Trauer als wandelnde Kraft: Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen begleiten [1 ed.] 9783666407970, 9783525407974

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Trauer als wandelnde Kraft: Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen begleiten [1 ed.]
 9783666407970, 9783525407974

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Christoph Bevier

Trauer als wandelnde Kraft Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen begleiten

EDITION

 Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller, Petra Rechenberg-Winter, Katharina Kautzsch, Michael Clausing Die Buchreihe Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen für Tätige in der Begleitung, Beratung und Therapie von Menschen in Krise, Leid und Trauer.

Christoph Bevier

Trauer als wandelnde Kraft Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen begleiten

Vandenhoeck & Ruprecht

Das Titelbild zeigt ein Fenster der Pfarrkirche St. Valentin in Limbach, das von Gabriele Wilpers gestaltet ist. Die Asche der abgebrannten Kirche erscheint in einem Fenster der wieder errichteten Kirche als Symbol der Wandlung, die Trauer ermöglicht. Der Stein ist ein Symbol für die Schwere und das Beharren der Trauer.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Gabriele Wilpers Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-666-40797-0

Inhalt

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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1 Einleitung: Trauer bei Menschen mit psychischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer psychiatrischen Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  16 2 Zur Geschichte von Menschen mit psychischen Erkrankungen  20 3 Trauer als wandelnde Kraft – Verständnis von Trauer . . . . . . . .  28 4 Formen psychischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Allgemeine Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Umgang mit Menschen mit psychischen Auffälligkeiten . . . . . . . . . .  Krankheitsbilder, Diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Affektstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Manie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Bipolare Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Neurotische Störungen, Belastungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Neurotische Störungen, Belastungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Abhängigkeitserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Körperliche Störungen mit hauptsächlich psychischen Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Skills . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

37 37 40 43 43 48 48 49 51 52 52 56 58 60 61 61

6   Inhalt

5 Trauer und Trauerbegleitung bei psychischen Erkrankungen .  62 Trauer bei psychischen Erkrankungen als Umgang mit Verlust . . . . .  64 Trauer als nichtpathologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 Trauernde Angehörige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  66 Eltern, deren erwachsene Tochter oder erwachsener Sohn psychisch erkrankt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  68 Psychische Erkrankung in einer Ehe oder Partnerschaft . . . . . . . .  69 Kinder, deren Eltern psychisch erkranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  70 Trauer bei psychischen Erkrankungen als Umgang mit Verlust durch Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  73 Zwei grundsätzliche Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  73 Vulnerabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  75 Ambivalenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  77 Traueredukation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  80 Krankheitsbilder und ihre möglichen Auswirkungen auf Trauer bei Verlust durch Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  81 Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  81 Affektstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  84 Neurotische Störungen, Belastungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  90 Abhängigkeitserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  99 Körperliche Störungen mit hauptsächlich psychischen Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  105 Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  106 Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109 6 Trauer, die psychotherapeutische Hilfe braucht . . . . . . . . . . . . . .  114 7 Spiritualität und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  121 Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  121 Spiritualität und Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  122 Spiritualität und psychische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  125 Negatives Wirken von Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  126 Positives Wirken von Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  129 Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  136

Inhalt   7

Glossar: Auffällige psychische Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  143 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  148 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  149 Fachliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  149 Erfahrungsberichte und Aufsätze von Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . .  150 Poetische und essayistische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  151

Der Patient Der Patient ist krank. Deshalb muß er geheilt werden. Der Patient würde auch gepflegt sein. Er versteht sich gut mit den Ärzten. Der Patient kann als geheilt ent lassen werden. Ernst Herbeck: Im Herbst da reiht der Feenwind (1992, S. 74)

Vorbemerkungen

Weder konnte ich mich ganz für das generische Maskulinum – weil es mir zu einseitig scheint – noch für eine konsequent inklusive Sprache entscheiden – weil sie mir unleserlich scheint und meinem Sprachgefühl widerspricht. Deshalb habe ich mich für eine Mischform entschieden und verwende manchmal das generische Maskulinum, manchmal die Partizipform und manchmal gemeinsam die weibliche und die männliche Form. Man kann darüber diskutieren, ob Krankheitsbilder, Diagnostik, Pathologien … nicht grundsätzlich verfälschend und festschreibend sind, und ihnen die Fähigkeit absprechen, Wirklichkeit von Menschen mit psychischen Störungen oder Erkrankungen – und selbst diese Bezeichnungen sind schon fragwürdig – angemessen abzubilden und zu beschreiben. Die Grenzen zwischen verschiedenen Dimensionen psychischer Befindlichkeit sind fließend, deshalb haben Grenzziehungen und Diagnosen in diesem Bereich immer etwas Verfälschendes und Hegemoniales. Ein ideales Buch würde Phänomene psychischer Störungen ausschließlich mit Einzelfallbeschreibungen darstellen, aber solch ein Buch wäre unendlich. Kategorisierungen, Einteilungen, Krankheitsbilder … sind deshalb – im Wissen um ihren falschen Anspruch auf Hegemonie und ihre Beschränktheit – nötig, um eine Basis für die Beschreibung zu haben. Menschen dürfen nicht auf eine Erkrankung oder Diagnose reduziert werden, vielmehr ist die Erkrankung als ein Teil ihrer Lebensund Persongeschichte zu verstehen. Es geht mir in diesem Buch

10   Vorbemerkungen

um den Zusammenhang und das gegenseitige Beeinflussen von psychischen Erkrankungen und Trauerverläufen, dazu verwende ich die Fachsprache und psychiatrischen Kategorien.1 Die Fallvignetten in diesem Buch sind entweder anonymisiert oder mit den Beteiligten besprochen. In einem Seelsorgegespräch am Anfang meiner Tätigkeit in der Psychiatrieseelsorge erzählte mit ein Patient, er habe sich nach einer jahrelangen ambulanten Therapie bei einem Psychol­ogen nach dem Auftreten extremer Panikattacken zu einer stationären Therapie entschlossen. Dazu brauchte er einen Bericht von diesem Psychologen. Der Psychologe habe ihm den Bericht zugeschickt und er habe ihn natürlich gelesen. In dem Bericht bescheinigte ihm der Psychologe eine »durchschnittliche Intelligenz«. Ihn habe das sehr verletzt und er habe dies als einen Vertrauensbruch des Psychologen empfunden. Damals trat mir deutlich vor Augen, wie schnell und nachhaltig man Menschen durch diagnostische Sprache verletzen kann. Der Patient erzählte mir auch von seiner Wahrnehmung in der Klinik: Er müsse sich immer deutlich machen, dass er aus eigener Entscheidung hierhergekommen sei und die Behandlung in der Hand habe. Das System Psychiatrie erlebe er als überwältigend. Soviel Hilfe er bekomme, sosehr erlebe er auch die diagnostische, festschreibende Macht, das »Behandeltwerden«, ein »Fall« sein, das Übergehen seiner Individualität. Er könne das einordnen, sagte er, als Dinge, die in einem System vielleicht unvermeidlich seien, aber er leide dennoch darunter.

1 Zum Sprachgebrauch von »Beeinträchtigung«, »Störung«, »Erkrankung«, »Krankheit«, »Kränkung« siehe meine Bemerkungen am Anfang des Kapitels 4: Formen psychischer Erkrankungen.

1 Einleitung: Trauer bei Menschen mit psychischen Erkrankungen

Hinführung

Das Thema Trauer war für mich von Anfang an, seit ich in der Psychiatrie als Seelsorger arbeite, präsent. Stationen empfahlen Patientinnen und Patienten, die mit Verlusterfahrungen und Trauer beschäftigt waren, mit der Seelsorge zu sprechen. Ich ging oft mit Patientinnen und Patienten spazieren, die in Trauer waren. Manche trugen den Verlust naher Angehöriger, der viele Jahre und Jahrzehnte zurücklag, als eine präsentische Erfahrung mit sich, als sei der oder die Angehörige erst vor wenigen Wochen verstorben. Andere beschäftigte die Vorstellung, sie seien schuld am Tod ihrer Angehörigen, sie hätten etwas falsch gemacht oder unterlassen, was den Tod der Angehörigen verursacht habe. Andere waren durch die Trauer oder mit der Trauer in eine depressive Erkrankung gekommen und fragten sich, ob die Trauer ursächlich für die Depression sei oder die Depression die Trauer so schwer und erdrückend mache. Ich machte die Erfahrung, dass diese Menschen es als sehr hilfreich empfanden, dass jemand da war, der Zeit für sie hatte, sie ernst nahm und ihnen zuhörte. Es war schon sehr viel wert für sie, dass sie nicht das Gefühl vermittelt bekamen, falsch zu fühlen, falsch zu handeln, falsch zu sein in ihrer schweren Trauer. Sie schätzten es, keine Empfehlungen oder Normen gesagt zu bekommen, Trauer müsse nach so und so vielen Jahren »bearbeitet« sein, Schuldgefühle seien falsch, der Tod gehöre zum Leben und so weiter.

12   Einleitung

Für mich als Seelsorger war es auch wichtig, den Patientinnen und Patienten Angebote zu machen, wie sie ihre Trauer als wandelnde Kraft leben könnten. Ich fragte sie, ob sie sich vorstellen könnten, mit mir zu beten. Ich bot ihnen Imaginationsübungen an, die ich aus den Büchern von Roland Kachler und Luise Redde­ mann kannte. Wenn möglich, machten wir die Imaginations­ übungen in der Kirche der Klinik. Die Imaginationen bewirkten sehr oft eine Verwurzelung der Menschen in sich selbst und hatten eine mit der eigenen Geschichte versöhnende Wirkkraft. Je länger ich in der Psychiatrie arbeitete, desto mehr wurde mir bewusst, mit wie vielen Abschieden und Verlusten Patientinnen und Patienten beschäftigt sind. Verlust von Gesundheit. Verlust von Freiheit. Verlust von Identitätszuschreibungen. Verlust von Zukunftsvorstellungen. Verlust von Berufstätigkeit. Verlust von Partnerschaft. Ein Patient muss nach seiner Psychoseerfahrung lange von seinem Beruf pausieren und stellt irgendwann fest, dass er überhaupt nicht mehr in seinen Beruf zurückkann. Er steht vor der Aufgabe der Trauer um sein Bild von sich selbst, Trauer um die Vorstellungen von der eigenen Zukunft. Er muss sich von vielem, was ihm verlässlich schien, verabschieden. Trauer hilft ihm, sich auf sein verändertes Leben mit seiner Erkrankung einzustellen. Sie ist eine Kraft der Veränderung und sie öffnet einen Weg, das Unveränderliche anzunehmen und sich den neuen Aufgaben und Herausforderungen zu stellen. Ein Patient erzählt, wie viel Lebenszeit er für die Organisation seiner Sucht verbrauchte und was er alles an Kreativem, seinem Leben Förderlichen mit seiner Kraft und Zeit hätte tun können. Er hält seiner Sucht seit einigen Jahren stand und lebt abstinent, aber die Vorstellung, viele Jahre verschleudert zu haben, belastet ihn immer noch. Trauer hilft ihm, sich auf den Schmerz der Sucht

Hinführung   13

einzulassen, auf die Vergeblichkeit, die sie produziert und deren Sinnbild sie zugleich ist. Trauer hilft ihm, sich von der Fixierung auf das eigene Fehlverhalten zu lösen und das gedankliche Spiel mit einem Rückfall zu reduzieren. Trauer hilft ihm auch, den Lustfaktor bei Rausch und Verschwendung zu würdigen. Einen Forensik-Patienten quält, dass er in einem psychotischen Schub einen Freund attackiert und umgebracht hat. Er trauert und weiß nicht recht, ob er überhaupt trauern darf, weil er derjenige ist, der den Mann getötet hat. Er weint und sagt gleichzeitig: »Unglaublich, dass ich weine, ich habe kein Recht dazu.« Als Täter trägt er die Schuld; als Forensik-Patient ist er nach § 63 StGB schuld­unfähig; die Trauer billigt er den Angehörigen seines Freundes zu, aber nicht sich selbst. Er befindet sich in mehreren Trauerprozessen, die er sich nicht erlaubt. Trauer um seinen Freund. Trauer um seine Integrität. Trauer um seine Gesundheit. Trauer um seine Freiheit. Mit welcher Trauer soll er beginnen? Jede Trauer scheint ihn zu überfordern.

Angehörige kamen in meinen Blick. Ein Vater schaut wie gebannt auf seine psychotische Tochter, die ihr Zimmer nicht mehr verlässt und manchmal laut herumschreit. Er kann von nichts anderem mehr reden als von seiner Tochter. In seinen Worten hält er die Phantasie von der gesunden Tochter fest und stellt sie gegen die Realität, die er als unbegreiflich und unerträglich erlebt. Die Tochter habe gerade ein Studium begonnen. Sie müsse zu den Vorlesungen gehen. Sie müsse sich auf die Klausuren vorbereiten. Sie vernachlässige die Beziehung zu ihrem Freund. Sie sei auf dem Weg ins Leben – und jetzt schließe sie sich in ihrem Zimmer ein, dusche nicht mehr, putze sich nicht mal mehr die Zähne und komme den ganzen Tag nicht ins Freie. Der Vater spricht mit vielen Fachleuten und beharrt auf

14   Einleitung

seinem Standpunkt, dass nicht sein könne, was ist. Trauer hilft ihm, sich der Realität langsam anzunähern, denn Trauer wird seinen Gefühls- und Handlungsspielraum erweitern. Trauer bedeutet in seinem Fall, die eigene Seele und das eigene Herz langsam und liebevoll auf den Weg zu schicken, die Erkrankung seiner Tochter zuzulassen und anzuerkennen, die Fixierung auf das Ergehen und Befinden der Tochter zu lockern und aufzuhören, das eigene Leben, die eigenen Wünsche, die eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen. Trauer hilft ihm, eine neue Balance zu finden zwischen Fürsorge für die Tochter und Fürsorge für sich selbst.

Beziehungen unter Erwachsenen sind betroffen. Ein Mann, dessen Ehefrau seit vielen Jahren an Depressionen leidet, sagt, er könne nicht mehr, er halte die Depressionen seiner Frau nicht mehr aus, er halte die Angst nicht mehr aus, ob sie sich etwas antue, er könne nicht mehr alles für sie organisieren, er könne nicht mehr die gesamte Verantwortung für ihr Leben tragen und sich selbst und die eigenen Bedürfnisse und Wünsche ans Leben völlig zurücknehmen. Er traut sich nicht, die Entscheidung ernsthaft zu durchdenken, weil er befürchtet, dass seine Frau bei einer Trennung Suizid beginge. Am liebsten, sagt er, wäre mir, sie stürbe, dann wäre ich frei – und erschrickt sofort über seine Aussage und nimmt sie zurück, so habe er das nicht gemeint, da sei etwas mit ihm durchgegangen. Dabei war sie nur Ausdruck seiner tiefen Verzweiflung. Trauern bedeutet für ihn, sich auf den Verlust einzulassen, dass seine Frau nicht mehr die ist, die er geheiratet hat, sondern eine andere geworden ist, eine Frau, die an schweren, wiederkehrenden depressiven Phasen leidet. Der Hinweis auf Trauer und das aktive Trauern helfen ihm, seine Gefühle und Gedanken nicht mehr mit Schuld aufzuladen, sondern sie als das anzuerkennen, was sie sind: eben seine Gefühle und Gedanken.

Hinführung   15

Auch professionell Helfende sind mit Trauer im beruflichen Kontext beschäftigt. Eine Patientin begeht Suizid, nachdem sie wieder einmal auf einer Station in der psychiatrischen Klinik aufgenommen worden ist. Sie hat viele, oft monatelang andauernde Schübe ihrer depressiven Erkrankung erlebt, spürt, dass ein neuer Schub kommt, und lässt sich auf der Station aufnehmen, um den Schub möglichst abzufangen. Nach einigen Tagen merkt sie, dass die Depression zunimmt, sie kommt in einen Zustand von Hoffnungslosigkeit, Müdigkeit und Schwachheit und beschließt, dass sie diese nächste Phase der Depression nicht mehr aushalten will. Sie begeht Suizid. Wenn es auf der Station zu einem Suizid kommt, heißt es oft, das sei nachvollziehbar, man dürfe sich kein Urteil erlauben, dieser Mensch habe so viel erlitten, wer weiß, wie man selbst gehandelt hätte. Es ist eine rationale Haltung, die als professionell eingeschätzt wird. Man benennt das Elend und lässt es doch nicht an sich heran. In vereinzelten, persönlicher werdenden Kontakten zeigt sich, dass manche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tiefer von dem Schicksal der Patientin betroffen sind. Sie stellen ihre eigene Arbeit infrage, sie stellen das System infrage, in dem sie arbeiten. Was nutzt unsere Arbeit überhaupt, wenn wir dieser Frau nicht helfen konnten? Haben wir zu wenig getan? Hätte man sie in eine Klinik einweisen müssen, in der eine speziellere Behandlung möglich gewesen wäre? In solchen Fragen scheint Trauer durch: Trauer als Schuldgefühl. Manche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sagen auch: Das ist schlimm. Mir geht das richtig zu Herzen. Mich hat das richtig kalt erwischt. Man kann eine elek­ trische Kerze zum Gedenken im Flur der Station aufstellen oder einen kleinen Tisch, auf dem Patientinnen und Patienten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine Karte, ein Bild, eine Blume, einen Grashalm, eine Kastanie oder einen aufgeschriebenen

16   Einleitung

Satz niederlegen können. So wird der Abschied sichtbar und die Trauer bekommt eine Lebensform und Gestalt.

Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer psychiatrischen Klinik

Zur Vorbereitung dieses Buches habe ich einige Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der psychiatrischen Klinik geführt, in der ich als Seelsorger arbeite. Ich traf auf viel Wohlwollen. Wenn ich mein Anliegen vortrug, über das Thema Trauer bei Menschen mit psychischen Erkrankungen zu sprechen, hörte ich oft Sätze wie: Das ist ein wichtiges Thema, gut, dass das Thema jemand aufgreift. Einige Beobachtungen aus diesen Gesprächen gebe ich im Folgenden wieder. • In allen Gesprächen zeigte sich die Erfahrung, dass die Trauer­ thematik in Gestalt von Verlust- und Abschiedserfahrungen in der Psychiatrie stark präsent ist und sich nicht selten in affektiven Störungen und dysfunktionalen Verhaltensweisen unverarbeitete Trauerprozesse verbergen. • Das Thema Trauer löste bei allen Gesprächspartnerinnen und -partnern intensive Erinnerungen an Patientinnen und Patienten aus, in denen eine enge Verbindung, große Fürsorge und oft etwas Liebevolles aufschienen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren bei dem Thema Trauer sehr schnell eng mit ihren Patientinnen und Patienten verbunden, und sofort tauchten Schicksale vor ihrem inneren Auge auf. • Das Verständnis von Trauer als Reaktion auf den Verlust von Lebensperspektiven und Lebensentwürfen wurde in den Gesprächen oft genannt und beschrieben. Die Verluste seien oft so gewaltig, dass die Trauer blockiert werde und Patientinnen und Patienten in der Wut und Aggression stecken blieben. Viele Patientinnen und Patienten verharrten im Wider-

Gespräche   17

stand und bräuchten deshalb Menschen, die ihnen helfen, den Widerstand aufzugeben. Den Widerstand aufzugeben sei Trauerarbeit. Trauerarbeit geschehe hier vor allem als Benennen der Wirklichkeit und der Gefühle. • Trauer als Reaktion auf Verlust durch Tod, sagte eine Mitarbeiterin der Pflege, sei in der Psychiatrie eher selten, und es bleibe auch dann die Schwierigkeit, Krankheits- und Trauer­ phänomene zu differenzieren. Trauer als Reaktion auf Verluste, die durch die Krankheit entstehen, sei in der Psychiatrie häufiger, werde aber oft umschrieben mit Worten wie »Last«, »Krise«, »Klage«, »Müdigkeit« oder mit diagnostischen Vokabeln. Trauer verstecke sich hinter solchen Begriffen und tauche nicht auf, weil sie als solche nicht benannt werde. Da Trauer nicht als solche benannt werde, verhalte sich das Umfeld auch weniger stützend und tragend als im Fall von Trauer bei Verlust durch Tod. Gerade bei Psychose­ erkrankungen, aber auch bei anderen psychischen Erkrankungen kämen Stigmatisierungen hinzu, was nicht nur den Umgang mit Trauer bei den Patientinnen und Patienten, sondern auch bei Angehörigen erschwere. Einem Angehörigen werde es gesellschaftlich viel schwerer gemacht, zu sagen: »Mein Sohn ist depressiv« oder »Meine Tochter hat eine Psychose« als: »Ich bin Witwer« oder »Mein Mann ist verstorben«. Es sei einfacher zu sagen: »Ich kann nicht schlafen, weil mein Mann vor Kurzem verstorben ist« als: »Ich kann nicht schlafen, weil mein Sohn an Depressionen leidet« oder »Ich kann nicht mehr schlafen, weil ich an Depressionen leide«. Die Wirklichkeit von Stigmatisierungen schaffe Tabus, die Gefühle wie Scham, Schuld und Angst betreffen. Trauer als Verlust von Gesundheit und anderem werde so an den Rand gedrängt oder habe keinen Ort, sondern sei einfach da und wirksam, ohne angesehen und gewürdigt zu werden.

18   Einleitung

• Es gibt auch eine politische Dimension von Trauer in der Psychiatrie. Seit den 1980er und den 1990er Jahren setzen sich psychiatrische Kliniken vermehrt auch offiziell mit der eigenen Vergangenheit in der Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Gedenksteine und Gedenkstätten wurden errichtet, und zum Jahrestag der Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar finden in vielen psychiatrischen Krankenhäusern Gedenkveranstaltungen statt. Gedenkarbeit ist auch Trauerarbeit. Nicht nur in Bezug auf die Verbrechen in der NS-Zeit, sondern auch in Bezug auf die gesamte Geschichte der Psychiatrie besteht Anlass zu Trauerarbeit. • Trauer stört die Abläufe und das Selbstverständnis der Institution. Zu Trauer als Reaktion auf Verlust gehören Hilflosigkeit in Gestalt von Lähmung, Überforderung oder Orientierungslosigkeit. Die Institution des Krankenhauses aber will entscheiden, analysieren, Diagnosen machen, Therapien festlegen … kurz: handeln – die Institution kann nicht sagen: Wir handeln nicht, weil wir überfordert oder hilflos sind. Selbst wenn es so wäre, würde sie die Illusion, handeln zu können, aufrechterhalten und fiktiv oder zum Schein oder in Ersatzhandlungen handeln. Insofern ist Trauer eine Störung der Institution. Trauer passt nicht recht hinein. • Bedeutsam fand ich den Hinweis auf die berufsspezifische Sicht, die unterschiedliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Patientinnen und Patienten haben. Pflegende könnten zum Beispiel Schlaflosigkeit oder Vergesslichkeit eher als Symptome innerhalb eines Trauerprozesses erkennen als Ärzte und Ärztinnen, die eher diagnostisch auf den Patienten blickten und mit den genannten Symptomen eher Kriterien für eine Depression erfüllt sähen. • Eine grundsätzliche Erkenntnis, die ich von vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als Klage gehört habe, stelle ich an den Schluss. Die hochgradige Arbeitsteilung in der

Gespräche   19

Insti­tution habe die Tendenz, den Fokus auf die Patientinnen und Patienten zu vernachlässigen oder ganz zu verlieren. Man habe oft das Gefühl, nicht mehr so, wie es eigentlich nötig wäre, mit den Patientinnen und Patienten in Kontakt zu kommen und ihnen Kontakt schuldig zu bleiben, weil sich Aufgaben wie Dokumentationen, Teamsitzungen, Konferenzen dazwischenstellen und als wichtiger gelten. Das eine, was die Abläufe und Verwaltung betreffe, gelte als unerlässlich, das andere, was die konkrete Begegnung mit dem Patienten oder der Patientin betreffe, gelte als variabel und im Ermessen der Kapazität liegend. Das hat auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Trauer und den Umgang mit Trauer, da Trauerphänomene in der Psychiatrie ohnehin randständig sind und leicht übersehen werden. Versteckte und verborgene Phänomene werden so noch weniger entdeckt. (Dieser Aspekt wurde durch die Covid-19-Pandemie und die daraus folgenden Hygienemaßnahmen in den Kliniken noch um ein Vielfaches verstärkt.) Mit diesem Buch möchte ich gern alle Leserinnen und Leser erreichen, die mit Menschen mit psychischen Erkrankungen arbeiten, im psychiatrischen Feld – ambulant, teilstationär, stationär –, in der Trauerbegleitung, in der Seelsorge, in Hospizhilfen, in der Pflege, im Bildungsbereich. Und ich möchte Angehörige und Leserinnen und Leser erreichen, die von psychischen Erkrankungen und Trauer betroffen sind.

2 Zur Geschichte von Menschen mit psychischen Erkrankungen

In der Literatur zur Geschichte der Psychiatrie werden verschiedene Bezeichnungen für das Phänomen von psychischen Erkrankungen verwendet. »Wahn«, »Wahnsinn«, »Geisteskrankheit«, »Nervenkrankheit«, »psychische Erkrankung« sind die am häufigsten gebrauchten. Die Bezeichnungen legen unterschiedliche Schwerpunkte, die alle nicht ganz falsch, aber immer auch Interpretationen sind. Bei »Wahn« und »Wahnsinn« klingt etwas Irrationales, Unkontrollierbares, Grenzüberschreitendes, Gefährliches, aber auch Poetisches und Reizvolles mit. Bei »Geisteskrankheit« klingt etwas Ungreifbares, außer Kontrolle Geratenes, existenziell schwer Bedrohliches, aber auch etwas Spirituelles und von Transzendenz Berührtes an. Die Bezeichnung »Nervenkrankheit« intendiert ein naturwissenschaft­liches, physikalisches und neurologisches Verständnis der Erkrankung und zugleich eine größere Beeinflussbarkeit und mögliche Beherrschbarkeit. Das Wort »Psychiatrie« kam Anfang des 19. Jahrhunderts auf und wurde von dem Mediziner Johannes Christian Reil geprägt (Shorter, 1999, S. 36). Reil begründete eine eigene Disziplin: die Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Johann Christian Reil sah vor allem zwei Aspekte als zentral für die neue Disziplin: die Absonderung der Kranken in einer Anstalt mit ihrer täglichen Routine und Behandlung und die Beziehung zwischen Arzt und Patient, die eine klare Beziehungsstruktur bot (Shorter, 1999, S. 37). Ich ziehe die Bezeich-

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nungen »Psychiatrie«, »psychische Erkrankungen« und »psychische Beeinträchtigung« vor, weil sie mir die nüchternsten und am wenigsten mit Interpretationen aufgeladen scheinen. Psychische Erkrankung ist ein Phänomen, das vermutlich Menschen von Anfang an begleitet und betroffen hat. Trauer ist dabei allgegenwärtig und wird doch in der Literatur nicht als solche benannt. Verlust ist in dieser Geschichte ein gewaltiges Motiv. Verlust von Würde. Verlust von Lebensaufgaben. Verlust von Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Verlust von Beziehung. Verlust von Gesundheit. Verlust von Identität. Verlust von Freiheit. Verlust von Selbstbestimmung. Verlust von Lebensmöglichkeiten. Verlust von Sinn. Allein schon die Betrachtung von Fotografien in Büchern oder Ausstellungskatalogen zur Psychi­ atriegeschichte gibt ein Gefühl für das Elend, das psychisch erkrankten Menschen zugefügt wurde. Nackte Menschen in Badewannen, wo sie in lauwarmem Wasser als Dauerbad viele Stunden liegen mussten. Menschen in Handfesseln und Gürtelring. Menschen, an denen bei einer Lobotomie ein Gerät durch die Augenhöhle geführt wird, um Nervengewebe im Gehirn zu zerstören. Menschen, die im sogenannten Zwangsstuhl stecken. Heruntergekommene und verwahrloste Menschen, die in riesigen Hallen in Betten liegen und leer in die Kamera blicken. Die Geschichte von Menschen mit psychischen Erkrankungen lässt sich in einer groben Perspektive in drei Phasen unterteilen. In einer ersten Phase gab es noch keine Unterbringung in öffentlichen Einrichtungen wie Hospitälern, Asylen oder Anstalten. Psychisch erkrankte Menschen lebten entweder auf Wanderschaft (sie schlossen sich zum Beispiel Bettlern an)2 oder sie wurden zu Hause in ihren Familien versorgt. Der Umgang mit 2 Wanderschaft ist noch heute eine Lebensform psychisch kranker Menschen. Dies zeigt beispielsweise eindrücklich der Film »I am another you« (2017) von Nanfu Wang.

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ihnen war einerseits von Dämonologie bestimmt: Sie galten als von bösen Geistern besetzt und wurden deshalb entweder ausgegrenzt oder mit pseudospirituellen Methoden, die oft Gewalt antaten, zu »heilen« versucht. Andererseits wurde durch alle Jahrhunderte hindurch das antike naturwissenschaftliche Verständnis von Krankheiten und ihrer medizinischen Behandlung wachgehalten. Als Therapie galten in der griechischen Medizin Miteinandersprechen, Isolation, Schock und die Behandlung aufgrund der Theorie der Körpersäfte (Humorallehre). Anders als dies etwa Foucault in seinem Buch »Wahnsinn und Gesellschaft« (2018) andeutet, war diese erste Phase nicht die humane Gegenwelt zur folgenden, von der Aufklärung (Institutionalisierung und Wissenschaft) geprägten Zeit. Den Umgang mit Betroffenen kennzeichneten Gleichgültigkeit, Ablehnung, Entwürdigung und Gewalt. Die Mehrheit von ihnen lebte in großer Armut und Perspektivlosigkeit. Auch die Unterbringung zu Hause bedeutete für psychisch Erkrankte oft eine andauernde Entwürdigung und Erniedrigung. Wer als harmlos galt, konnte sich zu Hause verhältnismäßig frei bewegen; wer als gefährlich oder auch nur unberechenbar galt, wurde (oft außerhalb des häuslichen Bereichs, zum Beispiel in einem Tierstall) eingesperrt und angekettet. Gewalt gegen psychisch Erkrankte war selbstverständlich, auch Verspottung. »Irrsinn« wurde als Schande gewertet und setzte die gesamte Familie der Gefahr sozialer Ausgrenzung durch die größere Gemeinschaft aus. Um der Ausgrenzung der gesamten Familie zuvorzukommen, wurden die Erkrankten meist von der eigenen Familie isoliert und erniedrigt. Eine zweite Phase, die vom ausgehenden Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert reicht, ist vom Aufkommen öffentlicher Einrichtungen geprägt, in denen psychisch erkrankte Menschen verwahrt wurden. Solche Einrichtungen waren zum Beispiel Asyle, Narrentürme, Narrenkäfige, sogenannte Tollkoben (verlassene Gefängnisse), Leprosorien und Pesthäuser, Hospitäler.

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Foucault (2018, S. 68 ff.) zeichnet für diese Phase das Bild einer sich ausbreitenden großen Segregation und institutionellen Verwahrung von psychisch erkrankten Menschen in Europa. ­Shorter (1999, S. 21) stellt dieses Bild infrage, ohne die wachsende Verwahrung zu leugnen. 1330 wurde das Hospital Bethlehem (im Volksmund »Bedlam« – Tollhaus) in London gegründet, wo bald auch psychisch Erkrankte aufgenommen wurden. Bedlam gilt als eine der ältesten Anstalten für psychisch erkrankte Menschen in Europa. Die Behandlung war oft menschenunwürdig, Erkrankte wurden angekettet und gegen Bezahlung zur Schau gestellt. In Deutschland gab es im 14. und 15. Jahrhundert sogenannte »Narrenkäfige«, wo psychisch erkrankte Menschen eingesperrt wurden. Die Käfige waren für alle anderen einsehbar und die Erkrankten konnten angestarrt und verspottet werden (Schott u. Tölle, 2006, S. 234). Psychisch Erkrankte wurden auch in »Narrentürmen« (oft als Teil der Stadtmauern) interniert, wo man sie durch eingebaute Fenster beobachten und verspotten konnte. Im 17. und 18. Jahrhundert entstanden in Deutschland sogenannte Arbeits-, Zucht- und Tollhäuser. Straftäter und Erkrankte waren hier gemeinsam eingesperrt, wobei die psychisch Erkrankten oft von den Sträflingen bewacht wurden (S. 238). Teilweise waren sie in Koben angekettet, die in langen Gängen aufgestellt waren. Dort schrien und fluchten sie und machten mit ihren Ketten Lärm. Nachdem im 16. Jahrhundert die Lepra in Europa verschwunden war, wurden im 17. Jahrhundert in den verlassenen Leprosorien (Anlagen, die außerhalb der Stadtmauern lagen) und Pesthäusern psychisch erkrankte Menschen untergebracht.3 3 Foucault schreibt plastisch, der »Wahnsinn« habe die Rolle der Lepra eingenommen (2018, S. 25). Die Pesthäuser und Leprosorien dienten der Absonderung und Aussonderung. Dieser Ausschluss beziehe sich jetzt auf die psychisch Kranken (S. 23).

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Eine dritte Phase in der Geschichte psychisch erkrankter Menschen beginnt Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Entstehen von Anstalten, die einen expliziten Heilungsanspruch vertreten (Bicêtre bei Paris, York Retreat in York). Shorter schreibt dazu: »Die Entwicklung der Irren-Heilanstalt ist die Geschichte von guten Absichten mit schlechten Folgen« (1999, S. 59). Die Anfänge der sogenannten Heilanstalten sind unter anderem in Frankreich mit Philippe Pinel (1745–1826) und Jean Étienne Esquirol (1772–1840), in England mit William Tuke (1732–1822), Samuel Tuke (1784–1857) und John Conolly (1794–1866) und in Deutschland mit Johann Christian Reil (1759–1813) und Wilhelm Griesinger (1817–1868) verbunden. Anfang des 19. Jahrhunderts prägte Johann Christian Reil den Begriff »Psychiaterie«, aus dem Psychiatrie wurde, eine eigene Wissenschaft, die psychische Erkrankungen erforschte und behandelte. Ein zentrales Motiv für die Idee der Anstalten war die moralische Behandlung. Die Anstalten verstanden sich als therapeutisch und hatten das Selbstverständnis und den Anspruch, zu heilen; es ging also nicht mehr nur um Aussonderung und Verwahrung der Kranken. Psychisch erkrankte Menschen sollten in ihrer Eigenheit und in ihren Bedürfnissen wahrgenommen und behandelt werden. Durch menschliche Zuwendung, Freundlichkeit, Güte und Fürsorge sollte ihnen geholfen werden. Hierher gehört auch die Idee der Gründung von Heilanstalten in ländlichen Regionen (im 19. Jahrhundert) mit der Vorstellung von Selbstversorgung, dorfähnlicher, familiärer Gemeinschaft, Nähe zur Natur, humanen Arbeitsformen. Zugleich wurden die Erkrankten mit dem Ziel behandelt, sie an die Norm der »gesunden«, »normalen« Menschen anzupassen und dahin zu korrigieren. Sie galten per se als defizitär und unterlegen und hatten kein Recht auf ihr eigenes Wesen und Leben, das von der Norm abwich. Die Norm war festgelegt: das von der Aufklärung beeinflusste Menschenbild eines vom Verstand bestimmten Men-

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schen – und die Insassen der Anstalten sollten zu dieser Norm hin gestaltet werden und wurden an ihr gemessen. So wirkten in den Anstalten zwei sich widersprechende Tendenzen: einerseits eine humane Dimension, die sich in Spiel, Arbeitstherapie, Gespräch, Kontakt, Naturerfahrung, Bädern, Diät, Gartenanlagen, Bewegung, Musik, Pflege, Fürsorge zeigte (Shorter, 1999, S. 65 ff.), andererseits eine entfremdende Dimension in Gestalt von Fixierung, Isolation, Gewalt, Festschreibung auf die Diagnose, Hegemonie des Personals, Entwürdigung, Behandlung ohne Zustimmung der Patientinnen und Patienten, ständigem Aderlass, Einsatz von Zwangsjacken und Zwangsstuhl, Schröpfen, Behandlung mit Blutegeln, Purgieren, Manipulationen am Kopf durch Einschnitte in die Schädelhaut und Kopfduschen mit kaltem Wasser, Sturzbädern, Dauer­ bädern, Abführen, Drill, vielen Regeln und strengen Tagesplänen (vgl. Schott u. Tölle, 2006, S. 425 ff.). Wobei all dies als »Therapie« gedacht war, als Hilfe für die Erkrankten, zur »Normalität« zurückzukehren. Die Anstalten konnten nie wirklich ihren eigenen humanistischen Anspruch erfüllen. »Sie [die Irrenhäuser] sind weder Heilanstalten noch Asyle unheilbarer Irrender, sondern meist Spelunken, in welchen die Gesellschaft absetzt, was ihr lästig fällt« – so schreibt Johann Christian Reil im Jahr 1803 (zit. bei Schott u. Tölle, 2006, S. 270). Viele Anstalten waren schon bald nach ihrer Einweihung überfüllt, wodurch sich die Pflege und Fürsorge verringerte und die Lebensumstände der Patientinnen und Patienten immer unwürdiger wurden. Die Anstalten verwandelten sich in Verwahranstalten. Durch den Anstieg der Patientenzahlen, die lange Aufenthaltsdauer und unrealistische Vorstellungen von Entlassungen, aber auch durch gesellschaftliche Krisen wie Krieg, Wirtschaftskrisen und Pandemien verschlechterte sich der Zustand der psychiatrischen Anstalten stark. Patienten und Patientinnen trugen Anstaltskleidung, an

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Schizophrenie Erkrankte lagen tagelang in Katatonie, andere lagen tagelang in ihren Exkrementen (Shorter, 1999, S. 290). Ein absoluter Tiefpunkt der psychiatrischen Anstalten in Deutschland sind die Verbrechen an psychisch erkrankten Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus. Medizinisch wurde im 20. Jahrhundert viel experimentiert, meist ohne Einwilligung der Erkrankten. Neue Behandlungsmethoden wurden eingesetzt, so die Dauerschlaftherapie unter Beruhigungsmitteln, die Behandlung durch Insulinkoma, die Elektrokrampfbehandlung, die Lobotomie. In der Mitte des 20. Jahrhunderts kamen Psychopharmaka auf, die sogenannte »chemische Revolution«, wobei an neue Medikamente oft unrealistische Heilungserwartungen geknüpft wurden. Antipsychotika und Antidepressiva eroberten den Markt. In den 1960er Jahren war Valium das Medikament, das weltweit am häufigsten verschrieben wurde (Porter, 2007, S. 198). In der Gegenwart gibt es in der Behandlung psychisch erkrankter Menschen zwei Tendenzen. Einerseits hat der emanzipative Zeitgeist (zu dem auch die Antipsychiatriebewegung gehört) in den 1960er und 1970er Jahren mit der Psychiatrie-­ Enquete eine sozialpsychiatrische Reformbewegung angestoßen. Heute gibt es in vielen Städten Tageskliniken, Teilhabezentren, Selbsthilfegruppen, Psychoseseminare, Ambulanzen, Recovery-Programme in den Kliniken, eine Förderung des Trialogs (Begegnung auf sogenannter Augenhöhe zwischen Patienten, Ärzten und Angehörigen), Resilienzinitiativen, Psycho­ edukation und anderes mehr. Von vielen psychisch erkrankten Menschen wird dies als hilfreich angesehen, weil es ihre Selbstbestimmung stärkt und ihre Unabhängigkeit fördert. Andererseits behält die biologische Psychiatrie ihre prägende Funktion. Vor allem die Neurowissenschaften haben heute eine bedeutende Rolle. Bildgebende Verfahren wie MRT und CT gehören heute in den Kliniken zum Alltag. Neue, wirksame

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Medikamente auf der Basis von Neurotransmittern sind entwickelt worden. Schott und Tölle sprechen von einer »Biologisierung der Psychiatrie« (2006, S. 223). Dieser grobe Blick in die Geschichte von psychisch erkrankten Menschen zeigt, wie viel Leid und Elend sie aufgrund ihrer Eigenheit haben erfahren müssen: Gewalt, Erniedrigung, Entwürdigung, Verletzung. Stigmatisierung ist in allen Phasen ihrer Geschichte eine Grunderfahrung. Sie haben nie einen sicheren, ihnen gemäßen, bewohnbaren Platz in der jeweiligen Gesellschaft gefunden, sondern hatten immer nur einen gefährdeten, bedrohten und infrage gestellten Platz. In der Geschichte der Erkrankten steckt zutiefst die Erfahrung von Stigmatisierung und Ortlosigkeit. In der Geschichte gab es meistens keinen oder nur einen umzäunten, ummauerten Platz für psychisch Erkrankte. In der Perspektive von Trauer bedeutet dies, dass sich psychische erkrankte Menschen in ihrer Geschichte in einem permanenten Abschied von der Zugehörigkeit zur Gesellschaft und von der Sehnsucht nach Zugehörigkeit befanden. Ihr Trauer­weg beinhaltete sowohl die Rebellion gegen die Ausgrenzung als auch die Akzeptanz der eigenen Unterschiedenheit von der Gesellschaft der sogenannten Gesunden. Wenn auch die Motive von Gewalt und Stigmatisierung in der Geschichte überwiegen, darf nicht unerwähnt bleiben, dass psychisch erkrankte Menschen in ihrer Geschichte auch begleitet und getröstet wurden, Nähe und Liebe erfuhren und humanitären und religiösen Beistand bekamen, medizinische und psychologische Hilfe. Psychiatrie hat sich in den letzten zwanzig Jahren stark verändert und gelernt, die Patientinnen und Patienten mehr in den Blick zu nehmen und das hierarchische Verhältnis zwischen Fachpersonal und Patient kritisch zu reflektieren.

3 Trauer als wandelnde Kraft – Verständnis von Trauer4

Trauer wird oft als ein Problem verstanden, als etwas, das zu »bewältigen« oder zu »bearbeiten« sei. Das ist ein Missverständnis, das Trauer auf einen defizitorientierten Vorgang einengt und Trauernde zusätzlich zu ihrer Verlusterfahrung beschwert und belastet. Trauer ist die Art und Weise, in der Menschen auf eine Verlusterfahrung reagieren, sie ist selbst die »Bearbeitung« und »Bewältigung« der Verlusterfahrung. Es gibt nach einer Verlust­erfahrung keine Alternative zur Trauer, denn selbst die Verweigerung von Trauer ist eine Verhältnisbestimmung zum Verlust. Trauer hat deshalb grundsätzlich eine positive Bedeutung und positive Funktion. Sie ist eine Befähigung und Instandsetzung für den Fall von Verlusterfahrungen. Kachler nennt Trauer (als Tranceerfahrung) eine Ressource und eine Kompetenz (2012, S. 50), eine Beziehungsressource und ein Beziehungsgefühl (S. 59). George Bonanno schreibt, Trauer sei etwas, für das Menschen gemacht seien (2012, S. 18). 4 An dieser Stelle beschränke ich mich auf die Darstellung meines eigenen Verständnisses von Trauer. Wer sich für einen ausführlichen Blick in die Trauerverständnisse von Psychoanalyse, Bindungstheorie, Behaviorismus, Kognitionspsychologie, kognitiver Stress-Theorie, Symptomato­ logien, Phasen- und Aufgabenmodellen und der hypnosystemischen Theorie interessiert, sei in der Literaturliste dieses Buches auf Lammer (2013, S. 68–214), für die Psychoanalyse auf Auchter (2019, S. 12–30) und zum hypnosystemischen Trauerverständnis auf Kachler (2012, S. 32–52) verwiesen. Einen kurzen Überblick über die verschiedenen Trauerverständnisse bieten Bevier und Bevier (2020, S. 45–51).

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Das ändert natürlich nichts an der Erfahrung, dass Trauer als Affekt oft sehr schmerzhaft ist und großes Leiden bedeutet, weil der Verlust als sinnlos, unverständlich und unerträglich erlebt wird. Die qualvollen Erfahrungen werden aber nicht von der Trauer, sondern vom Verlust verursacht. Zugleich erleben Trauernde nicht nur belastende und quälende Gefühle wie Hoffnungslosigkeit, Wut, Zorn, Hass, Ohnmacht, übergroße Traurigkeit, Einsamkeit, Verlassenheit, Desorientierung, Orientierungslosigkeit, Verzweiflung oder Sinnlosigkeit, sondern auch freundliche und schöne Gefühle und Erfahrungen wie Liebe zum Verstorbenen, erfüllende Erinnerungen, intensive und tröstende Begegnungen mit anderen Menschen, Nähe zur Natur, Verbundenheit mit dem Sein, Freude, Befreiung und Freiheit, Leichtigkeit, tiefe Glaubenserfahrungen, neue Perspektiven und kreative Veränderung in der Lebensführung und Lebenshaltung. Trauer bedeutet nicht nur Affekte, sondern verändert insgesamt das Leben und Sein der Trauernden. Nach einem schweren Verlust geht das Leben nicht mehr weiter wie zuvor, nicht nur eine Seite oder Dimension des Lebens ist verändert, sondern die Gesamtheit des Lebens, das Sein und die Identität der Trauernden selbst sind betroffen und verändert. Im Park der Klinik gehe ich mit einer Patientin spazieren, die mit Depressionen in die Klinik gekommen ist. Ihr Mann ist vor mehr als zwei Jahren verstorben und sie lebt seitdem in dem Grundgefühl, jeden Halt, jede Heimat, jede Sicherheit, alles Gute, Schöne, Freudvolle, Reizvolle, Lebenswerte in ihrem Leben verloren zu haben. Ich spüre, dass ich nicht viel sagen kann oder alles, was ich sagen kann, die Frau nicht erreichen würde. Worte scheinen nicht das geeignete Medium für den Kontakt, so schwer und geschlagen fühlt sich ihr Sein an. Deshalb entscheide ich mich, nichts zu sagen und einfach mit der Frau spazieren zu gehen, ihre kurzen Aus­sagen zum Schmerz des Verlustes und zur Sinnlosigkeit

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des Lebens stehen zu lassen, ohne zu versuchen, sie zu entlasten oder ihre Aussagen zu relativieren. Es scheint mir sinnvoller, mit der Frau in die Gegenwart der Natur einzutauchen, auf dem Weg neben der Wiese zu laufen, die Sonne wahrzunehmen, die Vögel, die erfrischende Luft. Im Gehen verändert sich etwas in der Frau – wenn auch vermutlich nur für den Moment –, denn sie sagt beim Abschied: »Das war schön, mit Ihnen hier spazieren zu gehen«, sie lächelt und etwas Freude ist in ihrem Gesichtsausdruck erkennbar.

Die Natur kam in Kontakt mit der Trauernden, das Gehen als Unterwegssein stellte eine eigene Seinsart her, und ich als Begleitender hatte nur die Aufgabe, die Möglichkeit zu schaffen für die Begegnung zwischen eigenem verneinten und nicht mehr gewollten Sein und dem Dasein des Anderen und der Anderen: Natur, Kreaturen, Licht, Luft, Bewegung. Der Bezug der Trauer zum Sein und ihre Eigenart und Wirkung, das Sein grundsätzlich zu prägen und (negativ, aber auch positiv) zu beeinflussen, hängt mit ihrer Bezogenheit auf den Tod zusammen. Wer um den Tod weiß, ist ein anderer, als er war, als er noch nicht vom Tod wusste. Seine Identität verändert sich. Wer die Erfahrung von Tod gemacht hat, lebt anders, ist anders als jemand, der die Erfahrung vom Tod noch nicht gemacht hat. Eine Aufgabe – dies ist eine Traueraufgabe – besteht darin, das veränderte Sein auch wirklich mit dem eigenen Leben, Denken, Fühlen und Handeln zu füllen. Daraus kann dauerhaft eine intensivere Verbindung mit der eigenen Persönlichkeit folgen, mit dem eigenen Körper, mit anderen Menschen, mit der Natur, mit Gott, insgesamt eine Vertiefung des eigenen Lebens, eine Intensivierung der Wahrnehmung des eigenen Lebens. Meist wird Trauer als Reaktion auf Verlust durch Tod verstanden. Das ist eine Verkürzung. In der Literatur findet sich öfter der Hinweis, dass Trauer umfassender als Reaktion auf Verluste und Abschiede vielerlei Art verstanden werden muss (Auchter,

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2019, S. 31; Backhaus, 2017, S. 28; Lammer, 2013, S. 32). Trauer bezieht sich beispielsweise auf den Verlust von Partnerinnen und Partnern bei Trennung und Scheidung, auf den Verlust von Heimat, Besitz, Hoffnungen, Gesundheit, Gemeinschaft, ideellen Vorstellungen, auf den Verlust des Arbeitsplatzes und vieles anderes. Bei psychisch kranken Menschen bezieht sich Trauer oft auf die Abschiede von Gesundheit, Arbeitskraft, Hoffnungen, Zukunftsplänen und -erwartungen, Lebenszielen, die nicht mehr erreichbar sind, Partnern, die die psychische Erkrankung nicht mehr mittragen können. Psychische Erkrankungen zwingen oft zu vielen großen und kleinen Abschieden. Trauer ist dann eine Hilfe, die Abschiede zu vollziehen und sich auf das veränderte Sein einzustellen und nicht am Vergleich, wie es ohne die Erkrankung wäre oder sein könnte, zugrunde zu gehen. Das Verständnis und auch das Erleben von Trauer bleiben vom Verständnis des Todes in der jeweiligen Zeit abhängig. Im Mittelalter bei extrem hoher Säuglings- und Kindersterblichkeit und niedriger Lebenserwartung kam dem Tod mehr Selbstverständlichkeit zu. »Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen« dichtete Martin Luther in seinem Lied und sprach damit ein allgemeines Bewusstsein aus. Der Tod gehörte als Teil des Lebens und alltägliche Erfahrung in den Haushalten zum Leben dazu. Ich bezweifle, ob solch eine Aussage in der Gegenwart auf ein allgemeines Verständnis stoßen würde. »Mitten wir im Leben sind, suchen wir den Tod zu überwinden« könnte es heute eher heißen. Zumindest die Gesellschaften im Prägungsraum der Aufklärung sind von einer Verdrängung des Todes gekennzeichnet (Auchter, 2019, S. 11; ­Kachler, 2012, S. 187; Lammer, 2013, S. 40). Der Tod ist heute ein noch größerer Feind als zu anderen Zeiten. So hat Trauer auch ihre Zugehörigkeit zum alltäglichen und normalen Leben von Menschen verloren. Im Folgenden stelle ich einige Erkenntnisse aus der Forschung und Literatur zu Trauer dar, die für mein Verständ-

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nis von Trauer bedeutsam sind. In der Trauerbegleitung ist es nicht unwichtig, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu Trauer zu wissen und sich ein eigenes Verständnis von Trauer erarbeitet zu haben. Man muss solche Erkenntnisse nicht explizit aussprechen, aber sie sind gut als Hintergrund mit in die Kontakte zu nehmen, weil dies hilft, Phänomene in der Trauer gelten zu lassen und sie nicht zu schnell in Muster und Raster einzuordnen; es wehrt auch der Gefahr, Trauernde zu schnell zu »verstehen«. Möglichst ausgeprägtes Wissen um Trauer schafft in der Begegnung einen Raum, in dem vieles sein darf, was auf den ersten Blick seltsam oder unangebracht wirkt. Es gehört mit zum Wichtigsten in der Trauerbegleitung, dass Trauernde mit allem, was sie bewegt, da sein dürfen und es, wenn sie möchten, ansprechen können, auch negative Gefühle gegen Verstorbene, auch eigene faktische Schuld, Suizidgedanken, auch Gefühle von Freude und Glück. Das eigene Wissen um Trauer sollte jedoch nie dazu benutzt werden, Trauernde zu diagnostizieren oder das Machtgefälle, das sowieso zwischen Ratsuchenden und Begleitenden da ist, zu verschärfen. • Trauer ist bei Menschen unterschiedlich intensiv. Sie ist von vielen Faktoren abhängig, etwa von der Art des Todes des Verstorbenen, vom Bindungsstil der trauernden Person, ihrer Beziehung zum Verstorbenen, ihrer Persönlichkeitsstruktur, ihrem sozialen Netz (Kachler, 2012, S. 24 f.). • Trauer hat etwas Unwillkürliches, sie wird als Bemächtigung erlebt, als übermächtig. Trauernde fühlen sich der Trauer ausgeliefert. Kachler nennt dies »Tranceerfahrung« (2012, S. 53 ff.). • Rituale spielen in der Trauer eine wichtige Rolle (Auchter, 2019, S. 47 ff.; Kachler, 2012, S. 95), weil Rituale vorhandene Wirklichkeit in eine neue Wirklichkeit transformieren können. • Trauer hat oft kein klares Ende, sie bleibt oft ein Lebens- und Seinsgefühl (Backhaus, 2017, S. 58).

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• Unterschiedliche und gegensätzliche Gefühle (Verzweiflung, Schuld, Hass, Neid, Freude, Wut, Scham, Angst, Überforderung, Verbundenheit, Schmerz und andere) können in der Trauer gleichzeitig da sein. Es ist hilfreich, die Gefühle nicht zu unterdrücken. Gefühle können sich körperlich zeigen etwa in Gestalt von Schmerzen im Kopf, Nacken, an Herz, Rücken, Kreuz, Hüften, im Bauchbereich, Atembereich (Paul, 2018, S. 36; Backhaus, 2017, S. 43). • Sowohl die Phasen- als auch die Aufgabenmodelle haben mit ihrer Intention, den Trauerprozess zu beschreiben, ein gewisses Recht, auch in ihrem Versuch, dem Trauerprozess eine benennbare Gestalt zu geben. Doch birgt die Tendenz zu Chronologisierung und Normierung die Gefahr, Trauerprozessen nicht gerecht zu werden. Näher an der Wirklichkeit und der Lebendigkeit von Trauer, näher an der Widersprüchlichkeit, Irrationalität, dem Unbewussten und der eigenen Dynamik von Trauerprozessen – auch näher an ihrem Sein als Ressource – scheint mir die Vorstellung vom Pendeln und Schwingen der Trauer, vom Hin- und Herbewegen zwischen den unterschiedlichen Gefühlen. Bonanno spricht von einer Wellenförmigkeit der Trauer, die zwischen Verlustbezogenheit und Wiederherstellungsbezogenheit hin- und herschwinge (2012, S. 54). Kachler spricht von der Realisierungsarbeit der Trauernden (Realisierung des Verlustes) und der Beziehungsarbeit der Trauernden (Entstehung einer neuen Beziehung zum Verstorbenen, zu sich selbst und zum Leben) (2012, S. 15, 98 ff., 125 ff.) und dem Oszillieren zwischen beiden Polen (S. 81). Trauer wird so dynamisch verstanden, und es ist damit eher möglich, die Individualität jedes Trauerprozesses zu würdigen. • Deutung von Verlust und Deutung von Wirklichkeit überhaupt spielen in der Trauer eine zentrale Rolle. Die Kognitionspsychologie beschäftigt sich mit der Art, in der Menschen

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Deutungsmuster und Deutungsstrukturen erlernen. Können Menschen ihre Erfahrungen in ihre kognitive Wirklichkeitskonstruktion einordnen, können sie sich in ihrem Leben und ihrer Welt orientieren und zurechtfinden. Geschehen Ereignisse, die sich der bisherigen Sinnkonstruktion widersetzen, muss sie entweder modifiziert werden oder ihre Aufrechterhaltung ist nur unter extremen Opfern möglich. Es macht also Sinn, wenn manche Trauernde sagen, ihr Leben mache keinen Sinn mehr (Lammer, 2013, S. 126). Trauer stellt Menschen oft vor die Aufgabe, ihre Sinnkonstruktionen zu verändern. Wichtig an der kognitiven Psychologie ist, dass sie Menschen diese Fähigkeit zuschreibt. So bringt die Kognitionspsychologie einen wichtigen Beitrag zum Trauerverständnis, weil sie die Aktivität des Trauernden betont und die Absolutheit des Widerfahrnischarakters von Trauer infrage stellt. • Zum Verständnis von Trauer sind mir auch die Erkenntnisse der Bindungstheorie von John Bowlby wichtig, weil sie deutlich machen, dass manches – vielleicht sogar vieles – am Trauer­verhalten nur begrenzt beeinflussbar ist und es helfen kann, mit sich und der eigenen Art zu trauern Frieden zu schließen und mit sich in Einklang zu kommen. Wenn frühkindliche Bindungserfahrungen grundlegend das Trauer­ verhalten beeinflussen, bedeutet dies auch, dass ein Trauernder barmherzig mit sich umgehen darf und keine Weise des Trauerns von sich verlangen muss, die außerhalb seines Spielraums liegt. Bowlby bestimmt das Bindungsverhalten mit der Ernährung und der Fortpflanzung als menschlichen Grundinstinkt. Trauer dient dazu, zunächst die bisherige (aufgrund des Verlustes nicht mehr mögliche) Bindung aufrechtzuerhalten, und führt dann, wenn der Trauernde die Erfahrung der Unmöglichkeit dieses Strebens anerkennt, zu einem Lernvorgang, den Bowlby (2001, 2006; vgl.  Lammer, 2013, S. 94 f.) mit sei-

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nem Phasenmodell5 beschreibt. Worden (2021; vgl. Lammer, 2013, S. 211 f.) baut seine Theorie von den vier Traueraufgaben6 auf die Bindungstheorie von Bowlby auf. Die Traueraufgaben wiederum betonen die Aktivität und die Gestaltungsmöglichkeiten in der Trauer. Chris Paul greift mit ihrem Kaleidoskop des Trauerns die Traueraufgaben von Worden auf, kritisiert aber den Begriff der Aufgaben als zu fordernd und ersetzt ihn durch das Wort »Erlebensbereiche« (Paul, 2018, S. 24). Die vier Aufgaben bei Worden ergänzt sie um »Überleben« und »Einordnen« und kommt zu sechs Erlebensbereichen im Trauerprozess: Überleben (am Leben bleiben, egal wie) – Wirklichkeit (der Verstorbene ist wirklich tot, körperlich nicht mehr da) – Gefühle (die Vielzahl der Gefühle zulassen) – Sich anpassen (sich in die Welt ohne den Verstorbenen einfinden) – Verbunden bleiben (mit dem Verstorbenen) – Einordnen (Sinn finden, Sinn geben, Spiritualität) (Paul, 2017b, S. 14–21). Der Begriff des Kaleidoskops verdeutlicht, dass Trauer sich stets verändert und im Trauerprozess unterschiedliche Motive und Bezüge erlebt und wichtig werden. Trauer ist dynamisch und verändert sich, wie bei einem Kaleidoskop manchmal diese Farbe stärker leuchtet, manchmal eine andere. Die unterschiedlichen Erlebensbereiche sind immer da, manche im Vordergrund, andere im Hintergrund. • Bonanno betont die Resilienz, auf die sich Trauernde verlassen dürfen. Resilienz sei die Norm bei Menschen (2012, S. 59). »Wir können gut mit Verlust umgehen, weil wir sozusagen darauf programmiert sind« (S. 210). Dies ist nicht nur für Trauernde ein wichtiges Wissen, sondern auch für Trauer­ 5 Betäubung/Sehnsucht und Suche/Desorganisation und Verzweiflung/ Reorganisation. 6 Die Realität des Verlustes akzeptieren/den Trauerschmerz durchleben/sich an die Welt ohne den Verstorbenen anpassen/eine neue, dauerhafte Verbindung mit dem Verstorbenen finden und sich auf das neue Leben einlassen.

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begleiter, denn sie dürfen sich in der Regel darauf verlassen, dass alles, was Trauernde für ihre Trauer brauchen, in ihnen vorhanden ist. Kachler schreibt, der Verstorbene sei der beste Trauerratgeber (2012, S. 67). • Begriffe wie komplizierte, pathologische, erschwerte, chronische, traumatische, anhaltende Trauer beschreiben eine Trauer, die möglicherweise psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen sollte. Die Definition ist nicht klar7, Kachler lehnt den Begriff »pathologische Trauer« ganz ab und empfiehlt, statt von komplizierter Trauer von einem komplizierten Trauerverlauf zu sprechen (2012, S. 24). Ungefähr 10–15 Prozent der Trauerverläufe werden als kompliziert eingeschätzt (Bonanno, 2012, S. 108; Kachler, 2012, S. 28). Eine eigene Bedeutung hat die versteckte oder verzögerte Trauer, weil sie möglicherweise mit psychischen Erkrankungen in einem Zusammenhang steht, der aufgrund des lange zurückliegenden Verlustes nur schwer zu erkennen ist (Backhaus, 2017, S. 81 ff.; Lammer, 2013, S. 98 ff.). • Trauer hat per se eine spirituelle Dimension, weil sie ein Umgang mit Grenzen ist. Trauer bei Verlust durch Tod muss sich mit der größten Grenze beschäftigen, die es gibt, der Grenze zwischen Leben und Tod. An dieser Grenze sind Menschen (anders als Tiere) wesenhaft mit Deutung beschäftigt. Sie können das Überschreiten der Grenze nicht einfach so hinnehmen als einen natürlichen Vorgang. Zwangsläufig stellt sich die Frage nach dem, was nach dem Sterben kommt und wohin die Verstorbenen gehen. Damit ist der Raum von Transzendenz geöffnet und von Spiritualität als Zugang zur Transzendenz im Prozess der Trauer. An dieser Stelle verweise ich auf Kapitel 7 zum Thema Spiritualität in diesem Buch. 7 Dies wird im Kapitel 6, »Trauer, die psychotherapeutische Hilfe braucht«, genauer beschrieben.

4 Formen psychischer Erkrankungen

Allgemeine Bemerkungen

Von den vielen Lehrbüchern zu psychischen Erkrankungen beziehe ich mich im Folgenden auf Dörner et al.: »Irren ist men­schlich« (2019). Dieses Lehrbuch hat die anthropologischen Bezüge von Psychiatrie im Blick und geht von dem Wissen aus, dass psychische Erkrankungen immer mehr als Krankheiten sind, weil die Seele die Gesamtheit eines Menschen repräsentiert und sie so immer den ganzen Menschen betreffen. In seinem sozialpsychiatrischen Ansatz betrachtet dieses Lehrbuch den Menschen grundsätzlich als Beziehungswesen und versteht psychische Erkrankungen immer auch in Beziehung zur Umwelt. Sehr eindrücklich fand ich die Vignette am Beginn des Buches: Eine Frau sagt, wenn es ihr schlecht gehe, spreche sie mit niemandem darüber. Warum?, wird sie gefragt. Weil ich Angst habe, dass jemand mir helfen will, antwortet sie. Was sie sich wünsche? Sie wünsche sich jemanden, der ihr so lange zuhöre, bis sie selbst wisse, was zu tun sei (2019, S. 19).

»Entscheidend ist […] die Beziehung, nicht das Handeln« (S. 20). Niemand, schreiben Dörner et al. (2019), könne den Anderen verstehen, weil dieser Anspruch schon Hierarchie impliziere. In der Psychiatrie gehe es darum, »günstige Bedingungen für Selbst-Therapie zu schaffen« (S. 28). Als Ergänzung zu dem Lehrbuch von Dörner et al. beziehe ich mich auf das Lehrbuch von

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Paulitsch und Karwautz: »Grundlagen der Psychiatrie« (2019). Es ist näher an der klassischen psychiatrischen Wissenschaft, ohne die anthropologische und philosophische Perspektive aufzugeben. Das Wort »Psychiatrie« ist eine Zusammensetzung aus den griechischen Wörtern psyche (Seele) und ietreia (Heilkunde). Es gibt einen unterschiedlichen Sprachgebrauch, wenn von auffälligen psychischen Phänomenen die Rede ist. In der ICD-108 ist der Begriff der Krankheit durch den Begriff »Störung« ersetzt. Psychische Erkrankungen seien in Ursache, Verlauf und Therapie zu unspezifisch, um den Krankheitsbegriff zu erfüllen (Paulitsch u. Karwautz, 2019, S. 83). Störung sei ein weniger geschlossener Begriff, ermögliche es aber doch, einen Zusammenhang von Symptomen zu einer Diagnose herzustellen. Gegen den Krankheitsbegriff spricht meines Erachtens vor allem, dass er die Phantasie fördert, es gebe bei dem Phänomen psychischer Auffälligkeiten eine klare Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit. Das ist falsch. Die Grenzen zwischen gesund und krank sind fließend, bleiben deshalb immer ungenau und entsprechen nicht der Wirklichkeit. Dörner et al. sprechen von »Kränkungen« (2019, S. 22) und definieren »psychische Störungen grundsätzlich als allgemein menschliche Ausdrucksmöglichkeiten für bestimmte Problemsituationen« (S. 23). Im Wissen um ihre Problematik benutze ich in diesem Buch neben den Begriffen »Störung« und »Beeinträchtigung« auch die Bezeichnungen »Erkrankung« und »Krankheit«. Im Kontakt mit Patientinnen und Patienten erlebe ich, dass sie eher von ihrer Erkrankung oder Krankheit sprechen als von ihrer Störung, Beeinträchtigung oder Kränkung. Das Wort »Krankheit« bringt 8 International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems – Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme.

Allgemeine Bemerkungen   39

die Schwere des Leidens zum Ausdruck und es impliziert die Notwendigkeit und Unabdingbarkeit von Fürsorge, liebevoller Zuwendung und Beziehung (Kranke zu besuchen gilt als eines der Werke der Barmherzigkeit). Krankheit und Kranksein gehören zur Conditio humana, die angenommen und gelebt werden darf und immer auch einen Auftrag an die Gemeinschaft bedeutet. Das Wort »Störung« setzt die Illusion einer grundsätzlichen Aufhebbarkeit der Störung voraus. Es ist das Kennzeichen einer Störung, dass man sie beheben kann. Das ist bei schweren psychischen Erkrankungen oft nicht der Fall, weil sie eine Lebensaufgabe bedeuten. Das Wort »Störung« impliziert auch Funktionalität im Umgang, eine Störung muss man analysieren und dann beheben. Dies erschwert die Beziehungsdimension, die unerlässlich und eine der wichtigsten Anstöße für Heilung ist und im Gesundheitswesen ohnehin stark an den Rand gedrängt wird. Die Bezeichnung »Beeinträchtigung« ist niederschwelliger als Krankheit oder Erkrankung und damit auch weniger festlegend und festschreibend. Sie zieht weniger deutlich eine Grenze und wehrt so der Gefahr von Pathologisierung. Sie stellt die Dimension unveränderlicher Tragik, die beim Begriff »Krankheit« mitschwingt, infrage und öffnet einen weiten Raum, in dem Betroffene mit ihrer Beeinträchtigung leben können. Ich habe mich einmal lange mit einem Patienten, der seit Jahrzehnten an einer bipolaren Erkrankung leidet, über die richtige Wortwahl unterhalten. Er sagte mir, das Wort »Krankheit« entspreche der Wahrheit, die er fühle. Er empfinde es als angemessen für die Schwere und das Ausmaß der Veränderungen, die die Manien und Depressionen in sein Leben gebracht hätten. Er könne aber auch diejenigen verstehen, die die Begriffe »Störung« und »Beeinträchtigung« vorziehen. Schließlich komme es auf die Haltung an, in der solche Begriffe verwendet werden. In der Literatur stößt man, wenn es um Ursachen geht, auf

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Worte wie »psychogen«, »psychosozial«, »neurobiologisch«, »genetisch«. Dabei gilt als Grundsatz: »Die Ursachen fast aller psychischen Störungen sind weitgehend unbekannt« (Paulitsch u. Karwautz, 2019, S. 66). Stoffwechselveränderungen können psychische Erkrankungen auslösen, Lebenskrisen, genetische Bedingtheiten, neuronale Veränderungen, übermäßiger Konsum von Alkohol oder anderen Drogen und anderes. Die Diagnose bleibt immer nur ein Behelf, den Weg für einen Menschen zu sich selbst wieder anzustoßen und gehen zu helfen. Mir ist wichtig, an dieser Stelle noch einmal zu betonen, dass man Menschen nie nur unter der Perspektive ihrer Erkrankung begegnen darf. Ein Mensch mit einer schizophrenen oder depressiven Erkrankung ist nie nur »schizophren« oder »depressiv«, sondern immer mehr als seine Erkrankung, und seine Erkrankung ist auch mit diesen Termini technici nie ausreichend verstanden, denn sie ist immer individuell und Teil einer Lebensgeschichte. Das diagnos­ tische Vokabular ist ein Hilfsmittel, um bestimmte Phänomene und Auffälligkeiten zu beschreiben und damit umzugehen, es erfasst aber nie den betroffenen Menschen in seiner Person und seiner Ganzheitlichkeit.

Umgang mit Menschen mit psychischen Auffälligkeiten

In der Begegnung mit Menschen mit psychischen Auffälligkeiten muss man leider davon ausgehen, dass die meisten Erfahrungen von Stigmatisierung haben machen müssen. Bewertungen von Verhalten und Äußerungen sollten nicht vorgenommen werden, auch nicht in Gedanken oder im Gefühl, weil auch das Nonverbale wirkt. Sinnvoll und am meisten wirksam ist, wenn man in der Begegnung mit psychisch erkrankten Menschen bei sich selbst bleibt, immer wieder neu den Kontakt zu sich sucht

Umgang mit Menschen mit psychischen Auffälligkeiten   41

und herstellt und aus dem Kontakt zu sich selbst heraus dem Anderen begegnet. Wenn ich in der Begegnung bei mir selbst bleibe und mich nicht irritieren lasse, dann darf der Andere irritierend sein, zu laut oder zu leise, er darf scheinbar Verwirrtes und Sinnloses sagen, Dinge oder Vorgänge scheinbar seltsam deuten, desorientiert sein, in seiner Angst sein oder sich anders auffällig verhalten. Es ist grundsätzlich sinnlos und vergeblich, den Anderen ändern zu wollen, und im Kontakt mit psychisch kranken Menschen ist es erst recht sinnlos. Entscheidend ist die Haltung, in der man einem psychisch erkrankten Menschen begegnet, nicht das Handeln. Zur Haltung gehören – neben dem Kontakt zu sich selbst – Freundlichkeit (zum Anderen und zu sich selbst), Geduld (mit dem Anderen und mit sich selbst), Aufmerksamkeit (für den Anderen und für sich selbst), Höflichkeit, Aufrichtigkeit, Humor, Barmherzigkeit (auch zu sich selbst). Zur Haltung ist mir auch das Wissen wichtig, sich gemeinsam vor etwas Größeres – als Christ würde ich von Gott sprechen, philosophisch könnte man von einem Wertekanon und Menschenwürde sprechen – gestellt zu sehen. In christlicher Perspektive sind Kranke wie Gesunde Gottes Geschöpfe und als solche von Wert und Stellung gleich und auf Gott zugeordnet. Für die Haltung in der Begegnung bedeutet dies die Aufhebung von Über- und Unterordnung und das Wissen um die Vorläufigkeit und Nichtmachbarkeit des eigenen wie des anderen Seins: Es könnte immer auch anders und zum Beispiel die Rollen vertauscht sein, ich der Kranke oder Trauernde und der Kranke oder Trauernde der Helfer, der Trauerbegleiter. Verunsicherung im Kontakt mit psychisch erkrankten Menschen ist ein Stück weit normal, weil die Begegnungen tatsächlich eigenartig und sonderbar sein können. Sinnvoll ist, wenn es irgendwie geht, die eigene Verunsicherung anzusprechen, nicht als Beschreibung des Verhaltens des Anderen, sondern als

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eigenes Gefühl. Nach meiner Erfahrung ist es bei Menschen mit Affektstörungen oft möglich, die eigene Verunsicherung anzusprechen, und auch meistens hilfreich im Sinne einer verlässlichen und wahrhaftigen Begegnung. Sinnvoll kann auch sein, den Anderen zu fragen, was sein Verhalten oder seine Aussagen bedeuten. Bei Begegnungen mit Menschen mit Abhängigkeits­ erkrankungen liegt die Verunsicherung oft im Abwägen, ob man die Problematik von Abhängigkeit ansprechen kann oder nicht. Hat man in der Begegnung das Gefühl, es sei sinnvoll, eine mögliche Suchtproblematik anzusprechen, sollte man dies tun. Bei Menschen mit Wahnvorstellungen sollte die eigene Verunsicherung nicht angesprochen werden, weil das als Infragestellung des Wahns und damit als Bedrohung verstanden werden könnte. Wenn es nicht möglich ist, die eigene Verunsicherung anzusprechen (weil die eigene oder die Verwirrung des Anderen zu groß ist oder Emotionen zu stark sind), bleibt immer noch die Möglichkeit, genau dies wahrzunehmen und sich im Kontakt zurückzunehmen. Auch Angst kann in der Begegnung mit psychisch erkrankten Menschen aufkommen. Dann ist es gut, die Angst wahrzunehmen und kurz innerlich abzuklären, ob die Gefahr äußerlich ist (ob wirklich Gefahr vom Anderen ausgeht) oder ob die Angst innerlich ist (als Gegenübertragung oder Triggern eines Motivs der eigenen Lebensgeschichte). Wenn wirklich Gefahr vom Gegenüber ausgeht, ist es gut, das Gefühl der Angst zu kontrollieren (weil sich die Energie der Angst überträgt) und die Begegnung klug und schnell zu beenden. Kommt die Angst aus dem Eigenen, kann man in der Begegnung bleiben und das eigene Gefühl als Möglichkeit zur Intensivierung der Begegnung nutzen. Mit einem Patienten der forensischen Psychiatrie treffe ich mich in der Kapelle der Klinik. Ihm ist wichtig, in der Kirche mit mir zu

Krankheitsbilder, Diagnosen   43

sprechen. Er erzählt von schrecklichen Handlungen, Sadismus gegenüber Tieren, extremen Schlägereien, brutalem Umgang mit Frauen, und ich spüre plötzlich ein mulmiges, bedrängendes Gefühl in mir. Ich gehe diesem Gefühl in mir nach und mir wird bewusst, dass es ein Ausdruck der Schrecklichkeit der Taten und ein Mitempfinden mit den Opfern ist. (Das mulmige Gefühl löst nicht der aus, der mir gegenübersitzt, sondern der, an den er sich erinnert und von dessen Taten er erzählt.) Ich nutze meine Wahrnehmung, indem ich sage: »Das sind wirklich ganz schreckliche Dinge, die Sie getan haben.« »Ja«, sagt der Patient, »das sind ganz schreckliche Dinge.« Darauf schweigen wir beide. Das Schweigen scheint uns das einzig Angemessene. Im Schweigen werden die Opfer präsent.

Krankheitsbilder, Diagnosen9

Für die Beschreibung auffälliger psychischer Phänomene verweise ich auf das Glossar am Ende dieses Buches. Schizophrenie10

Psychotische Erfahrung ist ein wesentlicher Teil von Schizophrenie. Die Abstimmung von Denken, Fühlen, Wollen, Handeln ist nicht mehr möglich, es kommt zu einem Bruch innerhalb des Betroffenen. Seine Identität bricht und sein Erleben, Fühlen, Denken, Wollen verlieren den Zusammenhang, der für die Identität eines Menschen kennzeichnend ist (Dissoziation). 9 Im Folgenden beschränke ich mich auf die häufigsten und bekanntesten Krankheitsbilder. Leserinnen und Leser, die mehr Informationen brauchen, verweise ich auf das umfangreiche Lehrbuch von Dörner et al. (2019) und das kürzere von Paulitsch und Karwautz (2019). 10 Im Folgenden halte ich mich an Dörner et al. (2019, S. 233–284) sowie Paulitsch und Karwautz (2019, S. 115–135).

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Ein Jugendlicher ist mit seinen Freunden zusammen. Plötzlich sagt er, er sei Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Die anderen lachen, denken, er mache einen Scherz; der Jugendliche spricht aber weiter als Hegel, bis die anderen merken, dass eine große Veränderung mit ihrem Freund geschieht. Sie bringen ihn zum Notarzt, er wird in eine Psychiatrie eingewiesen, dort wird eine Psychose festgestellt.

Es findet eine Entgrenzung statt, die es dem Betroffenen verunmöglicht, zwischen Realität und Einbildung zu unterscheiden. Angst ist dabei eine zentrale Erfahrung, weil oft die parallele Wahrnehmung bleibt, dass sich etwas sonderbar verändert und die Welt nicht mehr stimmt. »Die gefühlten und gefürchteten Zusammenhänge, die Beeinträchtigungen der Ich-Grenzen, haben oft sexuellen oder religiösen Charakter« (Dörner et al., 2019, S. 262). Bei einem seelsorglichen Kontakt in einer forensischen Klinik wird der Patient, mit dem ich spreche, plötzlich kreidebleich und erstarrt. Ich frage ihn, was mit ihm geschehen sei, und er sagt, der Teufel sei hier im Raum. Der Mann ist starr vor Angst. Ich überlege, den Mann zur Stationspflege zu bringen, traue mir dann aber selbst zu, etwas mit dem Patienten gemeinsam gegen seine Angst zu tun. Ich kenne ihn aus einigen Gesprächen und habe das Gefühl, dass keine Gefahr von ihm ausgehe. Wo der Teufel sei, frage ich. Da hinten in einer Ecke des Zimmers sitze der Teufel, sagt der Mann. »Christus ist stärker als der Teufel«, sage ich, »uns kann nichts passieren. Das behalten wir immer im Gedächtnis: Christus ist stärker.« Ja, das sei gut, sagt der Patient. »Wir können ja einmal den Teufel fragen, was er will«, schlage ich vor. »Ich kann da nicht hinsehen«, sagt der Patient. »Sie müssen nicht hinsehen«, sage ich. Das will der Patient ausprobieren. Er spricht den Teufel an, aber der Teufel antwortet nicht. Der Patient sagt,

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der Teufel werde kleiner und kleiner. Jetzt kann er sogar hinsehen. Der Teufel verschwindet und ich kann spüren, wie die Angst aus dem Patienten verschwindet.

Gefühle, die ein Mensch nicht mehr aushalten kann, werden nach außen projiziert, behalten aber auch dort ihre Gültigkeit und Wirksamkeit, und so entsteht ein Bild von Wahn. Dörner et al. sprechen von einem »Leben zugleich innerhalb und außerhalb der Realität« (2019, S. 237). Die psychotische Erfahrung (Psychose: altgriech. psyche – Seele – und die Endung -osis – -keit/-heit im Sinne von Zustand. Psychose bedeutet im Wortsinn: ein Zustand der Seele, eine Wesenheit der Seele) gilt als der akute Ausbruch von Schizophrenie, an den sich mildere Phasen der Erkrankung anschließen. Man spricht von einer Akutphase, einer Stabilisierungsphase und einer stabilen Phase. Gerade psychotische Erfahrungen lösen auch bei Außenstehenden eine große Irritation und Befremdung aus. Sie sind ein Spiegel der Entfremdung, die der Betroffene an sich selbst erlebt (Dörner et al., 2019, S. 244 f.). Zu den Symptomen gehören Ich-Störungen und Ich-Verlust, veränderte Wahrnehmung (der Umwelt, der eigenen Person, auch des eigenen Körpers), Wahnvorstellungen und Halluzinationen (zum Beispiel Stimmenhören), Störungen der Denk­ abläufe (formal und inhaltlich), Störungen in den Affekten und somatoforme Auffälligkeiten. Zwangsläufig kommt es zu einem Sozialverhalten, das für andere befremdlich und unverständlich wirkt. Der Wahn hat für den Betroffenen Sinn. »Über Wahnvorstellungen ist es dem Patienten oder der Patientin möglich, einen Rest von Identität und Kontakt zur Umwelt aufrechtzuerhalten. Wird der Wahn angezweifelt, entsteht ungeheure Angst« (Dörner et al., 2019, S. 252). Deshalb ist es auch grundsätzlich falsch, gegen den Wahn zu argumentieren. Häufigste Formen sind Verfolgungswahn, Beziehungswahn und Beeinflussungswahn. Es

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gibt einige Unterformen von Schizophrenie (hebe­phren, paranoid-halluzinatorisch, katatonisch und andere). An Schizophrenie erkrankte Menschen haben viele Erfahrungen von Ausgrenzung und Stigmatisierung gemacht und daher häufig wenige Sozialkontakte, manchmal nur zu einer einzigen Person (meistens zur Mutter oder zum Vater). Die Beziehungen sind oft gleichzeitig sehr eng (exklusiv) und scheinbar distanziert. Betroffene leiden oft unter bleibenden Beeinträchtigungen wie etwa Verlangsamung, vermindertem Kommunikationsbedürfnis, verminderter Sorge um sich selbst in Bezug auf Körper und Verhalten (Residuum). Das Leben innerhalb der eigenen vier Wände gibt ein Gefühl von Sicherheit und erleichtert das Leben. Gleichzeitig haben Betroffene ein erhöhtes Risiko für Arbeits-, Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Bei der Therapie werden Neuroleptika eingesetzt, die unter anderem reiz- und angstmindernd wirken, aber oft starke Nebenwirkungen haben (Reduktion von Lebensfreude und Motivation, Beeinträchtigungen der Motorik, kardiale Probleme, Reduktion der Lebenserwartung, Schlafstörungen, Abhängigkeit, Schwächung des Immunsystems und anderes). Betroffene konsumieren oft Alkohol und Drogen, um eine momentane Erleichterung zu erwirken. Therapeutisch sind gemeinsame Aktivitäten (Kochen, Spazierengehen, Sport, kreatives Tun) sinnvoll; es ist gut, Betroffene zum Erzählen anzuregen. Menschliche Zuwendung hat eine zentrale Bedeutung. Wer einen Einblick in die Tiefe und den Zauber der Welt von Menschen bekommen möchte, die an Schizophrenie leiden, dem seien die Gedichte von Ernst Herbeck und Edmund Mach ans Herz gelegt (siehe unter Literatur, »Poetische und essayistische Literatur«). Auch Filme geben Einblicke in die Welt von Menschen mit Schizophrenie: »Lilith« (1964) von Robert Rossen etwa oder der schon genannte Film »I am another you« (2017) von Nanfu Wang. Ein Blick in die Innenwelt von Menschen, die an Schizophrenie erkrankt

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sind, zeigt, dass sie vielfältig und bunt ist und Psychosen auch positive Erfahrungen schenken. Eine Frau fühlt sich im Wahn als Braut Christi. Als der Wahn vorüber ist, trauert sie um den Wahn. Sie sagt: »Da hat mich endlich einmal jemand so geliebt, wie ich bin.« Ein Mann entscheidet, sich von der Psychose zu verabschieden. In der Psychose hielt er sich im Weltraum auf, schwebte dort herum, sah viele erstaunliche Dinge, unter anderem Gott, und war selbst jenseits von Zeit und Raum, Teil des Alls, mit allem verbunden. »Jetzt«, sagt er, »nach meinen vielen Therapien, brauche ich das nicht mehr. Ich nehme davon Abschied.« Mit Bekannten kreiert er ein Abschiedsritual. Gemeinsam gehen sie in ein Planetarium und bestaunen die Schönheit des Alls. Eine Freundin hat einen Schlüssel gebastelt, mit dem sie die Tür zur Psychose zuschließen. Danach gehen sie gemeinsam Kaffee trinken. In der Trauer um die Psychose malt der Mann ein Bild für sein Sein ohne die Psychose: ein Salzmolekül, an dem deutlich wird, dass er weiter verbunden bleibt, aber sich nicht mehr verliert wie in der Psychose. Das Ritual ist wirksam. Nach zwei Jahren kommt der Mann wieder in die Psychiatrie, wo jemand zu ihm sagt: »Ach, hat das Ritual doch nicht gewirkt!« Doch, doch, sagt der Mann, es habe gewirkt, er sei wegen einer Depression hier, nicht wegen einer Psychose, er sei psychisch nicht gesund, aber weniger schwer krank, er sei auf einem anderen Stand als vorher.

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Affektstörungen11

Als affektive Störungen werden intensive und andauernde Veränderungen der Stimmung bezeichnet. Hauptsächliche Formen sind Manie, Depression und die bipolare affektive Störung. Manie

Manie per se kommt eher selten vor, meist tritt sie in Kombination mit der Depression in einer bipolaren Störung auf. Menschen in der Manie haben den Kontakt zu sich und zur Realität verloren und können Symptome haben wie Stimmenhören und Wahnvorstellungen. In der manischen Phase stehen Betroffene unter einem enormen Antrieb und leben in hoher Geschwindigkeit, sie überschätzen sich und handeln über ihre körper­ lichen, seelischen, finanziellen, ihr Leistungsvermögen betreffenden Grenzen hinaus. Ideenflucht ist kennzeichnend, es fehlt die Distanz zur Umwelt, die Stimmung ist künstlich gehoben. Hinter der Heiterkeit, die ansteckend wirkt, verbergen sich oft unangenehme Gefühle wie Angst, Gehemmtheit, Unsicherheit, Wut, Schmerz, Verletztheit. Dörner et al. sprechen von der Manie als »trialogische Störung« (2019, S. 297), weil Angehörige und professionelle Helfer und Helferinnen in die Manie stark ­miteinbezogen sind. Sowohl in der Manie mitzumachen (zum Beispiel, indem man sich emotional anstecken lässt) als auch gegen die Manie vorzugehen (zum Beispiel, indem man die manischen Phänomene ignoriert), bedeutet, Teil der Manie zu sein. Angehörige und Helfende sollten begleiten, ohne sich in die Manie verstricken zu lassen. Das ist natürlich ungemein schwierig. Eine Möglichkeit der Begleitung und Abgrenzung zugleich ist das Rückmelden der Gefühle, die ein Mensch in

11 Im Folgenden halte ich mich an Dörner et al. (2019, S. 285–360) und Paulitsch und Karwautz (2019, S. 136–162).

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einer manischen Phase auslöst. Auch die Angst, die unter der Heiterkeit schwelt, kann angesprochen werden oder die Verletzung von Würde und Selbstachtung des oder der Betroffenen. Die Behandlung geschieht mit Neuroleptika und Phasenprophylaktika ambulant, teilstationär und stationär. Stabilität ist ungemein wichtig, klare Absprachen zwischen den Beteiligten, feste, zuverlässige Beziehungen und, falls nötig, Dauermedikation. Wie oft bei psychisch erkrankten Menschen ist der nicht selten als Selbstmedikation eingesetzte Gebrauch von Alkohol und Drogen krankheitsfördernd. Biografisch sind Menschen mit Manie oft von Scheitern geprägt: Scheitern von Partnerschaften, Scheitern in beruflichen Anforderungen oder in gesellschaftlichen Kontakten. Depression

Depression (lat. depressio – Niederdrücken) kann man mit der Reduktion und dem Verlust und Fehlen von Lebensfreude und Lebenslust, von Antrieb und Interessen, von Selbstvertrauen, Konzentrationsfähigkeit sowie dem Vorhandensein von großer innerer Leere umschreiben. Zu Depressionen gehören Grübeln, Gedankenkreisen und Empfindungen wie sich wertlos und nutzlos zu fühlen, Versteinerung, Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst, Schuldgefühle, Selbstanklagen, Suizidgedanken und -versuche. Depressionen werden auch als Körpergefühl empfunden, etwa in Form von Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Unterleibsschmerzen, Herzrasen, Müdigkeit, Schlafstörungen, Schwindel oder Körperschmerzen. Man kann Phasen der Depression unterteilen in eine leichte depressive Episode (Betroffene schaffen es unter Schwierigkeiten, den Alltag noch zu regeln), eine mittelschwere depressive Episode (es fällt schwer, den Alltag zu regeln, Betroffene scheitern öfter, depressive Symptome nehmen an Zahl und Intensität zu) und eine schwere depressive Episode (Betroffene können ihren Alltag nicht mehr

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regeln, weitgehender Rückzug, zum Beispiel den ganzen Tag im Bett bleiben). Der Krankheitsverlauf bringt oft Rezidive mit sich. Eine Patientin schildert mir sehr eindrücklich, dass es ihr am Morgen unmöglich sei, sich zu waschen. Sie schaffe es nicht, den Schlafanzug auszuziehen, unter die Dusche zu gehen, sich zu duschen, sich abzutrocknen, sich die Tageskleidung anzuziehen. Sie schildert diese Vorgänge als eine überschwere, unüberwindliche Last. Sie beschreibt diese Alltagsvorgänge (nicht in ihren Worten, sondern in der Stimmung, in der sie spricht, in ihrer Körperhaltung, im Ton ihrer Stimme, in ihren Augen, ihrem Gesichtsausdruck) als so mühsam, anstrengend und vergeblich, dass ich mich bei dem Gedanken ertappe: Ja, das ist wirklich eine untragbare Last und nicht zu leistende Aufgabe. Ich merke an meinem Gedanken, dass ich in die Depression eingestiegen bin.

An diesem Beispiel wird nicht nur die Stimmung von Depression deutlich, sondern auch das Affizierende und Verstrickende, das von ihr ausgeht. Dörner et al. verstehen Depression als eine Abwehr von »Leiden an den typischen Aufgaben des mittleren Erwachsenenalters« (2019, S. 314). Zum erwachsenen Leben gehören auch Erfahrungen von Begrenzung, das Nichterreichen von Zielen, Veränderung der Identität durch die Geburt eines Kindes, Umgang mit alltäglichen Problemen im Beruf, finanzielle Herausforderungen und Probleme. In der zweiten Lebenshälfte stellen sich neue Aufgaben wie der Abschied der Kinder aus dem Elternhaus, das eigene Älterwerden, der Verlust von nahen und fernen Menschen durch Tod. Dörner et al. sprechen davon, »Trauer sich nicht leisten zu wollen« (S. 315). Depressive Menschen sollten in der Regel ambulant behandelt werden. Stationäre Aufenthalte bergen die Gefahr, die eigene Untätigkeit und die Abhängigkeit von der Umwelt zu erhöhen,

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sind aber zum Beispiel bei Suizidgefahr nötig; auch ist manchmal ein Herausgehen aus der Familie sinnvoll. Tageskliniken sind hilfreich, weil sie die Anbindung an den Alltag erlauben. Zur Therapie gehören Antidepressiva, Schlafentzug, Lichttherapie, Elektrokrampftherapie, Psychotherapie (als Kombination von systemischen, verhaltenstherapeutischen, psychoanalytischen und psychodynamischen Verfahren), Selbsthilfegruppen, körperliche Betätigung. Bei 80 Prozent der Betroffenen tritt dadurch eine spürbare Verbesserung ein (Dörner et al., 2019, S. 343). »Alle Besserungssignale müssen vom Patienten kommen« (S. 346). Die Ursachen von Depression sind unbekannt. Neurobiologisch kann man eine gestörte Balance von Neurotransmittersystemen feststellen; körperliche Erkrankungen können als Auslöser eine Rolle spielen, auch genetische Faktoren, psychosoziale Faktoren wie Trennung, Tod, Armut, Einsamkeit und lebensgeschichtliche Erfahrungen wie extreme berufliche Belastungen, Mobbing, sexuelle und andere Gewalt. Es gibt viele Erfahrungsberichte von Menschen, die an Depression litten und leiden. Zwei autobiografische Bücher fand ich besonders eindrücklich: J. B. Mays (1999) und P. C. Kuiper (1995) (siehe unter Literatur, »Erfahrungsberichte und Aufsätze von Betroffenen«). Bipolare Störung

Betroffene erleben einen Wechsel von manischen und depressiven Phasen. Die Phasen können plötzlich beginnen oder sich langsam entwickeln, sie können plötzlich enden oder nach und nach. Die depressive Phase dauert meist länger als die manische, wobei die manische Phase oft auffälliger für die Umwelt ist. Betroffene setzen zum Ausgleich des Stimmungswechsels, zum Heben der Stimmung in der depressiven oder auch zum Intensivieren der Stimmung in der manischen Phase oft Alko-

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hol, Drogen und Psychopharmaka ein, sodass sich Abhängigkeit und eine sogenannte Komorbidität entwickeln kann. Bei der Therapie werden stimmungsstabilisierende Mittel eingesetzt, etwa Lithium. Psychoedukation ist wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen sinnvoll, weil sie das Gefühl von Ausgeliefertsein und Ohnmacht verändert und Betroffenen einen Handlungsspielraum eröffnet. Auch Psychotherapie ist wirksam, meist außerhalb einer manischen Phase. Neurotische Störungen, Belastungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen12

Fragen, was im Empfinden und Verhalten normal sei und was nicht, sind nicht eindeutig zu beantworten, weil die Bestimmung von Normalität und krankhafter Abweichung von der Normalität von vielen Faktoren abhängt, so von sich verändernden gesellschaftlichen Vorstellungen zu Rollenbildern von Frau und Mann, zu Lebensformen und Lebensweisen, zu Sexualität. Begriffe wie »neurotisch«, »Neurose«, »psychosomatisch« erzeugen die Illusion, Empfinden und Verhalten von Menschen zu verstehen, dabei sind sie nur Etiketten, um die eigene Beobachtung von Auffälligkeiten anderer zu benennen. Der Leidensdruck von Betroffenen und die Reaktionen der Umwelt sind wichtige Parameter für die Einschätzung von Empfinden und Verhalten, das in den Bereich von neurotischem Verhalten und Persönlichkeitsstörungen gehören könnte. Neurotische Störungen, Belastungsstörungen

Angststörungen: Bei der generalisierten Angststörung richtet sich die Angst nicht auf ein konkretes Objekt oder eine konkrete Situation, sondern wirkt als allgemeine Stimmung, als Lebensstim12 Im Folgenden halte ich mich an Dörner et al. (2019, S. 425–492) sowie Paulitsch und Karwautz (2019, S. 163–203, 230–249).

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mung. Sie ist eine Angst vor der Zukunft und richtet sich auf alles Mögliche: auf Gefahren, die drohen, Veränderungen, die das Leben mit sich bringt, Begegnungen, die im Alltag unerlässlich sind, Herausforderungen, die Beruf und Privatleben stellen. Großer innerer Stress ist oft die Folge. Oft gehören körperliche Symptome wie etwa Kopf- und Leibschmerzen dazu. Panikattacken und Panikstörung sind eine Form von schnell einschießender und überaus stark wirkender Angst ohne einen äußeren Anlass. Panikattacken können eine eigene Krankheitsform sein (Panikstörung) oder als Symptom anderer Erkrankungen (zum Beispiel Depressionen, Abhängigkeitserkrankungen) auftreten. Phobien richten die Angst auf ein bestimmtes Objekt oder einen bestimmten Zustand, etwa als Angst vor einer bestimmten Tierart, Angst vor Dunkelheit, vor freien Plätzen (Agoraphobie). Soziale Phobie bedeutet die Angst vor Bewertung durch die Umwelt. Zu den Angststörungen gehört die Angst vor der Angst und als Folge im Verhalten die Vermeidung von auslösenden Situationen und Begegnungen. Das führt zu einer Begrenzung des Verhaltensspielraums und zu einer starken Einengung des sozialen Raums. Eine Frau, die ich in der Trauerbegleitung besuche, hat seit vielen Jahren ihre Wohnung nicht verlassen und kann auch nicht an der Beerdigung ihres Mannes teilnehmen. Sie könne nicht nach draußen gehen, weil sie Angst habe, sagt sie. Ihre Umwelt hat das akzeptierend hingenommen, ohne dem weiter nachzugehen. Psychoedukation ist für sie wichtig, ein erster Schritt zu der Erkenntnis, dass die Angst kein Verhängnis, sondern veränderbar ist.

Zwangsstörungen: Sie betreffen Handlungen und Gedanken, zu denen sich Betroffene nicht entscheiden, sondern gegen ihren

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Willen genötigt sehen. Betroffene wissen einerseits um die Sinnlosigkeit des zwanghaften Tuns, brauchen es andererseits aber doch, um eine innere Vorstellung zu befriedigen, etwa um Angst oder eine fiktive Gefahr abzuwehren. Zwänge betreffen Gedanken (Zwangsgedanken) und Handlungen (Kontrollzwang, Zählzwang, Waschzwang). Beides wird von Betroffenen als sehr belastend und quälend empfunden. Die Belastung betrifft nicht nur die Innenwelt der Betroffenen, sondern auch ihr soziales Sein, weil Zwänge oft zu sozialem Rückzug bis zur Isolation führen. Als Therapie zeigen sich Expositionen innerhalb der Verhaltenstherapie als besonders wirksam. Zwangsstörungen kommen wie die Angststörungen verhältnismäßig oft vor. Ein Patient, mit dem ich spazieren gehe, sagt mir, ich solle mich nicht wundern, wenn er nichts sage, aber er müsse sich konzentrieren. Worauf er sich konzentrieren müsse, frage ich. Er habe die Vorstellung, dass sich bei jedem Schritt, den er in einer falschen Weise nach vorn tue, die Erde öffne und er in eine dunkle Schlucht falle, sagt er, deshalb müsse er seine Füße immer in einer bestimmten Weise auf den Boden stellen. Er müsse sich konzentrieren, deshalb spreche er nicht. Es sei aber gut, dass ich da sei und neben ihm herlaufe. Ich laufe schweigend neben ihm her. Irgendwann sagt der Mann: »Jetzt geht es mir besser, jetzt können wir sprechen.«

Somatoforme Störungen: Somatoform ist ein jüngerer Begriff, der den älteren Begriff »psychosomatisch« ersetzt. Paulitsch und Karwautz schreiben, etwa 20 Prozent der Patientinnen und Patienten, die zu einem Arzt gehen, hätten somatoforme Beschwerden (2019, S. 196). Das bedeutet, dass viele Patientinnen und Patienten lange somatisch behandelt werden, die eigentliche Ursache aber unbehandelt bleibt. Die somatoforme Störung

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kann alle Bereiche des Körpers betreffen und einen großen Leidensdruck verursachen (Schmerzempfinden, Stimmungsveränderungen aufgrund der vermeintlich nicht zu findenden Ursache und anderes). Traumatisierungen: Trauma und Traumatisierung kommen bei Trauer (meist bei Verlust durch Tod) nicht selten vor. Oft sind Trauernde durch den Verlust traumatisiert. Die ICD-10 bestimmt Traumatisierung als Folge eines katastrophenhaften Ereignisses, von dem eine außergewöhnliche Bedrohung ausgeht und das bei den meisten Menschen eine tiefe Verzweiflung auslöst. Kennzeichnend ist das Gefühl, aus dem Leben gerissen zu sein, und das Gefühl einer umfassenden Hilflosigkeit. Menschen können durch Ereignisse verschiedener Art traumatisiert werden. Man unterscheidet zwischen Traumata, die von äußeren Ereignissen ausgelöst werden (zum Beispiel Unfall, Naturkatastrophe, eine schlimme Diagnose), und Traumata, die von menschlichen Begegnungen ausgelöst werden (zum Beispiel Gewalterfahrung, Überfall, Folter). Die direkte Beteiligung von Menschen beim traumatisierenden Geschehen wirkt verstärkend auf die Traumatisierung. Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine Form von Traumatisierung. In Bezug auf Trauer behandelt Kachler die Komplizierte Trauma-Trauer-Folge-Störung (KTTS) (2021, S. 79 ff.). Kennzeichen für traumatisierende Verluste sind insbesondere: die Erfahrung und Totalität eines existenziellen Einschnitts (der geliebte Mensch ist nicht mehr da und die gesamte Existenz der Trauernden ist betroffen); die Plötzlichkeit des Ereignisses (der Verlust geschieht jäh und unvorbereitet); die Erfahrung des Verlustes als Zerstörung des eigenen Lebens; Gewalt spielt eine wichtige Rolle (Unfall, Suizid, Verbrechen); der Verlust wird als zufällig und sinnlos erlebt; die genannten Erfahrungen vermischen sich und bewirken so das Trauma (Kachler, 2021, S. 14 ff.).

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Zu den Traumareaktionen gehören Dissoziationsprozesse wie Derealisation (»was geschieht, kann nicht wirklich sein«), Depersonalisierung (»was geschieht, betrifft nicht mich«), Desomatisierung (»mein Körper ist nicht mehr mein zu Hause«), Deemotionalisierung (»was geschieht, fühle ich nicht«), Automatisierung (scheinbar unberührtes Funktionieren in den äußeren Abläufen des Lebens), außerdem bizarres Verhalten (zum Beispiel Lachen beim Erzählen vom Verlust) und Flashbacks (Einschießen von Erinnerungen als aktuelle, reale Erfahrung) (Kachler, 2021, S. 36 ff.). Die Psychologie geht davon aus, dass sich Traumareaktionen nach sechs Monaten reduzieren und verschwinden. Für Traumatisierungen beim Verlust durch Tod verneint dies Kachler, weil die Trauerreaktionen die Traumareaktionen fortwährend triggern (2021, S. 38). Dies kann einer der Gründe für die Indikation von Psychotherapie bei traumatischen Verlusten sein. Persönlichkeitsstörungen

Persönlichkeitsstörung ist ein schwieriger Begriff, weil er das Missverständnis transportiert, die Person des Betroffenen sei gestört. Er bezeichnet die besondere, auffällige Ausprägung einer Eigenart einer Person. Paulitsch und Karwautz schreiben, ungefähr 10 Prozent der Allgemeinbevölkerung erfülle die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung. Sie zählen auf: paranoide Persönlichkeitsstörung (hohe Empfindlichkeit, ausgeprägtes Misstrauen und Groll, Verdacht gegen andere), schizoide Persönlichkeitsstörung (Zurückgezogenheit, wenige soziale Bindungen, eingeschränkte Emotionalität), dissoziale Persönlichkeitsstörung (Gefühlskälte, Aggressivität, Verantwortungslosigkeit, fehlendes Schuldbewusstsein), histrionische Persönlichkeitsstörung (starkes Aufmerksamkeits- und Anerkennungsbedürfnis, manipulatives Verhalten, Labilität in den Affekten, Dramatisieren), zwanghafte Persönlichkeitsstörung (Perfektionismus, Inflexibilität, ­Rigidität,

Krankheitsbilder, Diagnosen   57

große Vorsicht, Ordnungsliebe), narzisstische Persönlichkeitsstörung (Bedürfnis nach Bewunderung, Empathieschwäche, Neid, Arroganz, Ausnutzen anderer, Sehnsucht nach Macht und Erfolg). Menschen mit Persönlichkeitsstörungen geraten immer wieder in dieselben Konfliktsituationen, die weniger mit dem Konflikt selbst als mit der ausgeprägten Eigenart ihrer Persönlichkeit und der damit verbundenen Eigenart ihrer Interaktion zu tun haben. Dissoziative Störungen: Dissoziation bedeutet, dass bestimmte psychische Funktionen der Persönlichkeit, die zusammengehören, wie Denken, Erinnern, Fühlen, Wahrnehmen, Verstehen, auseinanderfallen und nicht mehr ins Ganze der Person integriert werden können. Bewusstseinsstörungen, Gedächtnisstörungen, Krampfanfälle, Bewegungsstörungen, Störungen in der Wahrnehmungsfähigkeit, etwa in der Wahrnehmung der Identität, sind symptomatisch. Beim Trauma ist Dissoziation anfangs ein stabilisierender Vorgang. Die Abspaltung hält die Wahrnehmung des Geschehenen in seinem ganzen Ausmaß zunächst von der Wahrnehmung fern, weil sie nicht auszuhalten wäre. Für die Therapie ist es wichtig, organische Ursachen auszuschließen. Psychotherapeutische Maßnahmen können helfen. Borderline-Persönlichkeitsstörung: Bei den Betroffenen besteht eine große Instabilität in der emotionalen Balance und die Fähigkeit zur Kontrolle der eigenen Emotionen ist stark eingeschränkt. Bei Borderline-Betroffenen ist besonders auf Spaltungsprozesse zu achten, mit der sie ihre Umwelt manipulieren (zum Beispiel werden Betreuende gegenseitig ausgespielt; zu den einen wird eine große Nähe hergestellt und sie werden als gut beschrieben, zu den anderen besteht große Distanz und sie werden als böse beschrieben, mit der Konsequenz, dass das Team, wenn es dies nicht reflektiert, uneins wird und sich spaltet). Betroffene erzäh-

58    Formen psychischer Erkrankungen

len oft von einem Gefühl der Leere in ihrem Leben und sind stark auf der Suche nach Sinn, wobei der Sinn sich immer wieder auflöst und die Suche neu beginnt. Selbstverletzendes Verhalten bis hin zu Suizidversuchen ist nicht selten, auch Suchtverhalten (Alkohol, synthetische Drogen, Benzodiazepine und anderes). Dörner et al. schreiben, ein Alleinstellungsmerkmal für die Borderline-Störung sei die hohe Komorbidität (bei bis zu 84 Prozent der Betroffenen) mit Abhängigkeitserkrankungen, Angsterkrankungen, Depression, suizidalem Verhalten und/oder Traumatisierung (2019, S. 480 f.). Therapeutisch ist unter anderem die Dialektisch-Behaviorale Therapie besonders wirksam. Wer über die Lebensaufgabe, die eine psychische Erkrankung bedeuten kann, mehr erfahren will, dem lege ich die Beschäftigung mit Marsha Linehan (2021), der Begründerin der Dialektisch-Behavioralen Therapie, nahe. Sie war selbst an der Border­ line-Störung erkrankt. Abhängigkeitserkrankungen13

Von Patientinnen und Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen höre ich manchmal, »Sucht« komme von »Suche«. Manchmal meine ich, im Unterton Stolz mitzuhören, als erkläre sich jemand zum Suchenden und finde das gut. Übermäßiger Konsum von Alkohol, Drogen oder Tabletten ist aber keine Suche, sondern eine Abwehr, Verweigerung und Stilllegung von Suche, und so kommt das Wort »Sucht« auch nicht von »Suche«, sondern von »Siechen«. Dörner et al. nennen vier Kennzeichen, um Abhängigkeit zu bestimmen: die Gewöhnung an die Substanz, Entzugserscheinungen bei Nichteinnahme, ein starkes Verlangen nach der Substanz und verminderte Kontrolle im 13 Im Folgenden halte ich mich an Dörner et al. (2019, S. 361–423) sowie Paulitsch und Karwautz (2019, S. 260–287).

Krankheitsbilder, Diagnosen   59

Umgang damit (2019, S. 370). Der Konsum von Suchtmitteln bringt eine kurzfristige Belohnung, die stark wirksam ist, und eine langfristige Schädigung durch die Abhängigkeit und ihre vielfältigen Folgen mit sich. Psychische Abhängigkeit meint häufiges gedankliches Beschäftigen mit einer Substanz und Reduktion oder Verlust der Kontrolle über die Einnahme. Physische Abhängigkeit bedeutet körperliche Entzugserscheinungen bei Nichteinnahme. Abhängigkeitserkrankungen haben oft starke organische Schädigungen und psychische Störungen zur Folge. Alkoholabhängigkeit: Alkoholkonsum ist in westlichen Gesellschaften erlaubt und Alkohol fast jederzeit zugänglich. Er wirkt schnell euphorisierend und entspannend. Gesellschaftlich ist er positiv konnotiert und wird mit Geselligkeit verbunden, mit Kreativität, Lebensstil, Genuss, Hobby, Freizeit, Kommunikation. All das macht ihn attraktiv. Seine Schattenseite ist das Potenzial, Abhängigkeit zu erzeugen. Da Alkoholkonsum gesellschaftlich erlaubt und weit verbreitet ist, ist es ratsam, mit spontanen Einschätzungen, wer zu viel trinke oder gar abhängig sei, vorsichtig zu sein. Starker und regelmäßiger Alkoholkonsum im Suchtbereich zeitigt sozial auffälliges Verhalten (in Beruf, Familie, Straßenverkehr und anderswo) und schwere Schädigungen von Körper (Organ-, Haut-, Stoffwechselschädigungen, Krebs­erkrankungen, neurologische Schädigungen, Hirnschädigungen), Geist (Relativierung und Auflösung von Wertvorstellungen, Verwahrlosung in der Lebenshaltung) und Seele (Angststörungen, Depressionen, Wahnbildungen). Therapie kann ambulant oder in Kliniken für Abhängigkeitserkrankungen geschehen. Selbsthilfegruppen haben beim Wahren der Abstinenz eine große Bedeutung. Medikamentenabhängigkeit: Abhängigkeit von Medikamenten mit Suchtpotenzial fällt sozial weniger auf als Alkoholabhän-

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gigkeit. Tabletten riechen nicht und die manipulierende Wirkung ist nicht so auffällig und sichtbar wie bei Alkohol. Dörner et al. benutzen das Bild einer Maske, die sich Betroffene durch die Einnahme von Medikamenten aufsetzen (2019, S. 381 f.). Die Maske schützt vor der Außenwelt (und auch vor der Innenwelt), aber sie verhindert auch Beziehung und Begegnung und damit Veränderung. Der Ausstieg aus Medikamentenabhängigkeit ist schwierig; der Entzug geschieht durch Reduktion der Einnahmemenge, begleitende Kontakte sind wichtig, Psychotherapie ratsam. Selbsthilfegruppen haben auch hier eine wichtige Funktion. Drogenabhängigkeit: Sie bezieht sich auf illegale Substanzen wie Amphetamine, Cannabis, Opiate (Morphium, Opium), Kokain, Halluzinogene (LSD, Mesaclin, sogenannte Badesalze und Kräutermischungen). Zusätzlich zu den Gefahren, die auch andere Substanzen mit Abhängigkeitspotenzial haben, besteht die Gefahr von Strafverfolgung. Körperliche Störungen mit hauptsächlich psychischen Auswirkungen

Hierher gehört beispielsweise Demenz als eine der großen Lebensbereiche, in denen Trauer eine Rolle spielt. Demenz benennt ein Syndrom und betrifft Veränderungen des Zentralnervensystems und der Hirnleistung in Bezug auf Denken, Erinnern, Orientieren, Wahrnehmen, Sprechen, Lernen, Steuerung des Verhaltens, Meisterung des Alltags und anderes. Demenz vom Alzheimer-Typ ist die häufigste Art.14 Auch das Delir gehört hierher sowie manche Stoffwechselerkrankungen. 14 Vgl. Dörner et al. (2019, S. 587–653) sowie Paulitsch und Karwautz (2019, S. 288–304). Leserinnen und Leser, die ausführliche Informationen über Demenz möchten, empfehle ich das Buch »Trauer und Demenz« von Carmen Birkholz (2018).

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Suizidalität15

Paulitsch und Karwautz schreiben, dass bei 90 Prozent aller Suizide eine psychiatrische Störung vorliege (2019, S. 252). Im Jahr 2015 suizidierten sich in Deutschland circa 10 000 Menschen, davon drei Viertel Männer (Dörner et al., 2019, S. 515). Die Zahl der Suizidversuche ist wesentlich höher. Suizidalität ist ein Faktor bei allen oben genannten Krankheitsbildern, besonders bei Depression. Frühkindliche Einflüsse und andere psychische Faktoren, die Wahrnehmung und Deutung der Umwelt und gesundheitliche Faktoren spielen bei der Suizidalität wie bei vielen psychischen Erkrankungen eine große Rolle. Für Angehörige und Freunde ist der Suizid oft sinnlos, für Suizidenten macht er Sinn. Skills

Für Betroffene und für Begleitende sind sogenannte Skills (Fähigkeiten, Fertigkeiten, Verhaltensweisen, Kompetenzen, mit einem Problem umzugehen) von großer Bedeutung, weil sie helfen, aus der Lähmung und Hilflosigkeit herauszukommen und Handlungsspielräume zu eröffnen. Im Internet findet man zahlreiche Listen von Skills.16 Begleitende sollten die Skills nicht als Werkzeuge anwenden, die die eigene Hilflosigkeit überspielen, sondern wirklich sehen, ob die Fertigkeit zu dem Menschen, mit dem man spricht, und seiner momentanen Situation passt, und sie gemeinsam mit ihm besprechen. Als Ideenfundgrube können Skills-Listen hilfreich sein.

15 Leserinnen und Leser, die ausführliche Informationen über Suizidalität möchten, empfehle ich die Bücher von Marion Schenk (2014) und Chris Paul (2018). 16 Zum Beispiel: https://www.klinikum-westmuensterland.de/rhede/wpcontent/uploads/sites/3/2016/04/Konkrete-Skillsammlung.pdf (15.11.2021); https://stress-skills.de/wp-content/uploads/2019/02/Ultimative-Stress-Skills-Sammlung_Jan2019.pdf (15.11.2021).

5 Trauer und Trauerbegleitung bei psychischen Erkrankungen

In der Einleitung dieses Buches wurde deutlich, dass psychische Erkrankungen viele Verlustprozesse mit sich bringen. Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Patientinnen und Patienten zeigen, dass Trauer in der Psychiatrie allgegenwärtig ist. Zugleich werden die Reaktionen auf Verlust nicht als Trauer benannt. Explizit kommt Trauer nur vor, wenn in Therapien schwierige Trauerverläufe thematisiert werden, oder bei Verlust durch Tod, etwa durch einen Suizid in der Klinik. Gleichzeitig laufen permanent Trauerprozesse als Umgang mit den Erkrankungen ab. In den Beschreibungen zur Geschichte von Menschen mit psychischen Erkrankungen zeigte sich, dass Ausgrenzung, Entwürdigung, Gewalt bestimmende Motive im Umgang mit ihnen waren. Es gehört zu ihrer tiefen Erfahrung, dass die jeweilige Gesellschaft ihnen nicht gerecht wird und selbst im Versuch, ihnen gerecht zu werden, ihnen meistens nicht gerecht wird. Psychische Erkrankung bedeutete in ihrer Geschichte immer Stigmatisierung. Das wiederum bedeutet für psychisch erkrankte Menschen, dass sie grundsätzlich in einen Trauerweg gestellt sind, um die Realität ihrer psychischen Erkrankung annehmen und als solche einen Platz in der Gesellschaft finden zu können. Im Kapitel zum Trauerverständnis wurde Trauer als Reaktion auf Verlust (nicht nur als Reaktion auf Verlust bei Tod) beschrieben. Trauer ist individuell und unterschiedlich intensiv.

Trauerbegleitung bei psychischen Erkrankungen   63

Sie umfasst eine Vielzahl an Gefühlen, die nicht alle nur negativ sind. Sie kann auch zu einer Vertiefung des eigenen Lebens führen. Die Vorstellung von der Pendelbewegung zwischen Verlustbezogenheit (Leben mit dem Verlust) und Wiederherstellungsbezogenheit (das eigene Leben wieder als lebenswert empfinden) erweist sich als sinnvoll, weil sie der Individualität, Dynamik und Lebendigkeit des Trauerns am ehesten gerecht wird. Trauern bewegt sich zwischen Realisieren (des Verlustes) und Kre­ieren (in ein Leben zurückfinden, in dem Erfahrungen von Glück wieder möglich sind). Als zentral für den Trauerprozess zeigen sich das Deuten der Wirklichkeit, die eigene Resilienz sowie Spiritualität als Wissen um ein Größeres, zu dem man gehört und in das man eingeordnet ist. Die Bindungs­theorie erklärt, warum Trauer stattfindet: Bindung ist ein Grund­instinkt, und Trauer hilft bei Verlust, sich in diesem Grundinstinkt neu zu orientieren. Das Kaleidoskop des Trauerns von C. Paul (2017b) bestimmt sechs Erlebensbereiche im Trauern (Überleben, Wirklichkeit, Gefühle, Sich anpassen, Verbunden bleiben, Einordnen), die für eine Perspektive auf Trauer bei psychisch erkrankten Menschen hilfreich sind. In der Beschreibung von psychischen Erkrankungen fallen die schweren Beeinträchtigungen im Leben der Betroffenen auf, die die Erkrankungen mit sich bringen. Es entsteht ein vielfältiges Bild von komplizierten Diagnosen mit dem Anspruch, eine komplizierte Wirklichkeit abzubilden, die man mit therapeutischen Maßnahmen verändern möchte. Zugleich bleibt der Eindruck, dass der riesige Aufwand an medizinischem und psychologischem Vokabular eine Dimension von Hilflosigkeit und Ratlosigkeit hat, die sich sowohl auf die Phänomene der Erkrankungen als auch auf ihre Therapie bezieht. Es zeigt sich, dass eine Grundhaltung, die von Freundlichkeit, Zuwendung, Aufmerksamkeit, Mitgefühl, Respekt, Geduld geprägt ist, nicht nur als Ergänzung der medizinischen und psychologischen Therapie

64    Trauerbegleitung bei psychischen Erkrankungen

dient, sondern ihre Grundlage sein sollte und oft hilfreicher ist als die therapeutischen Interventionen selbst. Für Trauer ist die Beobachtung wichtig, dass die Psychopathologie eine Erschwerung der Art des Trauerns bedeuten kann, sowohl in Bezug auf die Trauer, die die eigene Erkrankung betrifft, als auch in Bezug auf Trauer um Verluste, die in der Umwelt geschehen.

Trauer bei psychischen Erkrankungen als Umgang mit Verlust

Menschen mit psychischen Erkrankungen befinden sich in vielen Abschieds- und Trauerprozessen, die von der Krankheit zumindest erheblich mitverursacht sind. Für den Umgang mit Erkrankungen und erfahrenen Abschieden und Verlusten (wobei psychische Erkrankung nicht nur Verlust bedeutet, das wäre eine rein defizitorientierte Perspektive) lernen Patientinnen und Patienten in der Therapie Reflexionskompetenzen und Verhaltensvarianten, die ihnen helfen, mit krankheitsbedingten Veränderungen umzugehen. Meist werden heute in den Kliniken integrative therapeutische Konzepte angewandt, Medikation hat eine wichtige Bedeutung, auch Selbsthilfegruppen und alles, was im Bereich von Resilienz entdeckt und genutzt wird. Psychisch erkrankte Menschen sind im Umgang mit Verlust meist geschult und haben viele resiliente Erfahrungen. Ein Mann leidet seit Jahrzehnten an einer bipolaren Störung. Er kann nicht mehr in seinem Beruf arbeiten und übt nur noch sporadisch eine Tätigkeit aus, die weit unter seinen Qualifikationen liegt. Er lebt in materiell sehr bescheidenen Verhältnissen, Beziehungen zu Frauen sind gescheitert, aber er schafft es aufgrund seiner Persönlichkeit, einen kleinen Bekanntenkreis zu wahren. Als ich mit ihm über den Tod spreche, sagt er: »Ich habe keine

Trauer als nichtpathologische Perspektive   65

Angst vor dem Tod, ich habe schon so viele Verluste erlitten, das macht mir keine Angst mehr.«

Aber es ist auch die umgekehrte Erfahrung möglich: Eine Frau leidet enorm unter der Vorstellung ihres eigenen Todes und spricht immer wieder davon, wie sehr sie die Angst vor dem Tod beschäftige und belaste. Sie hat aufgrund ihrer anorektischen und depressiven Erkrankung schon viele Verluste erlebt und wird von dem Gedanken gequält, dass der Tod die Summe und Steigerung aller bisherigen Verlusterfahrungen sei. Das kann sie kaum aushalten.

Trauer als nichtpathologische Perspektive

Man kann fragen, was der Gewinn ist, wenn man den Umgang mit den vielen Verlusterfahrungen, die Menschen mit psychischen Erkrankungen machen müssen, nicht nur als Folge der Pathologie und Lernaufgabe für die Therapie, sondern bewusst auch als Trauer versteht. Der Gewinn der Trauerperspektive ist die Relativierung der Pathologie und die Einordnung der Verlusterfahrungen durch psychische Krankheit in den normalen, menschlichen Umgang mit Verlust. Dieser Umgang heißt Trauer und beschreibt Trauer. Jeder Mensch trauert zwar individuell, aber die Trauer selbst als Reaktion auf Verlust ist etwas, was alle Menschen verbindet und alle Menschen teilen. In dieser Per­ spektive sind psychisch erkrankte Menschen in eine normale menschliche Erfahrung und vor eine normale menschliche Aufgabe gestellt – in ihrem Fall ist die Erfahrung allerdings besonders intensiv und die Aufgabe besonders schwer. Ihre Erfahrungen als Trauer zu verstehen und zu bezeichnen, wirkt gegen die Stigmatisierung, die psychisch kranke Menschen oft in Zurück-

66    Trauerbegleitung bei psychischen Erkrankungen

gezogenheit und Einsamkeit drängt. Die Trauer­perspektive bedeutet eine Veränderung der Haltung, in der professionelle Helferinnen und Helfer, An- und Zugehörige psychisch erkrankten Menschen begegnen. Im Folgenden verwende ich das Kaleidoskop von C. Paul (2017b), um einen Zugang zum Erleben von trauernden Menschen zu finden. Das Kaleidoskop beschreibt die Wirklichkeit von Trauernden als Erlebensbereiche und bewertet und skaliert sie nicht, sondern stellt sie als zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich gewichtig und bedeutsam dar, wobei alle sechs Motive immer als gleichzeitig präsent gedacht werden.

Trauernde Angehörige

Angehörige von Menschen mit psychischen Erkrankungen sind von Abschieds- und Verlustprozessen ähnlich stark – nicht selten sogar noch stärker – betroffen wie die Erkrankten selbst. Sie erfahren selbst Trauer und brauchen nicht selten eine eigene Begleitung, weil sie in Bezug auf die Verluste, die durch die psychische Erkrankung eines Menschen entstehen, einen eigenen Trauerprozess erleben. Ihre Trauer bezieht sich auf andere Verluste als jene, die der psychisch Erkrankte erlebt. Dabei gibt es zwei grundsätzliche Dynamiken: • Die Beziehung zu dem Erkrankten verändert sich, weil die Erkrankung die Beziehung prägt. Angehörige müssen sich von Ansprüchen und Erwartungen verabschieden. Dies geschieht vor allem in den Erlebensbereichen »Überleben«, »Wirklichkeit« und »Gefühle« der Trauer. • Unter dem Aspekt von »Sich anpassen«, »Verbunden bleiben« und »Einordnen« steht die Trauer vor der Aufgabe, die Beziehung unter den Bedingungen der Erkrankung neu zu gestalten. Nicht nur die Rolle des Erkrankten, auch die

Trauernde Angehörige   67

Rolle der Nichterkrankten muss von beiden neu bestimmt werden. Auch die Grenzen zwischen beiden brauchen eine neue Bestimmung. Bei den Nichterkrankten geht es stark um die Balance zwischen Sorge für sich selbst und Sorge für den Anderen. Wichtig für den Trauerprozess bei Angehörigen ist die Aufgabe, sich ein eigenes Leben zu erhalten oder es wiederzugewinnen. Es mag paradox klingen, dass die Zuwendung zu sich selbst, den eigenen Interessen und Anliegen, entscheidend für die gute Beziehung zum Erkrankten ist, aber die Beziehung unter Erwachsenen beinhaltet die Eigenständigkeit beider Partner. Das bedeutet, dass der oder die Erkrankte und der oder die Angehörige ein Recht auf ein eigenes Leben haben. Trauer­begleitung hat hier die Aufgabe, Angehörige in der Zuwendung zum eigenen Leben zu bestärken und die Abgrenzung vom Kranken zu unterstützen, weil der innere und äußere Moralismus das schlechte Gewissen füttert (»Wie kannst du nur in der Sonne in einem Biergarten sitzen und dein Leben genießen, während dein Mann zu Hause an Depressionen leidet?«). In einer Übergangszeit können die Fürsorge und die Rolle des Helfers oder der Helferin stark überwiegen, aber in der Dauer der Beziehung müssen Angehörige ein eigenes Leben wiederfinden und pflegen. Ein Motiv ist mir noch grundsätzlich wichtig für Angehörige: der Abschied von der Erwartung von Heilung. Ich meine damit nicht den Abschied von der Hoffnung auf Heilung, denn die Hoffnung auf Heilung ist spirituell wichtig, nicht nur für den Kranken, sondern auch für Angehörige. Die Hoffnung auf Heilung ist ein Widerstand gegen die Wirklichkeit, der unbedingt nötig ist. Die Erwartung von Heilung ist etwas anderes. Sie bewirkt Druck und manipuliert sowohl den, der die Erwartung hat, als auch jenen, auf den sie sich richtet. Erwartung erhebt einen Anspruch. Hoffnung tut dies nicht.

68    Trauerbegleitung bei psychischen Erkrankungen

Auf drei Arten von Beziehung richte ich im Folgenden meinen Blick, weil hier Trauer Angehörige von psychisch Kranken besonders stark betrifft. Eltern, deren erwachsene Tochter oder erwachsener Sohn psychisch erkrankt

Eltern haben oft bestimmte Hoffnungen und Vorstellungen für die Zukunft ihrer Kinder. Sie hoffen, dass ihre Kinder liebevolle Lebenspartner finden, einen guten Beruf erlernen, gesund bleiben, glücklich werden. Durch psychische Erkrankungen kann sich der Lebensweg eines Menschen stark verändern, und so müssen manchmal auch Eltern Abschied nehmen von dem, was sie sich für ihre Kinder erhofft haben. Dieser Abschied ist nicht einmalig, sondern muss immer wieder neu vollzogen werden, weil durch äußere Anlässe die Veränderung immer wieder neu bewusst wird. Im Bekanntenkreis und in der Nachbarschaft findet all das statt, was bei der eigenen Tochter oder beim eigenen Sohn nicht möglich ist. Der Verlust wird lebensgeschichtlich immer wieder präsent und muss neu betrauert werden, beispielsweise trauert man um die Enkel, die man nicht hat. Das ist ungemein schmerzhaft. Für Eltern ist deshalb eine bleibende Aufgabe, sich immer wieder neu Menschen zu suchen, mit denen sie über ihre Erfahrungen und ihr Erleben sprechen können. Selbsthilfegruppen sind wichtig, Seelsorge, Gespräche mit Ärztinnen und Ärzten, Psychologinnen und Psychologen, trialogische Gruppen wie Psychoseseminare. In der Trauerperspektive sind hier die Bereiche »Sich anpassen« und »Einordnen« besonders angesprochen, die aktives Handeln der Trauernden betreffen. Die Tendenz zu Einsamkeit und dem Vergraben des eigenen Erlebens in sich selbst ist stark und hat eine Eigendynamik. Wenn die erwachsene Tochter oder der erwachsene Sohn psychisch erkrankt, kommen die Eltern zwangsläufig wieder stärker in die Elternrolle, weil sie mehr Fürsorge geben. Das

Trauernde Angehörige   69

ist für eine bestimmte Zeit wichtig und unerlässlich. Genauso wichtig ist es dann, die Fürsorge wieder zu verringern und die Tochter oder den Sohn in jener Altersstufe wahrzunehmen und zu behandeln, in der sie oder er ist. Auch ein psychisch kranker erwachsener Mensch ist ein erwachsener Mensch und kein Kind. Kommt es zu einer neuerlichen Akutphase in der Erkrankung, kann es nötig sein, die Fürsorge zu intensivieren, aber sie sollte beim Abklingen der Akutphase auch wieder reduziert werden. Hier hilft es, nach anderen Helfersystemen Ausschau zu halten, etwa sozialpsychiatrische Dienste, Tagesstätten, Ambulanzen, Selbsthilfegruppen von Erkrankten. Psychische Erkrankung in einer Ehe oder Partnerschaft Ein an Depression erkrankter Mann ist hin- und hergerissen zwischen der Erfahrung der Krankheit und der Verweigerung ihrer Anerkennung. Er kann morgens nicht aufstehen, weil er Angst vor dem Tag hat. Er geht nicht mehr regelmäßig zur Arbeit und kann immer weniger die vielen gesellschaftlichen Aufgaben erfüllen, die ihm so wichtig sind. Wenn er es schafft, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, gibt er sich gut gelaunt und kommunikativ. Auch in der Rehabilitationsklinik zeigt er diese beiden Gesichter. Seine Frau gerät selbst in depressive Stimmungen. Irgendwann konfrontiert sie ihn und sagt ihm, dass sie ihn verlässt, wenn er seine Erkrankung nicht akzeptiert und dazu steht. Jetzt merkt der Mann, dass ihm das Zusammenleben mit seiner Frau mehr bedeutet als das Trugbild von sich selbst, das er so krampfhaft aufrechterhalten will, und er verändert sich. Er nimmt seine Erkrankung an. Aufrichtigkeit und Nähe wachsen in der Beziehung, es kommt zu einer neuen, tieferen Intensität.

Auch hier gilt, dass der Abschied von der bisherigen Art der Beziehung vollzogen und eine neue Art der Beziehung entstehen muss. Am Beispiel wird deutlich, welche entscheidende Bedeutung es

70    Trauerbegleitung bei psychischen Erkrankungen

hat, dass die Ehefrau sich nicht übergeht und den Kontakt zu sich selbst wahrt. Sie gibt einerseits viel Fürsorge, achtet andererseits auch auf ihre Bedürfnisse und setzt ihrem Mann eine klare Grenze, als sie spürt, dass ihre Fürsorge zu einer Verstrickung in die Krankheit des Mannes führt. Sie geht in die Auseinandersetzung mit ihrem Mann und nimmt so ihn und sich selbst ernst. Die Beziehung ändert sich grundsätzlich, und diese Veränderung muss realisiert und bejaht werden. Die Zweisamkeit ändert sich. Es wird immer wieder Phasen geben, in denen der psychisch kranke Partner ausfällt und der gesunde Partner oder die Partnerin allein ist. Der Partner für Gespräch, Austausch, Halt, Zärtlichkeit, Ausflüge, eben für Gemeinschaft und Partnerschaft, fehlt dann. Auch finanzielle Veränderungen können eintreten, wenn die kranke Partnerin oder der kranke Partner im Arbeitsprozess nicht mehr so viel leisten kann wie vor der Erkrankung. Die Krankheit ist ein festes Motiv in der Partnerschaft, zu dem sich beide durch Abgrenzung und Hinwendung immer wieder neu bestimmen müssen. Der gesunde Partner muss das eigene Leben, eigene Interessen, eigene Freunde und Freundinnen, eigene Hobbys, wahren und pflegen, sonst wird die Beziehung einseitig und die Krankheit bekommt eine zu große Bedeutung. Möglicherweise bleibt ein Schmerz, der spürbar wird, wenn die Veränderungen, die die Krankheit bewirkt, in der Begegnung mit anderen Paaren bewusst werden, es bleibt ein Gefühl von Wehmut und Traurigkeit. Kinder, deren Eltern psychisch erkranken Im Beispiel des depressiven Mannes wird in der Schule, auf der seine Kinder sind, bekannt, dass deren Vater sich in einer psychiatrischen Klinik aufhält. Die Kinder werden verspottet, ihr Vater sei ein »Idiot«, sie selbst seien sicher auch »bekloppt«, der Apfel falle nicht weit vom Stamm. Sie schämen sich. Zugleich haben sie große Angst, dass ihr Vater Suizid begeht.

Trauernde Angehörige   71

Wenn ein Elternteil schwer erkrankt, sind die Kinder mit vielen starken, die Identität bedrohenden Gefühlen beschäftigt: Unsicherheit, Hilflosigkeit, Verlust von Halt, Desorientierung, Schutzlosigkeit, Scham, Angst, Einsamkeit, Wut und Zorn. Sie brauchen mehr Zuwendung als sonst, bekommen aber meist weniger Zuwendung als sonst, weil die Ressourcen des gesunden Elternteils begrenzt und auf den kranken Partner oder die kranke Partnerin gerichtet sind. Wie auch bei Trauer beim Tod eines Elternteils ist für die Kinder ganz entscheidend, ob sie in ihrem Umfeld Menschen haben, die sich um sie kümmern, ihnen Aufmerksamkeit und Zuwendung schenken. Das können die Großmutter oder der Großvater sein, andere Verwandte, Nachbarn. Die Kinder brauchen Gelegenheiten, wo sie Kind sein dürfen, unbeschwert, frei. Information über die Krankheit ist für Kinder hilfreich, weil sie Orientierung schenkt und das Gefühl, ernst genommen zu werden. Nicht selten übernehmen Kinder bei der Erkrankung eines Elternteils mehr Verantwortung, als gut für sie ist. Sie gehen in die emotionale Ersatzrolle für den kranken Vater oder die kranke Mutter, sie übernehmen organisatorische und wirtschaftliche Aufgaben. Sie reagieren also mit Leistung auf den Verlust, verlassen die Kindrolle und gehen in die Erwachsenenrolle. Eltern können das als hilfreich erleben – etwa wenn die Kinder Arbeiten übernehmen oder emotionale Entlastung ermöglichen – und es ist vermutlich ein Stück weit unvermeidbar, weil die Kinder durch solches Verhalten die Situation auch verarbeiten, aber die Eltern sollten aufmerksam für die Dynamik sein und die Kinder in der Identifikation mit der Erwachsenenrolle bremsen und ihnen immer wieder neu die Erlaubnis geben, Kind zu sein. Es ist deutlich geworden, wie schwer die Aufgabe für Angehörige ist, mit den Verlusten umzugehen, die die psychische Erkrankung des Angehörigen für sie bedeuten. Ein Beispiel

72    Trauerbegleitung bei psychischen Erkrankungen

erzähle ich noch, um deutlich zu machen, dass das Thema Trauer bei Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen auch eine Erweiterung des Selbstverständnisses von Trauerbegleitung und von Seelsorge bedeuten kann. Eine junge Frau, die an Schizophrenie leidet, wird schwanger. Sie kann nicht mehr allein leben und wird von ihrer Mutter in deren Haus aufgenommen. Die Krankheit der jungen Frau verschlimmert sich. Sie schreit im Haus herum, zerstört Geschirr und Möbel. Die Mutter kann es mir ihrer Tochter nicht mehr aushalten, möchte sie aber auch nicht in eine Klinik zwangseinweisen lassen. Sie zieht in die Scheune neben dem Haus und bleibt so in der Nähe ihrer Tochter. Sie hält die Situation nur in einer tiefen Traurigkeit aus, die die Hauptstimmung ihrer Trauer um die Unversehrtheit ihrer Tochter, ihrer Vorstellungen um die Zukunft ihrer Tochter ist. Aktiv sucht sie sich Seelsorge und Trauerbegleitung als einen Raum, in dem sie ihre Traurigkeit leben kann. Die Traurigkeit ist ungemein schwer und belastend, aber sie hilft ihr auch, sich selbst treu zu bleiben, denn sie möchte die Tochter nicht aus dem Haus schicken. Sie bejaht die Traurigkeit und sagt: »So, traurig, kann ich es aushalten.« Die Traurigkeit ist der Modus und der Raum, in dem sie ihr Schicksal ertragen kann. In der Seelsorge und Trauerbegleitung sagt sie explizit: »Ich möchte, dass ich mit Ihnen traurig sein kann, ich möchte mit Ihnen meine Traurigkeit leben.«

Hier zeigt sich der Gewinn, den die Trauerperspektive bei Angehörigen von Menschen mit psychischen Erkrankungen bringt. Therapie hätte die Frau vermutlich nicht angefragt, weil sie die Hürde dazu scheute. Therapie hat den starken Aspekt von Krankheit; Trauerbegleitung hat diesen Aspekt nicht. Sie ist niederschwelliger und auch angemessener als Therapie, weil Angehörige selbst nicht krank sind, sondern sich mit Verlust

Umgang mit Verlust durch Tod   73

beschäftigen und auf Verlust reagieren müssen. Reaktion auf Verlust ist Trauer. Dies könnte bedeuten, dass Trauerbegleitung sich stärker öffnet zu einer Begleitung von Verlusten, die nicht durch Tod verursacht sind. Das hätte natürlich viele Implikationen, und Trauerbegleitung, die sich so im Selbstverständnis erweitern würde, müsste manche Klärungen vornehmen, etwa in der Abgrenzung oder Annäherung an Seelsorge. An dieser Stelle kann ich diesen Gedanken nur nennen, aber nicht ausführen, weil der Platz dafür fehlt.

Trauer bei psychischen Erkrankungen als Umgang mit Verlust durch Tod

Die Aufgabe, mit krankheitsbedingten Abschieden und Verlusten umzugehen und sie als einen Teil der eigenen Lebensgeschichte anzunehmen, ist schwer genug und meist eine Lebensaufgabe. Schwerer noch wird es, wenn sich ein Todesfall ereignet und zu den bestehenden Verlusten durch die Krankheit ein Verlust durch Tod hinzukommt. Wie wirken sich psychische Erkrankungen bei Verlust durch Tod aus? Wo sind die besonders vulnerablen Stellen bei den jeweiligen psychischen Erkrankungen, wenn Trauer bei Verlust durch Tod gelebt werden muss? Wie beeinflusst diese Vulnerabilität die Trauer und was bedeutet das für die Trauerbegleitung bei Menschen mit psychischen Erkrankungen? Auch hier benutze ich für meinen Blick auf diese Fragen das Trauerkaleidoskop von C. Paul (2017b) als Hilfe, ohne die einzelnen Facetten stets explizit zu nennen. Zwei grundsätzliche Herausforderungen

Psychische Erkrankungen bringen eine veränderte Wahrnehmung der Realität mit sich. In der Realität zu leben und die Aufgaben, die die Realität stellt, zu meistern, gehören zu den

74    Trauerbegleitung bei psychischen Erkrankungen

Hauptschwierigkeiten von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Es ist möglich, dass ein psychisch erkrankter Mensch mit keinerlei Anzeichen zeigt, dass er die Realität des Todes eines An- oder Zugehörigen wahrgenommen hat, und doch kann man davon ausgehen, dass die Realität irgendwie zu ihm durchgedrungen ist und er sie wenigstens an der veränderten Stimmung der anderen spürt. Für die Trauerbegleitung ist dann wichtig, dass die begleitende Person (auch Angehörige) ganz bei sich selbst in ihrer Haltung bleibt und für sich die Realität des Todes aufrechterhält. Man kann die Wirklichkeit des Todes ruhig benennen, auch wiederholt benennen, und, wenn der kranke Mensch im Ausblenden der Wirklichkeit verharrt, selbst emotional den Kontakt zum Tod halten und mit dem Tod verbunden bleiben, sodass die Wirklichkeit in der Interaktion bleibt. Die Realitätsaufhebung bei dem kranken Menschen soll man nicht bekämpfen, denn es hat für ihn Sinn, dass er die Realität nicht oder nur undeutlich wahrnimmt. Eine zweite grundsätzliche Schwierigkeit bei psychischen Erkrankungen besteht im Leben der Gefühle und im Ausdruck der Gefühle. Die Gefühle sind eingefroren oder überhitzt, abgespalten oder gänzlich überwältigend. Beides, die Schwierigkeiten in der Realitätswahrnehmung und im Gefühlsausdruck, bedeutet Erschwernis im Trauern, denn das Realisieren des Verlustes und die Vielfalt der Gefühle zu leben sind zentrale Aufgaben oder Erlebensbereiche der Trauer. Für die Trauerbegleitung bedeutet dies, dass auf beide Bereiche der Trauer bei Menschen mit psychischen Erkrankungen besonders zu achten ist und ihnen mit besonderer Sensibilität begegnet werden muss. Unter einer äußeren Haltung, die ein psychisch erkrankter Mensch einnimmt, können sich viele Wahrnehmungen und Gefühle verbergen, die er nach außen hin nicht zeigen kann (weil eine psychische Sperre wirkt) oder nicht zeigen will (weil er eine unangemessene Reaktion befürchtet). Ein Mensch zum

Umgang mit Verlust durch Tod   75

Beispiel, der sich in einer akuten depressiven Phase befindet und keinerlei Reaktion nach dem Tod eines Angehörigen zeigt, kann unter der Versteinerung den gewaltigen, alles umstürzenden Verlust empfinden, die Angst, den Schmerz, den Hass auf Gott, und nach außen unbeteiligt wirken. Für die Trauerbegleitung ist es gut, um die beiden Schwierigkeiten in der Begegnung zu wissen, sie »mitzuhaben«, sie fürsorglich und liebevoll »einzuplanen«, nicht ängstlich oder verunsichert. Wenn man um die Schwierigkeiten weiß, kann man sie als gegeben annehmen, man muss nicht gegen sie kämpfen und kann die Verunsicherung, die von ihnen ausgeht, ablegen. Das Wissen um diese besondere Vulnerabilität von Trauernden mit einer psychischen Erkrankung unterstützt die Geduld, die im Umgang mit psychisch kranken Menschen und auch in der Begleitung ihrer Trauer unerlässlich ist. Es kann eine Haltung von Freundlichkeit und Zugewandtheit fördern, die stabilisierend und sichernd auf Trauernde wirkt. Vulnerabilität

Psychische Erkrankungen bedeuten eine grundsätzliche Vulnerabilität in den Fähigkeiten, das eigene Ich von den Erfahrungen, die die Umwelt auslöst, so abzugrenzen, dass es stabil bleibt. Die Grenzen zur Umwelt sind zu durchlässig oder zu fest. Geschieht in der Umwelt so etwas Überwältigendes wie der Tod, gerät schon bei nicht psychisch erkrankten Menschen die Identität in Gefahr, bei psychisch Erkrankten umso mehr. Bei Erfahrungen von Tod besteht daher grundsätzlich die Gefahr, dass eine psychische Erkrankung ausbrechen oder eine schon bestehende rezidivieren kann. Eine alte Frau liegt im Sterben. Der Haushalt besteht, bis auf den Enkel der Sterbenden, nur aus Frauen. Der Sohn der alten Frau und Vater ihres Enkels hat vor einigen Jahren Suizid begangen.

76    Trauerbegleitung bei psychischen Erkrankungen

Damals war der Enkel in der Adoleszenz und fühlte sich von seinem Vater alleingelassen, viele Konflikte mit dem Vater blieben unbesprochen und ungelöst, Verletzungen verfestigten sich. Der Enkel hatte damals das Gefühl: Jetzt bin ich den Frauen allein ausgeliefert. Nach dem Tod der Großmutter erleidet der Enkel eine Psychose. Die schmerzhaften Erfahrungen nach dem Tod seines Vaters werden während des Sterbens und durch den Tod der Großmutter wieder wach und so stark, dass sie nur durch die Psychose auszuhalten sind. Die Psychose befreit ihn von der Wirklichkeitserfahrung. Eine Frau bekommt jedes Jahr zur selben Zeit einen schweren depressiven Schub und muss in eine Klinik. Die Regelmäßigkeit (jährliche Wiederkehr) fällt zwar auf, gibt aber keinen Anlass zu tieferem Nachdenken. Die Depression wird als biografische Phase im Jahreslauf der Frau als selbstverständlich hingenommen, bis irgendwann ihre Geschichte in einer Supervisionssitzung der Helfenden besprochen wird. Als man sich erinnert, dass die Frau vor vielen Jahren ein Kind verloren hat, wird plötzlich bewusst, dass sie jedes Jahr den Depressionsschub um den Todestag ihres Kindes herum erleidet. Jetzt kann man vorbeugend handeln, beispielsweise vor dem Todestag mit der Frau öfter ans Grab des Kindes gehen, mit ihr intensiv sprechen, sie anregen, von ihrem Kind zu erzählen, ein Ritual mit ihr finden, in dem die Trauer Ausdruck findet.

An beiden Beispielen zeigt sich, dass Krankheit auch eine Dimension von Überleben hat beziehungsweise selbst eine Form des Überlebens ist. Die Erkrankung dient dem Überleben, das ist ein Aspekt, der in der Begegnung mit psychisch kranken Menschen oft untergeht oder nicht bewusst wird, weil die Symptome im Vordergrund stehen und so eindrücklich sind. Trauernde müssen den Tod des An- oder Zugehörigen zunächst einmal über-

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leben, egal wie, was für die Trauerbegleitung bedeutet, dass ihre Hauptaufgabe im Stabilisieren besteht. Bei psychisch erkrankten Menschen ist die Form des Überlebens ihre Erkrankung; sie sichern das Überleben durch ihre Erkrankung. Der junge Mann, dessen Vater Suizid begangen hat, geht in die Psychose, weil er nur so überleben, weil er das Chaos, das der Tod der Großmutter in ihm bewirkt, nur so aushalten kann. Die Trauerbegleitung richtet sich dann nicht auf das Verändern oder Heilen der Psychose, sondern auf das Stabilisieren des Trauernden. Die Behandlung der Psychose ist Aufgabe der Psychia­ trie. – Die jährliche Depression, die die Mutter des früh verstorbenen Kindes erleidet, ist ihre Möglichkeit, den Jahrestag des Todes ihres Kindes und den Tod selbst irgendwie zu überleben. Die Trauerbegleitung richtet sich in ihrem Fall auf das bewusste Gestalten des Todestags und die Ermöglichung eines Raums, in dem die Frau ihre Trauergefühle leben kann. Trauerbegleitung und Therapie können also gleichzeitig stattfinden, wobei Kontakt zwischen Trauerbegleitung und Therapie im Sinne der Trauernden hilfreich ist. Trauernde sollten von dem Kontakt wissen. Die Nachricht vom Tod eines nahen An- oder Zugehörigen sollte auch Menschen mitgeteilt werden, wenn sie sich in der akuten Phase ihrer psychischen Erkrankung befinden. Sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, wenn sich so etwas Einschneidendes wie Tod in ihrer Verwandtschaft oder ihrem Freundeskreis ereignet. Zudem bekommen sie die Veränderung am Verhalten und an der Haltung der anderen mit und können sie einordnen, wenn sie den Grund erfahren. Wenn sie den Grund nicht erfahren, werden sie zusätzlich irritiert. Ambivalenzen

Menschen mit psychischen Erkrankungen haben in der Kindheit oft stark ambivalente Erfahrungen mit prägenden Bezugs-

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personen gemacht, zum Beispiel Gewalterfahrungen physischer, psychischer, verbaler Art. Beim Tod einer der Bezugspersonen ist deshalb auch die Trauer ambivalent. Nicht nur der oder die Verstorbene war ambivalent im Verhalten, sondern auch der oder die Trauernde ist ambivalent im eigenen Verhalten. Nicht nur die betroffenen Menschen sind in ihrem Verhalten ambivalent, sondern auch die Trauer selbst ist ambivalent. Sie enthält Liebe und Hass, Zorn und Traurigkeit, Dankbarkeit und Verletztheit, Schuldgefühle und Schuldgedanken, Scham und Sehnsucht. Es ist möglich, dass jemand mit einer psychischen Erkrankung tief um den Vater trauert, dessen sexuelle Gewalt die psychische Erkrankung mit ausgelöst hat. Die Ambivalenzen scheinen dann unerträglich und können nur ausgehalten werden, wenn sie Raum zum Ausdruck bekommen. Trauerbegleitung ist so wichtig, weil sie den Ambivalenzen Raum geben kann. Wenn Trauernde nur positiv oder nur negativ von der oder dem Verstorbenen sprechen, kann man in der Trauerbegleitung nach der anderen Seite fragen. Nachfragen gibt Ambivalenzen Raum. Ein Mann mit einer Borderline-Erkrankung erzählt vom emotionalen Missbrauch durch seine Mutter, der auch sexuelle Aspekte hatte. Er ist voller Hass auf seine Mutter, sagt: »Gut, dass sie endlich unter der Erde ist, die wird sicher nicht mal der Teufel wollen.« Ich frage ihn, ob es nicht auch etwas Positives gibt, was er von seiner Mutter bekommen habe. Nein, nein, da sei nichts Positives, sie habe ihn nur ausgenutzt und für ihre eigenen Lebenszwecke missbraucht. Als ich sage: »Aber immerhin hat sie Sie zur Welt gebracht«, unterbricht sich der Mann in seiner Verachtung, er verändert seine Sitzhaltung, ist irritiert, die Ambivalenz bekommt Raum. Er spürt, dass die Verletzungen durch seine Mutter nicht verharmlost werden, aber er spürt auch, dass die Totalität ihrer Erfahrung fraglich ist.

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Im weiteren Kontakt wird der Aspekt von Scham bei der Trauer deutlich. Es zeigt sich, dass der Hass, mit dem der Mann von seiner Mutter spricht, nur im Vertrauensraum der Seelsorge ausgesprochen werden kann. In anderen Kontakten, etwa zu seinen Verwandten, auch bei der Trauerfeier, zeigt er seine Trauer nicht als Wut und Hass, sondern sozial angepasst als Traurigkeit, weil er sich für seine negativen Gefühle schämt.

Noch ein Aspekt von Trauer wird an diesem Beispiel deutlich. Es braucht einige Zeit, bis der Mann seine Sehnsucht nach einer liebevollen Mutter zulassen und aussprechen kann, denn auch der Abschied von dieser Sehnsucht und der Abschied von der irrationalen, aber bestehenden Hoffnung, seine Mutter könnte sich ändern und ihn als den lieben, der er ist, gehören zum Trauerprozess. Er muss sich also nicht nur von der realen Person der verstorbenen Mutter verabschieden, was schwer genug ist, sondern auch von der Hoffnung, jemals eine andere Mutter zu haben, also von der Sehnsucht nach einer liebenden Mutter. Dieser Abschied ist für ihn noch schwerer als jener von der realen Person. Zugleich entsteht an dieser Sehnsucht neuer Spielraum für ihn, denn er kann die liebende Mutter als inneres Bild würdigen und es als Motiv in sich selbst hegen und leben. Ambivalenzen wirken natürlich auch in der Trauer bei nicht psychisch erkrankten Menschen. Die Ambivalenzen sind bei Menschen mit psychischen Erkrankungen intensiver und wirksamer und es ist deshalb in der Trauerbegleitung schwerer und anstrengender, ihnen Raum zu geben. Bei dem jungen Mann mit der Borderline-Erkrankung habe ich die Befürchtung, dass er auf meine Frage hin, ob seine Mutter ihm auch etwas Positives gegeben habe, ärgerlich und laut werde. Aber meine Befürchtung zeigt sich als unberechtigt. Er wehrt die Frage nur entschieden und scharf ab, ohne die Gren-

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zen des Gesprächs zu verletzen. Dieselbe Befürchtung kommt mir dann noch einmal, als ich mir überlege, ihm zu sagen, dass seine Mutter ihn zur Welt gebracht habe und er ihr sein Leben verdanke. Ich befürchte, er könne herumschreien, mich beschimpfen oder das Gespräch abbrechen. Aber ich denke mir: Wenn er wütend wird und herumschreit, dann wird er eben wütend und schreit herum. Ich kann die Aussage vor mir verantworten und spreche sie deshalb aus. Ich hätte aber seine gesteigerten Emotionen aushalten müssen.

Ambivalenzen betreffen oft Schulderfahrungen, Schuldgefühle und Schuldgedanken und den Umgang damit. Traueredukation

Es wurde schon deutlich, wie wichtig Psychoedukation für Menschen mit psychischen Erkrankungen und für ihre Angehörigen ist. Traueredukation ist im Trauerfall genauso wichtig, weil sie anbahnt, das Unverständliche, das Chaotische, das Überwältigende der Trauer einzuordnen, anzunehmen und zu verstehen. Kognition hilft. Eine junge Frau kann den viel zu frühen Krebstod ihrer Mutter nicht aushalten. Sie kommt in die Trauerbegleitung, weil sie nachts schreiend aufwacht, unkontrollierbare Angst hat, Panik­ attacken, nicht mehr allein sein kann. Ihre Umwelt, vor allem ihr Vater und ihr Freund, signalisieren ihr, dass sie das permanente Klammern nicht mehr aushalten. In der Wohnung sieht sie ihre Mutter, wie sie vor ihr steht, und schreit, weil sie denkt, sie werde verrückt. In der Trauerbegleitung erkläre ich ihr ausführlich, was Trauer bedeutet (zum Beispiel dass es normal ist, Verstorbene im Raum zu sehen oder zu riechen; auch dass Angst zur Trauer gehört). Die Edukation hilft ihr sehr. Beim nächsten Kontakt berichtet sie zwar wieder vom nächtlichen Aufwachen,

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starker Angst, Panikattacken und vom Sehen der Mutter, aber es schwingt nicht mehr die überwältigende Angst beim Erzählen mit wie vorher. Sie sagt: »Ich kann das jetzt besser verstehen und empfinde es deshalb als nicht mehr so schlimm.«

Krankheitsbilder und ihre möglichen Auswirkungen auf Trauer bei Verlust durch Tod Schizophrenie

Menschen, die an Schizophrenie erkranken, sind in ihrer Identität betroffen. Die Identität ist in Gefahr und der Kontakt zu sich selbst verändert sich. In der akuten Phase der Erkrankung ist das Verlässliche im Kontakt zu sich selbst verschwunden und Betroffene erleben sich selbst in einer anderen Identität, haben aber gleichzeitig das Bewusstsein davon, dass etwas grundsätzlich verändert ist. Das verursacht große Angst. Trauer beim Verlust eines nahen Menschen erleben auch nicht an Schizophrenie erkrankte Menschen als eine grundsätzliche Bedrohung ihrer Identität. An Schizophrenie Erkrankte erleben Trauer umso stärker als Identitätsbedrohung, weil die Identität ohnehin schon durch die Erkrankung gefährdet und infrage gestellt ist. Zugleich löst Trauer bei allen Trauernden Angst aus, und so auch bei an Schizophrenie Erkrankten. Die Trauer intensiviert also die bereits vorhandene Identitätsbedrohung und Angst. Möglicherweise findet eine weitere Verstärkung durch die komplexe Verschränkung der Dynamik von Identitätsbedrohung und Angststeigerung statt. Das heißt, für Begleitende geht es bei der Trauer von an Schizo­phrenie leidenden Menschen vor allem um die Stabilisierung von Identität und die Beruhigung von Angst. Es ist oft schon sehr schwer, überhaupt einen Zugang zu Menschen zu finden, die an Schizophrenie leiden, weil Wahn sie oft verschließt

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und von der Realität abschließt. Manchmal können Begleitende nicht mehr tun, als da zu sein und von dem Todesfall zu erzählen, den erschwerten, kaum wahrnehmbaren oder realisierbaren Kontakt zu wahren und in der Gegenwart des Trauernden zu bleiben, von dem sie nicht wissen, was von der Todesnachricht bei ihm angekommen ist und was sie in ihm bewirkt. Das ist nur möglich, wenn sie selbst keine Angst mit in die Begegnung bringen oder – wenn sie Angst haben – sich die Angst bewusst machen und für sich abklären, ob sie die Angst beherrschen können. Ängstlich in eine Trauerbegegnung mit einem an Schizophrenie erkrankten Menschen zu gehen ist nicht ratsam, weil sich die Angst überträgt und die Verunsicherung, die ein Trauernder durch seine Erkrankung erlebt, durch die Angst des Begleitenden erhöht wird. Angst unterwandert die Aufgabe, um die es hauptsächlich geht, nämlich Halt und Sicherheit zu vermitteln. Halt und Sicherheit können bei Trauernden dadurch wachsen, dass Begleitende den Kontakt zu sich selbst wahren und sich von der Begegnung nicht irritieren lassen. Begleitende – oder Angehörige – sind nicht nur Vertreter der Wirklichkeit, die an Schizophrenie erkrankte Menschen nicht mehr aushalten können und deshalb aus ihr herausgehen, sondern sie sind auch Zeugen dafür, dass man es in der Wirklichkeit aushalten und in ihr leben kann und deshalb nicht aus ihr herausgehen muss. Diese beruhigende und tröstliche Botschaft vermitteln sie weniger durch Worte als durch ihr Sein, ihre Haltung, ihre Ausstrahlung. Die Botschaft könnte heißen: »Du darfst aus dieser Wirklichkeit in deine eigene Wirklichkeit gehen und dort bleiben, und ich bleibe in dieser Wirklichkeit und teile dir aus dieser Wirklichkeit mit, dass jemand verstorben ist.« Es ist gut, dazubleiben, Nähe zu vermitteln, zuzuhören. Meistens geht vom Wahn keine Gefahr aus, wenn das aber der Fall ist, sollte man die Begegnung beenden und Hilfe holen.

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In der Regel muss man keine Angst vor dem Übermitteln der Todesnachricht oder der Trauer eines an Schizophrenie erkrankten Menschen haben, im Sinne von: Was richte ich bei dem kranken Menschen an, wenn ich von Tod und Trauer spreche? Man darf darauf vertrauen, dass der kranke Mensch so viel Wirklichkeit in sich zulässt, wie er ertragen kann, und das andere abspaltet und abwehrt. Das ist seine Resilienz. Wenn Unsicherheit besteht, kann man mit einem Arzt oder einer Psychologin beraten und auch gemeinsam mit ihnen in die Begegnung gehen. In nicht akuten Phasen von Schizophrenie kann die Trauer­ begleitung sich auch auf andere Aspekte als Stabilisierung richten. Als Pfarrer habe ich gute Erfahrungen mit spirituellen Angeboten gemacht, zum Beispiel regelmäßig das heilige Abendmahl im Zimmer oder in der Wohnung von Betroffenen zu feiern. Der regelmäßige Termin bedeutet nicht nur ein Ritual, das Sinn vermittelt, sondern auch eine Hilfe in der Vereinsamung. Gemeinsames Beten ist hilfreich, Anregungen zum Erzählen von Gottesbildern oder spirituellen Erfahrungen, Unterhaltungen über Spiritualität, die Betroffenen den Raum schaffen, eigene Vorstellungen zu entwickeln. Kunst kann bei Menschen mit schizo­ phrenen Erkrankungen ein Weg sein, Trauer zu leben, und Kunst kann man in der Trauerbegleitung gut einsetzen. Musik machen, Anregung dazu geben, eigene Lieder und Gedichte zu schreiben, Bilder zu malen, und dann über die Bilder und Texte zu sprechen, all das kann eine große Hilfe sein beim Ausdruck der Trauer und bei der Aufgabe, sich in der Welt ohne den Verstorbenen neu zurechtzufinden. Künstlerischer Ausdruck stärkt die eigene Identität und den Kontakt zu sich selbst. Da an Schizophrenie erkrankte Menschen meist eher wenig Sozialkontakte und manchmal nur eine einzige enge Bezugsperson haben, trifft sie der Tod von nahen Menschen besonders hart. Die Gefahr von Vereinsamung ist sehr groß. Trauer­begleitung kann eher kürzere und regelmäßige Treffen verabreden, die

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explizit unter dem Thema Trauer stehen. Regelmäßigkeit gibt Halt und ordnet und begrenzt die Einsamkeit. In der Trauer­ begleitung kann man bei Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, auf deren Resilienz setzen und vertrauen. Sie schaffen es, unaushaltbar scheinende Belastungen auszuhalten – diese Erkenntnis darf man als Haltung und Vertrauen mit in die Begegnung nehmen. Auch der Film »I am another you« (2017) von Nanfu Wang beeindruckt in diesem Sinn. Eine Frau leidet an wiederkehrenden Psychosen. Fast zwanzig Jahre ist sie schwer krank und muss immer wieder stationär behandelt werden. In Therapien hat sie sich mit ihren Eltern beschäftigt, vor allem mit ihrem Vater, der alkoholkrank ist und sie vernachlässigt und verletzt hat. Sie konnte die Beziehung zu ihrem Vater – auch eine Verlusterfahrung – gut bearbeiten. Als der Vater an Leberzirrhose erkrankt, kann sie ihn im Sterben begleiten. Sie hat die Ablösung von ihrem Vater so gut geschafft, dass sie jetzt zu seiner Sterbebegleitung fähig ist. Sie achtet dabei auf ihre Grenzen, besucht etwa ihren Vater nur einmal in der Woche und überfordert sich nicht. Schon während des Sterbens ihres Vaters sucht sie sich Trauerbegleitung und gestaltet so die Trauer für sich. Sie plant zum Beispiel die Beerdigung.

Affektstörungen

Menschen mit Störungen in ihren Affekten haben Schwierigkeiten im Kontakt zu sich selbst und im Kontakt zur Realität, und dies in einer Intensität, die ihr Leben stark beeinträchtigt und die Teilhabe am Leben behindert oder verhindert. Für ihre Trauer beim Verlust durch den Tod eines nahen Menschen bedeutet dies, dass sie zuerst Hilfe im Bereich des Realisierens brauchen. Menschen in Depression lassen die Wirklichkeit des Todes nicht an sich heran, indem sie sich in die Stimmung von Depression vergraben und eine Schutzhaltung, eine Art von

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Sich-tot-Stellen, einnehmen. Menschen in Manie übergehen die Wirklichkeit des Todes, indem sie sich ins Agieren stürzen und die mit der Wirklichkeit verbundenen Gefühle in Handeln auflösen. Sowohl in der depressiven als auch in der manischen Phase werden die Gefühle übergangen. In der Depression sind die Gefühle eingefroren, in der Manie sind sie extrem übersteigert und beschleunigt. Deshalb ist es in der Trauerbegleitung eine Hauptaufgabe, die Aufmerksamkeit auf die Ebene der Wirklichkeit und der Gefühle zu richten. Trauerbegleitung sollte in der Begegnung mit Menschen mit depressiven und manischen Erkrankungen immer im Bewusstsein haben, dass für sie der Schutz vor Gefühlen besonders wichtig ist, weil sie die Realität nur im Fernhalten der Realität aushalten können. Das Einfrieren oder Überfliegen der Gefühle ist der Modus, in dem sie das Leben aushalten können. Therapeutisch geht es für sie um die Entdeckung, dass sie das Leben auch aushalten können, wenn sie ihre Gefühle zulassen, und dass ihr Leben dadurch lebendiger wird, schöner, reichhaltiger, vielfältiger. Trauerbegleitung soll keine Therapie anstreben, sondern um das Problemfeld wissen und geduldig und liebevoll der eigenen Aufgabe nachgehen, Menschen in einer depressiven oder manischen Phase in ihrer Trauer zu unterstützen. In der Begegnung schwingen zwei Dynamiken und Themen mit, die affizierend wirken, jede für sich und beide gemeinsam, nämlich Trauer und Depression oder Manie. Man muss also immer damit rechnen, dass einen eines der beiden Themen selbst einholt, einfängt, in seinen Bann zieht und verstrickt. Im Kontakt mit depressiven Patientinnen und Patienten sind beispielsweise Gefühle von Langeweile, Müdigkeit, Aggression, Hoffnungslosigkeit bei Begleitenden solch ein Zeichen von Verstrickung. Wenn man solche Gefühle spürt und entdeckt, dass sie etwas mit dem aktuellen Kontakt zu tun haben, kann man sie in die Begegnung einbringen, sie als Zeichen werten, dass man wieder stärker

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ein Gegenüber sein muss, denkbar ist auch, sie direkt anzusprechen. Auch muss man damit rechnen, dass man stellvertretend für Trauernde empfindet und Gefühle hat, die sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht zeigen können. Die mangelnde Fähigkeit von Menschen mit Affektstörungen, Kontakt zur Wirklichkeit und zu den eigenen Gefühlen herzustellen, bedeutet, dass man in der Trauerbegleitung umso mehr selbst auf den Kontakt zur Wirklichkeit und zu den eigenen Gefühlen achten muss. Hoffnung und Geduld ist ein wichtiger Faktor in der Haltung, in der man ihnen begegnet. Dazu ist hilfreich, sich immer wieder klarzumachen, dass sie nicht nicht fühlen und die Realität leugnen wollen, sondern dass sie es nicht können. Und es hilft zu wissen, dass bei der Mehrheit der Menschen mit Affektstörungen Besserungen im Krankheitsverlauf eintreten. Es ist schon deutlich geworden, dass Depression in vielen Fällen Sinn macht, weil sie die Wirklichkeit abwehrt, die Betroffene anders nicht aushalten können. Auch die Realität des Verlustes eines nahen Menschen und die Notwendigkeit, sich dazu durch Trauer zu verhalten, wehrt die Depression ab. Trauerbegleitung hat die Aufgabe, behutsam an die Realität und an die Gefühle heranzuführen. Sie darf die Wirklichkeit aufgrund falscher Rücksicht auf Erkrankte nicht verniedlichen, beschönigen oder gar verheimlichen. Trauerbegleitung soll auch bei Menschen mit Affektstörungen beim Thema Tod und Trauer bleiben. Eine Frau leidet seit vielen Jahren an schweren Depressionen. Immer wieder muss sie stationär behandelt werden. Ihr Mann hat sich von ihr getrennt, weil er das tägliche Zusammenleben mit ihr nicht mehr aushält, aber er kümmert sich weiter um sie. Der Mann stirbt durch einen Herzinfarkt. Als die kranke Frau die Todesnachricht mitgeteilt bekommt, reagiert sie mit Sorge um sich selbst. Ihr Mann sei ihre einzige Stütze gewesen, er habe alles für sie gemacht, was solle sie jetzt nur tun usw. Auf die Anregung, von

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ihrem Mann zu erzählen, sagt sie, nein, das könne sie nicht, sie sei viel zu verwirrt. Auf die weitere Anregung, ob sie eine Idee habe, wie sie sich von ihm verabschieden könnte, reagiert sie wieder mit Abwehr, darüber könne sie jetzt nicht nachdenken, das sei ihr alles viel zu viel. Der Trauerbegleiter sagt: »Wissen Sie was, ich habe eine Idee, wir gehen zum Bestatter und Sie verabschieden sich von Ihrem Mann.« An dieser Stelle zögert sie mit ihrem Abwehrreflex, sie wehrt nicht sofort ab. Wahrscheinlich spürt sie, dass die Idee etwas Gutes für sie hat. Dann setzt sich die Abwehr durch, nein, das gehe nicht, damit sei sie überfordert. Der Trauer­ begleiter sagt: »Doch, ich glaube, das ist gut für Sie. Ich mache einen Termin beim Bestatter und wir gehen gemeinsam hin.« Das funktioniert. An einem der folgenden Tage geht die Frau mit dem Trauerbegleiter zum Bestatter. Sie sieht noch einmal ihren Mann, sie kann sich von ihm verabschieden. Der Tod bekommt Wirklichkeit. Die Depressionsmauer wird ein wenig durchlässig. Tränen fließen. Schmerz wird spürbar.

Im Trauerbereich der Gefühle ist auch die Aufforderung sinnvoll, Betroffene zu fragen, was der oder die Verstorbene jetzt zu ihnen sagen, ihnen raten, sich von ihnen wünschen würde. Im Bereich von »Sich anpassen« haben Trauernde, die an Depressionen leiden, besondere Schwierigkeiten, weil das Anpassen ein aktiver und bewusst zu gestaltender Vorgang ist. Da durch die Depression die Bereiche von Wirklichkeit und Gefühlen blockiert sind, muss zuerst einmal die Trauer ins Fließen kommen. Im Bereich von Anpassen ist Hilfe von außen oft unerlässlich, weil die Erkrankung eine selbstständige Umorganisation des Alltags verhindert. Wer sich ausführlich für die Abgrenzung von Trauer und Depression interessiert, dem kann ich das Buch »Die Dunkelheit der Trauer teilen. Trauerbegleitung in depressiven Zeiten« (Schmidt u. Trautwein, 2017) empfehlen. An dieser Stelle ent-

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nehme ich diesem Buch nur einige Hinweise, wobei mir die grundsätzliche Aussage nicht unrichtig zu sein scheint, dass fast alle Symptome von Depression vorübergehend auch bei Trauer vorkommen können, nicht aber alle Symptome von Trauer bei Depression. Trauer kennt depressive Verstimmungen, aber sie steckt nicht in einem längeren Zeitraum und auch nicht permanent darin fest. Depression ist durch die Dauer und Intensität der Symptome gekennzeichnet und sie ist nicht ausschließlich durch Verlust verursacht, sondern kann Ursachen etwa auch in genetischen Bedingungen, Stoffwechselerkrankungen, Stress oder Nebenwirkungen von Medikamenten haben. Depression ist durch eine ununterbrochene Entwertung des eigenen Selbst und der Welterfahrung gekennzeichnet, Trauer kennt auch glück­ liche Erfahrungen von tiefer Verbundenheit mit dem Verstorbenen, der Natur, Gott und dem eigenen Selbst. Depression bedeutet das lang andauernde, abgründige Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit, Trauer kennt dieses Gefühl auch, aber es ist nicht total, Trauer kennt auch Freude, Sinnerfahrung, Wut und Ärger. Ein grübelnder Dauerzustand und Abwehr und Verstummen im Kontakt charakterisiert Depression, Trauer kennt auch Phasen von Grübeln, aber sie kann auch offen für Anregungen sein, ausdrucksfähig, sich nach Kontakt sehnen und Kontakt genießen. Depression bedeutet eine Minderung der Beziehung zu sich selbst und zur Welt bis hin zum Abbruch, auch das kann Trauer kennzeichnen, aber vorübergehend, nicht als monatelanger Dauerzustand. Depression ist eine Lähmung und ein Einfrieren, die Verweigerung von Erleben und Reagieren auf Verlust. Trauer bedeutet das Erleben des Verlustes und ist eine Reaktion auf den Verlust. Depression ist eine monotone Stimmung, Trauer eine Vielfalt an Stimmungen. Depression verweigert Trost, Trauer vermag Trost anzunehmen. Trauer kann depressive Anteile haben, muss aber deshalb nicht in eine Depression führen oder Depression sein. Man sollte

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mit dem Begriff »Depression« bei Trauerprozessen vorsichtig umgehen, denn er kann nicht nur als erleichternde Diagnose wirken (»endlich weiß ich, was ich habe«), sondern als Zuschreibung und Festschreibung von etwas, was auch ohne Therapie vorübergehen würde, großen Schaden anrichten und wie eine Selffulfilling Prophecy wirken (»alle sagen, ich sei depressiv, also wird es wohl stimmen«). Trauerbegleitung kann auch bei einer Depressionserkrankung sinnvoll sein, wenn sie auf den Verlust ausgerichtet bleibt und nicht Therapie sein will. Bei Menschen, die in der manischen Phase den Verlust eines An- oder Zugehörigen erfahren, ist es in der Trauerbegleitung von entscheidender Bedeutung, sich nicht in die Manie verstricken zu lassen, auch nicht innerlich, indem man etwa klandestin bewundert oder sich beeindrucken lässt. Es ist wichtig, auf die eigenen Gefühle zu achten, und es ist möglich, die Gefühle auszusprechen als eine Rückmeldung, die die Manie mit ihrer Wirkung und mit der Realität koppelt. Ein Trauernder in der Manie wird möglicherweise sofort über die Planung der Beerdigung sprechen oder beim Bestatter den teuersten Sarg bestellen oder ein großes, luxuriöses Kaffeetrinken der Trauergesellschaft organisieren, er sprüht vor Ideen und Plänen. Trauerbegleitung kann immer wieder geduldig und liebevoll die Realität ins Gespräch holen, den Tod benennen und das Agieren abbremsen. Trauerbegleitung kann einen Rahmen für die manische Reaktion auf den Verlust schaffen. Auch hier hilft es, gemeinsam zum Bestatter zu gehen, den Leichnam noch einmal zu sehen und noch einmal Nähe zum Verstorbenen zu erfahren. Man kann gemeinsam im Zimmer von Betroffenen eine Gedenkecke gestalten. In der Begleitung ist die Hauptschwierigkeit, die Manie auszuhalten und ruhig und geduldig in der Realität zu bleiben. Dabei hilft, wenn man im Bewusstsein behält, dass manische Menschen auf eine existenzielle Weise von Trauer geprägt sind, weil sie schon

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viel Scheitern in ihrem Leben erfahren haben. Im Hintergrund der manischen Stimmung schwelen deshalb die Erfahrung, wie oft die Manie schon zu Katastrophen geführt hat, und die Angst, das könnte jetzt wieder geschehen. Ein Beispiel für einen zugleich sehr langwierigen und gelungenen Trauerprozess bei einer Affektstörung: Ein junger Mann erlebt in der Adoleszenz den Suizid seiner Mutter. Er ist tief verletzt und fühlt sich alleingelassen. Er bekommt eine Depression, die klinisch behandelt werden muss und jahrelang andauert. Zwei Suizidversuche begeht er in dieser Zeit. In Therapien beschäftigt er sich mit dem Suizid der Mutter, seiner Enttäuschung über die Mutter und seiner Wut auf sie, seinem tiefen Gefühl von Verlassenheit und Einsamkeit. Er kann die Depression überwinden, erlernt einen guten Beruf, heiratet und bekommt zwei Söhne. In der Adoleszenz entwickelt einer seiner Söhne depressive Verstimmungen und suizidale Tendenzen. Der Vater muss sich aufs Neue mit dem Suizid seiner Mutter, seinen eigenen Suizidversuchen, seiner überwundenen Depression und der Angst um den eigenen Sohn beschäftigen. Er kann sagen: »Wenn sich mein Sohn umbringt, wird mich das zutiefst traurig machen, aber ich werde es als seine Art des Sterbens akzeptieren können.«

Hier ist es nicht nur gelungen, die Depression zu überwinden, sondern die Trauer hat zu einer neuen Weltsicht und Lebenseinstellung geführt, die die eigene Ohnmacht vor dem möglichen Suizid des Sohnes annehmen kann. Neurotische Störungen, Belastungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen

Bei Menschen mit neurotischen Störungen übernimmt Angst (die Wohnung nicht mehr verlassen können, Angstattacken) oder Zwang (immer wieder an dasselbe Motiv denken oder

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permanent eine Handlung wiederholen müssen) die Steuerung des Verhaltens und der Handlungen. Für trauernde Menschen bedeutet dies, dass ihnen nicht das gesamte Spektrum oder der gesamte Verhaltens- und Empfindungsraum von Trauer offensteht. Auch in der Trauer dominieren bei Menschen mit einer Angststörung Angst, bei Menschen mit einer Zwangsstörung Zwang, bei Menschen mit einer Borderline-Erkrankung Instabilität und Impulsivität, bei Menschen mit somatoformen Störungen körperliche Reaktionen und bei Menschen, die zu Suizida­ lität neigen, suizidales Verhalten. Das Wissen um die Dominanz eines Motivs von Verhalten ist für die Begleitung in der Trauer bedeutsam. Angst braucht Begleitung, irgendeine Form von Nähe und Sicherung. Zwang braucht Gewährenlassen, Geduld, Annehmen. Instabilität und Impulsivität brauchen freundliche und klare Grenzen und Realitätsbezug. Körperlicher Schmerz braucht medizinische Abklärung und (im Fall fehlender körperlicher Ursachen) Deutung. Suizidales Verhalten braucht sowohl Erlauben als auch das gemeinsame Entwickeln und Entstehenlassen von Alternativen. Der vulnerable Bereich in den Erlebensbereichen von Trauer betrifft bei Menschen mit neurotischen Störungen und Persönlichkeitsstörungen die Realisierung der Wirklichkeit (die Realität des Verlustes). Die jeweilige Störung blockiert die Realisierung, sodass dem Trauernden die anderen Erlebensbereiche verschlossen bleiben. Deshalb liegt in der Trauerbegleitung die Hautaufgabe im Begleiten bei der Annäherung an die Wirklichkeit. Therapeutisch hat sich gezeigt, dass integrative kognitive Verhaltenstherapie große Heilungschancen hat, weil Betroffene über die Kognition erreichbar sind. Für die Trauerbegleitung bedeutet dies, dass man über den Bereich des Einordnens, das kognitiv geschieht, gut versuchen kann, die Trauer anzuregen und ins Fließen zu bringen. Beim Einordnen entsteht Struktur, und die Welt bekommt ihren Boden zurück. Man kann fragen,

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wo der Verstorbene jetzt sei oder wo die Verstorbene sich jetzt aufhalte, man kann gemeinsam Sinn suchen, man kann zum Erzählen von schönen Erfahrungen mit dem Verstorbenen anregen, fragen: »Was war schön mit ihm oder ihr? Was würde sie jetzt zu Ihnen sagen? Was würde sie Ihnen raten, wenn sie Sie so sähe?« Das Einordnen gibt Struktur – das ist für Menschen mit Zwangserkrankungen wichtig – und es schafft Verbindung und vernetzt – das ist für Menschen mit Angsterkrankungen wichtig. Gegen Angst, Zwang, Bewegen an Grenzen und Überschreiten von Grenzen zeigt es sich als sinnvoll, Halt und Struktur anzubieten, Sinn, Deutung. Eine alte Frau leidet an Panikattacken und Angststimmungen. Sie hat die Störung in den Jahren entwickelt, seit ihr Mann verstorben ist. Sie sagt, sie habe keine Freude mehr am Leben, alles sei nur noch bedrohlich und sie habe kein Vertrauen mehr in sich. »Ich sah Sie aber vorhin lächeln«, sagt der Trauerbegleiter. »Ja? Wann?«, fragt die Frau. »Vorhin, als Sie Ihren Enkel begrüßt haben«, antwortet der Trauerbegleiter. Sie lächelt. Von außen kommt ein Hinweis auf Lebenssinn. Sinn in ihrem Leben (Begegnung mit ihrem Enkel und die Freude daran) hatte die Frau zwar unbewusst wahrgenommen – sonst hätte sie nicht auf ihren Enkel reagiert –, aber nicht bewusst als Sinn registriert.

Trauerbegleitung kann trauernden Menschen mit Angsterkrankungen die Angststörung nicht wegnehmen, aber sie kann sie in der Erfahrung unterstützen, dass sie die Wirklichkeit aushalten können. Man kann den Besuch beim Bestatter ausführlich im Gespräch vorbereiten und Trauernde zum Besuch beim Bestatter begleiten. Man kann sie fragen, welche Unterstützung sie beim Verabschieden vom Verstorbenen brauchen. Trauer­ edukation ist wichtig, zum Beispiel auszusprechen, dass die Begegnung mit dem Verstorbenen (auch körperlich) anstren-

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gend und belastend sein, aber auch das Gefühl von Nähe und Trost vermitteln kann. Im Abschiedsraum reicht es oft, wenn man einige Vorschläge macht, wie sich Trauernde verabschieden können (ein Gebet sprechen, an ein schönes gemeinsames Erlebnis denken, in der Stille mit dem Verstorbenen sprechen), und in einiger Entfernung ruhig steht oder sitzt und für sich betet oder meditiert. Die Tatsache, dass man da ist, ist wichtig, weniger das, was man macht. Es ist sinnvoll, den Besuch nachzubereiten, beispielsweise auf dem Rückweg danach zu fragen, wie sich der Kontakt mit dem Verstorbenen angefühlt hat und wie sich jetzt die Angst anfühlt. Bei trauernden Menschen mit Angsterkrankungen können auch Aufgaben gut sein, weil Tun und Handeln von der Angst ablenken. Gemeinsam den Sarg bemalen, ein Erinnerungs- und Fotoalbum gestalten, die Beerdigung vorbereiten, Musik und Texte auswählen, sich zu einem Spaziergang verabreden und anregen, vom Verstorbenen zu erzählen. Jede Begegnung mit der Trauerwirklichkeit ermöglicht dem Trauernden die Erfahrung, dass die Welt nicht untergeht, sondern bestehen bleibt, und die Angst nicht recht hat. Vor einigen Jahren ist die Mutter eines circa vierzigjährigen Mannes verstorben. Er hatte mit seiner Mutter zusammengelebt und eine enge und liebevolle Beziehung zu ihr gehabt. Zwei Jahre nach dem Tod der Mutter entwickelt er Panikattacken. In der Trauer­begleitung zeigt sich, dass die Panikattacken immer besonders stark um den Todestag der Mutter herum auftreten. Diese Verbindung zu entdecken und sich bewusst zu machen, ist für den Mann eine große Hilfe, weil er die Angstattacken einordnen kann. Am Todestag geht der Trauerbegleiter mit dem Mann zum Grab der Mutter. Er trifft mit dem Mann die Verabredung, dass er ihn in den folgenden Tagen jeden Tag einmal um dieselbe Uhrzeit anruft, fragt, wie es ihm geht, und mit ihm über die Trauer spricht. Schon das Angebot wirkt angstmindernd auf den Mann.

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Bei den Telefonaten zeigt sich, dass der Mann zwar noch Panikattacken und Angststimmungen hat, aber sie nicht mehr mit einem Übermaß an Alkohol und Tabletten bekämpfen muss.

Bei Menschen mit Zwangserkrankungen ist eine ähnliche Art der Begleitung wie bei Menschen mit Angsterkrankungen möglich. Man kann zum Beispiel die Anregung geben, jeden Morgen eine Kerze anzuzünden und zwei Minuten brennen zu lassen und dabei an den Verstorbenen zu denken, für ihn und für sich zu beten oder sich zu erinnern. Handlungen und Aufgaben lenken vom Zwang ab und geben der Trauer Raum. Sie schaffen eine Struktur und vermitteln Ordnung, Sicherheit und Selbstwirksamkeit. Den Wunsch nach Abschirmen der Wirklichkeit und das Vermeiden der Wirklichkeit sollte man nicht unterstützen. Gut ist es, Vorschläge zu machen und etwas gemeinsam zu tun, etwa gemeinsam Blumen fürs Grab aussuchen oder ans Grab gehen. Weiter oben (S. 54) erzählte ich von der Begegnung mit einem Patienten mit einer Zwangserkrankung, der beim Gehen seine Füße auf eine bestimmte Weise auf den Boden stellen muss, weil er die Gefahr sieht, die Erde könne sich öffnen und er in eine Schlucht fallen. Der Mann lehnt anfangs den Vorschlag ab, spazieren zu gehen. Nein, das könne er nicht, dazu sei er viel zu aufgeregt. Ich sage ihm: »Lassen Sie es uns doch versuchen.« Er geht mit und macht die Erfahrung, dass er es kann. Dann sagt er, er könne nicht sprechen, während er geht. Später macht er die Erfahrung, dass er auch das kann.

Menschen mit einer Borderline-Erkrankung haben oft eine geringe Affektkontrolle, sie übersteigern die Affekte oder sie überspielen sie, sodass es sein kann, dass jemand eine Todesnachricht scheinbar souverän aufnimmt, in Wahrheit aber davon völlig aus der Bahn geworfen ist. In der Trauerbegleitung ist es deshalb von

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großer Bedeutung, dass man sich selbst in der Realität verwurzelt und immer wieder neu im Kontakt die Realität ins Bewusstsein ruft. Man kann mit Betroffenen abklären, welche Fähigkeiten (Skills) sie zur Kontrolle zur Verfügung haben, und überlegen, wie sie die Fähigkeiten auf die Trauer anwenden. Auch bei Trauernden mit Borderline-Störung ist es hilfreich, Aufgaben zu geben, weil sie nicht selten sehr kreativ sind; beispielsweise ein Trauertagebuch zu beginnen, Briefe an den Verstorbenen zu schreiben oder die Verstorbene zu malen in einem Moment, wo sie besonders glücklich war; man kann als Aufgabe geben, jeden Tag eine schöne Erinnerung aufzuschreiben oder als Bild zu malen. Rituale, um den Trauerschmerz zu begrenzen, sind wichtig, man kann Rituale gemeinsam entwickeln, fragen, welche Rituale der trauernde Mensch kennt, oder selbst Rituale vorschlagen und fragen, ob sie für den anderen stimmig sind. Man kann gemeinsam mit dem trauernden Menschen an Orte gehen, an denen er sich mit dem Verstorbenen wohlgefühlt hat, und dort dem Trauerschmerz die Erlaubnis geben, aufzutauchen und lebendig zu werden, und dann wieder bewusst diesen Ort verlassen und den Trauerschmerz in seiner überwältigenden Kraft dort lassen. Bei einem positiven Verhältnis zum Verstorbenen kann man anregen, den Verstorbenen selbst als Begrenzer von Affekten anzufragen, im Sinne von: Wenn Ihr verstorbener Vater oder Ihre verstorbene Frau jetzt hier wäre, was würde er tun, was würde sie tun, damit Sie etwas Ruhe finden? Man kann mit Trauernden, die an einer Borderline-Störung leiden, am Bild des Verstorbenen arbeiten, weil sie oft die Wirklichkeit in eine ausschließlich positive und ausschließlich negative Seite aufspalten. Man kann nach Ambivalenzen fragen. Bei Menschen mit einer somatoformen Störung tritt ein körperliches Symptom (Schmerz) in den Vordergrund und überdeckt anderes, das nicht an die Oberfläche kommen darf und nicht gespürt werden soll. Wenn ein Mensch mit einer somato­

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formen Störung in Trauer kommt, wird er vermutlich ein neues körperliches Symptom entwickeln, oder das bisherige Leiden wird sich verstärken, er wird aber bei dem somatoformen Umgang mit Problemen bleiben. Es geht ihm darum, Gefühle abzuwehren, auch die Trauergefühle. Wenn man in der Trauerbegleitung das Gefühl hat, dass ein Mensch an solch einer Störung leidet – etwa stark über Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Leibschmerzen oder über Probleme bei der Verdauung klagt –, ist es sinnvoll, ihn zuerst einmal zu einem Arzt zu schicken und körperliche Ursachen ausschließen zu lassen. Auch Trauer kann Schmerzen verursachen, deshalb muss nicht immer eine somatoforme Störung vorliegen, wenn keine physische Ursache erkennbar ist. Psychoedukation kann einem Trauernden helfen, sich selbst besser zu verstehen und barmherzig mit sich umzugehen. Man kann auch eine Deutung anbieten, etwa: Ich habe den Eindruck, dass Ihre Leibschmerzen ein Zeichen dafür sind, dass die Trauer im Moment sehr schwer für Sie ist. Somatoforme Störungen in der Trauer haben einen besonderen Sinn, denn zu den schwersten und quälendsten Dimensionen der Trauer gehören der Verlust und das Fehlen der körperlichen Anwesenheit des Verstorbenen. Die Sehnsucht nach dem Körper des Anderen findet in der Trauer keine Erfüllung, sie bleibt Sehnsucht und großes Leiden, weshalb sich diese Sehnsucht auch im Körper des Trauernden als physischer Schmerz zeigen kann. Imaginationsübungen können hier heilend wirken, eine Reise an den Ort des Schmerzes etwa, auch körperliche Übungen wie Atemübungen, Bewegungen und sanfter Sport. Wenn es sich um eine schwere somatoforme Störung handelt, ist es sinnvoll, mit dem Trauernden über die Möglichkeit einer Psychotherapie zu sprechen. Im Bereich von Trauma und Trauer werden Betroffene entweder durch den Tod eines nahen Menschen – der sich oft unter besonders dramatischen Umständen ereignet hat – traumati-

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siert, und Trauma und Trauer haben dieselbe Ursache, oder der Verlust eines An- oder Zugehörigen trifft einen Menschen, der schon vor dem Verlust durch ein anderes Ereignis traumatisiert war, sodass die Trauer zum Trauma hinzukommt. Meistens ist für Betroffene eine Psycho- und Traumatherapie unerlässlich, weil die Traumatisierung eine spezifische, fachliche Behandlung braucht. Trauerbegleitung kann Psychotherapie nicht ersetzen, aber sie kann im Bereich des Stabilisierens einen Raum für das Trauern eröffnen. Wie überhaupt in Begleitung und Therapien die Beziehung zwischen Helfer und Klient die entscheidende wirksame Energie ist, so trifft dies bei Trauerbegleitung bei traumatisierten Menschen umso mehr zu. Hier ist das Wichtigste, dass der traumatisierte Mensch sich in der Beziehung zum Trauer­begleiter oder zur Trauerbegleiterin sicher fühlt und Sicherheit erlebt. In einer sicheren Beziehung verringert sich die Angst eines traumatisierten Menschen und er weiß sich gehalten, wenn traumatische Erfahrungen auftauchen. Man sollte die Möglichkeit des Triggerns immer im Bewusstsein haben, sich aber nicht davon verunsichert fühlen. Meine Erfahrung ist, dass traumatisierte Menschen um die Möglichkeit des Triggerns wissen und schon viele Erfahrungen von Triggern gemacht und deshalb auch Resilienz entwickelt haben. Im Raum einer sicheren Beziehung kann man, wenn man beim Gegenüber eine auffällige Reaktion bemerkt (zum Beispiel plötz­ liches Verstummen, große Irritation im Blick, Schweißausbruch, schweres Atmen), fragen, ob sich etwas verändert hat und was geschehen ist. Betroffene sagen dann, dass gerade etwas triggert, und man kann gemeinsam überlegen, was jetzt sinnvoll zu tun ist. Symptome bei Traumatisierungen sind Flashbacks (Betroffene erleben die traumatisierende Erfahrung aufs Neue, als ob sie Gegenwart wäre), intrusive Gedanken (unwillentliche Erinnerungen an das traumatisierende Geschehen), große Schreckhaftigkeit, große innere Unruhe, Schlafstörungen, Gefühle des

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Ausgebranntseins, eine große Durchlässigkeit zur Welt, insbesondere zu den Traumaerfahrungen, Vermeidungsverhalten in Bezug auf das Geschehen des Traumas (Kachler, 2021, S. 68–71). Kachler gibt in seinem Buch über traumatische Verluste viele Hinweise für Stabilisierung, die meines Erachtens auch außerhalb des Kontextes einer hypnosystemischen Traumatherapie gut anzuwenden sind (2021, S. 86–99): etwa Alltagsroutinen pflegen oder entwickeln, die Verantwortlichkeit für das eigene Leben stärken (Einkaufen, Kochen), rituelle Sätze finden, die Betroffene täglich oft wiederholen (wie Mantras oder immerwährende Gebete, zum Beispiel »Ich überlebe den heutigen Tag« oder »Ich lebe für …«), Verdrängen durch Ablenkung (Sport machen, ins Kino gehen), Bekanntschaften pflegen, eine Selbsthilfegruppe besuchen, mit dem Arbeitgeber über die Möglichkeit sprechen, die Arbeitszeit an die Erkrankung anzupassen, einen inneren und äußeren Ort für die Trauer schaffen, Selbstberuhigungstechniken einsetzen, Körperarbeit (Atemübungen, Imaginationsübungen), kognitive Übungen (zum Beispiel kreisenden Gedanken ein Stopp! entgegenzustellen). Wichtig finde ich auch den Hinweis, gemeinsam spirituelle Helfergestalten zu finden, die als Trost- und Ratgeber fungieren können (Engel, biblische Figuren, Symbole). Auch in der Begegnung mit traumatisierten Trauernden scheinen mir der Kontakt des Begleitenden zu sich selbst und eine über die Krankheit gut informierte, freundliche, liebevolle Grundhaltung der Zuwendung das Wichtigste. Man darf das Vertrauen haben, dass auch extrem belastende und qualvolle Gedanken und Gefühle in der Beziehung eine Sicherung finden und alles, was geschieht (Flashbacks, Dissoziationen), gemeinsam auszuhalten ist.17 17 Der Bereich von Trauma und Trauer ist in der Literatur gut dargestellt, deshalb verweise ich, wer sich ausführlich mit dem Thema beschäftigen will, gerne auf die Bücher von Jo Eckardt (2017), Roland Kachler (2021) und Luise Reddemann (2019a).

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Abhängigkeitserkrankungen Eine junge Frau konsumiert seit der Pubertät Alkohol, Haschisch und Amphetamine. Als sie schwanger wird, hört sie mit dem Konsum von Suchtmitteln auf. Die Schwangerschaft verläuft normal, aber das Kind stirbt einige Tage nach der Geburt am sogenannten plötzlichen Kindstod. In der Trauerbegleitung erzählt die Frau, sie komme mit dem Geschehen nicht zurecht, sie habe einen Hass auf das Krankenhaus und denke, das Krankenhaus habe Schuld. Sie macht sich selbst Vorwürfe, sie habe das falsche Krankenhaus ausgewählt. Nachts wache sie von Albträumen auf. Sie habe Angst, dass sie irgendwann wieder mit den Drogen und dem Alkohol anfange und so viel nehme, dass sie sterbe. Im Moment ist sie unter therapeutischer Begleitung drogenfrei und trinkt keinen Alkohol. In der Trauerbegleitung steht bei den ersten Treffen die Schuldfrage im Zentrum. Hat die Frau reale Schuld (falsches Krankenhaus gewählt)? Hat das Krankenhaus Schuld (falsche Maßnahmen, Nachlässigkeit)? Beides kann die Frau nach wiederholtem längerem Abwägen verneinen. Die Schuldgefühle und -gedanken aufgrund des starken Konsums vor der Schwangerschaft vermischen sich mit der Abklärung der realen Schuld. Schuldgefühle und -gedanken sind in der ganzen Begleitung ein Thema. In der Trauerbegleitung wird über die Imagination ein innerer sicherer Ort geschaffen, an den sich die Frau zurückziehen kann, wenn es ihr schlecht geht. Der Trauerbegleiter empfiehlt ihr, eine Puppe oder ein Tier auszuwählen, das als äußere Repräsentanz für die Gegenwart des verstorbenen Babys bei ihr ist. In einem nächsten Schritt wird ein innerer sicherer Ort geschaffen, an dem die Frau dem Kind begegnen kann, wenn sie es will. Längere Zeit traut sich die Frau nicht, das Kind dorthin einzuladen, irgendwann kann sie es doch und spricht mit dem Kind, erzählt ihm, wie es ihr geht und wie sehr sie es vermisst. Irgendwann sagt die Frau, endlich könne sie weinen. Der Trauerprozess braucht

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viel Zeit. Sie schafft es, auch nach dem Ende der Therapie abstinent zu bleiben. Der Ehemann einer Frau erkrankt an Krebs, beide sind Mitte vierzig. Nach zwei Jahren stirbt der Mann. Die Ehefrau beginnt, viel Alkohol zu trinken. Ihre Tochter, die in der fünften Klasse einer weiterführenden Schule ist, leidet sehr darunter und spricht mit einer Schulsozialarbeiterin über ihr Elend. Die Sozialarbeiterin spricht mit der Mutter und fragt sie, ob sie sich eine Trauerbegleitung vorstellen könne. Die Mutter stimmt zu. In der Trauerbegleitung verheimlicht sie lange ihre Sucht, aber der Alkoholkonsum ist durch den Geruch und die Veränderung der Haut erkennbar. Die Trauerbegleiterin spricht die Mutter auf ihre Wahrnehmungen an. Es zeigt sich, dass die Sucht die Art ist, in der die Mutter den Tod ihres Mannes überleben kann, allerdings mit der Konsequenz, dass ihre Tochter extrem darunter leidet. Eine Wende in der Trauer­begleitung bewirkt die Frage, ob die Frau leben oder sterben wolle. Sie entscheidet sich für eine Psychotherapie. In einer Übergangszeit wird die Trauerbegleitung fortgesetzt mit dem Ziel, der Frau Halt zu geben, sie in ihrem großen Elend nicht allein zu lassen und sie in ihrem Willen zu Veränderung zu unterstützen; unter anderem entsteht ein Erinnerungsraum, den die Frau betreten kann, wenn sie die Trauer überschwemmt. Auf die Frage, an welchem gemeinsamen Ort sie sich mit ihrem Mann wohlgefühlt habe, sagt sie, sie sei gerne mit ihrem Mann am Neckar entlanggegangen. Sie nimmt die Spaziergänge wieder auf und trifft sich mit ihrem Mann in Gedanken am Neckar. Es ist ihr abgegrenzter Raum von Trauer. Die Frau trinkt noch längere Zeit auch in der Psychotherapie weiter, hat aber auch Phasen von Abstinenz. Ihre Tochter findet eine Trauerbegleitung im Kinderhospizdienst.

Im ersten Beispiel trifft Trauer auf Abhängigkeit (abstinent, aber vorhanden) und muss im Raum von (abstinenter) Abhän-

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gigkeit gelebt werden. In den Erlebensbereichen von »Überleben« und »Wirklichkeit« hat die Frau ein Stück Sicherheit insbesondere durch die therapeutische Hilfe geschaffen und findet sich zurecht. Sie kann erkennen, dass sie im Bereich der Gefühle Hilfe braucht, und sieht die Gefahr, wieder zu Suchtmitteln zu greifen, wenn der therapeutische Rahmen wegfällt. Als hilfreich zeigt sich, mit der Frau an der Frage der realen Schuld und der Schuldgedanken und Schuldgefühle zu arbeiten. Sie kann reale Schuld verneinen und sie erkennt ihre Schuldgefühle als einen Modus, mit dem sie den Kontakt zu ihrem toten Kind wahren kann. Der sichere Ort für sich selbst und für die Begegnung mit dem Kind erlaubt es ihr, eine andere Möglichkeit der Verbindung als Schuldgefühle in sich reifen zu lassen. Es braucht einige Zeit, aber es zeigt sich als möglich. Am sicheren Ort beginnt die Frau, dem Kind von sich zu erzählen, und so entsteht eine tiefe, tröstliche Verbindung zu dem Kind. Irgendwann sagt ihr das Kind, dass es der Mutter nicht nachträgt, nicht am Leben zu sein, dass nichts zwischen ihnen steht. In den Bereichen »Verbunden bleiben« und »Einordnen« hat die Trauerbegleitung gute Wirkungen, sodass die Frau das Vertrauen entwickelt, auch in Krisensituationen nicht mehr zu Suchtmitteln greifen zu müssen. Hilfreich dazu sind auch Überlegungen, welche konkreten Anlaufstellen es für sie gibt, wenn sie die Trauer überwältigt. Die Angst der Frau, nach der Therapie aufgrund von Trauer­ erfahrungen rückfällig zu werden, hat etwas Typisches für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen, die trauern, denn die Sucht ist ein Überlebensmodus. Dieser Überlebensmodus funktioniert irgendwann nicht mehr, weshalb eine Therapie beginnen muss. Es braucht sehr lange, bis sich die innere Prägung, die Suchtmittel seien ein Zufluchtsort, auflöst, und bei vielen Abhängigen bleibt die Verbindung Suchtmittel–Zuflucht immer im Bewusstsein, nur wird sie als falsch erkannt und so

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in ihrer Verhaltenssteuerung gebrochen. In großen Krisen, wie sie schwere Verluste durch Tod bewirken, kann diese als falsch erkannte Verbindung wieder an Plausibilität gewinnen, weil die Kognition an Kraft verliert. Die schnelle Euphorie und der schnelle Trost, den das Suchtmittel gibt, wird als zu verführerisch erlebt, und es beginnt unter Umständen eine weitere Suchtschleife, die Monate oder Jahre andauern kann und vieles des bisher Erreichten zunichtemacht. Deshalb ist Trauerbegleitung bei Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen, die einen nahen Menschen durch Tod verlieren, besonders wichtig. Es ist nicht nur das therapeutische Wissen, was Betroffene in der Abstinenz stärkt, sondern auch das Begleiten in der Trauer, das der Trauer Räume schafft, die Trauer explizit thematisiert und bei der Erfahrung hilft, dass die Trauer nicht zwangsläufig zu einer Aufhebung der Abstinenz führen muss. Am ersten Beispiel wird noch ein zweites Motiv deutlich, das für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen in der Trauer typisch ist, nämlich die starke Beschäftigung mit Schuld, Schuldgedanken und Schuldgefühlen. Nicht selten liegt reale Schuld gegenüber Verstorbenen vor, weil süchtiges Verhalten zwangsläufig nahe An- und Zugehörige ausnutzt, hintergeht, verletzt. Es liegt übrigens auch immer reale Schuld gegen sich selbst vor, gegen den eigenen Körper, die eigene Biografie. Wenn reale Schuld den Trauernden belastet, hilft das Gespräch, wirksamer noch ist ein Ritual, das Vergebung erlebbar macht. Als Pfarrer spreche ich mit solchen Menschen immer über Beichte, auch bei Menschen, die nicht zu einer Kirche gehören oder nicht christlich sind, und wenn eine Beichte gewollt wird, finden wir immer eine Form, die für beide, den Trauernden und für mich, stimmt. Ein Vergebungsritual halte ich bei realer Schuld für unerlässlich, weil das Ritual Schuld in Vergebung transformiert. Es gibt nicht nur reale Schuld von Trauernden an Verstorbenen, sondern gerade im Feld von Abhängigkeit auch von Ver-

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storbenen an Trauernden. Im Todesfall wird auch die Schuld von Verstorbenen wach, zugleich aber nicht selten von der eigenen Schuld und eigenen Schuldgefühlen überdeckt. Es spielt auch das Motiv mit, wenn man »schlecht« über den Verstorbenen spreche, suche man eine billige Entschuldigung für die eigene Abhängigkeit, also Scham in ihren vielen Formen. Trauerbegleitung darf hier aktiv nach den Ambivalenzen im Verhältnis zum Verstorbenen fragen und kann so einen Raum schaffen, etwas auszusprechen, was sonst nicht möglich ist. Sie kann auch deutlich machen, dass die Scham ein Schutz für Verstorbene ist, den sie jetzt nicht mehr brauchen. Im zweiten Beispiel entsteht Abhängigkeit als Teil von Trauer und als Modus, den Verlust zu bewältigen. Für die Witwe geht es ausschließlich ums Überleben, weil sie den Tod ihres Mannes als Abbruch ihres gesamten Lebens empfindet und am liebsten nachsterben würde. Alkohol verschafft ihr schnell Beruhigung, Verdrängung des Todes, die Illusion von Trost und ermöglicht, das eigene Leben irgendwie meistern zu können. Die Trauerbegleitung selbst ist für sie schon als Erfahrung wichtig, ihre Trauer ohne Suchtmittel zeigen und leben zu können. Als entscheidend für eine Veränderung zeigen sich das Gespräch über ihre Tochter und die Einsicht in das Leiden, das ihr Trinken bei ihrer Tochter auslöst. Das Kind ist allein in seiner Trauer, dringend bräuchte es seine Mutter als Halt, aber die Mutter fällt aus. Das Verhalten der Mutter bewirkt, dass das Kind Angst hat, auch noch die Mutter zu verlieren. Die Frage, ob sie leben oder sterben wolle, wirkt auf die Frau realisierend. Nach einem kurzen Erschrecken über die Frage – das auch als Realisierung wirkt – kann sie die Abwägung auch als Erlaubnis für sich verstehen, sterben zu dürfen. Das empfindet sie als erleichternd und es erleichtert ihr paradoxerweise ihre Entscheidung für das Leben. »Wenn ich sterbe«, sagt sie, »lasse ich meine Tochter allein, das will ich unter keinen Umständen.«

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In der Trauerbegleitung ist es eine schwierige Abwägung, ob man Symptome von Sucht anspricht oder nicht. Im Beispiel hätte die Frau die Begleitung auch abbrechen, ihr Kind von der Schule nehmen und sich immer tiefer in die Suchtspirale begeben können. Meine Erfahrung ist, dass es grundsätzlich besser ist, in einer Trauerbegleitung die eigenen Wahrnehmungen bezüglich Abhängigkeit anzusprechen, weil die Begegnung in einem Raum von Vertrauen stattfindet und es der Authentizität der Begegnung dient. Wenn man die eigene Wahrnehmung nicht als Vorwurf, sondern als Sorge anspricht, haben Betroffene mehr Spielraum und die Scham ist weniger groß. Auch die Verantwortung für die Umwelt spricht für das Ansprechen von Suchtsymptomen oder -tendenzen im Trauerprozess. Überhaupt wird an diesem Beispiel deutlich, wie wichtig es ist, in der Trauerbegleitung bei Menschen mit Abhängigkeitserkrankung auf das Umfeld zu schauen. Wer ist noch von Trauer betroffen? Wie lebt er oder sie Trauer? Wer vom Umfeld braucht Unterstützung und woher kommt sie? (Die Kinderhospiz­begleiterin war für die Tochter enorm wichtig, genauso der Kreis ihrer Freundinnen.) Etwas Typisches ist auch der Übergang von Trauerbegleitung in Therapie, denn Trauerbegleitung kann das Suchtverhalten nicht direkt beeinflussen oder therapieren, dazu braucht es Therapie. Die Sucht hängt zwar mit der Trauer zusammen, ist aber ein eigenes Feld. Auch hier ist meines Erachtens freundliches, offenes Ansprechen am besten. Trauernde Menschen mit Suchterkrankungen haben oft Probleme im Bereich der Anpassung, weil die Sucht die Anpassung an ein Leben ohne den Verstorbenen erschwert oder verhindert. Die Sucht friert den Status quo ein und sorgt dafür, dass alles – Gefühle, Verhalten, Handeln – beim Alten bleibt und Veränderung blockiert wird. Deshalb ist Therapie oft unerlässlich. Für die Trauerbegleitung von Menschen mit Suchterkrankungen ist es gut, mit ihnen begrenzte Räume für die Trauer zu

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schaffen (sich mit dem Verstorbenen zu einem Spaziergang verabreden, eine Trauerecke in der Wohnung schaffen und anderes mehr), weil begrenzte Räume gegen das Überschwemmen der Trauer wirken. Sie fördern das Anpassen an ein Leben ohne den Verstorbenen und das Einordnen des Todes ins eigene Leben. Auch Alltagsrituale haben eine große Bedeutung, weil sie gegen das Einfrieren des Status quo wirken (abends dem Verstorbenen eine gute Nacht wünschen, für ihn beten, ihn in einen schönen Traum einladen). Körperliche Störungen mit hauptsächlich psychischen Auswirkungen

An dieser Stelle beschränke ich mich auf einige kurze Bemerkungen zu Demenz. Eine alte Frau leidet seit einigen Jahren unter starker Demenz und lebt auf einer beschützten Station eines Seniorenheims mit anderen dementen Menschen. Sie wird öfter von einer jüngeren Freundin besucht und beide haben ein vertrautes und inniges Verhältnis. Als die alte Frau stirbt, kehrt die Freundin noch einmal auf die Station zurück und trifft einen Mitbewohner der alten Frau, der schon lange auf der Station lebt und ebenfalls dement ist. »Ihre Frau ist nicht mehr da«, sagt er zu ihr. Offenbar hat er mitbekommen, dass die Freundin die alte Frau oft besucht hat, und er hat auch mitbekommen, dass die alte Frau verstorben ist. Jetzt sieht er die Besucherin auf seine Weise in ihrer Trauer und kann ihr sein Mitgefühl mitteilen.

Niemand rechnete damit, dass der Mann den Tod seiner Mitbewohnerin mitbekommen oder ihn erinnern würde, und erst recht nicht, dass er Trauer wahrnehmen und eine Form für Kondolation finden würde. An diesem Beispiel wird deutlich, wie wichtig es ist, die Wahrnehmungsfähigkeit von Menschen mit

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Demenz ernst zu nehmen. Sie verändern ihre Wahrnehmung und sie finden einen unüblichen Ausdruck für ihre Anliegen, aber sie nehmen Teil an der Welt, und man muss damit rechnen, dass sie Veränderungen, die in der Umwelt geschehen, regis­ trieren. Deshalb ist es auch nicht gut, wenn man ihnen bei Verlusten etwas vormacht. Angehörige von Menschen mit Demenz sind von der Er­ krankung ebenfalls stark betroffen. Auch sie kommen in Abschieds­prozesse, und nicht selten entstehen unter Angehörigen Konflikte, die mit der Demenz zu tun haben. So brechen beispielsweise an der Entscheidung, wer von den Geschwistern die Pflege der demenziellen Eltern übernimmt, nicht selten lang stillgelegte Konflikte und Verletzungen auf. Dabei geht es im Streit weniger um die Frage, wer die Pflege übernimmt, als um Ungerechtigkeitserfahrungen in der Kindheit, Vorenthaltenes, nicht erfüllte Sehnsucht. Die Betroffenen erlauben sich eher den Streit als die Trauer um das, was sie in der Kindheit nicht bekommen haben. Angehörige erleben auch den Tod eines dementen Menschen oft als ambivalent, weil die Belastungen durch die Erkrankung meist groß sind und Gefühle von Erleichterung und Befreiung nach dem Tod tabuisiert sind. Suizidalität

Suizidalität ist ein Motiv, das bei vielen psychischen Erkrankungen auftaucht, weil die Belastungen der Betroffenen oft so stark sind, dass Suizid als ein Ausweg aufscheint. Und Suizid ist ein Ausweg. Ich weiß von psychisch erkrankten Menschen, die mir gesagt haben, der Gedanke, Suizid zu begehen, habe für sie etwas Tröstliches als letztes Mittel gegen die Schleifen und die Ausweglosigkeit der Erkrankung. Diese Option sei da und es sei gut, um sie zu wissen. Sie sich klarzumachen, helfe ihnen, weiterzuleben.

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Für Angehörige ist Suizid eine besonders schwere und nicht selten traumatisierende Art des Todes. Trauerbegleitung hat hier eine wichtige Aufgabe als Gegenüber und Halt, auch weil Schuldgedanken und Schuldgefühle bei Angehörigen von Menschen, die Suizid begangen haben, besonders stark und belastend sind. Der Suizid wird zum Beispiel als Botschaft verstanden, auf die man nicht mehr antworten kann, oder die Gedanken kreisen um mögliches Fehlverhalten, das den Suizid mitverursacht haben könnte. Edukation und Information sind für Angehörige wichtig. Es kann sehr entlastend sein, gemeinsam nach Risikofaktoren für den Suizid zu suchen, im Fall einer psychischen Erkrankung auch die Deutung von Suizid als Befreiung und Autonomie anzusprechen, sodass sich das Spektrum möglicher Ursachen von der Fixierung auf schuldhaftes Verhalten der Trauernden löst. Schuldgedanken und Schuldgefühle sollte man Trauernden nicht ausreden oder widerlegen wollen, weil sie die Funktion einer Erklärung von etwas unerklärlich Scheinendem haben und Trauernden Halt und das Gefühl geben, das Leben, das aus den Fugen geraten ist, irgendwie noch in der Hand zu haben. Aber man kann in der Trauerbegleitung andere Gedanken zu den Schuldgedanken und -gefühlen von Trauernden dazustellen oder mit den Trauernden gemeinsam suchen. Zwei Hinweise von Chris Paul finde ich besonders wichtig: dass der Suizid für den Suizidenten Sinn macht (2018, S. 230) und dass der Suizident seine Tat in der Regel für sich selbst begeht und nicht, um anderen etwas anzutun (S. 231). In der Trauerbegleitung muss dies nicht unbedingt explizit ausgesprochen werden – wenn Trauernde es noch nicht hören wollen oder können –, es reicht manchmal, wenn der Begleiter oder die Begleiterin das Wissen darum in sich trägt und mit in die Begleitung nimmt. Es wirkt auch unausgesprochen einordnend und tröstend.

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Trauernde bei Suizid zeigen manchmal unangemessen scheinende Reaktionen, die sie selbst als solche auch registrieren, wodurch eine zusätzliche Scham entsteht, die den Kontakt erschweren kann. Eine Frau, deren Mann an schweren Depressionen litt und Suizid begangen hat, ruft mich an und sagt lachend, als ich sie frage, wie es ihr gehe: »Mein Mann hat sich aufgehängt.« Sie spricht nur kurz weiter und legt dann auf. Als ich sie zu Hause besuche, ist sie abweisend und will mich an der Tür abwimmeln. Ich sage: »Ich würde gerne nach Ihnen sehen.« Sie lässt mich ins Haus und wir kommen ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass sie sich schämt, weil sie am Telefon gelacht hat. Sie ist von dem Geschehen völlig überfordert. Sie hat ihren Mann im Keller gefunden. Sie macht sich Vorwürfe, sie habe nicht gut genug auf ihn aufgepasst, gleichzeitig spürt sie Erleichterung, die sie sich verbietet. Das Lachen kehrt öfter wieder, wenn sie vom Suizid ihres Mannes spricht, dann registriert die Frau ihr Lachen und fällt in Weinen. Eine Zeit lang kann sie nicht mehr in den Keller gehen. Ich begleite sie auf dem Weg zum Keller, stelle mich mit ihr auf die erste Treppenstufe, dann muss die Frau wieder umkehren. Es steht die Überlegung im Raum, ob sie aus dem Haus ausziehen müsse. Irgendwann sagt die Frau bei der Begrüßung zu mir: »Ich war diese Woche allein im Keller!«

Für Trauernde bei Suizid sind Trauergruppen bedeutsam. Hier treffen sie auf Menschen, die Ähnliches erlebt haben, sie erfahren, wie andere mit dem Verlust umgehen, und sie finden einen Raum, indem sie selbst auf Verständnis mit eigenen Erfahrungen stoßen. Gesellschaftlich ist die Empathie mit Suizidenten größer als mit denen, die um sie trauern. Trauerbegleitung und Trauer­ gruppen öffnen den Raum, Gefühle wie Ärger, Zorn und Wut auf den Suizidenten, Enttäuschung über ihn oder Ablehnung von Suizid überhaupt auszusprechen, und sind deshalb unersetzbar.

Interventionen   109

Interventionen

Im Folgenden nenne ich einige Interventionen, die in der Begegnung mit trauernden Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und ihren Angehörigen möglich sind. Sie sind keine Werkzeuge und können nicht als solche dienen, weil jede Begegnung einzigartig ist und nicht schematisiert werden kann. Die Interventionen sollen als Anregungen für Begleitende dienen, ihnen Handlungsspielräume eröffnen und ihre eigene Phantasie für sensible, passende Interventionen anregen. Chaos erlauben und versuchen zu »halten«: Die chaotische, überwältigende Befindlichkeit einer trauernden Person benennen und sie ihr erlauben, sie nicht als unmöglich oder falsch stehen lassen, sondern sie anerkennen und ihr die Erlaubnis geben, zu sein. Wie hilfreich es ist, der Situation, den Gefühlen, dem Befinden, den Gedanken des Gegenübers die Erlaubnis zu geben, zu sein, ist in vielen Vignetten dieses Buches erkennbar, weil es zugleich die Erlaubnis bedeutet, dass der Betroffene aufhören darf, dagegen anzukämpfen (etwa Vignette S. 13: Forensik-­ Patient, der seinen Freund getötet hat). Wahn akzeptieren und sich selbst abgrenzen: Gegen den Wahn nicht argumentieren und sich nicht in den Wahn einbauen lassen oder anders gesagt: nicht gegen den Wahn kämpfen und nicht innerhalb der Logik des Wahns agieren (zum Beispiel indem der Trauerbegleiter oder die Trauerbegleiterin Dinge tut, die der Wahn des Betroffenen verlangt: »Sie müssen sich nach jedem Satz, den Sie sagen, die Hände waschen.« – »Nein, das ist für mich nicht nötig. Meine Hände sind sauber.«). Der Betroffene ist in seiner Wirklichkeit, der Begleiter aber beharrt darauf, in seiner eigenen Wirklichkeit zu bleiben (Vignette S. 54: Spaziergang mit einem Patienten mit Zwangsstörung).

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Der Verschmelzung der Angehörigen deren Eigenständigkeit gegenüberstellen: Gegenüber Angehörigen immer wieder betonen, dass sie ein eigenes Leben haben und dies nicht für ihre kranken Angehörigen aufgeben dürfen, auch im Sinne der Betroffenen nicht (Vignette S. 13: Vater einer psychotischen Tochter). Schuldgefühle aufgrund realer Schuld und Schuldgefühle ohne reale Schuld unterscheiden: Gegenüber Angehörigen, die Schuld­gefühle haben: Liegt ihren Schuldgefühlen reale Schuld zugrunde oder dienen die Schuldgefühle dem Zweck der Bindung an etwas oder jemanden, den sie nicht loslassen wollen, oder dazu, etwas zuzudecken, was nicht aufkommen darf? Dienen die Schuld­gefühle einem sekundären Zweck, ist darauf im Gespräch behutsam der Blick zu richten (Vignette S. 14: Ehemann einer an Depression erkrankten Frau). Liegt Schuldgefühlen reale Schuld zugrunde, ist das Angebot eines Vergebungsrituals sinnvoll. Man kann das Ritual gemeinsam mit Trauernden besprechen. Generationen differenzieren und eigenständig betrachten: Die Kinder von Betroffenen und Angehörigen im Blick behalten, weil sie oft ganz aus dem Blick geraten. Auch für Kinder ist Psycho­ edukation wichtig, wichtiger noch sind Bezugspersonen, die sie sehen und ihnen Raum geben. Man kann direkt fragen, ob Trauernde Kinder haben und wer sich um sie kümmert. Ein Hinweis auf Kinderhospizdienste ist oft hilfreich für die Kinder und entlastend für ihre trauernden Bezugspersonen. Gefühle differenzieren und formulieren helfen: Gegenüber Angehörigen ist es wichtig, sie nach ihren Gefühlen zu fragen und sie zu ermutigen, ihre Gefühle der betroffenen trauernden Person mitzuteilen. So kommen sie aus der Helferrolle und zeigen zugleich, dass sie den oder die Betroffene ernst nehmen (Vignette S. 108: Ehefrau des an Depression erkrankten Mannes).

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Durch Aktivitäten die Verhaftung in Traurigkeit, Lähmung oder Gleichgültigkeit unterbrechen: Zur Aktivität, zu einer Unternehmung, zum Tun ermutigen und dies, falls möglich, gemeinsam mit dem oder der Betroffenen tun. Die Aktivität hat ihren Sinn in sich, sie muss zu nichts führen, keinen anderen Zweck haben (Vignette S. 29: Spaziergang mit einer Patientin im Klinikpark; Vignette S. 94: Ermutigung, spazieren zu gehen). Zu alltäglichen Vorgängen und Dingen anregen und einladen, etwa gemeinsam essen, gemeinsam spielen, gemeinsam Musik hören, gemeinsam einen Text lesen. Aus dem Kokon der Beeinträchtigung heraus in alternative Räume verhelfen: Andere Wirklichkeiten ins Gespräch einbeziehen. Ge­ meinsam spazieren zu gehen öffnet beispielsweise die Zweier­ beziehung, die Natur wird Teil der Begegnung, der Wind, die Luft, die Farben, Tiere, Blumen, Gras usw. Die eigenen Gefühle achten, sie vom Trauernden differenzieren: Auf die eigenen Gefühle achten, sie deuten und – wenn es in der Begegnung möglich ist – sie ansprechen (Vignette S. 42: forensischer Patient in der Klinikkapelle). Rituale entwickeln: Für anstehende Übergänge gemeinsam ein Ritual suchen oder ein Ritual anbieten (Vignette S. 47: Planetarium). Wissen anbieten: Psychoedukation und Traueredukation ist oft sehr hilfreich und wirksam (Vignette S. 80: junge Frau, die um ihre Mutter trauert). Es hilft den Betroffenen, ihre Erfahrungen einzuordnen und nicht als sonderbare und vereinsamende Erfahrungen stehen lassen zu müssen (zum Beispiel: Schizophrenie ist heilbar. Neuroleptika können helfen. Psychoseerfahrungen haben für Betroffene auch positive Dimensionen. Ungewöhnliche Erfahrungen in der Trauer sind normal).

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Ausdrucksvielfalt anbieten: Zum Gestalten von Erfahrungen einladen, etwa Malen, Schreiben, bildhauerisches Gestalten. Biografische Verortung anbieten: Nach Todesfällen in der Lebensgeschichte von Betroffenen fragen, überhaupt nach starken Verlusterfahrungen. Manchmal kommt es zu regelrechten Aha-­ Erlebnissen. Manchmal entsteht so ein Motiv, an dem es sich für Betroffene lohnt, länger zu arbeiten (Vignetten S. 75 f.: Enkel der sterbenden Großmutter; Frau, die regelmäßig zu einer bestimmten Zeit im Jahr einen Depressionsschub bekommt). Raum anbieten für Emotionen, indem Begleitende eigene Ängste vor Emotionen beherrschen: Begleitende können einen Raum für Emotionen und ihren Ausdruck geben. Sie tun dies vor allem damit, dass sie keine Angst vor Emotionen und ihrem Ausdruck haben oder sich die eigene Angst bewusst machen und kontrollieren (Vignette S. 78 f.: junger Mann mit Hass auf seine Mutter). Angstbesetzte Aktivitäten begleiten: Konkrete Vorschläge machen und Begleitung anbieten (Vignette S. 86 f.: Vorschlag an die an Depression erkrankte Frau, sie zum Bestatter zu begleiten, wo der Leichnam ihres Mannes aufgebahrt ist). Zufällige Gefühlsäußerungen spiegeln: Auf die Mimik und Gesten von Betroffenen achten und sie, falls es passt, auf Veränderungen hinweisen (Vignette S. 92: Alte Frau, die bei der Begegnung mit ihrem Enkel lächelt). Imaginationen anbieten: Dabei ist es sinnvoll, Betroffenen genau zu erklären, was gemacht wird, und ihre Zustimmung zu erfragen, sodass sie nicht überwältigt oder zum Objekt gemacht werden (Vignette S. 99 f.: Suchtkranke Frau, die ihr Kind verloren hat).

Interventionen   113

Suizidalität angstfrei aufnehmen und benennen: Gedanken an Suizid erlauben, sie nicht tabuisieren (Vignette S. 100: Bemerkung zu der Frau, die ihren Mann durch eine Krebserkrankung verloren hat). Sich nicht abschrecken lassen: Aktiv auf Betroffene zugehen, sich von Seltsamkeiten und vorgeblicher »Unfreundlichkeit« nicht abschrecken lassen (Vignette S. 108: Frau, deren Mann Suizid begangen hat). Zu Expositionen einladen: Expositionen sind, wenn sie sensibel vorbereitet werden, meist sehr wirksam (Vignette S. 108: Frau, deren Mann Suizid begangen hat). Religiöse Interventionen: etwa zum Gebet einladen, eine biblische Geschichte erzählen, zum Abendmahl einladen. Auch hier ist Sensibilität unerlässlich: Passt das Angebot in die Situationen oder dient es eher dazu, die eigene Ohnmacht oder Hilflosigkeit zu überdecken? (Vignette S. 128 f.: Frau, die sich von Dämonen besetzt wähnt). Spirituelle Erfahrungen würdigen und deuten: Spirituelle Erfahrungen, die Menschen in einer Krankheitsphase machen, ernst nehmen und sie als spirituelle Erfahrungen deuten (Vignette S. 135 f.: Mann, der in einem Luftstrom zu Gott gezogen wird).

6 Trauer, die psychotherapeutische Hilfe braucht

Trauer braucht in der Regel keinen psychologischen Beistand, weil sie die normale, angemessene, sinnvolle und heilsame Reaktion auf Verlust ist. Sie ist das Erleben und Verhalten, mit dem Menschen auf Verlust reagieren, den Verlust überleben, erleben und leben und eine neue, meist innigere, tiefere Beziehung zum Leben und zu sich selbst finden. Trauer ist eine wandelnde Kraft. Sie wandelt die Unerträglichkeit des Verlustes in ein Lebensmotiv, das der Trauernde tragen kann (und das auch ihn trägt). Sie wandelt die Sinnlosigkeit des Verlustes in die Offenheit für einen anderen, neuen Sinn im Leben. Sie wandelt die Einsamkeit des Verlustes in eine neue (oft tiefere) Verbundenheit mit der Welt und mit Gott. Trauer ist die Kraft im Menschen, die ihm nach dem Verlust eines wichtigen Feldes, Bereichs oder einer wichtigen Fähigkeit in seinem Leben oder nach dem Verlust eines nahen Anderen seinen Weg zu gehen hilft. Trauer als wandelnde Kraft zeigt sich in jedem Menschen, der einen Verlust erleidet, anders. Trauer korreliert meist mit dem Verlust. Ist der Verlust schwer, ist meist auch die Trauer schwer, sie bleibt aber die einzige Art und Weise, auf die der Verlust ins eigene Leben integriert wird. Es gibt keine Alternative zur Trauer. Trauer ist die Kraft, die das eigene Leben in eine Relation zum Verlust stellt und den Verlust als ein Motiv des Lebens ins eigene Leben einordnet. Normalerweise findet die Begleitung beziehungsweise Beratung, die Trauernde brauchen, im sozialen Feld statt, in dem sie

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leben, in der Familie, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis. Menschen trauern, und andere sind da und lassen sie in ihrer Gesellschaft oder Gemeinschaft trauern. Trauer braucht in der Regel keine fachliche, bezahlte Begleitung oder Beratung. Trauer kann aber auch so verlaufen oder solche Bedingungen haben, dass fachliche Begleitung hilfreich ist, etwa wenn der Verlust unter besonders belastenden Umständen eintritt, wenn Menschen ein schmales soziales Netz haben, wenn sie aufgrund ihrer frühkindlich erlernten Bindungsfähigkeit schlechte Voraussetzungen für den Umgang mit Verlust haben, wenn der Selbstwert von Trauernden gering ist, wenn sie psychische oder körperliche Erkrankungen haben oder wenn Irritationen und Verunsicherungen über Trauersymptome auftreten. Dann ist Trauerbegleitung sinnvoll, weil sie sich mit Trauer auskennt, Trauerphänomene einordnen, Handlungsspielräume aufzeigen, überhaupt einen Raum bieten kann, in dem Trauer eine explizite Zuwendung durch Begleitung und Rat bekommt. Solche Trauerbegleitung kann in Gestalt von Seelsorge oder als explizite Trauerbegleitung nach den Qualitätskriterien des Bundesverbands Trauerbegleitung stattfinden. Darüber hinaus wird in der Literatur von einer Trauer gesprochen, die psychotherapeutischen Beistand braucht, also als Störung oder Krankheit verstanden und in der ICD-11 unter der Bezeichnung »Anhaltende Trauerstörung« aufgenommen wird. Es gibt verschiedene Begriffe, die in der Literatur verwendet werden: etwa komplizierte Trauer, pathologische Trauer, traumatische Trauer, prolongierte Trauer, gestörte Trauer, chronische Trauer, verzögerte Trauer, unterdrückte Trauer, anhaltende Trauerstörung. Die entscheidende Differenz zu allen anderen Arten der Trauer ist die Diagnose und die Einordnung von Trauer in eine Klassifikation von Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Mit der anhaltenden Trauerstörung wird Trauer als Störung zur Diagnose. Bisher ist die Behandlung von

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erschwerten psychischen Erfahrungen, die mit Trauer verbunden sind, in der ICD-10 unter dem Punkt »Anpassungsstörung« und den Z-Kodes möglich. Mit der ICD-11 bekommt Trauer eine eigene Listung. Das bedeutet, dass schwere und auffällige psychische Phänomene wie Trauerschmerz, tiefe Verzweiflung, Verlust der Teilhabe am Leben, Intrusionen, Schlafstörungen oder Gefühle von Leere ursächlich der Trauer zugerechnet werden – nicht als Erfahrungen, die Teil von Trauer sind (aber nicht sein müssen), sondern als Krankheitswert, als Störungsbeschreibung. In diesem Sinn ist Trauer ein Syndrombereich, der psychotherapeutische Hilfe indiziert. Nicht eine die Trauer begleitende Affektstörung oder eine die Trauer begleitende Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung bewirken die Phänomene, sondern die Trauer selbst. Als Kriterien für die Diagnose einer anhaltenden Trauerstörung gelten (Paul, 2017a, S. 95; Münch, 2020, S. 37): • anhaltende Sehnsucht nach der verstorbenen Person; • anhaltende Beschäftigung mit ihr; • anhaltender starker emotionaler Schmerz; • anhaltende Schwierigkeiten, den Verlust anzunehmen; • starke Beeinträchtigung im Identitätsgefühl und Selbstkonzept von Trauernden; • Vermeidung von Erinnerungsanlässen; • Maßnahmen des Gesundheitswesens wie Psychotherapie zu Affektstörung und Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen sowie Medikation helfen kaum oder gar nicht; • die Trauer bewegt sich außerhalb der soziokulturellen Normen des gesellschaftlichen Kontextes, in dem Trauernde leben; • die Symptome dauern über einen Zeitraum von sechs Monaten an; • die Therapie mit der Diagnose »anhaltende Trauerstörung« hilft spürbar (spürbare Wirksamkeit).

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Die Schwierigkeit der Definition der anhaltenden Trauerstörung betrifft die Allgemeinheit der Symptome, die auch in einem normalen Trauerverlauf auftreten können, sodass der Störungswert nur durch das Zusammenwirken der Symptome, ihre Intensität und ihre Dauer bestimmt werden kann. Umstritten bleibt die Festlegung der Dauer (Symptome müssen länger als sechs Monate andauern), weil auch eine Trauer, die nicht als anhaltende Trauerstörung einzuschätzen ist, in der Regel länger als sechs Monate andauert. Als schwierig zeigt sich auch die Differenzialdiagnostik zu Trauer, in der auch Affektstörungen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen und Abhängigkeitserkrankungen auftreten. Hier spielen Gewichtungen eine große Rolle, zum Beispiel der Bezug der Störung zum Motiv des Verlustes durch Tod. Urs Münch nennt das Konzept der »intolerance of uncertainty«, in der die Angst vor unvorhersehbaren Ereignissen besonders bei der anhaltenden Trauerstörung zu beobachten sei (2020, S. 43), oder die Netzwerkanalyse, in der die Gewichtung in der Vernetzung von Symptomen betrachtet wird. Hier zeige sich, dass bei der anhaltenden Trauerstörung die Sehnsucht nach der verstorbenen Person, emotionaler Schmerz und Gefühle von Sinnlosigkeit, Schock und Betäubung im Vordergrund stünden (S. 45). Zur Diagnostik wird auch die Arbeit mit dem Erhebungsbogen für anhaltende Trauer (PG13+9) als hilfreich angesehen.18 Die Bestimmung der Diagnose bleibt unklar und liegt letzten Endes beim Psychotherapeuten oder bei der Psychotherapeutin und zeigt sich in der Wirksamkeit der Behandlung. Als Therapieformen werden in der Literatur als besonders wirksam genannt: die Kognitive Verhaltenstherapie für Trauernde (mit Expositionsverfahren – Konfrontation in der Realität oder in Gedanken mit dem Verlust), die Metakognitive 18 https://endoflife.weill.cornell.edu/sites/default/files/file_uploads/pg139_ gesamt.pdf (19.05.2021).

118    Trauer, die psychotherapeutische Hilfe braucht

Gruppen­therapie (Aufmerksamkeit, Grübeln), die Akzeptanzund Commitment-Therapie (Münch, 2020, S. 66 ff.), LeereStuhl-­Technik (Wagner, 2013, S. 109), kognitive Verfahren (Wagner, 2013, S. 123 ff.). Es ist eine Dominanz verhaltenstherapeutischer und kognitiver Verfahren erkennbar. Roland Kachler (2021) entwickelt für Menschen, die von traumatischen Verlusten betroffen sind und an einer Komplizierten Trauma-Trauer-­ Folge-Störung leiden, eine eigene hypnosystemische Therapieform. Die Diagnose anhaltende Trauerstörung wurde unter wechselnden Bezeichnungen viele Jahre in Fachkreisen diskutiert und wird nun in die ICD-11 eingeführt. Für die neue Diagnose spricht vor allem, dass für Trauernde, die psychotherapeutische Hilfe brauchen, ein eigener Weg ins Gesundheitswesen eröffnet wird mit der Hoffnung, das eigene Leiden schneller mindern und die Entwicklung chronischer Trauer verhindern zu können. Wenn sich diese Hoffnung bestätigt, wäre das eine wirksame Minderung der Not der betroffenen Menschen und ein großer Gewinn für sie. Sie haben die Möglichkeit, eine von der Versicherungsleistung getragene Hilfe bei schwerer Trauer zu bekommen. Die Gefahr falscher Diagnosen bei Trauer kann durch die eigenständige Diagnose reduziert werden (zum Beispiel wenn ein trauernder Mensch wegen scheinbarer Depressionen mit Psychopharmaka behandelt wird); eine richtige Diagnose empfinden von psychischem Leiden betroffene Menschen nicht selten als Erleichterung (»endlich habe ich einen Namen für mein Leiden«). Die Forschung bekommt durch die eigenständige Diagnose einen Schub, weil die behandelnde Psychotherapie sich auf dem Feld von Trauer weiterqualifizieren muss. Gegen die Diagnose anhaltende Trauerstörung spricht vor allem der geringe Zeitraum von sechs Monaten des Andauerns von Symptomen, weil Trauer um nahe Menschen in der Regel mehr als sechs Monate andauert und die Symptomatik, die die

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anhaltende Trauerstörung beschreibt, auch bei einem normalen Trauerverlauf auftreten kann. Viele Trauernde kennen Intrusionen, depressive Verstimmungen, tägliche Sehnsucht nach dem verstorbenen Menschen, tiefen Schmerz, ohne dass sie an einer anhaltenden Trauerstörung leiden. Der geringe Zeitraum von sechs Monaten passt in den Modus von Schnelligkeit, Agilität, Fluidität, der das Leben in den westlichen Gesellschaften prägt. Tod und Trauer sind jedoch per se eine Unterbrechung und Störung im Ablauf des Lebens. Sie nehmen sich Zeit und sie fordern Zeit ein. Zugleich erhält der Zeitraum von sechs Monaten eine große Bedeutung für die Diagnose, weil er ein entscheidendes Kriterium für die Differenzialdiagnostik zu Affektstörungen und Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen bei trauernden Menschen ist. Angesichts der Schwierigkeiten der Differenzialdiagnostik bleibt die Gefahr einer Fehlbehandlung bestehen. Ich sehe auch die Gefahr von Stigmatisierung und Patho­ logisierung und Normierung, die die Diagnose anhaltende Trauerstörung mit sich bringt. Psychische Erkrankungen werden unterschiedlich bewertet und haben ein unterschiedliches Stigmatisierungspotenzial. Gesellschaftlich ist eine anhaltende Trauerstörung vermutlich weniger stigmatisiert als eine Depressionserkrankung, und es ist für Betroffene leichter, sich zu einer anhaltenden Trauerstörung zu bekennen als zu einer Depression. Mit Pathologisierung meine ich, dass Betroffene sich von der Eigendynamik der Diagnose beeinflussen lassen und Therapie suchen, obgleich sie aufgrund ihrer Resilienz die Diagnose und Therapie gar nicht brauchen. Wie trauernde Menschen in ihrem Umfeld häufig gesagt bekommen, sie hätten eine Depression, und versucht sind, die Zuschreibung anzunehmen (weil es so oft gesagt wird, weil eine Diagnose auch etwas Erleichterndes hat), so kann dies auch mit der anhaltenden Trauerstörung geschehen, denn die Diagnose wird bekannt und auch von Nichtfachleuten

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benutzt werden. Die Diagnose hat mit ihrem Angebot von Hilfe eine Kraft der Versuchung, sie zu akzeptieren, weil Trauer oft sehr belastend ist und eine psychotherapeutische Behandlung Erleichterung und Besserung verspricht. Auch wird mit der anhaltenden Trauerstörung eine Norm von Trauer vorausgesetzt, von der die Abweichung so groß sein kann, dass sie als anhaltende Trauerstörung diagnostiziert wird. Es gibt aber keine Norm für Trauer. Insofern wird Trauer impliziert normiert, ohne dass die Kriterien für die Norm der Trauer klar sind (und klar sein können). Die Norm entsteht unter der Hand durch die Beschreibung der Abweichung von einer fiktiven Norm, und damit geschieht eine reale Normierung von Trauer. Die Vorstellung und Beschreibung einer Abweichung normiert die Grundlage, von der abgewichen wird, nicht umgekehrt. Dies berührt das Trauerverständnis, das nicht nur normative Motive und Elemente erheben müsste, die zu jeder Trauer gehören, sondern auch ein Maß für deren Intensität bestimmen müsste. Das wiederum würde das Verständnis von Trauer als individuellem Geschehen berühren.

7 Spiritualität und Kunst

Spiritualität

Spiritualität ist ein schillernder Begriff. Etymologisch kommt das Wort vom lateinischen spirare, was »wehen, hauchen, blasen, brausen, atmen, leben« bedeutet, und so wird schon in der Wurzel des Wortes deutlich, dass es bei Spiritualität um etwas Bewegliches geht, etwas, das schwer zu bestimmen ist, etwas Luftiges, Ungreifbares, Unbestimmtes, aber doch Da-Seiendes, Wirkendes, Wichtiges und Bestimmendes. Während Esoterik nur Eingeweihten zugänglich ist und Glaube sich eher auf verfasste Religionen und verfasste Inhalte von Lehre und Verkündigung bezieht, hat Spiritualität keine Zugangsvoraussetzungen und ist auch inhaltlich frei und unbestimmt. Das, was grundsätzlich und unabdingbar zur Spiritualität gehört, ist der Bezug zu etwas, was das sichtbare Leben und die nennbare Erfahrung überschreitet. Wie der Bezug erlebt, erfahren und gestaltet wird, ist offen, an keine Norm und keinen Ausdruck gebunden. »Spiritualität ist, was der Patient dafür hält«, so definiert Traugott Roser Spiritualität (2021). Spiritualität bedeutet, dass Menschen in ihrem materiellen Sein und den Funktionen, die sie wahrnehmen, nicht aufgehen. Menschen sind auf der Suche nach Sinn und finden Sinn. Sie sind aufmerksam gegenüber der Natur, ihrer Umwelt, sich selbst, Gott. Sie vergessen sich selbst. Sie werden eins mit sich selbst. Sie werden eins mit der Natur. Sie werden eins mit Gott. Sie deuten ihr Leben. Sie ordnen ihr Leben in einen größeren

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Zusammenhang ein. Sie sind kreativ, nicht um zu gefallen oder Erfolg zu haben, sondern aus innerem Ruf, aus Freude an Kreativität. Sie machen Dinge, die den normalen Ablauf der Dinge stören. Irgendwie sind sie durchdrungen von etwas Größerem oder suchen nach etwas Größerem als sich selbst und als die Funktionen, die sie erfüllen müssen. Sie suchen nach Verbindung zur Transzendenz. All das gehört zur Spiritualität, ist spirituell. Glaube ist eine geformte Art der Spiritualität. Glaube bezieht sich auf Religion und ihre Verfasstheit mit Heiligen Schriften, Gotteshäusern, Lehrinhalten, Riten, Funktionären. Spiritualität umfasst Glaube, ist aber ein weiteres Feld als Glaube, weniger definiert und weniger gebunden (an vorgegebene Sprache, Bilder, Bekenntnisse, Bücher, Ämter etc.).

Spiritualität und Trauer

Spiritualität ist in der Trauer eine wichtige Ressource, Orientierung und Halt. In der Trauer ist von den vielen wichtigen Aspekten der Spiritualität das Einordnen von besonderer Bedeutung, weil es in diesem Erlebensbereich um die Frage von Sinn geht. Spiritualität hilft Trauernden, dem Verlust im eigenen Leben einen Ort zu geben und das eigene Sinnkonzept so weit zu verändern, dass ein Leben, das nicht ausschließlich um den Verlust kreist, möglich ist. Die Deutung ihrer Welt und der Welt überhaupt hat sich erweitert um die Erfahrung des Verlustes. Ihr Glaube, ihr Gottesbild hat sich verändert, sodass es den Verlust integrieren kann, oder ihr Glaube hat sich aufgelöst, weil er den Verlust nicht integrieren konnte. Im Einordnen wirkt Spiritualität über Kognition und über Gefühl. Kognition verändert bestehende Überzeugungen und lässt neue Gedanken entstehen, die die Veränderung ins eigene Weltbild aufnehmen. Das Verändern durch kognitive Prozesse findet in Gesprächen statt, in

Spiritualität und Trauer   123

der Begegnung mit anderen, im eigenen Denken, Lesen, Schreiben, im Sicheinlassen auf die neue, vom Verlust geprägte Weltund Gotteserfahrung. Deshalb ist die kognitive Dimension von Spiritualität von großer Bedeutung. Sie bedeutet gedankliches Arbeiten, sich gedanklich auf Fragestellungen einlassen, die der Verlust aufwirft, das eigene Sinnkonzept auf seine Tragfähigkeit zu prüfen und, sollte es sich als nicht tragfähig erweisen, zu erweitern oder zu ergänzen oder ganz zu verwerfen und sich für das Entstehen eines neuen Sinnkonzepts zu öffnen. Auch etwas nicht zu verstehen und mit dem Nichtverstehen weiterzuleben, ist Einordnen. Auch Gedanken nicht mehr verändern zu wollen, sondern sie in ihrem Vorhandensein zu akzeptieren, ist Einordnen. Eine ebenso wichtige Dimension von Spiritualität wie die kognitive betrifft das Sinnliche, das Empfinden. Musik, Schreiben, Malen, Wandern, Meditieren, Beten, Summen, Singen, Atmen, Entspannen, Reisen, Träumen gehören hierher. Spiritualität als Empfindung und Gefühl bezieht sich auf das Verbundensein, das das Leben von Menschen prägt und ohne das sie nicht leben können. Verbundensein mit Gott. Verbundensein mit der Erde. Verbundensein mit anderen Menschen. Verbundensein mit Verstorbenen. Verbundensein mit der Vergangenheit. Verbundensein mit sich selbst. Verbundensein schafft Vertrauen, wobei das Vertrauen nicht reflektiert, nicht in Gedanken und Worten formuliert sein muss. Es wohnt im Körper, im Da-Sein. Die gewaltige Kraft des Todes reißt nicht nur den Verstorbenen mit sich, sie kann auch Trauernde mit sich reißen und den Sinn, den sie im Leben empfinden. Spiritualität wirkt hier als Gegenkraft. Auch wenn der Tod am Trauernden reißt, wirkt Spiritualität als eine Kraft und ein Gefühl, etwas Größerem zugeordnet und in etwas Größeres eingeordnet zu sein. Sie wirkt auch unter der Übermacht des Gefühls ihrer Widerlegung. Solange ein Mensch atmet und sich dessen bewusst ist, ist er

124    Spiritualität und Kunst

spirituell und umgibt und trägt ihn Spiritualität. So könnte ich paradox und spirituell sagen: Auch wenn ein Mensch das Vertrauen verliert, verharrt das Vertrauen in ihm gegen den Verlust des Vertrauens. Im 3.  Kapitel »Trauer als wandelnde Kraft« habe ich von der Begegnung mit einer Frau erzählt, die um ihren Mann trauert und in eine Depression gefallen ist (S. 29). Beim gemeinsamen Spazierengehen erreichte sie irgendetwas Tröstliches aus der Natur, der Bewegung, dem gemeinsamen Schweigen, irgendein Selbstvergessen ereilte sie und holte sie aus der extremen Fixierung auf den Verlust ihres Mannes. Bei der nächsten Begegnung erzählt mir die Frau, dass sich ihre Depression nicht bessere und sie überhaupt keine Hoffnung mehr habe. Sie werde sich selbst aus der Klinik entlassen. Ich frage sie, ob wir noch einmal ein paar Minuten spazieren gehen, und sie willigt ein. Wir laufen schweigend nebeneinander her. Ich überlege, ob ich sprechen soll, aber ich habe das Gefühl, ich kann nur Worte sagen, die sich in der Leere, die die Frau empfindet, verlieren. Deshalb bin ich ruhig. Irgendwann sagt die Frau, mehr vor sich hin als zu mir: »Ich glaube, dass mein Mann bei Gott ist, und das tröstet mich. Ich glaube nicht ans Wiedersehen. Aber dass wir beide irgendwann in Gott eins werden. Das hält mich noch am Leben.«

Die Aussage des Vertrauens brauchte lange Zeit, und sie hob die Gefühle von Niedergeschlagenheit und Untröstlichkeit der Frau nicht auf. Aber sie gesellte sich zu ihnen, und so zeigten sich Brüche in der Versteinerung der Frau; auf das Eis der Depression fiel ein Tropfen Wärme, und zwar nicht als Trost von außen, sondern als Wärme von innen, als Zeichen und Wirkung der Spiritualität dieser Frau. Ein Rest von Verbundenheit und Vertrauen war in ihr und er kam in diesem Moment durch die Depression und die Bitterkeit hindurch.

Spiritualität und psychische Erkrankungen   125

Spiritualität hat auch für An- und Zugehörige und Begleitende eine wichtige Bedeutung. Sie ordnet sie ein in den größeren Zusammenhang des Lebens, zu dem auch das eigene Vergehen und Sterben gehört. Sie hindert sie an Überhebung der eigenen Person und an Dominanzansprüchen auf das eigene Wirken.

Spiritualität und psychische Erkrankungen

Menschen mit psychischen Erkrankungen leben auf der Grenze oder sie haben eine Grenze überschritten und leben jenseits der Grenze, während die, die als gesund gerechnet werden, diesseits der Grenze leben. An Schizophrenie leidende Menschen überschreiten die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Einbildung. An Affektstörungen leidende Menschen überschreiten die Grenzen zwischen dem Gleichgewicht der Gefühle und dem Vorherrschen eines einzigen Gefühls. An Persönlichkeitsstörungen leidende Menschen überschreiten die Grenzen zwischen der Balance verschiedener Verhaltensmotive und dem Übergewicht eines isolierten Verhaltens. Suchtkranke Menschen überschreiten die Grenzen zwischen der Sehnsucht nach dem Rausch als einer Unterbrechung und der Sehnsucht nach Rausch als Sein und Sein als Rausch. Das Überschreiten der Grenzen ist das, was sie mit Spiritualität verbindet, denn auch zur Spiritualität gehört als Wesen das Überschreiten von Grenzen (Grenzen zur Transzendenz, Grenzen zum Unnennbaren, Grenzen zum Namenlosen, Grenzen zum Geheimnis). So besteht eine reizvolle Affinität von psychisch kranken Menschen zur Spiritualität, und möglicherweise gilt dies auch umgekehrt. Die Erkrankung zeigt sich, wenn es um Spiritualität geht, als Begabung. Wenn Patienten und Patientinnen mir von ihren Psychoseerfahrungen erzählen, spüre ich manchmal eine große spirituelle Kraft, sie wirken wie Berufungen auf mich,

126    Spiritualität und Kunst

als begegne ihnen Gott in diesen Erfahrungen. Die Erfahrungen passen nur nicht in die Welt, wie sie von den scheinbar Gesunden definiert wird, deshalb finden sie keine Würdigung und können – leider! – nicht sozial und für die Gemeinschaft nützlich werden. Als Geschehen selbst, als Repräsentanz des Göttlichen, als Transzendenzerfahrung, als Stellvertretung für die, die zu solchen Erfahrungen nicht fähig sind, aber machen sie für sich schon Sinn. Negatives Wirken von Spiritualität

Vereinzelung, soziale Isolierung, Leben am Rand der Gesellschaft und Heimatlosigkeit in den größeren religiösen Gemeinschaften lassen psychisch kranke Menschen oft den Weg in kleinere Gemeinschaften im freikirchlichen und freireligiösen Bereich finden. Hier haben sie für eine Weile das Gefühl, angenommen und akzeptiert zu sein, und das gesetzliche Verständnis von Glauben gibt ihnen Halt. Nach einiger Zeit erheben diese Gemeinschaften oft Ansprüche, die die Lebensweise und die Art zu glauben betreffen, sie fordern mehr Engagement in der Gemeinschaft, mehr Bindung, mehr Selbstaufgabe für die Gemeinschaft. Die Gesetzlichkeit kann denen, die Halt suchen, zu stark werden, und es kann ein Entfremdungsprozess einsetzen, der meist mit der Trennung von der Gemeinschaft endet. Durch Ablehnung und Angriffe von Mitgliedern der Gemeinschaften können bei psychisch erkrankten Menschen neue Krankheitserfahrungen ausgelöst werden. Es ist möglich, dass irgendwann in einer anderen kleinen religiösen Gemeinschaft wiederum Halt und Geborgenheit erfahren wird, bis wieder die Entfremdung beginnt. Ich kenne psychisch erkrankte Menschen, die mit langen Pausen jahrzehntelang durch kleinere religiöse Gemeinschaften gewandert sind, weil sie in den großen Gemeinschaften, die ein anderes Verhältnis von Freiheit und Gesetz lehren und praktizieren, nie einen Halt und Anerkennung fin-

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den. Die Intensität der spirituellen Erfahrung finden sie in den kleineren religiösen Gemeinschaften. Doch das Übergewicht an Gesetzlichkeit unterwandert irgendwann das Gefühl spiritueller Beheimatung. Belastend zeigt sich Spiritualität und Glaube nicht selten beim Thema von Schuldgedanken und Schuldgefühlen. Erlernte Glaubensvorstellungen können durch ihre Gesetzlichkeit die Trauer erschweren. Eine Frau, die an Affektstörungen leidet, hat ihren Mann jahrelang gepflegt. Als der Mann verstorben ist, sagt sie: »Ich habe in der vergangenen Woche kein einziges Mal an meinen Mann gedacht.« Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil dies nicht dem religiösen Gebot entspreche. Wenn sie ihren Mann liebe, dann müsse sie doch an ihn denken. So stellt ihr Verständnis von Geboten sowohl ihre Trauer um ihren Mann als auch ihre Liebe zu ihm infrage. Für eine gewisse Zeit frei zu sein von Gedanken an ihren Mann ist für sie ein religiöses Tabu. Gott verurteile sie, wenn sie nicht an ihren verstorbenen Mann denke. Den Hinweis, dass es normal sei, auch Erleichterung nach dem Ende einer jahrelangen Pflege zu empfinden, hört sie mit Erleichterung und Skepsis zugleich. Eine Patientin kommt während eines Gottesdienstes zu mir und sagt, sie sei in Trauer, könne aber nicht am Abendmahl teilnehmen, weil sie von Dämonen besetzt sei. Ich sage ihr, Christus sei stärker als die Dämonen, nichts spreche dagegen, dass sie am Abendmahl teilnehme. Sie kommt dann zum Abendmahl. Als ich sie in der Woche darauf besuche, erzählt sie von Gewalt, die ihr nahe Menschen angetan haben. Sie verschiebt die Schuld auf die Vorstellung, von Dämonen besetzt zu sein. Den Tod ihrer Großmutter versteht die Frau als Wirken der Dämonen und sieht deren Herrschaft über sich bestätigt. Wäre sie nicht von Dämonen besetzt, wäre die Großmutter nicht so plötzlich gestorben.

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Hier ist meine Aufgabe, ruhig bei der Realität zu bleiben und mich nicht auf die Vorstellung der Dämonie einzulassen. Ich schlage der Frau vor, mit ihr zu beten, und das tut ihr gut. Wir beten traditionelle Texte, etwa Psalm 23, das Vaterunser, Psalm 121. Die Lösung aus der Wahnvorstellung selbst ist Aufgabe der psychiatrischen Behandlung.

Bei Menschen mit Affektstörungen begegnet mir öfter die Vorstellung von Krankheit als Strafe. Gott wird als Macht vorgestellt, die nach tradierten moralischen Maßstäben Menschen verurteilt oder annimmt. Das erlernte Gottesbild eines allmächtigen, urteilenden Gottes wirkt hier belastend und destruktiv. Eine Frau, die an schweren Depressionen leidet, sieht die Ursache ihrer Erkrankung in der Tatsache, dass sie ihre Mutter nicht pflegen konnte, sondern in einem Pflegeheim unterbringen musste. Sie kann nicht erkennen, dass die Erkrankung schon vorher da war und die Unfähigkeit zur Pflege eine Folge ihrer Erkrankung ist. Sie sei schon immer etwas traurig gewesen, aber jetzt strafe sie Gott, weil sie ihre Mutter nicht bei sich zu Hause pflegen konnte. Nach einigen Gesprächen ist es der Frau möglich, die Schuldgefühle als Verweigerung der Entscheidung zu einer autonomen Lebenshaltung zu verstehen, auch ihr Gottesbild verändert sich leicht, indem es ihr gelingt, die barmherzige Dimension Gottes zu dessen strafender hinzuzustellen und die moralischen Maßstäbe, die zu ihrer Selbstverurteilung führten, als menschliche, nicht als göttliche Maßstäbe zu erkennen.

Auch bei Abhängigkeitserkrankungen spielen Schuldgefühle eine wichtige Rolle, aber es geht hier auch oft um reale Schuld. Bei alkoholkranken Menschen ist nicht selten Gewalt ein Motiv von realer Schuld, bei drogenabhängigen Menschen bezieht sich Schuld oft auf Beschaffungskriminalität. Reale Schuld entsteht

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auch durch die Vernachlässigung des eigenen Lebens und die Vergiftung des eigenen Körpers. Bei realer Schuld ist oft zusätzlich zum Gespräch ein Ritus wichtig, weil hier eine reale Störung in der Welt ist, real Menschen verletzt und geschädigt wurden. Eine junge Patientin erzählt in der Seelsorge, sie habe viele Einbrüche während ihrer Drogensucht begangen und sie werde die Bilder der Wohn- und Schlafzimmer nicht los, aus denen sie gestohlen habe. Auch habe sie gegenüber dem eigenen Körper und der eigenen Würde viel Raubbau betrieben. Sie sagt, sie glaube an Gott, sie glaube auch, dass Gott ihr vergeben könne, schwerer falle es ihr, sich selbst zu vergeben. Ich schlage ihr vor zu beichten. Sie lehnt den Ritus ab, weil sie an einen Beichtstuhl und an Missbrauch durch Priester denkt. Ich erkläre ihr, dass wir die Beichte als Gespräch gestalten können und ich die rituellen Stücke ins Gespräch aufnehmen könne, der Gesprächscharakter aber bleibe. Das sagt ihr zu. Nach der Beichte ist sie sehr erleichtert. Gerade die rituellen Stücke haben ihr geholfen.

Positives Wirken von Spiritualität Eine Frau hat eine kirchliche Sozialisation erlebt und hier die Sprache, die Lehre, die Texte, die Riten der christlichen Religion kennengelernt und als sinnvolles Deutungsmuster von Gott und Welt erlebt. Als sie psychisch erkrankt, zerbricht die Plausibi­lität ihres Glaubens. Sie erlebt Gott als unverständlich, willkürlich und ungerecht in seinem Wirken. Das, was sie über Gott gelernt hat und woran sie glaubt, kann sie nicht mehr mit ihrem eigenen Ergehen in Einklang bringen. Nach einer Glaubenskrise verliert der Glaube an Bedeutung für sie. Er hat sich als nicht tragfähig gezeigt. Nach vielen Jahren und dem mühsamen Einfinden in die Erkrankung wird ihre Spiritualität wieder wach. Die erlernten Lehren, Gottes- und Sprachbilder sind jetzt nicht mehr so wichtig. Ihr Glaube weitet sich und wird zugleich tiefer. Weniger

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klar definierte Bilder, weniger lehrhafte Vorstellungen und ein weniger auf religiöse Inhalte bezogener Glaube sprechen sie jetzt mehr an. Ihr Glaube wird zur Spiritualität, ohne die erlernten Glaubens­inhalte gering zu schätzen. Spiritualität zeigt sich für sie stark im Annehmen ihrer Erkrankung und in der Versöhnung mit ihrer harten Lebenswirklichkeit, etwa in der Fähigkeit, sich nicht mehr zu überfordern.

Spiritualität bedeutet, sich von den Erfahrungen, die man im Leben macht, nicht gänzlich binden zu lassen. Beides gehört zum menschlichen Sein: ganz in das Vergängliche einzutauchen und intensiv zu leben und zugleich zu wissen, dass das eigene Leben und Sein nicht darin aufgeht. Damit wird die tiefe Verzweiflung, die trauernde Menschen oft empfinden und durchleiden, weder relativiert noch geleugnet. Sie wird in einen größeren Raum gestellt, in dem die Hoffnung auf Begrenzung und Überwindung der Verzweiflung lebendig ist und wirkt. Im Horizont von Transzendenz verlieren Verlust- und Abschiedserfahrungen nicht an Gewicht, aber sie werden begrenzt in ihrem Anspruch auf Absolutheit. Der Tod wird mit seinen Aspekten von Zerstörung und Sinnlosigkeit ernst genommen. Zugleich steht auch er im größeren Horizont von Transzendenz. Sein Anspruch auf Absolutheit ist überwunden. Glaube weiß die Toten bei Gott aufgehoben. Spiritualität und Glaube begrenzen nicht nur die Macht des Todes, sie sind auch wirksam, wenn sich die Frage stellt, ob etwas und was nach dem Sterben kommt. Es ist sinnvoll, wenn sich Begleitende über ihre eigenen Vorstellungen über das, was nach dem Tod kommen könnte, klar werden. (Klarheit kann auch bedeuten, den Tod als Ende zu verstehen und nicht als Übergang in etwas anderes.) Die Klarheit über die eigenen Vorstellungen gibt Sicherheit im Kontakt und fungiert im Kontakt als Hintergrund und Basis für das Sprechen und Sinnen der Trauernden

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über ihre eigenen Vorstellungen. Begleitende sollten ihre Vorstellungen über Jenseits und Weitergehen nicht von sich aus ins Gespräch einbringen, weil es nicht um sie geht, sondern um die Trauernden. Es reicht, wenn sie ihre Gedanken geklärt haben und, falls Trauernde danach fragen, etwas sagen können. Als Christ könnte ich zum Beispiel meine Grundhaltung zu Tod und Trauernden so beschreiben: Im dritten Kapitel der Bibel (1 Mos 3) wird in einer mythischen Erzählung dargestellt, dass Adam und Eva aufgrund eines Vertrauensbruchs gegenüber Gott nicht mehr im Garten in Eden bleiben können. Ein grundsätzlicher Bruch zwischen Mensch und Gott und auch zwischen Schöpfung und Gott hat sich ereignet. Der Mensch hat sein ursprüngliches Sein verloren (Sein mit Gott im Garten in Eden) und muss in ein entfremdetes, von Mühsal, Leiden und Gewalt, vom Tod geprägtes Sein. Es ist grundsätzlich von Trauer geprägt, Trauer um den Verlust der ursprünglichen Verbundenheit mit Gott, Trauer um das Paradies. Ein Sein in der Fremde. Im Neuen Testament greift Paulus diese Vorstellung öfter auf. In seinem zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth vergleicht er das menschliche Sein mit einer behelfsweisen, provisorischen Unterbringung, einer Hütte (im Gegensatz zum Haus) oder einem Zelt (im Gegensatz zu einer festen Unterbringung) und schreibt (2 Kor 5,4): »Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert.« Die Last, die Schwere, die Entfremdung, die Krankheit, die Gewalt gehören zum irdischen Leben dazu. So ist das gesamte menschliche Leben von einer Dimension von Trauer um den ursprünglichen Verlust geprägt, von Wehmut, von Sehnsucht nach etwas anderem als den Erfahrungen der Welt und einer Stimmung von Distanz zu den Erfahrungen des Lebens in der Welt. Denn der Mensch ist der Vergänglichkeit zwar unterworfen, aber er ist ihr nicht gänzlich ausgeliefert. »Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir« (Hebr 13,14). »Das Wesen dieser Welt vergeht« (1 Kor 7,31)

132    Spiritualität und Kunst

und es kommt eine andere, neue Welt, die himmlische Heimat, »ein Bau, von Gott erbaut, ein Haus […] das ewig ist im Himmel« (2 Kor 5,1). Der Tod als intensivste Form der Vergänglichkeit und Endlichkeit ist zwar noch da und wird auch erfahren, aber er ist in seiner Radikalität besiegt, weil Christus den Tod durch Kreuz und Auferstehung erlitten und überwunden hat. So ist der Mensch grundsätzlich auf etwas Größeres als sein Leben und die Erfahrungen, die er in seinem Leben macht, bezogen. »Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn« (Röm 14,8). Aus der Bezogenheit auf Gott folgt eine grundsätzliche, aber freundliche und zugewandte Distanz zur Welt und zu den Erfahrungen, die sie mit sich bringt. Die Erfahrungen in der Welt haben ihre überwältigende, endgültige Dimension verloren, und so können Menschen weinen, als weinten sie nicht, trauern, als trauerten sie nicht, lachen, als lachten sie nicht, kaufen, als wollten sie es nicht behalten (1 Kor 7,29 f.). Der Tod bleibt der Feind, aber er ist nicht die totale Katastrophe, als die er zeitgenössisch verstanden wird. (»Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod«, 1 Kor 15,26.) Zur spirituellen Dimension von Trauer gehört auch der Gedanke, dass Leiden nicht sinnlos sein muss. Leiden kann zu einer Vertiefung des eigenen Fühlens, Denkens und Wahrnehmens führen, es kann die eigene Weltsicht intensivieren, es kann näher zu anderen Menschen und zu Gott führen. »Und in Wahrheit, es gibt im Leiden eine Gemeinschaft mit Gott, einen Pakt der Tränen, der an und für sich so sehr schön ist.« So schreibt Søren Kierkegaard in seinen Tagebüchern (Kierkegaard, 1953, S. 148). Dies sollte mit Trauernden meines Erachtens nur dann, wenn die Zeit dafür reif ist (wenn eine gewisse Stabilisierung eingetreten ist), thematisiert werden. Meist reicht es schon, wenn der Begleitende oder Helfende es weiß und dieses Wissen mit in die Begegnung mit dem Trauernden nimmt. Psychisch erkrankte Menschen haben ein großes Wissen um Leiden und eine große

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Erfahrung mit Leiden, und es reicht oft, wenn die Helferin oder der Helfer eine Offenheit für die Bedeutung von Leiden mit in die Begegnung bringt. In meiner Arbeit mit Patienten und Patientinnen der Psy­ chiatrie erlebe ich, wie viel Kraft, Leidenschaft und Lebenszeit der Widerstand und die Abwehr gegen das Leiden benötigt. Vergleiche mit anderen Menschen, die scheinbar gesund sind oder zumindest ihr Alltagsleben meistern können, Phantasien, was alles sein könnte, wenn man nur die Erkrankung nicht hätte, Gedankenloops, die sich mit der Frage beschäftigen, warum die Krankheit kam und was sie alles an Verletzungen und Verhinderungen gebracht hat … Unter dem Aspekt der Trauer ist das ein Verweilen im Realisierungsprozess, das jahrelang andauern kann. Eine Wende im Leben geschieht dann, wenn Patientinnen und Patienten ihr Leiden anerkennen, wenn sie nicht mehr dagegen ankämpfen. Das bedeutet nicht, dass sie Widerstand, Abwehr und innere Rebellion gänzlich überwunden hätten, aber mit dem Zustimmen und der Anerkennung ihrer Erkrankung haben sie einen Weg gefunden, der es ihnen erlaubt, ihr Leben auch zu genießen, Schönes zu erfahren, phasenweise Einklang mit sich, der Welt und mit Gott zu empfinden. Bei Luise Reddemann findet sich der schöne Satz: »Wenn es uns gelingt, einverstanden zu sein mit dem, was das Leben uns bringt […], dann geschieht Erlösung« (2019b, S. 62). Begleiter und Helfende sollten um die spirituelle Dimension von Trauer wissen und mit ihr rechnen, ohne dieses Wissen – und sei es noch so subtil und scheinbar verborgen – manipulativ einzusetzen. Spiritualität ist in der Gegenwart in der Gefahr (und mehr als in Gefahr), funktionalisiert und zum Erreichen von Zielen eingesetzt zu werden. Helfende sollten sich ihres eigenen Glaubens und ihrer eigenen Spiritualität bewusst sein, sie aber niemals – auch nicht indirekt oder intentional – psychisch erkrankten und trauernden Menschen aufdrängen. Hel-

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fende Beziehungen haben stets ein Machtgefälle, das Helfende zu einem extrem sorgsamen und sensiblen Umgang veranlassen sollte. Psychisch erkrankte Menschen haben für die spirituelle Dimension von Trauer als Reaktion auf Verluste und Abschiede ein besonderes Gespür und eine besondere Begabung. Aufgrund ihrer Erkrankung wissen sie mehr vom Überschreiten von Grenzen (zwischen Wirklichkeiten und Realitäten, zwischen Gesundheit und Krankheit und anderem) als viele andere. Sie bewegen sich in Bereichen von Angst, Wahn, Panik, Phantasie, von denen scheinbar Gesunde nur aus Erzählungen eine Vorstellung haben, aber nicht aus Erfahrung. Es ist für sie lebensnotwendig, vom Überschreiten der Grenzen zurückkehren zu können, und sie brauchen Trauer als Überlebensmöglichkeit für die Verluste und Abschiede, die ihnen die Krankheit abfordert. Spiritualität kann hier sehr hilfreich sein. Helfende können lernen, Krankheitserfahrungen von psychisch erkrankten Menschen, wie etwa psychotische Erfahrungen, nicht nur mithilfe einer Diagnose, sondern auch als spirituelle Begabung zu verstehen. An einem Herbstabend gehe ich mit einem Patienten durch die Weinberge spazieren. Er erzählt mir, er sei seit einigen Monaten arbeitsunfähig, er habe die Belastung im Beruf nicht mehr ausgehalten, sei depressiv geworden und jetzt sei er hier in der Klinik seit ein paar Tagen. Er habe jede Hoffnung verloren, wieder in den Beruf zurückkehren zu können, und er sorge sich um seine Frau und seine Kinder. Was würde wohl passieren, wenn in seinem Heimatdorf bekannt würde, dass er hier in der Klinik sei, und wie solle er überhaupt seiner Familie das alles zumuten? Er ist voller Sorge und Kummer, voller Verzweiflung. Wir laufen ein Zeit lang nebeneinander her, und dann sagt er, er müsse mir noch etwas erzählen, er sei nicht nur depressiv, sondern er habe auch Wahnvorstellungen. Deshalb sei er eigentlich in die

Spiritualität und psychische Erkrankungen   135

Klinik gekommen. Vor einigen Tagen habe er gesehen, wie sich der Himmel über ihm öffnete und Gott sich ihm zeigte, und in einem extrem starken Luftstrom sei er in die Höhe gezogen worden. Während er in die Höhe aufstieg, habe er an seine Familie gedacht. Einerseits habe er sich um seine Familie gesorgt, weil er sie jetzt allein ließ, andererseits habe er aber auch gewusst, dass alles gut wird und schon alles gut ist. Der Platz seiner Familie war dort unten, sein Platz war im Luftstrom. Der Luftstrom habe ihn zu Gott geführt und plötzlich sei er vor Gott gestanden und Gott habe ihm sein Gefühl bestätigt und gesagt, dass alles gut sei. »Das ist eine wunderbare spirituelle Erfahrung, die Sie da gemacht haben«, sage ich zu ihm, »Sie sind ein hochspiritueller Mensch.« »Was?«, ruft er aus, »was sagen Sie? Das ist das erste Mal, dass das jemand zu mir sagt! Sonst heißt es immer nur, ich hätte eine Psychose.« Er freut sich und sagt, er fühle sich seit Langem als spiritueller Mensch, aber das habe bisher noch nie irgendwo etwas gegolten. Meine Aussage bedeutet nicht, dass ich die medizinische Diagnose abwerte, sondern dass ich sie um eine Deutung ergänze, die den Patienten auf einer Ebene ernst nimmt, der sonst keine Wirklichkeit zugemessen wurde. Das Anerkennen seiner spirituellen Begabung ist dann auch ein Faktor, der ihn beim Umgang mit den Verlusten, die seine Erkrankung mit sich bringt, unterstützt und stärkt. Zwei Jahre nach dieser Begegnung, als er wieder gesund ist und zurück bei seiner Familie und im Beruf, sagt mir der Mann, diese Begegnung habe stark zur Wende in seinem Krankheitsverlauf beigetragen. Von da an sei es aufwärtsgegangen.

Gerade in der spirituellen Dimension hat das Verständnis von Trauer als wandelnder Kraft eine wichtige Grundlage und Quelle.

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Kunst

Kunst und Spiritualität haben viele Gemeinsamkeiten, gehen aber nicht ineinander auf. Spiritualität hat per se einen Transzendenzbezug, Kunst nicht. Beide richten sich auf Sinn, fragen nach Sinn, sind Ausdruck von Sinn. Diese Gemeinsamkeit möge ausreichen, hier noch ein paar Gedanken über Kunst als Möglichkeit, Trauer zu leben, anzufügen. Kunst hat die Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten und Normen und Gewohntes hinter sich zu lassen. Sie kann fremden, ungewöhnlichen und singulären Gefühlen und Gedanken Gestalt und Ausdruck ermöglichen. Das prädestiniert Kunst für Menschen, die ungewöhnlich sind, besondere Lebensformen haben und qua ihres Schicksals jenseits der Grenzen des Normalen und Durchschnittlichen leben. Zu ihnen zählen psychisch erkrankte Menschen, daher sind sie auch besonders begabt für Kunst. Es gibt Kunst, die eine allgemeine, für viele Menschen bedeutsame Dimension hat, und solche, die ausschließlich eine private, für den Künstler oder die Künstlerin und ihr näheres Umfeld bedeutsame Dimension hat. Für die Gestaltung von Trauer und Ausdrucksformen von Trauer sind beide Kunstformen hilfreich. Denkbar sind Schreiben, Musikhören und Musikmachen, bildende Kunst, darstellende Kunst. In der Trauerbegleitung kann sich Kunst als sehr fördernd für Trauernde erweisen, um die Pendelbewegung zwischen Verlustorientierung und Zuwendung zum gegenwärtigen Leben zu unterstützen und Trauer ins Fließen kommen zu lassen. Man kann Trauernde beispielsweise anregen, ein Gedicht zu schreiben, ein Bild zu malen, eine bestimmte Musik für ihre Trauer auszuwählen oder eine Collage aus Elementen der Natur zu schaffen, und Trauernde anhand dieser privaten Kunst von ihrer Trauer erzählen lassen. Allein schon der individuelle künstlerische Prozess dient dem Trauerverlauf. Er nimmt das eigene

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Erleben ernst und würdigt es im Gestalten. Ein unschätzbarer Vorteil von Kunst in der Trauer ist, dass Kunst in der Leiblichkeit mit Trauer korrespondiert. Kunst ist leiblich. Trauer ist leiblich. Kunst ist nie nur rational oder intellektuell, sondern ganzheitlich, wie auch Trauer ganzheitlich ist. Auf die Bedeutung von Kunst im Kontext psychischer Erkrankung und Trauer gehe ich im Folgenden etwas intensiver am Beispiel des Dichters Ernst Herbeck (1920–1991) ein. Das Schreiben hatte bei Herbeck den besonderen Aspekt, dass es nicht nur privat war, sondern Öffentlichkeit erreichte und von der Öffentlichkeit als Kunst verstanden wurde. Dadurch hat auch das Leben Herbecks Bekanntheit erlangt und seine Lebensbedingungen haben sich verändert. So wurde er 1978 als Mitglied der Grazer Autorenversammlung aufgenommen. Aufgrund seiner Literatur wurde 1980 die Entmündigung aufgehoben. Als 1986 ein Zentrum für Kunst und Psychotherapie in der Landesheil- und Pflegeanstalt Maria Gugging – wo Herbeck lebte – entstand, konnte er in das Haus der Künstler einziehen. Die Anerkennung seines Schreibens als Kunst unterscheidet Herbeck von anderen Patientinnen und Patienten, die auch künstlerisch tätig sind, aber solche Anerkennung nicht bekommen. Dennoch verbindet sie die spirituelle Dimension, die in der künstlerischen Tätigkeit wirkt, die Selbstwirksamkeit, auch Aspekte von Annehmen des eigenen Lebens, Umgehen mit Unveränderlichem, Leben und Gestalten von Trauer. Ernst Herbeck wurde in Stockerau in Niederösterreich geboren. Er kam mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zur Welt und musste als Kind viele Hänseleien erleiden. Man konnte ihn nur schlecht verstehen, was dazu führte, dass er wenig sprach. Von W. G. Sebald gibt es einen Bericht über einen Ausflug mit dem sechzigjährigen Herbeck, in dem beide kaum ein Wort gewechselt haben. Sebald schreibt, im Aussichtslokal der Burg Greifenstein hätten sie sich schweigend und rauchend gegen-

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übergesessen. »Ernst war mitunter sehr weit entfernt. Minutenlang ließ er die Gabel senkrecht in seiner Mehlspeise stecken« (2002b, S. 169). Herbeck erlernte keinen Beruf, sondern war als Hilfsarbeiter tätig. 1940 kam er zum ersten Mal in psychiatrische Behandlung, 1943 zum zweiten, 1945 zum dritten, 1946 zum vierten Mal. Er blieb in der Landesheil- und Pflegeanstalt Maria Gugging, mit einer Unterbrechung, bis zu seinem Tod. Die Unterbrechung bezieht sich auf einen von Herbeck selbst gewünschten Aufenthalt in einem Pensionistenheim im Jahr 1980. Da er sich in dem Heim einsam fühlte, kehrte er in die psychiatrische Anstalt von Maria Gugging zurück. Sein Gesundheitszustand blieb stark beeinträchtigt. Aufgrund seiner Schizophrenie litt er an wiederkehrenden psychotischen Erfahrungen, Erregungszuständen, Wahngedanken, Gehörhalluzinationen. 1960 schrieb Herbeck sein erstes Gedicht. Um die Beziehung zu ihm zu fördern und ihn in seinem Eingeschlossensein zu erreichen, fragte ihn sein Arzt Leo Navratil bei einer Visite, ob er ein Gedicht schreiben könne. Der Arzt gab Herbeck den Titel vor und Herbeck schrieb das Gedicht »Der Morgen«. Die meisten Gedichte entstanden so, dass sein Arzt Herbeck zum Schreiben aufforderte und einen Titel vorgab und Herbeck innerhalb einiger Minuten das Gedicht zum Titel niederschrieb. Mitte der 1960er Jahre veröffentlichte Navratil ohne das Wissen von Herbeck Gedichte von ihm unter dem Namen Alexander, weil Herbeck selbst diesen Namen öfter unter seine Gedichte setzte. Seit den 1980er Jahren veröffentlichte Herbeck unter seinem eigenen Namen. W. G. Sebald betont, dass Schreiben für Herbeck existenziell war. Herbeck wollte keine Literatur schaffen und suchte keine Anerkennung als Autor. So korrigierte er seine Gedichte nicht und hob sie auch nicht auf. Zugleich genoss er die Anerkennung, die ihm nach der Veröffentlichung seiner Gedichte zuteilwurde

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(Sebald, 2002a, S. 156 f.). Sebald versteht die Gedichte Herbecks als Ausdruck einer eigenen Art, zu sein, einer Art, Verbindungen zu sehen, die sonst niemand sieht, etwa zwischen Privatem und Politik, zwischen Täter und Opfer, zwischen Größe und Kleinheit. Er spricht von einer »kleinen Literatur«: »Die ›kleine Literatur‹ ist gegen die Kultur geschrieben, nicht für sie; ihre materielle Armut ist ein Zeichen des Defizits, aber auch eines der Independenz« (2002a, S. 159). Faszinierend an Herbeck ist, dass die Gedichte in ihm sind, aber er sich nicht als Autor versteht und deshalb die Gedichte auch nicht aus einem kreativen Drang heraus niederschreibt, sondern einen Anstoß von außen braucht, um die Gedichte – weniger zu erschaffen als aus sich herauszulassen oder aus sich herauszusetzen. Unter dem Aspekt von Spiritualität könnte man seinen Arzt Navratil als eine Stellvertretung von Transzendenz verstehen, die das Wirken von Transzendenz übernimmt, nämlich durch das Sein und die Ansprache von etwas Größerem innere Welten zu erschließen, die dann wiederum hilfreich sind, sich in das eigene Leben einzufinden und es anzunehmen. Durch das Schreiben der Gedichte entsteht Sinn. Herbecks Sein als Patient verändert sich, indem er als Dichter anerkannt wird. Die Gedichte heben die Grenze zwischen dem Leben in Maria Gugging als Patient und der Außenwelt zwar nicht auf, aber sie lockern die Grenze und machen sie durchlässig. Die Gedichte heben auch die Grenze nicht auf zwischen der Diagnose Schizophrenie und den anderen Menschen, die nicht unter diese Diagnose fallen, aber sie lassen die Außenwelt in die Erfahrungswelt der Schizophrenie ein und geben eine eigene Deutung der Welt, indem sie Bezüge zwischen Motiven der Wirklichkeit aufweisen, die sonst nicht gesehen werden. So bekommt die Krankheit einen eigenen Sinn. Das Schreiben der Gedichte ermöglicht Herbeck einen Kontakt zu sich selbst, der ohne die Anregung Navratils vermutlich nicht möglich gewesen wäre. Der Kontakt

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zu sich selbst und der daraus folgende Ausdruck beeinflussen das Leben von Herbeck positiv. Die Gedichte haben auch den Aspekt von Verarbeitung von Verlusten, die Herbeck durch seine Erkrankung erleidet. Er kann kein bürgerliches Leben führen. Er kann nicht selbstständig leben und ist dauerhaft abhängig von Hilfe von außen. In seinen Texten wird manchmal sein Leiden unter der Abhängigkeit von der Pflege beschrieben, ihrer Übermacht und Übergriffigkeit. Das Sprechen fällt ihm schwer. Im Raum der Gedichte bekommen die Abschiedsprozesse Ausdruck und Gestalt, meist ohne direkt thematisiert zu werden. Man könnte den Umgang mit Verlust – Klage, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Niedergeschlagenheit, Hoffnung, Annehmen – in vielen Gedichten aufweisen, aber das wäre ein eigener Aufsatz. »Nie habe ich neben einem Menschen gesessen, der eine derart abgrundtiefe Trauer ausstrahlte. Rettungslos gefangen in seiner Welt, abgenabelt und verbannt wegen seiner Behinderung« (Navratil, 2002, S. 236 ff.). »Im Laufe der 16 Jahre habe ich Herbeck immer wieder getroffen, und immer waren Trauer und Schweigen um ihn« (Roth, 2002, S. 190). So beschreiben zwei Besucher die Begegnung mit Herbeck. Wüssten die Besucher nicht um die innere Welt, die die Gedichte Herbecks bekannt machen, würden sie ihn vermutlich gar nicht besuchen, und auch jetzt, da sie neben ihm sitzen, wissen sie um diese Welt nur aufgrund ihrer Kenntnis seiner Gedichte. Solch eine Wirkung – anderen innere Welten zu zeigen – findet sich bei jedem künstlerischen Ausdruck, den man bei Trauernden anregen kann. In der Trauerbegleitung ist die symbolische und ästhetische Qualität der künstlerischen Produkte nicht bedeutsam; ihr Vorhandensein genügt, um über Trauer ins Gespräch zu kommen oder sich von Trauer erzählen zu lassen. Am Anfang dieses Buches steht ein Gedicht von Ernst Herbeck mit dem Titel »Der Patient«. Ich habe dieses Gedicht aus-

Kunst   141

gewählt, weil mich seine Hoffnungsperspektive anspricht und die Ironie, die die scheinbar glatte Hoffnungsperspektive unterwandert, auch die scheinbar naive, aber untergründig distanzierte Haltung zur Institution der Klinik, die die klinischen Erwartungshaltungen, Herrschafts- und Steuerungsansprüche an Menschen in ihrer Absurdität durchdringt. Das Gedicht ist am 17. April 1968 entstanden. Auf einer äußeren Ebene beschreibt es den idealen Verlauf eines Aufenthalts im Krankenhaus. Der Patient ist krank – er wird geheilt – er wird entlassen. Eine Klinik könnte dieses Gedicht als Programm und Leitbild auf ihre Homepage setzen. Zugleich könnte ich sagen: Keine Klinik würde dieses Gedicht als Leitbild auf ihre Homepage setzen. Etwas in dem Gedicht, das sich der klaren Benennung entzieht und doch spürbar ist, unterwandert die offensichtliche, an der Oberfläche klare Aussage. Es ist die übersteigerte Formelhaftigkeit der Aussage, ihre Schemahaftigkeit, die Ironie, die in der Korrektheit und Angepasstheit aufscheint, die Naivität, die zu naiv klingt, um ernst gemeint zu sein. Es gibt eine Widerständigkeit in dem Gedicht, das den sauberen, glatten, reibungslosen Vorgang der Heilung ad absurdum führt. Im Widerstand gegen den glatten Ablauf zeigt sich eine Haltung von Souveränität. Der Autor des Gedichts identifiziert sich nicht eindeutig mit dem »Patienten«, sonst würde er »ich« sagen und nicht vom »Patienten« sprechen. Das Gedicht spricht aus einer beobachtenden Perspektive, die zugleich wieder unterwandert wird, weil jeder weiß, dass der Autor ein Patient ist. Die Pflege steht im Konjunktiv. Hier deutet sich ein Defizit an. Der Konjunktiv könnte darauf hindeuten, dass dem Patienten menschliche Beziehung fehlt, menschliche Nähe, menschliches Verständnis. Betont dagegen wird das Verhältnis zu den Ärzten, das gut sei. Der Patient wird hier in seiner gesellschaftlichen Stellung gehoben und auf eine Ebene mit »den Ärzten« gestellt. Der Kontakt zu Ärzten ist gut, zur Pflege besteht ein Defizit. Der gute Kontakt von Herbeck zu seinem Arzt Navratil

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schwingt hier mit, auf einer symbolischen Ebene könnte auch die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Akzeptanz angesprochen sein. Mit Beziehung, Nähe, gegenseitigem Verstehen stimmt etwas nicht, denn der Kontakt zur Pflege, der de facto viel intensiver ist als der zu Ärzten, ist konjunktivisch; der Kontakt zu Ärzten, der nur sporadisch und nicht alltäglich ist, wird als gut beschrieben. Die Naivität des Gedichts hat eine doppelte Bedeutung. Zum einen bildet sie die Folie, auf der die Absurdität der Wirklichkeit aufscheint, zum anderen aber hat sie den positiven Sinn des Festhaltens an einer Perspektive, die man zwar naiv nennen, ohne die man aber nicht leben kann, nämlich die Heilungsperspektive oder – etwas niederschwelliger – die Hoffnung auf Veränderung, die Hoffnung auf Wandlung. Die Naivität birgt eine Utopie, die der Autor nicht aufgeben will: Der Patient wird irgendwann als geheilt entlassen. Herbeck selbst wurde nicht geheilt und entlassen, aber seine Gedichte haben ihm seine Mündigkeit zurückgegeben und ihm die besondere Würde des Dichters geschenkt. Das kann man als eine Art Heilung – Wandlung – verstehen. Die Naivität, in der der Autor gegen alle Wahrscheinlichkeit an der Heilungsperspektive festhält, hat eine spirituelle Dimension. Die Heilungsperspektive ist das gelobte Land, wo Milch und Honig fließt. Die Perspektive mag sich nicht erfüllen, aber sie dient dem gegenwärtigen Leben, der eigenen Würde, der eigenen – und sei sie noch so eingeschränkt – Beziehungsfähigkeit. Sie hat ihren Sinn aus sich selbst.

Glossar: Auffällige psychische Phänomene

Psychopathologie ist »die Lehre von der Beschreibung des gestörten Erlebens, Befindens und Verhaltens« (Paulitsch u. Karwautz, 2019, S. 17). Die einzelnen Phänomene können unter unterschiedlichen Diagnosen auftreten, je nach ihrer Intensität, Gewichtung und Kombination mit anderen psychisch auffälligen Phänomenen. Sie können auch auftreten, ohne dass eine Diagnose gestellt oder nötig ist, weil sie im Alltag durch die Umwelt und die Resilienz von Betroffenen aufgefangen werden können. Es geht im Folgenden darum, einen groben Überblick über die verschiedenen Phänomene psychischer Auffälligkeiten zu geben. Die Auflistung19 sollte keinesfalls zu einer schnellen »Diagnose« von trauernden Menschen oder zu einer schnellen »Selbstdiagnose« Trauernder dienen. Wenn ein trauernder Mensch an sich und seinem Verhalten Phänomene entdeckt, die ihn beunruhigen, ist es sinnvoll, wenn er mit anderen Menschen darüber das Gespräch sucht. Trauerbegleitende sollten mit einer Einordnung oder Bestimmung von Gefühlen, Gedanken und Verhalten von Trauernden sehr vorsichtig sein. Wenn sie meinen, Trauernde bräuchten psychologische oder ärztliche Hilfe, sollten sie dies in der Begegnung ansprechen. Psychopathologie kann auch Auseinandersetzung, Begegnung und Beziehung verhindern, vermei-

19 Bei dem folgenden Überblick halte ich mich an das Lehrbuch von Paulitsch und Karwautz (2019, S. 85–97).

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den und erschweren, indem sie Erfahrungen pathologisiert und nicht mehr den Menschen sieht, sondern nur noch das pathologische Symptom. Affektstörungen Affekte (lat. affectus – Gemütsbewegung, Stimmung, Zustand) bedeuten Gefühle: Freude, Liebe, Wut, Zorn, Ekel, Furcht, Scham, Angst, Hass, Traurigkeit und andere. Störungen können etwa Intensität, Ausleben und Ausdruck, Dauer und Gewichtung in der Balance der Gefühle betreffen. Paulitsch und Karwautz nennen als Folgen von Affektstörungen ein übergroßes Maß an Ratlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Ängstlichkeit, Euphorie, Gereiztheit, Unruhe, Schuldgefühl, Widersprüchlichkeit in den Gefühlen, Widersprüchlichkeit zwischen Gefühl und Aussage, Gefühlsarmut (2019, S. 93–95).

Angststörungen Grundformen von Angsterkrankungen sind: Ängstlichkeit und Angst als ein bleibender Zustand (generalisierte Angst); Betroffene geraten ohne äußeren Anlass anfallartig in den Zustand von Angst (Panikattacke); die Angst richtet sich auf bestimmte Objekte und Situationen (Phobie); die Angst produziert eine grundsätz­liche, das Leben stark erschwerende Haltung von Misstrauen.

Aufmerksamkeitsstörungen und Gedächtnisstörungen Das Deutungs-, Erinnerungs- und Konzentrationsvermögen ist stark vermindert oder gänzlich aufgehoben.

Bewusstseinsstörungen Das Bewusstsein kann in seiner Qualität beeinträchtigt sein. Formen der Beeinträchtigung sind Benommenheit (Verlangsamung, eingeschränkte Aufnahmefähigkeit), Schläfrigkeit (Somnolenz),

Glossar   145

stärkere Schläfrigkeit (Sopor, Erreichbarkeit nur durch starke Reize wie Zwicken und Rufen), Bewusstlosigkeit (Koma).

Formale Denkstörungen Hier geht es nicht um inhaltliche Denkstörungen, sondern um Störungen in Ablauf und Form des Denkens. Das Denken ist zum Beispiel stark verlangsamt oder segmentiert oder so beschleunigt, dass die Aussagen keinen Sinn mehr zu ergeben scheinen.

Halluzinationen Während Wahn eine Deutung von Wahrnehmung ist, sind Halluzinationen selbst eine Wahrnehmung. Betroffene nehmen Dinge und Ereignisse wahr, die nicht existieren. Die Wahrnehmung kann über alle Sinne geschehen: Sehen, Riechen, Hören, Schmecken, Fühlen. Optische Halluzinationen zeigen Geschehnisse, Personen und anderes ohne Entsprechung in der Wirklichkeit. Beim Stimmenhören hören Betroffene Kommentare oder Befehle zu ihrem Handeln, auch Dialoge sind möglich. Bei Körperhalluzinationen fühlen Betroffene auf oder in ihrem Körper Eindrücke ohne Auslöser in der Wirklichkeit. Bei Geruchs- und Geschmackshalluzinationen betrifft dies Riechen und Schmecken.

Ich-Störungen Die Grenze zwischen Ich und Außenwelt kann nicht mehr so gezogen werden, dass es nicht zu starken Auffälligkeiten kommt. Phänomene können sein: Depersonalisation (sich selbst als Person entfremdet fühlen), Derealisation (die Umwelt als entfremdet wahrnehmen), Gedankenausbreitung (andere können meine Gedanken lesen), Gedankenentzug (andere stehlen mir meine Gedanken), Gedankeneingebung (meine Gedanken werden mir von anderen aufgezwungen).

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Orientierungsstörungen Das Bewusstsein ist wach, aber die Fähigkeit, sich zu orientieren, ist gestört. Die Orientierung in der Zeit kann gestört sein (Tageszeit nicht mehr wissen, Monat, Jahr etc.), die Orientierung am Ort (nicht mehr wissen, wo man ist), die Orientierung in der Situation und die Orientierung zu sich selbst (den eigenen Namen, die eigene Lebensgeschichte nicht mehr kennen etc.).

Wahnstörungen Wahn ist eine inhaltliche Denkstörung. Betroffene konstruieren eine eigene Wirklichkeit und halten unter allen Umständen an dieser Konstruktion fest. Sie deuten die Wirklichkeit in einer für andere nicht nachvollziehbaren Weise (zum Beispiel: Dass es in der Nachbarwohnung so ruhig ist, beweist, dass dort ein Anschlag auf mich ausgeheckt wird). Der Wahn ist für Betroffene vollkommen plausibel und argumentativ nicht zugänglich. Eine Wahnstimmung bezieht sich auf die allgemeine Deutung von Wirklichkeit (zum Beispiel: Eine Wahrnehmung wird als eine Stimmung von Gefahr oder Angst gedeutet). Eine Wahnwahrnehmung bezieht sich auf eine konkrete Deutung von Wirklichkeit (zum Beispiel: Drei aufeinander folgende weiße Autos bedeuten, dass ich von Feinden beobachtet werde). Verschiedene Arten sind etwa Verfolgungswahn (zum Beispiel: Böses verfolgt mich), Beziehungswahn (zum Beispiel: Alle schauen mich immer so komisch an), Größenwahn (zum Beispiel: Ich befehlige eine ganze Armee), religiöser Wahn (zum Beispiel: Gott hat mich für immer verurteilt oder die Vorstellung, eine biblische Gestalt zu sein), Schuldwahn (zum Beispiel: Ich bin schuld, dass so viele Kinder auf der Welt verhungern).

Zwangsstörungen Zwang bedeutet, dass sich Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen so stark aufdrängen, dass sie nicht mehr gesteuert und beherrscht werden können.

Glossar   147

Diese Aufzählung der Pathologien ist nicht vollständig und natürlich auch nicht ausführlich genug. Paulitsch und Karwautz (2019, S. 98–100) nennen noch eine ganze Reihe weiterer Symp­tombereiche, die ich hier aus Platzgründen nicht wiedergeben kann.

Dank

Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Patientinnen und Patienten der Klinik, in der ich arbeite, die sich so intensiv mit mir über das Thema Trauer und psychische Erkrankungen ausgetauscht haben. Und ich danke allen anderen Menschen, die mit mir über dieses Thema gesprochen und das Entstehen dieses Buches unterstützt haben, insbesondere meiner Frau Marianne.

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Poetische und essayistische Literatur Herbeck, E. (1992). Im Herbst da reiht der Feenwind. Gesammelte Texte. Hrsg. L. Navratil. Salzburg u. Wien: Residenz. Herbeck, E. (2002). Die Vergangenheit ist klar vorbei. Katalog anlässlich der Ausstellung »Ernst Herbeck«, 2002, Kunsthalle Krems. Hrsg. L. Navratil, C. Aigner. Wien: Brandstätter. Kierkegaard, S. (1953). Die Tagebücher 1834–1855. Ausgewählt und übertragen von T. Haecker (4. Aufl.). München: Jakob Hegner. Mach, E. (1982). Buchstaben Florenz. Texte 1965–1979. Wien u. Berlin: Medusa. Navratil, L. (2002). Der Dichter Ernst Herbeck. In E. Herbeck, Die Vergangenheit ist klar vorbei. Katalog anlässlich der Ausstellung »Ernst Herbeck«, 2002, Kunsthalle Krems (S. 208–245). Hrsg. L. Navratil, C. Aigner. Wien: Brandstätter. Roth, G. (2002). Einige persönliche Erinnerungen an Ernst Herbeck. In E. Herbeck, Die Vergangenheit ist klar vorbei. Katalog anlässlich der Ausstellung »Ernst Herbeck«, 2002, Kunsthalle Krems (S. 190–191). Hrsg. L. Navratil, C. Aigner. Wien: Brandstätter. Sebald, W. G (2002a). Eine kleine Traverse. Das poetische Werk Ernst Herbecks. In E. Herbeck, Die Vergangenheit ist klar vorbei. Katalog anlässlich der Ausstellung »Ernst Herbeck«, 2002, Kunsthalle Krems (S. 154–167). Hrsg. L. Navratil, C. Aigner. Wien: Brandstätter. Sebald, W. G. (2002b). Ausflug mit Ernst Herbeck zur Burg Greifenstein. In E. Herbeck, die Vergangenheit ist klar vorbei. Katalog anlässlich der Ausstellung »Ernst Herbeck«, 2002, Kunsthalle Krems (S. 168–173). Hrsg. L. Navratil u. C. Aigner. Wien: Brandstätter.