Trauerfallgeschichten: Anmerkungen zu Trauer und Bestattung 9783534400157, 9783534400164, 9783534400171, 3534400151

Die aktuelle »Trauerforschung« erhebt den Anspruch zu wissen, was unter Tod und Trauer zu verstehen ist. Das vorliegende

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German Pages 340 [342] Year 2019

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Trauerfallgeschichten: Anmerkungen zu Trauer und Bestattung
 9783534400157, 9783534400164, 9783534400171, 3534400151

Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Kapitel 1: TrauerFallGeschichten
Marie
Moritz
Sarah
Alex
Polina
Paul
Esther
Heiner
Anna
Andreas
Adelheid
Friedrich
Zwischenbemerkungen
Kapitel 2: Analyse
Dimensionen
Die temporale Dimension
Die lokale Dimension
Die soziale Dimension
Die leib-haftige Dimension
Das leib-haftige 'Gesamt'
'Settings' – Empfindungen und Verhaltensweisen
Begegnung mit dem Sterben und der Leiche
Beim Bestatter
Aufbahrung
Innerhalb der Sozialität
Besucht werden
Öffentlichkeit
Friedhof und Trauerfeier
Grablegung
Nachtreffen
Noch später beim Interview oder anderswo
Kapitel 3: Trauer in den Kontexten der Bestattung
Trauer ist
'Kritische' Überlegungen zu einem populären Trauerverständnis
(1) Trauer als Reaktion auf Verlusterfahrungen?
(2) Trauer = grief?
(3) Trauer als Schwester der Melancholie?
(4) Trauer als Arbeit ?
(5) Trauer als individuelles Phänomen?
(6) Ritual als Kanalisation der Trauer?
(7) Prolongierung von Trauerzeiten?
(8) Trauerforschung?
(9) Artefakte?
Forschungsdesign – empirisches Feld
Feststellungen
Trauervorstellungen und Bestattung
Kapitel 4: Thanatopraxis
Bestattungspraxis – Entwicklungen
Der Bestattungsmarkt
Der Trauermarkt
Sterbe- und Trauerbegleitung in Zahlen und Daten
Exkurs: Gender und Trauerverhalten
Kapitel 5: Schlussfolgerungen
Nachwort
Literatur
Anhang: Thanatosoziologische Anmerkungen zu den Erzählungen von der Grablegung Jesu in den Evangelien
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Michael Paul Häußler

TrauerFallGeschichten  

 

 

Michael Paul Häußler

TrauerFallGeschichten Anmerkungen zu Trauer und Bestattung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

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Meiner Frau und meiner Familie, die meine freizeitlichen Forschungstätigkeiten mit Geduld, Nachsicht und vielfältiger Unterstützung begleitet haben.

 

Inhalt Vorwort .................................................................................................. 11  Kapitel 1: TrauerFallGeschichten ....................................................... 14  Marie ................................................................................................... 14  Moritz .................................................................................................. 22  Sarah .................................................................................................... 33  Alex ...................................................................................................... 43  Polina................................................................................................... 53  Paul ...................................................................................................... 63  Esther ................................................................................................... 78  Heiner.................................................................................................. 95  Anna ..................................................................................................107  Andreas .............................................................................................116  Adelheid ............................................................................................127  Friedrich ............................................................................................139  Zwischenbemerkungen ......................................................................153  Kapitel 2: Analyse ................................................................................158  Dimensionen ....................................................................................158  Die temporale Dimension ...........................................................159  Die lokale Dimension ..................................................................163  Die soziale Dimension .................................................................166  Die leib-haftige Dimension .........................................................169  Das leib-haftige 'Gesamt' .............................................................172  'Settings' – Empfindungen und Verhaltensweisen ......................175 

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Begegnung mit dem Sterben und der Leiche ........................... 188  Beim Bestatter............................................................................... 191  Aufbahrung ................................................................................... 193  Innerhalb der Sozialität ............................................................... 195  Besucht werden ............................................................................ 198  Öffentlichkeit ................................................................................ 201  Friedhof und Trauerfeier ............................................................ 204  Grablegung.................................................................................... 207  Nachtreffen ................................................................................... 208  Noch später beim Interview oder anderswo............................. 209  Kapitel 3: Trauer in den Kontexten der Bestattung ....................... 210  Trauer ist … ..................................................................................... 212  … 'kritische' Überlegungen zu einem populären Trauerverständnis ........................................................................ 216  (1) Trauer als Reaktion auf Verlusterfahrungen? .............. 221 (2) Trauer = grief?.................................................................. 226 (3) Trauer als Schwester der Melancholie ?........................ 232 (4) Trauer als Arbeit ? ........................................................... 237 (5) Trauer als individuelles Phänomen? ............................. 241 (6) Ritual als Kanalisation der Trauer ? .............................. 247 (7) Prolongierung von Trauerzeiten?.................................. 249 (8) Trauerforschung? ............................................................ 252 (9) Artefakte ? ......................................................................... 255 Forschungsdesign – empirisches Feld ....................................... 257  Feststellungen: .............................................................................. 259  Trauervorstellungen und Bestattung ............................................ 268 

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Kapitel 4: Thanatopraxis ....................................................................281  Bestattungspraxis – Entwicklungen ..............................................283  Der Bestattungsmarkt .....................................................................290  Der Trauermarkt..............................................................................295  Sterbe- und Trauerbegleitung in Zahlen und Daten ...............296  Exkurs: Gender und Trauerverhalten ........................................300  Kapitel 5: Schlussfolgerungen............................................................306  Nachwort ..............................................................................................316  Literatur ................................................................................................325  Anhang: Thanatosoziologische Anmerkungen zu den Erzählungen von der Grablegung Jesu in den Evangelien ............334 

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Vorwort Ich habe dieses Buch mit TrauerFallGeschichten und daran anschließenden soziologischen und theologischen Betrachtungen für Sie, meine Leserinnen und Leser, geschrieben. Wer könnten Sie sein? Vielleicht haben Sie einen lieben Menschen verloren und leiden an diesem Verlust. Oder sie wurden mit einem Todesfall konfrontiert, der Sie mit unbeantworteten Fragen zurückließ. Möglicherweise können Sie ihre eigene Geschichte mit einem Trauerfall erzählen. Oder der Tod eines Menschen geht Ihnen nicht aus dem Kopf, immer wieder werden Sie daran erinnert. Sie haben eine Beerdigung miterlebt, die sie gefreut oder auch verärgert hat. Oder aber Sie haben den Tod und die Bestattung eines Anderen noch nicht erlebt, möchten aber davon wissen und sich davon berichten lassen. Für Sie alle erzähle ich die TrauerFallGeschichten. Entdecken Sie in diesen Geschichten eigenes Erleben und Erfahren, kontrastieren Sie das Erzählte damit, lassen Sie ihrer Fantasie beim Lesen freien Lauf. Ich möchte Sie einladen, sich in das Erzählte hineinziehen zu lassen und ein wenig mit zu 'trauern'. Die TrauerFallGeschichten wollen nach- und miterlebt werden, mit weinenden oder auch lachenden (ja, auch damit!) Augen, mit Mitgefühl und auch Schmunzeln. Mein Wunsch ist es, dass Sie als Leserinnen und Leser eigenes Leben und eigene Erfahrung mit Sterben, Tod und Trauer darin entdecken. Ihr Lesen der Geschichten soll 'in eigener Sache' geschehen.

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Zur Entstehung dieser Geschichten: Vor über 30 Jahren starb mein Vater (meine ganz persönliche erste TrauerFallGeschichte). Seitdem hat mich dieses Thema nicht mehr losgelassen. Soll ich es 'Trauer' nennen? Beginnend mit jenem Gefühlschaos beim Sterben, beim Tod und danach? Und was ist mit ihm nun, wo er nicht mehr unter uns ist? Und dann immer wieder: Warum waren ihm nur 66 Jahre vergönnt? Warum konnte ich nicht mit ihm durch Lappland wandern? Oder, wie meine Söhne mit mir, mit ihm auf den Gipfel des Teide steigen? Überhaupt: Warum haben meine Töchter und Söhne keinen Großvater? Und wenn ich nun meine Enkelkinder bei mir habe, da denke ich oft an meinen Vater, manchmal mit Tränen in den Augen. Zu jenem ersten Tod eines nahen Anderen kamen weitere hinzu: Die Mutter, Schwiegereltern, weitere Verwandte, Freunde: nahe und signifikante Andere. Trauer hat die fatale Eigenschaft der Kumulation. Ein Trauerfall kommt zum anderen und am Ende steht dann der eigene Tod als mittelfristig sicher eintretender 'Fall'. Oder, um beim Thema zu bleiben: Als Trauerfall für die, die nach mir mit meinem Tod weiterleben müssen. Der Staffelstab der Trauerarbeit wird an meine Kinder bzw. die, die nach mir kommen, weitergegeben. Es ist unser Leben selbst, das uns die Geißel des Todes des Anderen auferlegt. Denn solch Fluch der Sterblichkeit ist doch nicht mein eigener Tod; der wird mich nur traurig machen ob derer, die ich zurücklassen muss. Es ist Tod derer, die mit uns lebten, mit ihrem Tod müssen wir leben, wir vermissen sie, sie fehlen uns, ihr Tod lässt viele Fragen offen. Aber wir haben die Aufgabe sie zu bestatten, wir werden mit ihrem toten Körper konfrontiert, wir bereiten ihn liebevoll auf das Begräbnis vor, legen ihn in das Grab oder lassen ihn verbrennen, nehmen Abschied und hoffen, dass es ihnen trotzdem gut ergeht. Wir pflegen ihr Grab und gedenken ihrer von Zeit zu Zeit und an bestimmten Tagen. Wir trauern in dem Allen. Und auch, wenn uns der

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Alltag wieder hat, bleibt doch diese Trauer immer bei uns: Mitten wir im Leben sind … Solche Lebenserfahrungen machten auch meine Informanten. Sie haben mir davon erzählt. Für das erste Kapitel dieses Buches wählte ich zwölf Fallgeschichten, die mich in besonderer Weise angesprochen hatten. Sie repräsentieren die Vielfalt und Intensität der Erfahrungen beim Tod eines Anderen und möchten zum Weiterdenken einladen. Ähnlichkeiten mit Ihnen, meinen Leserinnen und Lesern, bekannten Personen und ihren Geschichten sind beabsichtigt.

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Kapitel 1: TrauerFallGeschichten Marie Marie ist 16 Jahre alt, wohnt in Köln und besucht dort ein Gymnasium. Ich habe sie über eine weitere Interviewpartnerin (Alina) kennengelernt. Das mit ihr geführte leitfaden-gesteuerte Interview wurde fernmündlich geführt und für diese Forschungsarbeit in eine persönliche Ich-Erzählung umgeformt. Meine Großmutter ist gestorben, zuhause, also da, wo sie gewohnt hat nach Großvaters Tod, in ihrem Bett im Altersheim. Wir sind am Morgen angerufen worden und meine Mutter ist dann auch gleich hingefahren. Ganz ruhig hätte die Oma dagelegen, erzählt sie mir. Als würde sie schlafen. Aber auch unheimlich sei es gewesen, so still, so bewegungslos. Ganz schnell habe sie Gertrud, ihre ältere Schwester, angerufen, um bei der toten Mutter nicht allein zu sein und um mit ihrer Schwester abzusprechen, was jetzt zu tun sei. Tante Gertrud sei dann auch schnell gekommen. Am Nachmittag gehen wir alle ins Altenheim, also meine Eltern und ich, Tante Gertrud mit ihrer Tochter und meiner Cousine Mareike. 36 Jahre alt ist die, Lehrerin von Beruf, und soll so streng sein, wie sie aussieht, haben mir Freunde erzählt, die bei ihr im Unterricht sind. Beide sind ganz in Schwarz gekleidet. Oma liegt in ihrem Bett in ihrem Zimmer. Vom Heim haben sie Kerzen aufgestellt und ein Kreuz, auf das Nachttischchen. Wir sind da ganz still, Mama weint, Tante Gertrud und Mareike auch. Ich weine 14

nicht. Dafür gehen mir viel zu viele komische Gedanken durch den Kopf. Was, wenn Oma auf einmal wieder aufwacht. Hoffentlich bewegt sie sich auch wirklich nicht, steht auf und geht umher. Vielleicht ist sie ja auch gar nicht tot, sondern schläft nur. Obwohl, sie sieht schon ganz anders aus als ich sie in Erinnerung habe. Irgendwie ist das nicht mehr ihr Gesicht, es sieht eher aus wie eine Maske. Und als ich sie berühre, ist sie sehr kalt. Wir alle berühren sie, meine Mutter streichelt sie, legt ihr Gesicht an ihr Gesicht. Nachdem wir aus dem Zimmer heraus waren, hat der Bestatter sie abgeholt. Der Pastor hatte leider keine Zeit für ein Gebet oder so; Tante Gertrud hat ihn vorher extra angerufen. Alle hat es geärgert. Ist es ihm nicht wichtig, dass unsere Großmutter jetzt gestorben ist? Zum 85. Geburtstag war er doch da, hat von dem Kuchen gegessen, den meine Mutter für Oma gebacken hat. Im großen Gemeinschaftsraum haben wir gefeiert, und da hat er das Kaffeetrinken mit einem Gebet angefangen. Der Bestatter hat mehr Zeit: Omas Kinder, meine Mutter, die beiden Onkel und Tante Gertrud, gehen ihn mehrfach besuchen; ich begleite meine Mutter, es geht ihr nicht so gut, da will ich sie nicht allein lassen. Es ist so vieles zu besprechen und zu regeln: Welcher Sarg wird ausgewählt? Es gibt sogar welche zum selbst Bemalen. Bei einigen Fragen konnte ich mir das Lachen kaum verkneifen. Da fragt der Bestatter: Soll ihre Mutter Strümpfe an die Füße kriegen? Für meine Mutter und Tante Gertrud war die Antwort klar: Natürlich. Anders die beiden Onkel. Ganz schräg das Argument von Onkel Karl: Die Hedwig, so hieß die Oma, hat doch nie Strümpfe angehabt, wenn sie schlafen gegangen ist. – Es sei denn, ihr war an den Füßen kalt, wirft Tante Gertrud schnippisch, weil leicht verärgert, ein. Außerdem wollen wir doch noch mit den Enkelkindern vorbeikommen und Oma noch einmal sehen. Da muss sie doch Strümpfe an den Füßen ... – Die kann man doch unter der Decke gar nicht sehen, unterbricht sie Onkel Karl, und außerdem: Das Argument mit den kalten Füßen, das 15

zieht wohl so nicht mehr. Also ich fand das ganze Gespräch total daneben, aber irgendwie doch lustig, Onkel Karl lässt einen Witz los, den Tante Gertrud nicht versteht und dann umgekehrt. Und weiter: Was soll sie anziehen? Unterwäsche, Totenhemd, Decke und Kissen? Oder eigene Kleidung, die sie gerne getragen hat? Ja, und wie soll sie denn bestattet werden? Sie hat immer gesagt: Macht euch nicht so viel Mühe mit mir! Sie wollte niemandem zur Last fallen. Also bleiben wir dann unter uns bei der Trauerfeier – 'im engsten Familien- und Freundeskreis', auf Wunsch von der Oma? Onkel Karl murmelt irgendetwas von Kostenersparnis. Und verbrannt wollte sie werden, so wie der Großvater, der vor 12 Jahren gestorben ist. Ich war damals vier Jahre alt, kann mich aber nur ganz dunkel daran erinnern, zum Beispiel, dass meine Großmutter und meine Mutter ziemlich traurig waren. Wie geht das eigentlich zu bei einer Verbrennung? Und kommt die Oma dann noch, wenn sie Asche ist, in den Himmel? Für meine Mutter ist das ein richtiges Problem. Der Bestatter sagt: Ihre Mutter wollte das so, das hat sie auch bei mir hinterlegen lassen. Lassen Sie doch erst den Leichnam Ihrer Mutter verbrennen und machen dann anschließend eine Trauerfeier mit der Beisetzung der Urne. Dann haben Sie jetzt noch ein wenig Zeit zur Vorbereitung. Sollen wir dann nicht einfach gleich an das Grab gehen, ohne Trauerhalle und Trauerfeier? Fragt Onkel Karl. Bei meiner Mutter habe ich das Gefühl, dass sie ihrem Bruder am liebsten gleich ins Gesicht springen möchte. Einige Tage später soll die Beerdigung stattfinden, die Trauerfeier und die Beisetzung. Der Bestatter wird das für uns regeln, sagt mir meine Mutter. Wir wollen Lieder für die Trauerfeier aussuchen: An erster Stelle das Lied der Ostpreussen, ist mein Vorschlag, das hat Oma immer beim Kartoffelschälen gesungen oder gesummt. Ich hab sie mal gefragt, was das für ein Lied ist, sie hat's mir erzählt, und dass sie dort aufgewachsen ist, in einer großen Stadt, in Königsberg meine ich mich zu erinnern, und am Ende des Krieges ist sie von dort geflo16

hen in den Westen. Meine Mutter votet für das 'Ave Maria'– 'Das ist aber ein katholisches Lied', meint Cousine Mareike. 'Ob der Pfarrer das zulässt?' – 'Was würde er eigentlich sagen, wenn wir das Lied aussuchen, das Oma auch immer gern mitgesummt und den Refrain mitgesungen hat: 'Weiße Rosen aus Athen'. 'Sagen dir auf Wiedersehn' geht doch auch bei einer Beerdigung, oder? So überlege ich im Stillen. Der Schlager steht aber nicht in dem kleinen Musterheftchen, das uns der Bestatter mitgegeben hatte. Auch der Spruch über der Todesanzeige wird daraus ausgesucht: 'aus Gottes Hand in Gottes Hand'. Ich weiß nicht, von wem das ist. Auch der Pfarrer kommt nun ins Haus und fragt nach dem Leben von Oma, wir aber kennen sie ja nun einmal längstens erst seit unserer eigenen Geburt. Wir, also fast die ganze Familie, sitzen rund um den Kaffeetisch, Tante Gertrud und Mareike, wieder ganz in Schwarz, Onkel Karl mit Tante Ursula – die sind normal gekleidet und haben aber ihre drei Kinder zwischen 29 und 23 zuhause gelassen. Friedrich, der zweite Sohn von Oma, kann heute nicht und ist nicht dabei und mit ihm auch nicht seine Familie. Nun, und dann wir drei, meine Eltern und ich, mit Alina, meiner Freundin, die auch gekommen ist, weil wir hinterher noch etwas vorhaben. Dazu muss ich mich dann gleich noch wie Alina umziehen. Meine Mutter fand den Diskofummel, wie sie das nennt, zu dieser Gelegenheit des Trauerbesuchs durch den Pastor doch nicht so ganz angemessen. Meine Mutter hat wieder Kuchen gebacken, für uns und für den Pastor. Der greift auch kräftig zu, was meine Mutter freut. Was machte ihre Mutter eigentlich als junges Mädchen, fragt er. Woher sollen wir das eigentlich wissen, denke ich und gucke dabei Alina an und wir beide kichern: die Oma als junges Mädchen, zu komisch. Wir ernten einen lehrerinnenhaft missbilligenden Blick von der schwarz gewandeten Cousine. Doch, die Tante Gertrud, die weiß Einiges: Die erste Arbeitsstelle, der Besuch in der Disko, Tanzpalast hieß das damals. Oma soll eine tolle Tänzerin gewesen sein, lebenslustig und richtig 17

gut drauf. Das hab ich nicht gewusst. Das hat sie mir nicht gesagt, wo sie doch sonst das eine oder andere aus ihrem Leben erzählt hat. Ich höre Tante Gertrud genau zu und sehe Oma auf einmal ganz anders. Ich hätte sie gern einmal nach solchen Erinnerungen gefragt. Zum Beispiel nach der erste Liebe oder dem ersten Kuss. Ach ja, muss ja wohl was gewesen sein mit Großvater, verheiratet war sie schon mit 18 – ich hätte da noch zwei Jahre und Mareike ist da längst dran vorbei; also die hat nicht viel von der Oma mitbekommen –, dann das erste Kind, die älteste Tochter, eben die Tante Gertrud, die kam, als Oma 21 war, 1947, kurz nach dem Krieg. Tante Gertrud steht deshalb auch an der obersten Stelle in der Traueranzeige, bei denen, die sich 'in tiefer Trauer' befinden, weil die 'Mutter, Schwiegermutter und Großmutter' – also gemeint ist immer die Oma – doch nun 'für immer von uns gegangen' ist. Das macht man so, das mit der Reihenfolge und mit der 'tiefen Trauer' und mit dem 'von uns gegangen'. Wohin ist sie denn eigentlich gegangen, frage ich mich. 'Wohin sie gestorben ist' würde sich als Frage nicht so stellen. Was mich allerdings stört, ist, dass ich mit meinen Cousinen und Cousins einschließlich Cousine Mareike als 'und Enkelkinder' ganz unten in der familiären Liste auf der Traueranzeige erscheine und nicht als 'deine allerliebste Enkeltochter Marie, die dich ganz schrecklich doll lieb gehabt hat'. Ich hab sie echt gemocht, meine Oma. Ich habe meinen Vater danach gefragt: da sei wegen der Anzeigengröße nicht mehr soviel Platz für die namentliche Nennung der vier Enkel plus zwei Schwiegerenkelinnen und zwei Urenkel gewesen. Ach, ist aber alles nicht so wichtig, Herr Pastor, sagt nach einer Weile der Onkel Karl, der hier den ältesten Sohn und Familienoberhaupt gibt, obwohl doch Tante Gertrud ganz allein ganz oben steht – auf der Traueranzeige. 'Erwähnen sie das Wesentliche und Wichtige an ihrem Leben: 'Sie hat ihr Leben lang gearbeitet und sie war ihren vier Kindern eine gute Mutter' – in Gedanken füge ich hinzu: 'und gern getanzt hat sie und gern gekocht hat sie, gern mit Freundinnen 18

herumgezogen ist sie, als sie das noch konnte, und zuletzt im Altersheim hat sie immer am Fenster gesessen und hinausgeschaut und sich gefreut, wenn eines ihrer Kinder oder Enkelkinder, am besten noch mit einem Urenkel, mal vorbeigekommen ist. War aber leider nicht so oft; eigentlich waren nur meine Mutter und ich öfter mal bei ihr, weil das Heim gleich nebenan liegt, und sonst kamen die anderen nur am Geburtstag, wenn dann auch der Herr Pastor dabei war, oder zu anderen wichtigen Tagen. Aber ihr Essen hat immer toll geschmeckt und lieb war sie auch'. 'Und vermissen tun wir sie auch und wir sind sehr traurig, dass sie nicht mehr bei uns ist', so, mit Nachdruck in der Stimme, Mareike, die Cousine. Als Lehrerin darf sie in der Runde auch einmal etwas sagen, nachdem sie sich zuvor ungewöhnlicherweise zurückgehalten hat 'Ihr Konfirmationsspruch?' will der Pfarrer wissen. Ist Oma denn in die Kirche gegangen, also zum Gottesdienst im Heim? Müsste der Pastor doch eigentlich viel besser wissen als wir! Religion war für Oma aber immer eine ganz eigene Sache, die nur jede einzelne selbst was angeht und über die nicht gesprochen wird. Und weil ich mich nicht hab konfirmieren lassen, konnte sie da eben auch nicht dabei sein. Und dann war die Beerdigungsfeier, der Trauergottesdienst, ganz große Halle, ganz wenige Leute, also nur die Familie; 'in aller Stille im engsten Familienkreis' steht auf der Todes- oder Traueranzeige. Die Orgel spielte feierlich (das 'Ave Maria' haben wir aber schon schöner gehört von der CD, mit der Orgel kamen gar nicht so richtig die Gefühle bei heraus), das Ostpreußenlied stellt den Organisten auch vor größere Schwierigkeiten. Aber ich höre dabei doch die Oma, wie sie es immer gesummt hat. Der Pfarrer findet ruhige und warme Worte. Ich höre gar nicht so richtig hin, aber sie tun mir vom Tonfall her gut, so ein wenig 'chillig'. An einigen Stellen, an denen er aus dem Leben von Oma erzählt (so wie wir es ihm vorhergesagt haben) und ich ihm etwas genauer zuhöre, denke ich schmunzelnd an das eine und andere 19

Erlebnis zurück – z.B. als ich mit Oma mal in der sechsten Klasse ein Diktat geübt habe. Ich bin also ins Altenheim gefahren, wir haben uns in ihr Zimmer gesetzt, und dann hat sie mir diktiert und dann nachgeguckt, ob da irgendwelche Fehler drin waren, und dann hat sie mir alles Mögliche angestrichen 'Oma, habe ich ihr gesagt, das schreibt man heute so' – 'Wieso, sagt sie, 'schreibt man heute nicht mehr Deutsch?' – 'doch immer noch, aber heute schreibt man so'. Natürlich sind wir alle auch richtig traurig, als der Pfarrer betont, wie wichtig Oma für uns gewesen ist und wie traurig wir jetzt sein müssten, weil doch jetzt der Platz leer bleibt, an dem sie immer gesessen hat. Der Platz am Fenster im Altersheim ist aber nicht leer geblieben, erinnere ich mich. Als wir die Sachen von der Oma abgeholt haben, saß da schon eine andere Frau auf Omas Platz am Fenster. Meiner Mutter, der jüngsten Tochter von Oma und ihr Nesthäkchen, stehen bei den Worten des Pfarrers wirklich die Tränen in den Augen und sie muss in ihr Taschentuch schnäuzen. Ja, sie hat sehr an Oma gehangen und sie ganz oft im Altersheim besucht, hat ihr Kuchen mitgebracht und sich mit ihr gemeinsam ans Fenster gesetzt und herausgeschaut. Manchmal war ich auch dabei, mit Alina auch, die mitwollte und Oma viel netter fand als die eigene Großmutter. Oma hätte mit dem Tod ihr langes Leben zu Ende gelebt, quasi 'vollendet', so sagt der Pfarrer ganz betont, und sie dürfe nun bei Gott sein. Das meine ich auch so! Denn Oma ist ja auch schön alt geworden. Sie hat mir einmal gesagt, dass sie keine Angst vor dem Tod hat, das wäre doch normal, wenn man im Alter stirbt, höchstens vor dem Sterben und vor Schmerzen, die dann vielleicht kommen. Aber sie sei ganz friedvoll eingeschlafen bzw. gestorben, hat die Nachtschwester im Altenheim gesagt, die dabei gewesen ist. Der Gang an das Grab dauert etwas länger; es stört mich ein wenig, dass die Onkels Karl und Friedrich, der jetzt mit seiner ganzen Familie auch dabei ist, über die letzten Spiele der Bundesliga quatschen. Ich hab mir dann die Kopfhörer vom IPhone in die Ohren stecken 20

wollen – aber meine Mutter hat mich ganz komisch angeschaut. Ich hab's gelassen. Macht man scheinbar nicht. Aber dann waren wir da, auf so einem Feld mit ganz vielen Grabsteinen. Die Urne wurde von einem Mann im schwarzen Anzug so richtig würdevoll in die Erde versenkt, Cousine Mareike fängt auf einmal an, fürchterlich zu schluchzen und ihr Gesicht im Taschentuch zu verstecken. Die anderen Cousinen stimmen mit ein und ihre Mütter auch, ich aber beschließe, bei diesem Chor nicht mitzumachen. Der Pfarrer sagt noch etwas, was ich nicht verstehe, und wir beten alle das 'Vater Unser', das ich noch aus der Grundschule kenne. Es geht danach unmittelbar nach Hause, wo wir alle noch ein wenig zusammensitzen, Kaffee trinken (ich kriege 'Cola light') und wieder Mutters Kuchen essen, und uns neben Anderem einige Geschichten aus Omas Leben erzählen. Es wird ganz viel gelacht, weil alle sichtlich erleichtert sind, nachdem nun Oma begraben ist und das Leben für uns nach dieser komischen und anstrengenden Woche weitergehen kann. Meine Mutter hängt noch ein Bild von Oma an die Wand, zu den anderen Bildern von denen, die auch schon tot sind: Vom Opa, den ich nicht kannte, von den Urgroßeltern und den toten Großonkeln und Großtanten. Abends gehe ich übrigens mit Alina in die Disko, es ist Samstag, und da konnten alle kommen und niemand musste sich auf der Arbeit frei nehmen für die Beerdigung. Oma wäre sicher einverstanden, dass ich auch heute am Tag ihrer Beerdigung in die Disko gehe. Sie war ja auch immer lustig, wäre heute wie ihre Lieblingsenkelin Marie (und nicht wie Cousine Mareike) auch kein 'Trauerklos' und würde ganz bestimmt heute auch tanzen gehen. Aber sie fehlt mir doch, die Oma. Schade, dass sie nicht mehr da ist. Ich hätte noch viele Fragen an sie.

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Die folgenden TrauerFallGeschichten enthalten in kursiver Schrift wörtliche Übernahmen aus dem Material (Interviews, Notizen, Protokolle u.a.). Bildaufnahmen enthalten Hinweise auf Gestik und Gesichtsausdruck. Ein phonetisches Satzende wird mit einem Punkt unmittelbar nach dem letzten Wort gekennzeichnet, eine Unterbrechung im Sprachfluss mit einem Punkt. Pausen sind in Klammern gesetzt [ ( ) ], ab zwei Sekunden mit Zeitangabe [ (5) ].

Moritz Moritz, 22 Jahre alt, wohnte mit seinen Eltern und seinem 12 Jahre jüngeren Bruder Max in Lippstadt. Max ist vor einem Vierteljahr gestorben. Max war mit einer schweren Behinderung geboren worden und dauerhaft auf die Hilfe seiner Eltern angewiesen. Moritz hat seit zwei Jahren mit seiner Freundin eine eigene Wohnung in Paderborn. Aus dieser Wohnung wird Moritz eines frühen Morgens herausgerufen. Seine Tante ruft ihn an: Du musst sofort nach Hause kommen. Sofort, bitte! Moritz lässt buchstäblich alles stehen und liegen und fährt sofort nach Lippstadt zum Haus der Eltern. Die in der Nachbarschaft wohnende Tante, die Schwester der Mutter, öffnet ihm die Tür und führt ihn hinauf ins Obergeschoss. Hier ist etwas Schlimmes passiert, denkt sich Moritz, die ganze Zeit über während der halbstündigen Fahrt hat er nichts Anderes gedacht. Ich hatte keine Ahnung, aber ich hatte wahnsinnig Schiss nach Hause zu fahren. Er findet die Eltern im Zimmer des Bruders: meine Eltern saßen am Bett meines Bruders und der Max der lag eben da ( ) ich hab sofort gesehen: der lebte nicht mehr, der war tot. Moritz ist geschockt, er setzt sich zu seinen Eltern, sie nehmen einander in die Arme und sie schweigen. Moritz nimmt die 22

Trauer seiner Eltern wahr: stumm und sprachlos, wie betäubt, wie blockiert. So habe ich meine Eltern zuvor noch niemals erlebt. In der Erzählung des Interviews macht Moritz hier eine längere Pause, so als wolle er das damalige Schweigen und Sprachlos sein nachvollziehen. Danach erzählt er weiter: es war fast unheimlich. Wir haben da gesessen miteinander . geschwiegen . und war irgendwie auch jeder für sich allein hat ich das Gefühl . also ich hab dann noch die ganze Zeit da gesessen und hab mal so die gemeinsame Zeit an mir vorbei ziehen lassen, was wir alles so erlebt haben. Moritz sagt, dass dies wie ein Abschied von seinem Bruder gewesen wäre. Am Vormittag kommt der Hausarzt, ein guter Freund der Familie, vorbei, schaut nach dem Toten und stellt den Totenschein aus. Auch er bleibt eine Weile am Totenbett sitzen, Moritz nimmt die Gelegenheit war, sich ein klein wenig mit ihm zu unterhalten, vor allem um ihn zu fragen, warum Max denn jetzt gestorben ist. Eine zufrieden stellende Antwort darauf bekommt Moritz aber nicht. Max' Leichnam bleibt den ganzen Tag über in seinem Bett. Der Bestatter wird schon früh geholt, er versorgt den toten Körper und es wird verabredet, dass der Leichnam am Abend aus der Wohnung geholt wird. Die Familie soll noch die Gelegenheit haben, sich von Max zu verabschieden, ebenso Nachbarn, Freunde und Bekannte. Moritz erzählt dies folgendermaßen: Nach und nach kam die ganze Familie und die Nachbarn und die Freunde und die Bekannten vorbei um von Max Abschied zu nehmen. Ich empfand das als sehr schön und tröstend, weil es mir gezeigt hat wieviel Anteil sie an Max und an seinem Leben genommen haben und wie sehr sein Tod sie nun traurig gemacht hat. Ich hab mir gesagt: Auch im Tod ist Max nicht allein, weil man sich um ihn kümmert und an ihn denkt. Am Abend kommt das Bestattungsunternehmen und holt den Leichnam ab. Moritz bleibt noch eine kleine Weile, verabschiedet sich dann und fährt nach Paderborn zurück. Meine Eltern brauchten Ruhe 23

jetzt, und ich hatte in Paderborn noch einiges zu erledigen. Er erzählt nicht, dass er an der Vorbereitung der Bestattung teilgenommen hätte, auch nicht über weitere Besuche zu Hause in Lippstadt. Man trifft sich erst wieder bei der Grablegung der Urne zehn Tage später. Auch diese Grablegung erzählt Moritz kurz und knapp: Der kleine Kreis der Familie – unter Ausschluss der ganzen Leute die sonst dabei wären – trifft sich an der Trauerhalle und man geht an das Grab. Ein Onkel sprich ein Gebet und sagt etwas zum Leben des Gestorbenen. Anschließend trifft man sich zum Kaffeetrinken im Hause der Eltern von Max. Moritz berichtet noch, dass nach der Beerdigung trotz des Verzichtes auf jedwede Kenntlichmachung eine gewisse öffentliche Anteilnahme am Tod des Bruders entstand: Nicht wenige Leute hätten erst später von Max Tod erfahren und Beileidskarten geschickt. Ein tröstliches Zeichen in trauriger Zeit! Moritz konnte mir seine TrauerFallGeschichte zweimal erzählen, das macht ihre Besonderheit aus. Zunächst wurde die Tonaufnahme seines Interviews auf der Festplatte abgelegt und nicht weiter bearbeitet. Zu deutlich war ein Bild zu sehen, dass er zu malen versuchte, das aber nicht der Wirklichkeit entsprach. Ich vermutete, dass die Realität der Bestattung seines Bruders eher einem Gegenbild seines summarischen Berichtes entsprach. Dieses Gegenbild wollte ich wiederum nicht spekulativ entwerfen. Um Moritz in der seinerzeitigen TrauerSituation aber nicht zu verletzen, verzichtete ich zudem auf weitergehendes Nachfragen. Das für mich zunächst kaum brauchbare Material 'verschwand' im elektronischen Archiv. Im Herbst 2017 erhalte ich einen Anruf von Moritz. Ich kann mich noch an ihn erinnern. Er fragt, wie weit ich mit meiner Forschungsarbeit bin, welche Ergebnisse ich bereits gewonnen habe und ob sein Interview Verwendung gefunden hat. Er sei inzwischen nach Dortmund gezogen. Das sozialwissenschaftliche Studium in Paderborn hat er mit dem BA abgeschlossen, aber nicht gleich eine Arbeit gefunden und daraufhin in Dortmund in einem katholischen Altenpflegeheim 24

eine Ausbildung zur Pflegefachkraft begonnen. In diesem Zusammenhang hätte er sich an mich und mein Forschungsprojekt erinnert und von der Kollegin im Haus meine Telefonnummer erhalten. Ich freue mich über den Anruf und wir vereinbaren ein Gespräch bei mir zu Hause. Ich frage ihn, ob ich statt schriftlicher Notizen das Gespräch in Bild und Ton aufzeichnen darf – Moritz stimmt zu. Das was ich jetzt mache damit haben Sie ursächlich zu tun. So beginnt Moritz freundlich lächelnd das Gespräch. Ich muss wohl ein etwas verblüfftes Gesicht gemacht haben, Moritz legt noch nach: Ich fand es gut, wie Sie sich für das Schicksal von Max interessiert haben. Und dann der Titel: Doktor der Sozialwissenschaften. Ich war damals gerade im zweiten Semester Sozialwissenschaften. Hat mir unglaublich imponiert. Und dann eben ihre Tätigkeit als Seelsorger im Altenheim. Da hab ich mir gedacht . das wär doch auch was für dich. Das mit dem Altenheim! Ich muss jetzt wahrscheinlich völlig entgeistert geschaut haben; denn so ganz konnte ich seiner Schmeichelei nicht glauben, eigentlich überhaupt nicht. Das haben Sie ganz schön vorher ein geübt oder? Moritz grinst: na klar, ich wusste doch, dass ich ihnen was erzählen musste und da hab ich Ihnen einen um den Bart geschmiert. Ohne Übung geht das nicht. Aber jetzt mal ernsthaft. Und nun erzählt mir Moritz die Geschichte seiner Familie seit dem Tod seines Bruders. Er selbst sei darüber recht schnell hinweggekommen, anders als seine Eltern, die noch sehr lange darunter gelitten haben. Erst langsam hätten sie sich in die neue Situation, nicht mehr für den schwer behinderten Sohn sorgen zu müssen, hineingefunden. Heute genießen sie die Freiheit, das mehr an Zeit, die Ungebundenheit. Und Sie selbst, frage ich. Moritz erzählt mir von der Zeit seines Studiums. Der Tod seines Bruders hätte ihn aber dabei immer wieder begleitet, immer wieder mit Fragen nach dem warum und wieso: Warum verläuft ein Leben so und nicht anders? Da lese ich ein Buch, auf einmal denke ich an den Max, das sitz ich in einem Seminar, und ich 25

denk an den Max. Moritz hat sich in seinem Studium sehr früh für den Bereich der Behinderten- und Seniorenarbeit interessiert und studiert. Dieses Interesse, so seine Bemerkung, kommt natürlich nicht von ungefähr, sondern weil's den Max gegeben hat. und dann werde ich in dem Studiengang natürlich ständig an den erinnert. Seine Bachelor-Arbeit verfasst er natürlich auch zu diesem Thema: Sterben und Tod in Institutionen. Und da ist mir deutlich geworden dass der Tod nicht nur eines ist, sondern viele Gestalten hat. Da gibt's den Tod auf dem Schlachtfeld und andererseits den im Sterbebett im Altenheim. Da werden die einen vor der Zeit plötzlich aus dem Leben herausgerissen, und Andere sind bereits vorher einen sozialen Tod gestorben. Danach ging's für Moritz dann auf die Jobsuche. Ich war grundsätzlich offen für alles, Jugendarbeit, Kindergarten, Arbeit mit Drogensüchtigen, mit Flüchtlingen, mit Randgruppen, schulische Sozialarbeit, also das ganze Programm. Ich wurde dann für das Altenpflegeheim entschieden – will sagen: ich habe anderswo keine Anstellung bekommen – aber ein Beruf mit Zukunft aufgrund der Gesetzmäßigkeiten der Demografie [Moritz lacht ganz kurz]. Es gefällt ihm aber trotzdem oder gerade deshalb dort ganz gut. Man hat ihm empfohlen eine Lehre als Altenpfleger aufzunehmen. Er denkt, dass er dafür ganz gut geeignet ist, und längst nicht jeder kann das machen, und die Aufgabe bereitet ihm viel Freude. Aufstiegschancen gibt es auch. Und wieder ist Moritz seinem Hang zur summarischen Darstellung verfallen. Ich frage ihn, ob wir uns das alte Interview in Ausschnitten anhören und miteinander diskutieren sollen. Er ist damit einverstanden. Ich bringe uns dazu die oben zitierten Stellen zu Gehör. Dann bitte ich ihn etwas dazu zu sagen. Ich lasse ihm Zeit, denn er hat den Ausschnitt zuvor ja noch nicht gehört. Da hab ich Ihnen ja was erzählt, so sein erster Kommentar. Und er beginnt, einiges richtig zu stellen. Am frühen Morgen sei er in Lipp26

stadt angekommen, und hätte dann Max in seinem Bett tot vorgefunden. Das war ein richtiger Schock. Ich hatte vorher noch niemals einen toten Körper gesehen, und da komme ich dann rein und was sehe ich . nicht nur meinen Bruder; sondern sonne richtige Leiche. War zwar immer noch der Max, aber ich konnte ihn so nicht ertragen, ihn länger anschauen oder ihn sogar anfassen irgendwie. Nein das hätte er auch nicht, die ganze Zeit oder nicht, und wenn es irgendwo eine Gelegenheit gegeben hat das Zimmer zu verlassen, dann hat er das getan. Leute kamen natürlich auch vorbei, er war dann immer auch dabei, aber das waren nicht viele. Ganz anders übrigens hätte sich seine Mutter verhalten, Sie hat ihn die ganze Zeit da – ja nicht die ganze Zeit – aber auf jeden Fall immer wieder gestreichelt . Hat ihn mit so Dufttüchern ja . Wie soll ich sagen . abgewaschen im Gesicht ( ) also unwahrscheinlich zärtlich ( ) abgetupft. Die hat ihn auch die ganze Zeit nicht allein gelassen. Bis dann abends der Bestatter kam. Und was er gemacht hätte? Die ganze Zeit? – Er hat gern die Besucher an der Tür in Empfang genommen und in das Zimmer geführt. Und wenn die dann wieder heraus gegangen sind, dann bin ich mitgegangen und hab mir die noch mal ein wenig gekrallt also so zum Gespräch. Das haben die dann auch gern gemacht, weil ich war ja einer der gerade seinen Bruder verloren hat und da war ich eben für die einfach tief traurig und die meinten dann ein gutes Werk zu tun wenn sie mit mir redeten weil ich das ja auch wollte. – Und waren Sie das? – was bitte – ja tief traurig? – Nach einer kleinen Pause verweist Moritz zunächst auf seine Mutter: Sie sei richtig traurig gewesen, ganz tief traurig. Meinem etwas fragenden Blick antwortet Moritz: Nein, das hätte seine Mutter nicht gespielt, oder zumindest ihre Gefühle übertrieben. Sie hätte richtig gelitten an diesem Tag und darüber hinaus, z.B. bei der Beerdigung. Bei ihm selbst: Nein, tiefe Trauer wäre es nicht gewesen, Trauer aber irgendwie schon. Moritz erzählt nun ein wenig aus dem gemeinsamen Leben mit seinem Bruder, von schönen freudigen Zeiten, und 27

auch auch von den Konflikten, die auftraten, vor allem von diesen. Körperlich und geistig behindert wäre Max geboren, und mit einem angeborenen Herzfehler, wie bei der Obduktion herausgefunden wurde. Aber meine Eltern hatten sich in den Kopf gesetzt, ihn zu Hause zu pflegen und nicht etwa in ein Heim zu geben. Sie seien so eine Art Pflegegemeinschaft gewesen, der sich vieles andere unterordnen musste. Und obwohl die Familie alle möglichen Unterstützungsangebote angenommen hätte, wäre es dennoch über die Jahre hinweg eine ziemliche Überforderung gewesen, so Moritz' Fazit. Nach einer kleinen Pause erzählt er von seinen Empfindungen beim Tod des Bruders. Sie seien sehr zwiespältig gewesen; einerseits hat er so etwas wie eine Erleichterung empfunden, eine Entlastung von der Bürde des behinderten Bruders: Babysitter sein, Besorgungen machen, zur Schule bringen, generell: Kannst du mal auf Max aufpassen, kannst du dich mal um den kümmern. Als er ihn aber da so liegen sah, da sei er sehr traurig gewesen. Er war doch mein Bruder! Er war doch sein ganzes Leben bei mir. Ich war der große Bruder, sein Star, sein Held. Er hat total an mir gehangen. Moritz erzählt, wie sich die Beziehungen zu seinem Bruder auslebten – und wie sie entstanden. Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter mit Max nach der Geburt nach Hause kam, son kleines Menschlein, von einer Behinderung war noch nichts zu sehen. Und dann, als er mich das erste Mal so direkt bewußt anschaut: Guten Tag, großer Bruder, da hat er gestrahlt und gelächelt. Das Baby, das den großen Bruder voller Zuneigung anschaut, gewinnt Moritz' Herz, und zwar grundsätzlich, so beschreibt Moritz seine Gefühle gegenüber seinem kleinen Bruder. Er wäre ihm manchmal lästig gewesen, wenn er Anderes plante und die Mutter dann seine Mithilfe einforderte, aber dann sei da immer wieder diese Zuneigung gewesen, das Schutz suchen, auch die gegenseitige Zärtlichkeit, wenn der kleine Bruder sich an den großen klammerte, wenn er sich an mich schmiegte, wenn er mit mir schmuste. Moritz Augen werden feucht, aber nicht aus Trauer, weil er dabei lächelt. 28

Er wird sich an das Gesicht und vor allem an die Augen von Max erinnern, so Moritz. Max sprach zu mir später immer auch mit seinen Augen, er hat mich angeschaut und ich hab gewusst was er meint, was er mir jetzt sagen möchte. Das werde ich wohl niemals vergessen. Diese Liebe des behinderten Kindes begründet die Beziehung zu Moritz, der dies erwidert. Der möchte in Bezug auf seine Gefühle aber nicht von Liebe sprechen, sondern von Zuneigung, Solidarität, zueinander gehören, füreinander Sorgen. Ich frage Moritz nach seinen Empfindungen an dem Tag des Todes und der Aufbahrung seines Bruders. Moritz erzählt mit dem Leichnam seines Bruders nicht in Einklang gekommen zu sein. Das sei nicht Max gewesen mit seinem Blick, seinem Schutz suchen, seiner Nähe, seiner Zärtlichkeit. Seine Gefühle beschreibt er mit Angst, Abwehr, Abscheu: deshalb habe ich es nicht geschafft ihn zu berühren. Nein das war wirklich schlimm. So fremd . So ganz anders. Der Tag selbst mit seinen Ereignissen hat ihn in große Verwirrung gestürzt. Moritz hat die Eltern niemals zuvor so erlebt: Schock, Kummer, Leiden. Diese Gefühle hätten auf ihn ausgestrahlt, so dass er mitgelitten hat – mit seinen Eltern. Die Fahrt nach Paderborn zurück zur Freundin ist wie eine Flucht gewesen, ich brauchte Menschen um mich herum, die nicht trauerten, sondern sich normal verhielten. Also, so Moritz auf meine diesbezügliche Rückfrage, dies sich nicht so in sich selbst zurückziehen, so wie meine Mutter, die hat sich total abgeschlossen an dem Tag . kein Wort, keinen Kontakt, einfach nur Totenstille. Ich frage ihn, was er, Moritz, sich denn in diesen Momenten gewünscht hätte. Na . zum Beispiel in den Arm nehmen, trösten, eigentlich war mir zum Heulen zumute . Aber ging irgendwie nicht. Ja ganz zu Beginn als ich rein kam . Umarmung , schön dass du da bist . Und wir haben zusammen geweint . Wir alle drei. – Ihr Vater auch? Frage ich. Moritz bejaht dies, allerdings sei sein Vater den ganzen Tag kommunikativ kontrolliert gewesen, also keine Gefühlsausbrüche, 29

kein übersteigertes Verhalten. Mittags hat er uns dann Pizza bestellt (2) aber irgendwie tieftraurig war der auch . Aber eben voll kontrolliert. Der hat das nicht nach außen gezeigt. Moritz vermutet, dass Männer anders trauern als Frauen, weil sie es gelernt hätten, ihre Gefühle einzugrenzen und weniger nach außen dringen zu lassen. Wir reden nun über die zehn Tage zwischen Tod und Beerdigung. Moritz ist in der Tat nicht an der Vorbereitung der Beerdigung beteiligt, er fährt auch nicht nach Lippstadt zu den Eltern in dieser Zeit. Aber er spricht einige Male mit seiner Freundin Charlotte über Max, erzählt ausführlich aus dem Leben mit ihm. Er legt ihr auch seine Gefühle offen, sagt, was ihm Max bedeutet hat. Und weinen konnte ich auch und es war gut dass Charlotte da war. Ja und das Folgende können Sie als Pastor sicher nachvollziehen: Und dann abends hab ich für Max gebetet. Seitdem bete ich wieder, was ich seit der ersten Hl. Kommunion nicht gemacht habe. Also ich würd mich jetzt nicht als Kirchenchrist bezeichnen, aber das Beten habe ich wieder angefangen . Zum Beispiel . lieber Gott, pass du jetzt auf den Max auf! Jeden Abend! Ich bete so still vor mich hin. Soll keiner merken . auch Charlotte nicht. [ich frage mich, ob er mir wieder etwas aufbindet] Können sie mir glauben oder nicht . ist aber so. Ich bewerte diese Notiz in der Analyse des Gesprächs als authentisch; Moritz scheint aus seiner religiösen Vergangenheit eine Ressource bewahrt und neu wieder gewonnen zu haben, die ihm in diesen Zeiten der Trauer hilft. Bestätigt wird meine Einschätzung durch eine Postkarte mit einem Marienbild, die Moritz hervorholt: eine Marien-Skulptur mit einem etwas älteren, vielleicht sechs Jahre alten Jesus-Kind. Die Figuren sind groß und sehr schlank. Das Kind sitzt auf dem Schoß der Maria mit dem Rücken zu ihr; beide sind mit dem Körper nach vorn in die gleiche Richtung ausgerichtet, beide schauen auch in die gleiche Richtung. Moritz schaut hierbei auf das Bild, hebt den Blick nicht hoch. Hab ich in einem Antiquariat gefunden . Soll mal in Paderborn in einem Kloster gestanden haben. Das hat 30

mich so an Max erinnert wie er jetzt auf dem Schoß der Mutter Gottes mit ihr dahin guckt, wohin er von uns gegangen ist. Die Beerdigung der Urne fand in kleinstem Kreis statt, meine Eltern, ich, Tante Barbara mit Onkel Franz und Cousine Franziska, unser Hausarzt mit seiner Frau und Onkel Karl. Karl ist Diakon in einer katholischen Gemeinde in Dortmund und hat einen kleinen Gottesdienst am Grab gehalten. Ich frage nach den Gründen für die Einschränkungen der Teilnehmenden auf diesen kleinen Kreis. Erwartete große Zahlen seien es schon gewesen, zum Beispiel aus der VinzenzSchule in Lippstadt, die Max besucht hat, so Moritz. Das wollten sich meine Eltern ersparen. Irgendwie doch verständlich . oder ? Moritz hat die doch zahlreichen Beileidsbekundungen nach der Beerdigung als tröstend empfunden. Schlimm isses nur wenn so eine Beerdigung im kleinsten Kreis stattfindet weil man weiß dass eh keiner kommt. Diese Erfahrung müsse er im Altenheim immer wieder machen; aufgrund seiner Qualifizierung durch das Studium und die Bachelor-Arbeit habe er an nicht wenigen solcher Beerdigungen teilgenommen, die beauftragen mich dann immer mit der Vertretung des Hauses auf dem Friedhof. Aber er hat diese Aufgabe gern übernommen, zumal er manche der Gestorbenen auch gut gekannt hätte. Vor einigen Wochen sei ein alter Herr gestorben, mit dem er sich so manches Mal auch etwas länger unterhalten hätte. Als er dann gestorben war, hat es ihm richtig weh getan. Wir haben ja eine Sterbebegleitung bei ihm gemacht, also ist immer einer an seinem Bett gesessen und dann hinterher lag er da . so wie der Max. Aber diesmal war's anders, ich hatte keine Angst ihn zu berühren. Und unsere evangelische Pastorin hab ich gebeten ein Gebet zu sprechen an seinem Bett. Die war gerade da und da hab ich sie mir gekrallt [Moritz lacht] . Neh das war mir wirklich wichtig vielleicht, weil ich bei Max da ein wenig was versäumt habe. Wir unterhalten uns noch ein wenig über seine Arbeit im Altenpflegeheim. Er erzählt, dass sie gerade an einem Konzept zur Begleitung Sterbender und Trauernder arbeiten. Gerade die Arbeit in einem 31

Altenpflegeheim werfe einige Fragen auf, es würden aber auch Antworten gegeben. Nächstenliebe hieße doch auch, mit den Alten, Sterbenden und Toten liebevoll umzugehen, sie nicht allein zu lassen, wenn sie sterben. Moritz redet sich in eine Art Begeisterung hinein: Das ist sozusagen das Kriterium, wie soll ich sagen, das ganz entscheidende, wie wir damit umgehen, mit den Alten, mit unseren Eltern, also mit denen die sterben und von uns gehen. Da geht es um Leben . Und zwar auch um unser eigenes Leben. Damit du lange lebst auf Erden! Wir haben dabei in die Bibel geschaut: Das erste soziale Gebot: du sollst Vater und Mutter ehren, was heißt denn das? Dass sie alt werden dürfen, sanft und in unserem Dabeisein sterben und dann erinnern wir uns dankbar und liebevoll an sie. Ismael und Isaak begraben ihren Vater Abraham, geleiten ihn zur letzten Ruhe, genau so ist es gemeint. Und dann: Nachdem Abraham gestorben war, segnete Gott Isaak und Ismael. Sie haben weiter gelebt beim Brunnen des Lebens . Oder so ähnlich. Moritz sieht manche Entwicklungen heute sehr kritisch: Natürlich kommen die alten Leute zu uns um zu sterben. Aber wenn sie bei uns reinkommen, sind viele irgendwie an die Seite geschoben, abgeschrieben . sozial tot. Deshalb, so Moritz, heißt es im Konzept: in Liebe und Achtung ihrer Person sterben. Das sei wichtig, damit wir alle am Leben bleiben. Das Gespräch geht noch eine Weile weiter; ich lerne viel von Moritz und seinen Erfahrungen im Altenheim. Der Tod und die Umstände der Bestattung von Max seien für ihn so eine Art Initialzündung für sein weiteres Leben geworden; so oft erinnere er sich an seinen Bruder, traurig, liebevoll, dankbar. Zum Abschluss bittet er mich, mit ihm das 'Vater Unser' zu beten, sie sind doch Pastor. Wir beten miteinander und Moritz fügt noch einen Satz hinzu [leise, fast flüsternd]: Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Und pass auf den Max und all die anderen auf! 32

Sarah Sarah ist 19 Jahre alt und studiert im 1. Semester Ev. Theologie und Latein für das Lehramt in Bonn. Sarah arbeitet seit ihrer Konfirmation ehrenamtlich in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Ich lerne Sarah über die in Bochum ausgelegte Einladung zum Interview kennen, die ihr ein Freund, der in Bochum studiert, zuschickte. Benny, ein Freund Sarahs aus 'der Gruppe', einer Jugendgruppe der Evangelischen Kirchengemeinde in Stahlhaus, ist vor einigen Monaten 'plötzlich und unerwartet' gestorben. Noch wenige Tage vor dem Tod hatten die beiden mit weiteren Freunden der Gruppe ihre schulischen Abschlüsse (Abitur, Fachhochschulreife) gefeiert. Mit dieser Feier im Freundeskreis beginnt Sarahs Erzählung. Die Zusammenkünfte in der Gruppe sind die Rahmen ihrer Narration und stellen eine Dimension des Feldes dar. Hierzu passt auch die Örtlichkeit des Interviews, es findet im Gruppenraum statt. Hier beginnt Sarah temporal, lokal und sozial mit ihrer Erzählung. Die Eingangssequenz wird in ganzer Länge wieder gegeben: Als ich das mit dem Tod von Benny hörte, war ich erst mal total geschockt. Wir haben hier ein paar Tage vorher noch zusammen gesessen, genau hier . hier in diesem Raum . in der Gruppe . [zeigt auf einen Stuhl] da vorn hat der Benny gesessen . Wir haben unsere Schulabschlüsse gefeiert . Und dass jetzt niemand mehr zur Schule gehen muss . 'school‘s out forever' – Benny hatte die Gitarre dabei und nach jedem Zeugnis spielte er das Anfangsriff . [summt die Melodie] Du kennst den Song (?) / ja / ist auch so'n Oldie / hmh danke! / – Alice Cooper (3) ja . und wir dann [Sarah singt das Folgende] 'school's out for ever' dieses Stück hatte er aus seiner Gitarrenschule. ( ) Also . wir brachten unsere Urkunden mit in die Gruppe . also ich in Kopie ( ) und dann . Was machst du jetzt damit . gehst du studieren . machst du ne Ausbildung . 33

und so weiter. Und dann wieder 'school's out forever' . Benny hatte seine Fachhochschulreife bestanden und redete dauernd davon, dass er jetzt . hier in Aachen . hier an der FH studiert ( ) Soziale Arbeit. [leiser] und dann auf einmal (3) Bin grade aufgestanden . und da meldet sich 'WhatsApp' und da steht das dann (4): [laut, fast schreiend] Scheiße, der Benny ist tot! Ich weiß nicht wie oft ich's gesagt habe . Geschrien habe ich es glaub ich . irgendwann kam meine Mutter rein . Mensch Mama, der Benny ist tot! ( )[leise] Da hat sie mich einfach nur in den Arm genommen. [Sarah hat Tränen in den Augen. Sie steht auf und holt ein Taschentuch aus ihrer Jacke, wischt sich damit über die Augen, kommt dann wieder] so, geht wieder [schnieft] (3) Hey . das ging nicht in meinen Kopf rein. Wie (?) Bin ich im falschen Film (?) Der ist tot? Der lebt nicht mehr (?) Den hab ich doch eben noch …. Wieso ist der tot? der hatte sein Leben doch noch gar nicht fertig gelebt . Der hat doch gerade erst damit abgefangen .der hatte noch so viel vor . Der wollte jetzt durchstarten . neu beginnen . nach einer ziemlich verkorksten Schulzeit (2) der Benny hatte einiges drauf . So'n paar Fähigkeiten . Die viele auch mit besseren Noten nicht haben . Gitarre spielen zum Beispiel .Tears in heaven / Clapton / war sein Stück . Das waren seine Noten [lacht] (2) auf dem Friedhof habe ich geheult, wie's gespielt wurde. (2) Und dann ist der tot, einfach so . einfach so weg (2) ich konnte das gar nicht begreifen. (2) ja . mhm (5) Die Gruppe trifft sich am Schuljahrsende um die Abschlüsse zu feiern. In der Schulzeit haben sie sich über Jahre hinweg wöchentlich getroffen. Enge Freundschaften sind entstanden, so auch zwischen Benny und Sarah. Wir waren etwas mehr als ein Jahr zusammen, der Benny und ich, so erzählt Sarah. Auf Nachfrage nach den Gründen der Trennung, möchte Sarah nichts sagen; sie hätten eben nicht zueinander gepasst. Aber die Gruppe haben Sie beide weiterhin besucht. Eine tolle Gruppe sei es gewesen: Soziales Engagement, tolle Diskussionen, viel Musik, und vor allem einfach Spaß. Wir kannten uns eben unglaublich lange, manche seit der Kindergartenzeit. Und mittendrin 34

der Benny, mit seiner Gitarre, ein lustiger Typ sei er auch gewesen, nur mit der Schule, da hätte er so seine Schwierigkeiten gehabt. Aber das sei jetzt ja vorbei, so Sarah ein wenig zweideutig. Eine tolle Gruppe sei es gewesen – Warum gewesen“, frage ich. Sarah antwortet, dass sie seit der Beerdigung nicht mehr die Gruppe besucht hätte. Wir kommunizieren über 'WhatsApp', das ist ok so. Wie es mit den anderen Gruppenmitgliedern stände, wüsste sie nicht. Sie würde ja jetzt in Bonn studieren und hätte keine Zeit mehr an den Gruppentreffen, sofern sie noch stattfinden, teilzunehmen. Dann war hier das letzte Treffen vor Bennys Tod auch das letzte Treffen der Gruppe? Frage ich. Das kann man ruhig so sagen antwortet Sarah. Wir haben nicht mehr die gleichen Schulzeiten, manche sind von zuhause weg . hier studieren, dort eine Ausbildung. Hannah geht für ein freiwilliges soziales Jahr nach Afrika, zum Beispiel. Naja und ich . Bin jeden Tag in Bonn an der Uni . Sarah erzählt von ihren Umzugsplänen; die Fahrt jeden Morgen und jeden Abend mit Bus und Bahn raubt ihr einfach zu viel an Freizeit. Und was hatte Benny vor, frage ich. Benny wollte weiterhin zuhause wohnen. So erfahre ich. Der wollte auch die Gruppe zusammenhalten. Ich frage nach dem Standort, der Rolle Bennys innerhalb der Gruppe. – Benny war so ein missing link, der hat die Gruppe auch so ein bisschen zusammen gehalten –. So ein Leader? – Hey so eigentlich nicht, aber für den Benny war die Gruppe unglaublich wichtig . glaub ich ( ) also ich hatte da schon einen größeren Abstand (2) und mit seiner Gitarre hat er die Gruppe schon zumindest musikalisch . Mhm ( ) zusammengeschweißt. () ja so war das. (4) – Bis zuletzt? – Ja ( ) bis zuletzt! (4) Bis zuletzt! Sarah möchte hier nicht sagen: Bis zu seinem Tod. In Erinnerung ist ihr das letzte Treffen der Gruppe, das sich freilich kurz vor dem Tod ereignet. Sarah verknüpft in ihrer Erzählung die beiden Erfahrungen miteinander. Jene letzte Gruppenstunde bedeutet für ihre eigene Biografie das Ende langer gemeinsamer Zeit. Die Gruppe geht für ihr Empfinden danach auseinander, dieses Schuljahrsende ist als 35

biografischer Wendepunkt Abschluss des Alten und neuer Beginn. Bennys Tod könnte für Sarah ebenso ein Abbruch als Ende von Vergangenheit und Verlust der Zukunft sein. Aber Benny ist in seinem Leben und seinem Tod Vergangenheit, Gegenwart und auch Zukunft der Gruppe. Es ist offensichtlich, warum Sarah Bennys Gruppenstatus so erzählen muss: Der hat die Gruppe auch so ein bisschen zusammengehalten. In ihrer Erzählung bindet sie beides zusammen. Den 'lebenden' Benny macht sie zum Stabilisator der Gruppe bis zum letzten Treffen, bis zuletzt! Und über diesen Wendepunkt hinaus; in ihm hätte die Gruppe möglicherweise weiterhin Bestand haben können. Allerdings ist der gestorbene Benny gerade das Gegenteil jedes stabilen Bestandes. In seinem Tod sollte zugleich auch die Gruppe ihr Ende finden. Für Sarah bezeichnet aber jenes letzte Treffen bereits das Ende. Bennys Tod ist die personale Erfahrung dieses Endes. Benny 'ist' die Gruppe als Lebender und als Toter. Ein Prozess der Bestattung beginnt in der Erzählung Sarahs bereits mit der letzten Gruppenstunde und nicht erst bei der Nachricht des Todes. Sie erzählt uns von ihren sehr persönlichen Empfindungen in dieser Situation, ihrem Unverständnis, ihrem Zorn, ihrem Nichtverstehen angesichts des Todes des Freundes. Dieses Erleben ist ihr noch sehr nahe, und so erzählt sie es auch: sie durchlebt jene Szene noch einmal: und dann auf einmal (3) Bin grade aufgestanden . und da meldet sich 'WhatsApp' und da steht das dann (4):[laut fast schreiend] Scheiße, der Benny ist tot! Ich weiß nicht wie oft ich's gesagt habe . Geschrieen habe ich es glaub ich . irgendwann kam meine Mutter rein . Mensch Mama, der Benny ist tot! ( )[leise] Da hat sie mich einfach nur in den Arm genommen. [Sarah hat Tränen in den Augen ...] Darf Sarahs Gefühlsausbruch als Folge eines Schocks aufgrund der Nachricht vom Tod ihres Freundes interpretiert werden? Ihre Mutter reagiert unmittelbar mit dem, was Sarah jetzt helfen kann: Sie schenkt ihr die Geborgenheit und Nähe, die Sarah in diesem Moment der 36

Krise benötigt. Sich in einem Krisenfall einander zu nähern, einander zu umarmen und schlicht körperlich einander Gemeinschaft zu vermitteln, gehört zu den 'selbst'verständlichen Basisroutinen der Individuen (Bowlby, Durkheim 1912: 535). einfach nur, genau so versteht Sarah das Verhalten ihrer Mutter. Deshalb kommen in ihr Tränen hoch in der Erinnerung an die Zuneigung der Mutter. Die anschließend erzählten Gedanken über die Sinnhaftigkeit und den Grund des frühen Todes hat Sarah sehr wahrscheinlich in jenem Moment und in dieser Form nicht angestellt. Vor allem im zweiten Teil nimmt sie bereits die Bestattung und das Grab vorweg. Dies kennzeichnet die Passage als nachträgliche Gedanken möglicherweise aus dem heute und als Artefakt der Interview-Situation. Sarah möchte in Ihrer Erzählung ein Gesamtbild Bennys und der Gruppe erstellen. Dieses war Thema des vorausgehenden Abschnitts. Situativ authentisch erscheint mir eine emotionale Komponente der Überlegungen und der daraus resultierende Gefühlsausbruch: Ich kann das gar nicht begreifen . bis heute nicht (3). Das Empfinden eines nicht Verstehen Könnens des Todes des Freundes belastet Sarah bis heute. Sein Tod durch kreuzt die Perspektive seines Lebens und legt eine abschließende Beurteilung aus der Vergangenheit heraus nahe. Aus dieser heraus bleibt sein kurzes Leben fragmentarisch. Ein Leben in Zukunft aus seinen Talenten heraus zu führen ist ihm durch diesen unzeitigen Tod geraubt. Ich bitte Sarah weiter zu erzählen. Sarah erzählt nun von der Kommunikation über 'WhatsApp', die nach einigen Minuten losbrach. Die Gruppe ist über dieses textbasierte Medium miteinander verbunden. Die Nachricht, die Sarah so schockierte, ist auch an die anderen Gruppenmitglieder zeitgleich von Hannah versandt worden. Hannah wiederum hatte die Information von Bennys Klassenkameradin Sophie erhalten. Die Gruppe kommuniziert nun über 'WhatsApp':

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Weiß jemand was passiert ist – woran ist er gestorben – wann und wo – wann ist die Beerdigung – war schon jemand bei den Eltern – sollen wir zusammen zur Trauerfeier gehen? Solche und andere Fragen werden ausgetauscht. Auch Empfindungen und Gefühle werden mitgeteilt und mit 'Emoticons' illustriert: Mensch ich bin sowas von traurig – Das kann doch nicht stimmen . das darf nicht stimmen. – der Benny tot . Nee . woll (?) – ich bin auch total entsetzt ich kann das nicht verstehen – ich kann nur noch heulen *wein* – . Nach und nach erfahren die Gruppenmitglieder etwas mehr: Benny sei an einem plötzlichen Herzversagen gestorben. Die Trauerfeier zur Urnenbeisetzung sei in einer Woche am Freitag auf dem Evangelischen Friedhof. Auf Nachfrage erklären alle Gruppenmitglieder an der Trauerfeier teilnehmen zu wollen. Sie, Sarah, hätte den Auftrag erhalten, im Namen der Gruppe die Eltern zu, besuchen'. Andere werden beauftragt, auf einem Internet-Friedhof eine Anzeige zu schalten. Sarah erzählt nun von ihrem Besuch bei den Eltern zwei Tage später. Man kennt sich aus den Zeiten der engeren Freundschaft zwischen Benny und Sarah. Sarah ist nicht wohl bei dem Gedanken an den Besuch. Was wird sie im Trauerhaus erwarten an Stimmungen und Emotionen? Sie hat sich zuvor telefonisch angemeldet, und die dann ausgesprochene Einladung klang sehr freundlich. Bekleidet ist sie mit dunklen Jeans und schwarzen T-Shirt. So Trauerklamotten sagt sie, und ich wollte die Eltern nicht irgendwie provozieren durch Kleidung. Auf meine Rückfrage: Wieso provozieren? antwortet Sarah: Na, wenn ich bei denen erschienen wäre mit so auffälligen Sachen . Zum Beispiel ein T-Shirt mit irgend son dummen Spruch vorn drauf . ich hätt mich selbst irgendwie . blöd gefühlt . ich wollte denen doch zeigen wie leid mir das tut für sie Sarah wird von Bennys Eltern liebevoll aufgenommen. Die Mutter fällt ihr weinend um den Hals und schön dass du uns besuchen 38

kommst. Erdbeertörtchen hat sie zubereitet . Die ißt du doch gern. Sarahs Beklommenheit, wie sie erzählt, verändert sich in Wohlbefinden, man kommt ins Gespräch miteinander, Thema sind das Leben und der Tod von Benny. Ja, er hatte einen Herzfehler. Wir haben damit rechnen müssen, insofern kommt sein Tod plötzlich, aber nicht unerwartet, so die Eltern. Der Sarkasmus dieser Aussage wäre übergegangen in ein gemeinsames Weinen. Ich konnte da auch nur noch weinen, erzählt Sarah. Die Eltern drücken ihre tiefe Traurigkeit aus, ihre Hoffnungslosigkeit, den Verlust von Zukunft gemeinsam mit dem Sohn, ihrem einzigen Kind. So richtig wissen wir noch nicht wie es mit uns weitergehen soll . Aber irgendwie muss es , so gibt Sarah diese Äußerung der Eltern wieder. Die haben mir so unendlich leid getan und ich fühlte mich so total ohnmächtig und hilflos. Die Eltern erzählen Sarah, wie wichtig für Benny die Gruppe gewesen sei, sozusagen sein zweites zu Hause. Er hätte um die Möglichkeit eines plötzlichen Todes gewusst, aber dann hätte er gesagt, dass er die Zeit, die noch bleibt, doch mit seiner Familie, mit seinen Freunden und mit der Musik verbringen möchte – leben bis zum letzten Atemzug, wie es in einem Lied heißt . Das hat er gern gespielt in der letzten Zeit. Jetzt weiß ich auch warum . So Sarah. Die Schule und ihre Leistungsanforderungen seien dem gegenüber völlig nebensächlich gewesen und zurück getreten. Und sein mögliches Studium an der Fachhochschule? In der Eingangssequenz hatte Sarah nach der Erwähnung dieses Studienvorhabens unmittelbar mit der Erzählung von der 'WhatsApp'Nachricht seines Todes fortgesetzt. 'ex eventu' kennt sie ja die weiterführende Lebenslinie. Aber zuvor: Wir haben echt nicht gemerkt wie es um ihn stand. Auch sie selbst als ehemalige feste Freundin hätte das nicht gewusst, erzählt Sarah. An diesem Nachmittag bei den Eltern von Benny und bei diesem sehr tiefen Gespräch sei ihr der Freund noch einmal ganz anders vor Augen gestellt worden: Warum er die Gruppe so geschätzt

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hatte, sie zusammenhielt, seine Motivation, seine Musik und auch die Auswahl seiner Lieder. Noch eine ganze Weile sitzt Sarah mit den Eltern zusammen. sie erzählen sich aus dem Leben von Benny. Die Mutter holt ein jüngeres Bild von ihm hervor und stellt es auf den Tisch. Eigentlich hätte sie es erst nach der Beerdigung so tun wollen, aber jetzt, wo wir so an ihn zurück denken – das ist der richtige Zeitpunkt. Über 'WhatsApp' informieren sich die Gruppenmitglieder untereinander. Man vereinbart den gemeinsamen Besuch der Trauerfeier. Ob jemand etwas sagen möchte, eine Rede etwa, wird diskutiert. Aber das fanden die meisten dann doch etwas zu heavy, so Sarah. Die Planung ist, nach den Eltern und weiteren Verwandten gemeinsam an das Grab zu treten. Ein großer Strauß von Rosen soll gekauft werden aus dem jedes Gruppenmitglied eine Rose in das Grab wirft. Eine kleine Weile wird noch über die Farbe der Rosen diskutiert beziehungsweise gestritten; aber dann haben wir uns darauf geeinigt einfach mehrere Farben zu nehmen und jeder kann sich dann eine aussuchen ( ) Also mir war klar, ich werde eine rote Rose nehmen. Knapp eine Woche später findet die Trauerfeier auf dem Friedhof in Stahlhaus statt. Die Freunde treffen sich vor dem Friedhof betreten dann gemeinsam die Trauerhalle. Die war schon so gut wie voll als wir da reingehen . manche von uns kriegten keinen Sitzplatz, sondern musste stehen. Dennoch empfindet Sarah die Atmosphäre in dieser Trauerhalle als sehr würdig und angemessen. Dass vorne nur eine Urne steht irritiert sie zunächst, aber das war so ein . Blumenmeer um die Urne herum und . dann wurden ja auch später sein Lieder gespielt ( ) da ging das mit der Urne doch ziemlich an mir vorbei. Sie empfindet es als tröstlich, dass so viele Menschen aus Stahlhaus von Benny Abschied nehmen. Das ist doch ein schönes Zeichen dass so viele jetzt traurig sind und dass Benny uns fehlt. Dass wir ihn gern hatten. Sarah fügt leise hinzu: ich hab ihn lieb gehabt, den Benny. Auch wenn's zwi-

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schen uns irgendwie doch nicht geklappt hat. [sie hat Tränen in den Augen]. In der Trauerhalle hätten fast alle geweint, vor allem als die Lieder gespielt wurden: 'Ich will leben bis zum letzten Atemzug' . Und 'Tears in Heaven', seine Lieder. Beide Lieder nahm der Pfarrer in seiner Predigt auf. Sarah empfindet, dass der seinen Job super gemacht hat. Also ich hab gemerkt . dass es ihm wahnsinnig schwer fiel(2). Benny war bei ihm im Konfirmandenunterricht gewesen und lange Jahre davor im Kindergarten. Sarah empfindet es als angenehm, dass er von seinen Begegnungen mit Benny erzählt und nicht irgend son blabla von sich gibt. Ich frage nach, was sie unter 'Blabla' versteht. Na wenn der irgendwas über Gott und die Welt erzählt und ich hab so das dumme Gefühl . das hat den Benny nicht interessiert und mich interessiert es auch nicht. Das ist dann für mich Blabla. ( ) Der Benny war wichtig ( ) also da . jetzt aufm Friedhof . und da musst er dann auch von ihm reden. Das hätte der Pfarrer ja auch getan, von Benny reden und sie selbst ansprechen. Ich frage nach Inhalten des Trauergottesdienstes und der Predigt. Sarah erzählt mir, was sie von der Trauerfeier mitgenommen hat: Also erst mal dass wir . dankbar sein können . für sein Leben auch we ( ) wenn es so kurz war . aber Leben bis zum letzten Atemzug. Ich konnte dem Pastor da voll zustimmen ( ) was wäre die Gruppe gewesen ohne den Benny und seine Gitarre und seine Musik und . Ähm (2) [lauter] eben . ohne ihn (3)Und deswegen sollen wir von Benny lernen . das Leben zu leben . nicht in Zukunft, sondern hier . jetzt und heute . Musik . quatschen . Mit den Freunden was machen (3) mit Liebe . ja . mit Liebe (2) fand ich toll wie er das so sagte, (2) der Pastor . das hab ich mir gemerkt. (2) Ja und dann sind wir dann ans Grab gegangen. Nur Inhalte von hoher lebensgeschichtlicher Relevanz innerhalb des Gottesdienstes sind Sarah erinnerlich. Dem Pfarrer scheint es 41

gelungen zu sein, in Anlehnung an die Texte der beiden Lieder solche aufzuzeigen und sie mit der Person des Toten zu verknüpfen. Assoziative Erweiterungen der Predigtgedanken durch Sarah sind anzunehmen: Sie bezieht den Grundgedanken der Predigt auf die Gruppe und die in ihr stattfindenden Interaktionen: Gespräche, Musik, Freunde. Eben Liebe. Es ist naheliegend, im Letzteren die Aussage der Predigt festzumachen. Sarah erzählt anschließend von der Grablegung. Aufgrund der großen Zahl der Trauergäste kann die Gruppe erst recht spät an das Grab treten. Die Gruppenmitglieder legen ihre Rosen auf das Grab. Sarahs Rose ist rot. Sie kondolieren bei den Eltern und verlassen dann den Friedhof. Es sei schon recht wichtig gewesen bis zuletzt zur Grablegung dabei zu sein. Das hat der Benny verdient, sagt Sarah. Obwohl mir das nicht viel gebracht hat. Irgendwie war das komisch mit der Urne. Das war nicht mehr der Benny. Obwohl wir wussten dass da doch doch seine Asche drin war . Erde zu Erde, Asche zur Asche, so hätte es auch der Pastor gesagt. Ich frage Sarah, wann für sie so etwas wie ein Moment des Abschieds gewesen sei, wenn nicht bei der Beisetzung der Urne. Keine Ahnung (2) da ist soviel passiert ( ) ne echt . Weiß nicht muss ich drüber nachdenken. Meine Frage trifft sie unvorbereitet, sie selbst hat sich diese Frage noch nicht gestellt. Sie erinnert sich an wichtige Momente in der Woche der Bestattung: Vielleicht im Gespräch mit den Eltern, als die Mutter das Bild auf den Tisch stellt. Oder als sie ihre Rose auf das Grab legte. Oder nun nach der Trauerfeier. als sich die Gruppe das letzte Mal zusammentut. Wir dachten zurück an die Zeit mit Benny . wie es war ( ) quatschen darüber, was nach dem Tod ist ( ) hören Musik (2) sagen gar nichts mehr, sondern sind still (2) und irgendwie haben alle geweint (3) alle haben das (2) wir alle. Das Interview macht hier eine lange Pause. Ich unterbreche diese Pause nicht. Sarah weint, ganz leise. Und dann sagt sie:

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Aber im Himmel gibt es keine Tränen. Sagt der Clapton . Da gibt es nur noch Liebe ( ) Das hat unser Pastor übrigens auch gesagt – in der Trauerrede. Also ich fand, dass das gut tat das zu hören ( ) hat mir richtig gut getan (4) und war auch gut für'n Benny. Ich frage nicht weiter nach, sondern wir beenden das Interview. Und mir wurde klar, an welcher Stelle Sarah Abschied genommen hatte und es auch immer wieder tun wird, wenn sie Clapton hört, sich erinnert, und ihr dann die Tränen kommen. Diese Trauer wird bleiben, aber sie wird ihr immer wieder gut tun – aus Hoffnung.

Alex Alex ist 29 Jahre alt, aktiver Fußballspieler, selbstständiger Werbefachmann, lebt in einer festen Beziehung, Er ist konfessionslos. Ich nehme Kontakt zu ihm auf über einen meiner Söhne. Mein Beruf als Pfarrer ist ihm bekannt. Das Interview findet statt in der Wohnung meines Sohnes. Alex' Freund Enzo ist gestorben. Beide waren engste Freunde seit Kindheitstagen, zuletzt waren beide Spieler derselben Fußballmannschaft. Seit einigen Jahren litt Enzo an Leukämie. Auch in den Phasen stationärer Behandlungen und Therapien verlor er aber nicht den Kontakt zum Freundeskreis der Fußballmannschaft. Die Freunde besuchten ihn, hofften für ihn, stützten und stärkten ihn; die meisten von ihnen ließen sich als möglicher Knochenmarkspender testen. Zum Zeitpunkt des Todes im Krankenhaus war einer der Freunde aus dem Freundeskreis anwesend. Zu Beginn persönliche Äußerungen: War dann () ziemlich krasses Erlebnis natürlich auch aus dem Grund her […] pass auf der Enzo ist tot (2) was bei mir ich sag mal erstmal zu einer Art (2) irgendetwas zwischen Schockstarre und Nichtglauben43

Wollen irgendwo führte () weil man hat es latent im Hinterkopf gehabt nach dem Motto gut ist klar ein Risiko ist da aber es war halt immer die Nachricht da schlägt was an da funktioniert was und da er nie was hatte () war irgendwie im Hinterkopf immer er packt das () Und dann kam halt irgendwann die finale Nachricht ne du () der hat die Augen zugemacht und wird sie auch nicht wieder aufmachen [...] Alex und die anderen Freunde werden per Telefon informiert: Enzo ist tot. Alex hat damit gerechnet, aber die Reaktion auf die Nachricht ist doch irgendetwas zwischen Schockstarre und Nichtglauben-Wollen, wie er seine Empfindungen in diesen Minuten beschreibt. Er ruft erstmal die nächsten Freunde an und sagst mal wir setzten uns jetzt zusammen. Innerhalb einer Stunde sitzen auch wirklich die engsten Freunde zusammen und tauschen sich aus, wie sie das jetzt finden. In Absprache mit der Familie vereinbaren die Freunde, aktiv an der Bestattung teilzunehmen. Vor und nach der Beerdigung nehmen die Freunde Teil an der Trauer der Familie, besuchen gemeinsam mit den Angehörigen den beim Bestatter aufgebahrten Leichnam. Sie sorgen für ein großes Gesteck, das in prominenter Position aufgestellt ist. Die Freunde sitzen in der Trauerfeier nicht nur aus organisatorischen Gründen in der ersten Reihe. Sie wollen nicht einfach nur dabei sein, sondern ihren Freund an das Grab geleitet. Fünf der besten Freunde und der Bruder des Toten wollen den Sarg an das Grab tragen. Sie müssen als Sargträger also vorne sitzen und in vorderster Front die Halle verlassen. Es ist Alex wichtig, gemeinsam mit den Anderen als enge Freunde Enzos wahrgenommen und als Trauernde etwa durch Kondolieren gewürdigt zu werden. Enzo wird nach katholischem Ritus bestattet. An der Trauermesse am Morgen des Beerdigungstages nimmt Alex teil; Inhalte und Ablauf sprechen ihn aber nicht an. Erst die Trauerfeier am Nachmittag mit ihren auf die Person bezogenen Inhalten würdigt er positiv als angemessene Verabschiedung vom Freund. Nach den aus seiner Sicht unpassenden und unpersönlichen Auslassungen des Vormittags steht 44

nun die Person des Freundes im Mittelpunkt, gewürdigt durch große öffentliche Anteilnahme, verschiedene Wortbeiträge zum Leben Enzos und durch eine von tiefer Trauer geprägten Atmosphäre. Erleichtert und gelockert sitzen Freunde und Familien und weitere Besucher der Trauerfeier anschließend beim Leichenschmaus zusammen. Die Freunde besuchen abends abschließend noch die Familie und sitzen dann selbst zu Erzählungen und Anekdoten über vergangenes Leben zusammen. Diese soziale Struktur der Kenntnisnahme, der 'Verarbeitung', der Kommunikation über den Tod des Freundes und dann schließlich des kohäsiven, solidarischen Handelns ist das Charakteristikum der Fallgeschichte von Alex: Er 'trauert' innerhalb seines Freundeskreises. Er kann wie von einer höheren Warte aus die Geschichte der Bestattung ohne Emotionen erzählen, weil seine individuellen Gefühle in die des Freundeskreises implementiert sind. Er beginnt die Erzählung seines Interviews mit der Beschreibung seiner Empfindungen von Ohnmacht, Chaos, Passivität, Ausgeliefertsein und Loslassen müssen beim Erhalt der Todesnachricht, und geht dann über in die Erzählung einer gemeinsamen 'Trauerarbeit' (Alex spricht von Bewältigung) der Clique, die sich auf die Beerdigung vorbereitet. In diesem großen zweiten Teil seiner Erzählung 'trauert' Alex nicht allein. Der individuellen Situationsbewältigung stellen Alex und seine Freunde das gemeinsame Handeln während der Bestattung als Modell der Trauerarbeit entgegen. Seine Empfindungen thematisiert Alex noch einmal bei der Konfrontation mit dem Leichnam. Er besucht den beim Bestattungsunternehmen aufgebahrten toten Körper des Freundes, sich selbst nicht sicher, ob er sich dem Anblick überhaupt aussetzen möchte. Er verknüpft diese Unsicherheit mit dem Aussehen des Freundes im Krankenhaus innerhalb der letzten Wochen vor seinem Tod: Fast wie eine Leiche (eine Mumie, sagt Alex,) sah der Freund aus – ein Bild, dass Alex eigentlich möglichst schnell vergessen möchte. Lebendiger möchte er ihn in Erinnerung 45

behalten, als besten Freund, der mit Fußball spielt, Teil des Freundeskreises ist, hin und wieder zu Besuch kommt und man labert miteinander. Aber Alex setzt sich der Begegnung aus: Da war ich lange mit mir selber am hadern aber ich bin auf jeden Fall einmal hingegangen () war jetzt auch nicht schlimm () Ich glaube den Eltern hats auch viel bedeutet dass ich da war und Abschied genommen habe. Zum Schluss seiner Erzählung reflektiert Alex noch einmal eigene individuelle Gefühle zum Tod des Freundes. Der 'beste Freund' fehlt ihm. Es ist aber neben der Empfindung des Verlustes zugleich auch das Gefühl des Nichtverstehens angesichts der Erfahrung des so frühen Todes des Freundes, das ihn bewegt und zu dem er sich äußert. Leibhaftig wird der Verlust darin erfahrbar, dass sein Freund seit Kindertagen nun nicht mehr eben so zu Besuch und Gespräch vorbeikommen wird, sondern so ein Stück vom Leben zack einfach raus () ende. Diese Gedanken sind Reflektionen der Jetztzeit, einige Monate nach dem Tod seines Freundes. Alex ist hier nicht Teil seiner Clique, sondern einzelne Person innerhalb eines neuen Settings bzw. Identifikationszusammenhangs: Also in Gefühlen fassen kann man das schwer finde ich (2) klar ist ne ganze Menge Trauer (2) man denkt auch zurück an die Sachen die man gemacht hat () Also ist viel (2) wie soll ich sagen sehr viel Positives das mitschwingt () Wenn man so daran zurückdenkt . gemeinsame Trainingseinheiten dass man 4, 5 mal die Woche trainiert hat () abends noch weg und so weiter (2) pfff () und dann dieser Klops halt . das wird’s jetzt nicht mehr geben () Das ist im Prinzip das was () mich bis heute mehr oder weniger verfolgt () einfach denkt () früher einfach auf dem Weg (?) durch geklingelt () einfach nur gelabert, Belangloses, aber war so hm () einfach mal quatschen () das fehlt (2) Und daran merkt man es halt dass so ein Stück vom Leben zack einfach raus () ende (4) Ja Erzähltechnisch ist die dargestellte Gliederung des Interviews nachvollziehbar: Alex möchte gemäß Stimulus von der Bestattung erzäh46

len. Diese erzählt er als Kommunikation, Interaktion und soziale Handlungen des Freundeskreises. Dieses Spezifikum seiner Fallgeschichte ist der Rezeption und der Deutung des Geschehenen durch diesen Kreis geschuldet. Manche der folgenden Teile der Deutung des Geschehenen werden Alex und seinen Freunden unterstellt, d.h. sie sind dem Interview nicht zu entnehmen, sondern Ergebnis reflexiver Interpretation: (1) Enzo ist 'viel-zu-früh' gestorben. Sein Tod ist aufgrund seiner Unzeitigkeit für Alex inakzeptabel und ein Skandal. Trotz medizinischer Indikation und eines langen Krankheitsverlaufs ist dieser Tod nicht sinnhaft, denn er läßt Fragen offen. Er ist deshalb zwar intellektuell und kognitiv als Ergebnis einer Krankheit verstehbar, aber nicht zu 'begreifen'. Ein so früher Tod passt nicht in das Ordnungsschema der Biografie, er stellt sich jedem Schema und der Möglichkeit seiner Verwirklichung quer. Er stellt das Recht auf Leben selbst infrage. (2) Enzo ist viel zu jung gestorben: weil natürlich war die erste Nachricht damals ein Schock dass halt wirklich so ein junger Mensch () damals mit 25 () halt an Leukämie erkrankt. Dieser Anachronismus rückt den eigenen Tod als den eines Gleichaltrigen ins Licht der zuvor als Unmöglichkeit gedachten Möglichkeit. Alex und die Freunde sind davon zutiefst, d.h. mitten im Leben, vom Tod umfangen. (3) Enzos Tod beendet Biografie: Für Alex hat der Tod des besten Freundes eine besondere Bedeutung in Bezug auf biografische Arbeit. Eine gewisse Zeit geht mit dem Tod des Freundes zu Ende, gelebtes Leben hört auf, so am Ende in der Coda. Alex denkt hier auch an zurückliegende eigene Zeit mit dem Freund. (4) Enzos Tod 'produziert eine Leiche: Die Rahmungen (s. Endnote) seiner Erzählung heben die individuell irritierende Kontingenz des Todes und darin den Schrecken seiner Manifestation hervor: die tödliche Krankheit und schließlich der Leichnam, für Alex und auch für die Gleichaltrigen des Freundeskreises. Alex Ablehnung, den Leichnam zu berühren, ist Indiz für die Irritation, die er empfindet. 47

(5) Gegen Enzos Tod war 'kein Kraut gewachsen': Zum Ver- und Zerstörenden des Todes gehört seine ultimative Macht. Sein Eintritt macht alle Bemühungen der Familie und des Freundeskreises hin auf eine Genesung und Bekämpfung der Krankheit Enzos zunichte. Er ist auch für die Menschen der Moderne die Macht, die von außen über das Leben der Menschen herfällt, und die macht- und sprachlos macht. In der Mitte seines Interviews erzählt Alex dann anderes: Die Freunde stellen gegen individuelle Hilflosigkeit und Ohnmacht eine gemeinsame, kollektive Handlung: die Bestattung des toten Körpers des Freundes; an diesem Handlungszusammenhang sind sie alle beteiligt: ein riesen Zug fand ich von der Freundin auch dass es darum ging wie er zum Grab getragen wird dass sie gesagt hat das machen die engsten Freunde das machen nicht irgendwelche schwarzen Männer sozusagen sondern das machen die Freunde und der Bruder () und so ist es halt dazu gekommen dass wir halt den Sarg aus der Kapelle auch zum Grab getragen haben () und das war für diese () Bewältigung die man irgendwo schon machen musste im Hintergrund auch ein wichtiger Schritt (2) dass man halt so mehr oder weniger () klar gibt es da diese Rituale (nächste Worte unverständlich) mit ich schmeiß da ein bisschen Erde drauf oder man schmeißt Blümchen hin aber das hätte mir auch so ich sag mal zum () Abschied nicht gereicht () also es war schon besser dahinzugehen und zu sagen pass auf ich geleite ihn jetzt zum Grab () Ihr gemeinsames Tun versteht Alex als Konsequenz des geschehenen Todes. Enzo muss würdevoll und liebevoll bestattet werden. Dies ist für Alex aber aus Zuneigung zum Freund gefordert und nicht etwa als Resultante einer Ohnmacht dem Tod gegenüber; die Handlung der Freunde ist im Gegenteil der Macht des Todes entgegengesetzt ('Wir können zwar nichts mehr machen, können aber dennoch etwas tun'). In dieser kleinen Handlung ist nicht der Tod die unabhängige Variable, sondern die Freundschaft des Freundeskreises. Bis zum 48

Begräbnis und zum Erdwurf ist Enzo auch als Leichnam immer noch Teil der Gruppe, die dann am Grab endgültig von ihm Abschied nimmt. Deshalb sollen keine schwarzen Männer als Symbol des Todes Enzo an das Grab tragen, sondern seine Freunde, die damit Abschied nehmen und übergeben. Die Freunde behalten mit ihrer Handlung eine gewisse Handlungshoheit über den Tod des Freundes. Zur Handlungshoheit gehört auch die Deutungshoheit über den Tod durch das Handeln der Freunde am Leichnam. Die Bestattung und die Handlung der Freunde geben Sinn; in einer Situation, in der der Tod Sinnlosigkeit vorgibt, sind die Formen und Handlungen der Abschiednahme, Übergabe und Würdigung des Lebens im umfassenden Sinne 'sinnhaft', schenken 'Verstehen' und Akzeptanz und Zukunftsperspektiven. Es sind nicht etwa Worte und Kognitionen, d.h. Wissen, die diese Deutungen bewirken, sondern jene genannten 'performativen' Erlebens- und Handlungszusammenhänge. Zu dieser aktiven Handlung gegen die Macht des Todes gehört auch die von Alex gewünschte öffentliche Wertschätzung des Toten und seiner Gruppe und der Familie durch die Bestattung. Die Bestattungshandlung wird kollektiv in ihrer Richtigkeit und Wirksamkeit bestätigt. Die öffentliche Wertschätzung bezieht sich auf das Ziel der Bestattung: Würdevolle Abschiednahme und Stärkung der fortdauernden Integrität der Gruppe. Für Alex selbst ist dies seine soziale Identität, die er im Interview erzählt. Mit der Gruppe der Freunde richtet er seine Identitätsfindung aus an einem dominierenden Merkmal: Dem Tod des Freundes und der Bestattung. Positive Riten nach wenden sich gegen negative Wirklichkeiten durch soziales Generieren von Hoffnung, Zuversicht und Freude. „Am Anfang […] steht der Eindruck der Schwächung, den die Gruppe empfindet, wenn Sie eines ihrer Mitglieder verliert. Aber genau dieser Eindruck hat die Wirkung, die einzelnen Individuen einander näher zu bringen, ihre Beziehungen länger zu gestalten, sie in ein und demselben Seelenzustand zu vereinigen. Und aus dem allen entsteht 49

ein Gefühl des Trostes, dass die anfängliche Schwäche aufwiegt. Wenn man gemeinsam weint, heißt das, dass man zusammenhält und dass die Kollektivität trotz des Schicksalsschlags nicht berührt wurde. Zweifellos bringt man nur die traurigen Gefühle zusammen. Aber in der Traurigkeit verbunden zu sein heißt, noch immer verbunden zu sein, und jenes Bewusstseinsbildend, wie es auch zu Stande gekommen sein mag, erhöht wiederum die soziale Vitalität.“ (Durkheim 1912: Die elementaren Formen … dt.: 538). Alex' Erzählung von der Bestattung seines Freundes Enzo scheint Durkheims Beobachtung und Interpretation für die heutige Zeit bestätigen: Das Handeln der Gruppe wird zum Widerstand gegen den Tod als Feind der Gruppe, der die Solidarität und Zusammengehörigkeit der Gruppe herausfordert (vgl. Malinowski 1948: 52). Anders als in der Fallgeschichte Pauls (s.u.) ist in Alex' Fußballverein eine konkrete Rekonstitution der Sozialität nicht nötig, denn es ist nicht der Verein der miteinander Fußball spielenden, der betroffen ist, sondern es ist viel mehr die Gleichaltrigengruppe, die im Fußballverein ihre äußere Organisation und Form findet, in die der vorzeitige Tod des Freundes einbricht. Er verunsichert, verwirrt, er stellt Kontingenz vor Augen. Gegen diese Kontingenz scheint der positive Ritus des Sargtragens an das Grab durch die Freunde gesetzt zu werden. Dieser Ritus beantwortet keine Sinnfragen, wendet sich aber gegen Passivität und Ohnmacht. Äußerungen zu einer persönlichen Trauer sind demgegenüber sekundär, möglicherweise gar Artefakte der Interview-Situation. Enzos Freunde sind nicht bestattungspflichtig, aber sie 'bestatten' dennoch. Die Sozialität des Vereins ist das Fundament des Handels der Akteure zu Enzos Bestattung. Sie gehen als Gemeinschaft zur Trauerhalle, tragen als Gemeinschaft den toten Körper ihres Freundes ans Grab, besuchen nach der Trauerfeier gemeinsam seine Familie. Ihr Handeln ist ein Dienst der Freundschaft, zu dem sie sich verpflichtet fühlen. Das entscheidende Konstitutivum der Gruppe ist solche Freundschaft und Solidarität – den Lebenden gegenüber und 50

nun auch in besonderer Weise am Toten. Enzos Tod und Bestattung ist eine Nagelprobe ihres weiteren Zusammenhalts. Er fordert sie alle; jenseits persönlicher Beziehungen muss jeder dabei sein – auch wenn nicht alle am Tragen des Sarges beteiligt sind. Die Gruppe tritt zur Repräsentation der Solidarität als Ganzes auf. Alex ist im Interview die Stimme der Gruppe. 'Abweichler' wie die beiden Brüder Pauls werden deshalb nicht erzählt, weil es sie nicht geben darf. Wie bedeutsam für den Fortbestand einer Gruppe die Handlungsweise bei der Bestattung von Enzo ist, zeigt das Beispiel von Sarah (s.o.): Zur Bestattung planen die Freundinnen und Freunde eine gemeinsame Rede am Grab zu halten. Aber davon sehen sie dann doch ab; sie werfen als Zeichen der Gemeinsamkeit Blumen auf das Grab. Die Mitglieder des Jugendkreises gehen gemeinsam zum Trauergottesdienst, treffen sich anschließend noch einmal an ihrem Gruppentreffpunkt und gehen dann auseinander. Die Gründe des Auseinandergehens sind nicht im Tod des Freundes und der Bestattung zu suchen: Die Gruppe hatte sich mit dem Schulabschluss der meisten Mitglieder bereits zuvor aufgelöst. Der Verzicht auf Handlungen der Gruppe bei der Bestattung ist der vorhergehenden Auflösung der Gruppe geschuldet. In der eigenen Erzählung berichtet Alex von seiner Teilnahme an einem Gottesdienst am Morgen des Bestattungstages. Alex erzählt davon als Einzelperson: Die katholische Predigt die dort gehalten wurde () war nicht so meins muss ich ehrlich sagen. […] War absolut nicht meins. Vordergründig sind es Formen des Gottesdienstes (Kollekte am Ausgang) und Inhalte der Predigt, die Alex zu einer negativen Bewertung dieses Gottesdienstes bewegen, seine Kritik zielt aber auf die Irrelevanz dessen, was sich in diesem Gottesdienst ereignet und auf das Fehlen der für ihn und seine Gruppe bedeutsamen Themen: Die Wertschätzung der Person Enzos, die Bedeutung des Todes für die eigene Biografie und die Sinnfrage der Gleichaltrigengruppe angesichts des 'zu frühen' Todes des Freundes. 51

Im Fußballverein wird der Freundeskreis Enzos weiterhin zusammenkommen. Das Tragen des Sarges an das Grab als Zeichen der Solidarität dient aber der Repräsentation des bestehenden Freundeskreises; und es dient zugleich seiner bleibenden Stabilisierung. Malinowski scheint diesen Sachverhalt in seinen Begriffen 'reintegration' und 're-establishment' aufzunehmen (op.cit.: 53). Das Ritual der Bestattung dient in der Fallgeschichte von Alex der Möglichkeit, Solidarität und Zusammengehörigkeit darzustellen und damit zugleich zu festigen und zu bestärken. Endnote: a-privat – War dann () ziemlich krasses Erlebnis natürlich auch aus dem Grund her […] pass auf der Enzo ist tot (2) was bei mir ich sag mal erstmal zu einer Art (2) irgendetwas zwischen Schockstarre und Nichtglauben-Wollen irgendwo führte () weil man hat es latent im Hinterkopf gehabt nach dem Motto gut ist klar ein Risiko ist da aber es war halt immer die Nachricht da schlägt was an da funktioniert was und da er nie was hatte () war irgendwie im Hinterkopf immer er packt das () Und dann kam halt irgendwann die finale Nachricht ne du () der hat die Augen zugemacht und wird sie auch nicht wieder aufmachen […] b-sozial c-privat (in der Coda, die a aufnimmt): Also in Gefühlen fassen kann man das schwer finde ich (2) klar ist ne ganze Menge Trauer (2) man denkt auch zurück an die Sachen die man gemacht hat () Also ist viel (2) wie soll ich sagen sehr viel Positives das mitschwingt () Wenn man so daran zurückdenkt . gemeinsame Trainingseinheiten dass man 4 5 mal die Woche trainiert hat () abends noch weg und so weiter (2) pfff () und dann dieser Klops halt . das wird’s jetzt nicht mehr geben () Das ist im Prinzip das was () mich bis heute mehr oder weniger verfolgt () einfach denkt () früher einfach auf dem Weg (?) durch geklingelt () einfach nur gelabert, 52

Belangloses, aber war so hm () einfach mal quatschen () das fehlt (2) Und daran merkt man es halt dass so ein Stück vom Leben zack einfach raus () ende (4) Ja

Polina Polina wohnt in Bochum mit ihrer allein stehenden Mutter. Sie studiert an der Ruhr-Universität Biologie und Chemie für das Lehramt. Ihre Großmutter ist gestorben. Polina gestaltet den Prozess zwischen Tod und Begräbnis mehr in Einzelbildern denn in einer szenischen Folge. Ihr Erzählthema sind die mit dem Komplex der Bestattung ihrer Großmutter bei ihr und anderen entstehenden Gefühle und daraus folgenden Handlungen und Interaktionen und deren Interpretation. Es sind diffuse Empfindungen, die sie in dieser Zeit an sich erlebt. Zunächst erzählt sie vom Krankenhausaufenthalt ihrer Großmutter, ihrem Besuch dort gemeinsam mit der Mutter und dann von der Diagnose: Dann kam der Arzt und sagt dass sie eine schwere Hirnblutung hatte und das Gehirn dabei Schaden genommen hatte. Da musste ich dann kurz heulen weil mir dann so klar geworden ist, dass es etwas Ernstes ist und nicht eben () dass sie nicht nur kurz im Krankenhaus ist und dann wieder alles gut wird und () ja danach war alles () also danach habe nicht so viel gefühlt glaube ich Polina lebt nach diesem ersten Besuch mit seiner Diagnose unbeeinträchtigt weiter, geht zur Universität, trifft sich mit Freunden, wird aber dann einige Tage später bei einem weiteren Besuch mit einer zweiten, schwerwiegenden Diagnose konfrontiert: Dass halt sie hirntot wär und so und dass sie jetzt stirbt () Ja (3) Das war irgendwie (2) komisch. Jetzt auch nicht so realisiert und ähm (3) ja . Also da kamen mir kurz die Tränen aber das war dann auch wieder schnell vorbei also 53

ja. Dann war also Mittwoch schon schlecht drauf aber () mehr auch nicht. Das war am Tag danach. Polina stellt in dieser Szenenfolge einen Gefühlszusammenhang dar; die Empfindungen entsprechen einander: Sie besucht mit ihrer Mutter die Großmutter im Krankenhaus, sie werden mit einer schwer kranken und nicht mehr ansprechbaren Sterbenden konfrontiert, sie bekommen vom behandelnden Arzt jeweils eine schwerwiegende Diagnose mitgeteilt. Polina differenziert: Es wird nicht wieder alles gut , sondern dass sie jetzt stirbt. Polina muss in beiden Situationen kurz weinen. Beide Äußerungen ihres Empfindens sind in dieser Situation im Krankenhaus ursprünglich und antworten unmittelbar auf das Erlebte: Empfindung und Erklärung. Polina erzählt diese parallelen Erfahrungen mit Bedacht als eine Erzähleinheit, indem sie Empfindung und Kognition der beiden Teilszenen chiastisch anordnet und beide so nebeneinander stellt: Diagnose > 'heulen' > Erklärung > Diagnose. > Erklärung > Tränen > Gefühl. Weshalb nun weint Polina? Polina bietet eine kognitive Erklärung. Weil ihr zunächst deutlich wird, dass die Großmutter von dieser Krankheit nicht mehr vollständig genesen wird, und dann, weil sie hört, dass sie hirntot wär? So deutet sie zunächst zum Zeitpunkt des Interviews ihre Gefühle. Nun aber erzählt Polina aber ebenso von Irritationen angesichts dieser Diagnosen, was sie in dieser Situation empfindet, ist für sie komisch. Sie steht ihren nun auftretenden Gefühlen und körperlichen Symptomen ohne jede Möglichkeit des Verstehens und Erklärens gegenüber, mit ihren Worten: sie realisiert nicht, was geschehen ist, will es nicht wahrhaben, kann es nicht glauben, was Empfindungen und körperliche Reaktion schon wahrgenommen hatten. Sie war noch am Tag darauf schlecht drauf. Ist erstes als kognitive Referenz zu bewerten, so bezieht sich letzteres auf ihre Gefühle, genauer: ihre Empfindungen im Krankenhaus, als der Arzt der Mutter die Diagnose mit54

teilt. Diese ist unanfechtbar, ihre Konsequenz unausweichlich. D.h.: Diese Diagnosen selbst, aber auch die Situationen, in der sie verkündet werden, machen hilflos, lassen erleiden statt handeln. Mutter und Tochter sind entsetzt, denn sie stehen machtlos vor einem Menschen, dessen Sterben gerade von einer ultimativen Deutungsmacht festgelegt wurde. Man kann sagen: Polina weint, weil sie gemäß dieser Verkündigungen vor den unausweichlichen Tod des Anderen gestellt wird. Dass sie sich die Situation 'verdeutlicht', ist solcher prämortalen Todeserfahrung gegenüber sekundär und zudem ein Begründungszusammenhang, der z.B. als Diagnose mitgeteilt auch ohne Gefühle auskommt. Zunächst aber sind in diesem Ort des Sterbens die Ohnmacht, das Erschrecken und die Tränen. … aber () mehr auch nicht. Mit Verlassen des Krankenhauses haben solche Gefühle (und nicht die Kognitionen bzw. Reflexionen) nach zwei Tagen zunächst einmal ein Ende. Polina geht wie Moritz 'aus dem Feld' und seinem spezifische Gefühle generierenden Setting. Dem sterbenden Körper der Großmutter, ihrem 'gehirntoten' Leichnam schon, wird sich Polina nicht aussetzen. Ihr jugendliches Leben lebt sie unberührt weiter. Die Erinnerung, darüber hinaus nicht so viel gefühlt zu haben, oder dass die Tränen auch wieder schnell wieder trockneten, hält sie einerseits nicht für außergewöhnlich. Der Tod der Großmutter wird ihr erst wieder mit der Beerdigung nahekommen. Dazwischen geht sie weiterhin ihrem Studentenleben nach. Allenfalls der alltägliche Kontakt mit der ziemlich traurigen Mutter vergegenwärtigt ihr die Situation. Sie tut alles um ihrer Mutter beizustehen, hilft intensiver als zuvor im Haushalt, läßt gern gehörte Musik leise, und die beiden verbringen ein Mehr an Zeit miteinander. Polina lebt die Trauer der Mutter solidarisch mit, empfindet aber selbst kaum traurige Gefühle. Ihre vermutete Gefühlskälte beunruhigt sie aber, und diese Beunruhigung zieht sich als ein roter Faden durch das Interview.

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Erst der Tag der Beerdigung bzw. die Situation der Beerdigung selbst sind für ihre erzählende Erinnerung relevant. und am Dienstag () ne Woche später dann war die Beerdigung. Mit der Beerdigung betritt Polina ein neues 'Feld der Trauer' mit weiteren Empfindungen und Handlungsweisen, d.h.: Wenn spezifische Gefühle, die mit Trauer bezeichnet werden könnten, mit dem Verlassen des Krankenhauses abbrachen, so 'entstehen' bei der Beerdigung 'aus gegebenem Anlass' neue Empfindungen und Handlungsweisen. Für Polina ist die Gefühlslage multidimensional und hoch komplex. Sie erzählt von eigenen intensiven Empfindungen und Reaktionen und zugleich von Unsicherheit und Nicht-verstehen, von Protest und Widerstand und zugleich von Solidarität und Mitleiden. Der Atmosphäre bei der Beerdigung kann sie sich nicht entziehen. Sie empfindet diese als bedrückend. Nicht allein als am Grab Blüten über den Sarg verstreut werden, da habe ich so geweint (2). Weinen geschieht hier auch an anderer Stelle innerhalb des Setting der Grablegung als sehr persönliche Äußerung ihres Empfindens: Das Weinen benötigt keine Begründung, sondern es wird von Polina als Reaktion auf das Gesamte der Situation bzw. des Settings und zugleich zu einzelnen Momenten erzählt. Sie weint einfach bei bestimmten Abläufen der Beerdigung und verweigert sich selbst zugleich eine Äußerung ihrer Empfindungen an anderen Stellen. Allerdings rahmt das Setting der Beerdigung ihr Fühlen und Verhalten: Mit dem Verlassen des Friedhofs ist diese Bedrückung vorüber und Polina muss auch nicht mehr weinen: ja aber dann wars auch wieder so vorbei weil wir dann ja schon wieder gegangen sind. Ein Problem beschäftigt Polina: Das Verständnis und die Kontrolle der Emotionen, d.h. der nach außen getragenen Gefühle. So scheint sich Polina mit ihren Cousinen gleichen Alters in Bezug auf die richtigen Formen des Verhaltens bei der Beerdigung intensiv auszutauschen. Weinen in der Öffentlichkeit vor vielen Menschen ist für die jungen Menschen hier negativ konnotiert. Innerhalb der Trauerfeier 56

beschäftigt Polina sich kognitiv gezielt mit anderen Dingen. Weinen und Tränen sind dabei nicht nur individuelle Gefühlsäußerungen, sondern werden in Diskussion und Absprachen über Emotionen und ihre Veräußerlichungen quasi sozial ausgehandelt oder aber zumindest aufgrund eines sozialen Vergleichsprozesses innerhalb des Prozesses der Bestattung individuell und kollektiv kontrolliert, d.h. gewählt oder vermieden. Polina erzählt dazu: Als wir so dann alle Menschen gesehen haben, die so gekommen sind, da haben wir uns dann Taktiken überlegt, wie wir nicht heulen könnten weil das dann in dem Moment schon wirklich nicht so angenehm war () ja () und die aber auch funktioniert. Wir haben nicht geweint davor. Zum einen: Polina weint, wenn und weil ihr danach zumute ist; bei kognitiver Wahrnehmung aber sperrt sie sich vor den für sie nicht so angenehmen Formen. Sie schaut bei der Abwendung von solchen Formen wie weinen bzw. heulen auf die Situation der Beerdigung mit ihren vielen Besuchern. Es ist ihr peinlich zu weinen. Sie sieht aber, dass in diesem sozialen Setting es durchaus angebracht ist, in Tränen auszubrechen. D.h.: Individuellen Gefühlslagen entsprechen situative, settinggemäße Traueräußerungen. Diese werden aber zugleich im Innern der Person kontrolliert und kanalisiert (Peinlichkeit). Werden hier Trauergefühle unterdrückt, die doch unabhängig von der sozialen Situation im Innern der Trauernden entstehen? Den bisherigen TrauerfallGeschichten war zu entnehmen, dass das jeweilige Setting selbst Gefühle weckt und Verhaltensweisen zeitigt, die sich an der Situation (hier: der großen Zahl der Beteiligten) orientieren. Empfindungen und soziales Umfeld sind eng verbunden und aufeinander bezogen. Auf solche Erfahrungen mit situativen Anmutungen an Hinterbleibende kann Polina zurückschauen. Die Vermeidung einer solchen Anmutung besteht in einem wie auch immer gearteten 'aus dem Feld gehen'. Reiz und Reaktion werden dabei zurückgelassen. Eine weitere Erdzählnotiz lässt diese Interpretation naheliegend erscheinen: meine Cousine hat gesagt dass sie schon vorher damit abgeschlos57

sen hatte weil sie auch vorher an dem Tag da war wo Oma halt gestorben ist und die hat jetzt gar nicht geweint und das mich auch irgendwie dazu gebracht also selber nicht also selber damit so aufzuhören (2) Bei der Cousine entstehen Trauergefühle im sozialen Kontext des Krankenhauses. Im Kontext der Beerdigung könnten solche Gefühle aber zurückgewiesen werden. Die Beerdigung selbst aber veranlasst Polina dennoch an bestimmten situativen Punkten diese Zurückweisungen aufzugeben: …. da hab ich so geweint (3) Ja da war das so klar dass sie jetzt wirklich tot war und dann kamen die ganzen Menschen und sagten mein Beileid () ja da wird es einem nochmal klar und bewusst so. Ja und dann auch in der () während der Trauerfeier wars auch so dass ich mich teilweise ablenken musste damit ich nicht anfange zu heulen und () ja. Es hat auch mehr oder weniger funktioniert also nur glasige Augen aber ansonsten konnte ich das unterdrücken (2) Die Begründung ihres Weinens am Grab erinnert an ihre Empfindungen im Krankenhaus bei der Überbringung der Diagnose. Wieder ist Polina nur Erleidende ohne Einflussnahme auf den weiteren Prozess des Todes. Hier nun ist es das Grab und die Kondolenz der Trauergemeinschaft, die die Endgültigkeit des Todes bestätigen. Dies ist die Funktion solch sozialer, weil ritueller Vergewisserung. Die Trauerfeier und darin die Predigt des Pfarrers konnte dies nicht leisten. Die Trauerrede des Pfarrers findet bei ihr Zustimmungen, insofern diese auf das Leben und die Lebensleistung der Großmutter wertschätzend eingeht: der Pfarrer hat ja wirklich so ein bisschen zusammen gefasst, wie Omas Leben war und was fürn Mensch sie war und das war auch gut so, fand ich jetzt also aus meiner Sicht schon richtig und ähm war auch halt auf ne schöne Art gemacht. Man würde jetzt auch nichts Negatives erzählen über die Person Im Blick auf den Kontext vermute ich, dass Polina den Ausführungen des Pfarrers nicht empfindungslos zugehört hat, sondern zumindest mit glasigen Augen gemeinsam mit ihrer Mutter und Anderen 58

besonders den biografischen Anteilen der Trauerrede gefolgt ist. Es wird der Atmosphäre des Interviews geschuldet sein, wenn ihr hier eine recht emotionslose, eher sachliche Wiedergabe und Beurteilung des Erlebten gelingt: war auch halt auf ne schöne Art gemacht. In der konkreten Situation werden die Hörer emotional angesprochen worden sein und diesbezüglich, z.B. durch weinen reagiert haben. Polina erzählte dazu: so bei einigen Sachen, so in der Erinnerung, da musst ich dann wirklich auch weinen Polinas Resümee zu diesem Aspekt der Traueransprache fällt dennoch recht sachlich, aber – trotz ihrer Reminiszenz an ein 'de mortuis nihil nisi bene' – uneingeschränkt positiv aus. Diese Beurteilung ist bemerkenswert, weil die Trauerrede des Pfarrers sie an anderer Stelle gar nicht anspricht: naja fand ich das eben irgendwo auch irritierend also zu hören was der Pfarrer da gesagt hat, weil naja das sollte ja so ein bisschen () naja so die Gefühle darstellen die man auch hat und weiß ich nicht so richtig identifizieren konnte ich mich nicht damit weil das war mehr irritierend (). Also hab ich auch gefragt was sagt der jetzt eigentlich Leider war der über die biografischen Bemerkungen zur toten Großmutter hinausgehende Inhalt der Predigt Polina nicht zu entlocken. Sie fragt: was sagt der jetzt eigentlich? Was er sagt, ist also für sie irritierend, nicht anschlussfähig, irrelevant – „so richtig identifizieren“ kann sie sich mit dem Vorgetragenen nicht. Der Pfarrer scheint Gefühle angesprochen zu haben, die sie aktuell nicht bewegt haben. Diese Gefühle sind ihr bekannt, aber sie lehnt sie ab, weil man das nicht fühlen wollte, weiß nicht. Ihre situative Gefühlslage ist eine andere, und dass der Pfarrer diese auch zur Sprache bringt, hat sie zwar nicht erwartet, aber zumindest gewünscht. Auf die mögliche Art ihrer Empfindungen werde ich weiter unten noch zurückkommen. Bei der Begleitung ihrer Mutter ins Krankenhaus zur erkrankten Großmutter musste Polina weinen; weiter oben wurde dies bereits thematisiert. Für Polina war dies eine sehr persönliche Emotion, die 59

sie aber damals schon mit ihrer Mutter teilte. Beide standen vor dem fast toten Körper der Großmutter, beide entsetzt und hilflos, beide weinten, so möchte ich vermuten. Einen Tag später noch ging es Polina sehr schlecht. Polina beschreibt ihre Gefühle und die anderer während der Bestattung nun auch als 'schlecht gehen' und als weinen. So erzählt sie von der Beerdigung: ... und es haben ja schon ein paar Menschen geweint. Die Menschen, die dabei waren die bei der Bestattung dabei waren. Ich saß ja bei meiner Mutter. Ich hab gemerkt, dass es ihr nicht so gut ging. Als ich das gemerkt hab gings mir auch irgendwie schlechter () Bemerkenswert an dieser kleinen Notiz ist zum einen: 'Schlecht gehen' ist eine sehr unklare Bezeichnung einer Empfindung oder eines Empfindungskomplexes, die die Beteiligten, in Person von Polina, hier erleben und erfahren. Diese Begrifflichkeit ist aber andererseits anschlussfähig, weil sie jede Form negativer Empfindungen umfasst: Weil es der Mutter schlecht geht, geht es ihr auch schlecht. Es handelt sich dabei aber nicht um ein Verhalten der Nachahmung, sondern um die Solidarität des Mitempfindens, dem Mitteilen von Gemeinschaft, dem Gewähren von sozialer Geborgenheit in der Wärme einer miteinander empfindenden Gruppe. Polina nimmt die Gefühle ihrer Mutter und Anderer wahr, ohne sich mit den Gefühlen zu identifizierenden, aber um Sie mit den Personen zu teilen. Solche Solidarität ist nicht allein aus z.B. persönlicher Zuneigung entstanden, sondern Ergebnis einer grundlegend humanen Disposition, längerer sozialer Prozesse und aktuell dem Setting der Beerdigung geschuldet. Eine Aufgabe der Bestattung sieht sie darin, das Leben und die Lebensleistung der Großmutter zu würdigen. Polina erzählt deshalb kurz vom 'Leichenschmaus'. Die Feier war ja an sich ganz schön also so oft sehe ich ja meine Cousinen und Cousin nicht und () ja das war dann ganz okay, Die Cousinen und Cousins wieder zu sehen, genießt sie. Mit ihnen versteht sie sich gut, man tauscht sich als Gleichaltrige über Trauerart und -form aus, und Polina freut sich, nach längerer Zeit, 60

wenn auch bei einem Beerdigungskaffeetrinken, mit den MitEnkelkindern der Großmutter zusammen zu treffen. Das letzte Mal zuvor war dies zum Geburtstag der Großmutter in der gleichen Lokalität geschehen. „Man hätte von allen Enkelkindern ein Foto machen können!“ sagt Polina. Und weil es die Enkelkinder der einen Großmutter sind, gehört diese in die Mitte dieses Bildes. Im Nachhinein bedauert Polina, dass dieses Bild zum Zweck der Würdigung der Person und der Erinnerung an sie nicht gemacht wurde. Es hebt einen besonderen Aspekt der Lebensleistung hervor: Großmutter zu sein und Enkel zu haben. Wie nahe oder fern die einzelnen Enkel dabei der Großmutter standen oder noch stehen, ist belanglos. Für Polinas Gefühlslage wiederum ist genau diese Distanz aber bedeutsam. In der Coda weist sie darauf hin: Durch die Bestattung und das anschließende Kaffeetrinken wurde ein Abschluss vollzogen. Seitdem habe sie eigentlich damit abgeschlossen, seitdem nicht groß dran gedacht (2) ja. Sie begründet diesen Gefühlszustand mit der sozialen Nähe zu ihrer Großmutter zu Lebzeiten: „weil ich sie nicht so oft gesehen hab, denke ich automatisch nicht so oft an sie und damit auch nicht so oft daran, dass sie tot ist.“ Polinas biografisches Thema kann auch als 'Trauer' bezeichnet werden. Diese 'Trauer' wird für Sie im Setting des Interviews zum Thema, weil Trauer für sie kein Thema war, über das sie länger nachdenken bzw. in dem sie länger verweilen konnte. Ihr aktuelles Thema ist zum einen das Verstehen ihrer Empfindungen und ihres Verhaltens im Zusammenhang der Bestattung ihrer Großmutter, zum anderen das rechte Empfinden und Verhalten in ihrem weiteren Leben nach der Bestattung. In ihrem Leben waren nach einer kurzen 'Trauerzeit' im Umfeld der kirchlichen Bestattung nicht Trauergefühle der Generator, Mediator oder Moderator weiteren Lebens. Sie erzählt von Gefühlen, die zugleich immer auch als Bestandteil der Kommunikation und der Interaktion während der Bestattung beschrieben werden. Ihre Gefühle sind ihr eigenes und zugleich im61

mer auch etwas, worüber sie mit anderen ebenfalls vom Tod Betroffenen kommuniziert. Ihre Gefühle beschreibt sie als akutes und situatives Erleben diffuser, 'komischer' Befindlichkeiten nach dem Tod der Großmutter und bei ihrer Bestattung, deren Bedeutung sie nicht erklären kann und die, so darf vermutet werden, in den Kommunikationen innerhalb ihrer spezifischen Lebenswelten erst gar nicht auftraten. 'Trauer' war für sie – zumindest ausserhalb der familiären Lebenswelt bzw. der Privatsphäre, in der sie mit einer aus ganz anderen Gründen 'traurigen' Mutter konfrontiert war – kein Thema, bzw. wurde nur in der Zeit der Bestattung dazu gemacht. Polina ist den Externalisierungen ihrer Gefühle gegenüber sehr unsicher. Dies betrifft insbesondere das Weinen, dass sie unbedingt kontrollieren möchte. Sie sieht sich dabei in der Erwartung solcher Emotionskontrolle als auch der Erwartung ebenso spezifischer Emotionen, d.h. sie will vermeiden zu weinen, und empfindet sich zugleich als emotionskalt, weil sie den Tod der Großmutter nicht angemessen und 'echt' betrauert: Zum Ende des Interviews nimmt sie aus gegebenem Anlass Stellung zu dem, was sie unter 'Trauer' versteht. Sie vergleicht ihr Empfinden und Verhalten mit Formen überkommenen Trauerverständnisses. Den solchem Verständnis inhärenten Normen des Empfindens und Verhaltens, so erkennt sie, wird sie aber nicht gerecht: Von der Trauer her hatte ich ja schon gesagt () Also ich habe auch teilweise gesagt ich bin jetzt kaltherzig, weil ich nicht weine weil ich gefühlt gedacht hätte dass man dann erstmal durchgängig weint () generell einfach viel trauriger ist. Stattdessen habe ich aber weitergemacht und hatte den einen oder anderen Moment aber ansonsten habe da nicht so viel Gefühle gezeigt in dem Sinne ähm () ja () Ich weiß jetzt aber auch nicht, ob das unbedingt nötig ist () weiß ich nicht () vielleicht kommt das ja noch (2). Ich denke mal, dass das auch davon abhängt, ob man jetzt mit der Person viel zu tun hatte. So oft habe ich meine Großmutter nicht gesehen im Jahr. Das heißt, es 62

gibt jetzt nicht so viele Momente, wo ich so generell () also wenn sie jetzt noch leben würde sowieso an sie denken würde und dann jetzt realisieren würde: Sie ist tot. Das heißt ich würde viel öfter denken, dass sie tot ist und weil ich sie nicht so oft gesehen hab, denke ich automatisch nicht so oft an sie und damit auch nicht so oft daran, dass sie tot ist. Die Bestattung der Großmutter positionierte Polina in bestimmte Situationen und in spezifische 'behavior (and emotional) settings', die sie zuvor nicht kennen gelernt hatte, in denen sie zuvor nicht lebte. Die Bestattung ihrer Großmutter machte sie – das ist die Pointe – auch in ihrem Empfinden und Handeln zu jemand, die sie zuvor nicht war und danach zunächst auch nicht mehr sein wird: nämlich zu einer 'Trauernden'.

Paul Paul, 56 Jahre, wohnhaft in Münster/Westfalen, evangelisch, ledig und kinderlos, ältestes von neun Kindern (Paul-Ella-Peter-Rolf-UteBirgit-Hans-Bodo-Gaby) der Eheleute Karl und Berta N., Geschäftsführer einer Unternehmensberatung. Berta N. stirbt hochbetagt im 81. Lebensjahr in ihrem Geburtsort Osnabrück. Ihr Tod und ihre Bestattung sind sozial relevant, denn sie wird von ihren neun Kindern bestattet. Paul ist der Älteste, Bodo, der Jüngste, hat das 40. Lebensjahr vollendet. Die meisten Kinder haben jeweils ihre eigenen Familien gegründet. Berta N. hat elf Enkelkinder. Zu ihrem letzten Geburtstag ist die Großfamilie, deren ältestes Mitglied sie war, fast vollständig zusammen gekommen. Die soziale und räumliche Beziehung der Kinder und Enkelkinder zu Berta N. gestaltet sich jenseits familiärer Großereignisse sehr differenziert. Die älteste Tochter Ella und der jüngste Sohn Bodo leben 63

beide in Osnabrück in der Nähe ihrer Mutter und pflegen engen Kontakt. Gaby, die jüngste Schwester, wohnt in einem Dorf im Münsterland; hier war es die Mutter gewesen, die vor allem ihre drei Enkelkinder regelmäßig besuchte. Peter, der zweitälteste und Hans, der jüngste Sohn, haben aus unterschiedlichen Gründen die Verbindungen zur Mutter und zu den Geschwistern abgebrochen. Paul hielt einen regelmäßigen Kontakt über Telefon und weniger durch Besuche zur Mutter aufrecht. Zu Ella, Gaby und Bodo bestehen ähnlich 'lockere' Beziehungen. Die weiteren Geschwister wohnen weiter entfernt in Deutschland, Rolf im südeuropäischen Ausland. Sie kommen erst zur Beerdigung nach Osnabrück. Es sind die großen Feste und Feiertage, an denen sie mit der Mutter und den Geschwistern zusammenkommen; regelmäßiger ist der Kontakt über Internet (mit den Geschwistern) und Telefon. Dieses familiäre Arrangement funktioniert. Paul, Ella, Bodo und Gaby sind der Mutter nahe und für sie erreichbar; die Mutter selbst lebt ihr Leben aber selbstständig und hat in ihrer jüngeren Schwester die engsten und regelmäßigsten Kontakte. Die Beziehungen der Geschwister und ihrer Familien untereinander werden überwiegend über gemeinsame Besuche bei der Mutter, z.B. bei Festtagen oder Jubiläen, gepflegt. Dort kommt man zusammen und feiert miteinander. Danach gehen die Geschwister ihrer Wege und mit unterschiedlicher Intensität zugleich sich auch aus dem Weg, denn 'wenn die Familie zusammen kommt, dann entsteht Streit', so erinnert sich Paul. Durch die jeweilige Eigenständigkeit, hervorgerufen durch den Auszug aus dem Elternhaus, können die Geschwister mögliche Konflikte raum-zeitlich verhindern, indem sie sich aus dem Weg gehen. Und sie verhalten sich auch so. Bei familiären Treffen wird die Familie der Eheleute Karl und Berta N. immer wieder friedvoll und konfliktarm in ihrer Gesamtheit repräsentiert, auch weil alle ihre persönlichen Konflikte, Rivalitäten und auch 'Animositäten' um der Gesamtheit der Familie willen hinten anstellen. 64

Bei kritischen Lebensereignissen aber, wie sie es die Erkrankung und dann der Tod der Mutter darstellen, müssen die Geschwister zusammenkommen, weil ihre gemeinschaftliche Entscheidung gefordert ist. Diese Zusammenkünfte erlebt Paul gerade bei der Erkrankung und beim Tod seiner Mutter als konfliktreich. Immer wieder, nämlich genau zu diesen Anlässen des Zusammenkommens, kommt es zum 'Streit' unter den Geschwistern, in den auch Lebenspartner oder Partnerinnen eingebunden sind. Streitpunkte beziehungsweise Anlass des jeweiligen Konfliktes scheinen die Rollen und Rangfolgen der einzelnen Geschwister in der Familie, die unterschiedlichen Grade emotionaler Nähe zur Mutter und ihre Bewertung in einer Rangfolge der Mutter gegenüber zu sein. Aber die wirklich schwerwiegenden Konflikte, so zeigt es sich, entzünden sich an den gemeinsamen finanziellen Verpflichtungen der Kinder von Karl und Berta N. Die 'Streitigkeiten' beginnen mit dem Eintritt in den Ruhestand der Mutter. Ergebnisorientiert berichtet Paul vom Erfolg des Zusammenlegens eines Geldbetrages durch die Geschwister für eine auskömmliche Rente der Mutter: Jeder hat Geld gegeben . Jeder so 2000 DM eben und so . Mal neun . Da warste schon bei achtzehn ( ) beziehungsweise Hans und Peter haben damals schon nicht mitgemacht … . Beide Brüder beteiligen sich nicht an den Kosten und verlassen damit die Gemeinschaft der familiären Kostenträger. Paul allerdings erzählt nichts von den Gründen der Verweigerung oder von weiteren Auseinandersetzungen der Geschwister über die Höhe der jeweiligen Anteile an der Unterstützung. Sehr naheliegend scheinen mir folgende Vermutungen zu sein: Paul erzählt hier vom Urereignis des geschwisterlichen 'Streites'. Er wird ältere Auseinandersetzungen und Konflikte in sich aufgenommen haben, nun aber berührt der 'Streit' die familiäre Einheit der Kinder von Berta N. an entscheidender Stelle: Die Kinder tun sich zum Wohl der Mutter zusammen. Für Paul ist Einmütigkeit eine Selbstverständlichkeit und eine Pflicht; stattdessen kommt es zur 65

Trennung der Geschwister. Die Einheit der Kinder von Berta N. und diese in ihrer Person als Mutter dieser Kinder selbst werden irreversibel beschädigt. Ihre weniger dramatische Fortsetzung finden diese Streitigkeiten nun in der geschwisterlichen Diskussion über zukünftige Maßnahmen in der Folge der Erkrankung der Mutter, die zum Tod führte, und enden in der Diskussion zum Grabplatz und dann in Deckung des Fehlbetrages bei den Kosten für die Bestattung. Paul erzählt zu Beginn von der Genese der Erkrankung der Mutter. Sie wird allein nicht mehr zuhause leben können. Die Familie rechnet allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit dem Tod. Zwischen den Geschwistern werden unterschiedlich Informationen ausgetauscht. Vor allem Ella und Bodo sind aufgrund der räumlichen Nähe involviert. Noch intensiver als Paul kümmern sie sich um die im Krankenhaus liegende Mutter. Für die Geschwister entsteht nun aber ein konkretes Problem: Die Mutter konnte bisher alleine leben. Nach dem Auszug der Kinder aus dem Elternhaus begann die Mutter allein ihr Leben zu gestalten. Weil ihr dies nun nicht mehr möglich sein wird, sind alle Kinder von der Zukunft der Mutter 'betroffen'. Gemeinsame Fragen und Probleme müssen bewältigt werden: Bei wem wird sie wohnen? Welche Belastungen kommen auf die einzelnen Geschwister zu? Paul zieht einen entsprechenden Umbau der eigenen Wohnung in Betracht, um die Mutter aufzunehmen. Er ist ja der älteste, allerdings von neun Geschwistern wie er anmerkt, und ledig. Da hätt ich mir wahrscheinlich eine Pflegekraft einstellen müssen. Seine Planungen gehen noch ein wenig weiter: Ich hab mir schon Gedanken zu Umbaumaßnahmen gemacht, und dann waren eben diese Gespräche mit den Geschwistern. Und die hatten andere Vorstellungen. Meine jüngste Schwester sagte, dass man sie ins Altenheim bringen muss, fing auch an, alles gleich zu rechnen, was das so kosten würde, also eigentlich sehr pragmatisch, fand ich. Angesichts der möglichen bleibenden Pflegebedürftigkeit 66

der Mutter denkt Paul an ein angemessenes gemeinsames Handeln der Geschwister; praktische Vorschläge finden seine Zustimmung, weil sie Lösungsmöglichkeiten aufzeigen und die Diskussion versachlichen. Dann aber stirbt Berta N. noch im Krankenhaus. Und wieder muss die Geschwisterschar zusammenkommen. Es sind freilich zunächst Paul, Ella, Bodo und Gaby, die sich zusammensetzen und die Bestattung regeln. Für Paul repräsentieren sie die Geschwister in ihrer Gesamtheit. Sie sind nun die familiäre Wir-Gruppe der Gegenwart, die sich über ein Gefühl der Familienzusammengehörigkeit definiert und mehr noch: repräsentiert. Denn nach dem Tod meines Vaters [...] da brach die Familie vollkommen auseinander also da gab es keinen mehr zuhause ( ) – so definiert Paul die Realform der Familie der Eheleute Karl und Berta N., die sich in die einzelnen Familien der Kinder längst ausdifferenziert hatte. In der aktuellen Situation der vier ortsnahen Geschwister wird dies deutlich, darüber aber schiebt sich nun das familiäre Bild der Gemeinschaft aller Geschwister in alter Konstellation. Der Anlass, so Paul, fordert diese Gemeinschaft ein. Ziel der situativen Zusammengehörigkeit ist die Regelung der Bestattung als Vorbereitung auf das gemeinsame Auftreten später vor dem Bestatter und bei der Bestattung selbst. Grund der Zusammenkunft ist ja der Tod der Mutter, der die Kinder zu Bestattungspflichtigen macht. Die 'wir' müssen dies tun. D.h.: Das familiäre Kollektiv, das auf den Tod der Mutter zurückschaut, trifft sich wieder als solches und hier zugleich als hinterbleibende Gemeinschaft. Ihre Aufgabe ist an erster Stelle die Ausrichtung und Finanzierung der Bestattung. Hinzu treten: Liebevolle Abschiednahme, wertschätzender Rückblick, würdige Bestattung und Ausblick auf Zukunft ihrer Gemeinschaft. Die Gemeinschaft der Hinterbleibenden ist eine trauernde Gemeinschaft. Als ältester der Geschwister sieht Paul hier seine besondere Leitungsaufgabe.

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Und was ist konkret zu 'regeln'? Zum einen sind bereits durch Paul getroffene Entscheidungen vorzutragen und Zustimmung zu erreichen. Des Weiteren sind die Höhe und die Anteile finanzieller Belastung durch die Bestattung abzustimmen, denn es trifft sich ja die Gemeinschaft der Bestattungspflichtigen. Die mögliche finanzielle Belastung bezieht sich zugleich auf die Ausgestaltung der Bestattung selbst, d.h., die Quantität beziehungsweise die Verteilung der finanziellen Belastung moderiert die Formen und Inhalte der Bestattung. Der Auftritt der Familie in der Öffentlichkeit einer Bestattung bedarf ebenfalls der Absprache, es sei denn die Familie möchte sich eine solche Öffentlichkeit ersparen. Denn Formen und Inhalte einer Bestattung nehmen immer Bezug auf sich auf den gesellschaftlichen Status der Gestorbenen und auch ihrer Kollektive. D.h.: Eine würdevolle Bestattung ehrt nicht nur den Toten, sondern definiert auch den gesellschaftlichen Status des jeweiligen Kollektivs. Für die Verstorbene selbst ist Ihre Familie das Kollektiv, aus dem heraus sie als Mutter ihre Identität bezog und aus dem heraus nun Abschiednahme stattfindet. Identität ist eine kollektive Kategorie. Stellt sich nun das Kollektiv Familie als defizitär dar, so bezieht sich dies zugleich auf den Status der verstorbenen Mutter: Ihr Status ist defizitär. Um diese Identität und damit den gesellschaftlichen Status zwecks Wertschätzung der Mutter in diesem öffentlichen Übergangsritual zu wahren, muss die Familie d.h. ihre Kinder sich solcherart als solches Kollektiv darstellen. Aber wer gehört zur Familie? Zu regeln ist, wer unter der Traueranzeige steht, in welcher Reihenfolge, in welcher Form des Namens: Deine Kinder, deine Kinder und Enkelkinder, deine Familie, alle die ich lieben, Paul, Gaby und Gerhard, Ute und Uwe, Birgit und Birger, Ella und Wolfgang ...? Gerade die Namensanordnung ist keine Nebensache, sondern dahinter verbergen sich Identitäts-Zuschreibungen, Status, familiäre Strukturen und mitunter auch das Zugeständnis einer Intensität von Trauer. 68

In einer Zusammensicht und unter Berücksichtigung der vorher gegangenen Punkte sind nun die Formen und Inhalte einer gemeinsamen Bestattung zu besprechen. Ziel sind Empfindungen, Verhalten, und auch nach außen deutlich gemachte kollektive Strukturen aufeinander abzustimmen. Zusammenfassend: Die oben definierte Familie hat die Aufgabe, ihre Gemeinsamkeit zu leben und zu veräußerlichen als Gemeinsamkeit der dankbaren Erinnerung, der Würdigung des Lebens der Mutter, der Wertschätzung ihrer Person und darin, in einer Weiterführung des ehemaligen Kollektivs, zugleich einer gemeinsamen zukünftigen Gestaltung dieses Kollektivs. Ohne diese Weiterführung wäre nicht nur die Person der Mutter tot, sondern zugleich auch die Familie selbst beschädigt, die die Mutter als zuletzt noch lebendes Elternteil als genealogisches 'Oberhaupt' zusammenhielt und repräsentierte; Geschwister sind allein durch diese genealogische Abstammung und Zusammengehörigkeit aufgrund gemeinsamer Eltern definiert. Zu regeln sind damit auch die Formen und Inhalte der zu veräußerlichenden gemeinsamen Trauer. Dann waren wir zweieinhalb Stunden bei diesem Bestatter ( ). Dieses Treffen der vier Geschwister dient der Vorbereitung und Konzeption der Bestattung und steht unter dem Einfluß verschiedener Vorgaben zeitlicher und inhaltlicher Art. Es hat deshalb ein wichtiges Ergebnis: Die Vier können sich auf eine Aufschrift auf der Einladungskarte und dem Kranz einigen. Josef, der Bestatter, wird auf damit verbundene zeitlichen Vorgaben hingewiesen haben. Einem 'inhaltlichen' Zwang folgen die Geschwister: Sie veräußerlichen ihre gemeinsame Trauer unter einem gemeinsamen Namen. Karte und Kranz dürfen als äußerliche Zeichen von gemeinsamer Trauer verstanden werden. Paul spricht nicht von Gefühlen des einen oder der anderen, sondern von der Trauer, die die Geschwister als die Familie von Berta N. in ihrer Gemeinschaft unter einem Namen nach außen der Öffentlichkeit zeigen. 69

Der Darstellung von Gemeinsamkeit müssen einmütige Entscheidungen über Formen und Inhalte der Bestattung im Allgemeinen und der Trauerfeier im Besonderen entsprechen. Nun kommt es aber anders und zwar 'heftiger' als Paul es erwartet hatte; Josef ist 'verwirrt'. Paul spricht hier nun von einem offen ausbrechenden Konflikt in Bezug auf einzelne Details der Bestattung, in denen sich die Geschwister zunächst nicht einigen können. Dabei war vieles doch bereits geklärt: Paul hatte mit dem Bestatter Josef seinerzeit die Bestattung des Vaters Karl N. abgewickelt. Zum Tod der Mutter hatte Paul wieder Josef angesprochen und bestimmte Eckpunkte bereits besprochen und beschlossen – freilich ohne Rücksprache mit der Geschwisterschar. Damit erhält der geschwisterliche Konflikt einen weiteren Grund: Entzündete er sich zuvor an der Forderung von Einheit der Geschwister in Bezug auf gemeinsame Kosten, so stellt sich hier nun die Frage nach einer möglichen Rangfolge der Geschwister: Wer hat 'das Sagen', wer 'führt' die Gruppe der Geschwister? Paul hatte diese Frage bereits beantwortet und fühlte sich dazu legitimiert. Er sei als Ältester der Primus im familiären System. Allein mit seiner physischen Präsenz mag er in Kindheit und Jugend diese Rolle den Geschwistern gegenüber auch real ausgespielt haben. Entscheidender aber ist, dass er nach dem Tod des Vaters tatsächlich in die Rolle des Familienoberhauptes in elterlichen Bestattungsangelegenheiten schlüpfte und zugleich bestätigt wurde, denn er sorgte für die Bestattung des Vaters. Bezüglich der Bestattung seiner Mutter ist Paul von dieser mit einer Vollmacht ausgestattet worden alles für sie zu regeln. Paul ist von daher der zur Totenfürsorge Berechtigte und er muss nicht die Geschwister hinzuziehen. Er ist auch die erste Ansprechperson für Bestatter und Pfarrer, und deren Reaktionen bestätigen ihn in seiner Rolle. Welche Gründe aber nun veranlassen Paul die Geschwister nun doch an den Beratungen und Entscheidungen zu beteiligen? 70

Die Rolle als Ältester gehört in der Realität der geschwisterlichen Interaktion zur Vergangenheit. Dies machen ihm zumindest seine ortsnahen Geschwister deutlich. Paul selbst sieht sich daraufhin in der Aufgabe des Organisators, der dafür sorgt, dass es läuft, die wesentlichen Formen und Inhalte der Bestattung und vor allem die Kostenfragen aber müssen die Geschwister gemeinsam und auch einvernehmlich regeln. Zudem muß Paul erkennen, dass seine Alleingänge bei schon zu treffenden Entscheidungen mit realen Entwicklungen kollidieren. So hatte Paul geplant, die Mutter auf der Gruft, auf der bereits der Vater beigesetzt war, zu bestatten. Ihm waren aber die persönlichen Entwicklungen und die letzten Wünsche seiner Mutter nicht bekannt. So erfährt er von der besser informierten Schwester Ella, dass die Mutter selbst mit dem Beginn neuen Lebens nach dem Tod des Mannes auch ihre Ehe insofern als beendet betrachtet hatte, und sie gar nicht mehr geplant hatte, auf dem Grab des Ehemannes beigesetzt zu werden, sondern gemeinsam mit 'sonner' Tante, das heißt mit ihrer Schwester auf einem anderen Friedhof. Ella teilt ihm mit, sie hätte ihrerseits mit Tante Friedchen bereits ein entsprechendes Grundstück ins Auge gefaßt. Die Geschwister beschließen also: Die alte Gruft wird nicht wieder gekauft, sondern die Mutter wird auf jenem anderen Friedhof beigesetzt. Die weiter entfernt wohnenden Geschwister werden später dazu informiert und stimmen zu. Eine kostengünstigere Feuerbestattung wird von den Geschwistern kurz angesprochen worden sein, war aber aufgrund des Wunsches der Mutter […] nicht verbrannt zu werden nicht möglich. Die Aufschriften von Karte und Kranz, die Art und Reihenfolge der Namen und weitere Details der Ausstattung der Bestattung waren weitere Inhalte zeitintensiver Diskussionen. Grund der finanziellen Auseinandersetzungen, so Paul, sei die defizitäre Bestattungsversicherung der Mutter gewesen, die nicht alle Kosten hätte decken können. Für den Kreis der Geschwister entstand also eine gemeinsam zu tragende finanzielle Belastung. Die Bereit71

schaft zur Übernahme einer paritätischen Beteiligung an den Kosten wird bei den Geschwistern unterschiedlich ausgeprägt gewesen sein. Paul selbst aber hatte zunächst mit einer gemeinsamen Übernahme der Kosten durch alle Geschwister gerechnet hat, und dass insofern auch seine Vorschläge zur Ausgestaltung der Bestattung Akzeptanz finden. Schon der Widerstand der drei Anderen belehrt ihn eines Besseren: Um nicht auf finanziellen Belastungen 'sitzen zu bleiben', muss er die Geschwister hinzuziehen. In Absprache mit Josef bereits in die Wege geleitete bzw. geplante Maßnahmen werden zurückgenommen, Josef muss entsprechende Vorgänge stornieren und planerisch neu beginnen. Das Ergebnis des Besuchs beim Bestatter orientiert sich aber an der Aufgabenstellung: Die Ausrichtung der Bestattung. Paul wird von den Geschwistern beauftragt, die Bestattung weiterhin geschäftsführend, aber im gemeinsamen Interesse zu regeln. Eventuelles Misstrauen seiner Person gegenüber, an dessen Äußerung sich sicherlich ein handfester Streit entzündet haben mag, wird zurückgestellt beziehungsweise hat keine Bedeutung mehr, weil ja die Kostenfrage geklärt ist. Das Resümee dieser Szenenfolge durch Paul ist an der Praxis orientiert: bis wir uns wieder arrangiert hatten und die mir alle irgendwie wieder das Vertrauen mehr oder weniger ausgesprochen haben . Und dann auf der Beerdigung . Ja . Bevor Paul nun zur Beerdigung erzählt, geht er doch zuvor ein klein wenig zurück: zum Pfarrer und dem Gespräch mit ihm. Er erzählt: Das war wichtig vorher gab's das Gespräch mit dem Pfarrer ( ) einmal . mhm . am Samstag nach dem Tod hat der hier bei mir angerufen und das war ne ganz wichtige Geschichte. Paul vereinbart einen Termin mit dem Pfarrer in Osnabrück bei dem im Arbeitszimmer . aber ich hatte da eh einen Termin. Josef wird Pauls Telefonnummer an den Pfarrer weitergegeben haben mit dem Hinweis, dass Paul der Ansprechpartner ist. Josef handelt korrekt,

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denn Paul ist Bevollmächtigter der Toten. Weitere Geschwister hinzu zu ziehen ist nicht Aufgabe des Bestatters, sondern Pauls Aufgabe. Diese Telefon-Initiative des Pfarrers stärkt im Nachhinein für Paul aber zugleich den von ihm so erzählten besonderen Status unter den Geschwistern: Dem ältesten der Geschwister, dem die Verantwortlichkeit für die Durchführung der Bestattung als erstem obliegt. Paul hat an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass ihm diese Rolle und diese Verantwortung aus früheren Zeiten heraus geläufig ist. In der Realität ist eine vorausgehende Absprache im Geschwisterkreis aber sehr wahrscheinlich: Die älteste Schwester kannte den Pfarrer aus ihrer Kirchengemeinde, und hatte ihn auch bereits angesprochen, die Geschwister hatten sich beim Bestatter bereits zusammengesetzt. Ein gemeinsames Gespräch mit dem Pfarrer war sinnvoll. Mehrere Szenarien sind denkbar, warum es nicht dazu kam: Die Geschwister haben nach dem Gespräch beim Bestatter und der Klärung grundsätzlicher und finanzieller Fragen Paul die Verantwortung für die Durchführung der Bestattung übergeben und ihn damit autorisiert, auch mit dem Pfarrer das Notwendige zu besprechen, d.h. ihn in ihrem Sinn zu briefen. Paul spricht also allein mit dem Pfarrer; die anderen Geschwister halten ihre Teilnahme am Gespräch für nicht erforderlich. Es ist Teil des organisatorischen Settings, seine Inhalte sind 'abzuarbeiten': Liturgische Gestaltung, Inhalte der Trauerrede, besondere Wünsche der Angehörigen. Paul nimmt die Rolle an, die ihm hier zugespielt wird. Das Junktim mit anderen, beruflichen Terminen in Osnabrück spricht dafür, dass Paul den Gesprächstermin nach dem eigenen Terminkalender vereinbart, in den die terminlichen Möglichkeiten der anderen Geschwister aber nicht hineinpassen. Paul schätzt das Gespräch mit dem Pfarrer wiederholt als 'wichtig' ein. Gleich zu Beginn betont er dies zweimal. Dies ist 'vom Enden her' gesprochen, d.h.: Die Mitwirkung des Pfarrers bei der Vorbereitung und Durchführung der Bestattung erfährt Paul nicht nur als sehr 73

hilfreich, sondern als konstruktiv. Paul beurteilt das Gespräch für seine Person im Nachhinein als 'entlastend' – vielleicht auch, weil er 'weinen' kann und in Bezug auf seine Gefühle einen aufmerksamen Zuhörer findet. Ein traditionelles Verständnis von Trauer kann dieses Motiv nahelegen. Möglicherweise beurteilt Paul hier ein 'Gesamtpaket Bestattung', an dessen Erfolg der Pfarrer entscheidend mitgewirkt hat und das im Gespräch mit dem Pfarrer seinen Anfang genommen hat. Dieses Gesamtpaket hat mehrere Aspekte, wie die folgende Bemerkung zeigt: also ging natürlich auch um die Trauerrede ( ) also ich hab den da so erst mal aus meiner Perspektive gebrieft . Die Absprache der Inhalte der Trauerrede ist die erste Aufgabe des Besuchs des Pfarrers, also all das, was Paul als wesentlich für die Bestattung seiner Mutter erachtet: Die Liebe und würdevolle Bestattung in einem Komplex von tiefen Gefühlen und ehrfurchtsvoller Behandlung, fokussiert in einem dankbaren Rückblick und gleichzeitiger Reflexion eigenen Lebens in Bezug auf die Herkunftsfamilie. Es geht um die Anerkennung der Lebensleistung der Mutter so vieler Kinder, um die achtungsvolle Darstellung ihrer Person, um Wertschätzung ihrem Leben gegenüber. Es geht aber auch um die Erinnerung an die Familie der Eheleute Karl und Berta N.: und das war ne ganz wichtige Geschichte. ( ) Weil ich hab dem praktisch die ganze Familiengeschichte meiner Eltern erzählt. Aus einem Vorhaben sachlicher Absprachen und des inhaltlichen 'briefing' wird im Gespräch mit dem Pfarrer für Paul dann aber eine autobiografische Arbeit. Es ist nicht zwingend zu vermuten, dass Paul eine solche Erzählung und solches Nachdenken zum Leben seiner Eltern geplant hatte. Kommunikativ kompetent (Aufmerksamkeit, Entlastung, hat Zeit, interessiert, einfühlsam, zu hörend, einfach anwesend, einfach da – so die Bewertungen allein in dieser kleinen Szene) kann der Pfarrer aber Paul dazu ermutigt haben zu erzählen. Und so bekommt das Gespräch mit dem Pfarrer und der spätere Gottesdienst einen Aspekt, an den Paul vielleicht zuvor noch gar nicht 74

gedacht hat. Im Gespräch mit dem Pfarrer bekommt die Bestattung eine biografisch lebensgeschichtliche Dimension. Und insofern in dieser biografischen Arbeit Empfindungen erzählt werden, darf von 'Trauer' gesprochen werden: Ja da hab ich wirklich 2 Stunden da gesessen . da flossen bei mir zwischendurch auch so Tränen . Als ich sie so beschrieben hab . In seinen relevanten Anteilen wird das Gespräch also die Eltern und ihre Familiengeschichte zum Inhalt gehabt haben. Und dies macht das Gespräch für Paul bedeutsam. Paul erzählt ja nicht nur einfach die Geschichte seine Eltern, er reflektiert sie, erzählt, was ihm wichtig ist, baut sich selbst in diese Geschichte ein. Die Konstellation der Geschwister und ihre Konflikte in Vergangenheit und Gegenwart findet Erwähnung. Die Geschichte seiner Eltern und ihrer Familie ist auch seine Geschichte und die seiner Geschwister. Es ist die Geschichte der Eheleute Karl und Berta N. und ihrer neun Kinder. Allerdings gehört diese Familie der Vergangenheit an, sie ist bereits kurz nach dem Tod des Vaters auseinandergebrochen. Wenn sich die Geschwister nun aktuell wieder zusammentun, dann aus konkretem Anlass. Paul erzählt hier von seinen Tränen. Diese fliessen, als und weil er aus der Vergangenheit der Familie erzählt. Ob es die Erinnerung an die Eltern und an die Mutter, die 'dankbare' Tränen hochkommen lässt oder aber ein Wissen davon, dass mit ihrer letzten Aufgabe der Bestattung der Mutter sich diese Herkunftsfamilie in informelle Beziehungen zwischen den einzelnen Geschwistern verwandelt, ist an dieser Stelle noch nicht zu klären. Die Bestattung erlebt Paul als rundherum gelungen. Alle Familienmitglieder und noch viele Andere, Nachbarn, Freunde, weitere Verwandte, sind gekommen, die Geschwister haben sich am Grab und während der Feier als Einheit der altersmäßig hierarchisch strukturierten Familie von Berta N. präsentiert. Paul selbst fühlt sich in seiner Rolle als Ältester noch ein letztes Mal bestätigt. Die Bestätigung und ihre Realisierung erfolgt im Ritual des Beerdigungsvorgangs: aber 75

das war dieses ganze Ritual, alle kamen, als erster bin ich also nach vorne gegangen mit diesem Schüppchen mit Erde drauf wo ich dann praktisch das als erster gemacht habe weil ich ja der älteste bin und dann auch noch von meiner Mutter sozusagen das Vertrauen übertragen bekommen habe nach ihrem Tode das ganze zu regeln was mich sehr geehrt hat. Das Ritual initiiert für Paul die familiäre Sozialität in ihren hierarchischen Strukturen: Hier wird von den Geschwistern repräsentiert und zugleich auch erlebt und gelebt, was außerhalb des Ritus nicht mehr existierte bzw. nur konfliktbehaftet durchgeführt wurde: Die familiäre Einheit der Kinder der verstorbenen Berta N. Paul erzählt von der Bestattung zwar aus eigener Sicht seiner Position und Rolle innerhalb familiärer Hierarchie: Auch persönlich ist er selbst hier äußerst engagiert, er scheint der verstorbenen Mutter gegenüber eine besondere Verpflichtung zu spüren, die Bestattung in ihrem Sinn und nach ihren Vorgaben durchzuführen. Der reale Verlauf des Rituals aber fügt dem die Gemeinsamkeit der Geschwister hinzu: Sie folgen ihm an dieser Stelle und sprechen ihm das Vertrauen aus, und kommen so zu einer gemeinsamen Abschiednahme und auch Trauer. Weitere Details der Bestattung erzählt Paul nicht: Das Lied ist erinnerlich, und auch die biografische Intention der Trauerrede. Der Pfarrer verweist in seiner Trauerrede auf die Person der Mutter und ihre Lebensleistung und ihre Bedeutung für die Kinder und die Zukunft der Familie. Damit trifft er in der Würdigung der Person der Mutter das Bedürfnis der Hinterbleibenden nach öffentlicher Anerkennung für die Mutter und auch für die Familie selbst. Paul ist erleichtert, als er die Rede des Pfarrers hört, sie ist nicht 'peinlich' und sie ist entlastend, weil da niemand was problematisiert hat, auch der Pfarrer nicht. Für Paul ist diese Leistung des Pfarrers ein positives Ergebnis, weil sie zum rückblickenden Nachdenken, und darin auch zum gemeinsamen Weinen anregt: wir saßen dann da alle an bestimmten Stellen . 76

da musst ich dann wirklich auch weinen da konnt ich das auch nicht mehr zurück halten. Die Mutter wird erdbestattet. Paul tritt als erster an das Grab, wirft Erde auf den Sarg. was er zunächst als Recht des Ältesten bezeichnet, erzählt er später als eine nicht zuvor abgesprochene Verlegenheitslösung: Ja . einer musste ja vorgehen .so . ( ) Als ich vorgegangen bin lief es auf einmal. Die Familie richtet einen Leichenschmaus aus. Die Anwesenheit auch einer ferneren Verwandtschaft und auch der Freundinnen und Freunde der Mutter deutet Paul als Zeichen der Wertschätzung für die Familie und für die Tote. Paul formuliert abschließend als Coda: Sie war schon so eine Verbindungslinie und deswegen stellt sich im Moment für uns als Kinder als Geschwister die Frage was das jetzt wird . Werden wir uns jetzt weiter treffen . Oder . Vielleicht sogar mehr als vorher das ist eigentlich sonne Frage die im Raum steht. Werden die Geschwister beieinander bleiben, wo es doch nun keinen Grund mehr gibt zusammenzukommen? Bindendes Element war die gemeinsame Mutter, zu Weihnachten, zum Geburtstag, bei der Bestattung. Werden alle Geschwister dem Vermächtnis der Mutter gerecht werden? Werden sich die Geschwister finanziell einigen können? Paul wünscht noch in der Aktualität des Interviews in Sicht auf die Erinnerung und das Vermächtnis der Mutter, dass die Familie zusammenbleibt, und dass sie ihre Aufgaben und entsprechenden Entscheidungen einmütig und konfliktreduziert treffen. Er erkennt aber, dass eine gemeinsame Aufgabe wie eine Bestattungspflicht für die Zukunft nicht mehr gegeben ist und dass deshalb die Trauerfeier der Mutter und ihre Bestattung zum Abgesang der Familie Berta und Karl N. und ihrer Kinder ist. Nicht nur die Mutter ist tot, auch ihre große Familie hat ein Ende gefunden. Die Bestattung von Berta N. ist deren ritueller Abschluss. 77

Paul schaut über die Gegenwart der Bestattung hinaus: Berta und auch Karl N. waren als Verbindungslinie wichtig für die Einheit der Geschwister und ist dies weiterhin, gerade weil diese Bedeutsamkeit mit dem Abschluss der Bestattung ihr Ende findet. Als Ahnin trägt sie das Vermächtnis der Einheit der Familie als dauerhafte Forderung an die Geschwister in die Zukunft hinein. Diese können über die jeweiligen Kernfamilien hinaus in der Erinnerung an die Mutter neue Formen der Gemeinsamkeit finden. Paul fordert nicht eine Rekonstruktion der Sozialität, sondern deren Neukonstitution nach dem Tod von Berta N. als deren Vermächtnis. Und er fordert dies nicht nur, sondern sieht es als Aufgabe des Ältesten der familiären Hierarchie. Dass die Geschwister für ihn nun mehr die verbliebene Familie verkörpern, kennzeichnet sein Interesse als Bruder und Onkel.

Esther Esther ist 28 Jahre alt, älteste von drei Geschwistern, lebt in einer festen Beziehung mit ihrem Freund Kim im Sauerland. Beide planen in Kürze zu heiraten. Esther ist Referendarin (Sek 2) für Religion und Deutsch. Ihre Master-Arbeit im Fach Evangelische Religion an der TU in Dortmund hat sie zum Thema 'Jugendliche Trauerformen' geschrieben. Sie hat die Einladung zum Interview bei einem Besuch der theologischen Fachbibliothek der Ruhr-Universität zur Kenntnis genommen und sich bei mir über E-Mail gemeldet. Vor vier Monaten ist Esthers Großvater mütterlicherseits, ein Pfarrer im Ruhestand, in hohem Alter in seiner mitteldeutschen Heimat gestorben. Esther folgt wie Paul in ihrer Erzählung dem Verlauf bzw. Prozess der Bestattung. Sie erzählt sehr ausführlich über diese Zeit zwischen dem Sterben und der Beerdigung, zu in dieser Zeit stattfin78

denden Kommunikationen, Interaktionen und Trauerverhalten bei sich und bei anderen. Über all dem liegen Esthers Wissensbestände aus ihrer Masterarbeit zur Frage eines 'richtigen Trauerns' der Familie. Esther erzählt ausführlich vom Umgang mit dem Leichnam. Die Schilderung der Beerdigung tritt dem gegenüber eher in den Hintergrund. Der Umgang mit dem Leichnam strukturiert in ihrem Erleben den Prozess der Bestattung. Für ihre Familie gehört der Umgang mit dem Leichnam in der Zeit zwischen Tod – beim Sterben sind Esthers Mutter als Tochter und einer der beiden Söhne des Gestorbenen anwesend, aber nicht Esther selbst – und der Beerdigung zum angemessenen Verhalten Hinterbleibender beim Tod eines Familienangehörigen. Esther beginnt die Erzählung der Bestattung mit dem ersten Besuch der Familie beim Leichnam des Großvaters. Dieser ist beim Bestatter hergerichtet und aufgebahrt, die Familie sucht diesen Ort mehrfach auf. Esther selbst berichtet von zwei Besuchen. Sie schildert ausführlich Ort und Zeit, die Ausgestaltung des Raumes, seine Atmosphäre, sie erzählt von Kommunikation und Interaktion der anwesenden Familienangehörigen, von ihren unterschiedlichen Weisen des Umgangs mit der Situation und mit dem toten Körper; auch von ihren eigenen Empfindungen erzählt sie und findet sich aber zugleich wieder in der Rolle der kritischen und notierenden Beobachterin. So berichtet sie ausführlich und detailliert vom Aussehen des Leichnams, von seiner Bekleidung, von der Art seiner Präsentation durch den Bestatter. Esther erzählt von einem familiären Totenritus, d.h. vom mehrfachen Besuch beim Leichnam, der aber in Form und Durchführung und auch in seiner Funktion als Ritual geplant wurde und inszeniert wird. Sie eröffnet die Szene mit der Erzählung des 'Introitus', der Annäherung der Familie und der einzelnen Familienmitglieder an den Raum der Aufbahrung und an den Leichnam durch den, wie Esther betont, wunderschön gestalteten Eingang. Es ist schon nach acht, also 79

abends, und es ist dunkel; der Besuch geschieht in der Intimität der Familie: meine Eltern hatten nen Schlüssel ( ) und wir warn auch ganz alleine dort. Das so eingeleitete Ritual hat die Funktion der Demonstration der familiären Solidarität und der dem Großvater geschuldeten Zusammengehörigkeit (s.o.): wir hatten vorher ausgemacht dass . alle mitkommen müssen. Die Konfrontation mit dem Leichnam scheint in das Ermessen der einzelnen Familienmitglieder gestellt: Niemand muss den Raum der Leichenschau betreten. Ausführlich erzählt Esther hier von eigenen und fremden Ängsten, Vorbehalten und Ablehnungen in dieser Situation. Schließlich aber treten alle an den aufgebahrten Leichnam. Anders als für ihre Eltern ( und . ähm . na dann haben wir eben ausgemacht dass wir auch erst mal von der Tür aus schauen können ( ) und ähm . sind mein Onkel und meine Mutter vorgegangen) ist der Kontakt mit dem Leichnam für die Generation der Enkel keine 'Selbstverständlichkeit. Erst im familiären Ritual wird der Kontakt sogar zweimal möglich, weil sozial eingefordert, und ist an seinem rechten Ort. Esther wird später zu eigenen Erfahrungen mit dem toten Körper berichten, hier nun aber ist der Kontakt zum toten Körper eingebettet in den kollektiven Vorgang der Leichenschau. Die einzelnen Familienmitglieder gehen in den Raum der Aufbahrung, berühren den Leichnam, und sie tun dies in diesem Moment weniger als Individuen denn als Teil der Familie. Die Familie nimmt nun Abschied und konstituiert sich damit selbst als trauernde. Ritualtheoretisch eröffnet nämlich die dabei zugrundeliegende Struktur kollektiver Kommunikation in für alle Kommunikanten verständlichen symbolischen Formen eine spezifische Art sozialer Trauer: Verständnis, Verarbeitung des Geschehenen und Sinngebung in einer bergenden Gemeinschaft. Und so kann Esther die Untersequenz abschließen, obwohl ( ) ähm ( ) mein Bruder und meine Schwester und meine Cousinen und Cousins davor total Angst hatten und gesagt haben wir gehen nicht mit rein ( ) 80

warn wir dann nachher eben ( ) doch alle zusammen dadrin also zu siebt – und zwar als die Enkelkinder des Gestorbenen. Esther konzipiert in ihrer Darstellung diese Szene nicht nur als Ritual, sondern sie erlebt ein solches auch in der besonderen Atmosphäre im Aufbahrungshalle. Die Grundform des Totenritus ist die der kollektiven und symbolischen Interaktion und Kommunikation im Angesicht des Leichnams. Dieses Setting erlaubt nicht viele Worte; Schweigen leitet die Totengeister, die in die Welt zurückkehren, in die Irre, oder aber Schweigen kennzeichnet eine Linie zwischen profan und heilig (Stubbe 1985: 60–62). Die Kommunikation geschieht über Verhalten, Gebärde und Handeln: Mienenspiel und Körpersprache, wer als erste an die Bahre tritt, wie nicht nur die Furcht, sondern viel mehr noch das Besondere und Bedeutungsvolle der Situation in Verhalten gefasst wird, wie miteinander und aneinander gehandelt wird: Das Warten an der Tür, das vorsichtige Herantreten, die Art der Berührung und ihr angemessener Zeitpunkt., Äußerungen der 'Trauer', Tröstungshandeln wie Umarmungen oder verbaler Zuspruch. Esther erzählt gemeinsames Verhalten und Handeln viel mehr denn individuelle Empfindungen; diesem Verhalten ist aber ebensolche Empfindung inhärent. Exakt diese Relation kennzeichnet den rituellen Charakter jener Szene. Dieser Begriff des Rituals ist sicherlich sehr weit gefasst, aber er weist auf seine Pointe: Rituale sind begründende und darin konstitutive Erscheinungsformen eines Kollektivs, sie konstituieren den Zusammenhalt des Sozialen und die Bindung der Individuen zur Gruppe. Das Kollektiv vergewissert sich in kollektiven Handlungsformen seiner selbst, das Individuum wird über diese Handlungsformen in das Kollektiv eingegliedert bzw. manifest (z.B. durch Umarmungen) inkorporiert. Es geht primär nicht um Themen, Werte, Inhalte, sondern um den Zusammenhalt der Gruppe. Mehr noch: insofern die »Weltauffassung ein Bestandteil des sozialen Zusammenhalts ist« (Douglas 1986: 83), sind Rituale ihrerseits Instrumente 81

der Konstruktion gemeinsamer Wirklichkeit, die hier geschaffen wird und der man sich immer wieder vergewissert. Der performative Charakter von Ritualen scheint demgegenüber eher sekundär. Primär wird die Frage beantwortet: Was hält die Gruppe im Innersten zusammen – freilich 'im Angesicht der Feinde'? Im Zweiten werden Rituale dann thematisch-inhaltlich strukturiert. Hier wird differenziert zwischen denen, die sich auskennen mit den Inhalten und jenen, die einfach dazukommen. Hinzu kommen freilich auch Interpretation und Diskusssion über die Inhalte, Austausch der Erfahrungen und Empfindungen mit anderen, individuelle Aspekte und Befindlichkeiten. Auch unterliegen Formen und Inhalte einer Plausibilitätskontrolle, die nach Funktion und Zweck des Rituals fragen. Esther 'komponiert' den Erzählverlauf in zwei aufeinander bezogenen 'Melodien' ihres Erlebens: Der zunächst noch gegenwärtige Tote verwandelt sich in den vergeistigten Toten, und die eigene Wahrnehmung vollzieht sich von der Akzeptanz der Veränderung des Leichnams hin zu einer Konstruktion der Dauer (Bednarz 2010: 191ff). Beides geschieht im raum-zeitlichen sozialen Prozess der Bestattung. Dieser Prozess endet für Esther allerdings mit der endgültigen Abschiednahme in der Aufbahrungshalle des Bestattungsunternehmens, d.h.: er ist orientiert am Faktum des Leichnams und seinen feststellbaren Veränderungen. Mit dem Schließen des Sarges und dem Abbruch der Besuche in der Leichenhalle sind Veränderungen nicht mehr wahrnehmbar. Ihre 'ritualisierte' Begegnung mit dem sich verändernden Leichnam des Großvaters fasst Esther in ihrer Erzählung in eine Rahmen(a-b-a)Struktur und betont damit einen für sie wichtigen thematischen Aspekt. Zwei parallel lautende Erzählteile A rahmen einen davon zu differenzierenden Teil B: A1 – ja mein Großvater war schon . sehr verändert . also die Wangen waren ganz eingefallen […]

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A2 – nja er war schon auch von Gesicht her verändert und ich hab mich . ähm . auch nicht getraut ihn zu berühren ( )

'Veränderung' darf als Leitwort' dieser Rahmung interpretiert werden. 'Veränderung ist Dimension einer Plausibilitätskontrolle, die die Funktion hat, den Tod des Anderen angesichts des Leichnams festzustellen. D.h.: Totsein macht sich fest an und wird bezeugt in der Veränderung des Großvaters zum Leichnam. Esther gibt damit die Problematik der Szene vor: Es ist der Großvater, der dort aufgebahrt ist, aber er ist nicht mehr der, der er zuvor war; denn er hat sich sehr verändert. Der Veränderung seines Gesichtes, also des äußerlichen Merkmals seiner Person, entnimmt Esther diese Einschätzung. Es ist der Großvater, der dort liegt, mit dem Gesicht, das man kannte, und zugleich ist er es nicht mehr. Die Veränderung ist mehrfach negativ konnotiert: Der Leichnam des Großvaters bietet mit seinen eingefallenen Wangen und dem offenen Mund kein schönes Bild. Um positive Wiedererkennbarkeit zu wahren, müssen unschöne Veränderung von Verwandten teilweise abgedeckt werden. 'Verändert' besagt zugleich auch Anderes: Da ist noch der Großvater, aber er ist ein anderer geworden. Später bei ihrem zweiten Besuch wird Esther die abgeschlossene Veränderung mit religiösem Duktus als vergeistigt bezeichnen. Aber zunächst ist er der Leichnam, in den hinein der Tote sich verändert als in etwas Anderes, etwas ganz Neues, das er auch zuvor nicht war. Dieses Neue ruft Erschrecken und Ängste hervor, Entsetzen, Abscheu auch und Ekel. Esther berichtet von Reaktionen in Empfindung und Handlungen an der Totenbahre: und darüber war mein Bruder so wahnsinnig erschrocken ( ) und dann hat meine Mutter ihm immer die Hand vor den Mund gehalten . die Partie so abgedeckt und dann hat man ihn ( ) ja wieder total gut erkennen können. Erkennen des Bekannten in jenem entsetzlich Unbekannten der Leiche, das ist hier gemeint.

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Zunächst bedarf es aber der gemeinsamen Feststellung der Hinterbleibenden, dass dort ein Leichnam ist. Die sichtbaren Veränderungen machen dies manifest. Esther und die Familie sieht ihn als Toten. Die erzählerische Rahmung A1 / A2 hat dies zum Inhalt: Esther teilt ihre Erkenntnis mit, dass der Großvater wirklich tot ist. Dazwischen und danach aber werden andere Aspekte thematisiert, die sich nun daran zu versuchen scheinen, sich der Realität des Leichnams zu widersetzen. Im B-Teil malt Esther deshalb ein super-schönes Bild des Großvaters in seinem Lieblingsanzug, in den gekleidet der Leichnam nun im Sarg liegt. Esther deutet es gemeinsam mit seinen Wanderstiefeln als Zeichen für diesen letzten Weg den er ( ) vor sich hat ( ), aber Letzteres ist bereits eine religiöse Reflexion, die vielleicht der Großvater selbst für seinen Tod vorgenommen hat. Esther teilt sie an dieser Stelle ihrer Erzählung und gibt damit dem kleinen Abschnitt B das zu A1/A2 alternative Thema vor: Was 'bleibt' trotz der Veränderung des Großvaters? Superschön steht gegen die o.a. negative Konnotation des Leichnams, gegen seine Hilflosigkeit und sein Ausgeliefertsein, gegen die Empfindung des Fremden, Erschreckenden und auch Abstoßenden in ihm. Anzug und Wanderschuhe stehen für das Vertraute und Lebendige, das Vitale und das Aktive. Wandern erweist körperliche Fitness, Gesundheit und Wohlbefinden – bis ins hohe Alter und, wie hier zu sehen, gar darüber hinaus. Gerade weil der Leichnam so bewegungslos daliegt, wird hier das Gegenteil behauptet: Es geht vorwärts auf einem Weg in die Zukunft, auch für den Leichnam, der nun selbst sich aufmacht und der nun wieder Anteil erhält an der Person des Lebenden. Und er hat immer gesagt dass er mit seinen Wanderstiefeln ( ) beerdigt werden möchte. Der Großvater kommt hier selbst noch einmal zu Wort in einer über seinen Tod hinausgehenden Verfügung. Er war und er ist nun immer noch der passionierter Wanderer in der Mark

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Brandenburg und die Stiefel jetzt auch bräuchte so . für diesen letzten Weg den er vor sich hat. Esther weiß, dass diese Vorstellungen bildhafter Art sind. Aber es ist ein ja n sehr schönes Bild auch, mit einem gewissen symbolischen Gehalt, dem sie sich aber real nicht anschließen kann. Aus platztechnischen Gründen nicht ging also dass er die Stiefel anhat und . ähm deswegen haben die das beim Beerdigungsinstitut ähm ( ) die Stiefel vor den Sarg gestellt. Die Stiefel sind Grabbeigaben, sie werden wie anderes, wie später erzählt wird, in den Sarg gelegt. Sie gehören aber nicht an die Füße dessen, der nicht mehr gehen kann. Andererseits wird Esther dies so nicht jenen erzählen, die mit ihm gewandert sind, und die sie im Zusammenhang der Bestattung fragen, ob wir ihm die denn mitgegeben hätten. Die Nachfrage der Wanderfreunde verweist auf biografische Relevanz. Symbole, Elemente, Bestandteile des gemeinsamen Lebens werden vor allem bei Erdbestattungen dem Leichnam in seinem Sarg mitgegeben. Für einen weiteren Besuch beim Bestatter kauft Esther Blumen und ein Herz aus Filz als Zeichen der Zuneigung, und sie schreibt einen Abschiedsbrief, denn ihre Erinnerungen sind nicht die des Wanderns, sondern des Briefkontaktes. Dem Interview ist nicht zu entnehmen aber durchaus denkbar, dass Esther das folgende gemeinsame Abschiedsnahmeritual aller Enkel inszeniert: also alle Enkel hatten noch Abschiedsbriefe geschrieben ( ) mhm ( ) den wir ihm dann alle in den Sarg gelegt haben. Die biografische Relevanz betrifft hier das Kollektiv; Esther betont das 'alle' und rahmt damit ihre Aussage. Die Betonung des zweifachen 'alle' bezeichnet die Gemeinsamkeit der Enkel. 'Jedes Enkelkind' setzte die Beziehungen der Einzelnen in den Blickpunkt. Diese Perspektive hatte Esther für ihre Person bereits kurz zuvor eingenommen. Aber hier nun: Alle gemeinsam. Zugleich wird im Ritual der 'alle' die bleibende Zugehörigkeit des Gestorbenen als Ahne zum familiären Kollektiv vergewissert.

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Es ist der zweite und letzte Besuch des Leichnams, an dem diese besondere Arbeit aller an gemeinsamer Biografie und des Trauerns geleistet wird. Und damit wird die Funktion des Rituals am Leichnam, den Esthers Familie hier zelebriert, evident: Die Familie als Ganze nimmt endgültig Abschied. Der Abschied gilt dem Lebenden, der für eine Weile noch im Leichnam durchschimmerte. Was danach kommt, z.B. bei der Beerdigung, gilt der Sorge um die Bestattung des Leichnams. Esther nimmt diese differenzierte Präsenz des Toten über den Tod hinaus in der Erzählung des Interviews noch einmal auf und öffnet einen zweiten Erzählstrang und erzählt darin von ihren persönlichen Gefühlen angesichts des Leichnams. Auch dieser Erzählstrang schließt mit der 'endgültigen Verabschiedung'. Leitwort ist Berührung, nicht allein die visuelle Wahrnehmung der Veränderung. D.h.: Es geht um den körperlichen Kontakt. Die Begegnung mit dem Leichnam geht 'unter die Haut'. Esther unterbricht hier den zeitlichen Ablauf des Rituals an zwei Tagen. Sie erzählt nun von sich selbst, also ihrem Erleben und ihren Gefühlen angesichts des Leichnams. Esther selbst traut sich zunächst nicht den Leichnam zu berühren. Der Großvater gehört zur Familie, immer noch, als Familienmitglied gilt ihm das Ritual, es gilt ihm aber auch zugleich aufgrund seiner Veränderungen, die ihn als nicht mehr in gleicher Weise wie zuvor als zugehörig werten; der Leichnam bedarf eines anderen Umgangs. Schließlich wagt Esther doch die Berührung des Leichnams. Das Gesicht des Großvaters hatte sich schon sehr verändert. Aber es sind die Hände, die, weniger verändert, Esther faszinieren. Es sind immer noch die Hände des Großvaters, die sie nun sich traut zu 'begreifen': mhm es war so dass seine Hände warn so übereinander gelegt und ähm . ja die hab ich dann auch . meine Hände da drauf gelegt und . das hat mir . ähm . ( ) na ich würd schon sagen dass ich in dem Moment (RÄUSPERN) seinen Tod auch so richtig körperlich begriffen habe 86

Esther 'begreift' leibhaftig: Der Großvater ist tot. Es ist nicht nur die Veränderung des Gesichtes, es sind die Hände, die zwar in sich ruhend aber doch noch lebendig erscheinen. Die Berührung entlarvt sie nun als Hände eines Leichnams. Esther kann überhaupt nicht glauben, was sie da erfährt: Bis zu diesem Zeitpunkt wußte sie zwar, dass der Großvater gestorben war, aber er war auf eine besondere Weise ebenfalls präsent, 'ansprechbar', Teil der familiären Gemeinschaft, die ihn noch nicht aus den Händen gegeben hatte. Esther begreift nun mit ihren Händen, dass solche Annahme und Glauben nicht mehr zutreffen. Da liegt ein Leichnam, der sich von der Welt der Lebenden entfernt hat, der nicht mehr dazu gehört. Der eine tote Hülle ist. Deshalb wird Esther die Veränderung des Gesichts des Toten als Vergeistigung bezeichnen. Der Körper hat an dieser Vergeistigung keinen Anteil. Das ist es, das Esther nun mit den Händen begreift. Wie die folgende Sequenz zeigt, haben Hände in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung: was gibt was man mit seinen Händen . also keinen Gegenstand den man mit seinen Händen nicht . mhm . erwärmen könnte durch die eigene Körperwärme also . Dieses Bildwort ist nicht nur physiologisch gemeint. In nachträglicher Reflektion weist Esther auf etwas ganz anderes: Das einander Wärme geben und damit Wärme des eigenen Körpers, das ist eine Grundkonstante des Humanum. Anders klappt es nicht mit den Menschen als Gruppe. Wärmende Erfahrungen des Einzelnen und der Gruppe, mit den Händen die Hände eines anderen wärmend umgreifen, das ist von Esther gemeint in ihrer Erfahrung des Todes in der Kälte der Leiche. Dem Toten kann keine wärmende Gemeinschaft geschenkt werden; eine Welt der Toten unterscheidet sich in ihren Wärmegraden von der Welt der Lebenden (vielleicht denkt dabei Esther an den Film 'the sixth sense'; wo Lebende und Tote einander begegnen, da wird es kalt für die Lebenden) – und wieder dient ihr die physiologische Erfahrung als Bildebene: es kommt einfach nichts an Wärme zurück die wird überhaupt nicht gespeichert sondern es ist einfach sonne Kälte die . ähm . ja . die 87

es sonst nicht gibt. (2) Die dramatische und zugleich kunstvolle Gestaltung der Erzählung einschließlich ihrer reflektierenden Anteile sind dem Interview geschuldet. Die situative singuläre Erfahrung für Esther wird nichts desto weniger die Kälte des Todes sein, die es sonst nicht gibt, in der sie nun 'den Tod begreift'. Für die Zeit nach diesem ersten Besuch beim Bestatter und der aufgebahrten Leiche erzählt Esther eine fast unheimliche Geschichte mit sehr viel Emotion – noch in der Gegenwart des Interviews. Esther weint in diesem Moment: was so das Schwerste war auch an dem Abend davor schon . so die Tür zuzumachen. (2) ähm (2) wir haben ihm . noch Licht angelassen . das war uns ganz wichtig und Musik auch (5) (WEINT – BEGINN) wir konnten nicht ( ) überhaupt in der Dunkelheit zurücklassen (5) im Sterben (WEINT) (2) Wenn Esther bei ihrer Berührung des Leichnams den Tod begriffen haben will, dann scheint sie in ihrer Erzählung nun einen Schritt zurück zu gehen: Der Großvater stirbt zwar, aber er ist noch nicht ganz tot; der Tod greift nach ihm. Und da braucht der Leichnam Licht und Musik gegen Totenstille und Dunkelheit in der Nacht des Todes. Esther nutzt hier weitere traditionell mit dem Tod verbundene Bilder. Bedeutsam ist aber eine denkbare unmittelbare Erfahrung Esthers an der Leiche, die noch an den lebenden Großvater erinnern läßt: der Tod ist ein Verlauf, ein Prozess, er ist nicht in einem Augenblick vollendet. Die Veränderungen des Gesichtes, die kalten Hände weisen darauf hin. Sterben heißt: Der Tod hat irreversibel begonnen, er ist aber noch nicht zu einem Abschluss und einem Abschied gekommen. Da gehen Lebende und Tote noch ein wenig gemeinsam auf gleichem Weg wenn auch mit unterschiedlichen Richtungen. So schnell wird man 'den Leichnam nicht los!', selbst wenn Esther dies gewollt hätte. D.h.: Der Prozess spiegelt sich im Erleben und Handeln der Personen wieder. 'Trauer' ist Anteilhabe an diesem Prozess, Mitgehen müssen auf diesem Weg. Esther erzählt davon, wie intensiv sie diese Teilhabe in der Nacht nach dem ersten Besuch der Leiche erfahren hat: ich konnte nicht einschlafen 88

weil wenn ich die Augen zugemacht hab hab ich ihn immer gesehen ( ) als Toten so wie ich ihn in dem Beerdigungsinstitut gesehen hab wie er auf mich zukam und die Hand so ausgestreckt hat nach mir ( ) hab deswegen kaum geschlafen . in der Nacht ( ) Zum Glück ist Kim wach und kann seine Partnerin durch seine bergende Nähe beruhigen. Esther hat bewußt geträumt in dieser Nacht. Insofern müssen wir nicht daran zweifeln, dass Esther uns ihr Erleben wahrheitsgemäß erzählt (und uns keine 'Fantasiegeschichte' vorlegt). Warum aber erzählt sie diese Geschichte im Rahmen ihrer Fallgeschichte? Esther macht die Erfahrung der Todeskälte und seines Schreckens am eigenen Körper; dagegen hilft nur die Nähe und Wärme des Anderen. Sozialität ist schon bei Durkheim und heute immer noch ein Verhalten als Mittel gegen den Tod. Andere Informanten berichten vom Schlafen der Schwestern in einem Bett. Bei der Erfahrung der Kälte des Todes drängt man sich aneinander, nimmt einander in den Arm wie Sarah und ihre Mutter, schenkt Wärme. Esther selbst berichtet davon. Bei der Erfahrung des Todes ist eine nicht gern allein. Erfahrung des Todes heißt auch: 'Schock' des Leichnams. Der veränderte Tote, noch ein wenig der bekannte und Vertraute Großvater, und zugleich etwas erschreckend Anderes, der nun im Traum begegnet. Der Traum ist für Esther ja angstbesetzt. Es ist zum Fürchten, wenn die, die wir als Tote erkannt haben, auf einmal wieder lebendig werden, zu Untoten. Die Sagen der Weltgeschichte sprechen davon, dass Tote auch tot bleiben mögen, Leichenriten sind nicht allein Sorge für die Toten, sondern auch Schutz vor ihnen. Die Toten brauchen auch die Sorge der Lebenden. Die ausgestreckte Hand ist kein Versuch des 'Begreifens', sondern mehr wohl ein Ersuchen um Hilfe. So wie Musik und Licht in der Nacht im Aufbahrungsraum des Bestatters für das Wohlergehen des Leichnams den dunklen Mächten des Todes gegenüber wichtig sind, so ist der Gestorbene der Hilfe der Lebendigen bedürftig. Die müssen alles richtig machen, dass der Tote umbehelligt in der Totenreich gehen kann. 89

Dazu ist es nötig, dass er noch eine kleine Weile unter uns wohnt. Genau dies geschieht nun in Esthers Traum: die Traumpräsenz des Großvaters als Bitte um Hilfe an die Lebende. Es ist der nächste Morgen. Zunächst gilt dieser letzte Besuch den Mitarbeitenden. Ihnen wird gedankt, über weiteren 'small-talk' kann Esther inhaltlich nicht berichten, und dann gehen sie noch mal zu meinem Großvater rein ( ). Die starke Veränderung seines Gesichtes nach 12 Stunden nimmt Esther sehr deutlich wahr. Es ist nicht mehr der Großvater, den sie kennt, der dort liegt. Berühren möchte sie ihn nicht mehr. 'vergeistigt' soll er ausgesehen haben, und gerade deshalb kaum mehr zu erkennen ( ) als der Mensch den ich kannte so. Die darauf folgende Abschiedsszene wurde oben schon bedacht. Esthers Obsession ist seit ihrer Masterarbeit die Frage nach dem 'richtigen Trauern'. Kriterien sind für sie die Qualität und die Intensität der Klage und des Weinens. 'Trauer' muss sie richtig erleben und ähm . ( ) der (erg.: Moment) war so was von intensiv . Also.'Trauer' ist 'Trauerarbeit', ist einfach so körperlich irrsinnig anstrengend. Als Zusammenfassung gemeinsamen Trauerns am aufgebahrten Leichnam formuliert sie: man hat einfach von allen gemerkt . diese ( ) ja wie tief oder wie groß die Liebe auch zu diesem Menschen war . ähm .die sich . jetzt einfach ( ) in Tränen auch gezeigt hat. Das reale 'Trauerverhalten' der Familie erzählt Esther als sehr different: Für die eigene Person erwähnt sie geweint zu haben. Die Mutter als Tochter des Toten hat unglaublich getrauert . also wie man das immer sieht wenn ( ) bei Klageweibern . hat auch ( ) auch so richtig gestöhnt und gewimmert ( ). Der Sohn musste mehrfach rausgehen ( ) ähm . konnte meinen Großvater auch nicht berühren. Meine Schwester hat immer wieder versucht mich so aufzumuntern und . kniete immer so vor mir und lächelte mich an und . gab mir ein Taschentuch nach dem nächsten ( ). Esthers Bruder hingegen hat das total verunsichert ( ) hat richtig körperlich auch getrauert. Trauerreaktionen von weiteren Anwesenden erzählt sie nicht. Dies muss sie auch nicht, denn 90

sie schildert exemplarisches (Trauer)verhalten im sozialen (Trauer)Kontext. So ist der Bruder ob des Verhaltens der Mutter total verunsichert. Esthers Vater scheint die unterschiedlichen Traueräußerungen der Anwesenden kaum ertragen zu können. Die Schwester möchte nichts als trösten in dieser Situation. Am Abend desselben Tages wird sie mit Esther extrem zusammen rasseln, weil sie vorschlägt in der Stadt etwas zu unternehmen. Esther kann wiederum nicht nachvollziehen warum sich die Schwester an einem solchen Tag ins Nachtleben stürzen möchte. D.h.: Die Familie trauert gemeinsam, wenn auch in sehr unterschiedlichen Formen, aber doch auf einander bezogen, miteinander kommunizierend, aufeinander reagierend. Das Trauern der Familie ist innerhalb des Setting des Aufbahrungsraumes ein soziales Konstrukt und für die Familie Esthers stark ritualisiert. Diese gemeinsame Trauer war letztlich Ziel der Aufbahrung und des Besuches der Familie am Leichnam. Diese gemeinsame Trauer bedeutete Akzeptanz des Todes, Überleitung des Toten bis in die Welt der Toten, Abschiednahme, Aufbruch zu neuen Leben nach dem Tod. Mit ihrer Fokussierung auf ritualisierte Trauerformen der Familie kann Esther deshalb nicht viel über individuelle Trauerformen beziehungsweise Empfindungen erzählen. Die Beerdigung des Großvaters setzt ein ganz neues Setting ein. Durch eine Bestattungsverfügung hatte der Großvater dieses Setting weitgehend selbstbestimmt. Die Familie ist nicht mehr unter sich. Deshalb hatte sie bereits 'Abschied genommen'. Die Bestattung / Beerdigung betrifft die Öffentlichkeit des Todes des Großvaters als ehemaliger Pastor einer Kirchengemeinde. Eine große Trauergemeinde kommt zusammen. Und auch wenn die Kirche, in der der Gottesdienst stattfindet, für die Familie durch unterschiedlichste Anlässe wie Hochzeiten, Taufen, Konfirmationen ein Ort ist, mit der wir einiges verbinden, so ist doch dieser Gottesdienst ein anderer; die Familie selbst war durch den Beruf des Großvaters Teil der Öffentlichkeit und ist es in diesem Gottesdienst auch weiterhin. 91

Zu Form und Inhalt des Gottesdienstes weiß Esther nur zu sagen: es war insgesamt ein sehr tröstender . Gottesdienst . Intensiver wird die Grablegung erzählt: Auf dem Weg an das Grab, nachdem sich der Sarg dann in Bewegung gesetzt hat, (ein Sarg kann sich kaum in Bewegung setzen, eine Trauergemeinde macht sich auf den Weg) erlebt Esther einen totalen Zusammenbruch, nur mit Hilfe des Freundes, der sie eigentlich den ganzen Weg . ähm . zum Friedhof . ähm . mehr oder weniger getragen hat, kann sie die Wegstrecke hinter sich bringen. Sie erzählt allerdings nicht den Grund des Zusammenbruchs oder von ihren Gefühlen in diesem Moment. Der Hörer ist auf Vermutungen angewiesen. Am Grab selbst fällt es ihr schwer, die Grablegung des Sarges und den anschließenden Erdwurf zu erleben beziehungsweise zu vollziehen. Die Geschwister haben verabredet, keine Erde auf den Sarg zu werfen – das knallt so wahnsinnig und ist viel zu laut –, sondern mit Blumen dies ein wenig abzufedern. Und wieder ist es die Schwester, die, so Esther, da freudestrahlend am Grab stand ( ) und ähm ( ) irgendwelche Leute begrüßte und ähm . ( ) ja ich weiß auch nicht also ( ) für mich (lachend) vollkommen unverständlich mit der Situation auch umging. Esther verweist für sich selbst auf extensives Weinen und deshalb ein total verflecktes Gesicht und ( ) ganz zugeschwollene Augen. Auch hier führt sie keine Gründe oder Deutungen ihres Weinens an und nennt keine weitere Person mit ähnlichem Verhaltensmuster. Die Schwester stellt dagegen das Bild der kontrollierten Traueräußerungen vor, ohne verweintes Gesicht oder einen Schwächeanfall auf dem Weg an das Grab. Esther überzeichnet beide Äußerungen in ihrer Darstellung. Die erzählten Empfindungen und ihre Veräußerlichungen durch Esther erscheinen aber gerade deshalb authentisch, die Empfindungen selbst originär, denn sie weisen auf ein spezifisches Trauersetting hin. In diesem Trauersetting fließen viele Tränen – für Esther ein Zeichen 'richtiger', weil körperlicher Trauer.

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Diese Traueräußerungen sind für Esther eng verknüpft mit dem Erleben, dass viele Menschen dem Gottesdienst und der Grablegung beiwohnen und dann der Familie kondolieren. Esther hebt zwei Punkte hervor: Es versammelt sich eine große Trauergemeinde und das Ritual des Kondolierens am Grab nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Die Verhaltensweisen der Familienmitglieder scheinen unterschiedlich zu sein; so repräsentiert die Schwester ein alternatives Modell am Grab. Dieses Modell wird sich durch das Fehlen von Tränen und Weinen kennzeichnen lassen. Daraus kann man allerdings dann auch schließen, dass Esther jenes andere Modell im Zusammenhang des Kondolierens auslebt. Das heißt für den rituellen Zusammenhang: Im Akt des Kondolierens als eines Rituals der Veräußerlichung gemeinsamer Trauer werden in direkter Kommunikation Gefühle und Emotionen generiert und ausgelebt. Wir haben es also nicht allein mit Skripten richtigen Trauerns zu tun, sondern mit interaktiven Prozessen zur Generierung z.B. gegensätzlicher Gefühle. Diese freilich werden von den Individuen als durchaus authentisch erfahren. Erwiesenermaßen sind miteinander Weinen und Wärme schenken die Grundlage menschliche Gemeinschaft. Kondolieren ist Äußerung der Solidarität, des Mitfühlens, des Anerkennens des Schmerzes, der Achtung und Ehrung des Toten, ist Tat der Barmherzigkeit. All dies wird im Augenblick des Kondolierens ausgetauscht, mit körperlichen Gesten wie z.B. einer Umarmung bekräftigt und interaktiv miteinander geteilt. Wogegen Polina sich erfolgreich wehrte, das lebt Esther hier trauerüberwältigt in Bezug auf die Zahl der Trauergäste aus. Schon auf dem Weg an das Grab, der gemeinsam mit so vielen gegangen wird, wird die Gemeinschaft der Trauernden konstituiert und darin von den Anwesenden gelebt. Esther weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine Gemeinschaft der Trauernden sich primär in gegenseitiger Sympathie bildet und nicht allein die Summe derer ist, die um den Toten trauern: und es war ( ) für mich auch sehr schön und . ähm . ja . Freunde von meinen . Eltern oder 93

Freunde der Familie die ( ) mein Großvater . einige Male . dutzendmal sicher gesehen haben aber . so kein persönliches Verhältnis zu ihm hatten ( ) ähm Teil der Bestattung ist für Esther die anschließende Feierlichkeit im Saal der Kirchengemeinde. Für den Gottesdienst hatte der Großvater einen Vortrag des so genannten 'großen Arbeitszeugnisses' abgelehnt. Hier nur ist der rechte Ort für Reden, die gehalten werden, für das Sprechen miteinander, für den Austausch von Erinnerungen: und dann haben (2) einige Leute . ähm . auch . ja . ne Rede gehalten auf meinen Großvater das war . sehr schön ( ) ähm . und das wichtigste daran war dass alle ihn . auch das ( ) alte Kollegen da waren . oder Nachbarn . oder ähm . Freunde oder Verwandte ihn . alle so gesehen haben wie . wir ihn auch gesehen haben . also dass das ähm ( ) was ja öfter mal passiert so ( ) ja jemand auch (unv.:) Kollegen ein anderer Mensch zu sein scheint ähm . da haben wir uns sehr gestärkt gefühlt dass wir . das alles so um diesen gleichen Menschen getrauert haben und auch die gleichen Dinge an ihm geschätzt haben. ( ) ähm . […] mein Onkel hat dann noch so ( ) aus der Lameng heraus äh . mhm . ne Rede gehalten die äh ( ) ja . auch wirklich sehr schön war ( ) Esther bindet hier Trauer an die Verständigung über die Person des Toten, seine Lebensleistung und seine Identität, also: wer er gewesen war und wer er heute noch ist in der individuellen und gemeinschaftlichen bleibenden Erinnerung und Bindung der Hinterbleibenden („All of these discourses construct the identity of the deceased as he or she was, and as she or he is now in the individual and communal continuing bonds with the deceased.“. Neimeyer & Klass 2014: 485). Der Gemeindesaal mit seinen vielen Gästen ist dazu der rechte Ort: Familienangehörige kommen zu Wort, Freunde, alte Kollegen, Personen des öffentlichen Lebens, der kirchlichen Organisation. Man spricht Achtung vor dem Leben aus, Ehrerbietung und Zuneigung. Maßstab dieser Wertschätzung ist weniger der persönliche Bekannt-

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heitsgrad, sondern, wie Esther es zum Ausdruck bringt, die Größe seines Wirkungskreises. Zurück in ihrer Heimatstadt Balve kann Esther Freuden und Bekannten kaum vermitteln, was mein Großvater auch für mich war und zweitens ( ) ja also wie (2) ähm . groß auch sein Wirkungskreis war oder auch kaum ( ) weil das eben so auch keiner erlebt hatte ( ) sich nicht ähm . ja wie auch die Trauergäste auf ihn ähm . über ihn gesprochen haben . Solch öffentliche Komponente in der Anerkennung ihrer Trauer vermisst Esther in ihrer neuen Heimat. Dort kennt man ihren Großvater nicht. Esther resümiert: Es ist gut gewesen, dass wir diese Zeit in diesem Beerdigungsinstitut hatten das war ( ) sehr intensiv und ähm (2) hat äh (2) viel auch schon . mhm . ja von dem vorweggenommen was wir ( ) was sonst wahrscheinlich auch an der Beerdigung konkret . also an dem Tag dann auch gelaufen wäre. Sie differenziert also zwischen familiären und institutionalisierten Erlebenskomplexen und damit Trauerformen. Differenzierung heißt aber nun nicht Trennung (z.B. im anglophonen Sprachbereich zwischen 'grief' und 'mourning'), nimmt aber Bezug auf die sehr unterschiedlichen Erlebensfelder, im denen Hinterbleibende ihre Trauer ausleben können. Beide Erlebensfelder werden von innerfamiliärer Ritualik geprägt und gesteuert. D.h.: Trauer ist für die Familie Esthers gemeinsames Erleben und Handeln.

Heiner Heiner hat mich zum Gespräch in sein Haus eingeladen. Er wohnt in einem südlichen Vorort von Aachen. Dort konnte er vor mehr als zwanzig Jahren ein älteres Haus mit einem sehr großen ParkGrundstück, umgeben von Waldgebieten, erwerben. Er führt mich 95

gleich in den Garten hinein, wir gehen einmal hindurch, er zeigt mir das eine und das andere: Gepflegt und dennoch natürlich wirkt der Garten, großer Baumbestand mit alten Bäumen, 3–4 kleinere Nebengebäude, an zentraler Stelle eine große, runde, gemauerte Feuerstelle; im ganzen Garten sind kleinere Sitzgruppen angeordnet, ein großes Hochbeet und ein Gewächshaus zeugen von gärtnerischen Ambitionen. Im ganzen Garten sind Steinskulpturen aufgestellt. Schließlich lassen wir uns auf einer sehr gemütlichen Sitz-Gruppe in der Nähe der Feuerstelle nieder. Das war der Garten meiner Eltern, beginnt Heiner. Auf mein verwundertes Gesicht erklärt er den Satz. Als er sich das Haus gekauft hat, da ist sein Vater gerade in die Rente gegangen. Im Sommer sind die beiden immer im Garten gewesen – also wenn sie nicht mit dem Wohnmobil in die weite Welt gefahren sind – Und dann hamse die erste Zeit immer im Wohnmobil übernachtet . hier bei uns. Als dann die Kinder aus dem Haus gingen, wurde Platz geschaffen für die Großeltern. Nach 5–6 Jahren sind sie dann auch nicht mehr so viel herum gefahren. O. k. mal nach Bayern oder an die Ostsee, aber nicht wie vorher drei Monate nach Skandinavien . Oder anderswohin. Und vor allem dann sei der Garten das große Hobby der Eltern gewesen. Den ganzen Tag, bei jedem Wetter, meine Mutter an ihrem Hochbeet, Vater dann in seinem Schuppen. Heiner fügt hinzu: Wenn sie dann eben hier bei uns in Aachen waren und nicht zuhause in Remagen. Remagen sei die Heimatstadt gewesen und so richtig hätten sich die Eltern davon nicht lösen können. Mal ne Woche hier, mal eine da . So lief das. Der ganze Freundes- und Bekanntenkreis war in Remagen, und den wollten die Eltern nicht aufgeben, z.B. durch eine Übersiedlung in die 80 km entfernte Aachen. Also sind sie gependelt, RB 8 . 50 Minuten. Ich konnte die dann immer vom Bahnhof abholen [Heiner lächelt]. Und dann sei es sofort wieder in den Garten gegangen. Der wurde zwischenzeitlich von Heiner, Elke und den beiden erwachsenen Söhne Christian und Andreas, einigermaßen in Form gehalten. 96

Oma konnte ziemlich stinkig werden, wenn der Rasen zu hoch war oder hier und da Unkraut [Heiner lacht]. Ich frage nach dem Großvater. Der Friedrich sei in den Gartenangelegenheiten so etwas wie ein Gehilfe von Oma Gertrud gewesen. Das hätte er aber gern getan, weil: der hat den Garten auch geliebt, zumindest solange Gertrud ihm genug Zeit für sein Hobby gelassen hätte. Nach seiner beruflichen Zeit als Handwerksmeister hat Friedrich O. mit der Bildhauerei, also der künstlerischen Steinbearbeitung, so Heiner lächelnd, angefangen. Dahinten in einer kleinen Halle hatte er sein Atelier; die letzten Jahre hat er aber nicht mehr soviel daran gearbeitet, des Alters und der Kräfte wegen. Und der Garten sei dann für ihn so eine Art Kunstpark gewesen. Er zeigt auf eine Sandsteinstele, die mich entfernt an ein Ying-Yang-Symbol erinnert: Friedrich und Gertrud . So hat Friedrich es genannt . Für mich ist es eine Art Grabstein, so Heiner ein wenig ernster. Heiner kommt jetzt zum Thema. Friedrich O., 87 Jahre alt, und Gertrud O. (84 Jahre) sind nur wenige Tage oder besser: Stunden nacheinander gestorben. Das ging so ganz schnell. Erst ist Friedrich an einem Herzinfarkt gestorben. Dann, keine 48 Stunden später haben wir Gertrud am morgen tot im Bett gefunden, ganz ruhig hat sie dagelegen. Für Heiner und seine Familie war das ein ziemlicher Schock. Noch am Nachmittag waren wir beim Bestatter gewesen, haben den Friedrich besucht, Wie er da aufgebahrt war . Gertrud hat Abschied genommen . So hat sie gesagt . Der Friedrich sollte ja feuerbestattet werden . Danach wollte sie ihn in Remagen auf dem Grab der Familie beisetzen. Hatte da auch schon feste Vorstellungen wegen der Trauerfeier ( ) auf jeden Fall wollte sie in Remagen bleiben . Also nach der Beerdigung . Weil erst mal ist sie ja mit uns nach Aachen zurück gefahren . Wollte erst mal nicht allein bleiben (2) Der Tod vom Friedrich ist ihr doch viel näher gegangen als wir dachten. also die hatte sich schon so . so unglaublich im Griff . mit ihren Gefühlen und so . Und die wusste auch schon irgendwie wie es danach weitergeht.( ) in 97

Remagen und auch hier mit dem Garten. ( ) und nun ist die Gertrud selbst tot ( ) auf einmal auch tot. (2) und was machen wir jetzt mit den beiden? Heiners Frage bezieht sich auf das zuvor Gesagte. Zur Sprache gebracht wurde ein Komplex von Aufgaben und noch nicht beantworteter Fragen, die durch den Tod beider Elternteile entstanden sind. Wo soll der Ort der Bestattung sein? In Remagen oder in Aachen? Wird Gertrud auch kremiert werden? Wo und wie sollen beide beigesetzt werden? Bezüglich der Bestattung von Friedrich hatte Gertrud das Bestimmungsrecht, sie hatte auch gewisse Interessen das Grab ihres Mannes in Remagen zu verorten. Alle diese Überlegungen sind durch ihren Tod obsolet geworden. Jetzt muss Heiner als einziges Kind und Verwandter die Entscheidungen zu Art und Weise und Ort und Zeit der Bestattung treffen. Zudem sind andere Dinge zu regeln wie Auflösung des Haushaltes, Abmeldung, finanzielle Auswirkungen und vieles Anderes mehr. Auf die Frage wie er sich den gefühlt hätte beim und seit dem Tod seiner Mutter antwortet Heiner: Erst einmal sei der Tod der Mutter ein Schock für ihn und alle in der Familie gewesen. Aber dann habe er so viel an Vorbereitung zu tun gehabt, dass er an seine Gefühle erst einmal gar nicht mehr gedacht habe. Ja, zwischendurch z.B. beim Versorgen und dann Räumen der Wohnung der Eltern in Remagen, da hat er schon sehr intensiv an die Vergangenheit gedacht, was für ein Leben die Eltern gehabt hatten, an seine Kindheit und Jugend dort in Remagen. Christian und Andreas waren oft dabei und er konnte ihnen viel erzählen. Allerlei Dinge von sich selbst hat er beim Leerräumen gefunden, die Zeugnisse der Grundschule oder Schwimmurkunden hatten die Eltern verwahrt und da hatte ich zwischendurch so manche Träne im Auge als ich die gefunden habe. Am eindrucksvollsten, aber auch am lustigsten, sei der Brief von der Schule mit dem schweren Tadel gewesen, so im neunten Schuljahr. Ich hatte mich da nicht so ganz regelkonform verhalten und so hatte die Lehrerschaft mit ganzer Härte durchgegriffen. Friedrich sah das da98

mals ganz entspannt, was ihn geärgert hätte, sei die Verpflichtung zur Kenntnisnahme und Unterschrift gewesen. Ich frage Heiner nach dem Grund des Tadels. Ach wissen Sie, ich schlage manchmal über die Stränge. Dann ärgere ich jemand oder ich mache einen Scherz mit ihm. Damals gab es einen Lehrer auf der Schule, der war erstens nicht beliebt und zweitens fuhr der Fahrrad. Das hatte der drinnen im Hof an der Mauer immer abgestellt. Wir also dann . irgendwann mal haben wir uns lange Seile besorgt ( ) so stabile Stricke, haben daran das Fahrrad angebunden ( )und das oben durch ein Fenster hoch gezogen ( ) in den zweiten Stock . Und dann hat das dann da gehangen ( ) so auf 5,50 m Höhe oder vielleicht noch höher ( ) und dann war Schulschluss () wir alle auf dem Hof . Keiner geht nach Hause ( ) und dann kommt der . mit seiner uralt Aktentasche ( ) Fahrradklammern schon am Hosenbein [lachend] und der Typ sucht er sein Fahrrad. Der kam natürlich nicht auf die Idee nach oben zu schauen . Erst einmal schaut er auf seinen Parkplatz ( ) ist leer ( ) dann sucht er so rum ( ) wir hören was von 'Unverschämtheit' (2) Und als er es dann endlich sieht ( ) auf 5meter50 . neben 50–70 Andere die auf dem Schulhof . Die natürlich gewartet haben und sich einen feixen . der Typ kommt natürlich nicht mehr rein in die Schule . ist ja schon bereits Schluss . Er da unten und sein Fahrrad auf 5meter50 . Ich könnt' mich heute noch schlapp lachen (2) da gab's halt ein wenig Nachsitzen für unseren Lehrer . bis der Hausmeister aufgeschlossen hat . und für mich einen strengen Tadel. Ich hab den meinem Vater gezeigt. Mußt ich ja. Der fragt mich . was hast du denn angestellt . habe ich ihm die Geschichte erzählt. Hat der gelacht ( ) Und Friedrich fragt mich: War das deine Idee? – na klar – heute würde ich ein Copyright darauf legen. Sagt der Friedrich zu mir: Für deine Idee und die Ausführung mein Lob! Ich bin stolz auf dich, weiter so mein Sohn! Für den Tadel – mach es nächstes mal so dass man dich nicht erwischt. Ja so war das [schmunzelt und die Augen funkeln].Und so war er, mein Vater . Das hab ich nie vergessen und

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auch so ein wenig in die eigene Lebenspraxis und Berufspraxis hinein genommen . Kreativität ist ein Wert an sich und gehört belohnt. Und da liegt der Tadel bei meinen Eltern zuhause und ich find den (4). Heiner will nicht eine Räuberpistole von 'Heiner dem Lehrerschreck' frei nach diesbezüglichen Filmen seit der 'Feuerzangenbowle' erzählen, aber anhand des Fundes erinnert er sich nicht nur an seinen Vater, sondern er vergegenwärtigt sich in einer ganz bestimmten Situation die Person des Vaters in seiner Bedeutsamkeit für das eigene Leben, für Verhalten und Handeln, für die eigene Identität. Der Vater hat sich hinter ihn gestellt und hat ihn da in Bezug auf bestimmte Entwicklungen bestärkt. Der Vater hat als Person einen bestimmten Anteil an der Entwicklung der Person seines Sohnes: Übernahme von Werten, Nachahmungen, bestimmte Verhaltensmuster, Lebensstrategien, Sicht auf Welt und Gemeinschaft – in dieser kleinen Geschichte und der Reaktion des Vaters erkennt Heiner eine Grundlage des Werdens der eigenen Persönlichkeit. Er ist immer auch der Sohn seines Vaters. Die nächste Sequenz des Interviews macht dies noch einmal besonders deutlich. Ich merke, dass ihm diese Art von Erinnerungen guttut. Er ist lustig, lächelt, er ist entspannt, voller Lebensfreude. Ich frage ihn noch einmal nach seinen Gefühlen. Beide Elternteile innerhalb so kurzer Zeit zu verlieren, das sei doch hart, wahnsinnig traurig. Heiner überrascht mich mit seiner Antwort auf diese etwas suggestive Frage. Na klar . Die beiden fehlen mir auch ziemlich. Sie haben doch zum Leben dazu gehört, gerade in den letzten Jahren . man war oft beieinander, hat miteinander gelebt, gefeiert . Ja und wie ( ) und manchmal auch getrauert . na klar fehlen die jetzt. (2) Aber das ist doch irgendwie nicht der einzigste Maßstab! Also dass sie mir fehlen. Da steckt doch was größeres hinter: Woher komme ich, wohin gehe ich? Oder jetzt nach dem Tod woher kamen sie und wohin werden sie gehen? Das ist wirklich meine Frage. Das sind dann doch größere Ordnungen und größere Zusammenhänge die da eine Rolle spielen. Für Heiner ist die 100

Frage einfach zu beantworten: Von meiner Mutter und meinem Vater komme ich, von meinen Großeltern usw. – und das nicht nur biologisch. Und wohin geht es mit mir? – dahin, wohin unsere Mütter und Väter uns voraus gegangen sind. Ist doch eigentlich ganz einfach, oder? – und genau dies sei doch jetzt geschehen, die beiden Eltern seien uns immer voraus gewesen, und sie seien nun uns eben voraus gegangen. Und das ist der Maßstab . Für mich hat Sterben und Tod genau da einen größeren Sinn . Ohne den Tod meiner Eltern gäbe es mich nicht . denn dann hätten die selbst nicht gelebt ( ) oder ?(2) Und Andreas und Christian leben auch nach dem Tod Ihrer Eltern. (3) klar? also sag ich mir . die sind gut alt geworden . die hatten ein schönes Leben . Mit Sohn, Schwiegertochter und Enkelsöhne. Und vielen Freunden . Es ging ihnen gut. Und dann ist der Tod auch so o.K.. Ich will mal so sagen ( ) Notwendig (2) also der geht voll in Ordnung . und ist doch nicht ( ) nicht Schicksal. (4) Heiner hat für den komplexen Zusammenhang von Geborenwerden und Sterben, Leben und Tod, von Todesbildern und Trauer und einem individuellen und gesellschaftlichen Wissen dazu eine umfassende Deutung gefunden, die seinem Empfinden und Verhalten zugrunde zu liegen scheint. Die Deutung geht pragmatisch von der Natürlichkeit des Todes im hohem Alter aus, der eine Pragmatik der Trauer entspricht; diese 'muss' ebenso 'natürlich' sein wie ihr natürliches Ende; z.B. am Ende einer Bestattung. Das von ihm kurz angesprochene Gegenbild kann als Dramatik von Tod und Trauer benannt werden. Ich werde darauf noch zurückkommen. Ich bitte Heiner, den Verlauf der Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Tod der Eltern und ihrer Bestattung weiter zu erzählen. ( ) und nun ist die Gertrud selbst tot ( ) auf einmal auch tot. (2) und was machen wir jetzt mit den beiden?. An dieser Stelle begann der Einschub. Heiner erzählt nun weiter. Der Leichnam des Vaters ist beim Bestatter in Remagen, die tote Mutter liegt in Aachen in Heiners Haus. Heiner ruft seinen Hausarzt, der 101

den Tod der Mutter feststellt, dann überlegt er zusammen mit seiner Familie, was nun zu tun sei. Sie beschließen die Bestattungen der Eltern nicht jeweils einzeln, sondern gemeinsam und zusammen vorzunehmen und in eine Hand zulegen, und zwar die des Bestatters in Remagen. Ich all so schnell den Bestatter angerufen. Den aus Remagen: Unsere Mutter ist heut Nacht verstorben. Der konnte es kaum glauben. Ich sage ihm: Wir möchten dass sie das machen. Aber wir müssen umdisponieren . wir müssen die Sache zusammen betrachten. Und dann hab ich bei dem erstmal einen Mengenrabatt rausgehandelt. [Heiner ganz ernst und dann ein breites Grinsen, ein Glucksen] (2) War gut, ne? (2) [wir lachen beide] Nö um Geld ging es mir nicht . Die beiden hatten für den Zweck ja auch ein wenig vorgesorgt . aber wenn die schon zusammen sterben dann sollen sie ihre letzte Fahrt auch noch gemeinsam antreten. Und der Friedrich war da ja noch aufgebahrt. Heiner erzählt von weiteren Gespräch mit dem Bestatter. Der Leichnam der Mutter wird noch dem Amtsarzt vorgeführt werden müssen, bevor er zur Verbrennung freigegeben wird. Der Bestatter wird den Körper des Vaters solange in seiner Leichenkammer bewahren. Die Versorgung des Leichnams der Mutter sollte ein befreundeter Kollege aus Aachen in die Hand nehmen; er würde dann sich nach der Freigabe um das Weitere kümmern. Heiner ist damit einverstanden. Aber es entstehen nun weitere Fragen: Wo und wie sollen die Eltern bestattet werden? Auf der Familiengruft in Remagen, wenn hingegen die hinterbleibende Familie in Aachen wohnt? Aber welcher Friedhof käme dort infrage und welche Art der Bestattung? Muß in dem Fall eine neue 2er Gruft erworben werden? Das waren schon so existenzielle Fragestellungen, sagt Heiner. Also es ging nicht um Kleinigkeiten, sondern um ziemlich wichtige Entscheidungen. Heiner erzählt wie die rechte Wahl des Ortes der letzten Ruhe für die Hinterbliebenen, d.h. für ihn und seine Familie und ihre Trauer und ihr Umgang mit den Toten, und damit auch für die Toten selbst sehr bedeutsam war. Anonym hätte er seine Eltern nicht bestatten wollen, 102

andererseits wollte er seine Eltern in der Nähe bestattet haben. Es hat eine Weile gedauert bis wir auf die Idee kam beides miteinander zu verknüpfen: Der Leichnam der Mutter wird nach der Freigabe nach Remagen überführt, und dort wird für sie gemeinsam mit dem Ehemann eine Trauerfeier zur Einäscherung mit Bekannten, Freunden und Nachbarn in Remagen in der privaten Trauerhalle des Bestatters abgehalten. Wir haben sogar den evangelischen Pastor dazu geholt, erzählt Heiner. Die Eltern waren evangelisch; er selbst sei vor vielen Jahren schon aus der Kirche ausgetreten. Elke und die beiden Söhne sind römisch-katholisch. Das hat Heiner aber nicht davon abgehalten, bei einem der Besuche in Remagen sich mit dem Pastor zu treffen und mit ihm die Trauerfeier zu besprechen. Er erzählt, wie er mit dem Pastor in der Wohnung der Eltern ein gutes weil nachdenkliches Gespräch geführt hätte. Ich habe ihm übrigens auch die Tadel-Geschichte erzählt. An einer Stelle seiner Ansprache hat er sich darauf bezogen . ganz . diskret . aber ich habs verstanden. Es sei eine gute, nachdenkliche Trauerfeier gewesen, mit den zwei Särgen, mit schöner, vom Pastor gewählter Musik, einer Traueransprache, die das Leben seiner Eltern würdigte und mit ca. 25 Trauergästen, Nachbarn, Freunde, Bekannte. Heiner freut sich über die Anteilnahme, begrüßt herzlich Bekannte aus Kindheits- und Jugendtagen. Er lädt ein in die Wohnung seiner Eltern, in der inzwischen Elke Kaffee und Kuchen vorbereitet hat. Nicht alle Trauergäste kommen mit, aber es wird doch eine schöne Gesprächsrunde, in der über vergangenes Leben und Erlebnisse mit den beiden Toten erzählt und gesprochen wird. Natürlich für die Frage gestellt: wo kommen die beiden zu Grabe? Heiner und Elke antworten mit dem Hinweis auf eine anonyme Bestattung. Dies ruft bei den Trauergästen Protest hervor. Das könnt ihr nicht machen, Heiner und Elke haben aber das Gefühl, es so richtig gemacht zu haben mit dieser Trauerfeier in Remagen. Das war sozusagen der Bestattung erster Akt ( ) und ein zweiter. Akt folgte darauf. 103

Heiner wollte die Urnen der Eltern, d.h. ihr Grab, in der Nähe haben. Einfach so anonym wollten wir sie nicht bestatten, sondern da wo wir zuhause sind und wo sie immer gern mit uns waren. Der Bestatter hätte ihnen nun sehr geholfen bei der Lösung des Problems. Er empfahl Ihnen die Kremierung im benachbarten Ausland. Anders als in Deutschland werden dort Aschen Verstorbener an Privatleute (und nicht allein an Bestatter) ausgehändigt. Heiner konnte die Urnen persönlich wiederum nach Deutschland zur Beisetzung bringen. Nach Recht des Landes mussten die Aschen aber zunächst ein Monat im Krematorium aufbewahrt werden. Und da sind wir dann nach Slangenburg gefahren . Oma und Opa abholen . Die haben sie uns dann einfach auch gegeben . wir fahren also mit den beiden zurück nach Aachen. ( ) Zuvor aber haben wir die Aschen ausgetauscht. Wir hatten also Asche aus einem unserer Feuer mitgenommen . für die Urnen. Die haben wir geöffnet . war ganz einfach . dann die Asche von Oma und Opa in ein anderes Gefäß gefüllt, in die Urnen kam dafür die Asche aus dem Lagerfeuer. Wenn uns also jemand gesagt hätte: bitte die Urnen nach deutschem Recht bestatten . Hier sind sie. Heiner denkt aber gar nicht daran die Aschen der Eltern auf einem deutschen Friedhof beizusetzen. Ihr Garten, mit Hochbeet und Skulpturen, soll der Ort ihrer Beisetzung sein. In ihrem Garten hätten Sie die Natur genossen und in den letzten Jahren ihren Ruhestand. Sie hätten sich gern darin aufgehalten, gerne Gäste gehabt, Freunde der Familie und der Enkelsöhne. Die Feuerstelle in der Mitte des Gartens war auch das Zentrum der Gemeinsamkeit und des Miteinander. Wie oft haben wir mit ihnen hier rund um das Feuer herum gesessen ( ) Canasta gespielt ( ) einfach miteinander gequatscht ( ) Geburtstage und Studienabschlüsse und Anderes gefeiert. Heiner betont, dass die Zeit zwischen Tod, Einäscherung und Abschiedsfeier wichtig war, um sich den Abschied auch klar zu machen – was das alles für ihn und Elke, für die beiden Jungen bedeutet. Diese Überlegungen flossen hinein in die Vorbereitung auf die Abschiedsfeier. Warum wir das so und nicht anders ma104

chen wollen . Also sozusagen eine Form finden die für uns und sie richtig ist. ( ) Welche Musik ( ) wer soll was sagen . darf gelacht werden (2) also wie sieht es mit unserer Trauer aus? Heiner erzählt nun von der Feier im Garten am Feuer, bei dem die Eltern beziehungsweise ihre Aschen bestattet werden. Gute Freunde waren da, Cousins und Cousinen der beiden, die Familien von Elkes vier Geschwistern, auch gute Freunde von Friedrich und Gertrud aus Remagen. Wir haben das so wie immer gemacht, wenn wir feiern ( ) Musik vom Klavier ( ) gemeinsam essen . gute Gespräche ( ) ja auch tanzen und singen. (2) Bilder und kurze Filmclips der beiden . Und dazu ganz viel Erinnerung: weißt du noch? Und so weiter. Wir waren total baff was da so alles . Auch Lustiges . z.B. von einem Cousin vom Friedrich . was da so erzählt wurde. (3) es war so ein richtig tolles Fest (4). Warum ein Fest, frage ich. Ja . so wie wir Geburtstage gefeiert haben ( ) jetzt wars ja ein Abschied ( ) aber mehr noch Erinnerung . Dankbarkeit (2) Ich hab am Feuer gesessen ( ) hinein geschaut . Und dann zu ihnen gesprochen ( ) Also so ganz tief in mir drin ( ) Ihr wart so tolle Eltern ich hab euch so viel zu verdanken [Heiner spricht ganz leise] ich liebe euch (3) Ja das ist mir in dem Moment klar geworden . was Liebe ist (2) ist ja ein großes Wort . aber mir fällt grad kein anderes ein (2). Jetzt hat Heiner seine Stimme wiedergefunden. Ich frage nach der Bedeutung des Feuers. Heiner erzählt mir, dass sie nach Anbruch der Dunkelheit die Aschen der beiden Eltern noch einmal im Feuer verbrannt haben. Alle haben dabei um das Feuer herumgesessen, still und nachdenklich. Heiner hat die beiden Aschen zuvor in ein brennbares Gefäß getan und dieses dann ins Feuer gelegt. Zuvor hatte das Gefäß an der Ying-Yang-Skulptur gestanden. Und als dann die Urne brannte da war das eine Weile so als wären die beiden mit ihren Seelen da und stiegen jetzt sozusagen zum Himmel auf (2) an so etwas glaube ich eigentlich nicht . aber da war das irgendwie so lebendig ( ) da waren sie ganz nah bei mir (3)

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Die Trauergemeinde ist noch lange zusammen geblieben an diesem Abend und in dieser Nacht, man hat gelacht, getanzt, gesungen: Geh aus mein Herz und suche Freud . Ehrlich . der Klavierspieler hat's schön begleitet. War so ein Lieblingslied von der Gertrud. – Wahrscheinlich wegen des Gartens – füge ich hinzu und Heiner stimmt dem zu. Heiner hat eine sehr alternative und nicht ganz den rechtlichen Vorgaben folgende Form für die Bestattung seiner Eltern gewählt. Ich frage ihn nach den juristischen Implikationen. Heiner antwortet darauf und formuliert danach so etwas wie ein Fazit: Die Rechtslage war mir so wie beim Tadel so etwas von egal. Er hätte diese Form von Bestattung gewählt, weil er sie als angemessen empfand: wir fanden das wirklich würdevoll . in unserem und in ihrem Sinn. Er hätte an keiner Stelle ein schlechtes Gewissen . Im Gegenteil . ist doch schlimm . wenn so viele heute anonym in die Erde kommen. Was wir gemacht haben, war doch richtig würdevoll. Und es war auch richtig für Heiner: Wir haben das richtig gemacht . . Ich bin ganz sicher dass das in ihrem Sinne so war . Hier im Garten . Gerade hier in ihrem Garten . Mit den Menschen die sie mochten . Der Grund von Heiners Sicher sein ist sein Empfinden, mit großem Trost und großer Zufriedenheit erfüllt zu sein. D.h.: Seine Aussage ist nicht apologetisch zu verstehen, er muss sich für seine Handlung nicht verteidigen oder entschuldigen, sondern der 'Erfolg' seiner Bestattungsform gibt ihm Recht: und jetzt geht es ihnen gut . Jetzt sind sie im Himmel (3) miteinander ( ) ich glaub so haben sie es sich gewünscht. Editorische Nachbemerkung: Die Bestattung fand vor der Novellierung des BestG NRW zum 1.10.2014 statt. Demnach muß innerhalb von 6 Wochen dem Krematorium ein Beisetzungsnachweis vorgelegt werden. Wie freilich der grenzüberschreitende Bestattungsvorgang geregelt ist, habe ich nicht recherchiert.

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Anna Anna ist 28 Jahre alt, Erzieherin in einem evangelischen Kindergarten in Hagen. Sie lebt in ihrer eigenen Wohnung und ist seit 4 Jahren mit dem Sozialarbeiter Jan (32 Jahre) befreundet. Die beiden wollen mittelfristig heiraten und eine Familie gründen. Anna erzählt von einer Beerdigung von sogenannten SternenKindern. Sie selbst war davon, wie sie sagt, persönlich betroffen. In der zwölften Schwangerschaftswoche war ihr Kind im Mutterleib gestorben, kein Herzschlag mehr war zu spüren. Anna musste sich einem operativen Eingriff zum Entfernen des toten Gewebes unterziehen. Alles geschah im Krankenhaus. Der Eingriff wurde stationär vorgenommen. Und nach dem Eingriff wurde Anna eine Frage gestellt: was soll denn jetzt mit den Überresten geschehen? Mehr als Überreste waren es ja wirklich nicht, so denkt Anna, ich wollte aber nicht dass das was mein Kind gewesen war auf dem Müll landet einfach so. Mitarbeiterinnen des Krankenhauses weisen sie auf die Möglichkeit einer Bestattung auf einem Friedhof hin. Anna selbst recherchiert im Internet und erfährt, dass es in Hagen die Möglichkeit gibt, tote Föten mit einer Sammelbestattung auf dem Zentralfriedhof beizusetzen. Diese Sammelbestattung ist kostenfrei und absolut anonym. Nur der Bestatter, der die Bestattung durchführt, kennt die Namen der Eltern und lädt sie zur Bestattung ein. Anna erhält die Einladung nach einer Woche und geht mit einer Freundin auf den Friedhof zur Beisetzung. Der Vater kann aus beruflichen Gründen nicht dabei sein. Sie kommen in eine Trauerhalle, in der Mitte steht steht auf einem Katafalk ein kleiner Holzsarg. Mit den Überresten drin, eine schlimme Vorstellung für Anna. Zugleich empfindet sie das Ganze der Beisetzung nicht als bedrückend, sondern als tröstend, weil es ging ja um mein Kind und nicht um irgendsowelche Überreste. Der Gottesdienst und die Beisetzung hätten sie „weiter 107

gebracht“, auch in ihren Gefühlen ihrem toten Kind gegenüber. Denn es war ja ihr Kind, dessen Überreste nun begraben wurden, und nicht nur schlicht fötales Gewebe. Es war das Kind, auf das sie sich gefreut hatte, dessen Existenz sie zur Mutter gemacht hatte. Es war in ihrem Leib herangewachsen, gestorben und dann aus ihrem Körper entfernt. Ja, sie hätte sich gefreut auf das Kind, mit ihrem Freund, dem Vater, sie beide hätten sich darauf vorbereitet, einen Namen hätten sie auch schon gehabt, für einen Jungen, Manuel hätte ihnen gefallen – aber nicht wegen dem Neuer [Anna lächelt]. Sie hatten ihr Leben darauf hin geplant, ihren Sohn miteinander als seine Eltern aufzuziehen. Da denkt man ja schon so ein bisschen nach: ne Familie werden . Heiraten . Eine gemeinsame Wohnung . Am besten ein Haus ( ) ich bin da ziemlich traditionell. Anna erzählt von ihren Erfahrungen als Erzieherin im Kindergarten. Sie sei nicht naiv durch ihre Sicht auf die deutsche Familie, aber da gibt’s eben noch auch solche Vorstellungen und Wunschbilder. Mit der Schwangerschaft, für die sie und ihr Partner sich bewußt entschieden hätten, hatte sich ihr Leben in Bezug auf zukünftige Entwicklungen grundlegend verändert. Mit dem Tod des Kindes aber wurden diese Perspektiven zurück gestellt; hinzu kam für Anna die Sorge, ob ihr bei weiteren Schwangerschaften nicht ähnliches widerfahren könnte: mir ging da natürlich durch den Kopf . Kannst du überhaupt Kinder kriegen ? Weil so selbstverständlich ist das doch gar nicht . also das hab ich mitgenommen aus dem ganzen. Anna erzählt nun kurz von der Beerdigung eines Onkels, An der sie etwa ein halbes Jahr zuvor teilgenommen hatte. Ich war traurig, ja, ich hab ihn ja auch gemocht . aber doch war ich . wie soll ich sagen . das ging mich so nicht so direkt an wie zum Beispiel meine Tante oder meine Cousinen . aber jetzt bei den Sternenkindern . also die Beerdigung hat mich ganz persönlich betroffen . irgendwie. Diese Betroffenheit bezieht sich auf sie selbst, auf ihr Leben und Erleben, auf ihre Partnerschaft und auf ihre Zukunftsplanung. In das kleine Ritual der Bestattung der Sternen-Kinder ist sie ganz persönlich involviert, 108

schaut nicht allein zu, trauert nicht allein mit anderen Trauernden. Sie ist Subjekt und Objekt der Trauer zugleich, sie trauert nicht allein um ihr Kind, sondern auch um sich selbst. Anna weiß sich in dieser Trauer mit den anderen Müttern vereint. Einer anderen betroffenen Mutter, die mit ihrer Familie an der Beerdigung teilnimmt und die, wie Anna sagt, ziemlich übertrieben hat wie sie da so trauert . Die wäre ja fast ins Grab gesprungen . attestiert sie aber zugleich ihre eigenen Gefühle: ich glaube die Frau hat auch sehr darunter gelitten dass es passiert ist war auch voll verständlich weil es ja ihr Kind gewesen ist . Die Mütter trauern um ihre ungeborenen Kinder als Teil ihres eigenen Lebens, so kann dieses Setting umschrieben werden. Sie stehen vor dem kleinen Sarg, der die Überreste der toten Ungeborenen gesammelt hat. Auf Wunsch der Eltern findet diese Bestattung statt, sonst werden die toten Föten zwar nicht wie Unrat entsorgt, aber eingeäschert und anonym beigesetzt. Genau dagegen wehrt sich Anna: als Mutter kommt sie in solchem Entsorgen embryonalen Gewebes nicht mehr vor. Es ist mein Kind, sagt sie, und sie möchte damit sagen: Es ist ein Teil von mir. Es hat gelebt in mir, wir waren schon dabei ihm einen Namen zu geben. Im Leib der Mutter hast du mich gemacht, so erinnert sich Anna an Worte eines Gebetes bei der Abschiedsfeier. (Psalm 139). In der Ultraschallaufnahme konnten die beiden Eltern es sehen, wie das Herz schlug, kleine Bewegungen machte. Und es sei ja auch Teil ihrer Zukunft, sagt Anna, die nun erst mal wieder zurückgestellt ist. Anna erzählt nun wieder vom Tag der Beerdigung. Den kleinen Holzsarg mit den toten Körpern darin empfand sie als ganz ganz schlimm, die Ausgestaltung der Trauerhalle selbst als nur einfach super tröstlich. Viele Kerzen waren aufgestellt worden, der Sarg war mit Blumen geschmückt. Anna erzählt detailliert, wie sie mit ihrer Freundin die Trauerhalle betritt. Ganz vorsichtig tut sie dies, geht leise und langsam ein, muss schlucken, als sie den Sarg sieht. Sie 109

verweilt einige Sekunden vor dem Sarg, sie merkt, wie ihr die Tränen kommen. Auch andere Mütter, so sechs oder sieben, sind bereits in der Trauerhalle, mit ihren Familien, Freunden, Partnern. Eine muslimische Familie gehört auch zu den Teilnehmenden, Anna erkennt sie an der Kleidung und am Verhalten (wir haben gut 30 Prozent muslimische Kinder im Evangelischen Kindergarten). sechs . sieben . acht . neun Leute waren mit dabei. Die sind auch bei Kindergartenveranstaltungen meist mit der ganzen Familie dabei. Für den Augenblick des Eintritts in die Trauerhalle empfindet sich Anna von letzteren aber gestört. Ich hab keine Ahnung und die glotzten einen richtig an man ist da rein gekommen und man hat vielleicht schlucken müssen wegen dem Sarg [leise] die glotzen einen an [lauter] und mhm ja. Anna scheint in dieser Sequenz Unvereinbarkeiten unterschiedlicher kultureller Vorstellungen zum Verhalten im Trauerfall anzusprechen. Sie fühlt sich durch die, wie sie meint, aufdringlichen Blicke in ihrer Privatsphäre als Trauernde empfindlich gestört. Offensive Blickkontakte – zu denen es hier kommt – widersprechen ihrem Verständnis von angemessenem Verhalten im Trauerfall. So gehört der Schutz des Privaten durch zeitlich begrenzte Exklusion aus der Gemeinschaft zu den universalen Verhaltensnormen Trauernden gegenüber. Diese haben sich als Trauernde zu identifizieren, als welche, die „nicht ganz bei Trost“ sind, und ihnen ist mit Rücksicht und Nachsicht zu begegnen. Solche soziokulturellen Normen hat Anna zu sehr persönlichen Einstellungen und Empfindungen umstrukturiert. Die so 'Glotzenden' verstoßen gegen solche – (unter dem Aspekt der 'privacy' (Altman)) nicht allein in der Situation der Trauer geltende – Verhaltensnormen, sie mögen aber die Situation anders verstanden haben: Die Öffentlichkeit der Sternenkind-Trauerfeier fordert geradezu ein solches Verhalten um zu verdeutlichen: Wer trauert mit mir, wer befindet sich in der gleichen Situation? Anna hebt die Anonymität der Bestattung hervor, andere mögen gerade dieser Anonymität durch ihr Verhalten entgegentreten wollen. 110

An Inhalte der Trauerfeier erinnert sich Anna so gut wie gar nicht. Aus ihrem Beruf als Erzieherin ist ihr der evangelische Gottesdienst vertraut. Die Trauerfeier war aber nicht sehr kirchlich gehalten, Anna erkennt also nur wenige Elemente evangelischer Gottesdienstpraxis wie z.B. den oben bereits angesprochenen Psalm 139 oder später dann das 'Vater Unser'. Ob diese religiöse Neutralität absichtlich gewählt wurde, fragt sie sich? Aus Rücksichtnahme auf Glaubensinhalte anderer Religionen? Anna erzählt kurz von dem interreligiösen Ansatz der Arbeit in ihrem Kindergarten: Wir bringen den Kindern nahe, religiöse Unterschiede als Zeichen gemeinsamen Glaubens zu verstehen und nicht der Trennung. Ich frage an dieser Stelle nach der Art und Weise der Vermittlung. Ach, wir feiern einfach die unterschiedlichen Feste gemeinsam: Weihnachten z.B., wo man einander etwas schenkt und in der 'Weihnachtsbäckerei' Plätzchen backt, oder das Zuckerfest nach dem Fasten, wenn Baklava, Halva und andere Süßigkeiten gemeinsam vorbereitet und dann im großen Kreis gegessen werden. Anna und ich sind uns einig, dass auch die Religion der Zukunft in Europa die Struktur einer 'salat bowl' haben muss. Für Anna ist die Trauerfeier deshalb ökumenisch, wie sie es nennt, also für alle Mütter und ihre Familien, die ihr Kind verloren haben, gleich welcher Religion sie angehören. Für sie gehört dazu u.a. Musik, die Gefühlen Raum gibt, sie stärkt, sie gar erst weckt. Zur Trauerfeier erinnert sich Anna deshalb an die eingespielte Musik anstelle gemeinsamen Gesangs. Die Titel kann sie nicht identifizieren, aber sie empfindet sie als ganz schön: Schön traurige, wo man auch zu weinen konnte . auf jedenfall. Anna empfindet ihr Weinen in dieser Situation als nicht so bedrückt im Vergleich zu ihrem Weinen, als ihr die Ärztin den Tod des Kindes mitteilen mußte: Da habe ich sehr geweint als ich das erfahren habe. Und deshalb war die Trauerfeier für Anna so tröstlich, weil ich weinen konnte, Raum hatte zum Weinen . weinen war so (2) erlösend . Ich mußte mich nicht schämen . Es kam dann einfach so heraus. 111

Anna differenziert zwischen Weinen und Weinen. Sie erinnert sich jenes Weinens bei der Diagnose des Kindestodes, ihres Erlebens der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins und der völligen Ohnmacht dem gegenüber, was ihr widerfahren war. Ein bedrücktes Weinen nennt sie es deshalb, ein Weinen der an den Tod Verlorenen, das Weinen der Opfer. Ganz anders erlebt sie ihr Weinen in der Stimmung und im Ambiente der Trauerfeier, die zum Weinen animieren, die das Weinen nicht kontrollieren. Weinen gehört vielmehr dazu, es soll und darf geweint werden, niemand muss sich seiner Tränen schämen. Es ist dieser besondere Ort und der besondere Anlass, und darin die Tränen, die trösten, die helfen, die 'erlösen' – Tränen schon als aktive Trauerarbeit. Wie das Letztere verstanden werden kann, zeigen die folgenden Sequenzen. Zur Musik tritt für Anna die Atmosphäre des Raumes, geprägt von vielen Kerzen, ganz viele Kerzen, ich mag Kerzen. ( ) Ach ja was mir in dem Gottesdienst noch ganz toll gefallen hat war . jeder der wollte konnte nach vorne kommen und selbst noch eine Kerze anzünden. Der Gegensatz zum hilflosen Weinen bei der Diagnose scheint mir offensichtlich: Die Eltern der 'Sternenkinder' nehmen Abschied von ihren Kindern, würdigen ihr so kurzes Leben im Leib der Mutter – und sie tun es 'auf Hoffnung hin'. Für Anna ist dies eine höchst aktive Handlung: Das hat sich erst gar keine getraut . wir waren glaube ich sechs Elternpaare. ( ) Ich bin ja dann als Erste nach vorne gegangen . Weil es mir wichtig war . Aber weil es mir in dem Moment auch gar nicht peinlich war irgendwie ( ) Also dadurch dass das so offen war also irgendwie fand ich das ganz persönlich. ( ) Persönlich heißt für Anna auch, dass sie auch um ihrer selbst als Mutter willen diese Trauerfeier eingefordert hatte. Dies wird ihr überaus deutlich, als sie als Erste nach vorne geht und eine Kerze entzündet. Anna repräsentiert ihre Mutterschaft: Was in meinem Bauch war, gehört zu mir! … hast mich gebildet im Mutterleibe (Ps 139, 13). Deshalb sind Abschiednahme und Trauer zuallererst 112

meine Aufgabe und meine Recht! Was dort im Sarg liegt, ist nicht vollständig, sind zerrissene Überreste, die nun aber aus jenem Grund sehr würdevoll behandelt werden. Es ist ein Teil ihrer selbst, ihr Kind, das nun aber nicht der Vernichtung anheimfällt, sondern für das als 'Sternenkind' Hoffnung ausgesprochen und geglaubt wird – aber immer auch um der Mutter willen. Anna berichtet davon, dass der evangelische Pfarrer, der die Trauerfeier gestaltet, aus dem 'Der kleine Prinz' von Antoine de Saint-Exupery vorgelesen hat: Und er hat von dem kleinen Prinzen ähm was vorgelesen . Ja . So dieses . wenn du mich suchst dann gucke in den Himmel . sieh meinen Stern auf dem ich drauf lebe (2) ja das wurde vorgelesen. Das ist eine deutliche Vorstellung einer bleibenden Existenz der Menschen in einem Reich der Toten. Der Übergang gelingt im Ritual der Bestattung. Ohne dieses gehen die Sternenkinder verlorenen, wenn sie als Überrest oder fötales Gewebe entsorgt werden. Dies aber ist für Anna und ihr Kind keine Alternative gewesen. Ja und dann wurde der kleine Sarg herausgetragen. Anna erzählt nun von der Grablegung. Ein Sargträger nimmt den kleinen Sarg und trägt ihn zum Grabfeld, einer etwas größeren Wiese, auf der die ganzen Sternenkinder monatlich begraben werden . wo Eltern auch ihre Sachen hinstellen können (3) An einigen Stellen auf diesem Feld waren kleine Blumen in Blumenvasen zu sehen. Und wir sind da ganz normal dem Sargträger hinterher ans Grab gegangen, eine kleine Grube auf dem Grabfeld. Der Sarg wurde in die Grube gelegt – Anna sagt: Das war noch einmal schlimm für mich . das gab mir so ein Stich ins Herz. Ein gemeinsames Vater-unser-Gebet beendete die Beerdigung. Hier nimmt Anna ein zweites Mal Anstoß am Verhalten der muslimischen Familie: Einige Angehörige sprechen während des 'Vater Unser' laut miteinander. Anna fühlt sich wiederum massiv gestört. Ihre Stellungnahme dazu: Ja und auch während des 'Vater Unser' . bin ich ja der Meinung dass . man ist still oder man betet mit aber nicht 113

man redet lautstark während die anderen das Gebet sprechen. Wenn man mit dem Ökumenischen Gottesdienst nicht einverstanden ist dann geht man da eben nicht hin. Ich frage nach und erfahre, dass es zwei jüngere Männer der Familie gewesen waren, die in dieser Form das Gebet der anderen gestört haben und die auch zu Beginn der Trauerfeier offensiv Blickkontakt aufgenommen hatten. Ich frage Anna nach ihren Vermutungen zu den Gründen des Verhaltens. Also irgendwie stören wollten die nicht . glaub ich. ( ) Die wussten einfach nicht wie sie sich benehmen sollten. Vielleicht hätten sie gar nicht mitkommen sollen. Anna verweist auf eine Besonderheit der Beerdigung der 'Sternenkinder': Nur die Mütter sind betroffen, nur sie haben etwas verloren, nur sie sind die Trauernden in einer ganz besonderen Art. Anna fühlt sich deshalb auch mit der muslimischen Mutter in ihrer Trauer vereint, denn sie hat doch auch ihr Kind verloren . genauso wie ich. Wahrscheinlich sei es den beiden jungen Männern gar nicht möglich gewesen ist, sich in die besondere Situation der Mütter hinein zu finden. In einer Coda beendet sie ihre Erzählung: Ja das war deshalb bisher die einzige Beerdigung, bei der ich etwas verloren habe ( ) wo ich geweint habe als ich das erfahren habe. Bei meinem Onkel da hab ich geschluckt . Aber ich hab nicht geweint. Bei meinem Kind war das ja anders, das hat mich ja ganz persönlich getroffen. Aber mir hat das sehr sehr viel gebracht bei der Beerdigung . Die Würdigung von diesen Überresten, was ja eigentlich nicht normal ist. Es gibt ganz viele Städte wo das gar nicht gemacht wird. ( ) Würdigung weil wir als Gemeinschaft (erg. Der Mütter) ja alle das gleiche erlebt haben. Nachlese: Das Interview mit Anna wurde im Jahr 2014 geführt und damals interpretiert. Im Sommer 2017 haben wir uns zufällig wieder getroffen.

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Anna und Jan haben geheiratet und seit einem Jahr Zwillinge. Hin und wieder denkt Anna an ihr Sternenkind, aber nicht mehr traurig, denn wir haben ja nun Noemi und Josua. Anmerkungen: 1. BstG NRW § 8.(2) Die Inhaber des Gewahrsams haben zu veranlassen, dass Leichenteile, Tot- oder Fehlgeburten sowie die aus Schwangerschaftsabbrüchen stammenden Leibesfrüchte, die nicht nach § 14 Abs. 2 bestattet werden, ohne Gesundheitsgefährdung und ohne Verletzung des sittlichen Empfindens der Bevölkerung verbrannt werden. (Stand vom 1.1.2018) 2. BstG NRW § 14. (2) Tot- und Fehlgeburten sowie die aus einem Schwangerschaftsabbruch stammende Leibesfrucht sind auf einem Friedhof zu bestatten, wenn ein Elternteil dies wünscht. Ist die Geburt oder der Schwangerschaftsabbruch in einer Einrichtung erfolgt, hat deren Träger sicherzustellen, dass jedenfalls ein Elternteil auf diese Bestattungsmöglichkeit hingewiesen wird. Liegt keine Erklärung der Eltern zur Bestattung vor, sind Totund Fehlgeburten von den Einrichtungen unter würdigen Bedingungen zu sammeln und zu bestatten. Die Kosten hierfür trägt der Träger der Einrichtung. (Stand vom 1.1.2018) 3. Ich interpretiere Annas pädagogischen Ansatz und erweitere die schon etwas ältere integrationssoziologische Theorie von Steven Steinberg in Richtung auf ein Verständnis von Religion, die sich empirisch in unterschiedlichen Formen religiöser Kultur und Vergesellschaftung darstellt und erst im Zusammenhang von Macht (durch Abgrenzung, Zensur, Exklusion, Diskriminierung und Unterdrückung) im Rahmen institutioneller Deutungshoheit zu einer religionskulturellen Einheit eingeschmolzen wird. 4. Die bereits zuvor erzählte Reaktion der muslimischen Mutter entspricht nicht dem Weinen Annas während der Trauerfeier.

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Andreas Andreas und Christian haben miteinander in einer Einrichtung zu Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Mühlheim gearbeitet. Die Einrichtung betreute bis zu 75 Jugendliche männlichen Geschlechtes. Andreas (34) war als Sozialarbeiter pädagogischer Mitarbeiter und stellvertretender Einrichtungsleiter, Christian (42) als Sozialpädagoge und mit seinem B.Sc. in Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftspsychologie der verantwortliche Leiter der Einrichtung und Gesamtrepräsentant nach außen. Christian hat sich suizidiert. Er hinterlässt seine Ehefrau und seinen minderjährigen Sohn. Und er hinterlässt seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Einrichtung. Einer von ihnen ist Andreas. Drei Monate nach dem Tod kann ich mit Andreas auf Vermittlung meines Sohnes, der ebenfalls in der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge tätig ist, ein Interview führen. Ja drei Monate ist das jetzt schon her (2) Also, ich kriege das immer noch nicht klar. Dass Christian tot ist. Einfach nicht mehr da. Einfach weg, einfach aus dem Leben gestrichen. ( ) ausradiert, aus seinem eigenen Leben, aus dem seiner Familie, seiner Frau und Sohn, ( ) dem seiner Freunde und Bekannten und Mitarbeiter, und auch aus meinem Leben. Einfach so . ohne jede Vorwarnung , ohne irgend eine Ahnung, wie es um ihn stehen könnte. ( ) Ich frag mich noch so oft . ob er es nicht mehr ertragen konnte : das Leben . Den Stress . Deshalb hat er sich ausgelöscht. Also ich weiß nicht ich weiß auch nicht was ich denken soll ( ) ich bin zornig, traurig, entsetzt . Immer noch (2) Warum hat er uns das angetan? (4) Andreas bestätigt den Stimulus meiner Einleitung des Interviews („Vor drei Monaten ist N.N. gestorben ….“) und interpretiert ihn zugleich: Christians Tod ist nun schon drei Monate her ist. Für Andreas ist dies aber keine schlichte Zeitangabe, sondern er verknüpft

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dies, so nach einer kurzen Pause, mit seinem Eingeständnis diesen Tod noch lange nicht 'verarbeitet' – im Sinne von verstehen und akzeptieren – zu haben. Die Zeit von drei Monaten hat Wunden nicht geheilt, sondern weiterhin schmerzend offen oder erst entstehen lassen. Die entscheidenden Fragen an Christians Tod oder an Christian selbst wurden für Andreas aber nicht beantwortet. Die Fragen richten sich auf die soziale Dimension dieses Todes. Eine personale Dimension des Suizids findet bei Andreas Verständnis; er nennt mehrere für ihn denkbare Gründe: eine diffuse 'Lebensmüdigkeit' oder auch übermäßige Belastungen im Arbeitsalltag. Aber: Dieser Tod ist 'asozial', weil er Christian aus den Gemeinschaften entfernt hat. Gestrichen und ausradiert, ausgelöscht, so Andreas jeweils in aktiver Verbform. Und weil dieser Tod ein Suizid ist, war es Christian selbst, der diese Auslöschung betrieben hat. Und dieses aktiv-subjektive Moment scheint Andreas' Fragen und seine Empfindungen zu formen. Nicht der Tod ist hier der große 'Feind', sondern Christian selbst in seiner Entscheidung, sich das Leben zu nehmen und damit Andreas und anderen Hinterbliebenen seiner Person zu berauben. Warum hat er das getan, mehr noch: seiner Familie, den Freunden und Mitarbeitenden und ganz persönlich Andreas angetan. Deshalb ist dieser vor allem zornig – auf Christian und seine Tat, traurig, weil ihn vieles mit Christian verbunden hat, entsetzt und hilflos, denn er weiß nicht, wie er sich dazu stellen soll, was er denken soll, denn da sollte doch eine andere Akzeptanz dieses Todes, eine andere Erinnerung sein. Und so endet dieser Abschnitt mit einer immer noch bestehenden Anklage. Ich frage ihn nach der Bedeutung des 'immer noch'. Spricht Andreas damit das Weiterbestehen einer dauerhaften Empfindung an, oder handelt es sich hier um ein Artefakt der Interview-Situation? Im zweiten Fall hätte das Interview bei ihm Erinnerung an Empfindungen hervorgerufen, die aber heute nicht mehr bestehen. Deshalb frage ich ihn in wie weit er sich noch an Christian erinnert: Sie denken noch oft an ihn? – Ja ( ) fast täglich. ich bekomme ihn nicht raus aus meinem 117

Herzen . Ich geh morgens in die Einrichtung . Setze mich an seinen Schreibtisch ( ) der ist ja jetzt meiner (2) und dann stehen Bilder von ihm ( ) stehen mir vor Augen. Drängen sich mir auf . Ich kann sie nach Belieben abrufen: Wie er sich den Kaffee holt an der Maschine . wie er seine Zigarette raucht draußen mit Mitarbeitern . wie er ( ) bei offener Tür am Schreibtisch sitzt (2) war ihm unwahrscheinlich wichtig . Immer da sein . jederzeit gesprächsbereit ( ) ich sehe ihn vor mir . wie er den Mitarbeitern souverän erklärt, an welchen Stellen so und nicht anders mit den Jungs vorgegangen werden muss. (2) Sind sehr lebendige Erinnerungen, ja ( ) bis Heute . Ja. Ich bitte Andreas, hier ein wenig weiter zu erzählen, und bekomme dann das Bild eines sehr kommunikativen, zugewandten, wertschätzenden und dabei zugleich sehr kompetenten Vorgesetzten und leitenden Mitarbeiters gemalt. Die Erinnerungen sind authentisch, so bin ich sicher. Die Erinnerungen machen sich in allen Dimensionen (lokal, temporal, sozial) am Arbeitsplatz fest, d.h. an der Einrichtung, in der Christian als Leiter der Einrichtung der Vorgesetzte und Andreas sein Stellvertreter war. Andreas erzählt: Christian ist es gelungen in der Einrichtung und bei seinen Mitarbeitern eine sehr angenehme Lebens- und Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Aber Andreas scheint noch auf etwas Anderes hinzuweisen, wenn er von 'seinem Schreibtisch' redet, der aus der Perspektive von Andreas nun 'mein Schreibtisch ist'. Ich zitiere als Zwischenruf eine Liedstrophe – und tatsächlich lacht Andreas laut auf: „Schau ich mir diesen Schreibtisch an, so denke ich an mein Christian.“ – Ja, lacht Andreas, so kann man das sagen. Dieser Schreibtisch sei sozusagen vollgepackt mit Erinnerungen. Auch Andreas erinnert sich an ein Lied: da haben wir gesessen so manche Stund. Christians Schreibtisch sei das Kommunikationszentrum gewesen, Christian auf der einen und Andreas und Andere auf der anderen Seite. Und der hatte die Tür wirklich immer offen . es sei denn der musste mal persönlich ein Gespräch führen. Jeder war eingeladen bei ihm eben mal reinzukommen und ein paar Worte 118

wechseln oder Sorgen loswerden und so weiter. ( ) Die Jungs musste er ja manchmal rausschmeißen . Weil . Die wären sonst den ganzen Tag da sitzen geblieben ( ) allein für ne Cola oder ne Tasse Tee oder Kaffee die der immer bereitstehen hatte ( ) und hin und wieder auch mal Plätzchen und so ( ) was Süßes. Nicht nur für die Jugendlichen scheint dieser Schreibtisch mit Christian dahinter der Ort der Annahme, des Schutzes und der Beheimatung gewesen zu sein. Andreas erzählt, dass Christian an diesem Schreibtisch auch seinen 'Schreibtisch-Aufgaben' nachging; aber das persönliche Gespräch sei ihm immer vorgegangen. Und bei ganz wichtigen Dingen, die eine Störung nicht vertrugen, sei dann eben die Tür auch mal für einige Zeit geschlossen gewesen. Das hätte ihm aber niemand übelgenommen. Aber an seinem Schreibtisch geklebt hätte der Christian natürlich auch nicht, sondern er sei in der ganzen Zeit immer auch ziemlich präsent in der ganzen Einrichtung gewesen. Ich frage Andreas nach eigenen Erfahrungen: Am Ende der Schicht sei er oft noch mal rein zu ihm, ein Viertel Stündchen geplaudert, ausgetauscht, Aufgaben besprochen. Und dann das persönliche, das Herz ausschütten. Von der Familie hat er mir viel erzählt, ebenso von seinem Lieblingsfußballverein. Aber was lag ihm wirklich auf dem Herzen? Als Druck, als Belastung? Aber ich hab wirklich nicht ( ) nichts gemerkt von dem, was ihn bedrückt haben mag ( ) habe nicht wahrgenommen, was ihn bewegt hat ( ) diesen Schritt gehen zu müssen. Andreas nennt nun einen weiteren Aspekt seiner 'Verarbeitung' des Suizid Christians. Zorn, Traurig sein und hilfloses Entsetzen bezieht er hier auch auf sein eigenes Verhalten bzw. auf fehlende Sensibilität für mögliche, hinweisende Zeichen auf den bevorstehenden Suizid: Vielleicht hätte er helfen können, wenn er solche Zeichen wahrgenommen hätte. Nahe genug hatte er ihm gemäß seiner Aussage ja gestanden. Schuldgefühle sind ein bekanntes Symptom bei Angehöri119

gen von Suizidenten. Auslöser ist die bereits angesprochene Asozialität des Suizids. Das Kollektiv muss den Suizid als eine Infragestellung seiner inneren Kohärenz verstehen, denn ein Suizid ist zugleich das Verlassen beziehungsweise der bewusste Austritt aus der Gemeinschaft. Eine Selbsttötung aufgrund von Aufopferung für ein anderes Mitglied des Kollektivs oder etwa für eine gemeinsame Ideologie ist nicht im gleichen Maße negativ konnotiert, sondern erfährt Wertschätzung und Gratifikation. Diese Frage in der am Erleben des Individuums orientierten Moderne lautet freilich anders: In wie weit ist das engere soziale Umfeld an einem Suizid Aufgrund fehlender frühzeitiger Intervention beteiligt? Anders formuliert: Hätten die 'Wir' es vermeiden können? Dies ist eine für Andreas auch sehr persönliche Frage. Auf meine Zwischenfrage zur Struktur der gemeinsamen Arbeit in der Einrichtung erzählt er von einer engen und fast freundschaftlichen Zusammenarbeit. Persönlich sagt er, er hätte ihn gemocht, den Christian. Nicht nur geachtet, wertgeschätzt. Er sei eben der absolute Fachmann gewesen, gepaart mit einer überzeugenden und zugleich zugewandten und auch warmherzigen Persönlichkeit, und da hätte er ihn bewundert, mindestens als so'n Vorbild . Wenn nicht sogar als Freund . so malt Andreas etwas idealisiert das Bild Christians, so als müsse er dem Bild, das sich in Bezug auf Christians Selbsttötung geöffnet hatte nun ein anderes alternatives Bild entgegensetzen. Dass Christians Suizid sehr viel mehr Fragen aufwirft, wird Andreas am Ende der folgenden Sequenz deutlich machen. In dieser Sequenz erzählt Andreas eine kleine, aber bedeutsame Episode, die einige Wochen vor dem Suizid spielt: Da haben wir die Nacht miteinander verbracht [lacht]. Ich hatte Nachtschicht . schon so gegen 19:30 Uhr in der Einrichtung . Christian war immer noch da . seit 8:00 Uhr morgens. im Schnitt machte der so seine 12 Stunden. Er saß am Schreibtisch ( ) also Schreibtischarbeit. ( ) Ich ( ) schönen guten Abend . immer noch dabei? ( ) Er ( ) hab was verschlabbert . bis morgen muss der Wirtschaftsplan fürs nächste halbe Jahr stehen . 120

Frankfurt hat mich am Nachmittag angerufen und dran erinnert.( ) Ich ( ) o. k. wo kann ich helfen? Er ( ) koch uns erst mal einen Kaffee. Ich also hin zur Maschine . hab den Jungs gesagt seid mal ein bisschen leise . Der Chef muss arbeiten . Das waren sie dann auch . Also leiser. und dann haben wir uns gemeinsam dran gesetzt. Also ich hatte davon ja kaum eine Ahnung, von den wirtschaftlichen Sachen, ich war da in dem Moment eben so der Motivator, der Ansporner, der Aufhelfer. Hin und wieder mal durch die Einrichtung und dann wieder im Büro . Einfach da gesessen ( ) so dass er mich fragen konnte . Guck mal ob das so richtig sein könnte ( ) und kannst du mir helfen beim Sortieren der Unterlagen ( ) So gegen halb Zwei waren wir dann fertig . dann auf die ganze Sache auf das Fax . Da war es dann schon Zwei. ( ) Wir haben dann noch ein bisschen zusammen geredet . Über alles Mögliche .. und viel Privates . er hat sich dann ein wenig hin gelegt . ist gegen halb acht nach Hause gefahren. Nähe und Solidarität in einer extremen Situation erlebt Andreas in dieser Episode. Er muss nicht so handeln, wie er es dann tut, seine Nachtschicht ist mit anderen Aufgaben gefüllt. Diesen kommt er auch nach, aber da ist eben noch Christian und der Wirtschaftsplan. Und so kommt es in dieser Nacht zu einem besonderen Miteinander. Dieses ist auf Zukunft hin ausgelegt, für Andreas ist es der Beginn einer Freundschaft. Der Suizid Christians führt diese Erfahrung und ihre positiven Gefühle für Andreas 'ad absurdum'. Andreas sagt zum Abschluss der Sequenz als eine Coda: Und deshalb verstehe ich es nicht, warum er das getan hat . Das sich selbst Umbringen? Mit seinem 'warum' fragt Andreas nicht nach Gründen oder Ursachen, sondern nach der Wirkung auf die eigene Person und seine Gefühle: Warum hast du uns (d.h. auch: mir) das angetan? Denkbare Gründe und Ursachen nennt Andreas auch: Die Chefs in Frankfurt, einige wenige problematische Mitarbeiter, die Aufsichtsbehörde, das Jugendamt und die Vormünder. Christian fühlte sich im Dauerstress; im Durchschnitt 20:00 Uhr nach Hause gehen so etwas 121

kann nicht lange gut gehen. Die Chefs die wussten das! Ja machen Sie mal eine Pause, lassen sie es langsamer angehen! Aber Morgen brauchen wir ihren Wirtschaftsplan für das nächste halbe Jahr. Die berufliche Überbelastung ist real, gegen die Zwänge aus Frankfurt und anderes Ungemach stellt Andreas aber die Motivation Christians: Und er war dann auch der Typ, der voll für seine Verantwortung lebte. Aus dem Druck der Situation heraus hat sich Christian also nicht umgebracht! Solcherlei Gründe scheinen auch nicht Andreas Frage zu betreffen. Diese ist viel grundsätzlicher, sie betrifft direkt die Person Christians: Sein idealisiertes und persönliches Bild einer kommunikativen und zugewandten sozialen Führungspersönlichkeit wird desavouiert durch seine höchst individuelle und rücksichtslose Tat. D.h.: weil dieses Bild ein soziales ist, ist der Selbsttod Christians im höchsten Maße asozial. Bild und Person passen für Andreas nicht zusammen. Durch diese Tat hat sich Christian quasi aus dem Bild herausgeschlichen, allein Andreas hält ihn noch ein wenig im Spiel. Hier ist Andreas wieder bei der Personalkomponente des Suizids, und hier hat er seine Fragen und äußert sein Unverständnis. Nach einer kleinen Pause bitte ich Andreas vom Zeitpunkt des Todes bis zur Bestattung zu erzählen. Andreas erzählt zunächst kurz vom Antritt seines Urlaubs; dort erreicht ihn am zweiten Tag eine Rundmail aus Frankfurt: Unser Mitarbeiter Herr Christian N. ist heute für uns alle unerwartet von uns gegangen. Wir verlieren mit ihm einen … (2) Eine halbe Stunde und mehr hab ich da vor der Mail gesessen und konnte nichts damit anfangen. Na klar . Inhaltlich schon hab ich gewußt was das heißt ( ) Christian ist gestorben ( ) aber dann auch wieder . Christian soll tot sein!?!? Und das bedeutet? Ja erst einmal dass ich das irgendwie nicht auf die Reihe gekriegt habe . Irgendwie ging es nicht mit dem Denken . mit dem kapieren. irgendwie war ich zu da oben.( ) ich bin dann erst mal raus . Frische Luft . um das da oben wieder frei zu kriegen. 122

Andreas erzählt nun von seinen Gedanken beim Spaziergang: Natürlich hat er den Tod von nahen und fernen Anderen schon erlebt: Die Großeltern, den Vater, Nachbarn und Bekannte. Christians Tod ist aber anders, weil so plötzlich, so völlig unerwartet, so aus dem Leben gerissen. Andreas erzählt, wie er mit Christian am Tag vor seinem Urlaubsantritt noch ausführlich gesprochen hat, zu dienstlichen Angelegenheiten, aber mehr noch private Dinge, auch welche, die in die Zukunft zeigen: erhole dich mal so richtig und: nach deinem Urlaub müssen wir dies und das anpacken. Und das soll auf einmal nicht mehr sein, so Andreas Gedanken auf dem Spaziergang, gestern noch miteinander und heute rein gar nichts mehr. Absolut und irreversibel aus und vorbei? Ich hab mir auf einmal vorgestellt . Christian ist jetzt in Australien, Und irgendwann kommt er wieder . Ich war mal ein bisschen weg . Brauchte mal ne Auszeit. dann würde er noch leben, zwar ganz weit weg aber das kann man sich vorstellen. Der Zwang zur Vorstellung eines unvermittelten Abbruchs der Lebendigkeit und Gemeinsamkeit läßt Andreas in der erzählten Form reagieren. Er muß sich Christians Tod oder besser: den toten Christian konkret 'vorstellen', imaginieren. Darüber hinaus ist er in Andreas' 'Kopfkino' so unanschaulich, irreal wie ein Toter in einer Zeitungsanzeige oder einem Film. Aber es ist Christian, der so nahe Andere, der durch seine räumliche Nähe definiert ist, dessen soziale Lebendigkeit Andreas vor wenigen Tagen noch erlebte, von dessen Tod er hier so unkonkret und unleibhaftig erfährt, den er aber nur konkret und leibhaftig sich 'vorstellen' muss – und dies aufgrund der Nachricht, die im Medium des E-mail-Empfangs körperlos daher kommt, aber nicht kann. Ich vermute: Nur der konkret erfahrene, d.h. leibhaftig sichtbare Tod als Leiche und Sarg wird als solcher im Sinn des Wortes begreifbar, weil er sich leibhaftig aufdrängt. Andreas' Alternative ist die reine Vorstellung, die aber mit der Lebendigkeit und Gemeinsamkeit der Erfahrung kollidiert.

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Ich frage Andreas, ob er mit jemanden hatte sprechen können. Andreas verneint dies. Obwohl das vielleicht besser gewesen wäre. – Warum besser gewesen, frage ich? – Wenn man traurig ist, dann ist es doch gut ,wenn einen einmal jemand in den Arm nimmt. So frisst man das doch einfach in sich hinein. Und irgendwann drängt man das zurück . Und denkt nicht mehr dran . lebt sein Leben so wie es zuvor war. Andreas verlebt so eine Woche Urlaub wie geplant: Spaziergänge, Lesen vor allem, gutes Essen, auch sich selbst mal was kochen. Und auch an Christian denken, nicht immer, aber ziemlich regelmäßig, wenn dann sein Gesicht vor dem geistigen Auge auftaucht. Vielleicht ist dies eine Folge der Imagination. Wie Christian lebend ausgesehen hat, daran erinnert sich Andreas gut, wie er tot aussieht, das weiß er nicht, deshalb erscheint der Lebende an der Stelle des Toten. Andreas sagte so: Ja, Christian ist tot. So hab ich es gelesen. Wie kann ich mir das vorstellen? Dass er jetzt einfach nicht mehr da sein wird wenn ich zurück komme ( ) aber er ist tot . [lauter] tot . Das ist doch etwas anderes . Also . Ja wie soll ich . das sagen (?) wie sieht es jetzt denn mit ihm aus jetzt wo er nicht mehr ist (?) (2) [leiser] dabei hab ich ihn ständig vor Augen . Irgendwie lebendig. ( ) ich werd ihn nicht los . Will ich aber auch nicht (4) Aus dem Urlaub zurück erfährt Andreas die Umstände des Todes von Christian. Das hat mich total geschockt das zu hören dass er sich umgebracht hat. Die Familie hat ihn morgens im Keller aufgefunden – Vergiftung durch Kohlenmonoxid. Gerüchte entstehen, warum dies geschehen ist: die Arbeitssituation, eine Krankheit, Konflikte in der Familie, finanzielle Schwierigkeiten – eine Antwort gibt es nicht. Einen Abschiedsbrief hat Christian nicht hinterlassen. So kurz nach dem Tod wären in der Einrichtung und auch anderswo von Mitarbeitenden und bei den Bewohnern ja verschiedenste Gerüchte über mögliche Beweggründe geäußert worden. Keiner hätte sich aber bisher bestätigt, wenn auch bestimmte mögliche Gründe für den Selbstmord nach längerer Zeit nun ausgeschlossen werden könnten, so Andreas. 124

Ich frage Andreas nach der Bestattung. Andreas antwortet, dass diese gar nicht stattgefunden hätte beziehungsweise dass er und andere aus der Einrichtung bei der Bestattung gar nicht dabei gewesen sind. Im engsten Familienkreis, so war es von der Familie gewünscht worden. Ich wär schon gern dabei gewesen, so Andreas, aber die Familie hat es eben so nicht gewollt. Vielleicht weil sie sich geschämt haben, oder aus anderen Gründen, was weiß ich. Aber wir haben ja eine Abschiedsfeier in der Einrichtung abgehalten (2) Aber ich fand das schon ziemlich belastend . Also . bei der Trauerfeier nicht dabei gewesen zu sein. Dazu haben Christian und ich uns zu nahe gestanden. Also als Kollegen oder so oder eben als Freunde. Wir haben so viel miteinander gemacht, und wir hatten noch so viel miteinander noch vor. Ne . ich bin richtig wirklich richtig sauer. Fühl mich irgendwie betrogen . Nicht ernst genommen indem was ich empfinde. ( ) Und für Christian fand ich das auch nicht richtig . gut der hat sich das Leben genommen aber dann irgendwie nur so jetzt ausradiert werden . einfach weg . Nur die Familie keine Freunde und Bekannten ( ) [etwas lauter] Hallo das war doch einer von uns den haben wir gemocht den fanden wir gut. Und irgendwie haben wir dann doch und auch der Christian Anrecht darauf dass wir . Ja . Abschiednehmen noch mal Danke sagen noch mal zurück erinnern und so weiter was man so alles macht bei einer Beerdigung. Andreas weiß, dass andere Mitarbeitende ebenso empfinden, denn man hat sich dazu ausgetauscht. Bei der Beerdigung waren alle ausgeladen worden; das war dann auch der Grund, so Andreas, warum wir unsere eigene Trauerfeier abgehalten haben. Die Privatisierung einer Trauerfeier geht einher mit dem Ausschluss von Menschen, denen der Verstorbene ebenfalls ein naher Anderer war. D.h. der Tod hat auch bei Ihnen Schaden angerichtet, etwas Unordnung gebracht, fordert Abschluss und Neustrukturierung. Nicht nur ein neuer Chef wird kommen, und hoffentlich kommt man mit ihm klar, auch der Zusammenhang der Gruppe der Mitarbeiter verändert sich durch den Tod. Zwei- und mehrdimensio125

nale Beziehungsgefüge verändern sich. Für Andreas hat diese Veränderung eine sehr persönliche und individuelle Dimension. Christian ist in und durch die gemeinsame Arbeit für Andreas 'ein Freund' geworden. Die zwei haben 'eine Nacht miteinander verbracht'. Dies ist nicht zweideutig gemeint, für Andreas aber scheint die Person Christian von sehr hoher, vielleicht gar einzigartiger Bedeutung gewesen zu sein, zum einen als Vorgesetzter mit einem offenen, zugewandten und wertschätzenden Leitungsstil, den Andreas persönlich auf sich bezieht und als Freundschaft bewertet. Diese beschränkt sich aber auf die Zusammenarbeit in der Einrichtung. Zum anderen ist das Bild Christians in Andreas Erinnerung abgeschlossen und nicht mehr veränderbar und geprägt von der Atmosphäre jener gemeinsamen Arbeitsnacht. Hier ist Christian im Sinne des Wortes 'idealisiert', und dies jenseits der offen bleibenden Fragen an seine Selbsttötung. Auf diese Idealisierung bezieht sich so auch die Trauer- oder Gedenkfeier in der Einrichtung. Alle Mitarbeitenden und Bewohner sind gekommen und nehmen teil. Ein kleiner Arbeitskreis unter Andreas' Leitung hat die Feier vorbereitet. Religiös sei sie nicht gewesen, meint Andreas, mutmaßlich im Blick auf die Interviewpassage, also ohne Gebet oder Gottesbezug. Wo auch immer du jetzt bist, Christian, wir wünschen dir, dass es dir da gut geht, besser als hier, wo du das Leben nicht mehr tragen wolltest. Du wirst deine Gründe gehabt haben. So hätte er es zum Abschluss in der Trauerfeier gesagt. Die Feier hätte keine Fragen beantwortet, aber doch das Gefühl vermittelt, mit Christians Tod in rechter Weise umgegangen zu sein, ihn nicht zu verdammen oder zu verurteilen, sondern ihm eine letzte Würdigung und Tat der Wertschätzung und der Liebe erwiesen zu haben. Wir haben da gesessen, einer von uns hat aus seinem Leben erzählt . Jeder der wollte konnte aus eigener Erfahrung etwas sagen oder auch einen Text lesen den er Christian mitgeben wollte. Hasan, einer unserer Jugendlichen hat etwas aus dem Koran gelesen . War ihm wichtig hat er gesagt .von Nina kam dann ein Vers aus der Bibel. Stark waren die Danksa126

gungen . für die offene Tür . den Kaffee . für die Plätzchen . dass du immer zugehört hast. Dass du für mich wie ein Vater gewesen bist. Und dazu haben wir Musik gehört ganz ruhige aber nicht nur traurige. Und niemand fand es schlimm wenn der ein oder andere mal weinte. Es sind viele Tränen geflossen. Andreas sagt, dass ihm diese kleine Trauerfeier sehr viel gegeben hat, zum Beispiel das Gefühl zumindest Abschied genommen zu haben und ein klein wenig mit ihm ins Reine gekommen zu sein. Und es war ihm wichtig dies mit anderen gemeinsam gemacht zu haben. Alleine trauern, sagte er, ist nicht so toll. Die Frage aber, warum Christian sich selbst getötet hat, ist offen geblieben, und er weiß immer noch nicht, wie er sich das erklären, wie er dies begreifen und letztendlich damit leben soll, hat doch dieser Suizid die gerade für Andreas gewonnene enge (Arbeits)beziehung zerstört.

Adelheid Kolleginnen und Kollegen kennen mein Forschungsprojekt und senden mir als Material Berichte von außergewöhnlichen und 'einmaligen' Bestattungen zu. Eine von ihnen ist Adelheid. Adelheid ist Gemeindepfarrerin in Gelsenkirchen. Ich erhalte von ihr einen ausführlichen Bericht mit Verschriftlichung der Tonaufnahme, die sie in Absprache mit den Angehörigen vorgenommen hat, zu einem Trauerfall, den sie in ihrer Praxis erlebte. Ich erzähle diesen Bericht nach (kursive Stellen entsprechen dem Wortlaut des Berichtes / Transkriptes). Adelheid wird zu einem Beerdigungs-Besuch gerufen. Franz N., 59 Jahre, ist gestorben. Gebertstr. 9, Ehefrau und Tochter wohnen dort noch, die Ehefrau Inge ist die Ansprechpartnerin.

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Die Adresse kennt sie: Älterer Wohnungsbestand, noch einigermaßen preiswerte Mieten, alt gewordenes Arbeitermilieu. Das Stahlwerk, dass den Arbeitsmarkt seinerzeit beherrschte, war vor elf Jahren 'platt gemacht' worden. Gebertstr. 9 ist wie die ganze Siedlung ein Mehrfamilienhaus, enges Treppenhaus, dritter Stock links. Dort wohnt Familie N. Durch die Tür hört Adelheid laute und fröhliche Musik. Sie schellt, eine ca. 50 Jahre alte Frau öffnet, bekleidet mit Jeans und T-Shirt. Hinter ihr stehen zwei weitere Frauen, ca. 40 und Mitte der 20, ebenfalls salopp gekleidet. Ähnlichkeiten legen nahe, dass es sich bei der 50 und der jungen Frau um Mutter und Tochter handelt. Ach, guten Tag, Frau Pastorin. Adelheid ist schwarz gekleidet, des traurigen Anlasses wegen. Deshalb weiß Inge N., mit wem sie es zu tun hat. Außerdem hatte sie mit Adelheid den Termin telefonisch vereinbart, auf 15.00h, es ist 15.01h. Treten Sie ein! Soll ich uns eine Tasse Kaffee kochen. Chantal, machst du mal die Maschine an? Inge N. geht schnell in die Wohnung zurück und macht derweil die Musik etwas leiser. Dann kehrt sie zu Adelheid zurück, die im kleinen Flur stehen geblieben ist und sich nun genötigt fühlt, Inge N. gegenüber zum Tod ihres 'lieben Ehemannes' ihrem Beileid Ausdruck zu verleihen. Inge N. unterbricht sie: Ach lassense das mal mit dem Beileid. Als wir gestern Abend gehört haben, dass der Alte tot ist, da haben wir erst einmal eine Flasche Schampus geköpft. Sie sollten besser mit uns anstoßen. Chantal, hol mal noch Sektgläser. Adelheid hat einen Basiskurs in Trauerbegleitung absolviert und weiß, dass akute Trauer mitunter seltsame Formen annehmen kann. Für sie ist das nun der Grund, das Gläschen Sekt nicht abzulehnen, der Trauerbewältigung wegen. Na denn Prost und zum Wohl . und einen auf die Zukunft! Inge N. ist anzumerken, dass dies nicht das erste Glas an diesem Tag ist. Auch eine Art von Trauerarbeit, denkt Adelheid. Bei Kaffee und Sekt bittet Adelheid nun Inge N. aus dem Leben ihres Ehemannes Franz N. zu erzählen. 128

Franz N. ist hier im Stadtteil aufgewachsen, sein Vater und der Großvater hatte auch schon auf dem Stahlwerk arbeitet, die Mutter hatte mit ihren 4 Kindern zuhause genug zu tun, Franz war der Jüngste. Nach der neunten Klasse mit 15 begann Franz seine Lehre als Schlosser und danach seine Arbeit in der Instandsetzung auf dem Werk. Aber dann begann man vor 20 Jahren mit dem Arbeitsplatzabbau wegen der geplanten Werksschließung. Franz gehörte nicht zu den ersten, denen gekündigt wurde, denn er hatte ja Frau und damals ein minderjähriges Kind. Im Nachhinein war das für ihn fatal, denn als dann auch für ihn 'die Tür zu ging', war er Ende der 40. Da hatte er schon fast 30 Jahre auf dem Werk gearbeitet. Mit seinen Fähigkeiten hätte er sicher anderswo noch eine Anstellung bekommen, aber er hat gar nichts mehr getan, hat vielmehr seine Abfindung mit seinen Freunden im 'Herz Ass' nach und nach auf den Kopf gehauen, bis nichts mehr da war. Da mußte er notgedrungen hier und da kleinere Jobs annehmen. Vor 3 Jahren wurde bei ihm eine Leberzirrhose diagnostiziert und seine Arbeitsunfähigkeit festgestellt und er bezog eine kleine Rente. Für die Lokalrunden im 'Herz Ass' reichte es nicht mehr, aber für den Billig-Alkohol aus dem Discounter schon. Mit dem zog er mir seinen Freunden umher, zuhause wäre er nur noch des Schlafens wegen gesehen worden. Das letzte Jahr wurde es dann schlimmer mit seiner Erkrankung, häufige Krankenhausaufenthalte waren nötig, zuletzt war er 6 Wochen im 'Elisabeth-Krankenhaus', in dem er auch gestorben ist. Chantal, das ist seine Tochter, hat ihn hin und wieder besucht. Inge N. selbst hatte keinen Kontakt mehr zu ihrem Ehepartner: Ich hab ihn das letzte Mal vor einem Dreivierteljahr gesehen. Da hat er schon nicht mehr hier in der Wohnung, sondern bei Freunden und bei seiner Mutter übernachtet. Adelheid erfährt im Nebensatz von der Existenz der Mutter, aber bevor sie nachfragen kann erzählt Inge N. die Geschichte ihrer Ehe und ihrer Familie.

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26 Jahre waren Franz und Inge N. verheiratet gewesen. War ne echte Liebesheirat, der Franz und ich. Ich, Anfang 20, Beruf Einzelhandelskauffrau, vorzeigbar wie man so sagt, und er Ende 20, fleißiger Arbeiter, hatte einiges auf der hohen Kante, und son richtiger Kerl, wenn se wissen was ich meine. Adelheid weiß nicht genau, was Inge N. meint. Also für mich ne gute Partie. Tja, dann hab ich mir den geangelt. Nach etwas mehr als einem Jahr kam Chantal, die Tochter, zur Welt. Franz und Inge N. bezogen die Werkswohnung in der Gebertstraße. Franz war ein guter Vater und Ehemann. Er arbeitete fleißig und ließ es seiner Familie an nichts fehlen. Man dachte daran sich ein kleines Eigentum zuzulegen, aber die Miete war preiswert und Franz fühlte sich hier zu Hause, Freunde noch von früher, die Kneipe an der Ecke, einfach alles sehr vertraut. Und dann kam alles auf einmal: Sabine, eine Freundin von früher, bevor er mich kannte, die seinen Lebensweg wieder kreuzte, die Schwierigkeiten im Werk, Pläne der Schließung, und dann eben auch der Alkohol. Bier ist Flüssig-Brot, sagte er immer, als die Kurzen dazu kamen, wurd’s aber ein Problem. Nach einiger Zeit ging's dann schon morgens los, Gang zum Kiosk und'n Kleinen geholt. Die letzten fünf Jahre war Franz dauerhaft und ständig betrunken. Das Gespusie mit Sabine hat sie dem Franz verziehen, denn da war ohnehin nicht mehr viel zwischen uns, obwohl, für die gegenseitige Beziehung war dies der Anfang vom Ende. Dann haben wir unsere Ehe nur noch der Form halber gelebt. Inge geht wieder arbeiten, als Chantal einigermaßen aus dem gröbsten raus ist. Inge lernt Reinhild kennen, mit der sie jetzt zusammenlebt. Geht absolut besser als wie mit so'm Kerl. Aufgrund des Alkohols wurde das Zusammenleben mit Franz immer schwieriger. Wenn sie von der Arbeit kam lag er auf der Couch und guckte Fernsehen. Später war sie froh, wenn er mit seinen Kumpels durch die Stadt zog. Aber zwischendurch kam er immer wieder vorbei, verlangte Geld und wurde sehr ungehalten wenn nicht aggressiv, wenn 130

sie es ihm verweigerte. Einmal habe ich ihm seinen Suff und seine Arbeitsscheu vorgehalten . da hat er mich geschlagen . Aber zum Glück war Reinhild da und wir haben ihn rausgeschmissen. Er ist dann zu seiner Mutter gezogen. Aber auch von dort erhielt Inge immer wieder Anrufe, er passte sie ab, belästigte sie. Wie sie denn den Rausschmiss geschafft hätten, fragt Adelheid. Na ich hab ihm gesagt: Entweder du gehst jetzt freiwillig und nimmst deine Klamotten auch gleich mit oder wir holen die Polizei. Und da ist er gegangen. Gegen seine Belästigungen sind wir dann mit einem Rechtsanwalt vorgegangen. Vor etwa vier Jahren wäre es zur Trennung gekommen, sagt Inge auf Nachfrage. Die Belästigungen seien seine ständigen Besuche in ihrer Wohnung gewesen und dann der Streit um Gegenstände, die Franz für sich reklamierte und mitnehmen wollte. Der wollte mir fast die ganze Wohnung leer räumen, ein Schreiben ihres Anwaltes hätte dem ein Ende gemacht. Da hat der Kerl dann schnell klein beigegeben, so Reinhild mit lachender Stimme. Adelheid muss also ihren Eindruck, Franz wäre bis vor einem Jahr noch in dieser Wohnung zu Hause gewesen, revidieren. Auch die Nachfrage nach dem Grund des letzten Treffens fördert ein anderes Bild zu Tage. Die Arbeitsunfähigkeit wurde erst vor einem Jahr festgestellt, und Franz war auf Aufforderung des Sozialamtes auf Inge zugegangen, um von ihr Unterhalt zu verlangen, weil seine eigene Rente zu gering war. Na, das ist ja jetzt erledigt, und ich hab meinerseits ein Recht auf Witwenrente. Und sie sind zu Bestattung verpflichtet, also zur Übernahme der Kosten, wirft Adelheid ein. Ja, sagt Inge, das haben Franz und seine Mutter gut eingefädelt. Der Franz hatte beim Bestatter noch ein wenig Geld zurückgelegt, extra für seine Bestattung und dazu eine Bestattungsverfügung, was er denn alles so bei seiner Beerdigung haben möchte. Er wusste ja, dass er sterben musste und wollte ne ordentliche Beerdigung haben. Und für die Freunde soll ein Leichenschmaus 131

ausgerichtet werden. Das hat er in der ganzen Stadt so ausposaunt: Wenn ich begraben werde, dann … Inge als Ehefrau muss nun die Bestattung ausrichten, und sie sagt, dass sie sich dieser Aufgabe auch stellt, auch wegen Chantal. Die hatte nämlich etwas mehr noch an ihrem Vater gehangen. Und außerdem entstehen mir keine Kosten, weil Franz alles zuvor bei dem Bestatter das bereits geregelt hat. Und nun sind Sie dran, so Inge, ob ich ihnen dabei helfen könnte? Was hat ihr Mann denn in seiner Bestattungsverfügung verfügt, fragt Adelheid. Zunächst: Allgemein soll es eine ordentliche und würdevolle Beerdigung sein, so sein Wunsch, mit einem Pastor oder einer Pastorin, mit Orgelspiel, mit viel Blumen, und ein schöner Sarg soll es auch sein. Einen Grabstein hat er sich bereits ausgesucht, ein Reihengrab soll es sein, und eine Erdbestattung. Das Sterbegeld von der Gewerkschaft will Franz für die Bewirtung der Gäste der Beerdigung verwendet wissen. Und speziell: Franz hat verfügt, dass in den beiden großen Zeitungen eine Todesanzeige geschaltet wird, und er wünscht sich, dass Chantal und Inge neben der Mutter darauf vermerkt sind. Mit 'in stiller Trauer', oder (?), was echt ein Witz ist, so Inge. Dass hier nicht mehr von Trauer geredet werden kann, das ist Adelheid inzwischen auch klargeworden. Hier stehen andere Gefühle und andere Interessen im Vordergrund: Zum Beispiel die Bestattung gut und richtig auszurichten, damit man sich keine Vorwürfe macht . später mal. Sich zu trennen weil man nicht mehr zusammen leben kann, sei ja doch etwas anderes als seinen Pflichten nicht mehr nach zu kommen. Das war schon ein schlimmes Bild, was der Franz da so abgegeben hat, da haben wir uns nur noch geschämt . wegen ihm. Inge möchte nicht ihr Gesicht verlieren, vor den Freunden, den Nachbarn. Von dem meisten, was bei uns so intern ablief, da wusste keiner was von. Das soll auch so bleiben, Inge schaut Adelheid an. Die versichert ihr, dass es nicht ihre Aufgabe sei, dies bei der Trauerfeier offen zu legen. Was sie nun hier besprächen sei das eine, ihre Ansprache auf dem Friedhof etwas Anderes. Und sie nimmt wahr, wie erleichtert die 132

drei Frauen daraufhin wirken. Also soll es eine schöne Beerdigung sein, damit man sich nicht schämen muss. Wie macht man das denn . Sie wissen das doch, fragt Inge. Jetzt nehmen auch Chantal und Reinhild am Gespräch teil. Man bespricht die Liturgie des Gottesdienstes: Adelheid schlägt zu Beginn Verse des Psalm 139 vor, und weil die drei den Psalm nicht kennen, liest sie ihn bis Vers 17: Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Die drei Frauen sind bei den Psalmworten ganz still geworden. Über die Jahre hinweg sind wir uns ziemlich fremd geworden, der Franz und ich, sagt Inge in die Stille hinein. Haben uns irgendwie nicht mehr gekannt . Also umgekehrt wie in dem Gebet. – Das Gebet müssen sie nehmen bei der Beerdigung, wirft Chantal ein. Vor allem das mit dem 'wunderbar gemacht'. Sie erzählt nun von den letzten Wochen und Tagen im Krankenhaus, wie ihr Vater immer weniger wurde, und wie schwer es ihr gefallen ist ,das mit anzusehen, sie hatte sich am Schluss richtig überwinden müssen, ihn zu besuchen, aber der hatte doch sonst nur noch seine Mutter, für die sei er eben immer noch ihr Jüngster, ihr Liebling gewesen, auch wenn er da so lag, son richtiges Häuflein Elend (3) aber das war doch immer noch mein Papa, und deshalb sei er doch wunderbar gemacht und nicht so ein Penner an der Bude . Flasche in der Hand und so. So bricht es aus ihr heraus und sie beginnt zu weinen. So einer war er aber nicht . auch wenn es so ausgesehen hat . wunderbar gemacht ( ) wunderbar gemacht . das müssen Sie den Leuten bei der Beerdigung sagen. Reinhild nimmt nun am Gespräch teil: ein Säufer und Schläger war er . Die Tochter unterbricht: ach ja (?) das sagst DU . das mit dem Schläger. Der Papa hat mir da etwas anderes erzählt ( ) Schläger ( ) Der konnte nicht mal ner Fliege was zuleide tun. Chantal steht auf: so . Und ich geh jetzt zur Oma und dann nach Hause bevor … und verläßt die Wohnung. Adelheid erfährt auf Nachfrage, dass Chantal damals kurz nach dem Auszug des Vaters ebenfalls sich eine eigene Wohnung gemietet 133

hat. Die Familie war also auseinandergebrochen und nur zu bestimmten Gelegenheiten käme man zusammen. Weitere Umstände des Geschehens kann Adelheid aber nicht mehr herausfinden, da Inge und Reinhild dazu schweigen und die Auskunftsgabe ablehnen. Auch weitere Gespräche und Vereinbarungen zum Gottesdienst lehnen Inge und Reinhild ab. Sie werden das schon machen sie wissen was sie zu tun haben, sie haben unser vollstes Vertrauen, sagt Reinhild. Inge aber hat noch einige Fragen: Die Traueranzeige, die Kleidung, das Kondolieren am Grab. Sie wäre da ziemlich unsicher und manches möchte sie gar nicht, dass es geschieht. Zum Beispiel das Kondolieren am Grab, da habe sie keine Lust, hundert Hände zu drücken und sich tiefempfundenes Mitgefühl anzuhören. Adelheid verspricht, dies noch während des Gottesdienstes zu regeln, zum Beispiel mit dem Hinweis bitte nach der Beerdigung nicht zu kondolieren. Die es dann doch tun, bei denen kommt's aus dem Herzen und das wird ihnen gut tun, alle Anderen sind keineswegs traurig, wenn sie es nicht tun brauchen. Dann die Kleidung: wie man denn da so hingehen müsste, fragt Inge, Jeans und T-Shirt seien ja wohl nicht die richtige Bekleidung, aber so ganz in Schwarz, das passte ihr ganz und gar nicht. Adelheid verweist auf andere wichtige Daten und Feste im Leben. Zu einer Hochzeit geht ja auch niemand in der Jogginghose. Sie schlägt eine dem Anlass angemessene Bekleidung vor: Wir haben die Aufgabe ihren Mann zu begraben. An dieser Stelle schaltet sich Reinhild in das Gespräch ein und gibt zu bedenken: Das hat der Typ doch gar nicht verdient, dass wir so'n Trara um seine Beerdigung machen. Also weg mit ihm und gut isses! Adelheid schreibt nun hier ganz persönlich: Ich war nahe daran aus der Haut zu fahren, konnte mich dann aber zurückhalten. Da wurden gerade meine tiefsten Überzeugungen mit Füßen getreten. Das konnte nicht unwidersprochen bleiben, dem muss ich etwas entgegensetzen. Ich verstehe bis heute nicht, warum 134

ich so relativ ruhig und sachlich auf den Einwurf Reinhilds antworten konnte: Ich lasse Ihre persönliche Einschätzung und Bewertung der Person von Franz N. mal so stehen. Sie werden ihre Gründe haben, so zu denken und so zu reden. Wenn ich ihre Ausführungen etwas weiter führen möchte, dann heißt das doch, dass die einen beerdigt werden und andere nicht, dass die einen geboren werden und die anderen nicht, dass die eine leben dürfen, obwohl sie krank sind, und die andern nicht, und das ganze nach Gutdünken oder Nützlichkeit, nach Sympathie oder Antipathie, ja auch nach Nähe oder Fremdheit – in einer solchen Welt möchte ich nicht leben. Reinhild verstummt nach dieser Gegenrede, Inge und Adelheid können weitere offene Fragen ungestört klären. Zur Frage der Formulierung der Traueranzeige informiert Adelheid, dass in früheren Zeiten eine Traueranzeige nicht der Mitteilung persönlicher Gefühle diente, sondern der Mitteilung des Todes und des Termins der Bestattung. Die kürzeste Form könnte lauten: Franz N. ist tot. Seine Familie informiert darüber und über Ort und Termin der Beerdigung. Offenbarungen persönlicher Gefühle müssen nicht sein. Also nicht: 'mein innigst geliebter Mann' und 'in tiefster Trauer und untröstlich', so Inge. Adelheid empfiehlt, diesbezüglich den Bestatter um Beispielformulierungen zu bitten. Und sollte sich Franz in dieser Beziehung in seinen Verfügungen nicht absolut festgelegt haben, dann sei für sie ja noch einiges an Spielraum zur Formulierung offen. Damit ist alles besprochen. Inge und Reinhild bedanken sich für das Gespräch; es hätte ihnen viel von ihren Sorgen genommen und sie auch neue wichtige Aspekte hinzugewinnen lassen. Sie gingen nun ohne Angst und voller Vertrauen Auf den Tag der Trauerfeier und die Beerdigung zu. Zum Abschluss bittet Inge Adelheid noch um ihre Anwesenheit bei der Nachfeier, dem Leichenschmaus, den Franz nun einmal verfügt hatte. Ich würde mich freuen sie dann zu sehen.

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Adelheid berichtet mir auch über ihre Reflektionen nach dem Gespräch und ihre Gedanken zur Vorbereitung auf den Gottesdienst und auf die Predigt. Sie schreibt zu eigenen Empfindungen: Ich denke ja wie Reinhild! Ein Ehemann, der säuft und seine Frau schlägt und die Familie ruiniert. So ist Franz N. Wie kann der angemessen bestattet werden ohne zu lügen? Jeder hat ein würdiges Begräbnis verdient. Damit sage ich aber doch auch, dass Franz N. dieses eben gerade nicht verdient hat. Diese Aussage macht die einen der Barmherzigkeit bedürftig. die anderen aber nicht. Theologisch: Wir alle haben es nur verdient, auf dem Acker, dem wir entnommen sind, verscharrt zu werden. Die ausführliche Lebensgeschichte von Franz N. zeigte: der erste Blick = erschreckend falsch. Ein Leben mit vielen krummen Linien, Grund: eigenes Verhalten, falsche Wahrnehmung seiner Motive, verfehlte Kommunikationen, gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen. Franz N.: Täter oder Opfer? Wohnungsverweis als Bruch? Bestätigung des ersten Vorurteils? Oder, wie Chantal beschuldigt: Ehefrau und Freundin schieben Franz N. ab. Der eigentliche Konflikt: Unterhaltszahlungen der Ehefrau an den Mann. Zweite Ebene: Die Familie bricht auseinander, weil Inge jetzt mit Reinhild zusammen ist. Aber: der Einfluss der Mutter von Franz N. und die Lebensweise von Chantal N. sind nicht bekannt (der Konflikt der Eltern ist nicht Grund des Auszugs). Emotionen: Zorn und Hass, Liebe, Schuld, Traurigkeit, Zuneigung, Angst, Solidarität, Wehmut, Dankbarkeit, Pflicht. Erstaunlich: die Aussagekraft des Psalm 139. Inge: Entfremdung und Distanzierung Chantal: 'wunderbar gemacht' gegen Aburteilung ihres Vaters. Psalm 139 stellt sich mancher menschlichen Wirklichkeit entgegen und verweist auf eine andere Sichtweise.

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Inge und Chantal: verstehen den Psalm untheologisch in dem Zusammenhang von Sünde und Rechtfertigung. Wir müssen als Repräsentation der Rechtfertigung bestatten und trauern, weil wir sonst unsere Menschlichkeit verlieren. Die Trauerhalle ist am Tag der Beerdigung gut gefüllt. Inge und Chantal sitzen in der ersten Reihe, zwischen sich eine alte Frau, die Mutter von Franz N. Sie wird Adelheid später vorgestellt. Weitere Familienangehörige sitzen in der ersten Reihe: Geschwister, Verschwägerte, Neffen und Nichten. Reinhild ist nicht anwesend. In den Reihen hinter der Familie sitzen Nachbarn, ehemalige Arbeitskollegen, Freunde. Ein Kollege, seinerzeit Betriebsrat, fragt Adelheid vor dem Gottesdienst, ob er im Rahmen der Trauerfeier etwas öffentlich sagen dürfe, eine kleine Rede, so 5 Minuten, es läge ihm am Herzen. Man einigt sich auf den Zeitpunkt vor der Predigt. Es ist ein sehr andächtiger Gottesdienst, so ganz auf den Anlass konzentriert. Fast alle singen mit: 'Befiehl du deine Wege' und 'Weiß ich den Weg auch nicht' – so hatte es Franz auf Wunsch der Mutter verfügt. Adelheid ließ nach der Predigt 'Von guten Mächten wunderbar geborgen' singen. Zuvor trat der Betriebsrat an das Pult, in der Hand einen kleinen Zettel. Seine Rede hielt er frei: Franz sei sein bester Freund gewesen, ein Leben lang, schon im Kindergarten, dann auf der 'Hütte' und auch danach. Ein Kumpel, auf den tausendprozentig Verlass war. Sie beiden seien die letzten gewesen, bevor im Werk die Lichter ausgingen. 'Frei gestellt' hätten sie miteinander viel Zeit verbracht, am Tresen, bei gutem Wetter im Stadtpark, über Schalke reden und über alte Zeiten, und über die Traurigkeiten jetzt: Nicht mehr gebraucht werden, nach 30 Jahren kann man woanders kaum noch arbeiten. Auch über andere Schmerzen, die in der Seele, denen man nicht entrinnen kann, auch nicht durch Alkohol. An diesen Schmerzen sei der Franz zuletzt ka-

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puttgegangen, das konnte der nicht weg stecken, dass vieles von dem, was ihm am Herzen lag, zerbrach. Der Alkohol tat sein Übriges. Das wissen wir alle und deshalb müssen wir nicht drumherum reden. Am Ende war er ganz weit unten. Wenige Tage vor seinem Tod hätte Franz ihm gesagt, dass er sein Leben am Ende verkorkst hätte und er fühlte sich wie ein Stück Dreck. Franz' Freund wendet sich nun zum Sarg: Nein, Franz, das ist nicht so! Du warst uns wichtig, du warst unser Freund. Und deshalb begraben wir dich heute mit Zuneigung zu dir und mit Achtung vor deinem Leben! Es ist ganz still nach der Rede, dann beginnt jemand in den hinteren Reihen leise zu applaudieren. Schließlich stimmen alle mit ein. Was kann Adelheid jetzt noch sagen? Auch sie tritt an das Pult, bedankt sich beim Vorredner und liest dann Psalm 103 bis V.17. Wie wir hören: 'Gott' sieht das genauso, sagt sie. Wunderbar hat er uns gemacht. Deshalb läuft unser Tun und Lassen heute nicht ins Leere. ER wird vollenden, was wir heute beginnen. Er wird neu beginnen, was wir beenden. Wo wir schuldig wurden, wird er einlösen, wo uns Angst und Hoffnungslosigkeit einholen, will er uns Leben schenken. Die Trauergemeinschaft geht nun an das Grab. Viele haben eine Blume in der Hand, die sie ins das Grab werfen werden. Nicht wenige haben dabei Tränen in den Augen. Inge hat keine Blume mitgebracht, sie folgt der Pastorin in deren Erdwurf. Adelheid hat noch im Gottesdienst den Wunsch Inges weitergegeben. Einige treten dennoch auf die Familie zu, umarmen Inge, Chantal und Franz' Mutter. Adelheid bemerkt, dass dies den drei Frauen guttut. Beim Leichenschmaus muss Adelheid nicht lange verweilen. Die Atmosphäre ist entspannt, die Angst Inges vor der Öffentlichkeit war unbegründet. Man kommt noch zu einem kurzen Gespräch zusammen: Das war eine würdige, schöne Beerdigung, alles war richtig so. Gut, das Franz' Freund gesprochen hat, das hat manches zurechtgerückt. Bei Adelheids Verabschiedung nimmt Inge sie kurz an die Seite: 138

Ich hab ihm verziehen, er mir hoffentlich auch. Adelheids Fazit: "Irgendwie tut er mir leid, der Franz, mit seinem so übel zu ende gegangenem Leben. Da ist es gut, dass er eine würdige Bestattung bekommen hat", schreibt Adelheid am Schluss. "Und eine Bestattung, die 'zurecht bringt'! Dies zum Ausdruck zu bringen als frohe Botschaft wäre dann mein Traueranteil an der ganzen Geschichte. Inge bringt es auf den Punkt: Die Verkündigung der Auferstehung von den Toten, der Zuspruch der Rechtfertigung und unser Trauerhandeln gehören zusammen!"

Friedrich Zum Abschluss erzählt uns Friedrich seine Geschichte. Auch sie ist eine TrauerFallGeschichte. Er erzählt darin von einer besonderen Art von Bestattung und von seinem Empfinden und Handeln dabei. Eine Bestattung dieser Art habe er vorher und nachher nicht mehr erlebt oder bearbeitet. Er habe sie deshalb seinerzeit durch Stichworte und Protokolle der Gespräche dokumentiert. So sei er derzeit in der Lage, sie in Form einer Nach-Erzählung seines Erlebens nieder zu schreiben. Die Erzählung enthält aus Gründen der Lesbarkeit auch eigene nachträgliche Anteile, hat sich aber, so versichert Friedrich, seiner Erinnerung nach einschließlich der Gesprächsinhalte im Grundsatz so ereignet. Friedrich erzählt: Wolfgang, ein sportlicher Mittfünfziger, verheiratet, Rechtsanwalt und Familienvater, muss beerdigt werden. Und ich bin der zuständige Pfarrer. Elke, seine Ehefrau ruft mich deshalb Freitagvormittag an. Ihr Mann, der Wolfgang, sei gestern Abend gestorben. Am Montag sei die Beerdigung geplant. Ob ich nicht heute noch vorbeikommen könnte, zu einem Gespräch. Das kam mir sehr entgegen: „Natürlich, 139

wann soll ich kommen?“ frage ich sie, „heute Nachmittag, ist ihnen das so recht?“ Ich halte das immer so mit meinen Beerdigungsbesuchsterminen. Ich lass die Angehörigen nicht erst noch eine halbe Woche warten, sondern versuche unmittelbar da zu sein, um zu begleiten und zu helfen. Ihr ist es auch recht so. Wir haben zum Nachmittag, 15:00 Uhr, den Termin vereinbart. Ich bin dann am Nachmittag zum Trauerhaus gefahren: Ein kleines Reihenhaus, ein bisschen Grün drumherum, die Tür steht offen. Elke scheint auf mich gewartet zu haben, ich bin auch ziemlich pünktlich, sie begrüßt mich und führt mich in das Haus. „Dann kommen sie mal mit hoch!“ sagt sie. Sie geht voran, die Treppe hinauf, oben angekommen geht's rechts in ein Zimmer, auch diese Tür steht offen, ich folge ihr. In der Mitte des recht persönlich eingerichteten Zimmers steht ein Bett, darauf liegt – Wolfgang. Der Tote, die Leiche. Ich bin ziemlich verunsichert, weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Drei weitere Personen sind mit im Raum, es sind Wolfgangs Kinder: Fabian, 18 Jahre, Lea, 16 Jahre und Sarah, 10 Jahre; Sarah sitzt neben ihrem toten Vater auf dem Bett. Soll ich sie alle begrüßen, und dann per Handschlag? Und wie 'begrüße' ich Wolfgang? Und dann: Wohin setze ich mich denn, auf den Sessel, direkt ans Bett, oder soll ich den Stuhl nehmen, der etwas weiter weg steht? Ich nehme dann den Stuhl, und Elke setzt sich in den Sessel. Ich fühle mich nicht besonders wohl. Ein Beerdigungsgespräch angesichts des Fleisch gewordenen Todes, das ist auch für mich neu. Und es ist ziemlich unheimlich. Die Familie scheint dieses Unwohlsein nicht mit mir zu teilen. Sarah streicht hin und wieder ihrem Vater über das Haar, Lea und Fabian sitzen am Fußende des Bettes. Unsicherheit oder Beklommenheit ist ihnen nicht ab zu spüren. Ich aber sitze verkrampft in meinem Stuhl und bin froh das ich mich an meinem Tablet festhalten kann. Ich beschließe die Daten aufzunehmen. Elke, die scheinbar erkennt, wie ich mich fühle, sagt ihrer älteren Tochter: „Machst du uns bitte einen Kaffee. Sie trinken doch 140

Kaffee, oder?“ – „Gerne, danke – wenn der Wolfgang ein Tässchen mit trinkt …“. Fast wäre mir das Letztere rausgerutscht. Ich wundere mich über mich selbst, auf welch komische Gedanken ich da gekommen bin. Was will ich durch einen Scherz kompensieren? Mein Unbehagen, Abscheu, Furcht? Lea kocht Kaffee, und ich nehme erst einmal die Daten auf. Und dann bitte ich die Familie, mir einfach zu erzählen, was und wie es passiert ist. Lea kommt inzwischen mit dem Kaffee. Vor etwas mehr als einem Jahr wurde die Karzinomkrankheit diagnostiziert. Erst wäre die Familie noch voller Hoffnung gewesen, dann aber hätte sich der Zustand verschlimmert, bis der Arzt der Familie sagen musste, dass Wolfgang nur noch ein halbes Jahr bleiben würde. „Der Arzt hat das mir gesagt“, sagt Elke, „und ich hab mich erst gefragt: Kannst du das dem Wolfgang weiter sagen? Aber der hat natürlich was gemerkt, und dann hab ich es ihm gesagt und das war gut so, für uns alle.“ Erst wäre der Schock natürlich groß gewesen, alles sei eingetreten, was da so in bestimmten Büchern zu lesen sei: Nicht wahrhaben wollen, verzweifelt sein, zornig. Warum ich? Aber dann hätte der Arzt sie an eine Palliativ-Medizinerin verwiesen. Mit der Ärztin hätten sie das letzte halbe Jahr besprochen: Was zu tun sei, was man noch machen könnte und vor allem, wie sie miteinander umgehen solle. „Sie können das als Familie nur gemeinsam schaffen! Und Sie schaffen das!“ Fabian meldet sich zu Wort: „und das mit dem gemeinsam schaffen, da war unser Vater auch mit dabei. Er gehört auch dazu.“ Und sie hätten das gemeinsam geschafft, die Familie und auch einige Freunde. Für den medizinischen Teil war die Ärztin zuständig; sie sorgte dafür, dass Wolfgang ruhig und schmerzfrei blieb. Alles andere, „die wichtigeren Dinge“, so Elke ein wenig lächelnd, war Sache der Familie: miteinander Zeit verbringen, nicht allein lassen, sich freuen auch und fröhlich sein, jeden Tag genießen. Ja, und dann überlegen, planen, besprechen, für den Tag des Todes und dann die Beerdigung. „Wir konnten nach einer Weile ziemlich offen und einigermaßen 141

unbeschwert dazu und darüber reden“, sagt Elke. „Und wir haben die Zeit miteinander genossen!“ Bevor ich hier einhaken und fragen kann kommt mir Fabian zuvor: „Das klingt jetzt sicherlich für sie etwas nach Schönfärberei, Herr Pastor, ganz so war das auch nicht. Ich hab doch gemerkt, wie verzweifelt und wie traurig du manchmal warst. Sie glauben gar nicht, wie unglaublich schwer es mir gefallen ist mit anzusehen, wie mein Vater immer weniger immer schwächer wurde. Ich hätte es laut rausschreien können – hab ich auch manchmal gemacht.“ Sarah ist in diesem Moment aufgestanden, rausgegangen, und Lea hinterher. Fabian geht zu seiner Mutter im Sessel, kniet vor ihr nieder und legt seinen Kopf in ihren Schoß. Elke sitzt da wie versteinert. Ich bin wieder verunsichert, denn erstens liegt da ein Leichnam, und zweitens zeigt gerade die ganze Familie starke emotionale Reaktionen. Ich bleibe sitzen und warte ab. Als alle wieder im Raum sind, erzählt Elke vom Leben ihres Mannes, sein beruflicher Werdegang, Zeiten des Kennenlernens und der Heirat, dann die drei Kinder, „insgesamt ein schönes Leben“, sagt sie, „ich bin sehr dankbar, dass ich ihn hatte“. Sie steht auf, geht auf den Leichnam zu, beugt sich vor und streichelt ihm die Wange. „Aber er wird mir fehlen, er fehlt mir jetzt schon; manchmal weiß ich gar nicht wie ich das aushalten kann“. Ganz leise sagt sie das, mit gebrochener Stimme. Die vier erzählen mir ausführlich von der letzten Zeit, den letzten Wochen und Tagen, als es immer schlimmer wurde mit ihm. „Aber gebt mich nicht ins Krankenhaus“, hätte er gesagt, „ich möchte zu Hause sterben und wenn's geht auch dann danach ein klein wenig bei euch bleiben.“ Und den Wunsch hätten sie ihm erfüllt. Als der Zeitpunkt des Todes nah war und dieser deutlich wurde, hätten Ihnen die Palliativmedizinerin und der Bestatter sehr geholfen. Beide wären gestern da

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gewesen, zur Feststellung des Todes und zur Erstversorgung des Leichnams. "Also mir war das total unheimlich", erzählt Fabian, "ich wusste gar nicht, was ich mit meinem toten Vater anfangen sollte. Ich hatte Angst vor dem! Aber dann kam der Bestatter und sagt zu mir: kannst du mir mithelfen deinen Vater zu versorgen! Und dann haben wir ihn versorgt, gemeinsam, der Bestatter hat mir gezeigt wie man das macht. So ein wenig kannte ich das ja noch von der Krankheit her; ich hab meinem Vater morgens immer den Rücken, die Brust, die Arme gewaschen, also mit einem feuchten Tuch abgerieben, hab ihn dann so ein bisschen noch eingerieben, damit der nicht wund wird. Und dann geht's für mich in die Schule. Aber das war so ein 'JedenMorgen-Ritual' für uns beide." Sie haben ihn nicht alleingelassen, seine Familie, seine Frau und seine Kinder. Auch dann beim Sterben, waren sie auch dabei. Er sei ganz ruhig eingeschlafen, ganz undramatisch, sie hätten es fast gar nicht gemerkt, dass er nicht mehr atmete. Sie haben dann die ganze Nacht an seinem Bett gesessen, 'gewacht', so hätten sie es gelesen, irgendwo, dass man das so macht, immer zu zweit, damit er nicht alleine ist. Und das hätte er sich doch gewünscht! Heute Abend werden weitere Familienangehörige vorbeikommen. Mit seinen beiden Brüdern ist schon abgesprochen, dass sie die Totenwache halten. „Uns haben auch ganz viele aus der Schule, aus der Nachbarschaft und von den Freunden angerufen; sie wollen von Wolfgang Abschied nehmen und sie finden es gut, dass er zu Hause noch aufgebahrt ist. Wir haben für morgen eingeladen, weil heute der Tag der Familie und ihres Abschieds sein soll.“ Anke erzählt mir vom weiteren Verlauf: Morgen Abend wird er abgeholt werden. Vormittags bringt der Bestatter den Sarg vorbei, zum Bemalen und Gestalten. Jede oder jeder kann etwas darauf malen oder schreiben, dem Wolfgang mitgeben auf 143

seiner Reise in die andere Welt. „Damit er da immer an uns denkt und uns nicht vergißt“, sagt Sarah. Elke klärt auf: Sie alle glauben an ein Leben in einer anderen Welt, in der die Toten leben und in der man sich wieder trifft. Und da hat Sarah einmal gefragt: Und wenn du da eine andere Familie bekommst und uns vergisst? Und da sei ihnen die Idee mit dem Sarg gekommen. Aber noch ist er aber hier und er braucht uns – so einmütig die Familie. Mich drückt ein Anschlusstermin, wir verabreden aber, dass ich am nächsten Tag noch einmal vorbeikomme. Wir hätten ja noch das eine und andere für den Gottesdienst in zwei Tagen zu besprechen, einschließlich der Wünsche Wolfgangs, und zudem kann ich bzw. können mich Besucher des Gottesdienstes und der Beerdigung kennenlernen. Ich sage also gern zu. Abends dann: Erst einmal das Ganze dokumentieren, dann Fragen stellen und einiges schon klären. Was habe ich erlebt, bei mir und den Angehörigen? Was ist mir neu gewesen, wirft Fragen bei mir auf? Wie kann ich die Zukunftserwartung verstehen und in christliche Eschatologie einordnen? Ich erlebte meine eigenen Vorbehalte, Distanzierungen und auch Abwehr und Widerstand vor dem, was dalag. Nun, es war nicht mein Angehöriger, sondern eben ein toter Körper eines Menschen, den ich zu seinen Lebzeiten nicht kennen gelernt hatte. Ich habe ihn nicht berührt, bin auf Abstand gegangen vor ihm. Der Abstand übertrug sich auch auf die Familie. Haben sie mehr von mir erwartet als meine recht sprachlose Gegenwart? Mein 'Programm' habe ich abgearbeitet, aber an den Stellen familiärer Emotionalität war ich nicht Teilhaber dieser Trauergruppe. Erstaunlich war die Selbstbeherrschung der Angehörigen. Ob sie mir gegenüber ihre Emotionen zurückgehalten haben? Oder ist das Weinen, die Verzweiflung, der Schmerz schon längst gelebt worden,

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so dass danach eingetretenem Tod eher ein diffuses Gefühl der Erlösung und der Hoffnung auf ein Wiedersehen im Vordergrund stehen? Und welchen Anteil hatte Wolfgang an dem Geschehen? Seine 'Wünsche' standen ja im Raum, mehr noch: Sein zu Lebzeiten ausgesprochener Wille 'lenkte' das Geschehen in diesem Raum. Das 'Ding', das dalag, war die immer noch aktiv bestimmende Größe, war also immer noch 'da'! Er war noch nicht 'ganz tot'! Das war das für mich Neue an dieser Begegnung mit der trauernden Familie: Wolfgang war ein Leichnam, aber für seine Familie war er immer noch ein Lebender. Die Vorbereitung auf diese Tage des Sterbens und des Todes haben dazu beigetragen, dass diese Familie eine für mich neue Form des Verhaltens und auch der Empfindungen leben konnte, als ich dies bis dahin erfahren hatte. Die familiäre Eschatologie war für mich kompatibel mit christlichen Glaubensinhalten. 'Wir erwarten die Auferstehung der Toten und Leben der zukünftigen Welt' (Et exspecto … et vitam venturi saeculi), dieser Glaubenssatz des Nicäno-Konstantinopolitanum wurde immer schon mit jeweils zeitgemäßen volksreligiösen Vorstellungen konkretisiert; in Wolfgangs Familie ist diese Vorstellung zudem nicht allein individuell gemeint, sondern auf gemeinschaftliches Leben bezogen. Ob diese Überzeugung etwas mit dem Umgehen mit dem Leichnam, also der besonderen Art der Gemeinschaftlichkeit zu tun hat: Was mit dir geschieht, der du jetzt gestorben bist, ist nicht nur deine Angelegenheit allein, sondern betrifft auch uns in gleichem Maße? Ich bin gespannt, was ich Morgen erleben werde. Als ich am nächsten Tag am frühen Nachmittag das Haus betrete, ist Wolfgangs Leichnam bereits eingesargt. Geöffnet steht der Sarg im Wohnzimmer der Familie, der Deckel steht daneben. Wer möchte, kann etwas darauf schreiben oder malen. „Und bis wir uns wiedersehen ...“, damit bin ich dann mit dabei in der Gemeinschaft der Kondolierenden. Oder derer, die auf ein Wiedersehen hoffen, oder derer, 145

die dem Toten ihre Solidarität, ihre Zuneigung und Freundschaft, ihre Gemeinschaft über den Tod hinaus vermitteln? Die Familie begrüßt mich wie einen guten Freund, mit Umarmung und „ab jetzt aber mit Du und Vornamen, bitte!“ Und: „Schön, dass Du da bist!“. Fabian nimmt mich an die Seite: „Darf ich dir Editha vorstellen? Sie hat mir geholfen, den Papa noch einmal zu waschen und zu salben, wie sie es nennt, bevor wir ihn dann in den Sarg gelegt haben.“ 'Wir' meint den Bestatter mit einem Gehilfen. Fabian hat Tränen in den Augen, warum, das weiß er nicht so genau, als ich ihn frage, wie es ihm geht. Irgendwie 'zum Heulen' schon, weil es heute ernst wird und er abgeholt wird. Aber auch, weil er ihn doch in der Zeit der Krankheit so oft gewaschen hat und eingerieben, und heute ist das das letzte Mal gewesen: „Und da hab ich so all meine Liebe reingelegt, und dann hat er mich angeschaut – also es kam mir so vor – als wollte er mir Danke sagen und dass es ihm gut geht und wir nicht so traurig sein sollen.“ Und dann war es an mir, den jungen Mann in den Arm zu nehmen. Editha stand derweil daneben. Sie ist Mitarbeiterin des Bestatters. „Eigentlich bin ich ja Sterbe- und Bestattungsbegleiterin, früher mal Bestatterin. Und weil ich gemerkt habe, dass die Menschen mit einem toten Körper so ihre Probleme haben hab ich mir gedacht, da hilfst du ihnen bei. Der Chef fand die Idee gut, das machten wir dann zum Bestandteil des Bestattungspakets.“ Die Versorgung des Körpers sei nicht nur Sache des Bestatters, sondern auch der Familie, zumal es sich ja scheinbar der Tote so gewünscht hatte. Und man brauche doch auch Zeit, zum Abschiednehmen, zum Loslassen. Editha setzt sich an den Esstisch, auf dem Kaffee und Kuchen stehen, und beginnt kleine Papierblumen zu basteln. „Die kann man dann Übermorgen in das Grab werfen“. Die Familie setzt sich dazu, die einen beginnen mit dem Blumenfalten, andere mit dem Eingießen des Kaffees in die Tassen. Wolfgangs Brüder sind mit ihren Familien dabei, einige Freunde und Arbeitskollegen; vor allem die Kinder hatte 146

ich nicht bemerkt, die sich mit ihren Eltern im Garten oder anderswo im Haus aufgehalten hatten. Ich nehme mit ein Blatt Papier und eine Tasse Kaffee. Diesmal kommen keine seltsamen Fragen in mir auf; Wolfgang ist Teil dieser Gemeinschaft auch wenn er nicht Kaffee mittrinkt. Ich lasse mir von Editha die Falttechnik erklären, die 'Handarbeit' beruhigt mich, und irgendwann beginnen wir über den Gottesdienst zu sprechen. Zunächst sagt die Familie, hier erweitert durch die Brüder und die Schwägerinnen, was sie nicht möchte: Starre Formen und Sprache, alte Lieder und eine rührselige Predigt. Wir werden neuere Lieder hören: 'You've got a Friend', 'Over the Rainbow', 'People get ready', und singen: 'Möge die Straße' und 'Meinem Gott gehört die Welt'. Ich habe keine Einwände, weil auch mir diese Lieder viel sagen. Die Familie und andere möchten sich an der Bestattungsfeier beteiligen, Fabian, Lea und Sarah etwas zu ihrem Vater sagen, Freunde und Arbeitskollegen aus der Kanzlei ebenso einen Text oder ein Gebet sprechen. Wolfgang hatte vieles vorbereitet und verfügt. Ich musste mich eigentlich nur noch als nur eine Art Coach betätigen und hier und da einen Ratschlag geben für bessere Formulierungen und herum feilen am Ablauf. Elke ist sehr still; beim Abschied wird sie mir sagen, dass sie bei dem Gottesdienst auf meine Beiträge setzt. „Du wirst schon die richtigen Worte finden!“ Editha hat derweil den Platz gewechselt; sie bemalt mit den Kindern den Sarg, mit hellen und leuchtenden Farben, und mit unterschiedlichen Motiven. Ich kann mich mit Anwesenden zu Wolfgang unterhalten. Anwalt ist der gewesen, ein guter, wie ein Kollege aus der gemeinsamen Kanzlei sagt, der auch dabei ist an diesem Tag. Engagiert, verständnisvoll, nicht nur ein Lohnschreiber, hat keinen über die Klinge springen lassen. Ein guter Anwalt und auch ein guter Freund. Wir sind alle schon ziemlich traurig, dass seine Krankheit gesiegt hat. Er wird uns richtig fehlen.

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Den ganzen Nachmittag bleibe ich bei der Familie und den Freunden. Ich fühle mich wohl und die Zeit vergeht im Flug. Schließlich dann Elkes Bitte: „Gleich kommt der Bestatter und holt Wolfgang ab. 48 Stunden war möglich aber länger darf er nicht hier bleiben. Könntest du ein kleines Gebet sprechen, einen Segen oder so etwas.“ Ich hab den 23. Psalm gebetet und einen altkirchlichen Segensspruch über Wolfgang gesprochen – unter Handauflegung, abschließend dann gemeinsam das Vater unser. Eine sehr andächtige Atmosphäre ist es gewesen, ich habe gemerkt, dass nicht alle das 'Vater Unser' mitgesprochen haben, aber alle waren dabei und keiner ist weg gegangen. Der gute Freund, mit dem ich eben noch gesprochen habe, bedankt sich für die Aussegnung: „Wissen Sie, ich glaub da ja nicht so richtig dran, aber das war gut so, das hat Elke und den Kindern geholfen.“ Auch Elke bedankt sich bei mir, bevor ich das Haus verlasse. Zuvor hat der Bestatter den Sarg geschlossen und ihn aus dem Haus getragen. „War doch richtig so, oder? Jetzt muss ich nur noch die Beerdigung übermorgen schaffen. Aber ich hab euch ja.“ Sie nimmt ihre Kinder in den Arm, die auch zur Tür gekommen sind. Fabian wirft mir noch einen dankbaren Blick zu – so interpretiere ich ihn, dann fahre ich nach Hause. Und wieder: Dokumentation und Reflexion des Erlebten. Die Beklommenheit vom Vortag habe ich heute nicht erlebt. Zudem gehörte ich zu dieser Gemeinschaft der Trauernden – und dies nicht allein auf dem Hintergrund der Du-Form der Anrede. Wie gestalten wir das, was Übermorgen auf uns zukommt, gut und richtig? So die Aufgabe, an deren Erfüllung ich auch mit meiner Profession, beteiligt war. Auch beteiligt war? In der Erinnerung fiel mir auf, dass ich zu den beiden Töchtern so gut wie keinen Kontakt hatte an diesem Nachmittag. Auch Elke hielt sich seltsamerweise stark zurück. Kontakte gab es 148

mit Fabian, Editha und mit Arbeitskollegen und Freunden Wolfgangs. Mit Ausnahme des Kontaktes mit Fabian thematisierten die Gespräche biografische Überlegungen und praktische Fragestellungen. Mir wurde klar: ich war als Pfarrer da gewesen, nicht als Freund oder quasi Familienangehöriger. Die vor uns liegende Aufgabe fixierte mich in dieser Rolle. „Du wirst schon die richtigen Worte finden!“ Das war von Seiten Elkes kein Vertrauensbeweis, sondern mehr ein Hinweis auf meine Aufgaben. Der Pastor war auch da, und er hat sich richtig Zeit genommen für uns. Diesem denkbaren Statement von Beteiligten füge ich hinzu: und deswegen hat sich der Pfarrer dort auch wohl gefühlt, in seiner Rolle, selbst wenn da Wolfgang noch körperlich gegenwärtig war. Aber wenn ich zudem dennoch Teilnehmender bin, also Teil der Gemeinschaft mit ihrer Aufgabe – Wolfgang zu bestatten? Nun wurde es mir deutlich: als solcher Teil mit einer ganz bestimmten Fähigkeit hat mich die Familie von Anfang an in die Gemeinschaft der Trauernden mit einbezogen. Gemeinschaft der Trauernden bedeutete für Sie, die Wünsche Wolfgangs zu erfüllen: Begleitung im Sterben, noch eine kleine Weile bei euch sein und dann Abschied und begraben. Es sind viele Leute gekommen, Arbeitskollegen, Klienten, Freunde Nachbarn und die Familie. Die große Trauerhalle auf dem Friedhof war gefüllt bis auf den letzten Platz. Die Stimmung war traurig, nicht wenige hatten Tränen in den Augen während der Abschiedsfeier – so nannte die Familie den Gottesdienst. Die Redner und Sprecher haben ihre Texte und Gedanken mit sehr viel Herz und sehr viel Zuneigung zu Wolfgang vorgetragen. Ich hoffe meine Aufgaben auch gut erledigt zu haben. Dass persönliche Empfindungen mit in die Ansprache und die Gebete einflossen und wahrscheinlich auch stimmlich bei mir zu hören waren, und dass mir dann bei 'You've got Friend' und 'Somewhere over the Rainbow' wie allen anderen die Tränen in die Au149

gen schossen, empfand ich nicht als 'faux pas': ich war ja ein Teil und nicht nur ein Teilnehmender der Bestattung. Elke und ihre Kinder hatten ihre Gefühle unter Kontrolle, während der Abschiedsfeier und dann am Grab flossen einige Tränen. Aber sie wirkten sehr gefasst. Dennoch empfand ich die Atmosphäre als sehr herzlich und mitfühlend: Man umarmte sich, manchen Trauergästen musste Elke Trost zusprechen. Zum Schluss gehe ich zur Familie um mich zu verabschieden. Sie nehmen mich in ihre Mitte: „Danke, dass du das mit dem Wiedersehen im Himmel gesagt hast.“ Sarah drückt mich ganz fest. Leah hat Tränen in den Augen: „Und dass unser Vater ein Geschenk Gottes war.“ Fabian fragt mich: „Hast du auch einen Sohn?“ – „Mehrere sogar“ – „Dann einen schönen Gruß an sie. Sie sollen stolz sein auf ihren Vater – so wie ich auf meinen“. Zuletzt schaut mir Elke etwas länger in die Augen: „Ja, du hast auch geweint. Der Wolfgang hat es doch verdient, dass wir um ihn weinen. Danke für deine Tränen“. Sie umarmen mich gemeinsam, dann trennen wir uns. Mitten drin statt nur dabei – dieser Werbespruch fiel mir nachträglich ein. Sie haben auch mich hinein genommen in ihr Begraben des Ehepartners und Vaters. Sie brauchten meine Fähigkeiten als bestattender Pfarrer, sie brauchten mich als Teil ihrer Aufgabe: Aber sie brauchten mich auch als einen, der mit ihnen weint, der mit ihnen trauert. Deshalb waren auch meine Tränen gut und richtig und echt, als Tränen der Solidarität, des Mit- und Nachfühlens, wenn ich mich in ihre Situation versetze. Und weinen, weil Wolfgang es verdient hat, weinen bei einem traurigen Lied. Was ist, wenn wir nicht mehr weinen … ? Ein paar Tage später schellt Elke an der Pfarrhaustür. „Ich wollte dir etwas vorbei bringen, einen Text, den Wolfgang einmal geschrieben

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hat. Ich wollte ihn dir schon vor der Beerdigung geben. Aber irgendwie war da nicht die Gelegenheit, und außerdem wollten wir es nicht jemand geben, der … Hier bricht Elke ab, lächelnd: „Und ein paar Pralinen für deine gute Arbeit. Der Text ist auf eine Platte aufgezogen; er ist die Kopie einer handschriftlichen Notiz. Er ruht wohlverwahrt in meinem Bücherschrank, wenn es an der Zeit ist, werde ich ihn aufhängen. Aber vielleicht ist er ja ein guter Abschluss Deiner TrauerFallGeschichten, lieber Michael, es ist an der Zeit, ihn zu veröffentlichen: bleibt bei mir und seid mir solidarisch in meinem sterben nehmt mich in die arme aber haltet mich nicht fest geht liebevoll mit mir in meinem leichnam um lasst mich in ihm noch eine kleine weile bei euch bleiben zuhause aufgebahrt damit ich zeit habe von euch abschied zu nehmen und hinüber zu gehen in ein anderes land lasst musik und licht um mich sein auch lachen und ein wenig oder etwas mehr auch ein fröhlich sein redet untereinander und spielt ich möchte euch zuhören feiert ein abschiedsfest mit musik und liedern 151

gedenkt meines lebens was gelungen und was nicht aber sprecht nicht zu mir denn ich bin auf dem weg anderswohin haltet wache, damit nicht der böse feind nach mir greift wascht mich oft und salbt mich mit wohlriechenden ölen das alles bis zum zweiten Tag dann lasst mich los und gebt mich aus den händen am dritten Tag wird der Ewige sich mir zuwenden und dann begrabt mich auf dem friedhof zur erinnerung an mich für euch und für andere erinnert euch gerne so wie ich es tun werde bis wir uns dann wiedersehen ...

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Zwischenbemerkungen Die hier vorgelegte Studie ist zwischen 2014 und 2018 entstanden. Begonnen wurde sie als theologische Dissertation am Lehrstuhl für Praktische Theologie (Homiletik, Liturgik und Poimenik – Prof. Dr. Isolde Karle) der Ev.-Theologischen-Fakultät der Ruhr-Universität Bochum unter dem Arbeitstitel: "Zur sozialen Bedingtheit von Trauer und der Funktion der kirchlichen Bestattung". Im Anschluss an meine kurz zuvor abgeschlossene soziologische Dissertation (Häußler 2012) und im Blick auf die unten im vierten Kapitel dargestellten Veränderungen der Thanatopraxis und Bestattungskultur stellte sich die Frage nach der Gründung und der Wirkung eines gerade auch in der Ev. Kirche dominierenden populären, individualistischen Trauerbegriffs. Die Ergebnisse meiner soziologischen Forschungsarbeit legten nahe, am empirischen Material eine alternative, weil soziale Vorstellung von Trauer und Bestattung gewinnen zu können, und wohl auch: zu müssen. Mitte 2016 musste ich aus gesundheitlichen Gründen auf eine zeitlich weniger limitierte und zudem von Prüfungsleistungen entlastete Abfassung einer Monographie zugehen. Einen Vorteil dieser Form der Veröffentlichung meiner Forschungsergebnisse sehe ich heute in der Freiheit, mich jenseits kompendiöser Attitüde auf meine in der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse konzentrieren zu können. Einzelne, nach meiner Ansicht bedeutsame und bis dato mitunter wenig beachtete Beiträge aus der Breite der Forschungslinien zum Thema wurden zur Begriffsfindung herangezogen.

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Wichtig und wertvoll für mich war es, dass ich meine Forschungsarbeit auch weiterhin im Kontakt zum Lehrstuhl durchführen konnte. Mein Dank gilt den am 'Praktisch-theologischen Forschungskolloquium' Teilnehmenden, den Studierenden, den Mitarbeitenden und der Lehrstuhlinhaberin für ihr Interesse, für verständnisvolles Zuhören, wohlwollende und weiterführende Kritik, positive Bestärkung und auch: für freundschaftliche Zuwendung. Im Spätherbst 2016 begann ich meine Mitarbeit an einem Konzept für Sterbe- und Trauerbegleitung am Ort meiner Berufstätigkeit, dem Johanniter-Stift in Dortmund. Dies ließ mich im ergänzenden Kontrast zum akademischen Umfeld manche Fragen noch einmal anders stellen und der Forschungsarbeit eine pragmatischere Zielrichtung geben. Manch tiefergehendes Nachdenken mit auch für mich verblüffenden Pointen verdankt sich dieser Zusammenarbeit. Für die Praxis stellte sich die Frage nach einer theoretischen Begründung konkreter Handlungsabläufe in der Arbeit des Stiftes, m.a.W. nach der Relevanz der so begründeten Praxis und damit seiner Funktion. Den am Arbeitskreis Teilnehmenden und vielen Anderen gilt mein Dank. Ein 'Danke' geht an meine Interviewpartner und Informanten: Die Lebendigkeit ihrer Erzählungen hat dieses Buch mitgeschrieben. Viele Denkanstöße und neue Einsichten verdanke ich ihnen, vor allem Anderen dies eine: Es ist wichtig von der Trauer zu erzählen, in Lachen und Weinen, in Erinnerung und Hoffnung, in Dankbarkeit und Wertschätzung, in Liebe und in Traurigkeit ... Ich begann mit der Darstellung von Trauerfallgeschichten als dem ersten Kapitel und namengebenden Hauptteil dieser Forschungsarbeit. Um das Ergebnis der Analyse (Kap 2) narrativ darzustellen, erzählte ich im ersten Kapitel aus dem Material 12 Geschichten. Mit ihnen sollten unterschiedliche Aspekte der Bestattung pointiert zum Ausdruck gebracht werden. Die Grunddaten und -aussagen der Geschichten sind dem Ergebnis der jeweiligen Einzelfall-Analyse entnommen. Hierzu hatte ich in der ersten Phase der Forschung biogra154

fisches Material zusammengetragen und in Form narrativer Interviews, leitfadengesteuerter Befragungen und anderer Formen qualitativen biografischen Materials (persönliche Berichte, Gesprächsprotokolle u.a.) erhoben. Methodisch wurden die dargestellten Fallgeschichten durch Veränderungen und Erweiterungen zwecks Anonymisierung umfassend maskiert. Die Anordnung der Geschichten unterlag keiner tiefer gehenden Systematik. Die interessierte Leserschaft war eingeladen, in ihnen eigene Erfahrungen zu entdecken, das Gelesene mit eigenen Erfahrungen zu kontrastieren, eigenes Weiterdenken an dieser Stelle zu beginnen. Wer das Buch nach dem Lesen dieses Kapitels an die Seite legt, wird alleine aus der Lektüre der Geschichten für das eigene Erleben nicht nur im Trauerfall Gewinn ziehen. Das zweite Kapitel dieser Arbeit beschäftigt sich mit der Analyse, der Deutung und der Systematisierung der in den Fallgeschichten zur Sprache kommenden spezifischen Empfindungs- und Verhaltensweisen und ihrer sozialen, lokalen und temporalen Kontexte. So stellten sich aus den Erzählungen heraus im Zusammenhang einer Bestattung ganz bestimmte Orten und Zeiten als für das Erleben und Handeln im Trauerfall bedeutsam, wenn nicht gar konstitutiv dar. Verhaltensweisen an diesen Orten schienen im 'behavior setting' des jeweiligen soziolokalen Kontextes begründet zu sein. Solche 'empfindungsbildenden' Kontexte korrelierten mit ihnen inhärenten personalen Beziehungen (Familie, Freundeskreis …) und daraus sich ergebenden spezifischen Interaktionen. In den Geschichten wurde hier und da von Trauer gemäß eines vorgegebenen Verständnisses dieses Begriffs erzählt, aber auch von einer Vielzahl anderer Empfindungen und daran anschließender Verhaltensweisen. Ich traf zwei Entscheidungen: 'Trauer' wurde an dieser Stelle nicht definiert und damit Material ausgesondert. Ich ging vielmehr davon aus, dass mir die Informanten grundsätzlich von ihrer Trauer erzählt haben und diese nicht jenseits

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von in den Geschichten genannten raumzeitlichen Kontexten verortet werden sollte, sondern primär in ihnen. Das dritte Kapitel stellt ein neues (altes) Verständnis von Trauer vor, das sich am anglophonen Begriff 'mourning' anlehnt. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass die in der Analyse gewonnenen Erkenntnisse nicht mit dem Trauerverständnis einer individuellen Verlusterfahrung in Einklang zu bringen waren. Dieses erwies sich für den Befund als zu eng gefasst und somit in weiten Bereichen des Empfindens und des Handels im Zusammenhang einer Bestattung als irrelevant. In Bezug auf die oben formulierten 'Entscheidungen' legte sich sich ein erweitertes Verständnis von 'Trauer' nahe. Dieses konnte in Aufnahme der im zweiten Kapitel dargetellten Ergebnisse formuliert und in der weiteren Diskussion zur Funktion der so definierten Trauer und der Bestattung präzisiert werden. Gefunden wurde ein Trauerbegriff, der ältere und (durch die seid Freud entwickelte Dominanz anderslautender Vorstellungen) 'vergessene' Definitionen der Trauer durch die Durkheimschule (Robert Herz und Emile Durkheim) aufnimmt. Die aus archaischen ClanStrukturen gewonnenen Erkenntnisse zu Erleben und Handeln im Trauerfall erwiesen sich erstaunlicherweise als aussagekräftig für 'trauernde' Menschen moderner Zeiten, um Erleben und Handeln im Prozess der Bestattung sachgemäß zu beschreiben. Das praktische Ausgangs-'Problem', das mich zur Aufnahme der Forschungen bewegte, wird im vierten Kapitel der Arbeit aufgenommen. Es zeichnet die starke Veränderung der Bestattungs-Kultur innerhalb der letzten 14 Jahre nach: Veränderung des Verständnisses vom Tod, d.h. unserer Todesbilder, Veränderungen des Selbstverständnisses der Menschen in Sicht auf den eigenen Tod und den Tod des Anderen. Im letzten, fünften Kapitel werden die möglichen Konsequenzen dieses 'neuen' Bildes von Sterben, Tod und Trauer und der rituellen Bestattung für Individuen und Kollektive bedacht und diskutiert. 156

Die vorliegende Arbeit will als Denkanstoß für ein soziales Verständnis von Trauer und als ein Plädoyer für Öffentlichkeit und Sozialität im Umgang mit den Toten verstanden werden. Als unverzichtbar erwiesen sich in der Praxis dabei überkommene ritualisierte Formen, die in einer Zeit der auch ökonomisch so gewollten Individualisierung und Privatisierung von Sterben, Tod und Trauer die soziolokalen Kontexte des überkommenen Rituals einer Bestattung und der mit ihnen verknüpften Erlebens- und Verhaltensmuster nachvollziehen. Wiedergewonnen werden können damit die immer noch geltenden und, weil als stärkend und bereichernd erfahren und erstrebt erzählt, 'lebendigen' Funktionen und Bedeutungen einer so verstandenen Trauer und Bestattung für den Umgang mit Sterben und Tod in Kollektiven und Individuen. Die religiösen und konfessionellen Reminiszenzen als auch theologische Erwägungen in dieser Arbeit begründen sich in meiner Biografie als evangelischer Theologe und Pfarrer. Vor genau 40 Jahren habe ich nach dem Studium in Bochum das 'Erste Theologische Examen' abgelegt. Seitdem habe ich als Seelsorger und dann erst mitunter auch als Zeremonienmeister mehr als tausend Gestorbene bestattet und Hinterbliebene begleitet. Der Blick der Darstellung ist deshalb vor allem auf den Prozess einer evangelischen Bestattung fokussiert – freilich ohne damit eine Abwertung anderer Bestattungsformen vornehmen zu wollen. Und mein Blick ist auf das gerichtet, was in der christlichen Dogmatik als die 'letzten Dinge' bedacht wird. Nach Offb. 21 sind es 'neue Dinge', auf die die Hoffnung schaut: Ort, Zeit und Gemeinschaft, in denen keine Tränen mehr sind. Das (im Wortsinn) abschließende 'Credo' sei als mein ganz persönliches Bekenntnis verstanden.

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Kapitel 2: Analyse Die TrauerFallGeschichten haben von Empfindungen, Handlungsweisen, Verhalten und Arten des Miteinander zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und mit unterschiedlichen Menschen im Erlebnisraum einer Bestattung eines nahen Anderen erzählt. Dies alles wird nun im Zusammenhang wahrgenommen und einander zugeordnet.

Dimensionen Die Interviewpartner erlebten den Komplex der Bestattung mit anderen Personen in Raum und Zeit. Die Bestattung als 'Ganzheit' hat leib-haftige, räumliche, zeitliche und soziale Dimensionen. Diese werde ich im Folgenden skizzieren.

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Die temporale Dimension  

Der Analyse des Materials sei als eine erste bedeutsame Erkenntnis entnommen: Der Tod eines Anderen initiiert einen Prozess des Erlebens und Verhaltens zwischen Tod und Beerdigung; dieser Prozess ist definitorisches Merkmal einer (kirchlichen) Bestattung. Dieser Prozess ist primär zeitlicher Art; er beinhaltet spezifische prozessbezogene, aufeinander folgende Interaktionen und unterschiedliche Verlaufsformen. Er ist manifest begrenzt, hat einen Anfang und ein Ende. Beginn und Abschluss des Prozesses definieren seinen Inhalt und seine Funktion, d.h.: In diesem Prozess läuft das Geschehen sinnhaft ab, verfolgt einen Zweck, hat ein Ziel. Die Akteure sind in Zweck und Ziel eingebunden. 159

PAUL verweist auf sein Erleben der Zeit der Bestattung als eines für ihn positiven Prozesses, wie er es nennt: Und durch diese mehreren Tage war das eigentlich ein Prozess in dem man da so in den Tod so hineinwuchs. ja. Dieser Prozess als qualifizierte Zeit ist für ihn gut, und er ermöglicht ihm eine würdevolle Vorbereitung und Durchführung der Abschiedsnahme von der Mutter. Er beginnt mit Pauls Berührung des noch warmen toten Körpers der Mutter im Sterbebett, und er endet mit dem Erdwurf am Grab bei der Grablegung als sinnhafte Abschiedsnahme. Und auch nach dem Abtransport des Leichnams durch den Bestatter sind für ihn in der Woche bis zur Beerdigung des Leichnams Zeit gegeben, vieles zu regeln: Organisatorisches mit dem Bestatter, Gespräche mit dem Pfarrer, Absprachen in der Familie, Einladungen zur Trauerfeier und zum anschließenden Kaffeetrinken, Auflösung der Wohnung und Regelungen des Nachlasses. Zeit ist zudem, sich mit diesem Tod auseinanderzusetzen, ihn für sich alleine oder auch mit anderen gemeinsam zu deuten, mit dem Tod in gemeinsamer Aktion um zu gehen, in ihn, wie er sagt, hineinzuwachsen, was wohl auch heißt: an ihm zu wachsen. SARAH verknüpft die eigene Lebensgeschichte und die der Gruppe mit dem Tod des Freundes. Die Freunde feiern ihren Schulabschluss. Hier ist Benny das letzte Mal in der Gruppe, denn kurz darauf erhalten die Freunde die Nachricht seines Todes. Nach der Trauerfeier auf dem Friedhof sitzt die Gruppe noch ein letztes Mal zusammen, um sich dann nicht mehr zu treffen. Der Abschied vom Freund wird von Sarah zeitgleich mit dem Abschied der Gruppenmitglieder voneinander wahrgenommen. Personalisiert erzählt sie den Freund als das zusammenhaltende Element der Gruppe, mit dessen Tod auch diese Gemeinschaft 'stirbt'. Der Verlauf des Gruppenprozesses legt sich in Sarahs Erzählung über den Prozess der Bestattung. Wie ist dies möglich? Zum einen rahmt der Gruppenprozess den der Bestattung in einem sehr engen Zeitfenster. An der Stelle eines Leichenschmauses trifft sich die Grup160

pe in ihrem Raum. Dieses Nachtreffen ist zum einen dem Bestandteil einer traditionellen Bestattung nachempfunden, zum anderen korreliert dieses Treffen mit der Schulabschlussfeier. Sarah erzählt die Zeit zwischen diesen beiden Terminen als gefüllt mit Vorbereitungen der Gruppe für die Beerdigung. Sie besucht im Auftrag der Gruppe Bennys Eltern, die Freunde sprechen miteinander ab, was gemeinsam oder alleine zu tun sei. Zum Abschiednehmen vom Freund trifft sich die Gruppe noch einmal als Gemeinschaft. Auch ALEX erzählt die Zeit des Bestattungsprozesses als Gemeinschaftserlebnis. Es ist für die Träger des Sarges eine gemeinsame Zeit, in der sie sich als Gruppe auf ihre besondere Aufgabe vorbereiten. Die so vollzogene Abschiedsnahme vom toten Freund entwickelt und stärkt die Identität der Gruppe. Auch HEINER erlebt den Prozess der Bestattung als einen mehrschichtigen Komplex. Zwei Prozesse folgen einander: Da ist zunächst die Bestattung nach altem Ritual in Remagen bei den Eltern, die Nachbarn werden zur Trauerfeier mit den beiden Särgen eingeladen und anschließend gibt es Kaffee und Kuchen zu Hause. Für die Nachbarn ist dies der Abschluss der Bestattung, weil für sie eine anonyme Bestattung folgt. Der zweite Prozess der Bestattung orientiert sich an der geplanten besonderen Form der Beisetzung im Garten. Heiner erzählt zwar über die Wochen zwischen diesen beiden Terminen als Zeit der Vorbereitung auf das Abschiedsfest, ich vermute aber, dass er seinen normalen Tätigkeiten und Tagesabläufen nachgegangen ist. Dieser längere Teil im Prozess der Bestattung stellt eine Art Moratorium dar: Die Form der Feuerbestattung macht dies nötig und ermöglicht dies. Der Prozess kann ruhen, bis er aufgenommen wird in der Beisetzung im Garten. In der von FRIEDRICH erzählten Geschichte Wolfgangs und seiner Familie beginnt die Vorbereitung auf den Prozess bereits mit der Kenntnisnahme der tödlichen Erkrankung. Die Familie nutzt diese 161

Zeit zur gemeinsamen Gestaltung des Sterbens und des Todes. Die Fallgeschichte erzählt eine besondere Beteiligung des Toten an dem Prozess im Modus seines Leichnams. MORITZ zieht sich in der Zeit der Bestattung offenbar aus dem Prozess zurück. Er geht 'aus dem Feld', um dann doch wieder eingeholt zu werden: Er erzählt die Zeit als eine der Auseinandersetzung mit dem Tod des Bruders, der Erinnerung und des Rückgriffs auf religiöse Ressourcen zur Bewältigung: Moritz lernt wieder zu beten. Die Zeit des Prozesses zwischen Tod und Begräbnis wird lebensgeschichtlich gefüllt. Die Hinterbleibenden werden als Akteure Teil dieses Prozesses. Ihre Person wächst in diesen Prozess hinein, Entwicklungen und Verläufe werden eingetragen. Der Prozess gewinnt eine persönliche Form und damit Relevanz und Sinn.

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Die lokale Dimension  

PAUL beschreibt sein Erleben des Bestattungsprozesses als innerhalb eines Erlebens- und Verhaltensraums. Dieser Prozess-Raum, so seine Erfahrung, bestimmt und umgrenzt für die Hinterbleibenden als ein 'größeres Ganzes' Erleben und Verhalten in dieser Zeit. Er 'beherrscht' die 'Raum-Zeit' der Trauernden auch in der Ferne, wie Andreas und Moritz eindrucksvoll erzählten, er umfasst aber zugleich auch die Trauernden (die wegen dieser Einbettung Trauernde sind), sondert sie von anderen Räumen ab und schafft einen Schutzraum. Dieser soziale, temporale und auch lokale Prozess-Raum dient der praktischen Vorbereitung auf die Bestattung und damit ihrem Sinn und Zweck. Er schenkt Paul Raum für Erinnerung und Blick in die Zukunft, Raum zur Kommunikation, Raum zu Neuorientierung geschwisterlicher Gemeinsamkeit, Raum des sich wieder Findens in der Gemeinschaft. Zugleich schränkt er Maries Lebensfreude und die der 163

Schwester Esthers ein. Und insofern die Bestattung in ihrem Prozesscharakter auf den Abschluss des Begrabens als finale Manifestation des Faktums der Irreversibilität des Gestorbenseins des Anderen hinausläuft, eröffnet er zugleich Raum eines darüber hinaus blickenden Weiterlebens als Hinterbleibende. Er ist retro- und prospektiv ausgerichtet. Der Prozess verläuft freilich in den Fallgeschichten in unterschiedlichen Räumen und zu unterschiedlichen Zeiten: Im Altenpflegeheim oder Krankenhaus, in der eigenen Wohnung, im Bestattungshaus, in Wohnungen der Gestorbenen oder der Angehörigen, auf dem Friedhof, im 'Geburtstagssaal', beim Cliquentreff, bei den Eltern der Toten, auf dem Friedhof und am Grab, in der Gaststätte oder im Garten der Angehörigen. PAUL hat die Zeit, noch einmal zum Krankenhaus zu fahren, dort seine Mutter noch einmal zu sehen und zu berühren. Er 'erlebt' den Tod seiner Mutter im Sterbezimmer, in dem der Leichnam verbleibt, bis er dann auch aus zeitlichen Gründen herausgeschafft werden muss und der Wahrnehmung und des Umgangs durch die Hinterbleibenden entzogen wird. ESTHERs Familie besucht mehrfach den aufgebahrten Leichnam des Großvaters im Bestattungshaus. Für SARAH ist der Gruppenraum ein entscheidender Ort des Prozesses der Abschiedsnahme. Und selbst für MORITZ, der sich scheinbar dem Prozess der Bestattung des Bruders entzieht, nimmt diesen gerade in diesem Entziehen mit in die Gemeinsamkeit des Wohnens mit der Freundin. Der Prozess-Raum der Bestattung realisiert in seinen Räumen und Zeiten seine Aufgabe und seine Funktion. Das heißt aber, dass all diese Räume mit Personen und Gefühlen bestimmter Art korrelieren. Beim aufgebahrten Leichnam im Hause des Bestatters werden andere Gefühle und Nachdenklichkeit laut als beim Gespräch mit dem Pfarrer. Die Rolle des Pfarrers für das Gefühlsleben der Angehörigen ist in der Trauerfeier dann wieder eine andere als beim Besuch in der Pri164

vatwohnung. Man darf sagen: Jedes temporal-lokale Setting beherbergt die Teilnehmenden mit ihren Empfindungen und ihrem Verhalten quasi in seiner eigenen Liturgie, seinem jeweils eigenen Ritual, d.h. Muster und Skripte des Verhaltens und darin zugleich der veräußerlichten Empfindungen. Innerhalb des jeweiligen Settings können die Muster des Verhaltens und Empfindens durchaus variieren, es sind aber Ausprägungen einer gemeinsamen Grundvariablen; dies wird weiter unten herausgearbeitet. Wir erleben die Söhne HEINER und PAUL beim Bestatter und bei biografischer Arbeit mit dem Pfarrer. Was dort an Handlung geschieht und als Empfindung erlebt wird, entspricht der Aufgabe der jeweiligen Professionen: Die Versorgung des Leichnams, die organisatorische Vorbereitung der Trauerfeier in der Trauerhalle, die Vorbereitung der Liturgie der Totenriten und der Ansprache durch den Pfarrer, der dazu Informationen über die Gestorbene benötigt. PAUL 'brieft' den Pfarrer, und erzählt ihm zugleich die Lebensgeschichte seiner Eltern, HEINER erzählt ein analoges Setting der biografischen Arbeit. PAUL erzählt von seinen Tränen, HEINER von Gefühlen der Dankbarkeit und Liebe, wehmütiger Erinnerung und Hoffnung auf Zukunft. Auch bei den Erzählungen der Enkeltöchter MARIE, POLINA und ESTHER zum Ort und der Zeit der Grablegung sind große Übereinstimmungen zu identifizieren. Diese manifestieren sich im Kontrast ihrer Verhaltensweisen. Den Zusammenbruch, den ESTHER erleidet, möchte sich POLINA ersparen. Dahinter steht die gemeinsame Frage nach der angemessenen Form der Veräußerlichung von Trauer, in diesem 'behavior setting' (Barker) durch das – auch gemeinsame – Weinen. Beiden ist auch bewusst, dass Traueräußerungen im Zusammenhang einer größeren Öffentlichkeit (im Gegensatz zu familiären und kleingruppigen Kollektiven) bestimmten Skripten und Vorgaben folgt. 'Stehen eigene und authentische Empfindungen hinter diesen Formen?' Das ist die gemeinsame Frage. 165

Die soziale Dimension  

Der Prozess der Bestattung wird von den Akteuren grundsätzlich als sozial erlebt. Diese Sozialität ist nicht zufällig. Sie ist der sozialen Struktur geschuldet, in denen Tote und Hinterbleibende gemeinsam gelebt haben: z.B. Familie und Freundeskreise und Arbeitskollegen (vgl. aber Kap 4). Diese Sozialität ist öffentlich sichtbar bzw. wird betont sichtbar gemacht und sichert Zuweisungen von Zugehörigkeit und Status durch eine größere Öffentlichkeit. Weitere Akteure sind beteiligt, mit denen die Hinterbleibenden in Kontakt treten und mit denen sie interagieren und kommunizieren: Arzt, Bestatter, Pfarrer, Gäste der Trauerfeier, Eltern, Familie und Freundin. Der Prozess verlangt den Einsatz persönlicher und gemeinsamer Ressourcen, also 'Arbeit', Sorgfalt, Anstrengung, Vorbereitung. Er fordert 166

und fördert die Gemeinsamkeit der Geschwister / der Freunde. Bestattungspflichtige haben sich im Prozess der Bestattung zusammen zu tun. Für ALEX ist die Gemeinschaft der Freunde in Sicht auf die gemeinsame Aufgabe bei der Beerdigung konstitutiv. Sowohl PAUL als auch ALEX und SARAH wird in diesen Sozialitäten aus unterschiedlich Gründen aber wegen der biografischen Nähe zur/zum Toten (das älteste Kind, der engste Freund, die letzte Freundin) die Aufgaben der Leitung und Organisation zugesprochen. Der Prozess der Bestattung provoziert und ermöglicht durch das Zurverfügungstellen von Zeit biografische Arbeit als Auseinandersetzung mit vergangener und zukünftige Geschichte der Verstorbenen und der Hinterbliebenen. die Formulierung von Wertschätzung und Anerkennung und Artikulation des Verlustes. Was in der Trauerfeier und Trauerrede erinnerlich zur Sprache gebracht wird, hat für PAUL seine Gründung in dieser Zeit der Bestattung und der darin stattfindenden Kommunikation (z..B. mit dem Pfarrer). SARAH berichtet hier von einem höchst sozialen Vorgang: miteinander Weinen, Erinnern, Reflektionen, über den Tod nachdenken, sich auf Zukunft ausrichten, dafür ist Zeit in diesem Prozess und auch danach mit guten Freunden (HEINER) und, noch viel später, im Interview (MORITZ). Erst hierdurch gelingt, was dieser Prozess zum Ziel hat: Die wertschätzende Bestattung der Toten. Alle Informanten berichten von der Gemeinsamkeit der Trauer. Dies beinhaltet durchaus unterschiedliche Motive, die den Empfindungen zu Grunde liegen mögen. Aber man trifft sich beim Besuch des Leichnams, am Sarg, am Grab und auch später in der liebevollen Erinnerung. Diese liebevollen Erinnerungen müssen zugleich auch liebevoll sein, weil es hier um das gemeinsame Ganze geht. Es gibt welche, die ausscheren, aber die haben zunächst mit dem Prozess der Bestattung nichts zu tun. POLINA verweist auf den Grundsatz eines 'de mortuis nihil nisi bene'. Sie hätte durchaus kritische Anmerkung zum Leben ihrer Großmutter, aber diese stellt sie nun im Prozess der Bestattung und der Gemeinsamkeit der Familie zurück. Das Beispiel 167

Inge zeigt, wie im Verlauf des Prozesses der Bestattung dem ungeliebten Ehemann dennoch – auch durch die Arbeit der Pfarrerin – eine liebevolle Rückerinnerung zuteil wird. Letztendlich wird im Ritual der Trauerfeier die Gemeinsamkeit der Trauernden zum Wohl der Toten als auch der Gemeinschaft sowohl dargestellt als auch gelebt und erlebt. Ich werde auf diesen grundsätzlichen Aspekt des Bestattungsprozesses noch einmal zurückkommen. PAUL kann resümieren: Die eigentliche Beerdigung die war für mich das größte daran. Das war wirklich der Punkt wo alle da saßen mhm und wo keiner mehr weggegangen ist . Und was problematisiert hat . Und abschied genommen haben . also das fand ich . Für mich persönlich war's der wichtigste Teil . Eigentlich . also so als Abschluss.

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Die leib-haftige Dimension  

  Der Prozess der Bestattung und seine Funktion haften an der Körperlichkeit des Leichnams. ESTHER erzählt, wie sie zunächst die Veränderungen in der Körperlichkeit ihres Großvaters feststellt. Diese Beobachtungen machen sich am Gesicht fest, und dies nicht allein deshalb, weil bei der Aufbahrung nur das Gesicht zu sehen ist, sondern weil in diesem Gesicht die erkennbare Persönlichkeit des Großvaters abgebildet wird. Es ist das Gesicht, an dem wir Menschen erkennen, das seine Identität veräußerlicht. Wenn sich dieses Gesicht verändert, sich verfremdet, verändert und verfremdet sich auch seine ganze Person. Bei ihren mehrfachen Besuchen erlebt Esther gerade diese Verfremdung (s.u.).

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Eine zweite Dimension der Verfremdung ist der Verlust der Körperwärme. Esther erfährt dies bei der Berührung seiner Hände, die eiskalt sind und nicht mehr jene warmen Hände, mit denen er begrüßt, gesegnet und vielleicht auch zärtlich die Enkeltochter getröstet und aufgerichtet, ihr Geborgenheit und Wärme vermittelt haben mag. Nimmt der Tote selbst Abschied, körperlich und leibhaftig, und 'begründet' (im Wortsinn) damit die Abschiednahme seiner Familie dies auch von sich aus tut? Und da haben wir dann endgültig von ihm Abschied genommen. Auch ALEX nimmt gemeinsam mit Enzos Eltern, deren Einladung er folgt, Abschied vom Freund beim Besuch des aufgebahrten Leichnams. Visuell hatte er die Veränderungen des Freundes schon sehr früh wahrgenommen: bereits in der Zeit der Krankheit hätte er ausgesehen wie eine Mumie, zusammengefallen, kreidebleich, wie ein Schreckgespenst. Aus seiner Perspektive 'ex eventu' weiß Alex, dass das Aussehen des Freundes das des Sterbenden war. Der tote Körper, der da vor ihm liegt, ist das Ende dieses Prozesses des Sterbens und des Todes und nun die Manifestation des nicht mehr Lebendigseins. Alex wollte seinen Freund als Lebendigen in Erinnerung behalten. Wie ESTHER nimmt auch er aber den Tod als Leichnam seines Freundes leibhaftig wahr. Das in seiner inneren Provinz der Trauer archivierte Bild seines Freundes wird gemeinsam mit Enzos Eltern sein Leichnam sein, und dann auch das des lebendigen Enzo als Erinnerung an gemeinsames Leben. ANNA kann keine Erinnerungen dieser Art an ihr totes Kind haben, denn es hat nur in ihrem Körper gelebt. Durch den medizinischen Eingriff hatte dieses Kind zudem keine körperliche Gestalt außerhalb des Mutterleibs: ANNA spricht von Überresten, die mit denen anderer Kinder in einem gemeinsamen Sarg beigesetzt werden. Dennoch sind für ANNA diese Fragmente eines zerrissenen ungeborenen Körpers die leibhaftige Repräsentation ihres Kindes, wie sie für sich als persönlich Betroffene und auch andere Mütter hervorhebt! Es 170

sind für die Mütter, die am Grab ihrer Kinder stehen, nicht unpersönliche 'Fehlgeburten', deren Überreste nun entsorgt werden. Es sind die Leichname von im Sinn des Wortes 'signifikanten' Anderen, deren 'Verlust' die Mütter beklagen. Die Signifikanz ergibt sich aus der beidseitigen Zuschreibung von Leben und Identität. Am Grab ist ANNA die Mutter des Kindes und nicht – allein – eine Frau mit einer 'Schwangerschaft mit abortivem Ausgang'. Reziprok wird dem Kind Leben und – wenn auch zerrissene und unvollständige – Leiblichkeit zugesprochen. ANDREAS muss ohne diese Körperlichkeit auskommen, die im Ritus der Bestattung manifest wird. An der Bestattung seines Freundes kann er aber nicht teilnehmen. Eine Abschiednahme findet nicht statt, Christian ist aus ANDREAS' Leben gelöscht, nicht aber aus dessen Erinnerung, die sich täglich erneuert und Fragen nach dem Grund seines Sterbens stellt.

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Das leib-haftige 'Gesamt'  

Die raum-zeitliche Struktur des Bestattungsprozesses rahmt nicht allein für den Vorgang des Erzählens das Empfinden, Erleben und Verhalten im Todesfall und fügt die einzelnen Komponenten der Bestattung zu einem konsistenten Ganzen zusammen. Empfinden und Verhalten werden auch konkret als auf den Gesamtzusammenhang bezogen erlebt. Leben und Erleben sind auf die Aufgabe und das Ziel der Bestattung ausgerichtet. Schwarze Bekleidung im Trauerfall war neben der Zuschreibung des Trauerstatus für die Hinterbleibenden ein Hinweis auf die besondere Zeit der Bestattung eines Anderen. Es ist die 'Woche der Bestattung', und dieses 'größere Ganze' rahmt sowohl das situative als auch das erinnerliche Erleben in dieser Zeit zu

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einem Gesamtbild. Dieses Bild will nicht die ganze Wirklichkeit des Lebens in dieser Zeit abbilden, aber die der Bestattung. Nicht erst in erzähltechnischer Gliederung des Erlebten, sondern bereits in situativer Interaktion und in Strukturen gemeinsamen Verhaltens wird Wirklichkeit gebildet, in diesem Fall die erlebte und dann auch erzählte Wirklichkeit des 'Todes'. Diese Gesamtheit bzw. das 'größere Ganze' (allerdings: ich möchte vom 'Gesamt' innerhalb eines raum-zeitlichen Feldes sprechen statt von 'Ganzheit') als Charakteristikum des Bestattungsprozesses erfährt in FRIEDRICHs Fallgeschichte seine leibhaftige Manifestation. Erzählt wird dort die außergewöhnliche Form der Aufbahrung des Leichnams Wolfgangs über 48 Stunden im eigenen Haus. Die raumzeitlichen und sozialen Kontexte der Bestattung sind hier definiert durch die Gegenwart des Leichnams. Er ist nicht nur schlicht aufgebahrt, sondern er ist der leib-haftige, durchgehend bleibende Kern des Prozesses der Bestattung als Gesamt. Mehr noch: Er ist das Konstitutivum des Bestattungsprozesses. Was in diesen Tagen geschieht, geschieht auf ihn hin, und in der Erzählung der Fallgeschichte von ihm her. Interaktionen, Kommunikationsformen, Gespräche in Inhalt und Thema, alles bezieht sich auf ihn, sein Sterben und begraben werden. Er ist der Attraktor des 'Gesamt'. Die Hineinbeziehung der unterschiedlichen Settings und Kontexte unter ein Dach haben diesen Mittelpunkt noch einmal unterstrichen. Was in Friedrichs Fallgeschichte explizit verdeutlicht wurde, kann im Blick auf andere Fallgeschichten verallgemeinernd ausgesagt werden; gerade für Andreas' ist das Gesicht des toten Freundes der Attraktor des Erlebens: Der Leichnam in seiner leibhaftigen Gegenwart ist die entscheidende, weil unabhängige Variable des Bestattungsprozesses. Ohne ihn keine Bestattung! Diese Feststellung beinhaltet, dass der tote Körper nicht allein als Objekt der Bestattungsbemühungen der Lebenden, sondern in seiner leibhaftigen Personalität in gleichem Maß als Subjekt 173

des Prozesses der Bestattung verstanden werden kann. Der Leichnam ist die Manifestation des 'Gesamt', ungeachtet des realen Umgangs mit ihm. Trotz dieser Hineinbeziehung der verschiedenen Settings in das nicht allein lokale 'Gesamt' des 'Trauerhauses' waren jeweils spezifische Empfindungs- und Verhaltensweisen aber erkennbar. Gerade auch in dieser fast 'aufdringlichen' Einheit und Gesamtheit waren die Differenzierung der einzelnen Setting-Arrangements deutlich. Auch hoch emotionale Äußerungen zum Tod des nahen Anderen waren an Zeit und Ort gebunden. Auch in dominierender Präsenz des Leichnams setzen sich die auf den Zweck der Bestattung ausgerichteten Strukturen und Ordnungen im Ablauf der Settings und innerhalb des einzelnen Setting durch.

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'Settings' – Empfindungen und Verhaltensweisen Eine Bestattung erwies sich als eine Folge unterschiedlicher Sozialitäten, Orte und Zeiten, d.h. unterschiedlicher Settings; die Trauerfeier mit Grablegung ist eines dieser Settings. Der 'Rahmen' umfasst das Ganze der Bestattung, Erleben und Verhalten geschieht in den von mir so benannten 'Settings'. Der Begriff ist der Theorie des 'behavior setting' des Lewin-Schülers (zu Kurt Lewin s.u.) Roger Barker entliehen; sie besagt: Menschen verhalten sich in Umgebungen in jeweils spezifischer Weise, auf dem Sportplatz z.B. anders als in der beruflichen Welt. Es ist naheliegend, einen solchen Zusammenhang auch für die unterschiedlichen sozialen, lokalen und temporalen Kontexte der Bestattung zu unterstellen. In Sicht auf das 'Gesamt' der Bestattung habe ich zuvor die Vermutung ausgesprochen, dass Ablauf und Inhalt der Settings auf den Zweck der Bestattung ausgerichtet sind. Am Material ist dies zu verifizieren, ob und inwieweit die unterschiedlichen Settings für das Erleben und Handeln im Trauerfall bedeutsam, wenn nicht gar konstitutiv waren und Empfindungen und Emotionen sogar zweckorientiert steuerten. Es wird später gezeigt werden, dass im Zusammenhang einer Bestattung entstehende Trauergefühle quasi einem Drehbuch folgen, also funktional ausgerichtet sind. Die von Durkheim festgestellten Funktionen der Trauerriten sind in der Moderne einer Verinnerlichung anheimgestellt. Eine Bestattung lässt niemanden unberührt. Denn immerhin: ein Mensch ist gestorben und andere sind davon betroffen. Aus der Sicht ferner Stehender oder auch stärker Betroffener wird von unterschiedlichsten Empfindungen und Verhaltensweisen berichtet. PAUL erzählt mehrfach davon, im Verlauf des Prozesses der Bestattung allein und mit Anderen gemeinsam geweint zu haben und dies bei anderen beobachtet zu haben. 'Trauer' als Gefühl wird von ihm 175

aber nicht eigens thematisiert, sondern scheint mit der Verhaltensform des Weinens verknüpft. Paul erzählt von weiteren Empfindungen und Erfahrungen wie Entlastung, Geborgenheit in der Gemeinschaft, Liebe und Zuneigung, Wehmut und Verlust, Gedenken und Dankbarkeit, Sinngebung, Verpflichtung und Ordnung, Anerkennung und Wertschätzung, Ende und Abbruch, Abschiednahme und Zukunftsperspektiven. Und Paul berichtet dabei von Gemeinsamkeit der Empfindungen, die er z.B. mit den Geschwistern teilt oder mit denen er sich im Gespräch mit dem Pfarrer akzeptiert weiß. Als Individuum erlebt und lebt er seine Empfindungen und Erfahrungen in seiner Teilnahme am sozialen Prozess der Bestattung. Diese Gefühle verbinden ihn mit den Geschwistern und mit Anderen in diesem Prozess. POLINA spricht von sehr diffusen bis komischen Empfindungen und dabei vom Weinen schon angesichts der Krankheit und später des Todes der Großmutter. Weinen als Verhaltensform der 'Trauer' wird für sie aber zum Thema als Verhalten bei der Beerdigung und als Gefühl im Leben danach in der Erinnerung an die Großmutter. Sie erzählt, wie sie mit den Trauernden gleichen Alters (Cousinen) darüber berät, ob am Grab zu 'heulen' sei und wie sie dies vermeiden könnte. Trauer als spezifisches Gefühl nach der Bestattung empfindet sie als Gefühlsnorm, die von außen an sie herangetragen wird, der sie aber nicht folgen kann und will. Sie lehnt es ab, über die Bestattung hinaus Trauernde zu sein. ALEX erzählt von unterschiedlichen Gefühlen und entsprechendem Verhalten und Handeln in den unterschiedlichen Settings des Bestattungsprozesses. Der Tod seines Freundes erschüttert ihn, als er davon erfährt. Seine Empfindungen beschreibt er als irgendetwas zwischen Schockstarre und Nichtglauben-Wollen. Für die darauf folgende Zeit der Bestattung erzählt er aber nicht mehr von eigenen Empfindungen und Emotionen. Diese sind in das Verhalten und Handeln des Freundeskreises implementiert. Die Zeit des Bestattungsprozesses ist be176

stimmt durch die gemeinsame und z.B. durch ein großes Grabgesteck öffentlich gemachte 'Trauer' der Freunde. Die Clique setzt sich zusammen, bereitet sich auf ihre Aufgabe bei der Trauerfeier vor (Tragen des Sarges), sorgt für ein Blumengebinde am Grab. Gemeinsam gehen sie zum Friedhof, sitzen in der Trauerfeier in der ersten Reihe und legen großen Wert darauf, in der Öffentlichkeit der Trauerfeier als Trauernde und Hinterbliebene angesprochen und durch Kondolieren gewürdigt zu werden. Von der Familie Enzos werden sie schon in die Vorbereitungen der Trauerfeier einbezogen. ANDREAS ist nicht in Vorbereitungen einer Bestattung einbezogen. Aber dennoch erlebt er die Zeit bis zur Gedächtnisfeier auch ohne Leichnam und rituelle Vorgänge als einen Prozess eigener Fragen und fehlender Antworten. Er beschreibt diesbezügliche Empfindungen als an diese Zeit gebunden. ALEX erzählt auch von Empfindungen Anderer (mit denen gemeinsam er die eigenen Gefühle erlebt): Die Atmosphäre bei der Trauerfeier bezeichnet er als traurig und niederdrückend, so dass die halbe Kapelle weinte. Die dem Toten entgegengebrachte Wertschätzung und Anteilnahme durch die große Zahl der Besucher der Trauerfeier konnte nach seinem Gefühl dagegen die Trauer überdecken, weil in ihr das Gute und Rechte getan wurde: weil liebevolle und wertschätzende Worte für den Toten laut wurden, und weil die Freunde durch ihr Blumengebinde in Form eines Kreuzes und vor allem durch ihr Tragen des Sarges an das Grab dem Freund leibhaftig und tatkräftig einen letzten Freundschaftsdienst erwiesen haben. Mit den Freunden teilt er das Gefühl, Enzo würdevoll und angemessen bestattet und von ihm Abschied genommen zu haben. Wie für PAUL ist auch für ALEX die Grablegung das Ende solcher Trauer: Die erste Bürde die da auf einem lastete in dieser ganzen Zeremonie und so weiter () die ist erstmal erledigt. In der Coda fasst er seine Gefühle sehr persönlich und in Unabhängigkeit vom Bestattungsprozess zusammen: Enzo fehlt ihm 'leibhaftig' als Person und Freund: Das ist im 177

Prinzip das was () mich bis heute mehr oder weniger verfolgt () einfach denkt () früher einfach auf dem Weg () durch geklingelt () einfach nur gelabert, Belangloses, aber war so hm () einfach mal quatschen () das fehlt (2) Und daran merkt man es halt dass so ein Stück vom Leben zack einfach raus () ende (4) Ja. Die Informanten erzählen von Variationen der Empfindungen und Verhaltensformen innerhalb der Kontexte der Bestattung. Spezifiziert werden kann diese Erkenntnis durch den dem Material entnehmbaren Befund, dass innerhalb der einzelnen Settings jeweils spezifische Empfindungen nachweisbar sind. So erleben PAUL, HEINER, MORITZ und MARIEs Familie beim Besuch des Pfarrers die gemeinsame Aufgabe der Biografie mit gemeinsamen Gefühlen (Liebe, Ehrerbietung). Diese Zuordnung von Empfindung und Verhalten zu den unterschiedlichen Settings wird im Folgenden vorgenommen. Exkurs: Weinen und andere Gefühlsausbrüche „Wenn überhaupt bei einem Trauerbrauch, so dürfen wir bei dem Weinen und der Wehklage erwarten, dass wir Ihnen auch bei den meisten anderen Ethnien begegnen, da sie eine natürliche Kundgebung der menschlichen Empfindungen darstellen.“ (Stubbe 1985: 21). Weinen ist eine unmittelbare körperliche Reaktion und Verhaltensweise auch in allen Settings der Bestattung. Alle Informanten berichten davon, selbst geweint oder andere weinen gesehen zu haben. Man hat miteinander geweint, oder ist eingeladen worden in das Weinen der Anderen mit einzustimmen. POLINA und MARIE haben sich dagegen gewehrt und sind stumm geblieben. POLINA stellt sich sogar Fragen nach der Qualität ihrer Trauer angesichts dessen, dass ihr nicht dauerhaft zum 'Heulen' zumute ist. ESTHER wiederum kontrastiert ihr eigenes Bild der Trauernden, d.h. weinenden und zusammenbrechenden Angehörigen mit dem Bild ihrer am Grab lächelnden

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Schwester. Für PAUL ist nicht nur das gemeinsame Weinen in der Trauerfeier das einzigartige Zeichen für die Trauer. Zu weinen heißt zu trauern – vice versa. Für ALEX hingegen sind Ort und Zeit des Weinens allein die Trauerfeier und Bestattung. Aufgrund einer traurigen Stimmung des Settings weinen die Anwesenden. FRIEDRICH weint im Gottesdienst bei emotional ansprechender Musik. Sich berühren oder gar mitreißen lassen von den Äußerungen der Anderen oder vom Gesamt der Situation mag ihn dazu bewegt haben. Nun ist „das Weinen im Allgemeinen […] eine unspezifische Reaktion“ (op.cit. 16), d.h. Weinen hat keinen Grund, sondern physiologische Ursachen (ohne tiefer in die Thematik einzudringen – siehe dazu Stubbe 1985: 15ff). Gründe des Weinens werden sekundär und situationsorientiert konstruiert: Ich empfinde Trauer, weil ich in einem ganz bestimmten Setting weine und mein Weinen als Trauer bezeichne. Der Lewin-Schüler Stanley Schachter formuliert diesen Sachverhalt folgendermaßen: "Ein emotionaler Zustand kann als Funktion eines physiologischen Erregungszustandes und einer diesem Erregungszustand angemessenen Wahrnehmung angesehen werden. Die Wahrnehmung übt gewissermaßen eine steuernde Funktion aus. Kognitionen, die sich aus der unmittelbaren Situation ergeben, wie sie durch die vergangene Erfahrung interpretiert werden, liefern den Rahmen, in dem man seine Gefühle versteht und etikettiert. Es ist die Wahrnehmung, die bestimmt, ob der Zustand der physiologischen Erregung als "Wut", "Freude" oder was auch immer bezeichnet wird." („... an emotional state may be considered a function of a state of physiological arousal and of a cognition appropriate to this state of arousal. The cognition, in a sense, exerts a steering function.. Cognitions arising from the immediate situation as interpreted by the past experience provide the framework within which one understands and labels his feelings. It is the cognition which determines whether the state of physiological arousal will be labeled 'anger', 'joy' or whatever.“ – Schachter 1964: 50f) 179

Die physiologische Reaktion des Weinens ist kulturell mit der Bestattung verankert und als 'Trauerbrauch' verpflichtender Teil des Totenrituals geworden. Sehr eindrücklich skizzierte Durkheim diese Verknüpfung: Totenriten wollen zum Weinen anregen. D:h.: Weinen ist eine erwartete, weil im Vollzug hervorgerufene Reaktion der Teilnehmenden (Durkheim 1912: 532ff). Das Entstehen von Weinen wird nicht dem Zufall überlassen, sondern im Ritus quasi provoziert, in den Totenriten der Durkheimschen Studie u.a. durch die äußerliche Zufügung von Schmerzen, in einer moderneren Trauerfeier durch die entsprechende Atmosphäre, in der 'die gesamte Kapelle trauert' (so Alex), oder auch eine emotional ansprechende Predigt des Pfarrers. Um des Toten willen und seines richtigen Übergangs in das Reich der Toten wird sichergestellt, dass um ihn geweint wird, weil doch 'der Verlust durch seinen Tod groß ist, der Schmerz der Hinterbleibenden unermeßlich'. Die Funktion des Trauerweinens wäre damit beschrieben. Spezifische Differenzierungen sorgen dafür, dass die Intensität der Gefühlsäußerungen je nach Status, Alter und Geschlecht variiert. ESTHERs Fallgeschichte deutet darauf hin, dass derartige Normen des Trauerns in Abstufungen auch heute noch durchaus ihre Wirkung zeitigen. Sie erzählt von Gegensätzen des Verhaltens: Ihre Mutter verliert bei der Konfrontation mit der Leiche völlig ihre Fassung. Esther selbst zeigt kein solches Verhalten, sondern erzählt die eigene Beteiligung als interessierte Beobachterin. Stattdessen macht sie die erschreckende Erfahrung der Gegenwart des Toten im Traum, die Schwester genießt zur gleichen Zeit das Nachtleben in der Stadt. Esther bricht' auf dem Weg an das Grab 'zusammen' – Näheres zu dieser körperlichen Reaktion erfahren wir nicht –, ihre Schwester begrüßt freudig lächelnd die Kondolierenden. Diese Gegensätze skizzieren die mögliche Bandbreite des individuellen Verhaltens im Falle des Todes des Anderen. Gemeinsam ist diesen Gegensätzen, dass diesbezügliche Muster des Verhaltens durchaus tradiert wurden; diese aber sind heutzutage in der Praxis scheinbar unverbindlich. D.h.: die Beteiligten 180

sind im Verstehen der Äußerungen ihrer Gefühle auf sich selbst gestellt, und in dieser Selbstverantwortung treffen sie Absprachen, wie POLINA berichtet, oder sie schließen sich bestehenden Formen an und stimmen z.B. ein in den Chor der Klagenden. Oder Sie gehen dem nach, was ihnen im Moment am Herzen liegt und wichtig ist. Nun scheint aber dem ersten Eindruck nach das richtige Benehmen im Fokus zu stehen, und so könnte ESTHER zum Ausdruck gebracht haben, was in den Gegensätzen als extreme Verhaltensausprägungen nicht angemessenes Verhalten kennzeichnet: Fehlende Selbstkontrolle einerseits und Missachtung der Ernsthaftigkeit der Situation andererseits. Dagegen stehen präzise Anweisungen des Verhaltens, m.a.W. Trauernormen, zu denen die Trauernden verpflichtet sind, um als Trauernde zu gelten, und um zum zweiten bei der Bestattung richtig zu trauern um des Toten willen. Es ist aber nicht das rechte Verhalten, das ESTHER einfordert, sondern es ist die rechte Art des Trauergefühls, das sie erwartet, und nach dem auch POLINA fragt. Deren „trauere ich richtig?“ meint nicht Verhaltensweisen, sondern Einstellungen, Empfindungen, verinnerlichte Trauer, die es dann freilich nach außen drängt. In dieser Weise versteht ESTHER ihren Zusammenbruch auf dem Weg durchaus positiv und situativ angemessen: Er ist die authentische Veräußerlichung ihrer inneren Gefühlslage: der tiefe Schmerz ob des Verlustes. Die Mutter dagegen, der die Tochter in ihrer extremen Verhaltensweise folgt, tut für Esther des Guten zu viel: Sie erntet für ihr Stöhnen und Klagen den Hinweis auf die Institution der 'Klageweiber', die die Tiefe des Schmerzes durch die Intensität des Verhaltens erst noch inszenieren. Eine solche Inszenierung könnte Esther ihrer Mutter unterstellen. Ist also einerseits den individual-innerlichen Empfindsamkeiten freier Raum zu lassen, so kann andererseits gerade solches Verhalten in seiner extremen Ausprägung innerhalb dieses Raumes die Grenzen des Angemessenen überschreiten und ist deshalb der persönlichen Kontrolle und Einschränkung zu unterziehen. Wie sind 181

die (für beide Extreme gültigen externen) Verhaltensnormen und die individuelle Freiheit des Ausdrucks der Gefühle in Einklang zu bringen? Die Theorien von Norbert Elias und Cas Wouters können die Ambivalenz im Empfinden und Verhalten Esthers ein wenig erhellen. Norbert Elias hatte im Zusammenhang des Prozesses der Zivilisation eine Verschärfung von Normen und Vorschriften des Umgangs erkannt. Zusammen mit dieser Verschärfung konstatierte er eine Verlagerung der Kontrollfunktion über die Angemessenheit von Verhalten in die Verantwortung des Individuums („der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang“ – Elias 1997: 323ff). Die Zunahme solcher Affektkontrolle geschieht durch Erziehung als Aneignung eines jeweils sich gesellschaftlich verändernden Habitus. Die formalisierten Codes des Verhaltens werden zugleich mit ihrer ‚eingebauten’ Kontrollfunktion internalisiert. Wer man war, zeigte sich im 'Benehmen'. Elias hatte ja zudem entdeckt, dass Verhaltensregeln innerhalb eines gesellschaftlichen Beziehungsgeflechts die Funktion der Distinktion hatten, „sich weiterhin von anderen zu unterscheiden, aus dem Wunsch, das größere Prestige zu behalten“ (op.cit.: 66). Formalisierung von Verhalten war also ein Element zur Erhaltung des gesellschaftlichen Machtgefälles (s.u. Höpflinger 2017). Mit einem Abbau dieses Gefälles ging eine „Verringerung der Kontraste“ des Verhaltens, aber eine „Vergrößerung der Spielarten“ einher (Elias 1939: 353f). Es waren die kleinen und feinen Unterschiede des habituellen Verhaltens, die zum Instrument der Distinktion wurden. Cas Wouters (Wouters 1997 – vgl. Häußler 2012: 41ff) stellte quasi als gegenläufige Tendenz gesellschaftlicher Entwicklungen in den 1960er und 1970er Jahren in europäischen Staaten eine „Informalisierung“ der Verhaltensregeln fest und damit einhergehend eine „Abnahme bzw. Verschwinden von Verhaltens- und Affektkontrollen“

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(Wouters 1997: 70). Die Formalisierung von Verhaltensregeln (strikte Regeln von dem, was man darf und was nicht – Wouters untersuchte dazu Benimmregeln) wurde aufgeweicht. Die Normen des Verhaltens wurden flexibler gehandhabt, die Beurteilung von Abweichung (Kontrolle) weniger rigide (Wouters 1997: 68). Die Umgangsformen wurden in den Bereich der individuellen Kommunikation und Interaktion, einer quasi kollektiv-autonomen und diskursiven Entscheidung verlegt. Wie konnte dies in die Eliassche Theorie des Zivilisationsprozesses eingeordnet werden? Wouters konstatierte für die Entwicklung der 1960er und 1970er Jahre eine Weiterentwicklung hin auf ein „neues Ideal“ einer Selbststeuerung des Verhaltens aus eigener Kraft, die sich gegen von außen kommende Normen, Regeln und Zwänge richtete. Die Begriffe ‚Selbstverwirklichung’ und ‚Selbstentfaltung’ wurden zu Kampfbegriffen des Protestes gegen einstmaligen Zwang und Unterdrückung (op.cit.: 70). Trotz des Zurückweisens 'veralteter' Verhaltensvorschriften „als Zeichen von Unterdrückung“ (ebd.) blieben aber dennoch weiterhin Verhaltensregeln und Manieren im Umgang der Menschen miteinander gültig: „Man zwang sich selbst, zum Teil unbewusst, und ‚automatisch’, zu den gesellschaftlichen Regeln, die so von ‚außen’ nach ‚innen’ verlegt wurden. [...]. Sie waren für alle selbstverständlich geworden und ins Gewissen aufgenommen worden.“ (ebd.). Mehr noch: Wo äußerliche, in Verhaltensvorschriften sich manifestierende Distinktionen im gesellschaftlichen Machtgefüge zunehmend an Bedeutung verloren, gewannen zugleich „die Manieren, mit denen die Menschen mit sich selbst und mit anderen umgehen, [...] verhältnismäßig an Gewicht, unter anderem als Waffen in ihrem Wettkampf um Status und Prestige“ (op.cit.: 74). Wouters (op.cit.: 78) kann so resümieren: Die Veränderungen im dominanten Muster der Affektkontrolle zeigen, dass der Zivilisationsprozess seine Richtung nicht verändert hat. „Alles in allem schei183

nen die Anforderungen, die kraft der dominanten Umgangsformen an die Affektkontrolle der Menschen gestellt werden, gestiegen zu sein“ (op.cit.: 80). Neben Lockerungen dominanter Umgangsformen ist ein „Anstieg der Anforderungen an die Selbstregulierung der Beteiligten im lockeren Umgang“ festzustellen. „Die selbstverständlichen Erwartungen, die die Menschen in Hinblick auf die eigene Selbstkontrolle und die der anderen hegen (sind) geradezu umfangreicher, detaillierter und starrer geworden. Wouters überprüfte diese Schlussfolgerungen in einem weiteren Abschnitt anhand der Veränderung des Trauerverhaltens. Trauersitten ‚bewegen sich’ je nach Gesellschaft zwischen den Polen „einer stark institutionalisierten Verpflichtung und dem Ausdruck eines stark individuellen und persönlichen Gefühls“ (op.cit.: 98). In den westlichen Gesellschaften hat dabei im 20. Jahrhundert eine Verschiebung von einer stark institutionalisierten Trauer hin zu einer persönlichen Seite des Trauerns stattgefunden. Trauerverhalten wurde individuell, intim, personal und privat. 'Verschwanden' aber damit der Tod und damit das Verhalten Hinterbliebener aus der Öffentlichkeit der Gesellschaft (so Aries 1980: 715ff)? Wouters (op.cit.: 100; siehe auch 106) entdeckte für das Verhalten beim Tod eines Menschen das „Paradox eines wachsenden öffentlichen Interesses an Sterbenden und Trauernden, die sich in die Privatsphäre zurückziehen“. Diesen „scheinbaren Widerspruch“ (op.cit.: 106) zwischen öffentlichem Interesse und Privatisierung begreift er als Prozess von Informalisierung (op.cit.: 108). Die Verhaltenskontraste verringerten sich und die Empfindlichkeit für die Authentizität der Gefühle nahm zu. Verhaltensregeln schlugen vor, „solche Emotionen doch auf keinen Fall zu unterdrücken und zu verdrängen“ (op.cit.: 106). Aber „auf der anderen Seite“ sind die Menschen „empfindlicher geworden für die geringsten Zeichen von mangelhaft kontrollierten Gefühlsäußerungen, die als bedrohlich erlebt werden (für die eigene ausgeglichene Affektkontrolle, die eigene Gemütsruhe). Entsprechend dieser ge184

wachsenen Empfindlichkeit stellen die Menschen höhere Anforderungen aneinander und an die eigene Selbstkontrolle in diesem Bereich. Zugleich erfahren sie in den Trauerritualen einen Druck von anderen, die Gefühle der Wut, des Kummers und der Angst zu bezwingen und sie nach einem festen Muster zu äußern, wie eine Zwangsjacke. An dem festen Muster erleben sie nämlich zu viel an Unterdrückung und Verdrängung von persönlichen Nuancen dieser Emotionen. Obendrein wird ein derartiger Fremdzwang immer stärker als erniedrigend erfahren, als eine Unterschätzung ihres eigenen Vermögens, die sozial verlangte Affektkontrolle aufzubringen und an den Tag zu legen. Man will diese Emotionen selbstständig bekunden und sie aus eigener Kraft meistern, sogar so, daß man sie auf eine persönlichere Weise äußern kann, als das im traditionellen Ritual möglich war, ohne jedoch mit ihnen jemandem lästig zu fallen oder peinlich zu berühren: eine wahre ‚Kunst’. Der derzeitige Verhaltensstandard bezüglich der Trauer erfordert also eine stabilere, differenziertere und umfassendere Affektkontrolle“ (ebd.). Wouters fasst seine Gedanken ähnlich Elias und Höpflinger unter dem Aspekt der Distinktion zusammen: „Nicht länger in der ‚Größe’ des Begräbnisses und in der ‚Vornehmheit’ der Trauer, sondern vor allem im Vorbringen der persönlichen Nuancen, so feinfühlig und doch so ‚natürlich’ wie möglich, will man sich in seiner individuellen und sozialen Identität anerkannt sehen.“ (op.cit.: 110). Sind einerseits „Schreien, Schlagen, Zusammensinken“ (Lammer 2010: 13) Nuancen persönlichen Schmerzes und der Trauer, so erwecken solche überschwänglichen Gefühlsäußerungen nicht nur bei ANNA und ESTHER doch den Verdacht des 'showmaking'. Von den höchst individuellen Akteuren wird gerade in der persönlichen Verantwortung für das Verhalten die wirksame Kontrolle der Emotionen erwartet. Man ist also Trauernden gegenüber empfindlicher geworden für die geringsten Zeichen von mangelhaft kontrollierten Gefühlsäußerungen. Die Umwelt erwartet nicht mehr trauergerechtes Verhalten, aber entsprechende 185

Gefühle und damit insbesondere die Kontrolle ihrer Veräußerlichungen. Vor allem das Klagen und das Weinen ist damit angesprochen. In den Settings von Trauerfeier und Beerdigung beziehungsweise Grablegung ist in vielen Kulturen das Weinen und Klagen als kontrollierte Gefühlsäußerung erlaubt, wenn nicht gar liturgisch fest verankert ('Wir setzen uns mit Tränen nieder' – J.S.Bach: MtPassion). In weiteren Settings ist aber eine solche genaue Zuordnung des Weinens und Klagens zu bestimmten Kontexten der Bestattung nicht möglich. Wo PAUL z.B. beim Gespräch mit dem Pfarrer in der Erinnerung an seine Eltern weint, erzählt HEINER gerne die Geschichte vom hochgezogenen Fahrrad und von der Reaktion seines Vaters. Geweint wird, wo, wie und wann den Weinenden 'zum Heulen' zumute ist. Die Gründe des Weinens werden dabei divergieren. Zu vermuten ist sogar, das Weinen nicht einmal einen bestimmten Grund haben muss, wenn weinen auf einen Zustand von Erregung als Ursache reagiert. SARAH ist neben ESTHER die Interviewpartnerin, die während des Interviews weint. Beide haben dazu ihre recht unterschiedlichen Gründe und Situationen. SARAH weint am Ort des letzten Gruppentreffs; ihre Tränen sind eng verbunden mit ihrer Erinnerung an dieses Treffen und das Lied von Eric Clapton (bezeichnenderweise: Tears in heaven). Sogar FRIEDRICH 'weint' aufgrund eines ihn emotional bewegenden Liedes. In ihrem Kommentar bezieht Elke dieses Weinen auf die 'verdiente' Wertschätzung Wolfgangs durch den bestattenden Pfarrer: Weinen geschieht für die Gestorbenen! Da ist keine Trauer, wenn nicht geweint wird! Weinen – so darf als Erkenntnis aus dem Material gefolgert werden – als emotionales und zugleich traditionelles Verhalten in einem Trauerfall ist aber unspezifische und meist auch unkontrollierte Begleitung anderer Empfindungen und Verhaltensformen im Prozess der Bestattung. Deshalb kann selbst im gleichen Kontext nicht auf die 186

gleichen Empfindungen geschlossen werden, wenn in ihm geweint wird, m.a.W.: Die physiologischen Ursachen des Weinens dürfen nicht mit Emotionen und ihren Gründen verwechselt werden. Insofern ist das Weinen ein relativ fragwürdiger Indikator für individuelle Trauer, sehr wohl aber für Traueräußerungen im Ritual. Diese Äußerungen werden dabei als authentisch erlebt. Dies mag freilich nicht für alle Empfindungen gelten. Das Material zeigt folgendes auf: Im Blick auf das einzelne Interview werden sehr unterschiedliche Empfindungen, so wie deren Inhalte und Ausrichtungen mit oder ohne Begleitung des Weinens in den einzelnen Kontexten erzählt. Im Blick auf das Sample aber sind in den Erzählungen der Informanten zu einzelnen Kontexten beziehungsweise Settings ähnliche bis gleiche Gefühlsäußerungen und Verhaltensweisen zu identifizieren. Dieser Befund lässt vermuten, dass innerhalb des jeweiligen Settings bestimmte gemeinsame Empfindungen der Personen in Bezug auf das Erleben des Komplexes von Tod und Bestattung in besonderer Weise provoziert, wenn nicht gar generiert werden. Dies verweist auf je nach Setting variierende Basisvariablen, also im Setting inkorporierte oder zum Ausdruck gebrachte, Gefühle hervorrufende Ursachen. Zu denken ist an psychologische Grundbedürfnisse, deren Erfüllung oder Störung im Setting manifest ist oder erlebt wird, Grundbedürfnisse zum Beispiel nach Sicherheit, Ordnung, Gemeinschaft, Anerkennung, Selbstbezüglichkeit, Kontrolle, 'privacy'. Die nun folgende Deskription der Empfindungskomplexe innerhalb der einzelnen Settings soll Zweierlei erreichen: Zunächst ist eine umfassende Wiedergabe der Empfindungslagen angestrebt. Zwischen Empfindung und Verhalten ist dabei sinnvollerweise zu differenzieren, deshalb werde ich versuchen Empfindungen und Gefühle der Akteure mit ihrem Verhalten und Handeln im jeweiligen Setting nachzuzeichnen. Ein Pflichtgefühl zu empfinden bedeutet noch nicht dieser Pflicht dann auch nachzukommen. In PAULs Fallgeschichte kommen die beiden Brüder Paul und Bodo ihrer Pflicht zur Bestat187

tung insofern nach, als sie mit den Geschwistern diese Pflicht gemeinsam annehmen und gemeinsam lösen. Die beiden Brüder ziehen dabei den anderen Geschwistern gegenüber 'an einem Strang', und die Kinder von Berta N. können sich deshalb auf eine einheitliche und einvernehmliche Form der Bestattung und der Finanzierung einigen. Zudem möchte ich den jeweiligen Settings beziehungsweise Kontexten Basisempfindungen zuordnen. Ich verstehe sie – in Anleihe an ein quantitatives Forschungsdesign – als Centroide je eines Clusters. Unterschiedliche Bedürfnislagen können dann auf jenes Grundbedürfnis zurückgeführt werden. Weitere identifizierbare und dem Cluster zuzuordnende Empfindungen können als Variation bzw. Ausprägung dieses Centroids gewertet werden. Neben der Deskription der einzelnen Kontexte beziehungsweise Settings mag es schließlich möglich werden, einen allgemeinen Ablauf der emotionalen Anteile eines Bestattungsprozesses nachzuzeichnen.

Begegnung mit dem Sterben und der Leiche Der Tod als Sterben und Leichnam bedeutet zunächst Unordnung, Irritation, Verlust von Sicherheit und Beständigkeit des Gewohnten. Leben wird durch das Sterben unterbrochen. Und dabei ist es der Leichnam, der durch seine 'Fremdartigkeit' den Verlauf des 'normalen' Lebens abbricht und ihm einen anderen Rhythmus aufzwingt, der auf den Umgang mit dem toten Körper ausgerichtet ist. Dieser stellt sich dem gewohnten Leben der Hinterbleibenden entgegen, mehr noch: Er ist Subjekt des nun beginnenden Bestattungsprozesses, definiert ihn als einen Prozess seines Sterbens als Übergang, als 'Passage'. Als Beginn eines Prozesses steht vor den Hinterbleibenden nun eine 'Woche' der Vorbereitung des Leichnams auf die Bestattung. Durch die Arbeit von Robert Hertz (s.u.) wissen wir: Sterben geschieht nicht 188

in einem Moment, sondern braucht sorgsame Zeit, für Lebende und für Tote. Die von van Gennep herausgearbeitete 'Passage', der rituell begleitete Ortswechsel des Gestorben an einen 'anderen Ort', braucht eine gute Vorbereitung und Begleitung. PAUL und ESTHER erzählen sehr ausführlich und eindrücklich von dem, was in dieser Woche geschieht – auch um Ordnung wieder herzustellen. Und es braucht seine Zeit, bis das Leben wieder gemäß Tagesordnung verläuft, so Paul. Ich beziehe mich bei meinen Gedanken auf von den Informanten erzählte besondere Erfahrungen, die ich mit Bezug auf Robert Hertz zu erklären versuche. Hertz' Forschungsergebnisse (s.u. Kap. 3) erweisen sich dabei nicht als Reminiszenzen an archaische Zeiten, sondern betreffen einen Kern des Erlebens und Empfindens auch der heutigen Menschen beim Tod eines Anderen. Die Informanten berichten je nach persönlicher Nähe, d.h. auch in Berücksichtigung ihrer Bestattungsverpflichtung, von der Sorge um den toten Körper, für eine würdige Bestattung und eine liebevolle Anerkennung seines Lebens. Um das in Unordnung Gebrachte wieder 'in Ordnung' zu bringen, werden von ihnen und anderen Vorkehrungen und Vorbereitungen getroffen. Bestattungsverfügungen werden ernst genommen, in denen der Tote selbst über Formen und Inhalte seiner Bestattung bestimmt. Er ist nun keinesfalls Objekt allein der Bemühungen der Hinterbleibenden, er ist mit seinem toten Körper Akteur dessen, was bei der Bestattung geschieht. Er ist es allerdings auf eine besondere, quasi unordentliche Weise: Ziel der Bestattung ist die Herstellung der Ordnung, die hier bedeutet, dass der Tote aus der Gemeinschaft der Lebenden ausgegliedert und in ein Reich der Toten eingegliedert wird. Ordnung ist also ein sozialer Begriff. Die durch den Tod ihres Mitglieds in ein Ungleichgewicht gebrachte Gemeinschaft bedarf der Ordnung zwecks Wiederherstellung der Stabilität. Diese Wiederherstellung der Stabilität der Gemeinschaft geschieht (auch für die Informanten) durch das abschließende Begraben (oder aber durch das wieder Leben189

dig machen). Es ist wieder PAUL, der diesen abschließenden, in Ordnung bringenden Charakter der Erdbestattung betont. Die Betonung einer Basisvariable 'Ordnung /Unordnung' scheint so sachgemäß. Unordnung geht einher mit dem Verlust der Kontrolle über das eigene Leben beziehungsweise das eines Anderen. Hier empfinden sich die Hinterbleibenden als Objekte schicksalhaften Handelns. Andere 'Mächte Kräfte und Gewalten' bestimmen über Leben und Tod: Eine Krankheit, der Arzt, die Gesellschaft, ein Gott. Sie bringen die Menschen zu Tode und zwingen die Hinterbleibenden in eine passive Situation des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht und der Hilflosigkeit. So kann SARAH ihr Entsetzen nur noch herausschreien und findet in der Umarmung durch die Mutter Stabilität und Sicherheit. In ihrer Fallgeschichte erlebt POLINA schon bei der ersten Diagnose über die Erkrankung der Großmutter diese Ohnmacht und Hilflosigkeit. Sie weint angesichts der Irreversibilität des Diagnostizierten. Auch der Freundeskreis um ALEX erlebt dies. Der so vorzeitige Tod des viel zu jungen Freundes stellt die eigenen Lebensperspektiven in ihrer Gestaltungsmöglichkeit infrage. Sie 'stemmen' sich aber durch ihre Aktion des Sargtragens gegen ihr mutmaßliches 'Nichts-mehr-tunkönnen'. Es ist das Setting eines Krankenhauses mit seiner ultimativen Diagnose ohne Möglichkeit des Widerspruchs, das exakt diese Ohnmachtsempfindungen provoziert. Unordnung ruft letztlich auch das Gefühl von Verwirrung und Verlust hervor: Der Tod eines nahen Anderen stellt den höchsten Grad von Unordnung, also Verlust der Sicherheit und der Beständigkeit und Dauer durch den Verlust des Menschen, mit dem man dieses Leben lebt und teilt, dar. Wenn ich diese Ressource, an die ich mein Leben hänge und mit der ich mein Leben führe, die zu erhalten und zu bewahren ich anstrebe, verliere, dann bin ich in dieser Unordnung selbst verloren. Es ist die Vermutung HEINERs, dass seine Mutter den Verlust ihres Ehemannes und die damit eingetretene Unordnung ihres Lebens nicht mehr hat kompensieren können und dann selbst 190

daran gestorben ist. Wie anders dagegen ihr Sohn Heiner selbst, für den der Tod der Eltern nur eine zeitlich limitierte äußerliche Unordnung bedeutet, denn das Sterben der Eltern an sich ist für ihn eingedenk des hohen gemeinsamen Alters 'in Ordnung'. Die Basisvariable 'Ordnung', die aus dem Grundbedürfnis des Menschen nach Sicherheit und Stabilität erwächst, wird in der Begegnung mit dem Sterben und dem Leichnam instabil und in Un-Ordnung gebracht. Darauf reagierende Empfindungen der Hinterbleibenden setzen sich prägend fort durch den gesamten Prozess der Bestattung bis hin zur Grablegung.

Beim Bestatter In den Städten und Gemeinden Nordrhein-Westfalens ist es bezeichnenderweise das Ordnungsamt, das bei Abwesenheit oder Fehlen eines Bestattungspflichtigen die Bestattung eines Toten von sich aus veranlasst. Der Grundgedanke hierbei ist die der Menschenwürde entsprechende ordentliche Bestattung eines Toten. Das damit initiierte Minimalprogramm einer Bestattung zielt exakt auf das Prinzip der gestörten Ordnung durch den Tod eines Menschen: Der Leichnam muss 'beseitigt' werden. Die Profession des Bestatters wird abgerufen und beauftragt das 'Unordentliche' wieder 'in Ordnung' zu bringen. Der Bestatter ist auch für Angehörige und Hinterbleibende nach dem Arzt der erste Ansprechpartner. Nach der Abholung des Leichnams vom Sterbeort und der Verbringung zum Bestattungshaus und später zum Friedhof ist dem Bestatter die Versorgung des Leichnams aufgetragen. Behördengänge und in Absprache mit den Angehörigen die Ausstattung des Sarges, die Veröffentlichung eine Traueranzeige, die Vorbereitung der Trauerfeier und der Beerdigung sind ihm überlassen. 191

Zur Profession des Bestatters gehört seine Finanzierung. Heute ist von 'Bestattungskauf' in einem Marktsystem zu sprechen, die Arbeit des Bestatters wird nicht nur als Dienstleistung entlohnt, sondern als ein Paket unterschiedlicher Bestattungsgüter erworben. Den Angehörigen als Konsumenten schenkt dies Handlungshoheit in der Wiederherstellung beziehungsweise Rekonstruktion früherer Ordnung. Je nach Vorschlag des Bestatters oder Gusto der Hinterbliebenen werden Trauerfeier und Grablegung gestaltet. Allein Maßgaben des Bestattungsrechtes geben bestimmte Formen vor, an die sich HEINER aber zum Beispiel gar nicht hält. D.h.: zunehmende Individualisierung der Bestattung geht einher mit der Freiheit und der Bestimmung über Bestattungsformen (ich werde darauf noch einmal in Kap 4 eingehen). Ein Komplex von Empfindungen und Verhaltensweisen variiert diese Basisvariable. Alles richtig machen zu müssen oder auch zu wollen, wird wohl das stärkste Bedürfnis innerhalb dieses Setting sein. HEINER möchte einem von ihm so vermuteten Wunsch der Eltern gerecht werden; der Wunsch trifft sich mit eigenen Bedürfnissen, steht aber Ordnungen des Bestattungsrechtes entgegen. HEINER setzt sich darüber hinweg. Paul 'brieft' den Pfarrer, den er aufgrund seiner Profession aufsucht. Er soll die rechten Worte zum Leben der Gestorbenen finden. Mit Josef, dem Bestatter, hat PAUL wichtige Verabredungen schon getroffen, bekommt dazu aber nicht die Zustimmung seiner Geschwister. ESTHER wiederum bringt eigene ästhetische Empfindungen z.B. in Bezug auf Kleidung und Blumenschmuck in den Ablauf der Beerdigung ein. Hinter diesen Verhaltensweisen steht ein Selbstverständnis des Bestattungskaufkunden, in Bezug auf die Kontrolle des vorausliegenden Prozesses nicht mehr Erleidender, sondern Akteur zu sein. Der Freundeskreis um ALEX bereitet mit diesem Empfinden das Tragen des Sarges vor, als eine Gegenhandlung zur zuvor erlebten Ohnmachtserfahrung bei der Nachricht vom Tod des Freundes. Für die ästhetisch orientierte ESTHER arbeitet das 192

Bestattungsunternehmen nicht nur ordentlich, sondern ''superschön'. Fabian wäscht den Leichnam Wolfgangs, damit alles seine Ordnung hat. Der Bestatter hilft dabei. Eine solche sehr aktive 'Wiederherstellung der Ordnung' geht einher beziehungsweise wird variiert durch sehr unterschiedliche Empfindungen und Gefühle: PAULs Achtung und Würdigung der Lebensleistung der Eltern, Rolfs Liebe und Dankbarkeit ihnen gegenüber, ANDREAS Ehrerbietung, ALEX' Repräsentation von Gemeinsamkeit: Enzo war einer von uns! Die Ordnung wiederherstellen heißt auch, den Gestorbenen gerecht werden wollen, sie stehen weiterhin im Vordergrund, alles Handeln und Empfinden bezieht sich weiterhin auf sie – im Setting der Professionen nicht mehr in Ohnmacht, sondern nun in aktiver Gestaltung der Situation. Alles muss gut sein, würdig und schön, wenn nicht gar superschön. Der Bestatter ist hier gemeinsam mit dem Pfarrer allein Erfüllungsgehilfe der Gestaltungswünsche der Angehörigen. Allerdings sind die Möglichkeiten solcher Gestaltung gebunden an ausreichende finanzielle Ressourcen.

Aufbahrung Die Mehrheit der Menschen in den westlichen Gesellschaften haben keine Erfahrungen in der Begegnung mit einem Leichnam. Die Gründe sind vielfältiger Art, sie werden im vierten Kapitel diskutiert. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass eine Minderheit des Samples von ihrem Besuch beim aufgebahrten Leichnam berichtet. Es ist ESTHER, die in ihrer Fallgeschichte sehr ausführlich vom Erleben und Verhalten der Familie am Leichnam des Großvaters erzählt. Der Leichnam ist im Bestattungshaus aufgebahrt. Die ganze Familie kommt dort zusammen um Abschied zu nehmen. Esther erzählt von sehr unterschiedlichen Empfindungen der Beteiligten: 193

Erschrecken und Entsetzen angesichts des veränderten Körpers, Furcht und Unsicherheit, wie damit umzugehen sei. Sie erlebt den Zusammenbruch ihrer Mutter und zugleich die gefasste und tröstende Schwester. Sie selbst, so sagt sie, begreift nun körperlich den Tod: die Eiseskälte des Leichnams, der nicht mehr erwärmt werden kann. Das Setting ist die Aufbahrungshalle im Bestattungshaus. Sehr detailliert beschreibt Esther die Ausstattung und das besondere Ausgeschmückt sein dieses Raumes. Sie erzählt in räumlichen Kategorien: Von einem Introitus, einem Hineingehen, ihre Cousins und Cousinen bleiben zunächst draußen stehen, schauen durch die offene Tür in den Raum, dann schließlich betreten sie ihn auch. Am Ende werden sie den Leichnam des Großvaters in diesem Raum zurücklassen, ohne Musik, ohne Licht, alleine im Dunkeln; so stirbt er dort, sagt die weinende Esther – obwohl er doch schon tot ist. Die ganze Familie versammelt sich dort in diesem Raum. Es ist also nicht nur lokal, sondern auch sozial, was diesen Raum definiert. Esther erzählt viel von Tröstung, von miteinander weinen, voneinander die Empfindungen mitteilen und miteinander teilen. Ein Raum familiärer Gemeinschaft ist es, und der Großvater ist ein Teil dieser Gemeinschaft, obwohl er sich verändert, obwohl er an der Kommunikation nicht beteiligt ist. Dennoch ist er Mittelpunkt des kollektiven Liebeserweises, wie Esther bemerkt, ein Mittelpunkt, der sich doch langsam entfernt aus dieser Gemeinschaft. Präzise zeichnet Esther die Veränderungen des Gesichtes des Toten nach. Der Großvater hat seine Wärme verloren, sie kann nicht mehr ersetzt werden durch Berührung. Esther sagt, dass sie nun verstanden hätte, was Tod bedeutet. Die Ordnung ist auf den Weg gebracht, das unterscheidet diese zweite Leichenerfahrung von der ersten. Es ist deshalb nicht das Gefühl der Ordnung oder Unordnung, sondern das der Nähe und Distanz, das die Basisvariable stellt. Alle anderen Empfindungen, wie ALEX' Erschrecken und Entsetzen, die Furcht der Cousins und Cou194

sinen ESTHERs und ihr Abschiednehmen sind Variationen dieser Basisvariablen. Sehr differenzierte Gefühlslagen finden sich in dem einzigartigen Setting abgebildet, von dem FRIEDRICH erzählt. Mehrere Kontexte sind 'unter einem Dach' vereinigt. Dennoch sind die unterschiedlichen Settings in Empfindung und Verhalten gegenüber abgrenzbar, z.B. biografische Arbeit hier und rituelle Abschiedname dort, Konfrontation mit dem Leichnam und Wahrnehmung der Distanz im Sterbezimmer und Pflege der Gemeinschaft im Erdgeschoss. Für FRIEDRICH als Pfarrer heißt das, er nimmt im Verlauf der drei Tage mehrere Rollen ein: der Vertreter einer Öffentlichkeit, der Profession, des Freundes des Hauses und die des Zeremonienmeisters. FRIEDRICH erlebt eine Rollendiffusion: Wer bin ich wann und wo? Erst in Nachhinein gelingt es ihm, die differenten Settings samt ihren spezifischen Skripten auseinander zu halten und zu ordnen.

Innerhalb der Sozialität Einer Distanz zum Leichnam erscheint das Bestreben nach Nähe innerhalb der Sozialität zu entsprechen. Man weicht nicht von einander in der Woche zwischen Tod und Beerdigung und versucht sich Wärme zu geben, Nähe und Umarmungen. Zumindest aber hat man vielleicht nach längerer Zeit wieder miteinander zu tun, trifft sich zur Absprache, diskutiert wie die Mutter denn nun bestattet werden soll. Familie oder Freundeskreis oder Verein zu sein wird deutlicher erfahren und auch gelebt. Mehr noch: die Gruppe oder die Sozialität wird für die Zeit der Bestattung zum übergeordneten Ganzen. ALEX spricht im Interview für die Gruppe. ANDREAS kann durch die Andacht mit den Mitarbeitern sein Nichtdabeisein bei der Trauerfeier und Beerdigung zumindest ein wenig kompensieren: Beim miteinan195

der zurückdenken und wertschätzen des toten Christian erfährt er im Gegensatz zum Gefühl der Distanz zum Toten die Nähe der Gruppe verdeutlicht und rituell bestärkt. Die Nähe der Gruppe vermittelt Schutz und auch Erklärung und Deutung. In der Krise rückt man zusammen. Niemand muss sich den Tod alleine verständlich machen oder auch seine Gefühle alleine durchleiden. In einer Gruppe kann jeder mit-machen, können sich die Teilnehmenden durch das Ritual mit-ziehen lassen. Dieses Bedürfnis und Verhalten mit dem Ziel kollektiver Einbettung und damit verbundene Empfindungen gehören sicher zur Grundausstattung der Gattung Mensch als eines sozialen Wesens. Im Falle des Todes eines Menschen und angesichts seines Leichnams treten noch weitere Faktoren hinzu: Das Zusammenrücken ist nicht nur allein eine individuelle emotionale Bewegung auf die Gruppe hin, sondern angesichts der Distanz eines Gruppenmitglieds zur Gruppe der Versuch der Kompensation dieser Distanz in einem zusammengerückt werden. Auch aus diesem Grunde werden ALEX und die Freunde den Sarg mit dem toten Körper des Freundes ans Grab tragen; es ist eine Gegenbewegung gegen das mit dem Gang an das Grab zunehmende Entfernen und gegen das abschließende Weggeben und Verlassen. Es sind in der Tat Trauerkollektive, die aus unterschiedlichen Begründungen und mit unterschiedlichen Zielen und Zwecken aus Anlass des Todes eines Anderen hier und da zusammenkommen. Es spricht viel dafür die Gruppen oder die Kollektive der Trauernden von ihrer sozialen Struktur her zu verstehen. Diese Struktur als vorgegebene integriert die individuell Trauernden und bietet als Sozialität den Hinterbleibenden Zeit, Ort und Gemeinschaft für Empfindung, Erleben und Verhalten. Einer solchen vor ihr bestehenden Gemeinschaft wird z.B. in besonderer Weise MARIE inkorporiert. Es ist zunächst ihr Status als Minderjährige, mit der sie wie Andere ihres Alters in die trauernde Familie integriert ist. Sie hat deshalb auch keine grundsätzliche Möglichkeit aus diesem Kollektiv auszu196

brechen wie dies bei PAULs Brüdern zu beobachten war, die keinen Kontakt zur Gruppe ihrer Geschwister aufnahmen und sich an der Bestattung nicht beteiligten. MARIE kann das Feld nicht verlassen; sie nimmt sich aber die Freiheit heraus, an bestimmten Stellen anders zu handeln als die Gesamtheit der Familie. Die Analyse hatte aber nun herausgestellt, dass genau dieses Alternativverhalten ein positives Element der Zugehörigkeit zum Trauerkollektiv ist, das ihr dieses Verhalten ausdrücklich gestattet. MARIEs Empfinden, Erfahren und Leben wird ihr in dieser Gemeinschaft der Familie in besonderer Weise erst ermöglicht. Dieses Zugeständnis einer persönlichen Freiheit des Verhaltens ist also ein Element der Zugehörigkeit der minderjährigen MARIE zum familiären Kollektiv, und, wenn diesem Setting grundsätzlich inhärent, allen Teilnehmenden zugestanden. Das Bedürfnis nach Herstellung solch spezifischer sozialen Nähe scheint mir als Basisvariable für dieses Setting plausibel. In entsprechenden Ritualen vergewissert sich die Sozialität ihrer Zusammengehörigkeit. Weitere Empfindungen und Erfahrungen können in den Cluster dieser Basisvariablen eingefügt und erklärt werden. So macht sich PAULs Pflichtgefühl an seiner Rolle als ältester der Geschwister fest; sein jüngster Bruder unterstützt ihn dabei. Die Geschichte MARIEs zeigt zudem, dass Rollenkonflikte – bei ihr wie in PAULs Fallgeschichte zwischen den Geschwistern – entsprechendes Empfinden und Verhalten steuern. Dennoch steht vor allem positives Empfinden und entsprechendes Verhalten im Vordergrund kollektiven Lebens: Empfindung des Gemeinsamen, Austausch von Informationen, Absprachen. Ziel ist es, sich als Gruppe zu präsentieren (ALEX), gemeinsam mit anderen Betroffenheit und Trauer zu zeigen (PAUL, SARAH, ANDREAS). Im Erleben ANNAs sind es 'störende' Besucher der Abschiedsfeier, die das Kollektiv der in einer sehr besonderen Weise trauernden Mütter infrage stellen. Durch abweichendes Verhalten zeigen sie ihre Nicht-Zugehörigkeit zur Trauergruppe an. 197

Besucht werden Der Besuch Trauernder war schon im alten Israel eine Tat der Liebe. Eine große Öffentlichkeit nahm Anteil am Tod eines ihrer Mitglieder und versicherte den Angehörigen die bleibende Solidarität und Hilfe der Gemeinschaft. Dies geschah durch Aufsuchen der Trauernden im Trauerhaus, durch zu Gast sein. Essen wurde mitgebracht, bestimmte Aufgaben den Betroffenen abgenommen. Marie, Moritz, Sarah, Alex, Paul, Polina, Heiner, Adelheid und Friedrich erzählen von solchen Besuchen. SARAH und ALEX sprechen bei ihren Besuchen bei den Eltern über vergangenes Erleben, über eigene Biografie, eigene Identität, bezogen aber auf den Toten. Bennys Mutter hat deshalb für SARAH Erdbeertörtchen vorbereitet: Weißt du noch, als ihr zusammen wart. Wer war er für mich? Für dich? Für uns? Am Ende wird SARAH ihre rote Rose in das Grab werfen. Der Tote steht im Mittelpunkt, im Gespräch würdigen SARAH, ALEX und auch MARIEs Familie sein Leben, seine Lebensleistungen, erweisen ihm Ehrerbietung, Wertschätzung. Das gilt besonders für Wolfgang in FRIEDRICHs Bericht! Hier ist der Tote auch körperlich der Mittelpunkt. In den 48 Stunden der Aufbahrung im eigenen Haus 'lebt' er noch ein wenig in der Gemeinschaft der Familie und der Freunde. Basisvariablen dieses Settings sind Identität und Anerkennung. Sie werden den Toten zugesprochen: MORITZ erstes Interview fasst dies in Worte: die zahlreichen Besucher zeigen, welche Bedeutung Max für sie hatte. Aber in gleichem Maße wird dieser Zuspruch auch den Lebenden zuteil – im Rückblick auf gemeinsames Leben und auch auf Zukunft hin, denn beide finden sich an der Schnittstelle von dem, was war und dem, was sein wird.

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Traditionell wir hier auch der Besuch des Pfarrers verortet . Es ist PAUL, der ausführlich davon erzählt: […] dass dieser Pfarrer sich die Zeit genommen hat . der aber auch immer so irgendwie zwischendurch Fragen gestellt hat . Die Begleitung durch den Pfarrer bezieht sich in der Fallgeschichte PAULs auf das vorbereitende Gespräch und die Durchführung der Trauerfeier. Im Gesamtprozess der Bestattung hat somit das Gespräch mit dem Pfarrer eine definierte, spezifische aber zeitlich eingeschränkte Funktion. Die von PAUL beschworene Begleitung in dieser Zeit beschränkt sich zeitlich exakt auf diese Situation. Die Anwesenheit des Pfarrers ist zweckbestimmt und zeitlich limitiert: Es geht um die Vorbereitung der Gestaltung der Trauerfeier und darin um die Inhalte der Trauerrede. PAULs 'Idealisierung' der Begleitung des Pfarrers mag ein Artefakt der Interviewsituation sein: der Interviewpartner ist ein Pfarrer, wie Paul weiß. Festzuhalten ist freilich, dass sich jener bestattende Pfarrer durch sein Engagement, seinen Gesprächsstil und entsprechende Zeitkontingente in positive Erinnerung gebracht hat. Zu dieser positiven Erinnerung trägt zweifellos auch die für PAUL dem Anlass angemessene Trauerrede dabei. Für MARIE ist die Person des Pfarrers zunächst negativ besetzt: Er verweigert den Besuch am Sterbebett und scheint nur dann anwesend zu sein, wenn der Tisch mit Kuchen reichlich gedeckt ist. Ungeachtet dessen erlebt Marie den Besuch des Pfarrers für ihre biografische Arbeit als gewinnbringend. FRIEDRICH erzählt von zwei Besuchen bei Wolfgangs Familie; trotz des extensiven Besuches erlebt er aber die Fixierung auf seine professionelle Rolle, in der 'er weiß, was er zu sagen hat'. Die Trauerrede als zweite Aufgabe der Pfarrperson ist mit der ersten, dem Gespräch und dem Absprechen der Inhalte, funktional verknüpft, und eventuell, so wird angemerkt, gehört auch das fleißige Vorsingen der Lieder bei der Trauerfeier zusätzlich zu dieser Aufgabe, wenn die Trauergäste sich musikalisch zurückhalten. Die musikali199

sche Ausgestaltung der Trauerfeier empfindet PAUL aber als angemessen und notwendig. D.h. Für PAUL ist der Wirkungskreis des Pfarrers neben der 'seelsorgerlichen' Tätigkeit im Gespräch vor allem auch als Liturgie innerhalb des rituellen Ablaufs der Trauerfeier bei der Bestattung zu suchen. Ziel der professionellen Tätigkeit ist die Abschiednahme, u.a. vorbereitet durch das Gespräch und vollzogen durch die Trauerrede, durch wertschätzende, würdigende, liebevoll erinnernde, dankbare und zukunftsfähige Worte und Rituale. Dies verweist auf andere Dimensionen, u.a. auf Ablösung und Neuanfänge. In der Fallgeschichte PAULs sind inhaltlich denkbar: Ansprechen des Konfliktes der Geschwister, Deutung und Erklärung, Vorschlag zur Lösung, Versöhnung. Wenn die Trauerrede dies alles geleistet hat, hat der Pfarrer seine Aufgabe erfüllt und die kirchliche Bestattung als 'Gesamtpaket' auch. Genau dies erwartet PAUL, und seine Erwartung wird erfüllt: In Seelsorge und Beratung und im liturgischen Vollzug. Für Elke ist FRIEDRICH als Pfarrer Träger solcher Professionalität und nicht als Person selbst von Interesse. Die oben von PAUL genannten Eigenschaften und Handlungsweisen des Pfarrers sind somit Teil seiner Professionalität und damit seiner Rolle bei der Bestattung. Für PAUL hat diese einen großen Wert. Vertrauen ist Vertrauen in die Institution, die diese Professionalität vorhält und sichert. Beides ist eng mit dem Prozess der Bestattung verbunden. Vom Pfarrer und in ihm von der Kirche wird ein gewisser Umgang mit dem Leichnam erwartet. Der Umgang ist rituell, seelsorgerlich, wertschätzend, allerdings nicht verkündigend. Im Prozess der Bestattung kommt dem Kirchenmann eine entscheidende Rolle zu. Ein mit der Pfarrperson geführtes Gespräch hilft bei dem, was noch getan werden muss: der Abschiednahme. Die Verknüpfung zu Ritual und Gespräch scheinen dafür unerlässlich. Im Blick auf die Trauerrede kann PAUL deshalb das Gespräch mit dem Pfarrer weiterhin als persönlich entlastend und zusätzlich auch als inhaltlich konstruktiv bewerten. Bei den inhaltlichen Anteilen des 200

Gesprächs mit dem Pfarrer trifft er sich mit seinen Geschwistern, weshalb er an diesen Stellen in die 'erste Person Plural' wechselt. Die Geschwister haben in Bezug auf die Inhalte und Gestaltung der Trauerfeier und der Trauerrede ähnliche Wünsche und Vorstellungen: die Ehrung der Mutter und die würdige Abschiednahme. Auch HEINER erlebt das Gespräch mit dem Pfarrer als sehr angenehm und nutzt es als Anlass für die eigene biografische Arbeit, deren Ergebnisse dann ja auch in das Interview einfließen. Die Verknüpfung zur Trauerfeier in der Halle des Bestatters ist ihm aufgrund seiner noch weiterführenden Planungen zweitrangig, dennoch freut er sich über die Anknüpfungen an seine Erzählungen und die Wertschätzung seiner Eltern in der Öffentlichkeit. SARAH ist bei ihrem Besuch der Eltern eine solche Öffentlichkeit der Gruppe, denn sie besucht die Eltern Bennys im Auftrag der Gruppe. Deshalb ist es ihr auch wichtig, angemessen gekleidet zu sein und zuvor ihren Besuch avisiert zu haben. In der körperlichen Solidarität (umarmen, weinen) versteht sie sich aber zugleich als der Familie nahe Person mit den Empfindungen gemeinsamer Erfahrung des Verlustes, der dankbaren Erinnerung an frühere Zeiten und vielleicht auch gemeinsamen Trostes.

Öffentlichkeit Alle Informanten erzählen von öffentlichen Kontexten und darin von öffentlicher Trauer: Nachbarn, Arbeitskollegen, Vereinsmitliedern, Kirchengemeinden. Eine mehr oder weniger große Öffentlichkeit nimmt Anteil an Tod und Bestattung. Man 'trägt Trauer', tröstet einander, wird in eine Gemeinschaft der Trauernden hineingebunden oder wird als Trauernde identifiziert. Bei einer kirchlichen Bestattung wird von der 'Trauergemeinde' gesprochen, man beruft sich auf die 201

gemeinsamen 'Glaubenssätze' zu Tod und Trauer. Das Setting dieser Öffentlichkeit ist in der Regel die Trauerfeier und die Grablegung auf dem Friedhof, in früheren Zeiten der Hausbesuch der Nachbarschaft und 'Bekannten'. MORITZ und FRIEDRICH sprechen von solchen Besuchen, weil der Leichnam für eine gewisse Zeit zuhause aufgebahrt wird, MARIE mag in der Schule angesprochen worden sein. ESTHER bedauert, dass man in Balve ihren Großvater nicht kennt und sie sich deshalb nicht zum Tod mit Anderen austauschen kann. Trauernde waren in früheren Zeiten in der Öffentlichkeit an bestimmten äußeren Zeichen (Verhalten, Kleidung) für ihre Umwelt und auch für sich selbst zu identifizieren; in einer spezifischen Art der Veräußerlichung des Trauerns, die im anglophonen Sprachbereich dem Begriff 'mourning' entspricht, empfanden sich Trauernde als solche und wurden als solche auch erkannt, damit Ihnen in geeignetem Maße Hilfe, Anerkennung, Wertschätzung, Tröstung und auch Statuszuweisung zukommen konnte, mit der den Hinterbliebenen eine bleibende Position innerhalb des Gemeinwesens zugesprochen und zugesichert wurde. Im modernen Sozialstaat verwirklicht sich eine solche Statussicherung z.B. in der Unterstützung durch Witwen- und Waisenrentenzahlungen. Eine äußerliche Kennzeichnung ist dabei nicht mehr notwendig. ADELHEIT und SARAH sprechen diese Verknüpfungen von Öffentlichkeit und Kennzeichnung an: SARAH möchte zum Besuch der Eltern Bennys deren Trauerstatus durch angemessene Kleidung würdigen, Adelheid mag sich in ähnlicher Situation als ein wenig 'falsch' angezogen empfunden haben: die Wahl von schwarzer 'Trauerkleidung' zum Besuch im Trauerhaus findet dort keine Entsprechung; zum Ausdruck gebrachte Solidarität 'läuft ins Leere'. Für ESTHER gerät die Entscheidung zum Anlegen von Trauerkleidung zum Shopping-Erlebnis: Der weibliche Teil der Trauergemeinschaft muß sich neu einkleiden, weil angemessene Kleidung nicht zur 202

Verfügung steht. Ziel ist die dem Anlass (eigene Trauer) und der Bedeutung des Verstorbenen (Mann der Öffentlichkeit) adäquate Repräsentation des Trauerstatus vor der Öffentlichkeit der an der Beerdigung teilnehmenden Trauergemeinde (s. Exkurs Kap. 4). Alternative Modelle der Veräußerlichung von Trauer in Kleidung und Verhalten erzählen hingegen HEINER und FRIEDRICH. Es wird getanzt und gesungen, und auch Elke und ihre Kinder haben in der Zeit der Aufbahrung eine Veräußerlichung der Trauer nicht nötig. HEINER vereint in der Bestattung der Eltern zwei unterschiedliche Weisen der öffentlichen Darstellung (auch seiner Trauer): Die Trauerfeier in Remagen wird traditionellen Formen der öffentlichen Trauer gefolgt sein, die Feier im Garten gestaltet sich ganz anders. Beide Formen sind für HEINER aber authentische Abbildungen seiner Trauer um seine Eltern. In einer dritten Dimension der Öffentlichkeit rückten nicht nur in der Fallgeschichte HEINERs die Verstorbenen selbst in den Mittelpunkt: eine Öffentlichkeit würdigt abschließend ihre Personen und Lebensleistungen. Medien dieser Würdigung sind z.B. Traueranzeigen, nicht selten haben institutionelle Traueranzeigen für gestorbene Mitarbeitende Ähnlichkeit mit Arbeitszeugnissen. Aber auch die Trauerfeier bei der Beerdigung ist Ort der öffentlichen Würdigung und Wertschätzung. PAUL lobt die darauf zielende Ansprache des Pfarrers, ADELHEID erzählt von der Rede des Freundes und Betriebsrates und der damit sehr eindrucksvoll zum Ausdruck gebrachten persönlichen Trauer im öffentlichen Gewand. Ähnlich Elke, die die Tränen in den Augen FRIEDRICHs bemerkt, lädt auch Franz' Freund zur gemeinsamen Trauer ein: Dem Toten zuliebe. Eine sehr persönliche Trauer darf im Innern verbleiben, hier aber soll sie sich äußern – für Franz. Der Beifall der Trauergemeinde kann diesbezüglich verstanden werden. Auch ANNAs Empfinden und Verhalten geschieht in der und für die Öffentlichkeit: Das bisschen Mensch, das da bestattet wird, hat ein

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Recht, betrauert zu werden, wie auch die Mutter auf die Solidarität der Gemeinschaft zählen darf. 'Öffentliche' Trauerformen dienen der Sozialisierung der subjektiven Empfindungen und zugleich der Initialisierung individueller Gefühle. Grundsätzlich sind die hier Trauernden nicht allein bei sich selbst, sondern in teilnehmender Gemeinschaft, denn deren Solidarität, Wertschätzung, Anerkennung, Würdigung wird vom Individuum gesucht – für sich selbst und ebenso für die Gestorbenen, mit deren Bestattung sie befaßt sind. In ANNAs Fallgeschichte wird diese Sicht auf die Toten selbst überaus deutlich: Wie ist mit ihnen umzugehen? Entsorgung in einer wenn auch unanstößigen Weise oder Bestattung und Betrauern als Kennzeichen einer humanen Gemeinschaft? Die Basisvariable 'Bedürfnis nach Solidarität und Anerkennung' steuert auch das folgende Setting.

Friedhof und Trauerfeier Ein Merkmal der öffentlichen Anteilnahme ist die öffentliche Würdigung der Person des Toten. PAUL sieht dies in den Worten des Pfarrers realisiert: Er leistet ganze Arbeit: Ja, da war dann die Wertschätzung erreicht, für den Menschen. Das war glaub ich das wichtigste bei dem ganzen Prozess. […] Also das war das Ziel einen würdigen Abschied zu realisieren. PAUL verbindet hier den Prozesscharakter der Bestattung mit der inhaltlichen Perspektive, was denn nun die entscheidende Funktion bzw. Aufgabe der Bestattung sei: Die würdevolle Abschiednahme. Auch Elke und ADELHEID betonen in unterschiedlicher Weise diesen Charakter: Ist für Elke das Weinen FRIEDRICHs Zeichen seiner Anerkennung für Wolfgang, so wird ADELHEID vom Freund und 204

Betriebsrat auf ihre eigene Aufgabe hingewiesen: Die öffentliche Würdigung der Personen. Und diese Würdigung geschieht nicht nur inhaltlich, sondern da ist Zeit sie vorzunehmen, stille zu sein, einzuhalten, sich auf die Person des Toten konzentrieren. Der Tote, dessen Zeit nicht mehr von dieser Welt ist, ihm wird Zeit geschenkt, noch einmal, bis ihm dann der Übergang in die Welt der Toten und in 'Gottes Zeit' gelungen ist. Es ist eine heilige Zeit, die sich hier Raum schafft. Ich hab am Feuer gesessen hinein geschaut . Und dann zu ihnen gesprochen ( ) Also so ganz tief in mir drin ( ) […] da war das eine Weile so als wären die beiden mit ihren Seelen da und stiegen jetzt sozusagen zum Himmel auf (2) an so etwas glaube ich eigentlich nicht . aber da war das irgendwie so lebendig ( ) da waren sie ganz nah bei mir – so beschreibt es HEINER. Für PAUL ist das Schaffen solcher Raumzeiten Aufgabe der Kirche. Sie soll Anker geben, Hilfe anbieten, begleiten, einfach da sein für die, die sich mit dem Tod des Anderen auseinandersetzen müssen. Die Aufgabe der Kirche bei der Bestattung seiner Mutter sieht er in der qualifizierten Rahmung von Orten und Zeiten des Verhaltens und der Vorgabe von Abläufen und Formen und Inhalten innerhalb des Prozesses der Bestattung: Weil ich mir sage das sind Abläufe . Das sind Leitplanken in solchen ähm Situationen . Wo ähm man weiß . Wo man Hilfen anbietet . Wo man weiß . Wie man auch die Angehörigen nicht nur den Versterbenden . Oder den Verstorbenen . Dahin begleitet. Also zu diesem Abschied nehmen PAUL beschreibt hier keine Dienstleistungen. 'Kirche' selbst erlebt er als als Träger einer Rahmung, die das Ganze des Bestattungsprozesses zu einem Gesamtbild zusammen fügt. Für SARAH und HEINER dient die Zeit der Beerdigung der Klärung der Beziehung zum Toten: Ihr wart so tolle Eltern ich hab euch so viel zu verdanken [HEINER spricht ganz leise] ich liebe euch (3) Ja das ist mir in dem Moment klar geworden . was Liebe ist. Heiners Liebesbezeugung umfasst tiefe Zuneigung, Signifikanz der Eltern, 205

Wertschätzung, Dankbarkeit, Wissen um die Verknüpfungen eigener Biografie. SARAHs rote Rose für den ehemaligen Freund Benny und ihr Schweigen und leises Weinen am Ende des Interviews besagen: Du warst ein wichtiger Teil meines Lebens, und du wirst es bleiben in meiner Erinnerung. Ehrfurchtsvolles und liebevolles Abschiednehmen ist aber auch Aufgabe eines Kollektivs. MARIE und MORITZ erleben Trauerfeiern im kleinen Kreis, ESTHER und ADELHEID dagegen sind mit zahlreichen Trauergästen konfrontiert. ALEX und SARAH sind Teil einer Freundesgruppe, die geschlossen an der Trauerfeier und Grablegung teilnimmt. MORITZ erzählt von seinen dienstlichen Besuchen bei Bestattungen im kleinsten Kreis. Gestorbene ohne Angehörige, aber mit einer entsprechenden vorfinanzierten Bestattungsverfügung, werden mitunter ohne Trauergemeinde allein durch einen Pfarrer bestattet. Einem voraus gegangenen 'sozialen Tod' (Feldmann) entspricht die Bestattung 'in aller Stille'. Die Informanten erzählen von der Beerdigung als einer Situation großer Gemeinsamkeit und Nähe der Trauernden. Man ist zusammen, stellt sich als Gemeinschaft dar der Familie (MARIE, PAUL), der Enkel (POLINA), der Freunde (ALEX, SARAH), der Nachbarschaft, (ADELHEID, HEINER), der Kirchengemeinde (ESTHER), der Gruppe (SARAH), der Arbeitskollegen (ANDREAS, ADELHEID). Man weint miteinander und ist in der Trauer solidarisch mit jenen, deren Trauer mutmaßlich tiefer ist. Toten-Ehre und Würdigung des zu Ende gegangenen Lebens, Abschiednehmen und aus den Händen geben, Nähe und Gemeinschaft repräsentieren – das sind die drei Funktionen der Trauerfeier und dann auch der Beerdigung. Die Informanten berichten dabei von Gefühlen wie Geborgenheit empfinden, traurig sein und getröstet werden, erlöst und dankbar sein. Die Trauerfeier ist der Attraktor aller anderen Settings: Auf sie läuft der Prozess der Bestattung hinaus, sie faßt die Akteure noch einmal zu206

sammen in eine Gemeinschaft der Lebenden und des Toten. In ihr kommt zum Ende, was mit dem Tod begann. Die mit dem Tod entstandene Unordnung findet zur Ordnung, wenn die Arbeit der Trauer im Ritus recht vollzogen wurde: […] Also das war das Ziel einen würdigen Abschied zu realisieren. so PAUL. Noch etwas anders formuliert es HEINER; das Wiederherstellen hat eine Zukunftsperspektive für Lebende und Tote: Wir haben das richtig gemacht . . Ich bin ganz sicher dass das in ihrem Sinne so war . Hier im Garten . Gerade hier in ihrem Garten . Mit den Menschen die sie mochten [...] und jetzt geht es ihnen gut . Jetzt sind sie im Himmel (3) miteinander ( ) ich glaub so haben sie es sich gewünscht.

Grablegung Die Besonderheit dieses Settings sind die darin enthaltenen aktiven Handlungen des Ritus: Feststellung des Todes, Lösung aus dem sozialen Verband, Übergabe an eine Totenwelt. Es geschieht der symbolische Abschluss der Bestattung: Erde zu Erde, Staub zu Staub. Der Weg vom Grab ist der Weg in ein neues Leben und in die Zukunft. Das zuvor Gesagte wird nun vollzogen. Deutlicher als in anderen Settings kommen hier Emotionen zum Ausdruck, wenn nicht gar zum Ausbruch. ESTHER muss im Gegensatz zu einer immer vergnügten Schwester von ihrem Freund fast getragen werden, eine Mutter der Sternkinder verliert am Grab ihre Fassung. POLINA ist dagegen bemüht ihre Fassung zu bewahren – in Absprache mit ihren Cousinen. MARIE sieht keine Veranlassung sich am Tränenchor der anderen Teilnehmerinnen der Bestattung zu beteiligen. Friedrich mag auch am Grab noch feuchte Augen gehabt haben. Wouters (s.o.) hat in diesem Zusammenhang auf das Zusammenwirken von Selbstkontrolle und öffentlicher Bewertung hingewiesen. 207

Nachtreffen Beim Leichenschmaus geht es lustig zu, so eine allgemeine Erwartung. Die Trauergemeinde ist zufrieden, denn sie hat ihre Trauerarbeit zur Zufriedenheit aller geleistet. Erleichterung macht sich breit, und man denkt über Zukunft nach. Für HEINER ist alles gut zu Ende gegangen, und hatte den Eindruck, für seine Eltern und für sich selbst alles recht gemacht zu haben. Für POLINA ist es schön, die Familie wieder zu sehen, insbesondere Cousins und Cousinen. Das Leben der Familie geht auch für Sie weiter. Für MARIE geht nach der 'Cola light' das Leben weiter, und zwar erst einmal in der Disco und dort vielleicht mit der einen oder anderen liebevollen Erinnerung an die tanzbegeisterte Großmutter. Die Gruppe um SARAH muss feststellen, dass ihr Nachtreffen das letzte Treffen der Gruppe ist. Auch diesbezüglich ist etwas zu Ende gegangen oder auch verloren. PAUL kann sich an der Gemeinschaft der Kinder von Karl und Berta N. erfreuen, er weiß aber nicht, wie es mit der Gemeinschaft der Geschwister in Zukunft weitergehen wird. Die Empfindung alles richtig gemacht zu haben bezieht sich zunächst nur auf den Prozess der Bestattung. Für Zukunft kehrt der Alltag ein, aber mit Trauer an der einen oder anderen Stelle. Für die Zukunft Elkes kann dies nur erahnt werden, MORITZ und ANDREAS erzählen sehr viel deutlicher von ihren Gefühlen danach. Offene, weil unbeantwortete Fragen, muss ANDREAS ertragen; bis er dies kann, wird er wohl das Bild Christians nicht nur im Herzen, sondern auch schmerzhaft vor Augen haben. MORITZ wird mit den durch die einen oder anderen provozierten Erinnerungen an Max weiter leben müssen.

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Noch später beim Interview oder anderswo Es gehört mit zum Erleben des Todes eines Anderen und seiner Bestattung, dass sich die Erinnerung an dieses Ereignis und an diesen Prozess im Inneren niederschlägt. An anderer Stelle habe ich von einer 'inneren Provinz der Trauer' gesprochen (Häußler 2012). Sie entfaltet ihre Kraft am Feuer, an dem HEINER sitzt, oder bei Clapton, wenn SARAH Musik hört, oder für MORITZ in der Teilnahme an der Bestattung eines Heimbewohners und in seinem Gebet für die Toten. Das sind keine Artefakte, also Kunstprodukte, die z.B. bei einem Interview produziert werden. Sie gehören zur Bestattung eines Menschen hinzu, dass wir uns erinnern, zugleich, bei Zeit und Gelegenheit auch bei dem ein oder anderen Erinnerungsritual. Auch dieses haben unsere Toten 'verdient', dass wir ihrer weiterhin gedenken, aber hoffentlich nicht mit Schmerz, sondern mit dem Wissen um fortdauernde Gemeinschaft, mit Dankbarkeit, mit dem Hoffen, dass es ihnen Wohl ergeht und vielleicht auch auf ein Wiedersehen in einer anderen Welt.

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Kapitel 3: Trauer in den Kontexten der Bestattung “It’s likely to be a very cheap funeral,” said the same speaker; “for upon my life I don’t know of anybody to go to it. Suppose we make up a party and volunteer?” “I don’t mind going if a lunch is provided,” observed the gentleman with the excrescence on his nose. “But I must be fed, if I make one.” Another laugh. “Well, I am the most disinterested among you, after all,” said the first speaker, “for I never wear black gloves, and I never eat lunch. But I’ll offer to go, if anybody else will. When I come to think of it, I’m not at all sure that I wasn’t his most particular friend; for we used to stop and speak whenever we met. Bye, bye!” (Charles Dickens, A Christmas Carol, Chapt IV) Trauer scheint es nicht zu sein, die Charles Dickens in seiner Weihnachtsgeschichte den Geschäftsfreunden von Scrooge unterstellt. Und doch: Marie, Moritz, Sarah und alle Anderen haben in allem auch von 'ihrer Trauer' erzählt. Dies geschah als Erinnerung an erlebte Erfah-

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rung und Empfindung, oder als erzählende Interpretation dessen, wie ihnen im Zusammenhang des Todes eines Anderen und seiner Bestattung zumute gewesen war. So wurde im 2. Kapitel aufgezeigt, welche Empfindungen und Emotionen und welches Verhalten im Prozess der Bestattung und ihren Settings von den Akteuren individuell und kollektiv erfahren, gelebt und kommuniziert wurden. Körperliche und spirituelle Symptome, Weinen, Zärtlichkeit, Suche nach Nähe und Gemeinsamkeit, Nachdenken und miteinander Erinnern, Wertschätzung und Dankbarkeit äußern, sich des (gemeinsamen) Glaubens und der Hoffnung vergewissern. D.h.: Ich darf von 'Trauer' sprechen im Rahmen jener Settings, in Bezug auf Empfindungen in bestimmten Situationen oder auch in Sicht auf bestimmte Verhaltensweisen im Zusammenhang einer Bestattung. Und wenn ich von Trauer spreche, frage ich nach der Funktion und der Relevanz des so Bezeichneten. Ich formuliere also als Arbeitshypothesen: (1) Trauer (und zwar die Trauer, von der hier und weiterhin in dieser Arbeit die Rede ist) wird erfahren und gelebt im Zusammenhang des Todes und der Bestattung des Leichnams eines Anderen. (2) In dieser Verknüpfung haben die mit Trauer benennbaren Phänomene bestimmte Funktionen und Bedeutungen für Personen und Kollektive in der Situation der Konfrontation mit dem Tod eines anderen und seinem toten Körper, für die 'Zukunft' und für das weitere Leben der Lebenden und der Toten.

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Trauer ist … „… regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person“. Sigmund Freud (1917 / 1926) entwarf diese 'Trauerformel' auf dem Hintergrund seines Theoriegebäudes als (wissenschafts)sprachliche Wiedergabe eines von ihm entdeckten notwendigen und regelgerechten subjektiven 'Reagenz' auf das Ende einer wertgeschätzten ObjektBeziehung. Solches ereignet sich im Todesfall. Beschrieben wird der individuelle Umgang mit dem von der Person so erlebten 'Verlust'. Warum 'Formel'? Der oben bereits erwähnte Norbert Elias hat die Freudsche Formel in seine soziologische 'Trauertheorie' aufgenommen: Personen sind eingebunden in gesellschaftliche „Figurationen“, „Spielgefüge“, in denen die Individuen ,interdependieren’ (Elias verwendet den Begriff „Interdependenzen“ – zum Ganzen vgl. Elias 1996: 141ff). Der Begriff des Individuums ist für Elias so ein sozialer Begriff. Der Mensch (an sich)’ (also: der von Elias entschieden abgelehnte Gedanke des ‚Homo clausus’ einer abendländischen philosophischen Tradition und damit zugleich einer Gesellschaft als einer „Häufung individueller Atome“ – op.cit.: 144) ist nur Mensch innerhalb seiner sozialen Interdependenz und Kohärenz (Figurationen), seines Beziehungsgeflechts. Elias verneint damit nicht den Faktor der Individualität. Er führt den chemischen Begriff der „Valenz“ als eine Art Individualitätsfaktor ein (op.cit.: 147ff). Valenz ist das vom Individuum ausgehende Bedürfnis nach Bindung im Rahmen der Figuration. Dieses Bedürfnis wird umfassend (also auch leiblich) verstanden als Ausrichtung auf die Person(en), auf die die Valenz gerichtet ist. Empirisch zeigt sich dies im Bestehen von Emotionen als „Gefühlsbindungen“, die von Elias als „Bindemittel der Gesellschaft“ (op.cit.: 149) bezeichnet werden. Elias bezieht dies beispielhaft auf die Situation des Todes: „Eine der Valenzen in der Figuration seiner gesättigten und ungesättigten Valenzen hatte sich in der anderen Person verankert.

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Und nun ist sie tot. Ein integrales Stück seiner selbst, seines ‚Ich-undWir“-Images ist weggebrochen. [...] Eine geliebte Person stirbt [...] und die ganze Figuration der Valenzen der Überlebenden, die ganze Balance seines Beziehungsgeflechts ändert sich. (op.cit.: 148). Valenzen müssen neu ausgerichtet, die Karten des Spiels neu mit neuen Spielern gemischt, ausgegeben und gespielt werden. Freud und Elias beschreiben in ihrer jeweiligen Wissenschaftssprache einen in der Folge des Todes eines Anderen notwendigen, zielgerichteten, bestimmten Regeln folgenden und in bestimmten Schritten ablaufenden Prozess (der Trauer) als Erleben, Verhalten, Kommunizieren, Interagieren, d.h. als Aufgabe einer Ablösung. Beide verstehen die Hinterbleibenden darin als Akteure dieser Aufgabe. Diese Aufgabe wird als 'Trauer' bezeichnet. Freud konzentriert sich hierbei auf innerpsychische Abläufe der Person, Elias hat eher den Zusammenhang des persönlichen 'Beziehungsgeflechtes' im Blick. Der medizinische und psychologische Teil der Forschung zur Trauer folgte in der weiteren Entwicklung vom Grundsatz her dem freudschen Ansatz: Entscheidend ist die Personalisierung der Trauer. Sie sei ein innerliches und individuelles Symptom und erst sekundär sozial und kommunikativ. Zum Zweiten wird ihr Auftreten unter dem Aspekt einer möglichen pathologischen Entwicklung betrachtet. Freud hatte dies in seiner Schrift von 1917 mit dem Hinweis auf die Nähe einer Trauersymptomatik zu den Symptomen einer Melancholie (Depression) zumindest angedeutet. Die Bearbeitung und Erforschung der Phänomene durch medizinische und psychologische Professionen verlieh der Arbeit an der Trauer eine therapeutische Orientierung: Trauernde werden grundsätzlich als der Hilfe und der Begleitung bedürftig angesehen. Zum Dritten: Ein pejoratives Todesbild verbunden mit einer Individualisierung der 'Trauer' führte ungeachtet realen Erlebens zu einer Intensivierung zugeschriebener Trauergefühle: „Hier geschieht der 'Ernstfall' kirchlichen Handelns, die schmerzhafte und leidvolle Seite des menschlichen Lebens wird hier erfahren, Trau213

er und elementare Lebensängste und Todesängste in einer emotional und existenziell besonders dichten Situation.“ (Fechtner 2010: 53). „Entsetzen, Wut, Schuldzuweisungen, Schmerz, Angst und Sehnsucht nach dem verlorenen Menschen – eine Mischung von Gefühlen schüttelt die Trauernden mit oft unvorhersehbarer unberechenbarer Heftigkeit.“ (Uden 2006: 56) Im Sample dieser Arbeit sind nicht allein Polina solcherlei Gefühle fremd im Kontrast zu Anderen, die zu expressiven Formen der Trauer ein obsessives oder professionelles Verhältnis haben. Gegen ausufernde seelische Dramatik steht die Erfahrung auch der mentalen Profanität: „Machen Sie's kurz, Herr Pfarrer!“ (op.cit.: 9), Inges Korkenknallen als 'lustige Witwe' und 'ein Prost, dass der Alte tot ist', und Esthers Schwester, die am Abend ausgehen möchte in der Freiheit individueller Gefühle zum Thema Trauer – alles zu seiner Zeit, und eben nach individuellem Geschmack! „Dass wir trauern, ist allerdings heute mehr den je eine Entscheidung aus persönlicher Befindlichkeit und Betroffenheit“ (Sörries 2014: 10) und, so möchte ich hinzufügen: aus persönlicher Freiheit des Verhaltens. D.h.: Solch 'modernes' Trauerverständnis kann von der ehemaligen Gründung in einer libidinösen Bindung und ihrer Bearbeitung in der Trauerarbeit absehen, denn über das Maß der Bindung erlaubt sich Ego selbst zu entscheiden und nicht mehr in ihm beheimatete Instanzen. Ob Ego trauert und wie, entscheidet sie/er selbst, ob mit oder ohne starke Bindungskräfte, weil 'Trauer' wie ihre Schwester, die 'Liebe', der individuellen Wahl unterstellt sind (Winkel 2002: 14) – und dann eben, zwecks gelingender Ablösung: „… ich wünsch' dir noch ein geiles Leben!“. Was 'ist' denn in diesem Fall 'meine' Trauer? Denn nicht nur die allgemeinen Formen gesellschaftlichen Umgangs mit dem Tod, an denen das Individuum sich orientieren könnte, sind heute höchst informell, auch die Gefühlsinhalte, die beim Tod eines Anderen auftreten, sind diffus und nicht selten 'komisch'. Aber diese Gefühle sind zweifelos vorhanden, sie bewegen die 'Trauernden', machen ihnen auch zu schaffen. 214

Sie bedürfen der Erklärung, des Gesprächs, der Kommunikation, der Gemeinschaft, des Rituals. 'Trauer' sei deshalb zu einem Problem geworden, so Sörries, das in den Zeiten sozial verpflichteter Formen und Inhalte nicht auftrat, wohl aber dann, wenn Trauer als innere Regung nur bei sich selbst bleibt. Die Vermutung drängt sich mir auf, dass das Problem sich in einer zunehmenden sichtbaren Abwesenheit der Trauer zeigt, die in jener exklusiven Verinnerlichung in das Selbst verloren gegangen ist. Eigene Forschungsergebnisse (Häußler 2012: 377ff) wie Praxiserfahrungen legen diese Beurteilung durchaus nahe: Es wird weitgehend überhaupt nicht mehr getrauert, weil, wie bei Polina, das Gefühl überhaupt fehlt oder aber weder Raum noch Zeit ist, Trauer z.B. in einer Zeit der Bestattung innerhalb der jeweiligen Trauersettings zu entwickeln, denn diese Settings sind Träger der Trauer und ihrer Gefühle, z.B. für jene, die sonst nicht mehr betrauert werden, weil sie schon lange sozial gestorben sind (s. Kapitel 4). Mit der Verschiebung der Trauer in die innere Provinz der Personen ist die soziale Umwelt in solcherlei Gefühlen nicht involviert, es sei denn, sie werden zelebriert oder Eisbär Knut ist verstorben und die Trauer um ihn wird zu einem Ereignis der Unterhaltungsindustrie (Broder). Die vorausgegangenen, zugestandenermaßen etwas flapsigen Bemerkungen erheben weder den Anspruch einer unhintergehbaren Richtigkeit noch den der umfassenden Vollständigkeit; sie möchten als Anregungen zu einem anderen Blick auf den Gegenstand des Interesses verstanden werden. Eine bestimmte Sichtweise, die ich als Ergebnis meiner Beschäftigung mit meinem Material gewonnen habe, stelle ich im Folgenden dar. Aus dieser Sicht wird ein neuer (alter) Trauerbegriff ergänzend vorgeschlagen. Zunächst aber ...

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… 'kritische' Überlegungen zu einem populären Trauerverständnis Wir glauben wie selbstverständlich zu wissen, was Trauer 'bedeutet', was also gemeint, angesprochen, zum Ausdruck gebracht wird, wenn von 'Trauer' die Rede ist. Bei differenzierter Betrachtung aber bemerken wir die Unschärfe des Begriffes. Meint 'Trauer' Empfindung, Verhalten, Äußerungen in der Kommunikation, Habitus, Rolle, Identität, Erinnerung? Erlebt Ego Trauer beim Tod eines Anderen, bei der Bestattung oder (auch) erst Jahre später? Diese Fragen bleiben aufgrund der Unschärfe des Begriffes offen. Was wir über Trauer wissen und verstehen, verdankt sich, so die Vermutung, kultureller und sozialer Festlegungen des Bedeutungsumfangs sowie auch gewissen normativen Behauptungen als Definitionen, d.h. 'Begrenzungen'. Für den folgenden Unterabschnitt stelle ich ein Panel von Studien aus dem deutschsprachigen Raum vor, die schon aufgrund ihrer Verbreitung als Referenzrahmen für ein zeitgenössige Trauerbild zu gelten vermögen. Insbesondere die deutsche evangelische Kirche hat sich dieses Trauerbild für die Arbeit der 'Seelsorge' zu eigen gemacht. Ich werde mich im Folgenden immer wieder auf diese Studien beziehen. Hans Martin Gutmann (s.u.) rezensierte die theologische Dissertation von Kerstin Lammer (Lammer 2002 / 6. Auflage 2013) und kommt u.a. zu folgender Beurteilung: „In ihrem zentralen Teil, der auch den größten Umfang einnimmt, ist diese Untersuchung geradezu zu einem Handbuch der Trauerforschung geworden.“ (Gutmann 2006). Lammer tritt mit einem hohen Anspruch auf: Die letzte umfassende wissenschaftliche Darstellung zur Trauer von Yorick Spiegel sei nun 30 Jahre alt (Lammer 2010: 24). Das heißt zum einen, dass das von Spiegel seinerzeit eingeführte Paradigma die theologische, pastoraltherapeutische und poimenische Diskussion und Praxis einschließlich 216

des psychoanalytischen Vokabulars seitdem nachhaltig geprägt hat, und zum anderen, dass nun durch die Dissertation eine neue umfassende 'Sichtweise' auf das Phänomen eingeführt werden soll. Und in der Tat: Lammer entfernt sich im praktisch orientierten Teil grundsätzlich vom psychoanalytischen Ansatz Spiegels und ersetzt als Konsequenz dessen Trauerphasenmodell durch Vorstellung eines eigenen, praxisorientierten Modells, das nicht mehr fixierte Abläufe von Trauerphasen kennt, sondern in Anschluss an Wordens 'task concept' (Worden 1982) Aufgaben für Trauernde und vor allem auch ihre Begleiter in situativen Kontexten formuliert. Worden hatte unter Rückgriff auf Freuds Theorie einer Trauer als Arbeit der Trauernden das in seinen Augen passive Phasenmodell zurückgewiesen und ihren Akteurstatus hervor gehoben („Phases imply a certain passivity, something that the mourners must pass through. The task concept, on the other hand, is much more consonant with Freud's concept of grief work and implies that the mourner needs to take action and can do something“ (op.cit.: 37)) Das Aufgabenmodell drängt die Anmutung einer 'Opferrolle' der Trauernden zurück und hebt die Teilnahme als Akteure am Prozessgeschehen der Bestattung hervor. Lammer kommt aus der Krankenhausseelsorge. Die Zielsetzung ihrer Studie ist deshalb zunächst auf bestimmte Aufgabenstellungen und dazu notwendige Qualifizierungen der in der Krankenhausseelsorge tätigen SeelsorgerInnen bezogen: Sterbebegleitung und rituelle Aussegnung am Sterbebett. In einem zweiten Schritt konzipiert Lammer ein daran anschließendes allgemeines und über die Krankenhausseelsorge hinausgehendes Trauerarbeits- und BegleitungsProgramm. Situativer Ausgangspunkt ist die Erfahrung perimortaler Seelsorge an Sterbenden, Angehörigen und Mitarbeitenden im Krankenhaus. Praktisch und auf der Theorieebene folgt Lammer hierbei Elisabeth Kübler-Ross, deren Sterbephasenmodell sie aufnimmt und für das eigene Modell modifizierend fruchtbar macht. In der Erfahrung des 217

Sterbens des Anderen sieht Lammer – in einer gewissen Nähe zu Macho – die Urerfahrung von Trauer (op.cit.: 60). Die ihren Erfahrungen zugrundeliegende 'Situation der 'Trauer'' unterscheidet sich grundlegend von jenen postmortalen Kontexten und den darin eingebetteten Traueremotionen oder -symptomen, deren Erhebung zu den Ergebnissen der anglophonen Trauerphasen-Forschung geführt hatten und die u.a. auch Spiegel zugrunde lagen. Für Lammer sind es Situationen akuter Sterbe- und Todeserfahrungen an einem nahen Anderen im Kontext seelsorgerlicher Begleitung, wie sie auch KüblerRoss in ihren Studien erhoben hat. Eine solche Situationsanbindung einschließlich der Begrenzung des trauernden Personenkreises auf die Hinterbleibenden, die den Verlust eines 'signifikanten' Anderen zu verschmerzen haben, ist ein Alleinstellungsmerkmal der Theorie Lammers. Aufgabe ihrer Arbeit ist die Konzeption einer am Individuum orientierten perimortalen kirchlichen Trauerbegleitung; die Krankenhausseelsorge bietet dafür bereits bestehende personelle Ressourcen. Hierzu ist ein Überdenken der „kontextuellen Verortung kirchlicher Trauerbegleitung' (op.cit.: 57) nötig. Traditionell orientiert sich diese am Kasual der Bestattung und an dem dabei implizierten seelsorgerlichen Trauerbesuch. Weil dieses Angebot aber im Trauerprozess zu spät kommt, der Individualität der Trauernden nicht gerecht wird und auch nicht mehr von allen Gemeindemitgliedern angenommen wird, sei das „Angebot der kirchengemeindlichen Bestattung […] durch die perimortale Trauerbegleitung […] zu ergänzen.“ (op.cit.: 58; vgl. op.cit.: 61) Lammer erweitert ihre Zielsetzung um eine postmortale Begleitung in der Trauerarbeit. Diese hätte die Funktion der Hilfe zur Initiation bzw. zur Prävention von Fehlleitungen des Trauerprozesses (op.cit: 230). „Kirchliche Trauerbegleitung durch die Bestattung und in deren Kontext ist notwendig, aber nicht mehr hinreichend.“ (op.cit.: 47) Lammer versteht dieses Resüme in Bezug auf den Ritus der Bestattung und seine Akteure mit Bezug auf Spiegel 218

aber primär qualitativ. Spiegel hatte als eine Funktion des Passageritus (nach van Gennep) u.a. die 'Kontrolle von Emotionen' (Spiegel 1972: 103; 'kontrollierte Klage' 116) vermutet: Rituale „dienen dazu, die Emotionen unter Kontrolle zu halten: Sie gestatten auf der einen Seite, dass diesen Emotionen voller Ausdruck gewährt wird, begrenzen Sie aber zugleich, indem sie durch festgelegte Formen die gefühlsmäßigen Ausbrüche in bestimmte anerkannte Ausdrucksformen bringen und die Gefühlsausbrüche zeitlich beschränken.“ (op.cit.: 103) Diesen Aspekt hatte Spiegel eingebunden gesehen in die allgemeine Funktion des Rituals, nämlich der 'symbolischen Vorzeichnung des Weges', „den das Individuum zu gehen hat.“ (ebd.) Spiegel hatte aber dazu einschränkend hervorgehoben, dass angesichts der Unterschiedlichkeit der Bedürfnislagen der Individuen das Ritual nur sehr allgemeine Wege und Linien des Empfindens und Verhaltens aufzeigen und dem Bedürfnis des Einzelnen kaum in Gänze gerecht werden kann. So wie das Ritual die Intensität der Emotionen kontrolliert, so kann es auch diese verstärken beziehungsweise wecken, indem es einen kontrollierten Raum schafft, in dem diese ausgelebt werden können. Im Zusammenhang damit weist Spiegel auf den Sachverhalt hin, den Wouters zu seiner These der Informalisierung ausformulierte: „Im Verlauf dieses Jahrhunderts lässt sich eine zunehmende Entemotionalisierung des Begräbnisrituals“ (z.B. in der Trauerpredigt) und des Verhaltens bei Trauer in der Öffentlichkeit beobachten. Gefühlsäußerungen wurden vom öffentlichen in den privaten Bereich verdrängt. (op.cit.: 117f) Lammer nimmt die Überlegungen Spiegels auf und bezieht sie konzentriert auf den Aspekt der Kontrolle auf das Gesamtbild der kirchlichen Bestattung. Diese, so ihre Bewertung, „inszeniert die soziokulturellen Trauerkonventionen und erlaubt, aber erfordert auch ein entsprechend kanalisiertes öffentliches Trauerverhalten, das sich stark von den individuellen Bedürfnissen und inneren Prozessen der 219

Trauernden (grief) unterscheiden kann. Die Kontrolle von Emotionen gehört konstitutiv zu den Funktionen und Erfordernissen des Bestattungsritus […] Man zeigt sich nicht teilnahmelos, aber gefasst; Klage, Protest, Aggressionen etc. sind unterrepräsentiert.“ (Lammer 2010: 58) Die Reichweite seelsorgerlicher Arbeit der Pastoren und Pastorinnen sei hiervon massiv betroffen: „Vor allem dann, wenn der Erstkontakt erst im Kontext der Bestattung zustande kommt, müssen Pastoren und Pastorinnen von den Trauernden als AgentInnen der gesellschaftlichen Kanalisierung der Trauer wahrgenommen werden.“ (op.cit.: 59) Die Funktion der kirchlichen Bestattung sieht Lammer in der „Veröffentlichung, Inszenierung und Kanalisierung von Abschied und von Trauer.“ (op.cit: 60) An entscheidender Stelle, so ihr abschließendes Fazit, sei aber das Ritual der kirchlichen Bestattung defizitär: „Der Kontext von Öffentlichkeit und Ritual (mourning) lässt individuellen Problem- und Bedürfnislagen und subjektivem Trauererleben (grief) nur begrenzt Raum, ja, ist strukturell auf deren Eingrenzung ausgelegt.“ (ebd.) Die Aufgabe der Seelsorgenden und Therapeuten ist die einer verstehenden Begleitung, die bereits im Sterbeprozess einsetzt und auf die 'individuellen Bedürfnisse und inneren Prozesse der Trauernden' in seiner Trauerarbeit aktuell eingeht (op.cit.: 58), die sich, so verstehe ich ergänzend, in den jeweils konkreten Situationen der 'Trauer' eröffnen. Lammer erarbeitet dafür in Auswahl aus Ergebnissen vorausgegangener Modelle (op.cit.: 224ff) ein eigenes Phasenmodell. Solche Trauerarbeit, und dies darf als entscheidende praktische Resultante der Überlegungen Lammers angesehen werden, bedarf der begleitenden, professionalisierten Hilfe. D.h.: Das Individuum kann den Weg der Trauer nicht alleine gehen. Ein abschließender Teil der Arbeit von Lammer beschäftigt sich mit der Ausarbeitung von nötigen Kompetenzen, Konkretionen und Kunstregeln für eine perimortale Trauerbegleitung (op.cit.: 233–276).

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Trotz konzeptioneller Offenheit gegenüber den Formen des Verhaltens und Empfindens von Trauernden, formuliert Lammer in Bezug auf den Begriff 'Trauer' dennoch Behauptungen zu einer Reihe von 'inhaltlich weitgehend anerkannt(en) und unhintergehbar(en)' „Erkenntnisse(n) über Funktion und Aufgabe des Trauerprozesses und über die Bedeutung von Trauerarbeit und Trauerexpression“ (op.cit.: 84). Ich hatte oben von einem Panel gesprochen; warum dies? In Lammers später erschienenen Auflagen von 'Trauer verstehen' (Lammer 2014) sind Weiterentwicklungen des Paradigmas zu erkennen. Diese werden in die folgenden Überlegungen eingearbeitet.

(1) Trauer als Reaktion auf Verlusterfahrungen? Analog zu Spiegel legt sich Lammer gleich zu Beginn ihrer Dissertation auf eine der Trauerformel Freuds „mit kleinen Veränderungen“ folgende eigene Definition von Trauer fest: „Trauer ist regelmäßig die Reaktion auf einen Verlust, speziell auf den Verlust einer signifikanten Person.“ (op.cit.: 31). Sie erweitert diese Definition: Trauer finde sich „in vergleichbaren Erscheinungsformen auch als Reaktion auf andere lebensgeschichtliche Verluste“ (op.cit.: 32). "Trauer ist die normale Reaktion auf einen bedeutenden Verlust", so heißt es in 2014. Sie muss nicht "in jedem Todesfall auftreten, sondern nur dann, wenn bzw. nur in dem Maße, wie ein Todesfall von den Hinterbliebenen als Verlust erlebt wird." (Lammer 2014: 2; vgl Lammer 2010: 32). Unklar bleibt aber zunächst, was unter 'Verlust' zu verstehen sei und wie dieser von den Individuen und Kollektiven jeweils rezipiert wird. Die Frage nach der Trauer war für Sigmund Freud die Frage nach der Person und ihrer interpersonalen objekthaften Beziehungen zu Menschen oder Dingen. Primär sind schmerzhafte Erfahrungen aufgrund des Verlustes eines – so Freud – 'libidinös besetzten Objektes'.

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„Der Schmerz ist also die eigentliche Reaktion auf den Objektverlust ...“ (Freud 1926: 307). Diese Objektorientierung ist die Pointe des Freudschen Trauerverständnisses! Trauer ist die sekundäre Reaktion auf den Verlust des Objektes der Liebe, denn: „Die Trauer entsteht unter dem Einfluss der Realitätsprüfung, die kategorisch verlangt, dass man sich von dem Objekt trennen müsse, weil es nicht mehr besteht. Sie hat nun die Arbeit zu leisten, diesen Rückzug vom Objekt in allen Situationen durchzuführen, in denen das Objekt Gegenstand hoher Besetzung war. Der schmerzliche Charakter dieser Trennung fügt sich dann der eben gegebenen Erklärung durch die hohe und unerfüllbare Sehnsuchtsbesetzung des Objekts während der Reproduktion der Situationen, in denen die Bindung an das Objekt gelöst werden soll.“ (Freud 1926 StA 6: 308) Grund einer problematischen oder gar pathogenen 'Trauer' ist für das Verständnis Freuds das 'Beibehalten einer Libidoposition' (ebd.); der Mensch will oder kann das Objekt seiner Zuwendung und emotionalen Adhäsion nicht loslassen. In dieser Konzeption sieht Freud den 'Trauernden' als Akteur mit einer bestimmten Aufgabe, allerdings 'im Innern'' des trauernden Individuums. Diese Loslösung ist die notwendige „Arbeit, welche die 'Trauer' leistet“. (ebd.) Das Institut einer Trauerzeit wird hier von ihm verinnerlicht: „Die Durchführung dieser Libidoabziehung kann nicht ein momentaner Vorgang sein, sondern […] gewiß ein langwieriger, allmählich fortschreitender Prozess“ (op.cit.: 209), in dem schließlich „der Respekt vor der Realität den Sieg behält“ (op.cit.: 198f). Aber auch die verinnerlichte Trauerzeit ist begrenzt; Freud vertraut darauf, dass die 'Trauer' „nach einem gewissen Zeitraum überwunden sein wird, und (hält) eine Störung derselben für unzweckmäßig, selbst für schädlich“ (op.cit.: 197). Was aber nun ist ein Verlust? Innerhalb der Formel definierten die Begriffe sich gegenseitig: Trauer bedeutet aktive Re-Aktion auf die Notwendigkeit des Loslassenmüssens (das Tragen des Sarges durch 222

Enzos Freunde kann als solche Re-Aktion verstanden werden). Der Begriff 'Verlust' korreliert mit der Aufgabe des Loslassens und der Trennung. Der so beschriebene innerpsychische Prozess, so Freud, sei regelmäßig, liefe grundsätzlich bei jedem Todesfall eines nahen Anderen ab und hätte insofern den Charakter regelgemäßer Normalität. Nun ist 'alltägliche' Trauer – bzw. allgemeiner: Stress – für die Psychologie in der Tat Reaktion auf Verlusterfahrungen 'an sich'. Für Hobfoll sind Stress (und damit auch Trauer) bezogen auf den Verlust von 'Dingen' ('resourcen'), die uns unmittelbar angehen, die unsere Sorgen und Ängste, unsere Ziele und Hoffnungen, unseren 'Glauben' betreffen (Hobfoll 1988: 2). Thomas Holmes und Richard Rahe (Holmes & Rahe 1967) hatten in ihrem Suchen nach stressauslösenden Erfahrungen kritische Lebensereignisse ('critical life events') identifiziert und diese in ihren Auswirkungen auf die physischen und psychischen Befindlichkeiten von Personen gemessen, in einer 'social readjustment rating scale' (SRRS) nach Intensität der Beeinflussung geordnet und heraus gearbeitet (Holmes & Rahe 1967: 217): Die Erfahrung solcher kritischen Lebensereignisse (allen voran der Tod des Ehepartners) rufen unterschiedliche natürliche und spontane Befindlichkeiten wie Angst, Wut, Verzweiflung, Hilflosigkeit und Verlust des Selbstwertgefühls hervor. Diese Befindlichkeiten führen zu spezifischen psychosomatischen Reaktionen des Individuums. Pathologische Reaktionen des Individuums aufgrund des Erlebens dieser Ereignisse werden befürchtet. Stevan Hobfoll (1988) hat in Weiterführung des Modells von Holmes & Rahe sein Stressmodell der 'conservation of resources' vorgestellt. 'resources' können verstanden werden als 'Lebensmittel', also als all das, was die Personen für die Führung ihres Lebens als wichtig erachten: Personen, materielle Objekte, Energie, Kapitalien (im Sinne von Bourdieu), Glück, Wohlstand, Sicherheit, Selbstbestätigung, Identität … Menschen sind grundsätzlich bestrebt, in diese 'resources' zu investieren, sie zu gewinnen und zu akkumulieren. Die 'Akkumu223

lation von Ressourcen' (op.cit.: 43ff) eröffnet Zukunftsperspektiven und stärkt positive Energien zum Gewinn weiterer Ressourcen. Hobfoll spricht hier von 'eustress'. Die Erwartung und das Erfahren des Gewinns führt zu psychischem und somatischem Wohlbefinden. Stress ist analog dazu Produkt des Erlebens oder der Bedrohung, dass Ressourcen verloren gehen bzw. nicht mehr aufgebaut werden können, dass sich Investitionen nicht gelohnt haben. Dies führt zu negativen bis pathologischen Symptomen (u.a. der Trauer ('grief')). Hobfolls Modell ist ökologisch und sozial und deshalb in der Lage, Empfinden und Verhalten multidimensional (s.o. Kap. 2) zu erfassen und zu erklären. So können Empfinden und Verhalten im Fall eines Verlustes zwischen Realisierung des Verlustes und dem Einsatz oder dem Erstreben positiver Ressourcen 'oszillieren' (s.u. Stroebe & Schut 1999). Je nach sozialen und individuellen Faktoren, Einflüssen der Umwelt und persönlichen Dispositionen werden aktive und passive Verhaltensmuster und entsprechende Emotionen realisiert. Im Rahmen des Modells ist es letztlich aber der aktive Aspekt der Reaktion auf Verlusterfahrungen, den Hobfoll hervorhebt: Individuen erleiden den Verlust einer 'geliebten' Ressource und sind zugleich immer auch bestrebt, diesen Verlust auszugleichen. Insofern sowohl Stress als auch Trauer als Reaktion auf einen Verlust verstanden wird, ist solche Multidimensionalität eine berechtigte Forderung auch an das Verstehen der Phänomene der Trauer (so auch Lammer 2014: 20f). Mehr noch: Trauer kann als Stress verstanden werden. Der Tod eines Anderen kann eine Erfahrung eines Verlustes an lebenswichtigen und notwendigen Ressourcen hervorrufen und zudem, was bedeutsamer ist: Den Verlust der Energie zum aktuellen Ausgleich des Verlustes (z.B. die Möglichkeit wieder zu lieben). Hierbei ist nicht allein die geliebte Person des Toten verloren gegangen, sondern auch die Hoffnung darauf, wieder lieben zu können, ist in Gefahr (op.cit.: 27). Hobfoll verweist als Beispiel auf die Situation der Juden nach dem Holocaust. Die Überlebenden hatten ihre 'loved 224

ones', Heimat und Sicherheit, ihren Glauben und ihre persönliche Integrität verloren. Der Neuaufbau von Familien nach dem Krieg war infolge dessen von vorrangiger Bedeutung. "Sie neigen dazu, ihre Kinder als eine Wiedergeburt einer verlorenen Welt und gar als eine Wiedergeburt des Teils von ihnen zu sehen, der in den Todeslagern umgekommen waren. Es ist auch nicht verwunderlich, dass viele kamen, um ein Land für Juden in Israel wieder aufzubauen ..." („They tend to see their children as a rebirth of a lost world and even a rebirth of the part of themselves that perished in the death camps. Nor is it surprising that many came to rebuild a country for Jews in Israel ...“ – op.cit.: 27f). 'Trauer’ als Stress ist also gekennzeichnet durch eine Lebenssituation, in der Hinterbleibende die Bedrohung ihrer Netto-Bilanz an Ressourcen des Lebens erfahren. Der Tod eines nahen Anderen bewirkt diese Bedrohung des Selbstbildes, des ökonomischen und sozialen Status, des sozialen Lebens an sich (op.cit.: 27). Trauerbräuche scheinen transkulturell auf diese Bedrohung zu antworten. So arbeitete Stubbe (1985: 246 ff) folgende Funktionen der ‚Trauer’ heraus, die u.a. zur Bereitstellung und der Möglichkeit des Erwerbs spezifischer wertgeschätzter Ressourcen dienen: (1) Eine instrumentale (quasi kollektive) Funktion versichert sich gegenseitiger Hilfe, gemeinsamer Handlungen und Verhaltens. (2) Eine expressive (quasi personale) Funktion sorgt für emotionale Unterstützung, für Trost und für äußerliche und innere Nähe. D.h.: Bereits bestehende Zusammengehörigkeiten werden deutlich – weshalb sich die Familie oder Gruppe zu Trauerfeierlichkeiten in der Regel bewußt als Gruppe trifft. Neue Zugehörigkeiten werden generiert und zusätzliche soziale Bindungen geschaffen. Ist Trauer ausschließlich eine passive bis resignative Reaktion auf einen Verlust? In seiner Ausschließlichkeit kann dieses Verständnis Erleben und Leben im Trauerfall nicht erklären, weil hier ein wesentliches Akteur-Moment fehlt: "Andere Stressmodelle haben nicht ge225

fragt, welche positive Aktion als Reaktion auf Stress auftritt. Stattdessen .... beschreiben (sie) nur die Zusammenbruchreaktion, wenn Stress auftritt." („Other stress models have not postulated what positive action occurs in response to stress. Instead … describe only the breakdown response when stress occurs.“ – Hobfoll 1988: 26). Hobfolls Modell zielt auf eine Trauerarbeit, die die Möglichkeiten des Ressourcen-Gewinns fördert. Worden hatte diesen aktiven zukunftsgerichteten Aspekt ebenfalls betont. So ist das Model der RessourcenKonservierung von Hobfoll auch für Trauerphänomene umfassend aussagekräftig und anschlussfähig für weitere Theorien der Trauer.

(2) Trauer = grief? „Mit Hilfe der im Angelsächsischen unterschiedlichen Begriffe für das deutsche Wort »Trauer«, nämlich »mourning« und »grief« kann L. zeigen, dass sich das kirchliche Angebot, das sich in der Regel auf die Gestaltung und Vorbereitung von Bestattungsgottesdiensten konzentriert, zu stark auf die äußerliche, öffentlich wahrnehmbare Gestalt des Trauerfalles (mourning) konzentriert. Die subjektiven, emotionalen Erfahrungen der Trauer (grief) sind in der unmittelbaren Situation von Verlust und Abschied in der Regel am drängendsten. Gerade hier kann und soll seelsorgerliche Begleitung ihren Ort finden.“ (Gutmann 2006: 1217). Die Terme 'grief', 'mourning', 'sorrow' und 'bereavement' finden im alltäglichen, anglophonen Sprachgebrauch im Zusammenhang eines Todesfalls Verwendung (vgl. Stroebe & Stroebe 1987: 7; Lammer 2010: 37) In einer Übersetzung ins Deutsche wird dazu jeweils der eine Begriff 'Trauer', gegebenenfalls mit Komposita, herangezogen. Lammer weist den englischen Termini ganz bestimmte de-finite Bereiche der Lebenswelt (Lammer 2010: 46) bzw. Aspekte an Bedeutung zu. So gehöre 'grief' zum Bereich des subjektiven individuellen

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Empfindens und des privaten Lebens, wohingegen 'mourning' zu dem des „öffentlich-sozialen Trauerverhaltens“ (ebd.), also des Handelns und der Kommunikation zu zählen sei. Das deutsche Lexem 'Trauer' dagegen ist ein offener Begriff und bedarf der Ergänzung. 'Trauer ist', wenn jemand traurig ist, oder entsetzt, oder ängstlich, oder einfach nur weint … 'Trauern heißt: Trauerkleidung anlegen, eine Trauerzeit begehen, Trauer 'tragen'. Die bestattende Gemeinschaft ist eine 'Trauergemeinde'. 'Trauer' ist dann ein Wort mit vielen Bedeutungen, eine Begrifflichkeit, die auch Anderes beschreibt: Gefühle (z.B. 'traurig sein'), psychosomatische Reaktionen, Verhalten, eine bestimmte Art der Interaktion und Kommunikation, Sensibilität für Situationen und Kontexte individueller und sozialer Art. 'Trauer' geschieht im Erleben, in inneren Bewegungen wie in komplexen sozialen Prozessen, in interpretierender und kommunikativer Interaktion wie in persönlichen Rückzügen und Verschlossenheiten. In der wissenschaftlichen Sprache dienen die engl. Terme der Differenzierung und Präzisierung. Averill (1968 / 2013) hatte den Trauerprozess als von ihm so benannten 'bereavement behavior complex' analysiert und darin zwei 'components' identifiziert, die er mit den beiden vorfindlichen Begriffen: 'grief' und 'mourning' (ich folge Izard (1991: 204)) bezeichnet. 'Mourning' weist dabei auf sozio-kulturelle Determinanten des Trauerverhaltens, 'grief' auf die individuellen' bzw. persönlichen Determinanten. 'Mourning' und 'grief' sind aber für Averill zwei Seiten einer Medaille: "mourning ohne grief und grief ohne mourning sind Abstraktionen, die in der Praxis selten vorkommen. Im besten Fall können sie als Extremwerte eines Kontinuums angesehen werden. Jede tatsächliche Episode von Trauer enthält sozial bestimmte Elemente sowie Elemente basierend auf biologischen und psychologischen Faktoren." („But mourning without grief and grief without mourning are abstractions that seldom occur in practice. At best, they can be taken to represent the extremes of a con227

tinuum. Any actual episode of grief will contain socially determined elements, as well as elements based on biological and psychological factors.“ – Averill 2013: 341) Die Psychologie lenkt dabei den Blick mutmaßlich auf innerpersonale mit 'grief' bezeichenbare Symptome, weil: "grief ist dennoch ein ausgeprägtes emotionales Syndrom" („grief is nevertheless a distinct emotional syndrome“ – ebd.). Dem deutschen Lexem 'Trauer' entspricht in seinem Bedeutungsumfang am ehesten der englische Term 'mourning'. Die erste Übersetzung von Freuds 'Trauer und Melancholie“ durch Joan Riviere aus dem Jahr 1922 verwendet für das Lexem 'Trauer' den Begriff 'mourning', weiß dabei aber durchaus zwischen 'mourning' und 'grief' zu differenzieren. Freuds „Normalaffekt der Trauer“ erweitert sie durch „normal emotion of grief, and its expression in mourning“, „schwere Trauer“ wird mit „profound mourning“ übersetzt. Die 'klassische' Definition' der Trauer durch Freud übersetzt Riviere mit: „Mourning is regularly the reaction to the loss. […] As an effect of the same influences, melancholia instead of a state of grief develops [...] It is also well worth notice that, although grief involves grave departures from the normal attitude of life …“ (Unter den nämlichen Einwirkungen zeigt sich bei manchen Personen […] anstelle der Trauer eine Melancholie. Es ist auch sehr bemerkenswert, dass es uns niemals einfällt, die Trauer als einen krankhaften Zustand zu betrachten […] obwohl sie schwere Abweichungen vom normalen Lebensverhalten mit sich bringt. (Freud 1917: 197)). Freud selbst nimmt 1917 diese Differenzierungen nicht explizit vor, trennt aber 10 Jahre später ausdrücklich die Begriffe Trauer und Schmerz: „Der Schmerz ist also die eigentliche Reaktion auf den Objektverlust ...“ (Freud 1926: 307). Die „The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, (Volume XIV (1914–1916): On the History of the Psycho-Analytic Movement, Papers on Metapsychology and Other Works, 237–258) verwendet in Freud 1917 für den Begriff 'Trauer' grundsätzlich den engl. Term 'mourning': „The German ‘Trauer’, like 228

the English ‘mourning’, can mean both the affect of grief and its outward manifestation. Throughout the present paper, the word has been rendered ‘mourning’. ("Der deutsche Begriff ,Trauer ', wie der englische Term mourning, kann sowohl den Affekt des Kummers als auch seine äußere Erscheinung bedeuten. In der gesamten vorliegenden Arbeit wurde das Wort "Trauer" mit mourning wiedergegeben." – op.cit.: 243 Anm. 1). Damit werden Festlegungen auf bestimmte Inhalte vermieden. Auch Stroebe & Stroebe (1987) verstehen 'grief' im Sinn einer psychologischen Definition als „the emotional (affective) response to loss, which includes a number of psychological and and somatic reactions.“ ("...die emotionale (affektgesteuerte) Antwort auf den Verlust, der eine Reihe von psychologischen und somatischen Reaktionen beinhaltet." – Stroebe & Stroebe 1987: 7). Sie zielten auf eine Begriffsklärung ('clarification'). Sie beziehen sich in der Begriffsbestimmung von 'mourning auf die klassischen, 'prägnanten' Zitate Durkheims: „Le deuil n'est pas l'expression spontanée d'émotions individuelles. Si les parents pleurent, se lamentent, se meurtrissent, ce n'est pas qu'ils se sentent personnellement atteints par la mort de leur proche. „Le deuil (qui s'exprime au cours de certaines ceremonies) n'est pas un mouvement naturel de la sensibilite privee, froissee par une perte cruelle; c'est un devoir impose par le groupe. On se lamente, non pas simplement parce qu'on est triste, mais parce qu'on est tenu de se lamenter. C'est une attitude rituelle qu'on est oblige d'adopter par respect pour l'usage, mais qui est, dans une large mesure, independante de l'etat effectif des individus. Cette obligation est, d'ailleurs, sanctionnee par des peines ou mythiques ou sociales.“ Emile Durkheim, Les formes élémentaires de lavie religieuse: Paris,1912, Travaux de l'Année sociologique, p. 568. 229

„One initial fact is constant: mourning is not the spontaneous expression of individual emotions.[1258] If the relations weep, lament, mutilate themselves, it is not because they feel themselves personally affected by the death of their kinsman.“ „Mourning is not a natural movement of private feelings wounded by a cruel loss; it is a duty imposed by the group. One weeps, not simply because he is sad, but because he is forced to weep. It is a ritual attitude which he is forced to adopt out of respect for custom, but which is, in a large measure, independent of his affective state. Moreover, this obligation is sanctioned by mythical or social penalties.“ E. Durkheim, The Elementary Forms of the Religious Life. Translated by Joseph Ward Swain. George Allen & Unwin Ltd. 1915

Stroebe & Stroebe schreiben dem durkheimschen 'deuil' ('dolor', lat.) mit der Übersetzung 'mourning' folgende Bedeutung zu: „Mourning refers to the act expressive of grief. This acts are shaped by the mourning practices of a given society or cultural group, which serve as guidelines for how beraeved persons are expected to behave. As Durkheim stated succinctly ...“ ("mourning bezieht sich auf den Akt des Ausdrucks von grief. Diese Akte werden von den Trauerpraktiken der jeweiligen Gesellschaft oder kulturellen Gruppe geprägt, die als Richtlinien dafür dienen, wie sich die trauernden Personen verhalten sollen. Wie Durkheim kurz und bündig gesagt hat ... "Stroebe & Stroebe 1987: 7; vgl. Lammer 2010: 37). Nun hat französisch 'dueil' den Bedeutungsumfang von Schmerz, Pein, Qual. Durkheim bezieht dies auf die im Rahmen der referierten Bestattungsrituale zugefügten Verletzungen und daraus resultierenden Schmerzen der Trauernden. Der Begriff 'dueil' wird aber auch „verwandt in Fällen, wo es um den Schmerz über den Tod geschätzter 230

oder geliebter Mensch geht.“ (Scholler 1959: o.S.) Eine Übersetzung durch 'grief' wäre also angemessen gewesen. Naheliegender ist aber, dass nicht nur zur Zeit der anglophonen Übersetzung der Durkheimschen Religionsschrift von 1915 der Begriff 'mourning' jene emotionalen und individuellen Komponenten enthielt, die ihm in der wissenschaftlichen Diskussion mit dem Ziel theoretischer Differenzierung und begrifflicher Präzisierung entnommen worden. Stroebe & Stroebe nehmen also hier diese Differenzierung vor: Zum Bedeutungsumfang von Trauer gehört sowohl 'grief' als auch 'mourning' (mit 'mourning' wird das Tragen von Trauerkleidung ausgedrückt; diese Sitte enthält auch emotionale Komponenten). Analog enthält 'grief' soziale Anteile. Kenneth Doka weist abschließend auf folgenden Sachverhalt hin: „Acute grief is different from bereavement or mourning. Bereavement is an objective state of loss: If one experiences a loss, one is bereaved. Bereavement refers to the fact of loss, while grief is the subjective response to that state of loss. Mourning has two interrelated meanings in the scholarly literature on the subject. On one hand, it describes the intrapsychic process whereby a grieving individual gradually adapts to the loss, a process that has also been referred to as "grieving" or "grief work." Grief can also denote a social process, the norms, behavior patterns, and rituals through which an individual is recognized as bereaved and socially expresses grief; for example, wearing black, sending flowers, and attending funerals. “ ("Akute grief ist von bereavement oder mourning zu unterscheiden. Bereavement ist ein objektiver Zustand des Verlusts: Wenn jemand einen Verlust erfährt, ist er ein 'Zurückgelassener'. Bereavement bezieht sich auf die Tatsache des Verlusts, während grief die subjektive Antwort auf diesen Verlustzustand ist. Mourning hat in der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema zwei zusammenhängende Bedeutungen. Auf der einen Seite beschreibt es den intrapsychischen Prozess, bei dem sich ein trauerndes Individuum allmählich dem Verlust anpasst, ein Prozess, der auch als grieving oder "Trauerarbeit" 231

bezeichnet wird. Grief wiederum kann auch einen sozialen Prozess, die Normen, Verhaltensmuster und Rituale bezeichnen, durch die ein Individuum als Hinterbliebener anerkannt wird und sozial Trauer ausdrückt; zum Beispiel, schwarz zu tragen, Blumen zu schicken und Beerdigungen zu besuchen." – Doka 2018))

(3) Trauer als Schwester der Melancholie ? „Trauer kann […] pathologisiert werden und zu einer klinischen Depression führen.“ so Lammer in ihrer Dissertation als Zusammenfassung der Gedanken Freuds (Lammer 2010: 72). In der Tat hatte Freud in seinem Essay „Trauer und Melancholie“ den 'Normalaffekt der Trauer' herangezogen, um damit „das Wesen der Melancholie durch ihre Vergleichung […] zu erhellen.“ (Freud 1917). Freud diagnostiziert eine starke Übereinstimmung der Symptomatik „bis auf einen einzigen; die Störung des Selbstgefühls fällt bei ihr weg.“ (ebd.) Eine grundsätzliche Tendenz zur Pathologisierung der Trauer kann aber den Gedanken Freuds nicht entnommen werden. Für Freud ist Trauer nur bei entsprechender individueller Disposition pathogen. Darüber hinaus ist Trauer ein 'Normalaffekt'. D.h.: Melancholie und Trauer sind allein aufgrund des Vergleichs 'miteinander verwandt'. Außerhalb dessen ist Trauer angesichts demografischer Sachverhalte zu Beginn des 20. Jhds eine 'Normalität', denen sich der Psychoanalytiker kaum zuwenden kann. Tod und Trauer waren nicht Extreme und Ausnahmesituationen menschlichen Lebens, sondern – zumal in Kriegszeiten – überaus zahlreiche Alltagserfahrungen, denen man je nach Schicht oder Klasse durch soziale und gesellschaftliche Maßnahmen unterschiedlich begegnete. Ein Arzt-Patienten-Setting gehört nur für eine verschwindend kleine Zahl von Hinterbleibenden zu diesen Maßnahmen.

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Der Tod seiner Tochter Sophie an der spanischen Grippe drei Jahre später ist ein Schicksalsschlag, den Freud mit vielen Anderen teilen und 'bewältigen' muss. 6 Jahre später wird er diesen Tod und andere aufarbeiten (Freud 1926). Weiterhin wird aber sein Interesse auf Krankheitsbilder gerichtet sein. Vater der psychiatrischen Trauer-Forschung und mehr noch: ihrer Therapie ist Erich Lindemann. Ein Jahr vor dem Ende des Krieges von 1939–1945 veröffentlicht er seinen Forschungsbericht „Symptomatology and Management of Acute Grief''. Ausgangspunkt des Forschungsinteresses sind u.a. die 'Situationen' (im Sinne von: "Ereignisse und ihre Bedingungen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort" – Cambridge Dictionary) sozialer Trennung und des erfahrenen Todes eines Angehörigen z.B. durch Kriegsdienst für die Hinterbleibenden, die Vermutung von Traumatisierung durch erlebte Desaster und dabei erlittener Todesfälle; mit seiner Forschung will Lindemann die gesundheitspolitische Notwendigkeit der Evaluation solcher Lebensumstände und ihrer wahrscheinlichen Wirkung auf die geistige und körperliche Gesundheit der Bevölkerung (Lindemann 1944: 187) aufzeigen. Der 'psychiatrist' steht also vor der Aufgabe des Verstehens des aus diesen Erfahrungen resultierenden Empfinden und Verhaltens und der Erkenntnis möglicher daraus erwachsender Krankheitsbilder: „Bereavement or the sudden cessation of social interaction seems to be of special interest because it is often cited among the alleged psychogenic factors in psychosomatic disorders.“ ("Ein Trauerfall oder das plötzliche Aufhören der sozialen Interaktion scheint von besonderem Interesse zu sein, weil sie (in der Literatur) oft zu den angeblichen psychogenen Faktoren bei psychosomatischen Störungen gezählt werden." – ebd.) Für Lindemann sind bestimmte spezifische psychosomatische Symptomatiken eine 'normale' Reaktion auf eine Streßsituation (Lindemann 1944: 186), der 'Stressor:' 'Tod eines Anderen' als 'traumatische Krise' kann aber zu bestimmten pathologischen Reaktionen 233

führen. In 'psychiatrischen Interviews' mit 101 'patients' gewinnt er ein 'remarkably uniform picture' der psychologischen und somatischen Symptome 'in acute grief'. 'Acute grief' bezieht sich nicht nur auf perimortale Symptomatiken („may appear immediately after a crisis; it may be delayed ...“ 142), sondern vor allem auf spätere und dann möglicherweise pathologische Erscheinungsformen, die der psychiatrischen Behandlung bedürfen. Lindemann nennt 'five points' der Einteilung der Symptomatik, als, so zusammenfassend: „pathogonomic for grief' (op.cit.: 189): somatic distress, preoccupation with the image of the deceased, guilt, hostile reactions, loss of patterns of conduct (a.a. O.: 189). Damit ist ein Krankheitsbild umschrieben, das der Therapie bzw. spezifischer Trauerarbeit bedarf! In dem Verständnis der Funktion und des Ziels der Trauerarbeit scheint Lindemann dabei Freud zu folgen: „emancipation from the bondage to the deceased, readjustment to the environment in which the deceased is missing, and the formation of new relationships“ ("Lösung von der Bindung an den Verstorbenen, Neuanpassung an die Umgebung, in der der Verstorbene fehlt, und die Bildung neuer Beziehungen" – op.cit.: 190). Das bereits bei Freud identifizierte Arzt-Patienten-Setting mediiert diesen Prozess und führt zum 'Erfolg'. Lindemann erweitert dieses zudem zum Feld seiner empirischen Bemühungen: 'With eight to ten interviews in which the psychiatrist shares the grief work, and with a period of from four to six weeks, it was ordinarily possible to settle an uncomplicated and undistorted grief reaction. This was the case in all but one of the 13 Cocoanut Grove fire victims.“ ("Bei acht bis zehn Interviews, in denen der Psychiater die Trauerarbeit begleitete, und mit einer Dauer von vier bis sechs Wochen, war es normalerweise möglich, eine unkomplizierte und unverzerrte Trauerreaktion zu erreichen. Dies war bei allen außer einem der 13 Brandopfer von Cocoanut Grove der Fall." – op.cit.: 192) Zunächst konzipierte Lindemann die Studie als Erhebung von Reaktionen nach einem aktuellen Todesfall. Ein Teil des Samples sind 234

aber Angehörige von Soldaten, die sich im Kriegseinsatz befinden. Bei diesem Personenkreis stellt Lindemann fest: „We were at first surprised to find genuine grief reactions in patients who had not experienced a bereavement but who had experienced separation, for instance, with the departure of a member of the family into the armed force“ ("Wir waren zuerst überrascht, echte Trauerreaktionen bei Patienten zu finden, die keinen Trauerfall erlitten hatten, aber eine Trennung erfahren hatten, zum Beispiel bei der Einberufung eines Familienmitglieds in die Streitkräfte" – op.cit.: 199). Trauerreaktionen sind deshalb eine bestimmte Form von Reaktion auf Trennungserfahrungen. Für die den Symptomen bei akuter Trauer so ähnlichen Gefühlen bei Angehörigen von Kriegsteilnehmern prägt Lindemann den Begriff 'anticipatory grief' (s. dazu die Theorie Hobfolls). Ein revidiertes Trauerverständnis hat sich vom Lindemannschen Symptomkomplex des 'acute grief' gelöst. "Trauer ist keineswegs, wie man seit Lindemann annahm, ein Syndrom mit klar umrissenem Symptombild. Sie verläuft nicht uniform oder immer ähnlich, sondern im Gegenteil individuell äußerst verschieden, und dabei können Betroffene auf allen Ebenen ihres Personseins tief greifende Veränderungen erleben: körperlich, psychisch und auf der Ebene des Verhaltens." (Lammer 2014: 19) Verbunden mit der Propagierung professioneller Trauerbegleitung hält dieses aktuelle Trauerbild aber am Ausgangspunkt Lindemanns, nämlich des Interesses an einer 'health of our population', fest, allerdings nun mit umfassender Erweiterung der Wirkung von Trauer. Trauer ist bei Lammer eine umfassende Bezeichnung eines individuell diversen Erlebens und Verhaltens beim Tod eines Anderen, aber grundsätzlich und umfassend potentiell pathogen: "Meines Erachtens ist die Diversität der Trauerreaktionen aber gerade der wichtigste Befund der empirischen Trauerforschung. Denn erstens wird daran die Reichweite der Trauer deutlich: Ihre psychosozialen und psychosomatischen Auswirkungen sind weit größer und tief greifender als bisher angenommen. Damit wird Trauer235

begleitung zum gesundheitspolitisch und volkswirtschaftlich relevanten Faktor." (op.cit.: 21f) Wissert nimmt diese Einschätzung auf und bezeichnet in seinem Forschungsprojekt zur Trauerbegleitung in Deutschland "möglicherweise durchgängig 10 % der Bevölkerung (als) von den(belastenden) Einflüssen und Wirkungen von Trauer betroffen." (Wissert 2013: 1) Alle Aspekte des Lebens seien davon berührt. Ich werde weiter unten noch einmal darauf zurückkommen. Diesem Bild einer pathologischen Trauer ist das Resilienz-Modell entgegengestellt, das von George Bonanno zu Beginn des neuen Jahrtausends vorgestellt wurde (Bonanno & Wortman 2002). In einer methodisch umfangreichen Panel-Studie wurden von 205 Personen Daten erhoben. Die Fragestellung dabei lautete: Welche Faktoren führen angesichts großer Diversität zu welchen Trauerreaktionen? An zwei Punkten betritt dieser Forschungsansatz 'Neuland': (a) Im Gegensatz zu vorausgegangenen Studien, die Daten über divergierende Reaktionsmuster auf Verluste bereitgestellt, aber keine Preloss-Daten erhoben hatten, wurden die Daten für die aktuelle Studie Bonannos von Verwitweten vor dem Tod ihres Ehepartners und wieder 6 und 18 Monate nach dem Tod erhoben, um valide Ergebnisse zur Erklärung von Trauerverhalten zu gewinnen. (op.cit: 1150f). Das postloss-Design einer populären Trauer-'Forschung' ist ja nicht allein pragmatischen Einschränkungen geschuldet. Viemehr noch erscheint es undenkbar, dass neben dem Verlust an sich weitere Variablen mediativ oder gar prädikativ wirksam werden und die Reaktion auf die Verlusterfahrung steuern. Die perimortale Situation ist der früheste Zeitpunkt der Trauerreaktionen. Andererseits weisen einige Studien darauf hin, dass z.B. 'eine preloss Psychopathie ein Prädikator für chronische Trauerreaktionen zu sein scheint' (ebd.). (b) Dies leitet über in eine zweite Neuerung: Die Verbindung der Trauerforschung mit der Resilienz-Forschung. Die Möglichkeit, dass die Abwesenheit von Stress infolge eines persönlichen Verlusts auf Resilienz hinweisen könnte, sei selten in Betracht gezogen worden, so 236

Bonanno" (op.cit.: 1150). Unter Resilienz wird die Anpassungsfähigkeit des Menschen gegenüber Belastungen verstanden. Dispositionen, Einstellungen, soziale Ressourcen, Kapital (i.S. Bourdieus) sind die Basis positiver Resilienz. Die Frage an das Verhalten im Trauerfall heißt nun: Welches sind die Beiträge persönlicher Resilienz im Zusammenhang der Bewältigung einer Verlusterfahrung? Was macht uns wieder gesund? In beiden Aspekten werden neue Erklärungen der Funktion und der Aufgaben des Trauerprozesses gewonnen. Bonanno resümiert: "Perhaps the most important contribution of the current research is that we were able to map the core trajectories of grief reaction in a manner that had not been possible in previous studies. This advance made it possible to test a number of speculative hypotheses in the bereavement literature and also paves the way for more systematic comparisons across life stressors." ("Der vielleicht wichtigste Beitrag der aktuellen Forschung ist, dass wir die Kerntrajektorien der Trauerreaktion in einer Art und Weise kartieren konnten, die in früheren Studien nicht möglich gewesen war. Dieser Fortschritt ermöglichte es, eine Reihe spekulativer Hypothesen der Trauerforschung zu testen und den Weg für systematischere Vergleiche in Bezug auf LebensStressoren zu ebnen" – op.cit.: 1162)

(4) Trauer als Arbeit ? In den letzten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts wurden Zweifel an einem generell pathogenen Charakter der Trauer laut, dem nur durch rechte Trauerarbeit beizukommen sei. Diesen Zweifeln ging eine grundsätzlichere Kritik an der Tragfähigkeit der Freudschen Trauerformel voraus, denn metaanalytische Studien der 1980er Jahre bemerkten eine überraschende Abwesenheit von empirischer Unterstützung für diese Sicht. Die Trauerforschung verlor ihre leiten-

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de theoretische Basis" (Bonanno & Kaltman 1999: 760 mit Blick auf Wortman & Silver 1989; vgl. dazu Lammer 2010: 74 Anm. 29 und 84 Anm. 66, der dieser Sachverhalt bekannt ist). Alternative Sichtweisen auf den Zusammenhang von Tod, Bestattung und Trauer suchten eine tragfähigere theoretische Grundlage: z.B. "cognitive stress theory, attachment theory, the social-functional account of emotions, and trauma theory" (ebd.). In 1999 stellten die Utrechter Psychologen Margarete Stroebe und Henk Schut ihr 'Dual process model of coping with loss (DPM)' (Stroebe & Schut 1999) vor. In ihrem Modell nehmen sie das seit Freud, Lindemann und Bowlby einflussreiche Paradigma einer 'grief work hypothesis' („as we shall call it“) (op.cit.: 199) kritisch auf, um dann bestimmte 'Kernthesen' der Trauerforschung zu modifizieren und zu revidieren. Der praktische Ausgangspunkt ihrer Überlegung ist: Richtige Trauer ist Trauerarbeit. So sagt es das Paradigma, reflektiert und formuliert in der wissenschaftlichen Community. Andere Überlegungen seien dieser spätestens seit Bowlby sich entwickelnden fundamentalen Hypothese gegenüber zurückgetreten und mehr implizit denn explizit dokumentiert und kommentiert worden. Konsequenterweise dominiere die Trauerarbeitshypothese das Denken vieler innerhalb des Forschungsfeldes der Trauer (op.cit.: 200). Stroebe und Schut stellen dem gegenüber fest: Trauer ist ein universales Phänomen und zugleich manifest in seinen kulturellen Variationen. Sie ist 'normal' und hat doch keine normale Ausdrucksform (so nun auch Lammer 2014: 21ff). Sie ist intrapsychischer Prozess und auch soziale, interindividuelle Kommunikation. Sie bezieht sich auf den Verlust des Anderen und zugleich auf das Erstreben neuen Lebens. Sie zeigt pathologische Formen und zugleich erleben Betroffene sie ohne große Dramatik Was ist Trauer? Stoebe und Schut identifizieren in den ihnen vorliegenden Forschungsarbeiten: 238

'Normale' Trauer manifestiert sich in unterschiedlichsten und gegensätzlichsten emotionalen, affektiven, behavioralen, somatischen und physiologischen und kognitiven Phänomenen. In nicht westlichen Kulturen zeigt sich Trauer in expressiven somatischen und körperlichen Ausdrucksweisen, während in den westlichen Kulturen es üblich sei, Trauer als innerlichen, psychologischen Prozesse zu verstehen. Selbst das Ausbleiben eines scheinbar universellen Zeichens der Trauer: das Weinen, muss nicht als Fehlen von Trauer gewertet werden. Insbesondere Trauerphasenverläufe scheinen kulturellen Vorgaben und Skripten geschuldet zu sein. Stroebe & Schut resümieren: Es ist evident: unterschiedlicher Kulturen haben sehr unterschiedliche Arten und Weisen 'of coping with grief' (op.cit.: 9). Was in der einen Kultur eine normale Form der Trauer ist, ist es in der anderen nicht. Das Konzept der Trauerarbeit als normaler, 'regelmäßiger' Reaktion auf den Verlust erweist sich als ethnozentrische Konstruktion westlicher Individualkultur. (op.cit.: 7) Mit ihrem DPM stellen Stroebe und Schut auf der Grundlage der Stresstheorie von Lazarus ein erweitertes Coping-Modell für den Trauerfall vor. Die kognitive Stresstheorie stelle ein viel differenzierteres Analyseinstrument zum Verstehen des Coping-Prozesses im Todesfall als dies die Trauerarbeit-Hypothese könnte. Das DPM vermeide intrapersonelle Engführungen durch konzeptionelle Hineinnahme des sozialen und interpersonalen Kontextes der Trauer. Dem 'Medical-Model-Focus' (1999: 203) der Trauer stellen sie ein ressourcen-orientiertes 'positive-growth'-Aspekt an die Seite: Der Trauernde erleidet durch den Verlust nicht nur Schaden, sondern er kann auch daran wachsen und zum Beispiel neue Rollen und Identität gewinnen. Das DPM wird als ein Instrument vorgestellt, dass die feinen Schwankungen und 'Oszillationen' des Trauerprozesses angemessen darstellen kann. Es arbeitet nach dem Stressoren-Modell: „the global stressor is the bereavement“ (op.cit.: 205). Insofern die bedeutsamen Dimensionen eines Coping-Prozesses zum einem sich auf sachliche 239

Problemlösungen (problem-focused), zum anderen auf emotionale Probleme (emotion-focused) beziehen, differenzieren Stroebe und Schut in entsprechende Stressoren: Ein Todesfall ist ein kritisches Lebensereignis, das multiple Stressoren beinhaltet, die sehr unterschiedlich zu bewältigen sind. Trauerarbeit geschieht in diesem Modell im Miteinander und Gegenüber zwischen den unterschiedlichen Stressoren (oszillation), „in dem der Trauernde die unterschiedlichen Aufgaben aus dem jeweiligen Bereich mal in Angriff nimmt und zu anderen Zeiten mal vermeidet. Das Modell schlägt vor, adaptives Trauerbewältigungsverhalten als dynamischen Prozess aus Konfrontation und Vermeidung von verlust- und wiederherstellungsbezogenen Stressoren zu sehen.“ (eigene Übersetzung des Abstracts zu 1999). Das Modell vermeidet zudem Dogmatisierungen und Festlegungen. Es plädiert dafür, „die Bedeutung anzuerkennen, die der Dosierung von Trauer zukommt. Damit ist gemeint, dass es im Umgang mit beiden Stressorenarten ein integraler Bestandteil angemessenen Bewältigungsverhaltens ist, immer wieder eine Pause einlegen zu dürfen.“ (ebd.) Zwei Studien (Hogan et al. 1992; Silverman et al. 1992) zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts verwiesen auf die Möglichkeit eines auch anderen Verständnisses von Trauer und Trauerarbeit. Zu Grunde lag dem die empirische Entdeckung des Konzeptes der fortdauernden Bindung ('continuing bonds theory') an die Verstorbenen. Hogan und di Santos fragten die Teilnehmer der Studie: „Wenn sie ihre Toten Geschwister etwas fragen oder ihnen etwas sagen könnten – was wäre das?“ Die vorherrschende Antwort der Jugendlichen war:" Ich vermisse dich und ich liebe dich. Die präsentische Sprachform dieser Antwort veranlasste die Forscher zu der Schlussfolgerung dass die Jugendlichen durchaus anstatt an einer Loslösung an einer Bindung zu ihren toten Geschwistern festhielten. Silverman et al. kamen in ihrer Studie mit Verwaisten zum gleichen Ergebnis. Dieser 240

Befund widersprach der seinerzeit das Trauerverständnis dominierenden freudschen Trauer-Theorie als einer Ablösung der libidinösen Bindung als Aufgabe der Trauer. In den Folgejahren wurde dieser Befund und seine Theorie empirisch erhärtet. Seit dem Sammelband aus 1996 (Klass et al. 1996) darf diese Theorie zumindest im anglophonen Sprachbereich als das bestimmende Theoriefundament des Trauerverständnisses bezeichnet werden. Mit der 'continuing-bonds-Theorie eng verbunden ist die Theorie des persönlichen Wachstums durch den Tod eines Anderen ('experiential theory of bereavement' – Hogan 1996). Vor der Entwicklung dieser Theorie hatten Trauerarbeitstheoretiker den Trauerprozess als auf die Bewältigung des Leidens durch Trauer begriffen, indem sie einen Punkt entweder der Auflösung oder der Anpassung an den Verlust erreichten. Jüngere Forschung hatte herausgearbeitet, dass die Wahrung eines Verlustes die betroffenen Menschen quantitativ und qualitativ veränderte. Kinder und Jugendliche waren andere geworden nach dem Tod des Geschwisters oder ihre Eltern. Befunde aus der persönlichen Wachstumsskala des 'Hogan Sibling Inventory of Bereavement' zeigten, dass die Hinterbliebenen ihre Prioritäten geändert, schneller gewachsen waren als ihre Freunde, mitfühlender, verständnisvoller und toleranter gegenüber sich selbst waren. Wiederum andere kümmerten sich im Allgemeinen um ihre Familien. Die Jugendlichen glaubten, dass sie stärker waren, weil sie gelernt hatten, den Tod ihrer Geschwister zu bewältigen. (zum Ganzen folge ich dem Aufsatz von Wright & Hogan 2008)

(5) Trauer als individuelles Phänomen? Bestimmte soziostrukturelle, gesellschaftliche Veränderungen bzw. Entwicklungsprozesse scheinen zur Individiualisierung, Emotionalisierung und Privatisierung dessen, was gemeinhin 'Trauer' genannt

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wird, ursächlich beigetragen zu haben. Sie werden in ihrer theoretischen Aussagekraft und ihrer praktischen Wirksamkeit im Folgenden kurz skizziert. Emile Durkheim wies sehr früh auf eine allgemeine zivilisatorische Fortentwicklung hin, die sich auf kooperative, arbeitsteilige und darin individualisierende Organisationsformen hinbewegte. Zu den Organisationsformen gesellten sich die entsprechenden Formen und Inhalte des gesellschaftlichen Bewusstseins und der kollektiven Gefühle: Rechtsformen, Werte und Moral, die die Menschen einer Gesellschaft miteinander teilen müssen, damit diese zusammen hält. Durkheim erkannte nun eine zivilisatorische Veränderung des kollektiven Bewusstseins hin zu Inhalten des Individualismus und des freien Denkens (1883: 226). „Sehr wohl gibt es einen Bereich, wo es [das Kollektivbewusstsein] sich gefestigt und präzisiert hat: dort, wo es das Individuum im Auge hat. […] Es handelt sich dabei um ein Phänomen, das nirgendwo anfängt, sondern das sich unaufhaltsam die ganze Geschichte hindurch entwickelt hat.“ (1883: 222.227). Hielten ehedem in primitiven Gesellschaften nämlich repressive Regeln und 'göttliche Gebote' als gemeinsames Bewusstsein und 'kollektive Gefühle' die Gesellschaft 'im Innersten zusammen', so wurden jene Regeln zunehmend kooperativer, weniger restriktiv, und damit verbundene Institutionen – für Durkheim vor allem Institute religiöser Art – verloren an Bedeutung. Jene kollektiven Gefühle hingegen wurden intensiver, die auf das Individuum, seine Bedeutung und seine Rechte hinzielten. Das Individuum wurde 'erfunden'. „Um das zu erreichen, musste die individuelle Persönlichkeit ein wesentlich wichtigeres Element des Gesellschaftslebens geworden sein“ (1883: 222). In solchem moralischen Bezug auf das Individuum und seine Rechte ('Menschenrechte') sieht Durkheim das neue verbindende Element gesellschaftlichen Zusammenhalts; eine moderne, arbeitsteilige und segmentierte Gesellschaft definiert sich als solche in der gemeinsamen Wertschätzung der Person, sie versteht sich zunehmend als eine Ge242

sellschaft der Individuen. In einem solchen 'Kult der Würde der Person' hat die moderne Gesellschaft ihre moralische, quasi religiöse Mitte: „In dem Maß, in dem alle anderen Überzeugungen und Praktiken einen immer weniger religiösen Charakter annehmen, wird das Individuum der Gegenstand einer Art von Religion. Wir haben für die Würde der Person einen Kult […].“ (Durkheim 1883: 226). Durkheim erkennt in der der Person zugeeigneten Würde eine 'Vergottung' des Individuums: „Aber heute hat der Mensch eine Art Würde erworben, die ihn über sich selbst und über die Gesellschaft erhebt. […] Er steht unter dem Zeichen der Religiosität; der Mensch ist für seine Mitmenschen zu einem Gott geworden“ (Durkheim 1895: 391). Freilich denkt Durkheim diese Würde als Wert und als Rechtsnorm nicht individualistisch, sondern soziologisch: „Dieser Kult des Menschen ist also eine ganz andere Idee als der egoistische Individualismus […] Denn der Mensch, der […] Liebe und Achtung des Kollektivs genießt, ist nicht das beeindruckbare empirische Wesen, wie wir es in jedem von uns sehen; es ist der Mensch schlechthin, die ideale Humanität, wie sie sich jedes Volk in jedem Augenblick seiner Geschichte vorstellt“ (op.cit.: 395). Dies individuelle Prinzip ist für ihn das Verbindende einer modernen Gesellschaft. Die Wertschätzung des Individuellen ist dabei eine notwendige zivilisatorische Kreation und aus ihr resultiert eine zunehmend konkrete Wertschätzung der jeweils empirischen individuellen Person. Das Individuum, seine Gefühle und Bedürfnisse, seine Rechte und Freiheiten entwickelt sich in der Folge der Gedanken Durkheims zum Nukleus der modernen 'freien und gleichen und demokratischen Gesellschaft'. Wie passen Individuen und Gesellschaft zusammen? In einer Präzisierung und Weiterentwicklung auch der Überlegungen Durkheims deutete Norbert Elias (s.o.) auf das kommunizierende und interagierende Individuum im kollektiven Zusammenhang seiner Figurationen, seiner Beziehungsgeflechte oder auch, so 'modern' gesprochen, 243

seiner Netzwerke. Trauer ist also als Phänomen innerhalb solcher Kontexte zu verstehen und als Reaktion des Individuums auf Abbrüche und Neuorientierungen zu begreifen. Bonanno & Kaltman (1999) referieren zu diesem Zusammenhang ihre 'Sozial-funktionale Perspektive auf Emotionen im Trauerfall': "From a social-functional perspective, emotions mediate both intrapersonal functioning (e.g., emotions activate situation-specific behavioral patterns, such as the anger or flight responses, and coordinate experiential, behavioral, and physiological response systems) and interpersonal functioning (e.g., emotions communicate and evoke responses in others that help maintain the social order and intimate relationships" (op.cit.: 765). Damit werden einer primär intrapersonalen Betonung der Trauerarbeitsperspektive gegenüber die zwischenmenschlichen oder sozialen Aspekte des Trauerverhaltens hervorgehoben. Traueremotionen dienen als Mediatoren der Interaktion im Trauerfall (s.u.). Heidemarie Winkel (2002 – zum Folgenden vergleiche Häußler 2012: 53ff) schaut auf dieses sich immer wieder neu konstituierende Spielfeld des 'großen Gefühls der Trauer' und kommentiert in ihrer Studie von daher die thantokulturellen Veränderungen und die neuen Anforderungen an modernes 'Trauererleben' und 'Trauerleben' und stellt sie auf ein interessantes Theoriefundament. Sie bezieht sich dabei auf das zeitgenössische Paradigma eines individualistisch orientierten Umgangs mit der 'Trauer'. Sie erkennt dieses Paradigma als durch die 'Entdeckung' des Individuums begründet: Das Selbst Egos steht unter dem gesellschaftlichen Zugzwang nach Selbstthematisierung und Selbstreflexion, d.h. diese seine Selbstreferenz wird faktisch zur Grundlage von Sinnerleben und Sinnverstehen und zum Bezugspunkt des täglichen Handelns (Nassehi & Weber 1989: 184). Die so erfolgte Individualisierung in der Moderne strukturiert und prägt zum einen das Verständnis des Individuums von sich selbst, zudem auch die Wahrnehmung und den Umgang mit Gefühlen und die Handlungen in allen privaten Lebensbereichen (Winkel 2002: 20). 244

In Bezug auf die Befindlichkeiten im Trauerprozess wird das Selbst in seiner Selbstreferenz damit aber für sich selbst zum 'Problem', denn „die Entscheidungsmacht darüber, ob überhaupt und in welcher Form getrauert wird, wird hiernach ausschließlich dem Individuum übertragen“ (op.cit.: 14.). Die 'Trauer' ist persönlich und privat, dem persönlichen Geschmack und der Selbstfindung überlassen, zugleich aber mit klaren Begrenzungen der Möglichkeiten des Ausdrucks im öffentlichen Raum versehen im Sinne einer grundsätzlichen Herausdrängung von Traueräußerungen aus dem öffentlichen Raum in einer Entöffentlichung der 'Trauer' (op.cit.: 13). Diese Individuation ist gesellschaftlicher Zwang. Was geschieht nun, wenn diese 'erzwungen' freie Wahl der Formen z.B. der 'Trauer' aufgrund der Marginalisierung in das Private und Persönliche zur persönlichen Verunsicherung in der 'Findung des Selbst' und zur Störung der Sozialbeziehungen im 'öffentlichen' Verhalten, d.h. in der sozialen Interaktion, führt? Wenn diese höchst privaten Empfindungen und Handlungsweisen nicht mehr verallgemeinerbar und zudem nicht mehr institutionell abgesichert sind, müssen Möglichkeiten der Kommunikation immer wieder neu generiert und durchgeführt werden. Ego ist selbst verantwortlich für die Kommunikation nach außen und damit auch zugleich für die eigene Selbstreferenz nach innen. Empfinde ich richtig und wie kann ich diese Empfindungen dann nach außen tragen, wie kann ich als Ego mit mir selbst und mit dem Anderen kommunizieren? Das Problem Egos im Fall der 'Trauer' ist nun, dass es in seinem Empfinden und Verhalten seine soziale bzw. kommunikative 'Anschlussfähigkeit' verlieren kann, wenn nicht Referenzen, d.h. nach innen und nach außen kommunizierbare Formen und Inhalte gefunden werden. Eine pathologische Form der 'Trauer' scheint in solchen Referenzdefiziten bzw. Bindungsabbrüchen begründet. Winkel folgt in ihren Gedanken u.a. Alois Hahn (1968): 'Trauer' ist persönliches Leid. Dieses Leid bleibt aber nicht allein ein innerliches 245

Gefühl, vielmehr hat seine Wahrnehmung und seine Veräußerlichung, d.h. die Kommunikation darüber, sozialen Charakter und soziale Relevanz. „Weder ist der Ausdruck von 'Trauer' ohne soziale Anleitung, noch hat er keinen sozialen Ort“ (op.cit.: 21). Das persönliche Leid begründet sich für Winkel in der identitätsstiftenden kommunikativen Beziehung Egos zu Alter; diese Beziehung bezeichnet u.a. den sozialen Ort auch der 'Trauer'. 'Trauer' ist nicht individuell, sondern sozial. Der Tod eines Anderen, an den Ego affektiv gebunden ist, führt zu einer massiven Identitätskrise, die im ultimativen Abbruch von Kommunikation mit dem toten Anderen begründet ist. Hahn hatte in diesem Zusammenhang von Schmerz gesprochen. Dieser Schmerz im Prozess der 'Trauer' war aber auch für Hahn nicht allein innerliches bzw. verinnerlichtes Gefühl, sondern sozial verwurzelte Integration von Innerlichkeit und Sozialität durch das Individuum. D.h.: Im Prozess der 'Trauer' 'trennt' sich Ego von alten Bindungen zum signifikant Anderen, um nun durch neue Anbindungen soziale Kontinuität und Anschlussfähigkeit (Winkel 2002: 60) herzustellen. Diese soziale bzw. kommunikative Anbindung erfolgt, so Winkel, durch das im Prozess der Kommunikation eröffnete semantische Feld der 'Trauer'. Über die 'Trauer', d.h. über den Verlust und den Schmerz kann und soll kommuniziert, insbesondere auch 'geschwätzig' geredet werden (vgl. Nassehi 2001; 2006). Diese Kommunikation konstituiert sich in der Form eines generalisierten Kommunikationsmediums. Im Rahmen der Nutzung solcher Kommunikationsmedien vergewissert sich das Selbst seiner Empfindungen und stellt seinen Anschluss an 'die Anderen' her, Gefühle werden 'verstehbar', weil kommunizierbar, und erweisen sich dadurch besonders in den privaten Systemen der Gesellschaft als funktional kommunikative Bindeglieder zwischen dem Individuum und seinem psychischen System und der sozialen Umwelt.

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Winkel setzt nun „die Existenz sozialer Standards zur Kommunizierung von 'Trauer' auf individueller Ebene“ (op.cit.: 19) voraus. Diese bilden einen Trauercode, ein generalisiertes Kommunikationsmedium. In der gesellschaftlichen Sphäre entstehen in der Anwendung gesellschaftlicher Trauercodes Institutionalisierungen von spezifischer Trauerkommunikation bis hin zur einer professionalisierten Form in der Trauerarbeit. Die Forderung nach Selbstbezug (Selbstreferenz und Selbsterfahrung) wird quasi normativ institutionalisiert und durch Profession gesellschaftlich abgesichert: „Psychologische Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung und Emotionsarbeit haben sich vor diesem Hintergrund verallgemeinert und auch entsprechend Eingang in die Arbeit mit Trauernden gefunden“ (op.cit.: 21). Winkel nennt als Spektrum der professionellen Institutionalisierung psychologische Therapien, Trauerarbeit in Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen und erkennt zugleich den Rückbezug solcher Institutionalisierung auf die thanatologische Theoriebildung und die gesellschaftliche Deutung des Todes und der 'Trauer'. Auch dieser Zusammenhang wird noch zu diskutieren sein.

(6) Ritual als Kanalisation der Trauer ? Dass der Expression von Gefühlen, die als Trauer bezeichnet werden, freier Raum zu geben ist, war einmal ein 'Dogma' des populären Trauerverständnisses: „Nicht nur die Trauerarbeit, sondern auch der expressive Ausdruck der damit verbundenen Gefühle ist für eine gelingende Trauerbewältigung unerlässlich.“ (Lammer 2010: 76). Im Rahmen kirchlichen Handelns im Ritual der Bestattung bedeutet dies für Kirche und Pfarrperson: „Das Handeln des Pfarrers ist Evangelium, wenn es unbehinderte Trauerarbeit freisetzt“ (Spiegel 1972: 118). Spiegel wies zuvor auf folgende Funktionen des Bestattungsrituals hin: (1) Symbolisierung des Statusübergangs für Tote und Lebende,

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(2) Gestaltung des Übergangs in Würde, (3) Freigabe der Toten, (4) Fürbitte für die Toten, (5) Feststellung des neuen Status, (6) öffentliche Anerkennung, (7) Feststellung der Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten. (Spiegel 1972: 104–115) Die 'kontrollierte Klage' ordnet er einem neuen Unterkapitel zu: Der Statusübergang der Trauernden im Zusammenhang des Bestattungsrituals. Hier dämmt das Ritual Traueräußerungen bzw. ruft sie auch hervor. Lammer verkürzt die Funktion des Bestattungsrituals auf den letzten Aspekt: Es inszeniere "die soziokulturellen Trauerkonventionen" (Lammer 2010: 58, s.o.). Diese seien mit den inneren Bedürfnissen der Trauernden vom Grunde her nicht kompatibel. Spiegel und Lammer haben eine kirchliche Bestattungspraxis vor Augen, die relativ starre liturgische Formen, 'geschmackliche' Vorgaben (z.B. in musikalischen Fragen) und Verhaltensnormen vorgab, an denen sich Geistliche und Trauernde in ihrem Verhalten während des Ritus zu orientieren hatten. Die Bestattung wurde als ein Gottesdienst der Gemeinde verstanden, die einen 'Bruder' / eine 'Schwester in Christo' zu bestatten hatte. Tod und Trauer waren ein öffentlich-soziales und im engeren Sinne kirchliches Handlungsfeld beim Tod eines Anderen, in dem auch die Angehörigen zu eher passiven Adressaten kirchlichen Amtshandelns wurden. Innerhalb der letzten 14 Jahre zeitigten sich aber Veränderungen gesellschaftlicher Bestattungspraxis, die den Beurteilungen Spiegels und Lammers widersprechen: Das Ritual der Bestattung ist ausdrücklich zu einer Realisierung persönlicher Bedürfnisse und Emotionen geworden. Pfarrpersonen sind nicht mehr die Meister der Zeremonie, sondern Erfüllungsgehilfen der Wünsche der Bestattungspflichtigen. Ich werde hierauf im vierten Kapitel zurückkommen. Wouters hat uns zudem über die Verinnerlichung von Verhaltensweisen und die Funktion der Selbstkontrolle bei Traueräußerungen in Kenntnis gesetzt. Die Einlassungen Lammers zur Bestattung (op.cit.: 58–61) sind in Aussage und Wirkung kritisch zu hinterfragen. Ein Anliegen meiner 248

Arbeit ist es zu zeigen, dass der Gesamtprozess der Bestattung gerade der Möglichkeit des Gewinns und des Auslebens der Trauer-Gefühle zuträglich ist. Hierzu bei allen Akteuren eine 'liturgisch-rituelle Kompetenz' (op.cit.: 255–258) zu stärken, ist dann ein gemeinsames Anliegen (in 2014 gehören aber Geistliche nicht mehr zum Adressatenkreis der Lammerschen Gedanken – Lammer 2014: VI).

(7) Prolongierung von Trauerzeiten? Ältere Trauerforschung prognostizierte eine zeitlich begrenzte Trauerzeit, in jüngeren Studien soll sich heraus gestellt haben, dass "Trauerprozesse nicht nach einem Jahr „abgeschlossen“ sind, sondern unter Umständen sehr viel länger andauern und mit erheblichen Beschwernissen verbunden sein können" (Wissert 2013: 1) Lammer läßt uns wissen: " Die meisten (erg.: Forschenden – MPH) sind der Auffassung, normalerweise sei die Phase intensiven Trauerns nach drei bis sechs Monaten beendet, die Trauer insgesamt nach ein bis zwei Jahren. Auch dies muss nach heutigem Erkenntnisstand revidiert werden" (Lammer 2014: 19) "Trauerprozesse dauern nach neueren Erkenntnissen wesentlich länger als bisher angenommen: zwei, drei, fünf Jahre oder mehr sind keine Seltenheit." (op.cit.: 22) Das Ergebnis meiner Forschungsarbeit von 2012 bestätigt die Ausage Lammers. Ich konnte in einer Typologie die Variationen des Lebens von Jugendlichen nach dem Tod eines nahen Anderen innerhalb der relevanten, d.h. jugendspezifischen Lebenswelten beschreiben. Damit sind soziolokale Bereiche des jugendlichen Lebens gemeint: Familie, Schule, Gleichaltrigengruppe. Als Ergebnis der Forschungsarbeit ist dazu festzuhalten: Der Tod des nahen Anderen ist weder der einzige, noch der entscheidende 'Generator' in der Weiterführung eines jugendlichen Lebens. Bereits eingeschlagene Lebenswege werden beibehalten, quasi

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normative 'jugendbiographische Ablaufstrukturen' setzen sich in ihrer Dynamik durch. Als Gründe dieser Beibehaltung konnten genannt werden: (1) Die den Lebenswelten inhärenten Dynamiken und Logiken des Denkens und Handelns scheinen den Verlauf des Lebens der Jugendlichen auch nach dem Tod eines nahen Anderen (Typ A) zu prägen und zu bestimmen. (2) Mit dem Tod als Ereignis verbundene Gefühls- und Verhaltenskomplexe beziehen sich auf eine kurzfristige und quasi institutionalisierte 'Trauerzeit', sie führen aber nicht zu einer Veränderung des Verlaufs der Lebenslinien, weil sie für die Lebensführung in den Lebenswelten nicht relevant sind. 'Trauer' konnte dabei differenziert werden in: (1) Erleben und Verhalten im Zusammenhang der Bestattung, (2) als längerfristiger Gefühls- und/oder Verhaltenskomplex und (3) 'Trauer' als dauerhaftes 'Grundrauschen' der Person. Als ein weiteres Ergebnis der Forschungsarbeit zum Thema 'Trauer' kann formuliert werden: Schon recht zeitnah zum Tod, d.h.: nach wenigen Tagen nach der 'endgültigen' Bestattung (durch die Beerdigung), geht das Leben der Jugendlichen seinen normalen und 'trauerfreien' Gang. 'Trauer' hat danach keine Auswirkungen auf das weitergehende Leben der Jugendlichen in ihren Lebenswelten nach dem Tod des nahen Anderen. Sie besuchen weiterhin die Schule, pflegen ihre Beziehungen, nehmen am Leben in der Freizeitwelt teil, und sind dabei 'keine Trauerklöße'. Dieses Ergebnis erstaunt, hätte doch mit Bezug auf populäres 'Vorwissen' und nach Sichtung einschlägiger Literatur erwartet werden können, dass das Leben nach dem Tod längerfristig durch die Emotionen und das Verhalten der 'Trauernden' in mehr oder weniger dramatischer Form geprägt ist.

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Im Einzelnen: 1. 'Trauer' wurde als sehr individuelles Gefühl und zugleich immer auch als Kommunikationsform erzählt bzw. beschrieben. Beide Dimensionen der Trauer existieren für die Informanten nebeneinander und sind ineinander verschränkt. 2. Ein Gefühl der 'Trauer' beschreiben fast alle Jugendlichen als Erleben einer diffusen Befindlichkeit nach dem Tod des nahen Anderen, deren Bedeutung sie nicht erklären können und die manche von ihnen in den Kommunikationen innerhalb der Lebenswelten für sich behielten. 3. 'Trauer' war für die Jugendlichen – zumindest ausserhalb der familiären Lebenswelt bzw. der Privatsphäre – kein Thema, bzw. wurde nur in der Zeit der Bestattung dazu gemacht. 4. Erst in Trauerforen und anderen Trauerportalen kann 'Trauer' zu einem Lebensthema und Kommunikations- und auch Verhaltensmuster. Zu diesem Zeitpunkt sind die notwendigen Reorganisationsleistungen in Familie und Schule aber abgeschlossen. 5. Die Informanten werden, vor allem in der Zeit unmittelbar nach dem Tod, mit ihren diffusen Gefühlen in den sozialen Kontexten ihrer Lebenswelten mit spezifischen Verhaltensweisen oder Kommunikationsformen konfrontiert. Sie erzählen z.B. von Tröstungshandlungen, von besonderer Rücksichtnahme und von Gesprächsangeboten in der Schule. 6. Manche Jugendliche erzählen aber nun im gleichen Zusammenhang, dass ihnen Gefühle der Trauer unterstellt oder gar, verbunden mit der Erwartung spezifischer Verhaltensweisen, sozial zugemutet wurden. 7. Ein in der Forschungsarbeit so genanntes 'Grundrauschen der 'Trauer', das sich zu bestimmten Zeiten und Gelegenheiten und an bestimmten Orten 'zu Wort' meldet, wurde als latenter aber dauerhafter Bestandteil einer 'inneren Provinz' der Person 251

nachgewiesen. Gesprochen werden kann von einer allgemeine Traueridentität im Sinne einer Selbstidentifikation der eigenen Person, die sich zu gegebener Zeit in den Vordergrund ihrer Identitätsfindungen innerhalb der Lebenswelten und ihrer Kommunikationsprozesse bewegen kann. 8. Dieses Grundrauschen einer innere Provinz entfaltet in seiner Externalisierung eine persönliche und identitätsschaffende Dynamik und Kreativität, dies allerdings nur in spezifischen Formen einer Trauerkommunikation in bestimmten sozio-lokalen Zusammenhängen (z.B: einer Trauergruppe, einem Referat oder in einem Interview zum Thema), in denen neben ganz anderen Interessen und Anlässen, die zur Teilnahme an diesen Zusammenhängen führten, aktuell und punktuell 'Trauer' zum Thema gemacht wird und in denen die Jugendlichen eine spezifische 'Traueridentität' entwickeln. 9. Darüber hinaus werden Befindlichkeiten der Trauer über den Tod eines nahen Anderen für die Selbstwahrnehmung und die eigene Biographie nicht als bedeutsam wahrgenommen. Auch in den lebensweltlichen Dynamiken scheint diese Person-Identität in der Regel für die Aktionspartner uninteressant und damit irrelevant und folgenlos. 'Trauer' ist untypisch, marginale Erfahrung, individuelles Sonderwissen.

(8) Trauerforschung? "Für alle, die Trauer genauer verstehen wollen, sind in diesem Buch die Erkenntnisse neuerer internationaler Trauerforschung aufbereitet. In leicht lesbarer Sprache und mit Beispielen aus der Praxis präsentiert es das Spektrum dessen, was wir heute von Trauer wissen und verstehen.“ So lautet es im persönlichen Vorwort von Lammer zu ihrer Skizze aus 2014 (4. Auflage). Dieser Abschnitt zeugt nicht nur von

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einem hohen Anspruch, er zeigt auch auf gleich mehrere Fragwürdigkeiten, die das Fragezeichen oben verständlich machen. (8.1) Was ist mit 'Trauerforschung' gemeint? Damit wird in einem Begriff zusammen gefasst, was z.B. im Angelsächsischen mit unterschiedlichen Begriffen präzise und differenziert ausgedrückt wird (s.o.): "research on the basic features of the grieving process" oder z.B. "bereavement research". Solche Generalisierung der deutschen Sprache kann aber der Gemeinsamkeit unterschiedlichster Forschungsansätze 'unter einem Dach' dienen: Ein multidisziplinärer Ansatz (wie ihn z.B. Spiegel in seiner Habilitationsschrift anspricht) ist die daraus folgende Forderung an die Forschungspraxis. Nun wird im obigen Zitat Trauer als auf den Bedeutungsumfang des englischen 'grief' festgelegt (Lammer 2010: 37 – s.o.) verstanden. Der Term 'Trauerforschung' verschleiert diese Beschränkung auf eine psychologische Betrachtung eines innerpsychischen Phänomens und suggeriert ein exklusives ('wir'), umfassendes ('Spektrum'), allgemein gültiges ('international') und immer wieder aktuelles ('heute') fundiertes und gesichertes Wissen ('Forschung') zum Thema. (8.2) Sind gesellschaftliche Bilder und mehr noch: ist eine allgemeine Praxis des Umgangs mit dem Tod des Anderen kompatibel mit dem 'Wissen' von der Trauer? Das von mir als populär bezeichnete und im deutschsprachlichen Bereich dominierende Trauerbild hat folgende Charakteristika: (a) Trauer wird als Reaktion auf eine Verlusterfahrung verstanden. Diese Definition will sich auf die Freudsche Formel zurück beziehen und sie erweitern. (b) Trauer wird in einem streng individualpersönlichen Emotionskomplex verortet. Formen dieser Trauer folgen individuellen Dispositionen und Präferenzen. (c) Subjekt als auch Objekt der Trauer ist das Individuum in seiner personalen Einzigartigkeit. Figurationen und gesellschaftliche Vorgaben des Verhaltens u.a. sind dem gegenüber sekundäre Moderatoren. (d) Der Tote selbst ist nicht im Blickpunkt des Interesses, wie auch nicht seiner Bestattung. (e) Trauer ist aufgrund personaler Diversität der 253

Ausdrucksformen ein summarischer Begriff. (f) Trauer ist grundsätzlich pathogen und macht deshalb Trauerbegleitung notwendig (s.u.). Das durch diese Basics umgrenzte Trauerbild hat sich im deutschsprachlichen Bereich zwar nicht allgemein durchgesetzt (s.u.), aber innerhalb spezifischer Skripte des Verhaltens sowie in bestimmten Milieus eingerichtet und verfestigt (siehe dazu die Diskussion im nächsten Kapitel). (8.3) Die vorausgegangenen 'Überlegungen' boten eine kleine skizzenhafte Übersicht über einige Bereiche einer sog. 'Trauerforschung' u.a. seit Beginn des 20. Jhds, insbesondere derjenigen, die mir als Kontrast für das als verfestigt bezeichnete Trauerbild als relevant erschienen. 'Forschungen' zu letzterem bewegten sich im Bereich von 'applied science'. Die überwiegende Mehrheit der Beiträge zu einer 'alternativen' Erforschung der Thanatopraxis gerade der Jahre seit Beginn des 21. Jhds. z.B. durch Walter, Klass und Andere blieben von mir aber unberücksichtigt. So bedarf z.B. eine Darstellung der Entwicklungen der Hospizbewegung unter Miteinbeziehen zugrunde liegender Forschungsarbeiten gleich mehrerer Monografien. Auf einen neuen Ansatz praktisch theologischer Forschung (Gutmann s.u.) werde ich weiter unten eingehen. (8.4) Zum Stand der seinerzeitigen Lage der Erforschung der grundsätzlichen Funktionen eines mutmaßlichen innerpsychischen Trauerprozesses diagnostizierten Bonanno & Kaltman 1999 eine 'Forschungslücke' in Bezug auf das freudsche Paradigma (s.o.) "... some what of a theoretical vacuum was created." (Bonanno & Kaltman 1999: 772). Sie fordern für die Zukunft der Erforschung der Grundzüge des Trauerprozesses ("research on the basic features of the grieving process " ebd.) den Blick auf die individuelle und soziale Komplexität des mit Trauer Bezeichneten.

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(9) Artefakte ? Der konzeptionellen und inhaltlichen Offenheit des Trauerbegriffs entspricht reziprog seine Inhaltsschwere. 'Trauer' ist kein wertfreier Begriff, er ist emotional behaftet und ruft bestimmtes Empfinden und Verhalten hervor. Er ist für Trauernde wie für Ihre Umwelt mit einer wie auch immer gearteten Belastung verknüpft, die mit dem Tod eines Anderen, mit dem der Trauernde verbunden war, einhergeht. Aufgrund dieser belastenden Situation wird dem Trauernden von der Gemeinschaft Rücksichtsnahme zugestanden. Ungeachtet individueller Gefühlslagen werden Verhaltensweisen initiiert, die auf bestimmten Skripten zu beruhen scheinen. So zeigten die Informanten meines Samples in den jeweiligen Settings übereinstimmende Verhaltensweisen. Gleiches ist für Zeiten nach dem Bestattungsprozeß aufzeigbar (s.o.). Ob bei bestimmten Jahrestagen, einem Referat zum Thema oder auch bei lebensgeschichtlichen Wendepunkten, 'Trauer'-Gefühle werden geweckt, lassen erinnern, führen zu Identitätsfindungen und befördern jeweils besonderes Verhalten. Es sind Artefakte bestimmter Situationen und ihrer Kontexte, die aber ihren lebensgeschichtlichen Anhalt in dem mehr oder weniger lang zurückliegenden Tod eines Anderen haben. Die theoretischen Hintergründe solch artifiziellen Trauerhabitus hat Anselm Strauss sehr eindrücklich dargestellt: Für Anselm Strauss (Strauss 1959: 136) heißt Trauernder zu sein, ein sehr persönliches Gefühl zu empfinden und zugleich eine 'zeitlich begrenzte soziale Identität' (op.cit.: 135) zugeeignet zu bekommen. In der Zeit der 'Trauer' selbst ist der Trauernde sanktioniert, Trauernder zu 'sein' (vgl. op.cit.: 134) und als solcher zu empfinden und sich zu verhalten. Er durchlebt 'Trauer'-Phasen mit Empfindungen des Schmerzes aufgrund des Verlustes, 'sein Kummer scheint ihn zu überwältigen', er ist nicht 'er selbst' und benötigt in seiner 'tiefen 255

'Trauer'' die Unterstützung seiner Umwelt (ebd.). Strauss deutet damit auf den Zusammenhang von Empfindungen (die aber nicht Gegenstand seines Interesses und seiner Studie sind) und sozial konstituierten und verbindlichen Trauerphasen und auf Formen richtigen Trauerns innerhalb dieser Phasen. Trauern in bestimmten Formen und Verläufen ist eine Verpflichtung und dient zugleich der Orientierung und Selbst- und Fremd-Einordnung des Trauernden in das Kollektiv: „Bleibt er zu lange in einem bestimmten Trauerzustand, so verletzt er soziale Erwartungen, und seine Verwandten neigen dazu, den Arzt oder andere Berater hinzu zuziehen“ (Strauss 1959: 136). Und „da die trauernde Person in der einen Phase anders handelt als in einer anderen (oder dies von ihr erwartet wird), ist es wesentlich, dass andere wissen, in welcher Phase sie sich befindet, und daß sie den anderen diese Informationen gibt. Sie muß sich letztlich für die anderen identifizieren“ (op.cit.: 136f). Trauer ist für Strauss individuelles Empfinden und Verhalten im sozialen Kontext (vgl. Häußler 2012: 29ff). Was aber nun ist 'Trauer'? Diesbezügliche Forschungen zielen auf das diverse belastende Ergehen und Verhalten von Menschen im Zusammenhang eines Todesfalls: psychosomatische Symptomatiken, Bindungsverhalten, Suchen neuer Ressourcen, soziale Rekonstruktionen u.a. Gefragt wird nach der Intensität von Belastung und auch danach, wie das Leben nach dem Tod weitergeht. Erforscht werden soziale und kulturelle Komplexe, die mit diversen Todeserfahrungen korrelieren, gefragt wird auch nach gesellschaftlichen Kontexten von Tod und Trauer. Wird mit diesen Erhebungen immer auch nach 'Trauer' gefragt, so scheint mit dem damit Gemeinten auch immer an ein übergreifendes und zusammenfassendes Ganzes gedacht zu werden. Solches kann auch dem

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populären Trauerverständnis unterstellt werden. Weitere Definitionen mögen auf noch einmal ganz andere Begründungen und Interessen bezogen sein (s.u.). Die Suche nach einer grundlegenden Theorie der Trauer und ihrer empirischen Validierung ist Ausgangspunkt und Ziel der Forschung. Das gilt auch für meine Arbeit. Eine Vorstellung meiner Forschungserträge möchte ich nun beginnen.

Forschungsdesign – empirisches Feld Auch meine Frage lautete zunächst: Was ist Trauer? Auf eine exklusive Definition 'im ersten Satz' wollte ich verzichten. In weitestgehender Offenheit des Ansatzes fragte ich (a) nach dem Erleben, Erfahren und Verhalten der Akteure (b) im Prozess der Bestattung. Ausgangspunkt des Forschungsprojektes waren infolgedessen die möglichst offenen Erzählungen des Erlebens und Verhaltens der Informanten. Dabei ging ich davon aus, dass in diesem Prozess der Bestattung Trauer als spezifischer Komplex zu finden ist bzw. sich manifestiert. Diese Hypothese wurde bestätigt, insofern die Informanten von ihrem Empfinden und Erleben und darin auch von ihren besonderen Gefühlen erzählten, die bei einigen Informanten z.B. auch im engeren Sinne als eine Verlusterfahrung interpretiert werden können. Im Rückblick zeigt sich sehr deutlich, dass durch diesen Forschungsansatz die Öffnung für weitere Erkenntnis über bereits bestehende Paradigmen hinaus erst möglich wurde. Erkenntnis bedeutet in diesem Fall, dass das Material den Forscher von in ihm dargestellten Erfahrungen in Kenntnis setzten, die 'Laufrichtung' der Forschung also vom Klienten zum Forscher verlief. Mit einigen Informanten wurden zudem die entsprechenden Interviews und ihre Interpretation sowie die Maskierung diskutiert und gegebenenfalls korrigiert. Die Wahl dieses Forschungsdesigns war aber nicht etwa 257

forschungsethisch gewählt, sondern erkenntnistheoretisch. Ich wollte individuelle und soziale Erlebensstrukturen und 'Zusammenhänge' (im Wortsinn!) und damit dann einhergehende Gefühlskomplexe erfahren beziehungsweise darüber unterrichtet werden, die ich von mir aus nur eben vermutete oder noch gar nicht kannte. Konsequenterweise wurden die Daten qualitativ erhoben, die Informanten also als die ersten Fachleute ihrer eigenen Lebensgeschichte, ihrer Erfahrungen und ihrer Gefühle als Forschungssubjekte in den Forschungsprozess mit einbezogen. Dieser Forschungsansatz implizierte eine Öffnung des Samples und widersprach einer vorausgehenden Festlegung der Auswahl der Interviewpartner nach 'Qualität' der Trauer in Bezug auf ihre Nähe zum Toten. Es ist freilich der Aussagekraft der Fallgeschichten geschuldet, dass in den hier veröffentlichten Geschichten nur Hinterbleibende zu Wort kommen, die einen 'nahen' Anderen zu betrauern hatten. Zu einem Interview oder anderen Formen der Datenerhebung wurden zudem auch Menschen eingeladen, die in nicht zu lange zurückliegender Zeit an einer Beerdigung eines 'ferneren' teilgenommen hatten. Auch ihre Erzählungen zu einzelnen Settings sind in die Analyse eingeflossen. Insofern sie sich zu einem Interview bereit erklärten, ist ihnen priori teilnehmendes Empfinden und Verhalten zu unterstellen und darin ernst zu nehmen. Das Sample der vorliegenden Forschungsarbeit repräsentiert einen spezifischen 'deutschen' Bereich innerhalb kultureller Vielfalt allein in Deutschland. D.h.: Im Rahmen einer grundsätzlichen Struktur der Variablen des Umgangs mit Tod und Trauer stellen die TrauerFallGeschichten spezifische Ausprägungen dar. Weitere Kollektive auf ihre gemeinsamen Erfahrungen und Gefühle beim Tod eines nahen oder ferneren Anderen zu befragen ist ein Desiderat an weitere Forschung. Diese Forderung bezieht sich insbesondere auch auf Erhebungen zum Trauerempfinden aus interkulturellem Blickwinkel.

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Als Ergebnis meiner Forschung resultieren m.E. erstaunliche

Feststellungen: Sterben, Tod und Bestattung und damit einhergehende Empfindungen und Verhaltensweisen wurden erzählt als eingebunden in einen komplexen zweckorientierten und zielgerichteten Prozess zeitlicher und räumlicher Art, in Bezug auf den die Informanten von individuellen und von kommunizierten und miteinander geteilten Gefühlen berichteten. Und sie berichteten auch davon, wie ihre Empfindungen und auch Verhaltensweisen sich variierend auf das jeweilige Setting innerhalb des Bestattungsprozesses 'einstellten'. Ihre Empfindungen waren also jeweils gegenwärtig in temporale, soziale und lokale Dimensionen eingebunden, sie waren verknüpft mit bestimmten Zeiten, bestimmten Orten und auch bestimmten Menschen. Gefühle am Grab wurden anders geäußert als jene bei der biografischen Arbeit beim Räumen der Wohnung der Eltern. Gefühlsäußerungen und damit auch Empfindungen wurden in der Regel miteinander geteilt, gemeinsam durchlebt, zuvor miteinander abgesprochen. Die Toten selbst kamen in Gefühlen der Dankbarkeit, der Traurigkeit, des Schmerzes in den Blick. Beim Besuch des Leichnams (z.B.: ESTHER) oder der biografischen Arbeit in der Wohnung der Eltern (HEINER) werden sie zu Akteuren, quasi zu Subjekten der Weckung von Emotionen. Ihre 'Gegenwart' auf der Bahre, im Sarg oder der Urne und im Grab bewirkt jeweils bestimmtes Empfinden und Verhalten. Empfinden und Verhalten benötigen Anlässe, um zu entstehen. D.h.: Die als 'Trauer' benennbaren Empfindungen und Verhaltensweisen sind vielfältig. Die Unterschiedlichkeit der Empfin259

dungen begründet sich dabei in der Unterschiedlichkeit der Settings. Auch Empfindungen, die mutmaßlich keine Trauer sind, haben noch ihren Ort und ihre Zeit. In den Interviews dieser Forschungsarbeit wird unter anderem die Bestattung als solcher Ort, der Prozess der Bestattung als solche Zeit genannt. Sie inkludiert jene in die Gemeinschaft der Trauernden, die mit ganz unterschiedlichen Gedanken und Gefühlen auf vergangenes Leben zurückblicken, zu Grabe tragen und Abschied nehmen. Und dabei treffen sich zum Beispiel SARAH und 'the first speaker' aus dem 'Christmas Carol' Das Material zeigt auf, dass die Gefühlslagen der Informanten beim Tod eines auch nahen Anderen 'im Normalfall' nicht verknüpft waren mit tiefem Schmerz. Gefühlslagen wurden identifiziert, die gebunden an die Person und das Faktum des Leichnams Erfahrungen des Verlustes artikulierten, aber auch des Erschreckens oder des Nichtverstehens, der Dankbarkeit und der Freude. Mag Benny für Sarah auch ein Objekt der Liebe gewesen sein, sein Tod weckt in ihr noch ganz andere Gedanken der Erinnerung und ganz andere Wehmut. Erkannt werden konnte neben der Vielfältigkeit der Formen von Trauer auch ihre Bindung an bestimmte Situationen und an Settings. Von Trauer als Biografie-Arbeit erzählten einige Informanten. So arbeitet Heiner im Interview, im Gespräch mit dem Pfarrer und im Aufräumen der Wohnung der Eltern seine Beziehung zu seinem Vater auf, erinnert sich gern und eher nicht traurig, eher belustigt, zufrieden – und dankbar eben. Im Prozess der Bestattung hatten diese so unterschiedlichen Empfindungen dann einen ganz bestimmten Ort, und dieser Ort selbst brachte eben spezifische Gefühle erst hervor, lud dazu ein, regte dazu an. Die sich daraus ergebenden Gefühlslagen wurden von den Informanten als authentisch erlebt. Von ihrem Erfahren, Erleben und auch Handeln ist diese Forschungsarbeit ausgegangen. Trauer haben sie erlebt und in ihren Erzählungen auch davon berichtet. Aufgabe des Forschers ist die der Analyse und am Ende auch vielleicht die Definition. 260

Was aber nun ist Trauer? Neben persönlichsten Empfindungen (s. z.B. ANDREAS und SARAH), die in der Situation des Interviews reflektiert werden, verweisen die Erzählungen der Informanten auf soziale, in raum-zeitlichen Strukturen begründete und verankerte, sehr unterschiedliche Empfindungs- und Verhaltens-Komplexe, in denen sich persönliche und gemeinsame Emotionen interaktiv ineinander verschränken. Das Besondere daran aber ist: Diese Komplexe werden von den Informanten als in ein prozesshaftes Gesamtbild eingefügt empfunden, in dem die unterschiedlichen Empfindungen phänomenologisch und sprachlich zusammengefasst werden können. Dieses Gesamtbild, nämlich die persönliche und gemeinsame Erfahrung des Todes eines Anderen im Prozess der Bestattung, d.h. auch: Seines Leichnams, bildet für PAUL u.a. den situativen und inhaltlichen Rahmen und die Voraussetzung für die Entstehung und Einbindung jener Komplexe. Dies ist für mich die besondere, dem empirischen Befund entnehmbare Erkenntnis, die ein erweitertes und modifiziertes Trauerverständnis nahelegt. Ich befürworte deshalb folgendes 'gesamtes' Verständnis: Trauer sei verstanden als Bezeichnung der Gesamtheit des emotionalen Komplexes der Erfahrung des Todes eines Anderen im Prozess der Bestattung. Diese Gesamtheit wird in der ihr inhärenten Kommunikation und Interaktion jeweils situativ und aktuell inhaltlich und erlebnishaft gefüllt. D.h.: 'Trauer' ist als Begriff inhaltlich mit Absicht unscharf, entwickelt und realisiert sich aber grundsätzlich in der Gesamtheit der Individuen und Kollektive, der Situationen, Empfindungen und Verhaltensweisen innerhalb des Bestattungsprozesses und seiner Settings. In diesem werden 'Komposita' (oder auch unterschiedliche

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Faktoren) von Trauer (bzw. was als 'Trauer' bezeichnet werden kann) je nach sozialem, lokalem und temporalem Feld in sehr unterschiedlichen Formen und Ausprägungen provoziert, geweckt, empfunden, erlebt, zugewiesen und gelebt, in Dankbarkeit, Biografiearbeit, Erinnerung, Traurigkeit, Liebe … und auch: als Verlust. In der Praxis allgemeinen Sprachgebrauchs und in der Kommunikation darüber können und werden die unterschiedlichen Empfindungen mit der generalisierenden Bezeichnung Trauer belegt werden. Mit Blick auf den anglophonen Begriff 'grief' ('Gram') ist in der (pastoral-)psychologischen / psychiatrischen Beschäftigung mit Trauerphänomenen dem Begriff 'Trauer' (mitunter exklusiv und pointiert) der Bedeutungsumfang von 'grief' zugelegt worden (s.o.). Der deutschen 'Trauer' entspricht in ihrer inklusiven Bedeutungsweite aber eher der englische Begriff 'mourning' (s.o.). Beide Lexeme zielen auf einen umfassenden Trauerbegriff; Differenzierungen wurden erst viel später in die Diskussion eingebracht, 'grief' diente schon bei Lindemann (1944) als Beschreibung bestimmter mit Todes- und Trennungserfahrungen verbundener Symptomatiken. Mein Vorschlag beinhaltet also die Wiedergewinnung des Umfassenden, des Gesamt des Begriffs 'Trauer'. Was leistet dieses weiter gefasste Verständnis von 'Trauer'? Welche Relevanz hat es? In der Analyse war zudem eine Zielorientierung des Bestattungsprozesses als Ganzem entdeckt worden. Ich vermute daher, dass Empfindungen und Verhaltensweisen ebenfalls einem so orientierten 'Drehbuch' folgen. Eine so verstandene 'Trauer' als Emotion und Aktion hat eine Funktion im Zusammenhang der Bestattung. Wie ist diese Funktion zu beschreiben? (a) Auf das Individuum bezogen bietet das o.a. Trauerverständnis durch inklusive Fremd- und Eigenidentifikation Anschlussfähigkeit (vgl. Winkel 2001): Das Individuum wird in der Erfahrung des Todes im sozialen Kontext geborgen. Zugehörigkeit und Identität waren als 262

Grundbedürfnisse der Trauernden identifiziert worden. Für POLINA war dies eine existentielle Frage. Aufgrund fehlender Empfindungen, die sie mit einer 'normalen' Form von Trauer assoziiert, nämlich dem Weinen, fühlt sie sich von gemeinsamer Trauer ausgeschlossen. Dass ihr Trauer zugestanden wird, ist in ihrem Status als Enkelin begründet. Das Gesamt der Bestattung erlebt Polina dann aber als eine inkludierende Gemeinschaftsleistung, in der auch sie ihren Platz der Trauer findet. Trauer wird zu einem kollektiven und inklusiven Begriff, der die Frage nach richtiger oder falscher Trauer, wenn überhaupt, dann an der Gesamtgestalt und ihrer Funktionalität fest macht. In der Verbindung von Person und Kollektiv ist die Identität schaffende Funktion der emotionalen Komplexe der Bestattung für die Individuen und Kollektive bedeutsam. Die Gesamtgestalt der Trauer wird personell gefüllt und findet in den jeweiligen Kollektiven ihre konkrete Gestalt. Personen und Gemeinschaften werden jeweils mit ihrem Empfinden und Verhalten in die Gesamtgestalt eingezeichnet. Darin gewinnt das trauernde Individuum seine Identität, die ich als Sozialium verstehe (s.u.). Keupp (vgl. Keupp et al. 1999: S.28) nennt als ‚menschliche’ Grundbedürfnisse die Bedürfnisse nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Anerkennung und Zugehörigkeit sind mit Identitäten eng verknüpft, durch die die Individuen in und mit ihren Lebenswelten wie mit einem „selbstreflexive[n] Scharnier“ (a.a.O.) verbunden sind. Identitäten werden verstanden als „kontextspezifische gebündelte und strukturierte kognitive, emotionale und konative Selbstinhalte hoher subjektiver Relevanz“ (Döring 2003: S.325), die innerhalb der Lebenswelten und ‚sozialen Felder’ (bei Differenzierung zwischen einem gemeinsamen sozialen Feld und ‚individuellen Lebensräumen’) im sozialen Kontext kommuniziert und konstruiert werden. Auf das Ego zurückgespiegelt dienen diese Identitätskonstruktionen der Vergewisserung und Bestätigung der Selbstinhalte sowie der Einbindung in das Selbstkonzept. Identität (als Singularbegriff) ist dabei verstanden als 263

ein Bündel von Teilidentitäten. Teilidentitäten werden in den Lebenswelten, Beziehungen und Interaktions- /Kommunikationsprozessen im Konstruktionsprozess zugleich situativ aktiviert. Saliente Teilidentitäten können sich im jeweiligen kommunikativen Prozess in den Vordergrund schieben. Zu differenzieren ist dabei in individuelle und kollektive Teilidentitäten: Zum einen kommuniziert das Individuum aus seiner ‚inneren Welt’ (Keupp et al. 1999: S.29) heraus mit anderen durch Selbsteinbringung mehrerer Selbst-Aspekte bzw. inhalte (Döring 2003: S.323) in den sozialen Kontext. Zum anderen nimmt es sich in der und über die ‚äußere Welt’ durch die Dominanz eines „ähnlichkeitsstiftende[n] Selbst- Aspekt[s]” (a.a.O.), gemeinsam mit anderen in der Zuordnung zu einer Gruppe in seiner sozialen Identität wahr. (vgl. Häußler 2012) (b) Der Tote als zu Bestattender ist als Objekt und Subjekt konstitutiver Teil der Gesamtgestalt (s.u. Macho). Er gewinnt seine besondere Identität, indem Trauernde angemessen mit ihm umgehen und damit die weitere Teilhaberschaft an der Gemeinschaft zugestehen. Wertschätzung durch Öffentlichkeit für die Toten und ein letzter Liebesdienst durch Freunde und Angehörige können als Teil der Trauer verstanden werden (hierauf weisen in besonderer Weise z.B. PAUL, WOLFGANG und SARAH. (c) Idiosynkratische Motive im Umgang mit Trauer und Tod haben ihren Ort im Gesamt der Bestattung. Diese kann dann auch als Protest gegen den Tod als besondere Form der Trauer geäußert werden, wie es die Freunde um ALEX mit dem Tragen des Sarges erleben und handelnd leben. Dieses im Neuen Testament in der Grablegung Jesu zu findende Motiv (s. Anhang) ist für den Freundeskreis wichtiges Element ihrer Trauer. Die soziale Funktion dieser Handlung einer Ausgliederung aus der Gemeinschaft als Ziel der Bestattung sei hier zunächst nur angedeutet und wird im nächsten Kapitel ausführlicher diskutiert.

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Dieses Verständnis von 'Trauer' habe ich dem mir vorliegenden Material entnommen; es darf als empirisch bestätigt gelten. Als generelle Definition ('Trauer' ist …) kann es in seiner Unschärfe und Offenheit weitere Verständnisse und deren Erfahrungen implementieren und darin an Aussagekraft gewinnen. Dieses Trauerverständnis erfährt seine Erhärtung durch unterschiedliche Theorieebenen. Der von den Informanten erlebte und beschriebene soziotemporale, in Settings gegliederte Gesamtraum der Bestattung bedingt Verhalten und Empfinden der sich in ihm befindlichen konkreten Personen. In der Zeit des Bestattungsprozesses sind sie Teil dieses Raumes, in dieser Zeit wird der Raum erst konstituiert. Mit Kurt Lewin ist von einer Umwelt zu sprechen, zu der die konkret erlebenden und handelnden Personen in Beziehung stehen. Ihr Verhalten geschieht in dieser von ihnen so erlebten Umwelt und ist in den jeweils konkreten Beziehungen zwischen Person (P) und Umwelt (U) begründet. Verhalten ist immer Feldverhalten, so Lewin. Diese Erkenntnis ist unmittelbar einleuchtend, als Meta-Theorie bedarf sie aber des Nachweises und des Aufzeigens dessen, was sie aussagen möchte, u.a. auch im Kontrast zu einer Individualpsychologie, die den Ausgangspunkt des Verhaltens in der subjektiven Befindlichkeit des Akteurs verortet. Dieser Subjektivität sieht Lewin die untrennbare Verbundenheit von P und U vorgelagert. (a) Ausgangspunkt der Lewinschen Theorie – und darin für die Fragestellung dieser Forschungsarbeit von Interesse – ist das Verhalten der Person, in Beziehung gesetzt zur von der Person wahrgenommenen Lebens-Umwelt, auf eine Formel gebracht: V = f (P, U) Verhalten ist eine Funktion von Person und Umwelt. Die Relationen zwischen P und U sind mathematisch nicht präzise, sondern nur im Begriff des Feldes darstellbar. Und da U immer eine von P wahrgenommene Umwelt (und keine von dieser Wahrnehmung durch P zu trennende dingliche Umwelt) darstellt, P also immer Teil dieser Umwelt ist, bezieht sich V auf eine Gesamtsituation U (die aber vom Er265

leben von P nicht zu trennen ist): V = f (U). Hier ist „Verhalten als eine Funktion des jeweils gegenwärtigen Feldes“ (Lück, 1996: 4f – den ich hier referiere) zu verstehen. Für die Informanten ist das Feld U konkret und aktuell die Situation der Bestattung (B) – freilich mit jeweils unterschiedlichen Dimensionen bzw. Determinanten: V = f (B). Trauer war oben als eine personale Resultante des sozialen Ereigniszusammenhangs 'Bestattung' vermutet worden. Was sich an den Erlebnissen der Informanten als Trauer (Tr) identifizieren läßt, muss als eine Funktion von B erschlossen werden: Tr = f (B). D.h. nun: Trauer erschließt sich im spezifischen persönlichen Verhalten (als Erleben und Handeln) im Feld der Bestattung. (b) Trauer im Todesfall ohne das Erleben einer Bestattung (s.o. TrauerFallGeschichte von Andreas) scheint im Extremfall singuläres Gefühl zu sein, in der Praxis werden ebenfalls Settings (z.B. Trauergruppe) hinzugezogen. Trauer braucht ihr soziales Feld bzw. ihre Komposita. (c) In den miteinander geteilten Empfindungen und Emotionen bei der Bestattung eines Gruppenmitglieds für die Inkorporation des Individuums in die Gruppe beziehungsweise das Kollektiv in der Krisensituation des Todes eines Anderen sehe ich eine basale Funktion der Bestattung. Die Informanten erzählen, wie ihre Empfindungen, Emotionen und Verhaltensweisen im Prozess der Bestattung miteinander geteilt wurden. Gegen die Sphäre der Entfremdung und die Gefühle der Distanz im durch den Toten angegriffenen Sozialkörper suchen die Hinterbleibenden umfassend Nähe, helfen auf (Kim und ESTHER), umarmen sich (FRIEDRICH), sind einander solidarisch (POLINA), tanzen und singen miteinander (HEINER). Deshalb möchte ich Trauer als Oberbegriff dieser Gesamtheit der Empfindungen, Emotionen, Verhalten, Identitäten, Empathie, Solidarität, Gemeinsamkeit und Sozialität innerhalb des Bestattungsprozesses verstehen.

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(d) Eine 'Trauergemeinde' ist dabei der soziale 'Brennpunkt' so verstandener Trauer, in den sich die Person identifikativ einordnet, so der Kerngedanke einer Theologie der Bestattung. Theologisch kann Trauer deshalb als ekklesiologische Kategorie bezeichnet werden für den 'Leib Christi' der Lebenden und der Toten – auch der Toten! Ich werde darauf noch zurückkommen.

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Trauervorstellungen und Bestattung Ein im Folgenden darzustellendes Trauerverständnis lässt sich, so wird zu zeigen sein, mit dem Befund dieser Forschungsarbeit in Deckung bringen. Es nimmt ihren Ausgang von der Bestattung, von der Wirklichkeit einer Leiche, von einer Gesellschaft, die mit dieser und anderen Leichen immer wieder umzugehen hat, und von den Personen, die diese Situation des Entsetzens und Erschreckens erleben müssen. Trauer kann in diesem Zusammenhang verstanden werden als ein perimortales Phänomen dieser Gemeinschaft, die Abschied zu nehmen hat und die Aufgabe hat sich neu zu organisieren. Diese Gemeinschaft trauert in einem ganz bestimmten Sinn, und auch ihre Vorstellung von Trauer, also die Bedeutung der Begrifflichkeit unterscheidet sich stark von einem modernen Verständnis. Dieses Trauerparadigma entspricht aber dem hier vorgetragenen Trauerverständnis. Ältere Arbeiten zum Prozess der Bestattung weisen darauf hin, dass das bloße Sein der Leiche und die Notwendigkeit des Umgangs mit ihr immer schon der Nukleus des Erlebens- und Verhaltenskomplexes beim Tod eines Anderen gewesen ist. Eine Abschiednahme ohne sie, die in ihrer leibhaftigen Personalität die Fragen nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Lebens stellen (und nicht der Tod an sich), schafft andere Erfahrungswirklichkeiten. In den im Folgenden referierten Arbeiten von Robert Hertz (vgl. zum Ganzen Häußler 2012) und Thomas Macho findet diese Notwendigkeit aus unterschiedlichem Blickwinkel ihre theoretische Fundierung. Während eines Forschungsaufenthaltes in England im britischen Museum London zwischen 1905 und 1906 sichtete Robert Hertz (1907) ethnologisches Datenmaterial zu Bestattungsformen indonesischer und polynesischer Völker. Er entdeckte in diesem Material sozi268

ale und formale Strukturen der Totenrituale und gewann aus ihnen allgemeine Theorien des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Tod und der Trauer nach dem Tod des Anderen. Zusammengefasst werden können die Beobachtungen von Hertz in der Erkenntnis: Tod und Trauer sind ineinander verwoben, und zwar konkret in einem Miteinander der Lebenden mit dem Toten als Leichnam innerhalb einer bestimmten Zeit, der Zeit der Verwesung. So unterschiedlich die Toten- und Bestattungsriten und Vorgänge in den Kulturen auch sind, „auf unterschiedliche Art und Weise drücken sie ein konstantes Thema aus“ (Hertz 1907: 100). Hertz entdeckt Universalien der humanen Repräsentation des Todes und des Lebens der Einen nach dem Tod der Anderen: Zum einen ist „der Tod nicht in einem augenblicklichen Akt vollendet, sondern impliziert einen dauerhaften Prozess […] Während dieser ganzen Zeit […] wird der Verstorbene so behandelt, als ob er immer noch lebendig wäre: Ihm wird Essen gebracht, seine Verwandten und Freunde leisten ihm Gesellschaft und sprechen mit ihm. Er behält alle seine Rechte auf seine Frau bei, und er hütet sie eifersüchtig. Die Witwe ist wortwörtlich die Frau eines Toten, eines Individuums, in dem der Tod anwesend ist und weiter fortschreitet“ (op.cit.: 100f). Der Tod ist leibhaftig, räumlich und auch zeitlich in einem Erleidens- und Verhaltenszusammenhang im Miteinander von Lebenden und dem Toten (Leichnam). Was der Tod ist, wird in diesem Prozess sozial definiert. Tod ist der Leichnam, mit dem in dem Kollektiv, dem er zu Lebzeiten angehörte, umzugehen ist. Als solch sozialer Umgang ist der Tod ein soziales Ereignis. Tod ist ebenso die Zeit der Verwesung des Leichnams: In der Zeit der Verwesung ist die Leiche Objekt der Ehrfurcht und zugleich der Furcht. Sie wirkt zunächst noch fast lebendig, zerfällt dann nach und nach und verliert erst mit dem vollständigen Verfall ihre 'Lebendigkeit'. Sie ist in dieser Zeit z.B. durch böse Mächte, aber auch durch das Verhalten der Angehörigen verletzbar; zugleich scheint ihr in ihrer zerfallenden Lebendigkeit eine als unheimlich empfundenen 269

Macht eigen zu sein, mit der sie auf das Leben der Hinterbleibenden Einfluss nehmen kann. Hertz beobachtet in seinem Material, dass für die untersuchten Kulturkreise diese Zeit „dann als vollendet betrachtet wird, wenn die Auflösung des Körpers selbst vollendet ist“ (ebd.). Hertz findet in dem Prozess des Todes das Phänomen der Trauer und darin das zweite, damit verknüpfte Universal: Der 'vorläufige Aufenthalt der Seele auf der Erde' (op. cit.: 76ff) ist eng verknüpft mit der Trauer der Lebenden. Hertz nimmt an, „dass es eine natürliche Verbindung zwischen den Repräsentationen [représentations] gibt, die die Auflösung des Körpers, das Schicksal der Seele und den Zustand der Hinterbliebenen während desselben Zeitraums betreffen“ (op. cit.: 111). Die Seele ist dabei die Präsenz des Toten im Prozess der Verwesung. In diesem Prozess der Verwesung geht die Seele quasi als Körper im Transit von der Welt der Lebenden in die Welt der Toten. Die Trauernden begleiten den Toten auf diesem Weg, sie schützen ihn und dämmen zugleich seine mögliche Macht über die Lebenden ein. Trauer kann als Solidarität mit der Leiche verstanden werden (op. cit.: 105). Solche Trauer war mit der endgültigen Bestattung beendet, der Tod als Prozess damit vollzogen. Jetzt erst ist der Tote wirklich 'völlig'(! – „mort entièrement“) tot und das Leben des Kollektivs kann unbeeinträchtigt und unbeeinflusst weiter gehen. Die 'Endzeremonie“ als endgültige Bestattung (ebd.) wird deshalb als großes (Freuden)fest gefeiert. „Sie muss die Überreste des Verstorbenen endgültig bestatten. Sie muss seiner Seele den Frieden und den Zugang zum Land der Toten sicherstellen, und schließlich muss sie die Überlebenden von der Verpflichtung der Trauer entbinden“ (op. cit.: 112). D.h.: Zum einen wird die endgültige Beseitigung der für die Hinterbleibenden bedrohlichen Leiche angestrebt. Zum anderen ist der vorhergehende Trauerprozess ein Übergangsprozess für den Toten, der nur durch 'richtige Praktizierung der Rituale' der Trauernden in das Land der 270

Toten gelangt. Der Totenritus geschieht zum Wohl des Toten (op.cit.: 127). Er ist aber auch ein Übergangsprozess für die Kollektive der Hinterbleibenden, die nach dem Ende der Trauerzeit, in der sie zu definierten Trauerformen verpflichtet sind, in ihr neues Leben nach dem Tod übergehen. Durch die Beseitigung der gefährlichen Leiche entfällt die Notwendigkeit, sich in Bezug auf sie weiterhin angemessen zu verhalten. Mit der sekundären Bestattung ist die Trauerzeit beendet. (zum Ganzen vgl. Häußler 2012: 18ff) Ein Zitat des Ethnologen Malinowski stellt Thomas Macho (Macho 1986) einem zusammenfassenden Abschnitt seiner Habilitationsschrift voran: „Liebe zu dem Toten und Abscheu vor dem Leichnam, die leidenschaftliche Zuneigung zu der Persönlichkeit, die noch um den Körper west, und die überwältigende Angst vor dem grausigen Etwas, das da übriggeblieben ist, (…) spiegeln sich im spontanen Verhalten und in den rituellen Vorgängen beim Tod wider.“ (zit.: op.cit.: 408) Wie für Hertz ist auch für Macho die Erfahrung der Leiche und die Reaktionen der Lebenden darauf die steuernde Variable des Komplexes der Bestattung, auch in der Moderne. 'Tod' heißt: „Wir erfahren die Verwandlung von Mitmenschen in Leichen. […] Alles, was ich vom Tod in Erfahrung bringen lässt, erfahren wir gleichsam in der Konfrontation mit den Leichen.“ (op.cit.: 195). (1) Diese Erfahrung ist fundamental für ein Verständnis dessen, was der Tod und die Trauer sind. (2) Diese Erfahrung ist äußerst konkret. Der Tod 'an sich' ist ein Konstrukt, die Toten aber, die wir als Leiche erfahren, sind auf eine beängstigende Art und Weise konkret und real. (3) Diese Erfahrung ist erschreckend: „Schließlich bleibt eine Leiche zurück. Und erst ab diesem Moment entfaltet sich der unüberholbare Schrecken des Todes.“ (op.cit.: 410) Macho fragt: „Warum erschrecken wir vor der Leiche? Wie unterscheidet sich die Erfahrung der Leiche von anderen Erfahrungen?“ 271

(op.cit.: 197) Was läßt Menschen erschaudern vor dem eben Gestorbenen, läßt fliehen vor dem toten Körper, läßt froh sein über die Hilfe derer, die die Berührung abnehmen, damit wir Erinnerung bewahren, wie er zu Lebzeiten war. Erschrecken wir vor der Endlichkeit und Sterblichkeit (Lammer 2010: 47), vor Lebens- und Todesängsten (Fechtner 2011: 53), vor dem, was danach kommt, gedroht oder verheißen? Das sind Ängste und Gedanken des Individuums, also unsere, so Macho. Mehr noch: es ist reine Theorie, denn wir denken an unseren Tod, den wir eigentlich gar nicht denken können. Macho bezieht sich auf die auch von Durkheim identifizierte Entwicklung der Moderne zur Individualität: „Wir haben den eigenen Tod entdeckt; und den Tod der anderen Menschen verworfen. In derselben Zeitspanne, die uns den Tod als Individualität zugänglich zu machen versprach, haben wir das Ärgernis der Leichenerfahrung in die Randzonen gesellschaftlicher Bewußtheit gedrängt.“ (Macho 1986: 195f.) „Der Anlass älterer Todeserklärungen war die Leiche; der Anlass moderner Todeserklärungen sind wir selbst.“ (op.cit.: 196) Die Leiche passt nicht in diesen Zusammenhang: „Vermutlich wäre uns leichter, wenn der Tod sich als spurloses Verschwinden ereignen würde; wenn es keine Leiche gäbe ...“ (ebd.). Aber: Der Tod über den nicht zu reden ist (op.cit.: 197), ist anwesend, ist da, es ist „die Anwesenheit der Toten, ihr Dasein“ (ebd.) als Leichnam. Macho sagt: Der Tod ist die Chiffre der Leiche (op.cit.: 199). Die Leiche ist die Fleischwerdung dessen, was der Begriff 'Tod' aussagen möchte, spürbar, berührbar, sichtbar und auch riechbar, wenn „die Wärme aus dem Körper und die Farbe aus der Haut“ (Lammer 2010: 260) gewichen sind. Da ist die Leiche, und dann erst folgt alle Theorie. Darf man sagen: Die Leiche ist auch der Beginn der Trauer und Trauer die Reaktion auf die Erfahrung des Leichnams? Trauer ist dann verknüpft mit der Empfindung des Erschreckens; nicht Abscheu, Ekel oder auch Angst und Verlust sind die Gefühle bei der Konfrontation mit dem Leichnam.

272

Die Leiche ruft 'Erschrecken' hervor, denn sie ist das ganz Eigene und das völlig Fremde. Sie ist für jene, die sie betrachten, berühren, mit ihr umzugehen versuchen, etwas, was nicht begriffen werden kann und noch weniger verstanden. Sie ist das zutiefst Vertraute, mit Freud gesprochen: das Objekt unserer Liebe; und zugleich ein ganz anderes, das sich unserer Liebe radikal entzogen hat. Sie ist das Subjekt unseres Verlustes! Macho: „Die Leiche ist ohne Zweifel ein Mensch; aber sie verhält sich ganz und gar nicht wie ein Mensch. Sie ist menschlich und unmenschlich zugleich: ein Wesen, das eigentlich im Universum sozialer Existenz nicht erscheinen darf. [...] Äußerst vertraut und äußerst fremd, ein Ding und doch ein Mensch. Sie ist autark, braucht nichts von uns, verweigert jeden Kontakt und jede Zuwendung, jeden sozialen Ausdruck.“ (op.cit.: 198). Solche konkreten und am kalt gewordenen Körper zu realisierende Erfahrung an der Totenbahre ist eine 'Grenzerfahrung', wie Macho es mit Hinweis auf Wittgenstein bezeichnet, eine „Erfahrung, die sich innerhalb der Grenzen meiner Sprache nicht darlegen lässt“ (op.cit.: 200), die die Grenzen der Lebenswelt nicht respektiert, sondern sie überschreitet und uns damit 'sprachlos macht (Erschrecken heißt also: Sprachlos werden. Zu Beginn seiner Studie zeigt Macho auf diesen Zusammenhang von Leiche und Sprachlosigkeit: „Wer redet, bezeugt bloß, dass er nicht tot ist und dass er das Schweigen der Toten missachtet. Wer aber den Mund schließt, mimetisches Einvernehmen mit den Gestorbenen suchend, hat darum den Graben noch nicht übersprungen, der das Totenreich von der Welt des Lebendigen trennt. […] Jeder Satz, der über den Tod gesprochen wird, lebt von der Spannung, die zwischen der Redseligkeit des lebendigen Menschen und der bedrohlichen Stummheit des Toten herrscht.“ (op.cit.: 8)). Die Grenzen der Lebenswelt werden konstituiert durch Sozialität. Von sich aus nichtet die Leiche diese Sozialität und stellt ihre Integrität damit infrage. „Nur als Leiche ist der Mensch wahrhaft von allen sozialen Systemzwängen entbunden, in unergründlicher Autarkie auf sich selbst ge273

stellt. Sie hat sich von den Lebenden gelöst, sie lebt quasi ihr eigenes, unergründliches Leben.“ (ebd.) Als (toter) Leib ist die Leiche weiterhin Teil der Lebenswelt. Erst die Beerdigung beendet diese Teilhabe. Macho weist auf die grundsätzliche Sozialität des Leibes und der Leiber hin. Der Körper ist das Bindeglied zwischen Individuum und Sozialität. Die Erfahrung der Welt und des Selbst gelingt nur über die Körperlichkeit. „… am Anfang steht die Not und die Bedürftigkeit, […] das Glück und die Zufriedenheit woanders suchen zu müssen als bei uns selbst“ (op.cit.: 201). Die Erfahrung des eigenen Körpers und der eigenen Person ist dabei sekundär, vielmehr gilt: „Dass wir unseren Leib überhaupt als Individualität, als Ganzes in prinzipieller Hinsicht, wahrnehmen können, bleibt abhängig von einem Perspektivenwechsel, indem wir unserem eigenen Leib als Ding in der Welt entgegentreten, indem wir ihn so sehen können, wie wir die Leiber anderer Menschen sehen.“ (op.cit.: 202) „Selbst die Empfindungen sind immer schon in der Welt. […] mein Schmerz gehört nicht mir“ (op.cit.: 201), wird nicht gebildet in meinem Inneren, sondern er fließt mir von außen zu, entspringt äußeren Eindrücken. „Auch Schmerzen werden von Anfang an sozialisiert. Kindern wird beigebracht, wann und wie sie sich weh tun oder verletzen können. […] eine soziale Schmerzkonditionierung ist überlebensnotwendig“ (op.cit.: 203f), weil an die jeweiligen Lebensbedingungen der Gruppe angepasst. Allerdings hat die menschliche Gruppe im Rahmen der Evolution ein Spezifikum entwickelt: 'Aktive Distanzierung' gegenüber äußeren Einflüssen und „Insulation des sozialen Körpers gegen die Anpassungspressionen der Außenwelt“ (op.cit.: 209) durch Vergesellschaftung. Die Gruppe schuf einen geschützten Raum ('Uterus') zur Entwicklung von Kultur. Der Mensch reagierte nicht nur auf äußere Reize, er gestaltete die Umwelt. Für Macho sind in dieser evolutionären Entwicklung u.a. auch die Ausbildung individualistischer Eigenschaften – „im Geltungshorizont des Körperanpassungsprinzips“ 274

(op.cit.: 209) – begründet: Im sozialen Körper konnte auch der individualistische Einzelgänger überleben. „Der soziale Körper der Menschengruppe begünstigte einen evolutionsgeschichtlich einmaligen Individualisierungsschub'.“ (op.cit.: 210) Er ist „die elementare Synthesis […] von Individualität und Leib […] >Mein Leib< und >dein Leib< sind bloß Partikel einer sozialen Totalität.“ (op.cit.: 204) Nicht die Summe der Individuen bildet den Körper, sondern der vergesellschaftete Körper inkorporiert die einzelnen Körper und macht Individualität erst möglich. „Der eigene Leib ist mit dem sozialen Körper gründlich verflochten. Leib und Mitwelt sind eins; […] die Grenzen meines Leibes sind die Grenzen meiner Welt.“ (op.cit.: 205)“ „Die besondere Qualität des menschlichen Sozialkörpers entsteht aus der unwiderruflichen Verpflichtung der einzelnen Individuen auf die soziale Identität der Gruppe, die jeden Angehörigen magnetisch wieder in ihren Zusammenhang hineinzieht, in einen Zusammenhang, […] der in der Psyche der Individuen repräsentiert ist. […] Sozialkörper und Individualkörper bilden eine schwer dissoziierbare Einheit.“ (op.cit.: 210). Als aktiv distanzierender Schonraum ermöglicht der soziale Körper die Entwicklung der Individualität. „Das jeweils erworbene Individualisierungspotenzial blieb strickt gebunden an den sozialen Körper, an die psycho/physische Repräsentanz der Gruppe in den einzelnen Individuen.“ (ebd.) Solche Sozialisierung ist fragil, nicht naturgegeben, sondern muss ständig neu eingefordert und durch die Kategorien der Zugehörigkeit (bzw. die Universalien des sozialen Körpers) abgesichert werden: Lokalisierbarkeit, Identifizierbarkeit, Ansprechbarkeit, Motivierbarkeit. (op.cit.: 219) „Der Tod lässt sich bloß als die Negation dieser Synthesis erfahren.“ (ebd.) Dem Leichnam fehlen die Kategorien der Zugehörigkeit, Ansprechbarkeit und Motivierbarkeit. Auch seine Lokalisierbarkeit und Identifizierbarkeit stehen infrage. „Wir erfahren das Leichenparadox des Widerspruchs von Anwesenheit und Abwesenheit, Identität und 275

Identitätslosigkeit. […] Sie hat die Grenzen des sozialen Körpers, (die "durch die aktiv und passiv vermittelte Zugehörigkeit der Menschen definiert" werden, (op.cit.: 219) transzendiert, um zugleich innerhalb der sozialen Körper zu verharren. An der Leiche erfahren wir nicht den Tod des individuellen Leibes; aber wir erfahren den Tod des sozialen Körpers.“ (op.cit.: 220) Die Leiche stellt seine synthetisierende Kraft infrage. Um die Überlebenskompetenz des sozialen Körpers zu sichern, muss die Leiche einem fremden Sozialkörper angehörend verstanden werden: dem Totenreich. Totenriten sind insofern Ausgliederungsriten. „Die Leiche muss etwa als lebendiges Individuum respektiert werden, dass einem fremden Sozialkörper – dem Totenreich – angehört: jenseits der territorialen Grenzen des von ihrer Zugehörigkeitsverweigerung betroffenen Sozialkörpers.“ (op.cit.: 220) Dem Geheimnis der Leiche: „das Rätsel der Absage an die Synthesis des sozialen Körpers“ (op.cit.: 221) muss mit Ausschluss begegnet, die Leichenverweigerung als soziales Geschehen interpretiert werden (ebd.). Deshalb, so Macho, wurden in vielen Kulturen Todesfälle in der Mitte des sozialen Körpers als Mord bestimmt. „Erst die Entwicklung des sozialen Todes […] erlaubte eine kollektive Verwaltung des Leichengeheimnisses; genauerhin: die Möglichkeit der Erfahrung der Grenzen des sozialen Körpers. Die Leichenmimesis wurde institutionalisiert. Der soziale Körper entfaltete seine Resistenz gegen die Bedrohung durch Leichen, indem er die Absage an seine Synthesis regelrecht organisierte In dem eher gewisse Grenzüberschreitungen nicht nur tolerierte, sondern geradezu verordnete.“ (op.cit.: 222). Grenzgänger dieser Grenzerfahrungen waren Protagonisten der sozialen Gruppe: Priester, Wächter, Heiler. Sie waren 'Türhüter' an der Grenze zum bedrohlich Fremden, die der Gefahr von außen begegnen und damit den Sozialkörper schützen und stabilisieren konnten.

276

Die Überlegungen Machos machen auf einige grundsätzliche Zusammenhänge von Tod, Trauer und Bestattung aufmerksam, sie geben zu bedenken: – Tod, Trauer und Bestattung nicht allein als persönliche Schicksale, Gefühle und Handlungen zu verstehen, wie uns ein individualisierendes Verständnis von Tod und Trauer nahelegen möchte. Macho gibt hier zu bedenken: Sie ereignen sich, sie sind erfahrbar, sie werden kommuniziert in dem, was Macho 'sozialer Körper' nennt. Darin weist er auf Sozialität als Referenzrahmen hin. Weil es Menschen sind, die den Tod des Anderen erleiden und mit ihm umgehen müssen, sind sie aufgrund ihrer basalen Leiblichkeit an die Sozialität gebunden. Die hinter den Begriffen Tod und Trauer sich verbergenden Erfahrungen und Interaktionen sind nach Macho zutiefst sozial. Sie bezeichnen soziale Beziehungen und ihre Definitionen sind gesellschaftlich (op.cit.: 300). 'Verarbeitungen' welcher Art auch immer sind an den Referenzrahmen des sozialen Körpers verwiesen. „Der Tod ist ein gesellschaftliches Verhältnis; die Abgrenzungslinie, welche die Toten von den Lebenden trennt […] Erst die Universalisierung des sozialen Körpers zum grenzenlosen 'man' hat uns dem inneren Tod ausgeliefert. Wir haben den Tod desozialisiert, indem wir ihn bioanthropologischen Gesetzen unterstellten, ihm die Immunität der Wissenschaft beilegten und ihn als individuelles Schicksal verselbstständigten.“ (op.cit.: 299f) – nicht 'den Tod an sich' – von einer 'Ontologie des Todes' (op.cit.: 198) distanziert sich Macho –, sondern die reale und konkrete Leiche als Ausgangspunkt allen Erlebens und Handelns im Zusammenhang des Todes zu verstehen. Sie wird in ihrer Absage an die Sozialität dennoch als lebendig empfunden und erfahren. Sie ist Objekt und Subjekt des bestattenden Handelns. Trauer geschieht an der Leiche. Die freudsche These des Verlustes könnte eine neue Dimension hinzugewinnen: Es ist die Abweisung der Sozialität durch die Leiche, die Gefühle der Trauer hervor ruft. Die Leiche ist die 277

Leibhaftigkeit solchen Verlustes und ihr Urheber, weiteres ist Theorie bzw. Verinnerlichung dieser 'von außen' kommenden Erfahrung. – Bestattungsriten als kollektive und damit auch leibgebundene Riten zu erfahren. Der immanenten Leiblichkeit der Erfahrungen und des Handelns werden die Totenriten gerecht. Angesprochen in ihnen ist zunächst die Gemeinschaft als sozialer Körper, zu dem im Sinne eines Leichenparadoxons auch der tote Körper gehört, die Hinterbleibenden und dann das Individuum. Todesriten sind leiblich und darin ganzheitlich. Ihr 'Gesamtbild' zielt in Form und Funktion auf den Körper, als sozialen und als toten. – der Leiche, weil sie Leiche ist, ein 'geheimes Leben' (op.cit.: 412) zuzugestehen. Der Umgang mit ihr ist deshalb auch geprägt von Angst vor ihrer Kraft. Diese Kraft wird ihr nicht sozial zugesprochen, sondern sie geht von ihr aus. Die Leiche ist immer auch Subjekt des Bestattungsgeschehens. Dieses Zugeständnis hat Auswirkungen auf Elemente des Ritus, die der Würdigung und Wertschätzung der Toten dienen. – die Bestattung neben der Abschiednahme auch als dem weiteren Leben des Toten dienlich zu verstehen. (Wiederholt vollzogene) Totenriten (Leichenmimesis) sorgen für die Sozialisierung der Toten. Sie sollen zu sozialisierten Toten werden und bleiben, zu Ahnen. „Die Identifikation der Lebenden mit den Toten muss wiederholt werden, weil die Toten nicht dauerhaft sozialisiert werden können. Sie bleiben fremd und gefährlich.“ (op.cit.: 299 ) Für Robert Hertz (s.o.) war die Verknüpfung von präsentem Leichnam, Totenriten und Trauer der Hinterbleibenden eine wichtige Erkenntnis seiner Studie. Emile Durkheim nun wies auf den besonderen Gefühls- und Verhaltenskomplex im Zusammenhang von Totenriten hin, den er bei seinem Material identifizierte. Dieser ist zu unterscheiden von den z. B. bei Freud dargestellten, der Melancholie ähnlichen emotionellen Prozessen. Durkheim hebt die Differenzie278

rung zwischen Trauer als individuellem Gefühl z.B. eines Verlustes und Trauer als sozialem Verhalten im Zusammenhang von Totenriten hervor: „Die Trauer [im Vollzug des Totenritus: MH] ist keine natürliche Bewegung der persönlichen Sensibilität, die durch einen grausamen Verlust hervorgerufen wurde: sie ist eine Pflicht, die von der Gruppe auferlegt wird. Man klagt nicht, weil man traurig ist, sondern weil man die Pflicht hat, zu klagen. Es handelt sich um eine rituelle Handlung, die man aus Respekt für den Brauch anzunehmen verpflichtet ist, die aber in starkem Maß unabhängig ist vom Gefühlszustand des Individuums. Die Verpflichtung steht im übrigen unter mythischen oder sozialen Sanktionen.“ (Durkheim 1912: 532). Durkheim stellt entsprechende Gefühle nicht in Abrede, aber Ziel der rituellen Handlung der Trauer ist das Wohlergehen des Toten. Für ihn ist die Trauer inszeniert, mehr noch: sie wird geschaffen und soll 'gelebt' werden, „fügt man sich Leid zu, um zu beweisen, dass man trauert“ (ebd.). Das ist eine Pointe der Durkheimschen Überlegungen: Toten/Trauerriten schaffen im Vollzug 'Trauer' bzw. Trauer ist die erwartete weil durch sie hervorgerufene (Re)aktion auf den Vollzug des Trauerritus. Solche Traueräußerung sind für die rechte Überleitung des Toten in die Welt der Toten unerlässlich. Tod und Trauer werden von Durkheim in seinem Material nicht als individueller und darin selbstbezüglicher Komplex von Befindlichkeiten, sondern als soziale Repräsentationen im Zusammenhang von Solidarität mit dem Leichnam und Ordnung innerhalb des Gemeinwesens identifiziert. 'Trauer' wird im sozialen Kontext der Gruppe geprägt, geformt und ausgeübt. Tod und Trauer sind kulturelle und soziale Konstruktionen, die sich in gesellschaftlich vor gegebenen Denk- und Handlungsweisen im Zusammenhang der Bestattung manifestieren. Die von Macho dargelegte Ambivalenz von Sorge und Abwehr im Verhalten dem Leichnam gegenüber hat auch Werner Fuchs anhand unterschiedlicher Totenriten herausgearbeitet. Es sei naheliegend, die 279

einen „als Versuche anzusehen, für den Toten noch irgendetwas zu tun, ihm das Fortleben im Grabe zu sichern, den Eingang zu neuem Leben.“ (Fuchs 1969: 142) Zu diesen Trostriten gehört u.a. das Anlegen von Familiengräbern; die Toten kehren als Ahnen zurück in den Schoß der Familie. Ich werde darauf zurückkommen. Andere Riten wehren sich gegen die Macht der Toten: „… da der Tote, für einige Zeit wenigstens noch, Zeichen und Möglichkeiten der Lebendigkeit behält und unter Umständen schädigend in die Welt der Lebenden eingreifen kann, muß man einerseits durch besondere Rücksichtnahme und Pietät seinen Eingang in das jenseitige Leben sichern, andererseits aber die Unmöglichkeit seiner Rückkehr in die Welt der Lebenden durch Abwehrmagie garantieren.“ (op.cit.: 143f) Die moderne perimortale Sorge um Sterbende und Tote hat den Leichnam betont in die Sorge hineingenommen und damit die Schrecken des Todes (als Chiffre des Leichnams) gemildert. Auch hier ist die Leiche kein 'Ding', sondern die der Sorge und Zuneigung bedürftige tote Person. Diese stehen im Vordergrund, und Abwehrriten treten dabei in dem Maße zurück, in dem der Tote nicht mehr durch Pejorisierung des Todes zur Gefahr gemacht wird, d.h.: Rituale antworten nicht allein auf basale Einstellungen dem Tod gegenüber, sie konstituieren zugleich auch diese Bilder. Man lese einmal die Bestattungsgeschichten der Bibel zu Abraham, Jakob oder Mose und zuletzt Jesus: Es sind Geschichten der Sorge um den und der Zuneigung zum Toten und nicht der Angst vor ihm. Damit ist auf Thanatopraxis hingewiesen; diese wird im kommenden Kapitel dargestellt.

280

Kapitel 4: Thanatopraxis Geborgen alt werden, würdevoll sterben, sorgsam bestatten, liebevoll erinnern … aus Liebe zum Leben. (Präambel einer Konzeption eines Altenpflegeheims der 'Die Johanniter' zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer) Ich habe die letzten zwei Jahre an dieser Konzeption mitgearbeitet. Die Verknüpfung mit dem Leitspruch der 'Die Johanniter': Aus Liebe zum Leben, ergab sich dabei zunächst als Ad-hoc-Einfall, verdichtete und verfestigte sich dann aber zur Kernaussage unserer Diskussionen: Geborgen alt werden, würdevoll sterben, sorgsam bestatten (so meine Ergänzung), liebevoll erinnern – in all dem kommt die Sorge der Mitarbeitenden, der Angehörigen, des Trägers 'Die Johanniter' und auch der dort tätigen Geistlichen für das Leben zum Ausdruck. Das gilt auch für Sterben und Bestattung. Insofern der Tod ein natürlicher Teil unseres Lebens ist (und hier nehme ich die Gedanken von Werner Fuchs auf (1969)), gilt unsere Sorge auch dem natürlichen Tod und der Sorge um den toten Körper. Wir dürfen alt werden, dann sterben, wenn es an der Zeit ist, und bestattet werden. Ein Menschenrecht ist es, ein Humanum, das unsere Menschlichkeit kennzeichnet. Ein Recht ist es, das wir nicht 'haben', das wir vielmehr dem Anderen zukommen lassen sollen, und das uns selbst widerfahren mag, wenn wir alt geworden sind ('when I'm sixty four' singt Ringo Starr). Wir 281

können dieses Recht auch 'Liebe' nennen, denn in der Liebe und Sorge auch um die Sterbenden und Toten verwirklicht sich Liebe – als Liebe zum Leben. Liebe ist konkret. Liebe heißt, die Bedürfnisse der Bewohnerin und Bewohner wahr- und ernstzunehmen. Liebe heißt sie nicht allein zu lassen beim Sterben. Liebe heißt, den Angehörigen beizustehen, sie zu begleiten. Liebe heißt, die Toten auch abzugeben und loszulassen. Liebe heißt, sie nicht hinten heraus zu tragen, sondern vorne durch den Haupteingang. Liebe heißt innehalten, Abschied nehmen und auch: ein Gebet sprechen, gute Wünsche mit geben auf dem Weg in eine andere Welt. Liebe heißt würdevoll bestatten, auch weinen am Grab, und dann in liebevoller Erinnerung behalten. Liebe zum Leben – 'alles in allem'! Ob nicht gerade das auch Trauer ist? Der Begriff 'Trauer' ist dann allerdings von einer ausschließlichen Fixierung auf einen Liebesbegriff zu lösen, der sich auf die Freudsche Formel der Trauer (s.o.) beruft. Liebe ist kein 'Ich', sondern ein 'Wir'. Ganz konkret wieder in einem Altenpflegeheim: Es ist eine Gemeinschaft, die da Sorge trägt, begleitet, Abschied nimmt und bestattet. Und die sich erinnert! Sterben und Tod sind ein Sozialium, der Umgang damit die Aufgabe der 'Ekklesia' (zu diesem Begriff s.u.). Sie sichert auch den Willen des Sterbenden, 'in seiner letzten Lebensphase mit seinen Vorstellungen und Wünschen respektiert zu werden' (aus: Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland); dieser Grundsatz gilt auch in Bezug auf Verfügungen zur Bestattung.

282

Bestattungspraxis – Entwicklungen Die Arbeit an der Konzeption hatte ihre Gründe: Beobachtungen im Berufsfeld wiesen auf neue Entwicklungen im Umgang mit Sterben und Tod deutlich hin: Verstorbene HeimbewohnerInnen wurden ohne kirchliche Trauerfeier oder eine andere Forme einer ritualisierten Abschiednahme bestattet (vgl. Gutmann 2011: 66). Der Leichnam wird am Sterbeort diskret durch den Bestatter abgeholt, eingeäschert und anschließend anonym beigesetzt. Angehörige werden informiert, sind aber am Ablauf der Bestattung nicht beteiligt. Analoge Abläufe werden aus dem Bereich der Krankenhäuser berichtet. Eine 'Bestattung' wird realisiert durch eine einsame und anonyme „schnelle Bestattung […] ohne Feier, ohne Redner, ohne Kapelle“ (Uden 2006: 11), ohne Angehörige und ohne eine Trauergemeinschaft, als „die schnelle Entsorgung von Unliebsamem“ (ebd.), so Uden, der befürchtet, „dass sich im Umgang mit den Toten eine Mentalität ausbreitet, die einer Entsorgungs- und Abschiebungsgesellschaft Vorschub leistet“ (op. cit. 11f.). Fakt ist: (1) Bei Bewohnern von Altenpflegeheimen ist eine Zunahme von sogenannten Armen- und Sozialbegräbnissen festzustellen. Sie korrelieren mit finanziell und sozial prekären Lebenssituationen bei Toten und Hinterbleibenden. (2) Bestattungen hochbetagter Menschen geschehen fast ausschließlich 'im engsten Familien- und Freundeskreis' bzw. 'in aller Stille'. Bei Letzteren handelt es sich nicht selten um anonyme Bestattungen ohne Trauerfeier; Traueranzeigen mit diesem Hinweis dienen der öffentlichen Bekanntmachung des Todesfalls und der Darstellung der 'trauernden' Sozialität. (3) Mit Blick auf die statistischen Befunde darf von 'in auffälliger Weise' (EKD 2004: 11) 'wachsenden Zahlen anonymer Bestattungen' (vgl. EKD 2007) gesprochen werden. Diese können zum einen mit

283

steigenden Zahlen bei den Sozialbestattungen erklärt werden. Nicht selten wird eine anonyme Bestattung auf Wunsch der Toten oder der Angehörigen mit einer Trauerfeier durchgeführt. Diese Art der Bestattung wird aber in der EKD-Statistik als 'Kirchliche Bestattung' verzeichnet. (4) Im urbanen Umfeld ist die 'klassische' kirchliche 'Bestattung' eines Gemeindegliedes durch die Gemeinde' ein eher seltenes Ereignis. Als sehr deutliches Merkmal der Veränderung der Thanatokultur darf die negative Entwicklung der Zahlen der kirchlichen Bestattung, d.h. der Erosion jenes ehemaligen kirchlichen 'Monopols im Bereich Bestattungsrituale und Trauerbegleitung' (EKD 2004: 20) angesehen werden. Statistische Erhebungen zur Praxis evangelisch-kirchlicher Bestattung bestätigen die oben dargestellten Beobachtungen. Exakten Zahlen zur kirchlichen Bestattung im Bereich der EKD zwischen 1997 und 2012, und damit die Bestattungsziffer (x von 100 Evangelischen Gestorbenen) liegen vor:

EKD

1997

1998

1999

2000

2001

88,8

89,4

88,4

nicht ermittelt

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

Berlin

63,2

60,9

63,7

60,6

61

60

61,0

59,8

57,2

53

Hamburg

62,8

58,1

57,9

55

56,2

51,6

55,3

56,5

52,5

51,6

Bremen

78,4

76,7

77,5

77,6

83

74,7

79,9

80,9

80,2

72,4

EKD

86,9

86,2

86,4

85

84

83,6

84,6

82,9

81,7

80,7

2000

2014

2015

2016

86,2

74,5

71,7

72,3

Ev. Kirche im Rheinland

https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/zahlen_und_fakten_%5bjahreszahl%5d.pdf

Die Daten weisen auf eine fortschreibbare Entwicklung hin: Wurden 1985 noch 99,2 % aller verstorbenen Evangelischen im Rahmen eines 284

kirchlichen Rituals bestattet (so Winkler 1995), so beträgt in 2012 dieser Anteil 80,7 %, in einer 'durchschnittlichen' Landeskirche (Rheinland) in 2016 72,3 %. Die Statistik differenziert auch zwischen Werten einzelner Landeskirchen und auf Bundesländer bezogenen Werten. Die Daten der Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen liegen erheblich unter dem Durchschnitt des EKD-Mittelwertes. Schon 1997 gab WiefelJenner Schätzwerte von Bestattern weiter, gemäß derer „die Hälfte aller Toten in Hamburg inzwischen ohne Trauerfeier bestattet“ werden (Wiefel-Jenner 1997: 414f). Dass zu diesen Toten auch Evangelische in nicht geringer Zahl zu rechnen sind, darauf verwies Lammer (2003: 51ff), wenn sie für den Bereich der Nordelbischen Kirche für das Jahr 1998 bereits über 20% nicht-kirchlich bestattete Evangelische zählte. Für das Jahr 2012 ist der von Wiefel-Jänner genannte Wert für evangelische Verstorbene in Hamburg und Berlin bestätigt. Dieser Befund als auf alle Bestattungen bezogen ist für die Bestattungskultur der Bundesrepublik Deutschland von großer Relevanz. Die zahlenmäßige Entwicklung der evangelisch-kirchlichen Bestattung kann dabei – ungeachtet eines speziellen Phänomens eines bestimmten religiösen Milieus, innerhalb dessen Veränderungen (auch) in 'endemischen' Ursachen wie Vertrauensverlusten, nachlassenden Bindungskräften u.a. begründbar sind – ein Indikator für Veränderung der Thanatokultur der Gesellschaft überhaupt sein, insofern in ihr eine allgemeine Entwicklung der Bestattungskultur abgebildet ist. Als ein 'pars pro toto' verweist diese Entwicklung dann auf allgemein geltende gesellschaftliche Ursachen und ihre Wirkungen. Gemeint sind strukturelle, sozialrechtliche und materielle bzw. pekuniäre Vorgaben, die 'steuern', ob und dann in welcher Form eine Bestattung stattfindet. Damit kann die Entwicklung der Zahlen der evangelisch-kirchlichen Bestattung auch für die Prognose zukünftiger Bestattungszahlen und damit einer bestimmten Form einer allgemein

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gesellschaftlichen Bestattungskultur als aussagekräftig angesehen werden. Folgende Kontextfaktoren werden als Moderatoren dieser Entwicklung genannt: (1) Das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) vom 14. November 2003 hat mit Wirkung zum 1. Januar 2004 das sog. 'Sterbegeld' als Zuschuss zu den Bestattungskosten gem. § 58, 59 SGB V von Seiten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ersatzlos gestrichen. Die Kosten einer Bestattung des Leichnams wurden damit ausschließlich in die private Trägerschaft der Bestattungspflichtigen gelegt, in der Regel Familienangehörige oder Erben. Entlastet werden diese durch vorsorgende Rücklagen seitens der Verstorbenen zu Lebzeiten. Die gesetzlich verankerte Bestattungspflicht (§8 Bestattungsgesetz – BestG NRW) verweist auf den weiterhin bestehenden Modus der Bestattung als eines sozial kontrollierten Vorgangs trotz der Pflicht zur 'individuellen Kostenträgerschaft'. Die soziale Kontrolle äußert sich in differenzierten Vorgaben bezüglich der Formen der Bestattung: „Die Pflicht zur Beisetzung steht daher in enger Verbindung zum Friedhofszwang. Dieser schreibt vor, dass die Beerdigung von Leichen ausschließlich auf speziell dafür vorgesehenen Bestattungsplätzen erfolgen darf“ (Akyel 2013: 175). In den letzten zehn Jahren ist es zu einer deutlichen Kostensteigerung im Bestattungswesen gekommen; vor allem die Erhöhung der Gebühren für die Bestattung durch die Kommunen hat dazu beigetragen. Akyel nennt als Gründe: Viele Kommunen waren aufgrund des „demografisch bedingten Rückgang(s) der Sterbezahlen als auch […] der Zunahme von preiswerten Urnenbeisetzungen sowie anonymen Grabstellen“ (Akyel 2013: 164) gezwungen, die Gebühren zu erhöhen, um die wirtschaftlichen Defizite auszugleichen.Dies verschärft den Kostendruck auf die Bestattungspflichtigen. Die für eine anonyme Bestattung im Jahr 2004 geschätzten Kosten einer Bestat286

tung werden für eine ähnliche Bestattung in 2013 um 150 % übertroffen. Der Anteil der Bestatterkosten stieg dabei um 43,5 %. Der Wegfall des Sterbegeldes der GKV und die Kostensteigerungen treffen in den letzten Jahren bei einem wachsenden Anteil der Bevölkerung auf eine finanziell prekäre Situation. „Durch die Abschaffung des Sterbegeldes erhöhte sich nicht nur der Anteil an Personen, die keine teure Bestattung erwerben wollten, sondern auch die Zahl derjenigen, die sich eine solche nicht mehr leisten konnten“ (Akyel 2013: 164). Allerdings: Der Anteil der Sozialbestattungen insgesamt betrifft aber auch in 2010 'nur' 6,5 % der Sterbefälle. Die Zunahme der Zahlen der Sozialbestattungen und ähnlicher Formen der Bestattung sind auf dem Hintergrund der Privatisierung und der Kostensteigerungen erklärbar, aufgrund ihrer 'Ungenauigkeit' und 'Dunkelziffern' aber mit Vorsicht zur Interpretation aktueller Zahlenwerte kirchlich Unbestatteter gem. EKD-Statistik heranzuziehen. Die steigenden Zahlen der unbestatteten Evangelischen können sie nicht allein erklären. Dennoch darf vermutet werden: Es sind nicht allein kulturspezifische Rahmenbedingungen, die die Bestattungskultur seitdem beschleunigt verändert haben, sondern vielmehr noch die materiellen und finanziellen Grundlagen der Bestattungspraxis. Von diesen Grundlagen her ändert sich dann auch das kulturelle Verhalten zu Trauer und Tod: Aus der Not, eine billige oder die billigste Bestattung wählen zu müssen, wird die Tugend, sie wählen zu dürfen. Die 'aufgezwungene' Bescheidenheit wird zur moralischen Tugend umgewidmet. In einem zweiten Schritt löst sich diese Tugend der Bescheidenheit von den materiellen Bedingungen und wird zum moralischen Wert an sich. Die materiellen Ausgangsbedingungen bleiben dabei bestehen. (2) Der gewollte Verzicht auf eine kirchliche Bestattung zugunsten einer anonymen Bestattung ohne Trauerfeier ist infolgedessen auch 'ideologisch' begründbar:

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Uden (2006: 29ff) referiert vier 'Deutungstrends' bei der Erklärung der Wahl einer anonymen Bestattung: Dem soll an dieser Stelle eine weitere These einer 'vordergründig praktisch-altruistischer Motivation' bei der Wahl der anonymen Bestattung vor allem durch alte und hochbetagte Menschen hinzugefügt werden; die 'praktischen' Fragen dieser Motivation sind: Wird das Grab gepflegt? Wem soll und wem kann dies zugemutet werden? Man will niemandem 'zur Last fallen'. Diese Motivation, den eigenen toten Körper anonym bestatten zu lassen, ist praktisch orientiert und zugleich emotional, denn sie wird getroffen in Bindung an die Angehörigen und deren zukünftiges Leben. Sie sollen mit der Pflege eines Grabes nicht belastet werden. Ganz pragmatisch wird zugleich befürchtet, dass ein Grab eines Tages möglicherweise nicht mehr gepflegt wird. Ein diese Motivation beeinflussender Kontextfaktor ist die Trennung von Wohnort und dem Ort des Begräbnisses (s. HEINER). Wurden in früheren Zeiten Menschen meist da bestattet, wo sie geboren wurden und dann gelebt haben, und wo ihnen dann mitunter auch eine Familiengruft zur Verfügung stand, so greift heute für Viele eine Heimatlosigkeit des Lebens und des Todes um sich. "Hier bin ich gebor'n, hier werd ich begraben" ist für Peter Fox ein 'Traum vom Haus am See'. Für die jüngeren Generationen führen die Mobilitätsanforderungen der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft sehr oft zu räumlicher Trennung auch der Familien, Eltern leben an anderen Orten als die Kinder. Ein ehemaliges Grab der Familie oder der gemeinsame Begräbnisort der Generationen verliert seine Bedeutung für die lokale Identität der Familie und der Personen in ihr. Für die Wahl der Art der Bestattung heißt dies: Eine anonyme Bestattung wird gewählt, nicht selten mit einer Trauerfeier zur Urnenbeisetzung verbunden. Oder aber die Angehörigen verzichten als Kleinfamilie ganz auf die Trauerfeier und gestalten eine Abschiednahme in anderer Form. 288

Der Verweis von Feldmann (2010: 576) auf die Praxis des sozialen Sterbens in der Thanatokultur kann auf einen weiteren wichtigen und tieferen Aspekt dieser Motivation hinweisen: „In den meisten Kulturen gab es zwei Hauptformen des sozialen Sterbens: einerseits die radikale Exklusion, der Aussschluss aus der Gemeinschaft , die soziale Nichtexistenz, die meist zum frühzeitigen physischen Tod führte, andererseits das normale soziale Sterben meist nach dem physischen Tod,, d.h. das ritualisierte Ausdriften aus der diesseitigen Gemeinschaft, in der Regel verbunden mit dem Übergang in das Reich der Toten“ (ebd.). In Bezug auf das normale soziale Sterben erkennt Feldmann nun in der Thanatokultur der Industriegesellschaften ein 'strukturelles prämortales Sterben': „Arbeitsplatzverlust, Rollenverlust, Ausgrenzung aus dem Zentrum der Gesellschaft bis hin zur Endpositionierung in totalen Institutionen“ (aaO: 576f), bei dem soziale und personale Identität beschädigt wird, wenn nicht gar verloren geht, d.h. der Mensch stirbt erst nach und nach sozial und dann physisch. Besonders beim allmählichen Prozess eines 'sozialen Todes' bei dementiell erkrankten Menschen findet der für alle schmerzhafte Prozess der 'Bestattung' als Abschiednahme, Überleiten an den Ort des Todes als eines Ortes der Entfernung aus der Sozialität bereits im Leben statt. Der physische Tod geschieht aufgrund der Bemühungen der Medizin meist „'nicht abrupt und unerwartet', sondern nach einem langsamen Dahinscheiden. Dadurch findet die emotionale Loslösung vom Sterbenden schon zu Lebzeiten statt, womit gleichzeitig die Notwendigkeit zur sozialen Ausgliederung des Toten im Bestattungsritual sinkt. Der Verzicht auf kollektive Formen des Trauerns und Gedenkens muss vor diesem Hintergrund auch als eine Reaktion auf die veränderten Umstände des Sterbens verstanden werden, die bestimmte Funktionen des Bestattungsrituals obsolet werden lassen“ (Akyel 2013: 156). Dem Tod selbst folgt eine sekundäre Bestattung, die Trauerfeier nach dem Sterben gilt allein noch dem toten Körper

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und seiner abschließenden Bestattung und hat für die Würdigung des zuende gegangenen Lebens ihre Relevanz verloren. (3) Die demographischen Entwicklungen legen eine Tendenz steigender anonymer Bestattungen aufgrund praktisch-altruistischer Motivationlagen nahe: Die Menschen werden älter. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist von 1960 (m 67 / w 72) bis 2009 (78/83) um mehr als 10 Jahre gestiegen (Destatis 2012). Das durchschnittliche Sterbealter liegt bei 73,7/81 Jahren. Zum älter und alt Werden gehört oft aber zugleich ein soziales 'Einsamer Werden'; ehemalige soziale Beziehungsgeflechte dünnen aus, ehemalige Arbeitskollegen, Freunde und Nachbarn altern mit und werden gebrechlich, sterben zum Teil schon früher. Die Älteste bleibt zuletzt übrig. Die Zahl der potentiellen Trauergäste einer Trauerfeier wird mit zunehmendem Alter der Toten geringer. Die Übersiedlung in ein Altenpflegeheim verstärkt diese Tendenz des Verlustes ehemaliger sozialer Bezüge. Hier wird der alte Mensch seiner ehemaligen Lebenswelt spürbar entnommen. Neue Beziehungen werden allein innerhalb des geschützten Raums des Altenpflegeheims geknüpft. Alte Sozialkontakte zu Nachbarn oder auch Kirchengemeinden brechen nach einiger Zeit ab. In einer sozialen Konstellation, in der ein alter Mensch ohne Angehörige stirbt, liegt eine anonyme Bestattung ohne Trauerfeier nahe. Die Zahl der Singles im Alter, auch aufgrund von Kinderlosigkeit, steigt an.

Der Bestattungsmarkt Es ist „für die Kirche äußerst beunruhigend, dass die Zahl evangelischer Kirchenmitglieder jedenfalls in den Städten steigt, die sich nicht mehr kirchlich bestatten lassen. Offenbar nimmt die Überzeugungs290

kraft evangelischer Bestattungsrituale in den eigenen Reihen ab, weil die Konkurrenzfähigkeit anderer Anbieter auf dem Bestattungsmarkt auch in psychologisch-seelsorgerlichen Dimensionen zunimmt.“ (EKD 2004: 21) Kristian Fechtner formuliert den damit festgestellten Sachverhalt pointiert und knapp: „Das christliche Begräbnis ist hierzulande nicht mehr selbstverständlich“ (Fechtner 2011: 53). „Früher ist man in der Kirche aufgenommen worden mit der Taufe, hat die Hochfeste des Lebens begleitet von Kirche gelebt, und auch der Tod war Bestandteil, aus der Kirche heraus wurde ich beerdigt, das fällt alles weg, ... […] Etwa 40 Prozent aller Trauerfeiern werden heute nicht mehr von einem Priester begleitet.“ (Dradio 2011) Akyel (2013: 156f) nennt als Gründe des 'Bedeutungsverlustes des althergebrachten christlichen Totenbrauchtums gewandelte Verhaltenserwartungen und Wertorientierungen an eine Bestattung'; dazu bringt er durch repräsentative Umfragen abgesicherte Befunde bei: „Der Anteil derjenigen, die sich nach dem Tod eine christliche Erdbestattung wünschen, ist zwischen 2004 und 2008 von knapp 40 auf etwa 30 Prozent gesunken. [...] der Anteil der Personen, die eine Bestattung im herkömmlichen Erd- oder Urnengrab vorziehen, (ist) zwischen 1998 und 2007 von 87 auf 51 Prozent gefallen“ (ebd.). Als Gründe dieser Neuorientierung der Hinterbleibenden werden von Akyel genannt: „Die Entwicklungsrichtung im Bestattungswesen entsprach weitgehend der gegenwärtigen Ausprägung des Wertewandels in Deutschland. [...] Während sich auf gesamtgesellschaflicher Ebene eine Abkehr von Pflicht- und Akzeptanz- und eine Hinwendung zu Selbstentfaltungswerten vollzogen hat, ist im Bestattungswesen eine zunehmende Emanzipation von religiösen und administrativen Vorgaben und eine stärkere Betonung der Einzigartigkeit des Individuums zu beobachten. […] Dieser Trend zu einer stärkeren 'Sakralisierung des Ichs' (Knoblauch 1992: 31) manifestiert sich bei der Sarg- und Grabgestaltung, vor allem aber bei der Trauerfeier und beim Totengedenken.“ (Akyel 2013: 157). Religiöse Indifferenz, 291

Patchwork-Religiösität, Säkularisierungstendenzen und Entkirchlichung (Akyel 2013: 133) der postmodernen Gesellschaft und Informalisierung des Verhaltens und der Empfindungen (Wouters 1996) wurden schon an anderen Stellen mit den Gründen des o.a. Bedeutungsverlust verhaftet. Dieser betrifft nicht allein den Bereich der Bestattung, sondern die Kirchen als Ganze in ihrem Verlust an gesellschaftlichem Einfluss und der Deutungshoheit über in früheren Zeiten wie selbstverständlich besetzten Themen. Der Pfarrer, der Bestatter, bestimmten Sitten und Gebräuche, die den Hinterbleibenden sagten, „was zu tun sei, sicherten, kontrollierten und belegten bei Verstoß mit Sanktionen. Es war, als übe der Bestatter (erg.: und der Pfarrer; MH) hoheitliche Aufgaben aus.“ (Dradio 2011) So ist eine Zensur musikalischen Gutes bei Bestattungen heute kaum mehr durchsetzbar, MARIEs Oma darf also ihr 'Ostpreußenlied' bei ihrer Bestattung 'hören'. Sehr viel entscheidender und nachhaltiger für einen neuen Umgang mit Tod und Trauer aber scheint mir der von Ariès (1980: 750f) konstatierte Verlust des sozialen und öffentlichen Charakters einer Bestattung zu sein. Die Familie bzw. das Individuum ist Träger der Bestattung des Angehörigen und nicht mehr eine dörfliche oder andere Gemeinschaft als Bestattungsinstitution. Mit der „'Entdeckung des Individuums' (van Dülmen 1997) in der Bestattungskultur (und) dem gesamtgesellschaftlichen Trend zur Emotionalisierung der sozialen Beziehungen, vor allem mit Bezug auf die Kernfamilie“ (Akyel 2013: 133) geht einher die Privatisierung der Bestattung. Allenfalls Sterbegelder mancher genossenschaftlicher Gemeinschaften (so z.B. die Gewerkschaft IG Metall in Franz' Fallgeschichte) steuern dem ein wenig entgegen. Eine solche Deinstitutionalisierung (Akyel 2013: 150) und Privatisierung belastet und befreit zugleich: Finanziell sind die Privatpersonen die Kostenträger und nicht mehr eine wie auch immer geartete Sozialität. Die 'Hoheit' dessen, der die Musik aussucht, weil er sie 292

bezahlt, befreit in gleicher Weise von formellen und inhaltlichen äußeren Zwängen. Durch die Privatisierung der Bestattung werden die Hinterbleibenden von sozial Betreuten und institutionell Bevormundeten zu Kunden, die die Preise vergleichen und aus einem Angebot aussuchen und entscheiden. Akyel weist deshalb dem Zeitalter der Aufklärung als Befreiung von selbstverschuldeter Unmündigkeit und der Entstehung des Marktes den Charakter einer geistesgeschichtlichen Geburtsstunde solchen Selbstbewußtseins zu (Akyel 2013: 133). Ein sich liberalisierendes Bürgertum „(enthob) den christlichen Glauben allmählich seiner normativen Funktionen […]. bürgerliche Werte und ein am Diesseits orientierter Lebensstil (prägten) verstärkt das Alltagshandeln. Daher ergaben sich auch bei der Beisetzung normative Spielräume für säkulare Ausdrucksformen. […] der vormals wenig bedeutsame Kaufakt (gewann) an Bedeutung“ (ebd.), der soziale Prozess der Bestattung wandelte sich marktorientiert zum 'Kauf von Bestattungsgütern'. Der Warencharakter der 'Bestattungsgüter' erfordert den Einsatz von Geld bzw. Kapital: Die Höhe des Einsatzes korreliert dabei mit dem subjektiven oder objektiven Wert der Ware und dem Grad der erreichten Wahlfreiheit. D.h.: Es sind weniger die geistesgeschichtlichen Entwicklungen, die zur Emanzipation von traditionellen Zwängen bei der Bestattung führen, sondern der Besitz von Geldwerten ist die kontextfaktorielle Voraussetzung des Bestattungs-Marktgeschehens und seiner Dynamik. Akyel weist darauf hin: Ein selbstbewusstes, weil zu Reichtum gekommenes Bürgertum löste sich im 19. Jahrhundert von institutionellen Fesseln der Kirche, wie dies der Adel längst zuvor schon vollzogen hatte. „An die Stelle von Standesrechten trat die soziale Ausdifferenzierung der Bestattung nach Reichtum“ (op.cit. 134). Akyel (2013: 130ff) erinnert daran, dass in einer ersten Phase der Entwicklung hin zu einem modernen Bestattungsmarkt die „Bestattungsgüter […] zumeist durch den Sozialverband bereitgestellt und nicht nach persönlichen Präferenzen 293

ausgewählt wurden [...] das religiöse Brauchtum und damit die Modalitäten der Bestattung (unterschieden sich) je nach sozialer Zugehörigkeit. Hohe geistliche und weltliche Persönlichkeiten fanden ihre letzte Ruhe meist in einer Kirche oder Kapelle. […] Mittellose […] mussten sich mit einem 'Armenbegräbnis' begnügen, das ohne Priester, Fürbitten und Trauergefolge stattfand. Davon ungeachtet pflegte die Oberschicht einen ausgeprägten Bestattungsluxus, der das Seelenheil sichern und herrschaftliche Ansprüche untermauern sollte.“ (op.cit. 130). Diese Struktur findet eine Fortsetzung im neuen Bestattungsmarkt. Als Faktor der Erklärung für den Rückgang der kirchlichen Bestattung markiert diese neue Marktstruktur einen Gegensatz zum Phänomen des 'Armenbegräbnisses'. „Der Übergang vom solidarischen Modell zur individuellen Auswahl von Produkten“ (Akyel 2013: 130) hat dazu geführt, dass die einen ihre Angehörigen nicht kirchlich bestatten lassen, weil sie es sich nicht leisten können. Andere aber greifen auf die Angebote zurück, die ihnen ein reicher Markt der Möglichkeiten bietet, weil sie es sich leisten können. Dieser Markt 'lebt' auch von den 'feinen Unterschieden'. Er setzt in gleichem Maße auf eine gesellschaftliche Differenzierung in 'arm' und 'reich', im Marktsystem freilich allein fixiert an 'Geld und Gut' (und nicht etwa an einem Status). Dieser Markt lebt in der ihm eigenen Dynamik, weil er dem Individuum letztlich über das 'Existenzminimum' einer anonymen Bestattung hinaus 'Luxusgüter' verkauft, die sich nicht jeder leisten kann. Zugleich konstituiert er mit neuer Thanatopraxis eine neue Thanatokultur, er reagiert auf Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen seiner Kunden, er greift in seinem Angebot auf traditionelle (aber nicht unbedingt kirchliche) Formen der Bestattung zurück und kreiert in seinem Angebot auch 'neue' und innovative Vorstellungen von Tod, Bestattung und Trauer. Das ehemals kollektive, in seinem Ablauf und seinen Inhalten sozial fixierte und zugleich absichernde Ritual einer Bestattung unterliegt nun der individuellen 294

Wahl der Rezipienten bzw. des Kunden. Wie eine 'Traumhochzeit' wünscht er sich die 'Traumbestattung'. Weil er bezahlt, darf er entscheiden, was 'gespielt' wird. Und was gefällt, ist auch erlaubt, weil es bezahlt wird. In alledem hat er die Chance und die Aufgabe der Konstruktion einer individuellen und besonderen Bestattung: „Die Trauerfeier setzt einen Schlusspunkt. Sie ist das letzte von einem Menschen, das in Erinnerung bleibt. Da muss alles stimmen: die Dekoration, die Musik, die Auswahl des Instrumentes, jedes Wort und jedes Detail. Es muss erkennbar sein, von wem gerade Abschied genommen wird, so wie bei unserer Marion. Das ist unser Anspruch! Und das ist die Freiheit, die wir uns wünschen!“ (http://hvd-nrw.de). Dass eine solche Freiheit auch kritisch zu sehen ist, weil sie auf der Macht der Unterschiedlichkeit aufbaut, darauf macht Klaus Feldmann (2010: 578–582)) aufmerksam, wenn er die Perspektive einer „globalen Klassengesellschaft des Lebens und des Sterbens“ entfaltet, in der der Tod nicht der große Gleichmacher ist.

Der Trauermarkt Als Markt des Angebotes und der Nachfrage konstituierte sich mit neuer Thanatopraxis zugleich ein 'Trauermarkt' (s. das Internetportal 'Trauer.de'). Auch er reagiert auf Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen seiner Kunden/Klienten und weckt zugleich durch seine Angebote neue Bedarfe. Dieser Markt der Trauerarbeit ist stark ausdifferenziert, professionalisiert und auch kommerzialisiert. Eine kaum zu überblickende Zahl von Internetportalen, Verbänden, Vereinen, privaten Instituten, ehrenamtlichen und beruflichen Trauerbegleiterinnen, Trauerrednern u.v.a. bieten ihre Dienste auf dem freien Markt der Begleitung und Beratung an. Die Spanne der Anbieter erstreckt sich von kirchlichen und anderen Institutionen der öf295

fentlichen Wohlfahrt mit vielen qualifizierten ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitenden, über Vereine, die sich die Begleitung Trauernder zur Aufgabe gesetzt haben, und die entstehende Kosten über Mitgliedsbeiträge, Spenden und auch Honorare ausgleichen müssen, sowie Einzelpersonen, die ihre Ausbildung nun zu einem Beruf machen und entsprechend entlohnt werden möchten, bis hin zu rein kommerziell ausgelegten Portalen mit dem Interesse der Sicherung der Marktanteile und der Steigerung der Umsätze.

Sterbe- und Trauerbegleitung in Zahlen und Daten Ein 2013 abgeschlossenes Forschungsprojekt zur Wirkung von Trauerbegleitung (Wissert 2013) vermag die Faktenlage zur Sterbe- und Trauerbegleitung differenziert darzustellen. Die Zusammensetzung des Samples dieser Studie sowie die gewonnenen Ergebnisse lassen vorsichtige und behutsam zu formulierende Rückschlüsse zu: (1) Sterbe- und Trauerbegleitung scheinen überwiegend institutional organisiert zu sein; die Befunde des Forschungsprojekts stellen heraus: „Über die Hälfte der antwortenden Begleiter ist bei Hospizdiensten tätig und ein Viertel bei kirchlichen oder anderen Beratungsstellen.“ (op.cit.: 13). Nur 3 Prozent der befragten Begleitenden war im Bestattungswesen tätig, ein großer Teil der Hospizdienste arbeitet dagegen in kirchlicher Trägerschaft (Caritas, Diakonie, Kirchenkreise und Gemeinden, Orden). (2) Bedeutsam ist auch die Struktur der Beschäftigungen in der Sterbe- und Trauerbegleitung: „41 % der Begleitenden sind in ehrenamtlicher Funktion tätig, 30 % in hauptamtlicher Funktion, davon 8 % in Stellen mit mehr 50 % Umfang. 16% arbeiten als freiberufliche Begleiter, und 10% auf Honorarbasis in Anbindung an hospizliche oder andere Organisationen.“ (op.cit.: 12) Eine Zuordnung der ehren296

und hauptamtlichen Begleiter zu den genannten Institutionen erscheint aufgrund der übereinstimmenden Werte als naheliegend. Kirchliche Institutionen tragen große Bereiche der Sorge um Sterbende und Trauernde. Der Anteil der freiberuflichen Begleiter hingegen scheint begrenzt zu sein. Diese Struktur lässt nach dem Anteil von qualifiziert und zertifiziert Ausgebildeten fragen. Die Behauptung Lammers (2010: 159f), dass in einer Folge einer seinerzeitigen Abwertung kirchlicher Kompetenz zur Begleitung 'Trauernder' durch Erich Lindemann (1944) diese seitdem zunehmend aus 'kirchlicher Zuständigkeit in andere Hände verlagert', und „Medizin, Psychologie und neuerdings das Bestattungswesen weite Bereiche der Trauerbegleitung übernommen (hätten), während sich die Kirchen vorwiegend auf das Bestattungsritual beschränken“ (ebd.), ist aktuell differenzierter zu betrachten: Der Umgang mit Tod und Trauer ist in neue 'Settings' verlagert worden, in denen wiederum kirchliche und andere Träger tätig werden (vgl. dazu Lammer 2014: 7ff). (3) Durch die Hospiz-Anbindung der Trauerbegleitung gibt es starke Bindungen zu peri- und postmortaler Begleitung auch in der Zeit der Bestattung. Sterbe- und Trauerbegleitung gehen ineinander über, das perimortal gewonnene Vertrauen trägt hinüber in die postmortale Phase, in der die Hilfe der Trauerbegleitung weiter und intensiver in Anspruch genommen wird. (4) Trauerbegleitung ist ein Beziehungsgeschehen. Trauernde wählen bewußt diese Beziehung in einem Bedürfnis nach „Zuhören, der Akzeptanz ihrer Trauer und dem Austausch untereinander“ (Wissert 2013: 11), also nach Gemeinsamkeit und sozialer Bindung. Ein in der Trauer-Literatur oft genannter entscheidender Wirkfaktor: „Umgang mit Gefühlen“ in der Trauerarbeit, wurde von den Begleitenden als der bedeutsamste eingestuft, die Trauernden hingegen erlebten hier durchschnittlich eine relative geringe Entlastung (vorletzter Platz in der Rangfolge). (op.cit.: 15). Hier stimmte für die Befragten in der 297

Rückschau eine in der wie auch immer gestalteten Ausbildung vermittelte 'Expressionstheorie' offensichtlich nicht mit ihren Bedürfnissen als Trauernde überein. (5) Lammer grenzte in ihrer Dissertation die Zahl der Trauernden darin ein, dass „Trauer nicht in 'jedem' Todesfall auftreten (muss)“, sondern nur dann, wenn „der verstorbene Mensch 'geliebt' war“ (Lammer 2010: 32; Hervorheb. Lammer). Später nimmt sie dieses Kriterium zurück (Lammer 2014: 2). Im Forschungsprojekt wurden Nähe der toten Person und Todesumstände als Faktoren für die Intensität der Trauer identifiziert: Der plötzliche Tod eines Kindes oder des Partners wurden als starke Belastung empfunden im Vergleich zum Tod alt gewordener Eltern, eines Freundes oder Bekannten. Solche Differenzierung lässt freilich nach der Brauchbarkeit eines solchen 'Liebes'-Begriffes zur Erklärung von Trauerphänomenen fragen. Mehrere Faktoren werden als Trauermotive angedeutet: Das unerwartete, die Ordnung des Gewohnten zerstörende Ereignis und im Kontrast dazu das als natürliches Lebensende Erwartete, die Zerstörung von Zukunftsperspektiven beim Kindstod und der Abschluss von Vergangenem. (6) Die oben genannten Faktoren 'Nähe' und 'Todesumstände' weisen auf demografische Kontexte. Wissert (2013: 1) vermutet: "Wenn man davon ausgeht, dass bei jedem sterbenden Menschen durchschnittlich drei ihm nahestehende Personen von Trauer betroffen sind, dann erleben jedes Jahr rund 2,5 Millionen Menschen in Deutschland akute Trauer. Und da Trauerprozesse nicht nach einem Jahr „abgeschlossen“ sind, sondern unter Umständen sehr viel länger andauern und mit erheblichen Beschwernissen verbunden sein können, sind möglicherweise durchgängig 10 % der Bevölkerung von den Einflüssen und Wirkungen von Trauer betroffen. [...] Unter Wirkungen von Trauer verstehen wir alle durch Trauer ausgelösten Effekte im gesamten Bereich des Lebens. Dies betrifft in einem umfassenden Sinn vielfältige körperliche, psychisch-seelische, soziale und spirituel298

le Aspekte des Lebens. Fast immer erleben wir diese Effekte als Beeinträchtigungen der Lebensqualität und Belastungen, wenngleich Trauer ein „normaler“ Bestandteil des menschlichen Lebens ist." Welche Fallzahlen stehen dann hinter einem 'fast immer' oder anderen Angaben gleicher Konnotation (z.B.: 'häufig', 'sehr oft' u.a.)? Der Umgang mit dem Tod eines Anderen kann in der Tat die Hinterbleibenden in der angegebenen Zahl hervorrufen. Wissert geht von einer Sterberate von ca. 1% der Bevölkerung aus. Diese Rate ist allerdings etwas detaillierter darzustellen: Den in der Studie hervorgehobenen Tod eines Kindes hat nur eine sehr kleine Minderheit der Trauernden erleben müssen. Die große Zahl der Todesfälle dagegen betreffen alt gewordene Ehepartner und Eltern. So starben in der BRD im Jahr 2016 etwa 4000 Minderjährige (ca. 0,5% der Mortalitätsrate). 3,5% der Gestorbenen waren zwischen 30 und 50 Jahre alt. Der Anteil der Gestorbenen über 60 Jahre betrug über 85%. Die Studie selbst weist in ihren unterschiedlichen Belastungsprofilen auf daraus resultierende, in Verlauf und Intensität sehr unterschiedliche Trauerreaktionen und damit entsprechende Grade von Beeinträchtigungen und Belastungen hin. (7) Die Frage nach der Reichweite des Trauerbegriffs zur Versprachlichung der Erfahrungen und des Handelns beim Tod eines Anderen stellt sich noch einmal verstärkt durch die in der Studie bestätigte Eigentümlichkeit des populären Trauerbildes: Seine empirische Repräsentation ist weiterhin geschlechtsspezifisch. Auch die Zusammensetzung des Sample der hier referierten Forschungsarbeit zeigt in den drei befragten Gruppen einen jeweils mehr als 80 prozentigen Anteil weiblicher Teilnehmerinnen (siehe auch Trauerbegleiterinnen im 'Bundesverband Trauerbegleitung e.V.' gemäß Internetauftritt: 223 weiblich, 28 männlich +n). In Bezug auf die empfundene Gesamtbelastung durch die Wirkungen der Trauer zeigt das Projekt folgendes Ergebnis: „Männliche Trauernde schätzen sich nach dem Todesfall mit einem Gesamtbelastungswert von 2,59 als statis299

tisch signifikant weniger belasteter ein als Frauen (Gesamtbelastungswert: 2,81: p