportion und Lage der Teile untereinander und auf die Größe des Ganzen, so muß eine vollständige Beschreibung der einen in allen Stücken auch von deranderen gelten. 382 Ich nenne einen Körper, der einem anderen völ~ gleich und ähnlich ist, ob er gleich nicht in ebendenselben Grenzen kann beschlossen werden, sein inkongruen tea Gegenstllck. Um nun dessen Möglichkeit zu zeigen, so nehme man einen Körper an, der nicht aus zwei 40 Hälften besteht, die symmetrisch gegen eine einzige Dureha) "der" Zusatz HarieDBteins. b) Kant: "eines"; oorr. Lasswitz.

der Gegenden im Raume.

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!Chnittsfläche geordnet sind, sondern etwa eine Menschenhand. Man ftllle aus allen Punkten ihrer Oberfläche auf eine ihr gegenüber gestellte•) Tafel Perpendikellinien und verlängere sie ebenso weit hinter derselben, als diese Punkte vor ihr liegen, so machen die Endpunkte der so verlängerten Linien, wenn sie verbunden werden , die Fläche einer k!lrperlichen Gestalt aus, die das inkongruente Gegenstück derb) vorigen ist, d. i. wenn die gegebene Hand eine rechte ist, so ist deren Gegenstück eine linke. Die .Abbildung eines Objekts im Spiegel beruht auf ebendenselben Gründen. Denn es erscheint jederzeit ebenso weit hinter demselben, als es vor seiner Fläche steht, und daher ist das Bild einer rechten Hand in demselben jederzeit eine linke. Besteht das Objekt selber aus zwei inkongruenten Gegenstücken, wie der menschliche Körper, wenn man ihn vermittelst eines Vertikaldurchschnitts von vorne nach hinten teilt, so ist sein Bild ihm kongruent, welches man leicht erkennt, wenn man es in Gedanken eine halbe Drehung machen läßt; denn das Gegenstück vom Gegenstücke eines Objekts ist diesem notwendig kongruent. Soviel mag genug sein, um die Möglichkeit völlig ähnlicher und gleicher und doch inkongruenter Räume zu verstehen. Wir gehen jetzt zur philosophischen Anwendung dieser Begriffe. Es ist schon aus dem gemeinen Beispiele beider Hände offenbar, daß die Figur eines Körpers der Figur eines anderen völlig ähnlich, und die Größe der .Ausdehnung ganz gleich sein könne, sodaß dennoch ein innerer Unterschied übrig bleibt, nämlich der: daß die Oberfläche, die den einen beschließt, den anderen unmilglich einschließen könne. Weil diese Oberfläche den kilrperIichen Raum des einen begrenzt, die dem anderen nicht zur Grenze dienen kann, man mag ihn drehen und wenden wie man will, so muß diese Verschiedenheit eine solche sein, die auf einem inneren Grunde beruht. Dieser innere Grund der Verschiedenheit aber kann nicht auf die unterschiedene Art der Verbindung der Teile des Körpers untereinander ankommen; denn wie man aus dem angeführten Beispiele sieht , so kann in .Ansehung dessen alles völlig einerlei sein. Gleichwohl, wenn man sich vortlteilt, das erste Schöpfungsstück solle eine Menschenhand a) Kant: "gegen ihr übergestellte"; corr. Lal'Switz. b) Kant: ,.des"; corr. L:tsswitz.

10

20

so

40

86 383

Von dem ersten Grunde des Unterschiedes etc.

sein, so ist es notwendig entweder eine rechte oder eine linke, und um die eine hervorzubringen, war eine andere Handlung der schaftenden Ursache nötig· als die, wodurch ihr Gegenstück gemacht werden konntt>. Nimmt man nun den Begriff vieler neueren Philosophen, vornehmlieh der deutschen an, daß der Raum nur in dem äußeren Verhältnisse der nebeneinander befindlichen Teile der 1\Iaterie bestehe, so würde aller wirkliche Raum in dem angeführten Falle nur de1jenige sein. den 10 diese Hand einnimmt. Weil aber gar kein Unterschied in dem Verhii.ltnisse der Teile dersl.'lben unter sich stattfindet, sie mag eine rechte oder linke sein, so würde diese Hand in Ansehung einer solchen Eigenschaft g'.iuzlich unbe8timmt sein, d. i. sie würde auf jede Seite des menschliehen Körpers passen, welches unrnög·lich ist. Es ist hieraus klar, daß nicht die Bestimmung·en des Raumes Folgen von den Lagen der Teile der Materie gegeneinander, sondern diese Folgen ,·on jenen sind. und daß also in der ßpschaffenheit der Körper Unterschiede 21) angetroffen werden können, und zwar wahre Unterschiede, die sich lediglic,h auf den absoluten und ursprünglichen Raum beziehen, weil nur durch ihn das Verhältnis körperlicher Dinge möglich ist; und daß , weil der absolute Raum kein Gegenstand einer äußeren Empfindung, sondern ein GrundbElgriff ist, der alle dieselben zuerst möglich macht, wir dasjenige, was in der Gestalt eines Körper~> lediglich die Beziehung auf den reinen Raum angeht. nur durch die Gegenhaltung mit anderen Körpern wrnehmou können. Ein nachsinnender Leser wird daher den Begriff des 30 Raumes. so wie ihn der MoBkünstler denkt und auch sc.harfsinnige Philosophen ihn in den Lehrbegriff der Naturwissenschaft aufgenommen haben, nicht für ein bloßes Gedankending ansehen, obgleich es nicht an Schwierigkeiten fehlt, die diesen Begriff umgeben. wenn mau seine Realität, welche dem inneren Sinn anschauend genug ist. durch Vernunftideen fassen will. Aber diese BeschwL•rlichkeit zeigt sich allerw'Jrts, wenn man über die ersten Data unserer Erkenntnis noch philosophieren will, aber sie ist niemals so entscheidend als diejenige. welche sich hervor40 tut, wenn die I