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German Pages [300] Year 2016
Romanica Mainzer Studien zur romanischen Literatur- und Kulturwissenschaft
Band 2
Herausgegeben von Stephan Leopold, V8ronique Porra und Dietrich Scholler
Dietrich Scholler
Transitorische Texte Hypertextuelle Sinnbildung in der italienischen und französischen Literatur
Mit 22 Abbildungen
V& R unipress Mainz University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2509-5730 ISBN 978-3-7370-0649-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen der Mainz University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. 2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Web design concept: Http : / / on computer keyboard background (#118046114), Maksim Kabakou bei fotolia.com
Für Anja
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
1 Vom Hyperraum über das Datenmeer zum Hypertext . . . . . . . . 1.1 Zur Archäologie der neuen Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Mehrdimensionale Räume in der Geometrie . . . . . . . . 1.1.2 Historische Avantgarde und technische Medien: von Marinetti zu McLuhan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Technologisierung des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Metaphernmodelle aktueller Kommunikationsorganisation . . . 1.2.1 Metaphorik und Pragmatik des Cyberspace . . . . . . . . . 1.2.2 Meereswelten und Wissenslandschaften . . . . . . . . . . . 1.2.3 Das Datenmeer als idealisiertes kognitives Modell . . . . . 1.3 Ankunft im Hypertext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Von der Memex zum Hypertext . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Sekundäre Literalität im Kontinuum von Schriftlichkeit und Mündlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Hypertextmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . .
21 22 22
. . . . . . . .
27 38 43 43 55 62 72 72
. .
77 84
2 Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur . . . . 2.1 Links entlang der Border Line: eine Hypererzählung von Miguel A. Garc&a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Grenzgeschichten: der semiotische Raum . . . . . . . . . . . 2.1.2 Fiktionsbrüche und paradoxe Erzählschleifen . . . . . . . . . 2.1.3 Zur Selbstbezüglichkeit des medialen Rahmens . . . . . . . . 2.2 Verse in Bewegung: Elisa Carlottis Poesie visive . . . . . . . . . . . 2.2.1 Zum systematischen Status von hypertextueller Lyrik . . . . 2.2.2 »Il treno« im Horizont der Grußdichtung . . . . . . . . . . . 2.2.3 Textflüsse – »Il fiume delle parole« . . . . . . . . . . . . . . .
103 104 105 109 115 116 116 120 127
8
Inhalt
2.3 Hyperoulipotische Stilübungen: Antonio Zoppettis Esercizi di stile blog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Dispositiv Weblog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Raymond Queneaus Exercices de style als hypotextuelles Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Vom Pariser Straßenverkehr in die blogosfera italiana . . . . 2.3.4 Kollaborative Überbietung, Überholung und Selbstauflösung 2.4 Liens dangereux: Jean-Pierre Balpes Hyperkrimi Lettre-N8ant . . . 2.4.1 Bloggeschichten als Wiedergänger des Feuilletonromans . . . 2.4.2 Der Protagonist als Medienheld wider Willen . . . . . . . . . 2.4.3 Der User als Hyperdetektiv aus freien Stücken . . . . . . . . 2.5 Frankophone Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Poesiemaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Visuelle Poesie: Tibor Papps Buchstabentheater . . . . . . . 2.5.3 Wörter, Bilder, Töne: Philippe Bootz’ plurimediale Wasserspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137 138 144 148 152 161 163 164 169 176 177 186 192
3 Intermediale Rückwirkungen auf die Printliteratur . . . . . . . . . . . 3.1 Intermedialität im Zeichen der neuen Medien . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Zum Stand der Intermedialitätsdiskussion . . . . . . . . . . 3.1.2 Für ein dreigliedriges Modell der Systemreferenz . . . . . . . 3.2 Online-Offline-Tagebuch: Giuseppe Calicetis Pubblico/Privato 0.1 . 3.2.1 »una spudorata copiatura« – zur Makrostruktur . . . . . . . 3.2.2 URLs, Mails, Screenshots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Webmaster-Apostrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Phatik, Listen, Chat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Webseiten erzählen: Guy Tournayes Roman Le d8codeur . . . . . . 3.3.1 Der Rahmen: »appuyer sur la touche Play« . . . . . . . . . . 3.3.2 Steganographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Von analogen und digitalen Spezialeffekten . . . . . . . . . . 3.3.4 Historisch-kulturspezifische Funktionen von Intermedialität.
199 200 200 206 210 210 212 218 222 227 228 235 238 248
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261 261 263
Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
285
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
291
Einleitung
Das Morphem hyper (gr. }p]q) ist im Diskurs der Literaturwissenschaft noch relativ jung, hat aber schon eine wechselvolle Geschichte erlebt. Während der Begriff Hypertext als Bezeichnung für die Verknüpfung digitalisierter Dokumente in den Gesellschafts- und Computerwissenschaften bereits in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts diskutiert wird,1 gelangt das präfigierende Morphem hyper auf einem literaturtheoretischen Umweg erst in den 80er Jahren in die romanistische Fachdiskussion, nämlich über G8rard Genette. In seiner grundlegenden Studie Palimpsestes. La litt8rature au second degr8 (1982) wird hypertextualit8 als eine von fünf Formen der Transtextualität definiert. Unter hypertexte versteht Genette dabei genauer einen Text B, der einen historisch vorangehenden Text A (hypotexte) überlagert, ohne diesen Letzteren zu kommentieren.2 Ein literaturwissenschaftlicher Essay, in dem die Ilias thematisiert wird, wäre demnach kein Hypertext. Im Verständnis Genettes liegt erst dann ein Hypertext vor, wenn ein vorgängiger Hypotext erkennbar transformiert worden ist. Jean Giraudoux’ Drama La guerre de Troie n’aura pas lieu etwa kann nach dieser Auffassung als Hypertext der Ilias bezeichnet werden. Mit diesem wieder eingeschränkten und daher operationalisierbaren Intertextualitätsbegriff hat Genette ein Konzept ausgearbeitet, das in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts insbesondere in der romanistischen Literaturwissenschaft große Prominenz erlangt und in der Folge ein fruchtbares, über die frankophone Literaturwissenschaft hinausgehendes Forschungsparadigma begründet. In den 90er Jahren gewinnt indes die computerwissenschaftliche Begriffsfacette auch in philologischen Milieus an Bedeutung. Erste Indizien für eine sich anbahnende Dominantenverschiebung bietet etwa die erste Auflage des deutschen Standard1 Erstmals belegt ist der Begriff in einem Aufsatz des Gesellschaftswissenschaftlers Theodor H. Nelson (1965). 2 Die Originaldefinition lautet: »J’entends par l/ [par l’hypertextualit8] toute relation unissant un texte B (que j’appellerai hypertexte) / un texte ant8rieur A (que j’appellerai, bien s0r, hypotexte) sur lequel il se greffe d’une maniHre qui n’est pas celle du commentaire.« (Genette 1982: 11)
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Einleitung
nachschlagewerks Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (Nünning 1998), in welchem unter dem Lemma Hypertext / Hypertextualität ausschließlich der elektronische Begriffsgebrauch verzeichnet ist, während Genettes Verwendungsweise als sekundär angesehen und deshalb unter dem Stichwort Hypotext aufgeführt wird. Auch in den folgenden Auflagen steht Hypertext einzig und allein für die von Theodor H. Nelson bereits 40 Jahre zuvor definierte Bedeutung, wonach es sich dabei um einen elektronisch abgespeicherten und mit anderen Texten vernetzten Text handelt.3 Wie man sieht, war eine gewisse Zeit der Latenz vonnöten, bis sich der fremdmediale Begriff auch im Diskurs der Literaturtheorie durchsetzen konnte. In der Rückschau darf man behaupten, dass die verzögerte Rezeption dieser neuen Form von Textualität wohl darauf zurückzuführen ist, dass das Trägermedium in Form des Personal Computers sich erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts demokratisierte. Die gesamte Dimension der Hypertextualität konnte sich dann aber erst mit der Einführung des Hypertext-Übertragungsprotokolls (HTTP, 1989) bzw. der universellen Hypertext-Auszeichnungssprache Hypertext Markup Language (HTML, dito) sowie insbesondere auf der Basis eines erhöhten Vernetzungsgrades erschließen. Dabei wurde schon nach kurzer Zeit deutlich, dass hypertextuelle Verfahren aufgrund ihres medialen Eigensinns neuartige Artikulationsformen der Sinnbildung hervorbrachten, und zwar sowohl in Bezug auf Gebrauchshypertexte als auch – mit einiger Verzögerung – in Bezug auf literarische Hypertexte. Letzteren kommt dabei ein dreifacher ästhetischer Mehrwert zu, insofern sie erstens die überlieferte Printliteratur überholen und erweitern, insofern sie zweitens im Unterschied zu Gebrauchshypertexten hypermediale Spezifika entpragmatisieren bzw. für den ästhetischen Gebrauch freisetzen und insofern sie drittens zum Selbstbezug tendieren, indem sie die eigenen, mitunter prekären medialen Formen und Formate einer kritischen Reflexion unterziehen, bis hin zum Extremfall der Selbstüberholung und Selbstauflösung. In der Zwischenzeit haben Themen und Verfahren dieser neuen Hypertextwelt ihre ›natürlichen‹ medialen Grenzen überschritten und wirken zunehmend auf den Bereich der Druckschriftlichkeit und damit auch auf die überlieferte Printliteratur zurück. Zur Erforschung dieser doppelten Dynamik – Überbietung der Printliteratur, Einholung durch die Printliteratur – sind dementsprechend zwei analysepraktische Kapitel zu veranschlagen. Auf der Basis der Hypermedien hat sich in der italienischen und französischen Medienkultur eine neue Form von Literatur etabliert, die sich über die gängigen, aus der tradierten Literatur bekannten und 3 Ein Indikator für das zunehmende Gewicht der computeriellen Bedeutung muss auch darin gesehen werden, dass die unter dem Lemma Hypertext / Hypertexualität zusammengestellte Forschungsbibliographie bis zur vierten Auflage (2008) kontinuierlich angewachsen ist. Dagegen sind im Falle der Genetteschen hypertextualit8 seit der ersten Auflage keine neuen bibliographischen Einträge zu verzeichnen.
Einleitung
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bereits gut erforschten Sekundärcodes hinausgehend durch einen zusätzlichen hypertextuellen Code konstituiert, der gegenüber der Printliteratur einen ästhetischen Mehrwert hervorbringt und nur unter Berücksichtigung dieser medialen Spezifik angemessen analysiert werden kann. Darüber hinaus wirkt dieser hypertextuelle Sekundärcode über intermediale Erwähnungen, Thematisierungen und Interferenzen auch auf die druckbasierte Literatur zurück, indem er einerseits deren Ausdruckspotential mittels passiver Rückwirkungseffekte anreichert, andererseits aber auch mittels aktiver Verfremdung im ›alten‹ Medium der tradierten Printliteratur gerahmt wird. Da intermediale Beziehungen naturgemäß bilateral sind, verbleibt das alte druckbasierte Medium nicht im Modus passiver Ansteckung, vielmehr wird Hypertextualität im Fremdmedium der Druckschriftlichkeit darüber hinaus auch stillgestellt und verfremdet, wenn nicht kritisch hinterfragt. Unter diesen Auspizien sei postuliert, dass die Hypertextliteratur einen Doppelcharakter besitzt: Sie ist zugleich die vorbeiziehende und die ihrerseits wieder überholte Literatur. Aus dieser Hypothesenlage ergibt sich eine Gliederung in drei Hauptkapitel. Im ersten Kapitel werden Elemente einer Theorie der Geschichte und Systematik des Phänomens Hypertext geboten, im zweiten analysepraktischen Kapitel werden narrative und lyrische Fallbeispiele aus der neographischen Hypertextliteratur analysiert, und im dritten Kapitel wird untersucht, in welcher Weise das scheinbar überholte Medium des druckbasierten Tagebuchs bzw. Romans seinerseits auf die neuen Formen der Hypertextualität reagiert. Bevor die genuin literarischen Wege und Formen dieser neuartigen literarischen Gebilde analysiert werden können, müssen im ersten Kapitel dieser Arbeit die historisch-systematischen Grundlagen hypertextueller bzw. hypermedialer4 Vertextungsverfahren erläutert werden. Bekanntlich wurden an die neue Technik Hoffnungen und Visionen geknüpft, mit denen eine Befreiung vom linearen ›Zwangsdenken‹ des Gutenbergzeitalters heraufbeschworen wurde. Diese Vorstellungen sind allerdings nicht ex nihilo entstanden, sondern sie lassen sich bis zu den historischen Avantgarden, wenn nicht bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen (vgl. 1.1). Im Rückblick auf die in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entstehenden Vorstellungswelten vom sogenannten Cyberspace stellt sich die Frage, wie dieser Raum konzeptualisiert wird. Welche kognitiven Topoi kristallisieren sich dabei heraus? Stehen sie für einen radikalen Bruch, oder lassen sie sich womöglich auf eine kulturgeschichtlich wirksame Tiefensemantik zurückführen, was eher die Annahme eines kontinuierlichen Transformations4 Im Folgenden werden die Attribute hypertextell und hypermedial synonym gebraucht, da mit Hilfe der Auszeichnungssprache HTML bzw. ihrer Nachfolgerin XHTML neben dem schriftsprachlichen auch der audiovisuelle Kanal eingebunden werden kann. Damit folge ich der klassischen Definition von George P. Landow (1993): »Hypertext denotes an information medium that links verbal and nonverbal information.« (ebd.: 4)
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Einleitung
prozesses nahelegen würde (vgl. 1.2)? Schließlich muss auf systematischer Ebene nach den spezifischen Merkmalen von Hypertextualität gefragt werden: Wodurch unterscheiden sich Hypertexte von chiro- oder typographischen Texten? Lassen sich dabei wiederkehrende Elemente, Strukturen und Verfahren erkennen und bestimmen, die in der Summe ein heuristisches Merkmalsbündel für die Analyse von literarischen Hypertexten abgeben könnten (vgl. 1.3)? Auf der oben genannten Grundlage sollen dann im zweiten Kapitel Wege und Formen der Hypertextliteratur in Italien und Frankreich im Detail analysiert werden. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts und auf den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts, ein Zeitabschnitt, der aufgrund der »permanenten Mutabilität« (Gendolla / Schäfer 2004: 23) der bewegten Netze aus heutiger Sicht bereits als »historisch« bezeichnet werden muss. Immerhin entsteht diese frühe bis mittlere Phase der Hypertextliteratur nicht aus dem Nichts, sondern sie geht zurück auf Experimente, die in beiden Ländern in den 60er Jahren auf Großrechnern durchgeführt wurden.5 Diese bleiben zwar seinerzeit marginal, besitzen aber für die später entwickelte Automatenpoesie eine Vorreiterfunktion. Eine wichtige Voraussetzung für das vermehrte Aufkommen von Literatur in elektronischen Netzen stellt die Entwicklung der Einzelmedien Personal Computer und world wide web dar.6 Diese auch ›neue Medien‹ genannten Einzelmedien bilden technische Dispositive für die Herstellung, Verbreitung und Rezeption einer neuen Form der Literatur, die jenseits von hypermedialer Konfektionsware zu verorten ist und daher Anspruch auf eine erhöhte medienphilologische Deutungsfähigkeit erheben darf. Beim Computer als Trägermedium dieser Art von Literatur handelt es sich um ein neuartiges Schreibwerkzeug, außerdem tritt er als Vermittler literaler Zeichen neben das Buch und erweitert dessen angestammte Funktion als passives Speichermedium der Schrift, insofern Letztere über ihren symbolischen Charakter hinaus weitergehende Eigenschaften annimmt. Zum Beispiel ist sie autooperativ und kann daher auf direktem Wege Aktionen auslösen. Klickt man etwa in einem Textverarbeitungsprogramm auf die Funktion Sortieren, dann wird zum Zwecke der Listenererstellung eine kleine Operation durchgeführt (vgl. 1.3.3). Auf der Grundlage dieses erweiterten, operativen Schriftgebrauchs 5 Im Oktober 1961 erzeugt der neoavantgardistische Schriftsteller Nanni Balestrini das Gedicht Tape Mark I mit dem Computer IBM 7070 (Balestrini 1962). Das Gedicht setzt sich aus drei formal disparaten Texten zusammen, die zerlegt und dann nach Regeln der Metrik wieder zusammengesetzt werden. Der Output erfolgt in italienischer Sprache (vgl. Funkhouser 2004 und Picchione 2004). Im Oktober 1964 veranstaltet FranÅois Le Lionnais, Mitbegründer der Gruppe OuLiPo, an der Univerisät LiHge eine Konferenz zur Maschinenliteratur (vgl. im Detail 2.5.1). 6 Zum Verständnis des Personal Computers und des world wide web als Einzelmedien vgl. grundlegend Stockmann (2004) und Lang / Bekavac (2004).
Einleitung
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sind Artefakte entstanden, für die sich – zumal seit der Entstehung des world wide web – inzwischen Begriffe wie ›digitale Literatur‹, ›Netzliteratur‹, ›Computerpoesie‹ oder ›Hyperfiction‹ eingebürgert haben. Seit nunmehr 30 Jahren begleitet die jährlich in Linz durchgeführte Veranstaltung Ars Electronica die digitale Revolution in Bild-, Wort- und Tonkünsten.7 Seit etwa 20 Jahren existiert in den Medienwissenchaften und in der ästhetischen Theorie, in der Amerikanistik und in der Germanistik ein ausgeprägtes Bedürfnis, digitale Formen der Vertextung und Literarisierung zum Gegenstand ästhetischer Reflexion zu erheben. Im deutschsprachigen Raum haben renommierte Wissenschaftsverlage und Zeitschriften in den letzten fünfzehn Jahren Monographien, Sammelbände oder Sondernummern herausgebracht, die dem Thema »Digitale Literatur« gewidmet sind.8 Allen Unkenrufen zum Trotz9 ist ein spannungsreiches digitales Feld entstanden, das mehr zu bieten hat als unheilschwangere Cybermovies. Jedoch sind die genannten Studien ausnahmslos der anglo- und germanophonen Literatur gewidmet. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat man sich auf Seiten der deutschen Romanistik bislang kaum mit hypermedial artikulierten oder Hypermedialität nachahmenden Zeugnissen der Literatur befasst,10 obwohl in der Zwischenzeit ein differenziertes digitales literarisches Feld entstanden ist, was sich in der Gründung von Zeitschriften11 und
7 Zur Geschichte und Systematik der elektronischen Künste vgl. die offiziellen Webseiten der Ars elecronica [http://www.aec.at, 1. 5. 2009]. 8 Vgl. etwa die Monographien von Suter (2000) Heibach (2000) und Simanowski (2002), die Themenausgaben der Zeitschriften Text+Kritik 152 (Simanowski 2001c), Kodikas/Code 24.3/4 (Block u. a. 2001), querelles-net 8 (2002) sowie die Sammelbände von Simanowski (2001a) und Gendolla / Schäfer (2007 und 2010), um nur eine kleine Auswahl aufzulisten. 9 Vgl. die polemische Abrechnung mit partiell übersteigerten Vorstellungen fanatischer Hypertexttheoretiker durch Porombka (2001). 10 Immerhin sind zum Thema »Computer-Literatur in der Romania« zwei Sammelpublikationen von Jörg Dünne u. a. (2004) und Andreas Gelz (2006) anzuführen. Monographische Studien sucht man dagegen vergeblich. Eine Ausnahme bildet Saskia Reithers (2003) Dissertation zur Computerpoesie. Darin wird u. a. auch die digitale Poesie in französischer Sprache gebührend berücksichtigt. Nicht behandelt wird dagegen die italienische Literatur. 11 Das wichtigste europäische Forum für Netzliteratur bietet die Zeitschrift dichtung-digital (www.dichtung-digital.de, 1. 11. 2009). Das Journal wurde 1999 gegründet. Seitdem sind 44 Ausgaben erschienen. Die 45. Ausgabe ist als Buchpublikation angekündigt worden (ebd.: 11. 8. 2016). In den Anfangsjahren lag der Schwerpunkt der Zeitschrift eindeutig auf der Verbreitung und Analyse digitaler Literatur im engeren Sinn. In der Zwischenzeit führt das Periodikum den Untertitel »Journal für Kunst und Kultur digitaler Medien«. Dementsprechend hat sich das Themenspektrum beträchtlich erweitert. Während in dichtung-digital hauptsächlich die anglophonen und germanophonen Kulturen zur Sprache kommen, findet die Hypertextliteratur romanischer Zungen eher in der von der Universität Bologna herausgegebenen Zeitschrift R8vue des Litt8ratures de l’Union Europ8enne (www.rilune.org, 1. 11. 2009) einen angemessenen Widerhall, zumal ebendort auch das Italienische und das Französische als Wissenschaftssprachen gepflegt werden. Eine Linksammlung für Fach-
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Einleitung
Sammelpunkten12 manifestiert, in Literaturwettbewerben13 seine Fortsetzung gefunden hat und nicht zuletzt im Rahmen universitärer Forschungsprojekte untersucht wird.14 Bei näherer Betrachtung hat man es mit einer abwechslungsreichen literarischen Landschaft zu tun, die in der vorliegenden Studie über exemplarische Fallanalysen erschlossen werden soll. Untersucht werden dabei sowohl bekannte als auch weniger bekannte Beispiele. Der Schwerpunkt liegt auf der italienischen und der frankophonen Literatur. Dabei muss schon an dieser Stelle betont werden, dass die neuen Formen der digitalen oder hypermedialen Literatur nicht einfach im Internet, auf CD-ROM, auf einem elektrozeitschriften hat die Forschergruppe Hermeneia von der Universität Barcelona zusammengestellt (vgl. http://www.hermeneia.net/eng/espais/revistes.html, 1. 11. 2009). 12 Stellvertretend seien die wichtigsten Sammelpunkte für italienische und französische Hypertextliteratur benannt: Trovarsinrete (www.trovarsinrete.org, 1. 11. 2009) und Toute Action de Po8sie Inadmissible sur le Net (http://tapin.free.fr, 1. 11. 2009). Der erstgenannte Sammelpunkt wird von der Biblioteca Civica in Settimo Torinese betreut. Der bibliothekarischen Ausrichtung entsprechend werden auch didaktische Angebote bereitgestellt. Der Situs Tapin dagegen wird von Webpoeten betrieben, was schon das unkonventionelle Webdesign verrrät. Betreiber sind u. a. Julien d’Abrigeon, poHte multi-support, und Cosima Weiter, Aktivistin des Ouvroir de sonorit8s potentielles (vgl. www.ousopo.org, 1. 11. 2009). Auf den Webseiten von Tapin wird man in enzyklopädischer Breite über die Wege und Formen der frankophonen 8critures ins Bild gesetzt. In der Zwischenzeit hat sich ein weltweiter Dachverband mit einem entsprechenden Sammelpunkt gebildet. Die Organisation heißt Consortium on Electronic Literature (CELL). Das Konsortium ist der Idee des offenen, nicht-kommerziellen Netzwerkgedankens verpflichtet. Es bietet Zugang zu Datenbanken, Archiven und institutionalisierten Programmen auf dem Feld der Literaturwissenschaft und der Lehre. Von nachhaltiger Bedeutung ist dabei die Sichtung und Archivierung von digitaler Literatur (http:// www.cellproject.net/, 10. 8. 2016). 13 Die angesehensten Preise werden auf europäischer Ebene vergeben. Besondere Erwähnung verdienen die Ars Electronica in Linz (vgl. http://www.aec.at, 1. 11. 2009) und die Europrix Multimedia Awards. Letztere werden von der europäischen Kommission und vom österreichischen Wissenschaftsministerium gesponsert und vergeben (vgl. http://www.europrix. org, 1. 11. 2009). Außerdem erwähnt sei der an der Universität von Barcelona seit 2005 vergebene Preis der Ciutat de Vinarks (vgl. http://www.hermeneia.net, 1. 11. 2009). Dagegen wird im Rahmen des Turiner Wettbewerbs Scrittura mutante ausschließlich italienische Hypertextliteratur prämiert (vgl. http://www.trovarsinrete.org/concorsosm.htm, 1. 11. 2009). 14 Als bislang wichtigstes Unternehmen dieser Art muss das Teilprojekt »B6 Literatur in Netzen/Netzliteratur« des Siegener Sonderforschungsbereichs »Medienumbrüche« gelten. Ebendort soll die Frage beantwortet werden, ob und wie die ästhetische Differenz, wie sie für gedruckte Texte umfangreich erforscht worden ist, auch für Literatur in elektronischen Netzen existiert. Bei der Antwort auf diese Frage wird u. a. auf das rekursive und multilaterale Dispositiv des Netzes zurückgegriffen, welches die überkommene Triade zwischen Autor, Werk und Leser durch maschinelle interfaces außer Kraft setzt. Mittels Rekursion ergeben sich stattdessen neue Konstellationen; etwa durch netzgestütze Kooperationen, durch Mensch-Maschine-Kommunikationen mit automatisierter Textproduktion sowie durch eine potentiell mögliche »cooperation of several authors, editors, designers censors or whomever« (Gendolla / Schäfer 2007: 25). Von spezieller Relevanz für die Romanistik ist das im Jahr 2013 an der Universität Göttingen eingerichtete Graduiertenkolleg »Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung« (vgl. https://www.uni-goettingen.de/de/ 422920.html, 10. 8. 2016).
Einleitung
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nischen Lesegerät wie dem Kindle oder dem Tabletcomputer abgelegt und gelesen werden. In solchen Fällen sollte man besser von ›digitalisierter Literatur‹ sprechen, von einer Literatur nämlich, die zum Zwecke der Speicherung und Distribution in digitalisierten technischen Medien bereitgestellt wird. Die Literatur gehört in dieser Variante einfach zum kulturellen Erbe, das, geknüpft an die utopische Vorstellung der Universalbibliothek, im Internet seinen natürlichen, weil unschlagbar effizienten Aufbewahrungs- und Erschließungsort gefunden hat, wie etwa im Falle der Webseite »Duecento: la poesia italiana dalle origini a Dante«.15 Ebendort sind 200 Autoren des Duecento mit 2400 Werken repräsentiert. Die Gedichte sind in eine Datenbankstruktur eingebunden, die kombinierte Suchabfragen gestattet.16 Dagegen soll im Folgenden von jener Literatur die Rede sein, deren semiotischer Gehalt an technische Modifikationen gekoppelt ist und auch nur über computerbasierte Netzwerke rezipiert werden kann, von einer Literatur also, die auf dem und für den Rechner konzipiert wird, mithin medienecht und medienrelevant ist.17 Sie verdankt sich dem sogenannten zweiten Medienumbruch. War schon der erste große Medienumbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts – der Eintritt in das Zeitalter der Audiovision – keine geringe Herausforderung für die Wortkünste, so sehen sich Letztere im ausgehenden 20. Jahrhundert abermals auf die Probe gestellt. Wenn man davon ausgeht, dass Textualität stets an Medialität gekoppelt ist, weil Informationen in Texten einen spezifischen Übertragungsweg benötigen, dann gehen von Medienumbrüchen rekursive Wirkungen auf diese Texte aus. Ob eine Information nun über die menschliche Stimme, durch das Buch oder mittels E-Mail übertragen wird, in jedem Fall wird die Nachricht durch das Medium beeinflusst. Hervorgehoben sei, dass es sich dabei nicht um eine chronologische Beziehung im Sinne einer Vor- und Nachzeitigkeit handelt. Keinesfalls wird eine bereits prozessierte Information anschließend durch ein Medium übertragen, vielmehr ist das technische Prozessieren immer schon an der Semiose beteiligt, mit anderen Worten: Dies bedeutet, dass die technische Leistung der Medien, räumlich-zeitliche Abgründe zu überbrücken, in den Kern des Semiotischen vorrückt. Zeichen also werden keineswegs zuerst konstituiert und dann (sekundär) verschickt. Das Zeichen selbst ist die 15 Vgl. http://www.silab.it/frox/200/index.htm (15. 8. 2005). 16 Die Zeitschrift Forschung & Lehre (8/2005: 431) meldet, dass die British Library ihre gesamten Bestände bis zum Jahr 2020 digitalisieren wird. Ab dem Jahr 2020 sollen lediglich zehn Prozent der neu publizierten Titel auch in der Druckausgabe erhältlich sein. 17 In leichter Abwandlung von Roberto Simanowskis (2005) Definition besteht die Medienechtheit von digitaler Literatur darin, dass sie auf die Existenz von computerbasierten Netzwerken unabdingbar angewiesen ist. Medienrelevanz besitzt sie in dem Maße, wie sie sich die spezifischen Eigenschaften vernetzter Computer zu eigen macht.
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Einleitung
Klammer, die die unterschiedlichen Kontexte zusammenzieht, und die technischen Medien exekutieren nur, was als Kontextwechsel im Zeichen immer schon angelegt ist. (Winkler 2004: 168)
Durch die Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung und ihre Bedeutung für das Schreiben und Lesen konnte rückwirkend der Blick frei werden für das Zusammenwirken zwischen Medium und Information. An die Forschungen Michael Gieseckes anknüpfend hat Jörgen Schäfer gezeigt, dass schon der literarische Schöpfungsakt der ›Gutenberg-Galaxis‹ vom Manuskript über den Verlag zum Leser einen typographischen Kommunikationskreislauf durchlaufen muss, der rekursive Wirkungen haben kann.18 Diese Rückwirkungen sind jedoch im Falle des Trägermediums Buch vergleichsweise schwach, und sie treten mit zeitlicher Verzögerung auf. Zwar benötigt ein literarisches Produkt nach seiner Entäußerung ein umfangreiches typographisches Distributionsnetz, aber der Schöpfungsakt selbst ist relativ homogen. Dagegen ist das Verhältnis zwischen Schöpfungsakt und Verbreitung im Falle computerbasierter Literatur geradezu seitenverkehrt. Auf der einen Seite steht das literarische Ingenium, das in technische Dispositive eingelassen ist, die am literarischen Situationsaufbau essentiell beteiligt sind, sei es nun in Form von Hard- oder Software, aber auch in Gestalt weiterer Autoren oder Designer. Kurz, die literarische Produktion unterliegt einem Diversifizierungsprozess und wird heterogen. Auf der anderen Seite verwandelt sich das weit geknüpfte Netz des typographischen Kommunikationskreislaufs ganz umstandslos in das grenzenlose Datenmeer des world wide web: Die Distributionswege werden dabei raumzeitlich komprimiert und weichen einer Form der direkten Übermittlung vom Server des Anbieters zum Bildschirm des Rezipienten, ein Vorgang, für den sich der Begriff der Instantankommunikation etabliert hat.19 Allerdings wird durch die Unmittelbarkeit der Kommunikation verdeckt, dass sie zahlreiche Filter und Barrieren durchläuft, nämlich in Form von Maschinen und Programmen. Im Unterschied zum Buch liegt mit dem Computer ein Medium vor, das nicht bloß als Speicher fungiert, sondern das auch programmierbar ist. Peter Gendolla und Jörgen Schäfer leiten aus dieser zutreffenden Beobachtung eine provozierende These ab: Die Programmierungen mittels Protokollen, Browsern, Textverarbeitung und anderen Werkzeugen würden einen Output produzieren, »der für die beteiligten ›Autoren‹ und ›Leser‹ keineswegs voraussehbar ist.« (Gendolla / Schäfer 2005b) Damit wird zweifels18 Vgl. hierzu Giesecke (1991) und Schäfer (2004). 19 In der historischen Rückschau beginnt die Geschichte der Instantankommunikation mit dem Bau der ersten Telegraphenleitung. Daher lassen sich in Bezug auf daran geknüpfte Hoffnungen und Wünsche Parallelen zwischen dem Aufbau des telegraphischen Datennetzes am Ende des 19. Jahrhunderts und dem am Ende des 20. Jahrhunderts entstandenen Internet feststellen (vgl. Spangenberg 2001).
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ohne der Hauptunterschied in der Informationsübertragung zwischen alten und neuen Medien auf den Punkt gebracht. Immerhin sei ergänzt, dass die postulierte ›Unvorhersehbarkeit‹ auch schon in der Printliteratur anzutreffen ist.20 Im Bereich der Hypertextualität kann Unvorhersehbarkeit aber je nach Textpragmatik stärker oder schwächer ausgeprägt sein und müsste daher auf einer zweipoligen Skala abgebildet werden. Den beiden Polen entsprechend müsste man zwei Typen von rekursiven Wirkungen annehmen, die mittels entsprechender Programmierung erzielt werden können: Rekursionen zur kommunikativen Stabilisierung einerseits und solche zu intentionaler Destabilisierung andererseits. Am einen Ende der Skala hätte man es etwa mit der OnlineBanküberweisung zu tun. Bis eine solche abgeschickt ist, werden durch die Operationen des Kunden verschiedene rekursive Operationen ausgelöst. Die daran beteiligten Programme sind allerdings so konzipiert, dass zwischen Inund Output im Normalfall kein Unterschied bestehen sollte. Am anderen Ende der Skala wäre ein beträchtlicher Teil der digitalen Literatur zu verorten: Diese ist sowohl in Bezug auf ihre semiotische als auch auf ihre technische Ausrichtung nicht immer im Sinne gelingender Kommunikation angelegt, weil sie – das sei bereits an dieser Stelle postuliert – häufig im Gestus hybrider Mischung oder gar konterdiskursiver Verweigerung auftritt und darin den historischen Avantgarden nachfolgt. Denn in vielen Fällen unterlaufen die technischen Modifikationen die Gesetze smarter usability. Die Semantik wird destabilisiert, zum Beispiel durch Verstöße gegen die Software-Ergonomie, durch die kombinatorische Aleatorik von Poesiemaschinen und im Extremfall sogar von lebenden Organismen. Mangelnde usability im Sinne der Software-Ergonomie beschreibt etwa Bauer (2004) an frankophonen Beispielen. Die Verstöße gegen Softwaresitten und -gebräuche gehen zurück auf inadäquates Design, auf inkohärente Linksemantik sowie mangelnde Textökonomie und -transparenz und setzen einen bereits eingeübten hypertextuellen Erwartungshorizont beim User-Leser voraus. Während der ›Output‹ dieser Beispiele durchaus noch mit dem ›Input‹ – also einer vom Hypertextautor intendierten möglichen Textbedeutung – zur Deckung gebracht werden kann, ist das im Falle von Textautomaten oder Poesiemaschinen nicht mehr möglich. Ein Beispiel dieser Art liegt mit Simon Biggs’ Great Wall of China (1995) vor. Sobald man mit dem Curser auf der englischen Übersetzung von Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer landet, werden wohlgeformte Nonsense-Sätze generiert, nach dem Muster des bekannten lin20 Klassisch gewordene Modelle für die ›Unvorhersehbarkeit‹ des Outputs hat die Gruppe Oulipo geliefert. Ein vielzitiertes Beispiel stellt Raymond Queneaus (1961) kombinatorisches Sonett Cent mille milliards de poHmes dar. Dabei handelt es sich um zehn Sonette, deren Verse untereinander beliebig kombiniert werden können, so dass ein Output von 1014 möglich wird.
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guistischen Beispielsatzes Green colourless ideas sleep furiosly. Kafkas Geschichte wird verweigert, selbst die einer abwegigen Variation. An die Stelle der Narration tritt eine Form des poetischen Kommentars, der Kafkas änigmatischen Gestus mittels Zufallsalgorithmen auf eine Schwundstufe reduziert und keinerlei Kohärenzbildung gestattet. Einen Fall von extremer Unvorhersehbarkeit der Lektüre stellt Eduardo Kacs Biopoesie dar. In seinem Projekt Genesis (1998) werden per Mausklick Genmutationen bei Bakterien hervorgerufen, die ihrerseits digitalisiert und von Rechnern eingelesen werden, um schließlich den Bibelsatz »Let man have dominion over the fish of the sea […]« zu mutieren.21 Es muss jedoch betont werden, dass es sich bei den vorgenannten Beispielen um Extreme einer bestimmten – zugegeben spektakulären – Tendenz auf dem Feld der hypermedialen Literatur handelt. Neben diesen in der Tradition der aleatorischen Literatur stehenden Beispiele lassen sich auch andersartige digitale Artefakte anführen, in denen der Status der Ungewissheit und Offenheit vermieden wird und in denen, ganz im Gegenteil, auf klassische Formen der Kohärenzbildung zurückgegriffen wird. Gerade weil hypertextuelle Gebilde die Gefahr des disseminativen Lesens und damit der Zerstreuung in sich bergen, wird der Leser insbesondere im Bereich erzählender Hypertexte mittels kohärenzstiftenden Navigationshilfen durch die Narration geführt. So etwa ist es in dem unten analysierten racconto ipertestuale von Miguel A. Garc&a möglich, über eine sogenannte »mappa dell’ipertesto (cioH il grapho dei collegamenti)« (Garc&a 1999) die aktuell besuchte Seite dank besagter Übersichtsgraphik im Gesamtgefüge der verzweigten Geschichte einzuordnen (vgl. 2.1). Ähnliche kohärenzbildende Maßnahmen lassen sich in Jean-Pierre Balpes Blog-Erzählung Lettre-N8ant (2005) feststellen. Die Kriminalgeschichte ist in 36 Einzelepisoden unterteilt, die jeweils prägnante Überschriften aufweisen. Der diaristische Publikationsrhythmus wird zusätzlich durch einen Kalender transparent gehalten, der bei jeder Einzelepisode einsehbar ist und dank entsprechender Links den Zugang zu den vorangehenden oder nachfolgenden Episoden ermöglicht (vgl. 2.4). Schon an diesen wenigen Beispielen dürfte klar geworden sein, dass hypermediale Formen der Literatur nicht so ohne weiteres auf einen Nenner gebracht werden können: Neben den kontingenten Texten von Poesiemaschinen finden sich zusammenhängende, gut navigierbare Hypernarrationen, die über einen klassischen Plot verfügen. Wiederum anders geartet sind etwa lyrische Gebilde, die kaum noch als Texte bezeichnet werden können, da sie im Verbund mit dynamischer Visualisierung und akustischen Signalen zum plurimedialen Gesamtkunstwerk tendieren, wie etwa in Philippe Bootz’ Passage (vgl. 2.5.3). Aber trotz dieser hier nur einleitend skizzierten Heterogenität weisen die digitalen 21 Vgl. hierzu im Detail Simanowski (2005).
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Literaturen Italiens und Frankreichs bestimmte Grundmuster auf, die durch eine Beleuchtung der historisch-systematischen Bedingungen deutlich erkennbar werden sollten. So führen die im zweiten Kapitel zu analysierenden Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur einerseits zu den historischen Avantgarden zurück, andererseits hat die im letzten Drittel des 20. Jahrunderts sich beschleunigende Technologisierung des Wortes neue Schreibformen und -formate hervorgebracht, die ihrerseits dispositivierend auf die digitale Literatur zurückwirken. Daraus ergeben sich für das zweite Kapitel folgende Fragehinsichten: Inwiefern lassen sich die digitalen Literaturen Italiens und Frankreichs in der Literaturgeschichte verorten, und welche Kontinuitäten und Brüche sind dabei erkennbar? Auf welche Weise sind die im ersten Kapitel herauspräparierten Cyberwelten und hypertextuellen bzw. sekundärschriftlichen Merkmale am literarischen Situationsaufbau von literarischen Hypertexten beteiligt? Welche neuartigen ästhetischen Effekte literarischer Sinnbildung ergeben sich daraus? Im dritten Kapitel schließlich soll der Blick auf die jüngere italienische und französische Printliteratur gerichtet werden. Diese existiert naturgemäß weiter, auch wenn sie sich im Horizont des aktuellen Medienumbruchs zumindest partiell verändert hat, weil von den neuen technischen Medien Rückwirkungen auf ältere Medien ausgehen, wovon die druckbasierte Literatur nicht ausgenommen werden kann. Wie die Mediengeschichte lehrt, gehört es zur Überlebensstrategie des jeweils älteren Mediums, das neue Medium in sich aufzunehmen, eine Anpassungsleistung, die dazu führt, dass neue Wahrnehmungmodi im alten Medium – zum Beispiel im druckbasierten Buch – imitiert oder konterkariert werden. Auch wenn McLuhan die heutige Medienlandschaft noch nicht kannte, hat er deren Magie in seinem Buch Understanding Media (1964) doch mit einigem Weitblick auf den Punkt gebracht: A new medium is never an addition to an old one, nor does it leave the old one in peace. It never ceases to oppress the older media until it finds new shapes and positions for them. (McLuhan 2003: 237)
Dementsprechend werden die jüngeren technischen Entwicklungen und dazugehörige lebensweltliche Szenerien in der klassischen Printliteratur nicht nur zu darstellungswürdigen literarischen Sujets erhoben, sondern es werden darüber hinaus auch einschlägige fremdmediale Darstellungstechniken und -stile (»new shapes«) assimiliert. Deshalb muss das bislang an den älteren audiovisuellen Medien Film und Television orientierte Intermedialitätsparadigma auf den Prüfstand gestellt und womöglich erweitert werden (vgl. 3.1), um dann in einem zweiten Schritt als reformierter heuristischer Rahmen für die Erschließung hypermedial geprägter Printliteratur zu dienen. Zu diesem Zweck werden zwei Fallbeispiele aus der italienischen und der französischen Literatur herangezo-
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gen: zum einen Giuseppe Calicetis diaristischer Erzähltext Publicco/Privato 0.1 (2002), dessen fremdmediale Prägung bereits im Titel anklingt (vgl. 3.2), zum anderen Guy Tournayes Roman Le d8codeur (2005), in dem das Webseitenangebot einer amerikanischen Fernsehserie mit den angestammten Mitteln narrativer Erzeugungstechniken imitiert und inszeniert wird (vgl. 3.3). Für die Analyse dieser beiden fremdmedial geprägten Printtexte ergeben sich aus dem oben Gesagten folgende Fragestellungen: Inwiefern wird die jüngere Erzählliteratur durch die Hypermedien beeinflusst? Welche neuartigen Formen intermedialer Interferenzen lassen sich dabei feststellen? Welche Wechselwirkungen ergeben sich durch das Zusammenspiel zwischen erzählter Geschichte und pseudo-altermedialer Diskursivierung? Schälen sich dabei auch nationalkulturelle Besonderheiten intermedialer Bezugnahmen heraus?
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Vom Hyperraum über das Datenmeer zum Hypertext
Der erste Abschnitt wird von der Archäologie der neuen Hypermedien handeln. Dabei wird sich im Blick zurück auf den Medienumbruch beim Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert zeigen, dass zwischen der zeitgenössischen posteuklidischen Geometrie und dem seinerzeitigen Medienwandel ein Nexus besteht, der von Marshall McLuhan, dem wichtigsten Medientheoretiker des 20. Jahrhunderts, mehr postuliert als argumentativ hergeleitet wird und daher einer Untersuchung harrt: Höhere Dimensionen und neue Medien – so die McLuhanThese – könnten zu einem besseren Verständnis moderner Komplexität führen. Ein wichtiges Hindernis auf dem Weg dorthin stellt die zweidimensionale lineare Alphabetschrift dar. Diese Auffassung wird von Teilen der europäischen Avantgardebewegungen vertreten. Dabei erweisen sich insbesondere die futuristischen Manifeste Filippo Tommaso Marinettis als aufschlussreiche Quellen mediologischer Reflexion. Die darin formulierte Opposition gegen die eindimensionale Technologisierung des Wortes in Gestalt der Druckschriftlichkeit sollte dann von Marshall McLuhan auf differenzierte Weise vertieft werden, wie eine Lektüre einschlägiger Passagen aus Understanding Media zeigen wird. Im zweiten Abschnitt werden aktuelle Metaphern der Kommunikationsorganisation in den Blick genommen. Dabei wird sich herausstellen, dass Ausdrücke wie Cyberspace, Telepolis, Datenautobahn oder auch die Rede vom Datenmeer sich nicht auf einen vagen metaphorischen Status beschränken lassen, sondern Metaphernkomplexe ausbilden, mit denen sich Sprachgemeinschaften die aktuellen Kommunikationstechnologien aneignen. Deshalb kann ihnen der Status von kognitiven Modellen zuerkannt werden. Von eminenter Bedeutung ist dabei die Metapher Datenmeer. Schließlich wird es im dritten Abschnitt um die Darstellung von Hypertextmodellen in der Nachfolge Vannevar Bushs gehen. Dabei sind die an den Cyberspace geknüpften Hoffnungen und Wünsche mit den real vorfindlichen Prozeduren hypermedialen Schreibens abzugleichen. In diesem Zusammenhang soll nicht zuletzt im Hinblick auf eine digitale Poetik ein Merkmalsspektrum hypertextueller Darstellungsmodi bestimmt und erläutert werden, welches
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Vom Hyperraum über das Datenmeer zum Hypertext
in den beiden darauffolgenden analysepraktischen Kapiteln 2 und 3 als heuristische Folie dienen wird.
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Zur Archäologie der neuen Medien
Die neuen semiotischen Räume aktueller Kommunikationsorganisation sind nicht aus dem Nichts entstanden, sondern gehen partiell zurück auf Überlegungen zu einer vierten Raumdimension, die im Spezialdiskurs der Mathematik des 19. Jahrhunderts aufkommen und sich zu einem spekulativen Interdiskurs erweitern (1.1.1). Auf promimente Weise kurzgeschlossen werden kommunikationstechnologische Entwicklungen und literarische Techniken in programmatischen Texten des italienischen Futurismus; so etwa, wenn Filippo T. Marinetti Parallelen zwischen der neu entdeckten telegrafia senza fili und dem dichterischen Ingenium zieht oder zum Zwecke adäquaten dichterichen Ausdrucks eine typographische Revolution fordert (1.1.2). Aus medienhistorischer Perspektive ist dieser Befreiungsgestus u. a. als Reaktion auf die Technologisierung des Wortes in Form der Druckschriftlichkeit zu verstehen. Letztere verliert im ausgehenden 19. Jahrhundert ihren Status als Leitmedium und sieht sich stattdessen der Konkurrenz durch die audiovisuellen Medien Photographie, Film und Hörfunk ausgesetzt (1.1.3).
1.1.1 Mehrdimensionale Räume in der Geometrie Von Marshall McLuhan, dem bedeutendsten Medientheoretiker des 20. Jahrhunderts, ist aus dem bereits erwähnten Hauptwerk Understanding Media (1964) eine solitäre, in der Hypertextdiskussion vielzitierte Aussage überliefert, in der von nichteuklidischen Geometrien die Rede ist: »Today in the electric age we feel as free to invent nonlineal logics as we do to make non-Euclidean geometries.« (McLuhan 2003: 121) Dass McLuhans Hoffnung auf nichtlineare Logiken insbesondere an die Überwindung der linearen Alphabetschrift geknüpft ist, wird noch zu zeigen sein (vgl. 1.1.2). Zunächst soll jedoch nachgefragt werden, was mit nichteuklidischer Geometrie gemeint ist und worin deren Bedeutung im Hinblick auf eine Optimierung der Kommunikationsorganisation bestehen könnte. Als dreidimensional sich denkendes Lebewesen ist es nicht ganz einfach, sich einen Begriff von der vierten Dimension zu machen. Deshalb könnte es ratsam sein, sich zunächst einmal in die zweite Dimension zu begeben, und zwar mit einem satirischen Roman von Edwin A. Abott. Der Roman stammt aus dem Jahr 1884, seine Handlung ist in einem Raum angesiedelt, der Flatland heißt, weil er
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nur aus zwei Dimensionen besteht und – das sei hinzugefügt – er hat in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Renaissance erlebt, und zwar nicht nur im anglophonen Raum.22 Die Körper ebendort bestehen aus Linien, und sie bewegen sich ausschließlich auf Flächen. Wenn sich ein Flachländer vor seinen Landsleuten verstecken will, dann genügt ihm dazu eine Linie, wenn er schmal genug ist, auch ein Punkt. Als Bewohner der dritten Dimension würde man das Versteck natürlich sofort entdecken, während ein Flachländer Linie oder Punkt schon passieren müsste. Man könnte dem einen der beiden Flachländer ein Muttermal auf die Stirn malen, was dann von gar keinem der Mitbewohner mehr wahrgenommen werden könnte. Aber eine Minderheit der Bewohner von Flatland kann sich eine dritte Dimension vorstellen und ist dadurch befähigt, das gesamte Tun und Treiben und damit auch die weniger schönen Seiten der Flachlandwelt zu durchschauen. Kurz, zur Anwendung kommt das klassische Verfahren des fremden, verzerrenden Blicks, der vom verbündeten Leser adoptiert wird, und es besteht die Möglichkeit, Dinge wahrzunehmen, die im zweidimensional konditionierten Wahrnehmungshabitat nicht sichtbar werden können. Zwar mag Abbott mit seinem Roman in erster Linie satirische Absichten verfolgt haben, aber daneben zeugt Flatland auch von der zeitgenössischen Diskussion über die Existenz höherer Dimensionen. War doch unter Physikern und Mathematikern lange Zeit vor Einsteins Bestimmung der Zeit als vierter Dimension schon in den 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts eine lebhafte Debatte über die Möglichkeit höherer Dimensionen entstanden. Zum Beispiel stellte der Gauß-Schüler Bernhard Riemann in seiner Probevorlesung bzw. später dann veröffentlichten Schrift Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen (1854 / 1919) die euklidische Geometrie auf den Prüfstand: »Riemann wandte sich gegen die scheinbare mathematische Exaktheit der griechischen Geometrie, weil ihre Grundlagen, wie er feststellte, letztlich auf dem trügerischen Sand des gesunden Menschenverstands und der Intuition gebaut waren und nicht auf dem festen Boden der Logik.« (Kaku 1994: 53) So etwa lässt sich die natürliche Vielfalt in Gestalt von Meereswellen, Gebirgsketten oder Wolken mit ihren oft mehrfach in sich selbst gedrehten, gefalteten, geknitterten Formen mit Euklids Quadraten und Rechtecken nicht adäquat darstellen. Eine Lösung des Problems erhoffte man sich daher durch Berechnungen, die einen mehrdimensionalen Raum ins Kalkül ziehen. Dabei ging Riemann vom 22 Der Roman wurde 1966 ins Italienische übersetzt. Aber erst mit dem Aufkommen der jüngsten Hyper- und Cyberwelten trifft Flatlandia auf eine verstärkte Nachfrage. Seit er als Taschenbuch bei Aldelphi (1993) erscheint, gab es bereits 16 Neuauflagen. In Frankreich erschien Flatland ebenfalls erst im Jahre 1968 und wurde dann – eine weitere Parallele – in den 90er Jahren als Taschenbuch neu aufgelegt. – Zum aktuellen Interesse an diesem Roman vgl. auch Porombka (2001).
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Satz des Pythagoras aus (a2 + b2 = c2), wonach in einem rechtwinkligen Dreieck die Summe der Quadratflächen über den Katheten gleich dem Flächeninhalt des Quadrats über der Hypothenuse ist. Dieser Lehrsatz kann ohne weiteres auf den dreidimensionalen Raum übertragen werden, insofern die Summe der Quadratflächen von drei anliegenden Kanten eines Würfels der Quadratfläche der Diagonale entspricht; demnach gilt: a2 + b2 + c2 = d2. Aber auch über den dreidimensionalen Raum hinaus kann das Axiom fortgeschrieben werden: a2 + b2 + c2 + d2 + … = z2. Der Physiker Michio Kaku merkt dazu an, dass sich unser Gehirn zwar keine Vorstellung von einem n-dimensionalen Würfel machen kann, aber die Formel zu seiner Berechnung lässt sich auf einfache Weise entwickeln (ebd.: 58). Diese Gleichungen übertrug Riemann auf eine beliebige Zahl von Dimensionen. Dass er dabei auch positiv bzw. negativ gekrümmte Räume in seine Berechnungen miteinbezog, sollte – nachdem Riemann längere Zeit in Vergessenheit geraten war – bei Einsteins Formulierung der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie eminente Bedeutung erlangen.23 Man könnte nun natürlich einwenden, dass man sich in der abendländischen Geschichte der Metaphysik vom platonischen Höhlengleichnis über den christlichen Jenseitsraum bis zu frühneuzeitlichen Staatsutopien oder bis hin zu kommunikationstechnologischen Präsenzutopien24 zum wiederholten Mal Begriffe von Räumen gemacht hat, die zwar phantasieanregend gewesen sein mögen, aber keinen Sitz in der Empirie hatten, also nach den positivistischen Standards des 19. Jahrhunderts nicht mehr haltbar waren. Es sei kurz in Erinnerung gerufen, dass sich im 19. Jahrhundert nach der Erschöpfung des theologischen, philosophischen und enzyklopädischen Diskurses eine reine Wissenschaftstheorie herausbildet, die als Metatheorie ausschließlich ›Wissenschaftlichkeit‹ als solche untersucht und ganz neue Evidenzkulturen hervorbringt. Zwar tragen die parallel entstehenden Geisteswissenschaften ebenfalls das Attribut Wissenschaft in ihrem Namen, aber das Leitbild des Diskurstyps ›Wissenschaft‹ – und damit die Kriterien für Wissenschaftlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – wird eindeutig von den Naturwissenschaften geliefert. Vor diesem Hintergrund beruhte meines Erachtens die berechtigte und diskursiv erfolgreiche Annahme der Existenz eines Hyperraums
23 Vgl. hierzu im Detail die Abschnitte »Raumverwerfungen« bei Kaku (1995: 118ff.) bzw. »Gekrümmte Raumzeit« bei Close (2009: 91ff.). Kaku zufolge bestand das Problem Riemans darin, »daß er keine spezifische Vorstellung hatte, wie Gravitation, Elektrizität oder Magnetismus die Raumkrümmung bewirken. Sein Ansatz war mathematischer Natur ohne ein konkretes Bild von der Beschaffenheit der Raumkrümmung. Einstein gelang es, dort weiterzumachen, wo Riemann scheiterte.« (Kaku 1995: 119) 24 Zu Parallelen und Unterschieden zwischen historischen und aktuellen Medienutopien am Beispiel der Telegraphie und des Internets vgl. Spangenberg (2001).
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auf ihrer mathematischen Beweisbarkeit. In anderen Worten: Sie war bestens kompatibel mit der Evidenzkultur des positiven Wissens.25 Die zeitgenössische Konjunktur des Hyperraums dürfte darüber hinaus auch sozialpsychologisch motivierten Wunschvorstellungen entsprochen haben: In dem Augenblick, als im Zeitalter des Imperialismus die letzten weißen Flecken auf der Weltkarte ausgemalt werden und der dreidimensionale Raum als entdeckt gelten kann, bietet sich der Hyperraum als auch kategorial völlig neue Projektionsfläche für Entdecker- und andere -phantasien an. Es ist nämlich festzustellen, dass der mathematisch-naturwissenschaftliche Spezialdiskurs über den Hyperraum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusehends an Bedeutung verliert, während sich umgekehrt proportional dazu ein historischer, etwa für den Zeitraum zwischen 1870 und 1920 anzusetzender Interdiskurs über die vierte Dimension ausbildet und verstärkt in den Brennpunkt der Öffentlichkeit gerät, ein kollektiver Diskurs – das sei abermals betont –, der nicht mit Einsteins Überlegungen zur Raumzeit zu verwechseln ist und sich mit Letzteren nur partiell überschneidet. Im Anschluss an Foucault unterscheidet man in der Diskursanalyse zwischen Spezial- und Interdiskursen.26 Erstere vermehren sich seit dem 18. Jahrhundert explosionsartig, dabei den Erfordernissen einer modernen, arbeitsteiligen bzw. ausdifferenzierten Gesellschaft folgend. Der Ausfächerung in der Horizontalen entspricht dabei eine sich zuspitzende Spezialisierung in der Vertikalen. Während Spezialdiskurse dem Spezialisierungsgrad der Gegenstände entsprechend eigene ›Grammatiken‹ und ›Lexika‹ entwickeln, in denen sich Amateure kaum noch zurechtfinden werden, tendieren sie gegenläufig zu einem gewissen Maß an Reintegration, zur Koppelung mit anderen diskursiven Formationen, oder schlichter ausgedrückt: ganz allgemein zu kultureller Verzahnung, womit das Feld der Interdiskurse angesprochen ist. In der Literatur- und Kulturwissenschaft hat man diesen bei Foucault nicht ausgesprochenen Gedanken fruchtbar gemacht, indem nun gerade Literatur und Kunst, aber auch Kollektivsymbole zum bevorzugten interdiskursiven Dreh- und Angelpunkt für unterschiedliche Spezialdiskurse in den Blick genommen wurden: Literarische Texte zum Beispiel 25 Zur Erzeugung einer Kultur der Evidenz im Zeitalter der positiven Wissenschaften vgl. Titzmann (1997: 26). – Wie prestigeträchtig das Vokabular der experimentierenden und messenden Wissenschaften war, kann man daraus ersehen, dass entsprechende Begriffe gerne auch auf anderen Wissensfeldern gestreut werden. Man denke etwa an die Begriffe photographie und statistique im programmatischen Vorwort des Dictionnaire universel von Larousse. Großer Beliebtheit erfreute sich das Attribut exp8rimental, das auch in nicht experimentierenden Wissensbereichen eine gute Konjunktur hatte. Davon zeugen u. a. Zolas Le roman exp8rimental (1880), Coquerels Le christianisme exp8rimental (1847) und die von Bouvard und P8cuchet in Flauberts gleichnamigem Spätroman (1881) angewandte pädagogische m8thode exp8rimentale. 26 Zum Folgenden vgl. Link (1988).
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bilden eine Art diskursive Agora, ein hybrides Forum, »auf dem die Teildiskurse, in die sich unsere Rede-über-Welt im Zuge der zivilisatorischen Entwicklung aufgesplittert hat, allesamt verhandelt werden, […], die keinen Wahrheits-, sondern einen tentativen Anspruch transportieren.« (Küpper 2001: 208) In diesem Sinne werden auf dem Feld der Künste und der Literatur die vermeintlichen neuen Freiheiten des posteuklidischen Hyperraums »verhandelt«, indem man auf fiktionale Kunstgriffe verfällt und dabei entweder tiefere oder höhere Dimensionen imaginiert. Zur ersten Strategie gehört Abotts oben erwähnter Flachlandroman, zur zweiten zählt etwa Herbert George Wells Science-FictionRoman The Time Machine von 1895, in dem sich ein Zeitreisender am Ende des 19. Jahrhunderts eine Zeitmaschine gebaut hat, mit deren Hilfe er sich in der vierten Dimension der Zeit bewegen kann.27 In anderen Dimensionen bewegt sich auch die Protagonistin Alice in dem berühmten Roman Alice’s Adventures in Wonderland von 1865, der aus der Feder des Mathematikers Lewis Carroll stammt. Die Verbindung zwischen Spezial- und Interdiskurs wird in der Figur Carolls in besonderer Weise sinnfällig, weil dieser unter seinem echten Namen Charles Dodgson auch mathematische Werke veröffentlichte, darunter ein Lehrwerk der Geometrie mit dem Titel Euclid and his Modern Rivals (1879).28 Schließlich sei erwähnt, dass auch die bildende Kunst auf die mathematische Hypothese vom mehrdimensionalen Raum reagiert. Eine überzeugende Theorie sieht zum Beispiel in der kubistischen Perspektive weniger eine Reaktion auf die Herausforderung durch die Photographie oder, pauschaler, den Ausdruck einer Krise der Wahrnehmung; vielmehr verdanke sich der Kubismus dem Triumph der vierten Dimension. Erst durch die Einnahme eines höherdimensionalen Standpunktes konnten Picassos Seitenporträts entstehen.29 Nebenbei sei bemerkt, dass der Epochenbegriff Kubismus nicht ganz von ungefähr auf den Kubus fixiert war. Diente doch der Würfel als ostinates Illustrationsbeispiel in den wichtigsten zeitgenössischen Veröffentlichungen zum Komplex des Hyperraums.30 Wenn man abschließend noch einmal an McLuhans Parallelisierung zwischen nichteuklidischer Geometrie und nichtlinearer Kommunikationstechnologie zurückdenkt, dann könnte man nunmehr zu dem Schluss kommen, dass erst die 27 Vgl. hierzu Stopka (1999). 28 Zum Einfluss von Riemanns Kalkül höherer Dimensionen auf das literarische Werk Charles Dodgsons alias Lewis Carroll vgl. Kaku (1995: 39). 29 Vgl. hierzu Henderson (1983). 30 Schon der oben erwähnte Riemann deduzierte seinen Beweis von den n-dimensionalen Räumen am Beispiel von drei Würfelkanten. Der Mathematiker Charles Hinton bestimmte bereits im Jahr 1880 die Zeit als vierte Dimension. Zudem bemühte er sich um die Visualisierung höherer Dimensionen. Dabei bediente er sich eines Hyperwürfels, des später nach ihm benannten Hinton-Würfels (vgl. Kaku 1995: 93ff.).
Zur Archäologie der neuen Medien
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Einnahme eines höherdimensionalen Standpunktes oder der Wechsel des Mediums angemessene Einblicke in die tatsächliche Komplexität der Welt gewähre.
1.1.2 Historische Avantgarde und technische Medien: von Marinetti zu McLuhan
Ähnlich wie der Hyperraumdiskurs erweitert sich der Spezialdiskurs über neue Medien schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Interdiskurs, der das neue und spezielle Wissen über griffige Kollektivsymbole und schlagwortartige Verkürzungen ventiliert. Aus der Mitte der historischen Avantgarden heraus entsteht nachgerade in Gestalt des Futurismus eine Massenbewegung, die grundsätzlich alles feiert, was schnell ist oder schnell überträgt, also das Automobil, die Aeronautik und die drahtlose Telegraphie, eine Linie, die über McLuhan bis zu den heutigen Beschleunigungsapologeten auf der Datenautobahn reicht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die europäische Zivilisation in einem durchaus emphatischen Sinne damit beschäftigt sich neu zu erfinden. Das abgelaufene, dekadente Fin de SiHcle soll mitsamt seinen melancholischen Selbstzweifeln zu Grabe getragen werden. Im Frankreich der Dreyfus-Affäre31 hetzt der Pamphletist Maurice BarrHs als Speerspitze einer jugendbewegten Revolution gegen die defätistische Literatur seines Antipoden Pmile Zola. In einer ganzen Reihe von Artikeln für die Radsportzeitschrift L’auto-(v8lo) prägt er den Gegenentwurf vom vitalen Schriftsteller als »entra%neur, excitateur d’8nergie« (L’auto, 19. März 1907). Zur gleichen Zeit sehnt die deutsche Kunstbewegung des Expressionismus mit geradezu messianischer Erwartung eine vollständige Erneuerung der Menschheit herbei, und in Italien schließlich werden die ersten futuristischen Manifeste veröffentlicht. Letztere waren von nachhaltiger europäischer Bedeutung, so dass man mit gutem Recht von einem Globalisierungsschub avant la lettre sprechen kann.32 Darüber hinaus enthalten 31 Mit dem Untergang des II. Kaiserreichs vollzieht sich in Frankreich nicht nur ein politischer sondern auch ein diskursgeschichtlicher Wandel, in dessen Folge ein Dispositiv der Erkrankung und des Niederganges durch solche Formationen überschrieben wird, die nunmehr Heil statt Unheil setzen: Der negative Vitalismus der Dekadenz weicht einer intrikaten Regenerationsbewegung, die in unterschiedlichste Richtungen weist. Vgl. hierzu den Sammelband Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen (Leopold / Scholler 2010). 32 Das berühmte erste futuristische Manifest erscheint im Februar 2009 zunächst in verschiedenen Zeitschriften Oberitaliens und sieht sich sogleich von bissigen ›passatistischen‹ Kommentaren umrahmt (vgl. Behrens 2003: 37). Von globaler Bedeutung sollte dann die Veröffentlichung am 20. Februar 1909 auf der ersten Seite der französischen Tageszeitung Le Figaro sein. Das Manifest wird anschließend ins Russische, Englische, Deutsche und Spanische übersetzt und in der mundialen Presse verbreitet. Zudem muss den italienischen Futuristen trotz panitalienischer Schlagseite bescheinigt werden, dass sie das avancierteste
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Vom Hyperraum über das Datenmeer zum Hypertext
sie apologetische Reflexionen über die seinerzeit neuesten Medien, was für unseren medienarchäologischen Zusammenhang von einigem Interesse ist. Im ersten futuristischen Manifest liefert noch der zeittypische Vitalismus den philosophischen Nährboden für Marinettis Ekstasen. Eine neue Generation tritt an, die keinem über 30 traut (»Les plus .g8s d’entre nous ont trente ans«; Marinetti 1909: 1) und alles preist, was den Geist der Gefahr, der Energie, des Mutes, der Kühnheit, der Revolte und der fiebrigen Schlaflosigkeit atmet. Dies sind Eigenschaften, die der herrschenden passatistischen Kaste gänzlich fehlen, jenem ›italienischen Krebgeschwür‹ nämlich, das aus »professeurs, d’arch8ologues, de cic8rones et d’antiquaires« (ebd.) bestehe und von dem man sich schnellstmöglich befreien müsse. Aber es geht Marinetti nicht allein um die anthropologische Grundausstattung und um Berufsverbote. Bei genauerem Hinsehen verlässt sich der postulierte futuristische Überheld keineswegs auf seine schiere Kraft, vielmehr greift er zu Hilfsmitteln und Stimmungsaufhellern in Form medialer Erweiterungen. In der fünften These heißt es: »Nous voulons chanter l’homme qui tient le volant […]« (ebd.). Marinettis pompöse Periphrastik zielt offensichtlich auf den Automobilisten in Gestalt des Zweiradfahrers, des Kraftfahrzeuglenkers sowie des Flugzeugpiloten ab. Mit Hilfe der neuen Fortbewegungsmittel entsteht ein Geschwindigkeitsrausch, der im 20. Jahrhundert den Rang einer Transzendentali,e erhält, dergestalt, dass nach der Motorisierung der Verkehrsmittel am Ende des 20. Jahrhunderts die Realität selbst motorisiert wird, wenn man dem Dromologen Paul Virilio folgen mag: AprHs avoir motoris8 la voiture hippomobile / l’aide de l’8nergie de synthHse du moteur / l’explosion, lors de la r8volution des transports, voil/ que la r8volution des transmissions s’apprÞte / motoriser la r8alit8 de l’espace, gr.ce / l’imagerie de synthHse du moteur de l’ordinateur ; […]. (Virilio 1993: 192, Herv. im Original)
Dass die Feier der »8ternelle vitesse omnipr8sente« (Marinetti 1909: 1) in dem berühmten, noch symbolistisch geprägten Gedicht »All’automobile da corsa« in einer Weise verherrlicht wird, die an eine christologische Himmelfahrt unter veränderten Bedingungen gemahnt,33 muss als eine jener Innovationsironien mehrsprachige Projekt der gesamten historischen Avantgarde zustande gebracht haben. Zum poliglottismo futurista vgl. Knauth (1999). 33 Das Gedicht erschien zunächst auf Französisch in der Mailänder Zeitschrift Poesia, und zwar vier Jahre vor der Publikation des Futuristischen Manifests. Auf der Ausdrucksebene ist es – bis auf eine Ausnahme (»crrrrollanti a prrrrecipizio«) – weitgehend symbolistischen Konventionen verhaftet. Auf der Inhaltsebene lassen sich jedoch futuristische Topoi erkennen, insofern in Gestalt des Automobils ein neues Transportmittel besungen wird, das der avantgardistischen Begeisterung für die velocit/ entsprach. Im vorliegenden Gedicht wird das Automobil indes nicht wie sonst üblich als Körperprothese (vgl. Scholler 2009), sondern als Geliebter (»Che importa, mio d8mone bello? / Io sono in tua bal'a! Prendimi! … Prendimi!…«; Marinetti 1981: 310–315) modelliert, mit dem sich das lyrische Ich vermählt und in den Himmel aufsteigt, um die »terra immonda« (ebd.) hinter sich zu lassen.
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gewertet werden, die sich mitunter gerne dann herausbilden, wenn die Künder des Neuen allzu stark in das Pathos-Horn stoßen. Im ersten Manifest ist noch keine Rede von neueren Übertragungsmedien und ihren Konsequenzen für die menschliche Wahrnehmung. Wichtige Bausteine zu einer Art Medientheorie ante litteram werden in einem späteren, mit »Distruzione della sintassi« (1913) überschriebenen Manifest geliefert. Darin werden die wahrnehmungspsychologischen Folgen respektive anthropologischen Umkodierungen durch den seinerzeit statthabenden, umfassenden Medienumbruch auf eingängige Weise entfaltet: Coloro che usano oggi del telegrafo, del telefono e del grammofono, del treno, della bicicletta, della motocicletta, dell’automobile, del transatlantico, del dirigibile, dell’aeroplano, del cinematografo, del grande quotidiano (sintesi di una giornata del mondo) non pensano che queste diverse forme di comunicazione, di trasporto e d’informazione esercitano sulla loro psiche una decisiva influenza. (Marinetti 1968: 57)
Marinetti dringt demnach bereits zu einem vertieften Verständnis von der Materialität der Kommunikation vor, und wenn er von einem »completo rinnovamento della sensibilit/« (ebd.) spricht, dann weist er nolens volens auf die apriorische dispositive Funktion technischer Medien hin. Das ist umso erstaunlicher, als das Bewusstsein von der materiellen Basis der Kommunikation in der Kulturgeschichte traditionell nicht sonderlich ausgeprägt war. Im Gegenteil, der Kommunikationspsychologe Abraham Moles weist darauf hin, dass in der abendländischen Philosophie von alters her die Ideen im Mittelpunkt der Reflexion standen und sich von den älteren Kulturen nur die chinesische und die jüdische einen Begriff von der materiellen Seite der Kommunikationen machen konnten: »la civilisation 8crite de la Chine, qui consid8ra longtemps comme sacrilHge de d8truire quelque 8crit que ce f0t […] et la civilisation h8bra"que qui fonda sur le respect du Livre (La Torah) un subtil entrelac de doctrines logiques et th8ologiques, approchHrent par une voie semi-mystique le concept de la mat8rialit8 de l’8crit comme valeur intrinsHque.« (Moles 1972: 293) Erst mit der Erfindung der technischen Medien verändert sich auch im okzidentalen Denken die Perspektive, was dazu führt, dass der homo sapiens dem homo faber nicht länger hinterherhinkt:34 Durch entsprechende Ergänzungen steigert sich die Wahrnehmungs- und Aufnahmefähigkeit ins Unermessliche (»Ingigantimento del senso umano«; Marinetti 1968: 57). Dabei dient Marinetti die von dem italienischen Physiker Guglielmo Marconi seinerzeit entwickelte Drahtlostele34 Im okzidentalen theoretischen Diskurs konnte die materielle Seite der Kommunikation erst durch die Veröffentlichung des Sammelbandes Materialität der Kommunikation (Gumbrecht / Pfeiffer 1988) größere Aufmerksamkeit erfahren. Seither ist der materielle Aspekt nicht zuletzt auch der literarischen Kommunikation fester Bestandteil kommunikationstheoretischer Überlegungen.
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graphie (telegrafia senza fili) als Modell für eine Neuausrichtung der menschlichen Phantasie.35 Marinettis Argument ist dreiteilig: Da man mittels neuer Fortbewegungsvehikel bzw. neuer Übertragungstechniken entfernte Punkte der Erde bzw. entfernt lebende Kommunikationspartner kurzschließen könne,36 entstehe ein völlig neues Reservoir an Analogiebildungen, das wiederum in Wechselwirkung mit einer renovierten Einbildungskraft trete, die sich über entsprechende Ähnlichkeitsstrukturen bis in die Sprache des futuristischen Dichters verlängere und schließlich im futuristischen Genie-Text materialisiere: »Per immaginazione senza fili, io intendo la libert/ assoluta delle immagini o analogie, espresse con parole slegate e senza fili conduttori sintattici e senza alcuna punteggiatura.« (Marinetti 1968: 63) Marinettis Befreiungsdiskurs ist also das Ergebnis eines gewaltigen Medienumbruchs.37 Strenggenommen sind adäquate kulturelle Sinnbildungsprozesse fortan einzig und allein dank neuer Übertragunstechniken möglich, eine Sichtweise, die schließlich zur Apotheose der Medien selbst zu führen scheint, zu Marshall McLuhan. Einer der berühmtesten Sätze aus dem Theorienarchiv des 20. Jahrhunderts lautet »The medium is the message« und stammt aus seinem Klassiker Understanding Media (1964). Darin wird ein im Grunde einfacher, aber folgenreicher Gedanke geäußert. Bei der Reflexion über die Bedeutung von Medien müsse man vollkommen von übertragenen Inhalten absehen. Allerdings geht es McLuhan mit dieser Formel nicht um eine zynische Reduktion auf das permanente Rauschen, unangesehen der Botschaften. Vielmehr möchte er mit seinen Büchern auf die tiefgreifende und wirklichkeitsverändernde, wenn nicht realitätserzeugende Wirkung der technischen Medien hinweisen.38 Auf überzeugende Weise hatte er das bereits in seinem Buch The Gutenberg-Galaxy (1962) getan. Darin wird gezeigt, was es heißt, wenn mündliche Gesellschaften 35 Guglielmo Marconi (1874–1937) gilt als Pionier der drahtlosen Kommunikation. 1895 beginnt er mit Laborexperimenten auf dem Landgut seines Vaters. Später verlegt er sein Labor auf die Kreideklippen der Insel Wight. Er lässt sein System patentieren und gründet 1897 das Unternehmen Marconi’s Wireless Telegraph Company Ltd. mit Sitz in London. 1899 entsteht die erste drahtlose Verbindung über den Ärmelkanal. Die transatlantische Funkübertragung gelingt wenig später am 12. Dezember 1901. 36 Noch präziser wird das Argument in dem 1916 erschienenen Manifest »La nuova religione morale della velocit/« entfaltet. Darin behauptet Marinetti, dass man als Reisender im Zeitalter der Geschwindigkeit die Arbeit der Analogie gleichsam mechanisch verrichte und auf diese Weise wie ein Akkumulator automatisch mit produktiver Einbildungskraft aufgeladen werde: »Chi viaggia molto acquista meccanicamente il lavoro dell’ingegno, avvicina le cose distanti guardandole sinteticamente e paragonandole l’una all’altra e ne scopre le simpatie profonde.« (Marinetti 1968: 114–115) 37 Zum Medienumbruch speziell im Italien der Jahrhundertwende siehe auch die von Erst&c (2005) u. a. bzw. von Erst&c (2009) herausgegebenen Sammelbände Avantgarde – Medien – Performativität und Körper in Bewegung. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde. 38 Vgl. hierzu Böhme (2000: 185).
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über die Chirographie in das Zeitalter der Typographie eintreten: Die Technisierung des Wortes führt zu Veränderungen im Denken.39 Es mag von einigem Interesse sein, dass auch in dieser Hinsicht eine Linie zurück zum Futurismus führt. Schon Marinetti war die gleichmacherische technische Disziplinierung durch die Typographie nicht entgangen: Ein ursprünglich unverstelltes Denken, Dichten und Handeln wurde im Prozess der Zivilisation dem Normierungserfordernis linear organisierter Druckschriftlichkeit unterworfen. Daher plädiert er für eine »rivoluzione tipografica« (Marinetti 1968: 67). Der Schriftsatz habe mehrfarbig zu sein, außerdem sollten mindestens zwanzig Schrifttypen verwendet werden, schließlich Kursiv- und Fettdruck, und zwar mit folgendem Ziel: »Con questa rivoluzione tipografica e questa variet/ multicolore di caratteri io mi propongo di raddoppiare la forza espressiva delle parole.« (ebd.) Als weitere Maßnahme gegen eine passatistisch erstarrte Tradition beabsichtigt er im Sinne der neuen Simultanwahrnehmung einen »lirismo multilineo« (ebd.: 68) ins Werk zu setzen: Texte sollen nicht länger linear, sondern eher wie eine Partitur gestaltet sein, ein Vorhaben, das hundert Jahre später in der Diskussion um Hypertextualität fröhliche Urstände feiern sollte. Allerdings müsste man in Kenntnis der Mediengeschichte aus heutiger Sicht hinzufügen, dass Marinettis Schriftrevolte wie ein letzter Rettungsversuch zugunsten der Schrift als dem vormaligen Leitmedium wirkt, ein Versuch, der nolens volens scheitern musste – als zu stark hatte sich die Sogwirkung der neuen technischen Medien Photographie, Film und Hörfunk erwiesen. Dass die zunächst noch romantisch geprägte Schriftkultur im 19. Jahrhundert nach der Hochphase der Literalisierung um 1800 durch die Erfindung der photographischen Speichertechnik (1822) herausgefordert sah, ist bekannt. Wie Ralph Köhnen (2009) gezeigt hat, ist ab der Jahrhundertmitte von einer Medienkonkurrenz zwischen Literatur und Photographie auszugehen, welche mittelfristig dazu führte, dass das Bildmedium an Popularität gewann, was eine Neuverteilung der Aufmerksamkeitsressourcen nach sich zog und die Literatur zunehmend an den Rand drängte (ebd.: 382). So gesehen endet das Gutenbergzeitalter mit seiner gesamtgesellschaftlichen Dominanz der typographischen Schrift nicht erst mit der Ankunft des Hypertexts, sondern bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert – ein vorläufiger Befund, auf den noch zurückzukommen ist, zumal einige Anzeichen dafür sprechen, dass die Schrift im Zeichen der Hypertextualität neue Komplexitätsformen ausgebildet und damit auch neue Bedeutung gewonnen hat. Eine weitere, bereits von Marinetti gefasste Idee ist – wie oben gezeigt – die der körperlichen Extension. Technische Medien sind nicht einfach äußerliche 39 Zur Technologisierung der Schrift vgl. auch den nachfolgenden Abschnitt 1.3.3 dieser Arbeit.
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Werkzeuge, sondern Prothesen, künstliche Erweiterungen der beschränkten menschlichen Natur.40 Wie schon Marinetti greift auch McLuhan in seiner Medientheorie auf die Erfindung der drahtlosen Telegraphie zurück, der er im zweiten Teil seines Buches Understanding Media ein ganzes Kapitel gewidmet hat. Am Beispiel einer Verbrechensaufklärung illustriert er die Möglichkeiten der neuen Instantankommunikation. Dabei wird der Fall des Arztes Dr. Hawley H. Crippen geschildert, der im Jahr 1910 in London seine Frau umgebracht und sich anschließend mit seiner Sekretärin nach Amerika eingeschifft hatte. Weil das unter falschem Namen reisende Paar dem Kapitän verdächtig vorkam und weil das Passagierschiff Montrose als eines der wenigen mit einem MarconiFunkgerät ausgerüstet war, konnte er Scotland Yard informieren, was Dank sofortiger Entsendung eines Schnellbootes zur Festnahme des Mörders führte (McLuhan 2003: 246). McLuhan zufolge zeigt dieses Beispiel, was es bedeutet, wenn die Instantangeschwindigkeit der Informationsbewegung einsetzt: In modernen Verwaltungsapparaten können Handlungsanweisungen im direkten Durchgriff von ganz oben nach ganz unten geleitet und ausgeführt werden. In anderen Worten: There is a collapse of delegated authority and a dissolution of the pyramid and management structures made familiar in the organization chart. The separation of functions, and the division of stages, spaces, and tasks are characteristic of literate and visual society and of the Western world. These divisions tend to dissolve through the action of the instant and organic interrelations of electricity. (ebd.: 247)
Durch Elektrizität werden die verschiedenen Institutionen der Gesellschaft wie in einem organischen Gesamtkörper miteinander verbunden. Gegenüber den Prothesenbildungen des mechanischen Zeitalters, in welchem immer nur einzelne Teile des Körpers veräußerlicht wurden (die Hand als Hammer, der Fuß als Rad, das Hinterteil als Stuhl), kommt es im elektronischen Zeitalter zu einer vollständigen Ausdehnung des Zentralnervensystems: »electricity may be said to have outered the central nervous system itself, including the brain.« (ebd.) Die Schnelligkeit und Gleichzeitigkeit der Nervenreizleitung ist es also, die den Medientheoretiker zu einem Vergleich mit dem Funktionsmechanismus technischer Medien veranlasst. Aktionspotentiale, die bis dato allein die Nervenströme einer Person regelten, verwandeln sich zu einem ›sozialen Hormon‹,41 das die Grenzen des Körpers verlässt und – je nachdem, wie man die McLuhansche Extensionssemantik weiterspinnt – sich zu einem kosmischen Ze40 Durch die Idee der körperlichen Extension wird McLuhans Medientheorie um eine anthropologische Komponente erweitert. Nitsch (2005) weist darauf hin, dass sich in der Nachfolge McLuhans sowohl technikzentrierte als auch anthropologische Medientheorien mit jeweils gutem Recht auf McLuhan berufen können. 41 Der Untertitel des Telegraphenkapitels lautet »The Social Hormone« (McLuhan 2003: 229).
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rebralsystem bzw. zu einem intersubjektiven Hormonhaushalt auswächst, wodurch alle Menschen zu Bewohnern des global village mutieren. Sichtbare Zeichen einer damit gegebenen ubiquitären Affektionsbereitschaft sind die Antennen der Großstädte, die wie Fühler angstvoll in den Himmel ragen,42 oder – auf die heutigen Verhältnisse bezogen – die Ohrmuscheln ähnelnden Satellitenschüsseln bzw. die ›subkutan‹ verlaufenden Nervenbahnen in Gestalt der ultraschnellen Breitbandnetze. Bei aller Kritik im einzelnen muss man aus heutiger Sicht doch konzedieren, dass McLuhans Fixierung auf die Materialität der Kommunikation wichtige Einsichten hervorgebracht hat, und seine Thesen haben sicherlich dazu beigetragen, dass Kulturgeschichte nicht länger als reine Ideengeschichte betrieben werden kann. Nicht zuletzt durch die digitale Revolution kann sich McLuhan bestätigt sehen. Niemand wird bestreiten, dass die Art und Weise des Übertragens und Speicherns konstitutiv ist für die Stiftung von kulturellem Sinn. Auf diesen Zusammenhang hatte im Übrigen schon McLuhan selbst hingewiesen, und zwar wiederum in seinem Telegraphiekapitel, wo er die These aufstellt, dass sich die neuen Verfahren der Nachrichtensammlung und -verbreitung in eminenter Weise auf Sprache, Stilistik und Themen ausgewirkt habe (McLuhan 2003: 337).43 Dieser für unseren Analyseteil grundlegende Gedanke geht im Zeitalter digitaler Kommunikation keineswegs verloren, sondern wird, ganz im Gegenteil, an die veränderten Zeitläufte angepasst und dementsprechend weiterentwickelt, wie nachstehende Rezeptionsbeispiele zeigen. Zugespitzt wird die technikzentrierte Seite in McLuhans Ansatz durch den deutschen Medienphilosophen Norbert Bolz. Für ihn sind technische Medien Apparate, die das, was man einmal Geist nannte, längst ausgetrieben und sich an dessen Stelle gesetzt haben.44 Ehemals transzendentale Subjekte gehen in die 42 Medienumbrüche setzen Ängste frei. McLuhan weist darauf hin, dass jede neue Körperausdehnung traumatisch wirken kann. Mit dem Zeitalter der Telegraphie beginne auch das Zeitalter der Angst: »In the same year […] that men were playing chess and lotteries on the first American telegraph, Søren Kierkegaard published The Concept of Dread. The Age of Anxiety had begun.« (McLuhan 2003: 337). 43 Dem Studium der Rückkoppelungseffekte neuartiger Aufschreibesysteme hat sich bekanntlich der deutsche Literaturwissenschaftler und Medientheoretiker Friedrich Kittler gewidmet, etwa in seiner Studie Aufschreibsysteme 1800/1900 (Kittler 1985). 44 Auch diesbezüglich scheinen Geist und Buchstabe Kittlers wie eine unsichtbare Hand im Hintergrund zu wirken: Einen wichtigen Anstoß dürfte dabei der einschlägige Sammelband Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften (Kittler 1980) geliefert haben. Darin postuliert Kittler einen Paradigmenwechsel, der sich in der Abkehr von den Geisteswissenschaften und ihren Methoden äußert, dergestalt, dass die neu entstandenen und um 1900 wissenschaftliche Dignität erlangenden Diskurse – Psychoanalyse, Linguistik und Ethnologie – sich nicht länger mit dem Geist, sondern mit dessen Abfallprodukten befassten, nämlich mit dem »Schmutz der Sexualitäten«, den »Abfällen, die die Kolonisatoren übrig ließen« sowie mit dem »Buchstabensalat gewisser altlateinischer Verse, die die Literatur-
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Regelkreisläufe der Kybernetik ein, ja, laut Bolz verstünden sich Wissenschaftler wie L8vi-Strauss und Luhmann als Computer, in die man Daten eingeben und dann neue Ergebnisse produzieren könne: »Die freien Gedanken sind zerebrale Software, Geist ist der Inbegriff aller möglichen Datenkombinationen, und Kultur heißt das Spiel auf der Tastatur des Gehirns.« (Bolz 1990: 117) Eine renovierte Variante der Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften zeichnet sich in der jüngeren McLuhan-Rezeption ab, und zwar aus medienanthropologischer Sicht. So etwa behauptet Stefan Rieger in dem kürzlich erschienenen Sammelband McLuhan neu lesen, die von McLuhan stammende Redeweise vom Menschen als einem Prothesenwesen folge veralteten »Denkschematismen wie dem Leib-Seele-Dualismus« oder dem »von res extensa und res cogitans« (Rieger 2008: 264). Es handele sich um ein Missverständnis der Medientheorie, wenn sie den Menschen als ein Mängelwesen fasse, das diesen Mangel durch leistungssteigernde und als additiv verstandene künstliche Extensionen ausgleiche und genau deshalb seine Natürlichkeit umso deutlicher verfehle (ebd.: 256). Demgegenüber plädiert Rieger auf der Basis avancierter Organismustheorien dafür, Medien nicht wie in der Anthropologie üblich als sekundär und abgeleitet zu fassen, wodurch nur die nicht länger haltbare Grenze zwischen Organischem und Künstlichem durch fortgesetzte Extensionssemantiken immer wieder aufs Neue bestätigt würde. Stattdessen zeige das Beispiel künstlich geschaffener Amöben bzw. umgekehrt dasjenige von aus sich selbst heraus entstehenden Automobilen (ebd.: 263),45 dass die »Differenz zwischen Organ und Technik, zwischen Biologie und Physik […] ebenso sinn- wie hinfällig geworden« (ebd.) sei. Demzufolge ist nicht länger von Extensionen die Rede, vielmehr »kann die Technik in das Innere des Menschen eindringen und unterhalb der extensionfähigen Oberfläche sein Sein bestimmen« (ebd.: 263– 264). Daraus wiederum erschließt sich Riegers Hauptthese von der ›Natürlichkeit der Medien‹, welche die üblichen Dichotomien wie ›innen vs. Außen‹, ›natürlich vs. Künstlich‹ oder ›Körper vs. Geist‹ immer schon unterläuft, weil Medien – so wäre wohl zu folgern – zwar einerseits als rein äußerliche Werkzeuge aufgefasst werden, andererseits aber auch evolutionär mit dem Menschen verflochten und ihm deshalb zur zweiten Natur geworden sind. Mit dieser Volte erhält die Mediensemantik eine neue Bedeutungsfacette, die womöglich der Tatsache Rechnung trägt, dass Informatik und Biowissenschaften partiell konvergieren. Aber auch im Hinblick auf die aktuellsten Entwicklungen im Hardhistoriker überlesen hatten«, welche der »einsame Wahnsinn Saussures« (ebd.: 9) auf Götternamen absuche. 45 Das Amöbenbeispiel verweist auf Überlegungen Jakob von Uexkülls in Bezug auf die Struktur von Protoplasma, welches sich mittels Pseudopodien fortbewegt, wobei Letztere aufgrund ihres instabilen Status‹ bald als Extensionen bald als Organe erscheinen (vgl. Rieger 2008: 260).
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ware-Segment erscheint das stimmig: Legt doch die Verwandlung des vormals dominant unidirektionalen Internets in das beteiligungsfreudige und quasi organisch wuchernde Web 2.0 eine solche Sichtweise nahe. Hinzu kommt, dass die digitalen Maschinen in Gestalt kleiner, anthropomorpher ›Handschmeichler‹ wie den neuen, superleichten Notebooks und Tablet-Computer sowie der jüngsten, webfähigen Handygeneration ihren Maschinencharakter unmerklich vergessen lassen, indem sie sich zusehends unserem Körper einverleiben: Das Mobiltelephon steckt in der Hosentasche, das Display gleicht dem Auge, beide sind aufeinander ausgerichtet, wie zu einer geliebten Person wird regelmäßig Blickkontakt hergestellt. Nicht zuletzt entfällt zunehmend die disziplinierende Zäsur der Tastatur, stattdessen ›streicheln‹ wir Berührfelder (touchpads) und Berührbildschirme (touchscreens).46 Daraus wäre die radikale Konsequenz zu ziehen, dass der Mensch und das, was seinen Stolz ausmacht – Phantasie und Kunst – in Datenverarbeitung und Physiologie zerfällt. So gesehen hätten zumindest einige Vertreter der jüngeren Medientheorie den letzten Rest selbstbestimmten Schaffens und Handelns zugunsten einer beinahe lustvollen Unterwerfung unter die Allmacht der technischen Medien aufgegeben. Mit dieser pessimistischen Sicht werden McLuhans historische Einsichten im Lichte der Biowissenschaften sicherlich weitergehend ausgefaltet und aktualisiert, andererseits aber auch verkürzt. McLuhan hatte immerhin postuliert, dass den medialen Prothesen bzw. den ›natürlichen Medien‹ durch Bewusstmachung ihre deterministische Macht genommen werden kann: Gewiss, McLuhan stellt zunächst heraus, dass das intrikate Wechselspiel zwischen latenter und manifester Extension dem Menschen selbst nicht bewusst ist, weil technische Erweiterungen dem Subjekt auch als Selbstamputationen erscheinen, die deshalb nur mittels Selbstbetäubung ertragen werden können. Allerdings kann der Mensch der Narkose entkommen und zur Einsicht in seine evolutionäre Verflechtung mit den Medien gelangen, nämlich als Künstler.47 Luzide indirekte Stellungnahmen zu medialen Effekten und Funktionen auf literarischem Feld leisten etwa Cervantes’ Don Quijote, dessen Protagonist als typographischer Mensch agiert, aber auch Joyces Roman Finnegans Wake, den 46 Auf notorische Weise thematisiert werden mögliche Schnittstellen zwischen organischem Leben und digitaler Technik in den philosophischen Filmwelten David Cronenbergs, namentlich in seinem Film eXistenZ (1999). Darin bewegen sich die beiden Hauptfiguren mittels einer organischen Konsole, die über einen Bioport an das Nervensystem der Spieler angeschlossen ist, bald in der virtuellen, bald in der reellen Welt und machen dabei abgründige Erfahrungen. Allerdings muss gesagt werden, dass der technisch-biologischen Transgression in diesem Film – wie häufig in Fiktionen der 90er Jahre – das Odium der medialen Katastrophe anhaftet. So gesehen bietet Cronenbergs klobiger, ›bösartiger‹ Bioport einen grotesken Kontrast zu den smarten, anschmiegsamen und ›guten‹ Geräten unserer Tage. 47 Auf diesen Aspekt hat Wolfram Nitsch (2005: 85) hingewiesen.
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McLuhan im Verbund mit Joyce als »ABCDE-minded« (McLuhan 2003: 383) begreift – die anthropologische Botschaft des Mediums kann solchermaßen im Vorgriff auf explizite Medientheorie gelesen werden.48 Schließlich muss darauf hingewiesen werden, dass die oben geschilderten Vorstellungstopoi über den Hyperraum in der posteuklidischen Geometrie bzw. über McLuhans nichtlineare Logiken bis in unsere Tage eine erstaunliche Kontinuität aufweisen. Literarische und wissenschaftliche Entwürfe des Hyperraums aus dem 19. Jahrhundert ähneln auf verblüffende Weise den Modellen heutiger Physik, insbesondere hinsichtlich der Vorstellung von der Existenz sogenannter ›Wurmlöcher‹ im Universum. Der Eintritt in höhere Dimensionen über derartige Löcher soll zwar theoretisch möglich, aber angesichts der benötigten Energiemengen auf unabsehbare Zeit nicht realisierbar sein, wenn man dem japanischen Physiker Michio Kaku (1995: 36) glauben darf. Relevant sind dabei im Hinblick auf literarische Verarbeitungen weniger physikalische Details als vielmehr jene eschatologischen Motive, die zumindest einen Teil der Physiker-Zunft umtreiben. Nach dem als sicher anzunehmenden Tod unseres Universums böte natürlich die Hyperraumtheorie die letzte Chance für die Rettung von intelligentem Leben: »In den letzten Sekunden vor dem Tod unseres Universums kann dieses Leben dem Endkollaps vielleicht dadurch entgehen, dass es in den Hyperraum flieht.« (ebd.: 11) Möglich ist diese Flucht durch die Annahme von sogenannten ›Schwarzen Löchern‹ oder ›Wurmlöchern‹. Letztere werden von Kaku auf Arbeiten des neuseeländischen Mathematikers Roy Kerr wie folgt beschrieben: Wie Kerr festgestellt hat, stürzt ein massereicher rotierender Stern allerdings nicht zu einem Punkt zusammen, sondern flacht sich ab, bis er schließlich zu einem Ring mit interessanten Eigenschaften zusammengepreßt wird. Schösse man eine Sonde von der Seite in das Schwarze Loch hinein, so würde sie beim Auftreffen auf den Ring völlig zerstört. […] Wenn man jedoch eine Raumsonde von oben oder unten in den Ring schösse, wäre sie einer großen, aber endlichen Krümmung ausgesetzt; die Gravitationskraft wäre also nicht mehr unendlich. Diese ziemlich überraschende Schlußfolgerung aus Kerrs Lösung bedeutet, daß jede Raumsonde, die ihren Weg durch ein rotierendes Schwarzes Loch entlang einer Rotationsachse suchen würde, im Prinzip die enormen, aber endlichen Gravitationsfelder im Zentrum überstehen und ins Spiegeluniversum gelangen könnte. (ebd.: 275)
48 Zur Dämpfung der Determinationsmacht technischer Medien durch reflexive Medienkritik vgl. auch Böhme (2000: 19), der McLuhan vor rein technikzentrierten Interpretationen in Schutz nimmt. – Was Nitschs Überlegungen in Bezug auf die Antizipationskraft der Kunst angeht, ein Gedanke, der bei McLuhan immerhin konturiert wird, so scheint mir diese insbesondere im Falle eines Medienwechsels gegeben, und zwar aufgrund der dann möglichen altermedialen Verfremdungseffekte (vgl. hierzu insbesondere Abschnitt 3.3 dieser Arbeit).
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Analog zu den mediologisch stimulierten Perfektibilitätsszenarien Marinettis und McLuhans, die sich mit dem Aufkommen der audiovisuellen Medien verknüpften, bildet sich demnach in der Physik die Vorstellung von utopisch anmutenden Paralleluniversen aus, in denen man die Beschränkungen der dritten Dimension hinter sich lässt. Wenn man dort eintrifft, dann wird ein archimedischer Punkt erreicht, der dem limitierten Subjekt eine tiefere Einsicht in ebendiesen Beschränkungszusammenhang gewährt. Eine solche Tunnelflucht der anderen Art verläuft jedoch nicht ganz verlustfrei, denn die Ankunft an einem solchen Ort der Gegenwartsüberschreitung ist um den Preis kognitiver Ohnmacht erkauft, weil es sich um einen unbegreiflichen Raum handelt, in dem die Maßstäbe der dritten Dimension (zum Beispiel Identität, Kausalität, Uniformität und Sukzessivität) keine Gültigkeit mehr besitzen, ein Raum der Freiheit also, der gewisse Risiken birgt oder, um mit Porombka zu sprechen: »Der durch den Hyperraum versprochene Machtgewinn läßt sich also nur durch Ohnmacht erkaufen.« (Porombka 2001: 202) Wie an anderer Stelle dargelegt,49 referiert Porombka die mathematische bzw. physikalische Theorie des Hyperraums mit einem kaum zu überlesenden ironischen Einschlag. Mit Hilfe des ironischen Vorbehalts sollen diese Vorstellungen – zumal im Rückgriff auf ähnliche Ideen in der Science-Fiction-Literatur – herabgesetzt werden, um anschließend als Erklärungsmodell für eine Metaphysik der neuen Hypermedien zu dienen. Durch diesen leicht durchschaubaren Kunstgriff ist Porombka von der seriösen Darstellung seines eigentlichen Gegenstandes – die Studie trägt den Titel Hypertext – von vornherein dispensiert: Aufgrund der behaupteten Similarität zwischen Hyperraum- und Hypertexttheorie muss Letztere zwangsläufig als Ansammlung von gescheiterten Wunschvorstellungen erscheinen. Immerhin ist Porombka in einzelnen Fällen durchaus Recht zu geben, zumal dann, wenn er auf die übertriebenen Vorstellungen historischer Hypertextideen zu sprechen kommt.50 Letztere sind interdiskursiv wirksam und gewinnen in literarischen Darstellungen durchaus topische Relevanz. Aber wird er damit auch der Sache selbst gerecht, also dem im Haupttitel affichierten Phänomen Hypertext? Da diese Frage verneint werden muss, soll im Folgenden ein anderer Weg beschritten werden, insofern nämlich die Vorgeschichte der Hypertextualität auf einer aus Sicht der Philologie näher liegenden Theoriebasis erschlossen werden soll: auf der Basis der Schrifttheorie.
49 Vgl. Scholler (2003). 50 Vgl. hierzu den Abschnitt 1.3.1 dieser Arbeit.
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1.1.3 Technologisierung des Wortes Das Neue an den neuen Medien kann erst erkennbar werden durch Mediendifferenz. Wer über ein neues Medium sprechen will, muss auf ältere Bezug nehmen. Betrachtet man die Mediengeschichte unter den Auspizien des Schrifttheoretikers Walter J. Ong (1987), dann lassen sich zwei epochale Wendepunkte ausmachen: Die Einführung der Schrift vor ca. 3500 Jahren und die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. Beide Umbrüche, so Ongs Hauptthese, führten mit unterschiedlicher Schubkraft dazu, dass sich orale Kulturen in literale verwandelten. Durch die Technologisierung des Wortes wird die Psychodynamik einer mündlich geprägten Sprache verabschiedet. Zum Beispiel sind mündliche Formen der Wissensspeicherung und -überlieferung in primären oralen Kulturen nach den Gesetzen der Mnemonik angelegt. Sie sind eher additiv als subordinierend, eher aggregativ als analytisch, sie weisen mehr Redundanz auf als schriftlich fixierte, stärker linear fortschreitende Aufzeichnungen, sie sind homöostatisch, das heißt, sie scheiden für die Gegenwart unbrauchbare Erinnerungen aus, außerdem pflegen orale Kulturen »Begriffe in einem situativen, operativen Bezugsrahmen anzuwenden« (ebd.: 54). Mit dem Aufkommen der Schrift zieht nun eine Technologie ein, welche die genannten Eigenarten primär oraler Kommunikation überflüssig macht. Nachgerade in Form des Alphabets mit seinen kleineren, analytisch genaueren und operationalisierbaren Einheiten stellt die griechische Schrift gegenüber piktographischen oder silbenorientierten Schriften einen enormen Fortschritt dar – so der Schrifttheoretiker Derrik de Kerckhove (1981) –, weil sie die linksseitige Aktivität des Gehirns begünstige und damit analytisches Denken fördere. Dass geschriebene Sprache aufgrund mangelnder situationaler Kontexte distanzierter ist und präziser sein muss, ist ein linguistischer Gemeinplatz und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Alle Schreibenden wissen das und erfahren es immer wieder aufs Neue, wenn es gilt, ebendiesen situational gap auf mühsame Weise schreibend zu überbrücken. Ist die chirographische Epoche noch in stärkerem Maße an ein idiosynkratisches Subjekt gebunden, so wird die Technik des Schreibens vollends objektiv durch die Typographie, insofern gedruckte Schrift den Charakter des Schreibenden verbirgt oder, wie Heidegger diesen Sachverhalt in seiner ParmenidesVorlesung ausdrückt: »In der Maschinenschrift sehen alle Menschen gleich aus« (Heidegger 1982: 119). Vor dem Gutenbergzeitalter gab es beispielsweise noch keine Großwörterbücher, die den Schatz einer Sprache umfassend gespeichert hätten, weil ein solches Werk spätestens nach der dritten Abschrift zu vielen Ungenauigkeiten geführt hätte. Neben dem Schullatein, das eine primär literale Existenz führte und immun war gegenüber muttersprachlicher Situationalität, ging insbesondere von den Großwörterbüchern eine vereinheitlichende, ob-
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jektivierende Wirkung aus. Dabei weist Ong hinsichtlich der Wörterbuchgeschichte auf einen bemerkenswerten Rückkoppelungseffekt innerhalb des Mediums Druck hin: Wörterbuchautoren akzeptieren zunächst ausschließlich gedruckte Sprache als Norm, keineswegs die mündliche Sprache und nicht einmal Handschriftliches. Das änderte sich – so Ong im Hinblick auf anglophone Lexika – erst mit Webster’s Third New International Dictionary (1961), was dann auch prompt zu empörten Protesten auf Seiten der Sprachpuristen geführt habe, so sehr war Gutenberg verinnerlicht worden (Ong 1987: 130). Während die Geschichte der Technologisierung des Wortes aus dem Blickwinkel Walter Ongs als teleologischer Perfektibilitätsprozess gelesen werden kann, benennt Marshall McLuhan im Gegenzug in erster Linie die Opfer, welche im Prozess der Literalisierung erbracht werden mussten. Für McLuhan steht fest, dass die zunehmende Dominanz der Schriftlichkeit zu einer anthropologischen Konditionierung auf die dreidimensionale Perspektive und damit zu einer nicht hinnehmbaren Beschränkung der conditio humana geführt habe. Im ersten Kapitel von Understanding Media erläutert McLuhan den beschränkten Standpunkt des literal geprägten Menschen wie folgt: For the man in a literate and homogenized society ceases to be sensitive to the diverse and discontinous life of forms. He acquires the illusion of the third dimension and the ›private point of view‹ as part of his Narcissus fixation, and is quite shut off from Blake’s awareness or that of the Psalmist, that we become what we behold. (McLuhan 2003: 32)
Im Verständnis McLuhans sind demnach literal geprägte Gesellschaften auf notwendige Weise homogen im negativen Sinn des Wortes, insofern nämlich die Literalisierung der menschlichen Kommunikation eine isolierende Wirkung hat: Sie schneidet die Mitglieder schriftkundiger Gesellschaften von der diskontinuierlichen Fülle eines vormaligen Stammeslebens ab. Diesen im ersten Kapitel von Understanding Media nur am Rande geäußerten Gedanken führt McLuhan dann im neunten Kapitel unter der Überschrift »The Written Word: An Eye for an Ear« (ebd.: 115) genauer aus. Dabei rekapituliert McLuhan im Rekurs auf die mythologische Geschichte der Schrift zunächst die machtpolitische Bedeutung, die mit der Einführung und Verbreitung der Schrift einhergeht. Schrift und Macht verkörpern sich in der mythologischen Gestalt des phönizischen Königsohns Kadmos, der bei den Griechen die Schrift einführte und nach dem Sieg über einen Drachen das Königreich von Theben gründete. Auf Anraten der Pallas Athene hatte Kadmos die Zähne des getöteten Drachens ausgesät, woraufhin aus dem ›Saatgut‹ kämpfende Männer erwuchsen, die sich gegenseitig bekriegten, bis schließlich fünf von ihnen Frieden schlossen, um in der Folge mit Kadmos den Staat von Theben zu gründen. Auch wenn McLuhan es selbst so nicht expressis verbis aussagt, deutet er die Drachentötung als Überwindung des Mythos durch den Logos, indem er einen Nexus zwischen den
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Zähnen des Drachens und der alphabetischen Schrift herstellt: »Teeth are emphatically visual in their lineal order. Letters are not only like teeth visually, but their power tu put teeth into the business of empire-buildung is manifest in our Western history.« (ebd.: 119) In der Realgeschichte, so McLuhan, habe das gegenüber den präalphabetischen Schriften einfachere Alphabet in Verbindung mit dem leichten und billigen Papyrus zu einem »transfer of power from the priestly to the military class« (ebd.) geführt. Die Erwähnung nichtalphabetischer Schriften sowie die rekurrente Unterscheidung zwischen Orient und Okzident deuten darauf hin, dass die Einführung der Schrift an und für sich kein hinreichender Grund für die oben beschriebene Dialektik der Aufklärung im Geltungsbereich des Abendlandes sein konnte. Entscheidend für die verlustvolle Separierung des schriftkundigen Ichs ist der Charakter des arbiträren phonetischen Alphabets: »The phonetically written word sacrifices worlds of meaning and perception that were secured by forms like the hieroglyph and the Chinese ideogram« (ebd.). Letztere Schrifttypen würden die Verbindung zur magischen Diskontinuität traditioneller Welten weiterhin aufrecht erhalten, während die Zäsur der Alphabetschrift so scharf sei, dass die eigentliche Botschaft in ihrer isolierenden Form liege. In den Worten McLuhans: »It is in its power to extend patterns of visual uniformity and continuity that the ›message‹ of the alphabet is felt by cultures.« (ebd.: 120) Auf der Grundlage dieser Analyse geht McLuhan sogar so weit zu behaupten, dass die im Prinzip richtigen, in der Philosophiegeschichte berühmt gewordenen Einsichten David Humes und Immanuel Kants im Hinblick auf das Problem der Kausalität letztinstanzlich erst von ihm selbst zu Ende gedacht worden seien, insofern nämlich die alphabetische Schrift als »chain of inference« (ebd.: 121) für den bekannten, von David Hume aufgedeckten Folge-Ursache-Fehlschluss verantwortlich sei. Ob McLuhans Analyse der Schrift einer strengen Prüfung von Seiten der Sprachwissenschaft und der Philosophie Bestand haben kann – das sei an dieser Stelle hervorgehoben –, ist nicht von Bedeutung. Entscheidend für den weiteren Gang der Untersuchung ist die nachhaltige diskursbestimmende Wirkung, die von seinen Schriften ausging und die Sprach- und Denkformen seit den 1990er Jahren bis in unsere Tage nachhaltig prägte und weiterhin prägt.51 Im jüngeren medienwissenschaftlichen Metadiskurs wird herausgestrichen, dass erst McLuhans Ausrichtung auf die Form der Medien – in der er die eigentliche Botschaft zu erkennen glaubt – den Boden für eine eigenständige Medienwis51 Einschränkend sei gesagt, dass McLuhans Bücher in der durch die Frankfurter Schule dominierten medienkritischen Stimmung der BRD in den 60er Jahren wenig Beachtung fanden. Das medienpolitische Interesse richtete sich seinerzeit eher auf eine Veränderung geltender Strukturen der ›Bewusstseinsindustrie‹, zum Beispiel im Sinne alternativer Medienpraxis (vgl. Spangenberg 2002: 88).
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senschaft bereitet hat. Beispielsweise hebt Leschke (2003), wenn er von der Ordnung der Medienwissenschaften spricht, nicht nur McLuhans Bedeutung für die Konstitution einer Disziplin hervor (ebd.: 245), sondern er liefert darüber hinaus auch eine Erklärung für die globale Wirkung seiner Ideen. Demnach verfügt McLuhans Konzept als generelle Medienontologie über eine narrative Struktur : Die Menschheitsgeschichte wird als Abfolge der allseits bekannten Medien Sprache, Schrift, Druck, Radio und Fernsehen auf ein Telos hin erzählt, was nicht unwesentlich für die »strukturelle Bekömmlichkeit« (ebd.: 248) sei.52 Was aber hat die diskursive Breitenwirkung McLuhans mit der Ankunft im Hypertext zu tun? – Nimmt man den oben gesponnenen Faden wieder auf, dann rückt man der Antwort näher, insofern nämlich in der vielfach beschworenen Gefahr einseitiger Literalisierung auch das Rettende sich abzuzeichnen beginnt, und zwar in einem bereits zitierten Statement, das singulär bleibt in dem hier in Rede stehenden schriftkritischen neunten Kapitel von Understanding Media: Today in the electric age we feel as free to invent nonlineal logics as we do to make nonEuclidean geometries. Even the assembly line, as the method of analytic sequence for mechanizing every kind of making and production, is nowadays yielding to new forms. (ebd.: 121)
Nicht ohne Euphorie begreift McLuhan sein eigenes elektronisches Zeitalter als Erfüllung einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Verheißung: Er zieht nämlich eine Parallele zwischen der historischen Entdeckung mehrdimensionaler posteuklidischer Räume in der Geometrie (vgl. 1.1.1) auf der einen Seite und aktuell möglich gewordenen Ausdrucks- und Vorstellungswelten auf der anderen Seite. Letztere müssen nicht länger der linearen Schriftlogik verhaftet bleiben, sondern werden durch andere Medien der Kommunikation ersetzt. Denn am Ende der langfristigen Technologisierung des Wortes entsteht mit dem Aufkommen der Medien Telephon, Hörfunk und Fernsehen das Phänomen einer neuen, sekundären Oralität. Diese beruht auf einer technischen Basis, die es ermöglicht, jene Unmittelbarkeit zurückzugewinnen, die durch die distanzbildende Schriftkommunikation verloren gegangen war. Von vorrangiger Bedeutung ist dabei der Hörfunk, der den schriftversehrten Wörtern ihre ursprüngliche Fülle zurückerstattet: If we sit and talk in a dark room, words suddenly acquire new meanings and different textures. They become richer, even, than architecture, which Le Corbusier rightly says can best be felt at night. All those gestural qualities that the printed page strips from language come back in the dark, and on the radio. (ebd.: 405) 52 McLuhans globale Anschlussfähigkeit strahlt naturgemäß auch auf die romanischen Kulturen aus. Im Bereich der Romania gilt sein Werk in der Medientheorie und -praxis als notorische Größe. Zur Bedeutung McLuhans in Italien vgl. stellvertretend Fiormonte (2003), zur Rezeption in der Frankophonie vgl. Rentsch (2010).
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Sekundär ist die radiophone Oralität, weil sie auf dem Humus der Schriftkultur gedeiht und sich deshalb auch von primärer Mündlichkeit unterscheidet. Zwar hat sie mit primärer Mündlichkeit die Mystik der Partizipation gemeinsam, sie führt Interessengemeinschaften zusammen und steht damit gegenstrebig zum vereinzelnden Lesen, aber es handelt sich nicht um lokale Gruppen sondern um das globale ›Dorf‹ der technischen Massenmedien, so Ong (1987: 136) unter Hinweis auf McLuhans Formel vom global village.53 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Schrift im 19. Jahrhundert der Konkurrenz mit neu entstandenen Medien wie zum Beispiel der Photographie stellen musste. Als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Telephon, Hörfunk und Film zunehmender Verbreitung erfreuen, verschärft sich diese Konkurrenzsituation dergestalt, dass die Schrift ihre Funktion als Leitmedium zugunsten der audiovisuellen Medien endgültig verlieren wird. Diese Entwicklung wird von Seiten des kulturgeschichtlich bedeutendsten Schriftkritikers Marshall McLuhan nicht nur begrüßt, sondern zudem mit der Hoffnung verknüpft, dass die im Laufe der Technologisierung des Wortes verursachten Entfremdungsschäden dank der audiovisuellen Medien und der mit diesen verbundenen Rückgewinnung der mündlichen Dimension korrigiert werden könnten. Jedoch werden Gewinn-Verlust-Rechnungen dieser Art der komplexen Medienvielfalt im Zeitalter der Postmoderne nicht länger gerecht. Peter Spangenberg hat darauf hingewiesen, dass Medien die Erfahrung hyperkomplexer Gesellschaften erzeugen und kompensieren und dass Letztere »nicht einfach nur komplexer als ältere Gesellschaftsformen« sind, »sondern vielmehr mehrere Komplexitätsformen gleichzeitig erzeugen.« (Spangenberg 2002: 98, Hervorh. im Orig.) Aus dieser Perspektive wird nachvollziehbar, dass die Sinnpotentiale des vormaligen Leitmediums Schrift durch die Audiovisualisierung nicht einfach obsolet geworden sind. Mehr noch: Dass sich der Charakter der disziplinierenden und isolierenden linearen Druckschriftlichkeit des Gutenbergzeitalters am Ende des 20. Jahrhunderts noch einmal ändern könnte, indem wider Erwarten auf Seiten der nunmehr hypertextuell modifizierten Schrift selbst die Hoffnung auf eine neue, ›unentfremdete‹ Form der Kommunikation aufkommen würde, konnte Marshall McLuhan nicht mehr in den Blick geraten. In welcher Art und Weise die Schrift in Zeiten der Hypertextualität eine solche Komplexitätsform ausbildet, wird im Abschnitt 1.3 zu verhandeln sein. 53 Meines Erachtens übersieht Ong dabei den weiteren Ausdifferenzierungsprozess der Massenmedien Radio und Fernsehen. Beide haben in den letzten zwanzig Jahren eine erstaunliche Vielfalt an lokalen Sendern bzw. rein gruppenorientierten Sendungen hervorgebracht, Phänomene also, die quer zur Globalisierungsthese stehen. Verkürzt ausgedrückt: jede Kleinstadt besitzt einen Fernsehkanal, mindestens aber einen Radiosender. Die Globalisierungsmedien haben also entgegen allen Voraussagen eine ganz neuartige Dynamik in lokale aber auch tribale Verdichtungsprozesse getragen.
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Zuvor gilt es jedoch, den kommunikativen Rahmen des hypertextuellen Schriftgebrauchs zu bestimmen.
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In den den 1980er und 90er Jahren entstehen u. a. Metaphern wie Cyberspace, Datenautobahn oder Telepolis. Sie lösen sich aus ihrem Entstehungskontext, verwandeln sich in lexikalisierte Ausdrücke und dienen zunehmend als erkenntnisfördernde Metaphernmodelle aktueller Kommunikationsorganisation (1.2.1). Als bevorzugte Deutungsmetapher schält sich dabei das sogenannte Datenmeer heraus. Zur Erfassung abstrakter Relationen stellt sie ein differenziertes metonymisches Inventar bereit, was auf eine tiefe und weit verzweigte kulturgeschichtliche Verwurzelung zurückgeführt werden kann (1.2.2.). Im Licht der kognitiven Metapherntheorie (Lakoff / Johnson 1980) kann das Datenmeer als idealisiertes kognitives Modell bestimmt werden, das sich aus Orientierungsmetaphern, ontologischen sowie strukturellen Metaphern zusammensetzt. Als komplementäre Strukturmetapher von einiger Relevanz erweist sich dabei die Netzmetapher. Während beim Datenmeer die Aspekte des Flüssigen und Heterarchischen im Vordergrund stehen, liegt der Akzent im Falle der Netzmetapher eher auf verfestigten hierarchischen Strukturen. Beide Konzepte bilden – analog zum Modell der Sprache – Komplemente, so dass sich die aktuelle Kommunikationsorganisation als Prozess konkomitanter Verfestigungsbzw. Verflüssigungsvorgänge beschreiben lässt, die nicht zuletzt an das kulturell tradierte Muster von Re- und Deterritorialisierungsprozessen erinnert (1.2.3).
1.2.1 Metaphorik und Pragmatik des Cyberspace Das Internet bietet inzwischen den wichtigsten kommunikativen Rahmen für hypertextuelle Anwendungen. Es wächst exponential. Als Bezeichnung sind zwar web und net gebräuchlich, also zweidimensionale Bildspender, aber das beschleunigte Wachstum erklärt sich gerade daraus, dass nicht nur an den Rändern dieses Netzes weitergewebt wird, sondern prinzipiell an allen Punkten neue Knoten entstehen, die ihrerseits wieder neue Knoten hervorbringen und darüber hinaus potentiell mit jedem bestehenden Knoten verknüpft werden können.54 Kurz nach der Entstehung des ARPANET (1969) gab es gerade einmal 54 Im medienphilosophischen Diskurs greift man aus diesem Grund gerne auf die Rhizomvorstellung der Philosophen Gilles Deleuze und F8lix Guattari zurück. Der Begriff Rhizom (Wurzelgeflecht) stammt wie die traditionelle Baumstruktur aus dem Bereich der Biologie.
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vier nicht öffentliche Knoten, nämlich am UCLA, am Stanford Research Institut sowie an den Universitäten von Santa Barbara und Utah. Aber auch in den achtziger Jahren, als akademische Netzwerke entstehen, die dann durch das sogenannte Internet Protocol miteinander vernetzt werden, weiß praktisch niemand von der Existenz des Cyberspace. Durch die Demokratisierung der elektronischen Datenverarbeitung sowie insbesondere durch die Einführung des Hypertext-Übertragunsprotokolls (HTTP, 1989) ändert sich dieser Zustand schlagartig. Denn die neuen Kommunikationstechnologien sorgen nicht nur für nachhaltige Aufmerksamkeit in den Printmedien, sondern sie führen aus der Sicht der Mediensoziologie zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen, insofern sie vom »historischen Ende der Industriegesellschaft« künden, von »der Entwicklung qualitativ neuer Produktions- und Reproduktionsmechanismen, welche die klassischen Formen industriegesellschaftlicher Vergesellschaftung sprengen.« (Bühl 1997: 15) Im Zuge dieser Veränderungen werden in den 80er und 90er Jahren unterschiedliche metaphorische Ausdrücke geprägt, mit deren Hilfe man sich die neuen Technologien sprachlich aneignet, wobei naturgemäß divergierende Leitbilder mit den neuen Kommunikationsnetzen verknüpft und transportiert werden: Datenautobahn, Cyberspace, digitale Stadt, globales Dorf, virtuelle Gemeinschaft. Bühl unterzieht diese aus seiner Sicht zentralen Metaphern einer genaueren Untersuchung, weil sie einen prägenden Einfluss auf die Diffusion von Zukunftstechnologien bzw. auf deren gesellschaftliche Akzeptanz hätten (ebd.: 16). Demnach hebt die Metapher Datenautobahn auf die Geschwindigkeit und Infrastruktur ab, verdrängt dabei aber die Sozietätsaspekte zugunsten unilateraler Kommerzialisierung ›von oben nach unten‹. Die Semantik der Ausdrücke digitale Stadt bzw. Telepolis verweist auf die Komplexität urbaner Architektur, lässt aber gesamtgesellschaftliche Aspekte außer Acht. Mit der Metapher globales Dorf wird der Akzent auf supranationale Vernetzungschancen gesetzt, bemängelt wird die Tendenz zur idealistischen Verkürzung komplexer Probleme. Zentraler Bezugspunkt der Sozietätsmetapher virtuelle Gemeinschaft schließlich ist der soziale Wert vernetzter Fernkommunikation, die tiefgreifenden Veränderungen des medialen Wandels werden dadurch jedoch nicht erfasst.55 An dieser Stelle sei hervorgehoben, dass sich eine zusätzliche Analyse romanischer Ausdrücke kaum lohnen würde, da sie keine signifikanten UnterIm Vergleich zum Baum des Wissens ist die Struktur des Rhizoms jedoch weder hierarchisch noch dichotomisch angelegt. An die Stelle eines Stammbaums der Wissenschaften, aus dem sich sämtliche Wissensbereiche auf jeweils niedrigerer Ebene binär verzweigen, tritt ein Geflecht aus prinzipiell gleichwertigen Ordnungsebenen, die offen für Querverbindungen sind, was den Vorteil hat, dass auch entlegene Punkte miteinander verbunden werden können. Vgl. hierzu Deleuze / Guattari (1976). 55 Zu zentralen Bezugspunkten bzw. Vor- und Nachteilen der aufgeführten Metaphern vgl. die Übersichtstabelle bei Bühl (1997: 30–32).
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schiede gegenüber dem Deutschen aufweisen: Metaphern für die neuen Kommunikationstechnologien werden durchweg aus dem Englischen übernommen, was einerseits auf die Geschwindigkeit der technischen, angelsächsisch geprägten Entwicklung und andererseits auf die Transparenz der englischsprachigen Ausdrücke zurückgeführt wird. In anderen Worten: Nous pouvons nous demander pourquoi, alors que les autres langues auraient bien pu cr8er des termes techniques de toute piHce ou bien avoir recours / d’autres m8taphores. La r8ponse nous semble r8sider dans la nature mÞme d’Internet, c’est-/-dire dans le mouvement, la rapidit8. Internet s’est d8velopp8 avec une telle vitesse, que les d8nominations ont d0 8pouser ce rythme. De plus, les m8taphores anglo-saxonnes 8taient assez limpides, et ne risquaient pas de gÞner la compr8hension des locuteurs franÅais, de par leur fondement sur des m8taphores conceptuelles plus ou moins universelles. (Jamet 2002: 34)56
Bislang nicht berücksichtigt wurde die bei Bühl ebenfalls aufgeführte Metapher des Cyberspace (ital. ciberspazio; frz. cyberespace). Sie soll im Folgenden genauer analysiert werden, weil sie im Zusammenspiel mit der maritimen, bei Bühl nicht erwähnten Metapher Datenmeer (ital. oceano dell’informazione; frz. oc8an de l’information) ein schlüssiges Denkmodell bietet und deshalb erhöhte Relevanz besitzt. Dabei wird sich zeigen, dass die Metapher ihre ursprüngliche Bedeutung aus einer technoiden Science-Fiction-Welt voller Risiken und Gefahren erheblich erweitert und sich im Lauf der Zeit zum Synonym für virtuelle Computerwelten jeglicher Art entwickelt hat. Die Wortschöpfung cyberspace geht auf den Science-Fiction-Autor William Gibson zurück, ist erstmals in der Kurzgeschichte Burning Chrome (1982) belegt,57 dazugehörigen Vorstellungswelten werden in dem Roman Neuromancer (1984) ausführlich dargestellt und in einer vielzitierten Deskription wie folgt beschrieben: Cyberspace. A consensual hallucination experienced daily by billions of legitimate operators, in every nation, by children being taught mathematical concepts… A graphic representation of data abstracted from banks of every computer in the human 56 Auch wenn dieser sprachenübergreifende Befund in Bezug auf die wichtigsten Metaphern ohne Zweifel zutrifft, werde ich im Folgenden, sofern es opportun erscheint, dennoch von Fall zu Fall romanische Entsprechungen angeben, weil die syntagmatische Einbettung in die romanische Syntax teilweise Konsequenzen für die konnotative Bedeutung der Metaphern hat. Ein Beispiel: Im Deutschen surft man im Internet, im Französischen ›auf‹ dem Internet (surfer sur internet), im Italienischen geht beides (navigare in rete bzw. navigare su internet). Dem Orientierungsgegensatz innen vs. außen steht also die Opposition zwischen oben und unten gegenüber. Darüber hinaus erzeugt dieser Unterschied unterschiedliche Anschlussmetonymien, was zumindest fallweise berücksichtigt werden muss. 57 Die Kurzgeschichte wurde erstmals 1982 in der Zeitschrift Omni veröffentlicht und später in den gleichnamigen Erzählband Burning Chrome (1986) aufgenommen. In der deutschen Übersetzung lautet der Titel des Erzählbandes Cyberspace.
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system. Unthinkable complexity. Lines of light ranged in the nonspace of the mind, clusters and constellations of data. Like city lights, receding […]. (Gibson 2004: 69)
Im Kern wird ein Raum evoziert, der von einer unfasslichen Zahl von Menschen problemlos betreten werden kann und der wie eine Repräsentation abstrakter Daten erscheint, die aber letztlich das Vorstellungs- und Denkvermögen übersteigt und den kognitiven Status einer konsensuellen Halluzination besitzt. Genauer besehen handelt es sich um die Wiederkehr jener romantischen Infinitesimal-Rhetorik, die von Kant am Ende des 18. Jahrhunderts als das Mathematisch-Erhabene ausgewiesen und von philosophischen Dichtern wie Giacomo Leopardi in Szene gesetzt wurde.58 Das Mathematisch-Erhabene liegt – verkürzt gesprochen – dann vor, wenn eine jederzeit mögliche, weil verstandesgeleitete Größenschätzung (Auffassung oder comprehensio logica) nicht länger in eine Zusammenfassung durch die Anschauung der Einbildungskraft (comprehensio aesthetica) überführt werden kann. Beispiele in der Natur liefern solche Fälle, »wo uns nicht sowohl ein größerer Zahlbegriff, als vielmehr große Einheit als Maß (zu Verkürzung der Zahlenreihen) für die Einbildungskraft gegeben wird.« (Kant 1981: 169) Bei Gibson werden die von Kant erwähnten ›großen Einheiten‹ als »billions« bzw., was symptomatisch ist, durch den Allquantor versprachlicht (»every nation« bzw. »every computer«). Es handelt sich also um die Wiederkehr des Erhabenheitstopos’ in neuem, digitalmodernen Gewand. Auch wenn der Cyberspace eigentlich nicht konzeptualisierbar ist (»Unthinkable complexity«), so werden im Zustand der Halluzination doch immerhin einige Versatzstücke greifbar, welche diesen Raum konstituieren. Bezeichnenderweise handelt es sich nicht um konkrete Dinge, nicht einmal um Repräsentationen von Dingen, sondern um Darstellungen von Darstellungen bzw. bloße Relationsgefüge (»clusters and constellations of data«). Anschaulich wird dieser Raum allenfalls durch den vagen Vergleich mit den Lichtern einer Stadt, die jedoch zurückweichen (»receding«) und den Betrachter bzw. Leser allein zurücklassen. In Gibsons Fiktion wird der Raum hinter dem Bildschirm seinerzeit imaginiert als eine Matrix, an die sich jeder Mensch über das eigene Nervensystem anschließen kann, das heißt, es wird eine direkte neuronaltechnologische Verbindung zwischen Organismus und Maschine hergestellt. Eine solche qualitativ neuartige biotechnische Schnittstelle gestattet das Eintauchen in virtuelle Welten und ermöglicht gänzlich neue Erfahrungen. Lässt man die dem Science-Fiction-Genre geschuldeten rhetorischen Zuspitzungen beiseite, dann kann festgehalten werden, dass mit der Doppelung der Wirklichkeit in eine reale und eine virtuelle Realität und den sich daraus ergebenden sozialen Konsequenzen ein grundlegendes Phänomen der vernetzten 58 Vgl. hierzu Scholler (2008).
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Mensch-Maschine-Kommunikation antizipiert worden ist. Allerdings verblasst der romaneske Entstehungskontext der Metapher, parallel dazu gewinnt sie durch die Verbreitung, Habitualisierung und Ausfächerung der Internetkommunikation neue Bedeutungsfacetten.59 Erstreckt sich die semantische Extension der Metapher doch inzwischen über einen Gegenstandsbereich, der vom Cyberspace1 als Datenbank oder Bibliothek der Wirklichkeit (Internet, Websites, Netzwerke, Festplatten), über den Cyberspace2 als virtuellem Kommunikationsraum (Internet, Multi User Dungeons, Weblogs, Chaträume, Mailinglisten), den Cyberspace3 als geschlossenem Simulationsraum (technische Modelle, Simulationen),60 über den Cyberspace4 als technisch-virtueller Imprägnierung der Realität (›enhanced reality‹) bis hin zum Cyberspace5 als selbständiger Schöpfung (wie in Science-Fiction-Welten) reicht. Diese auf Palm (2004: 59ff.) zurückgehende Einteilung macht deutlich, dass die Metapher spätestens in den Nullerjahren ein breites Bedeutungsspektrum abdeckt, das über unterschiedliche Grade der Virtualität aufgefächert werden kann.61 Die bei Gibson für den 59 Der kommunikative Erfolg der Vielzweckmetapher kann nicht allein auf das Erscheinen des Science-Fiction-Romans Neuromancer zurückgeführt werden: Immerhin lässt sich die Sachgeschichte bis in die 60er Jahre zurückverfolgen, war doch das Konzept der virtuellen Realität bereits in kommerziell erfolgreichen Romanen anderer SF-Autoren (z. B. Stanislaw Lem) umgesetzt worden. Entscheidend für den Erfolg der Metapher war vielmehr der Umstand, dass Gibsons Roman in den 80er und 90er Jahren auf eine regelrechte VR-Euphorie, wenn nicht -Hysterie ( vgl. Zˇizˇek 1997 und 1998) traf, die, wie man in der Zwischenzeit weiß, einem Mythos erlag, dessen Kraft bei Weitem stärker war als die der technischen Realisierbarkeit (vgl. Neuhaus 2006). 60 Vgl. hierzu Großklaus (1995), der zwischen materiellen und immateriellen Simulationen unterscheidet. Demnach sind materielle Simulationen raumraffend, aber dabei an den realen, physikalischen Raum gebunden, haben also als Merkmal das Räumlich-Taktile – eine Täuschung, die stets an einem dinglich-materialen Ensemble haftet, wie zum Beispiel Panoramen, Weltausstellungen, Landschaftsparks wie Glienike (Italiensimulation), Hohenschwangau, Disney-World. – Immaterielle Simulationen im Cyberspace sind ebenfalls raum- und zeitraffend, aber der reale Raum wird zugunsten des virtuellen aufgegeben, außerdem sind Zukunftsprojektionen auf der Basis von CAD möglich. Schließlich wird die Zeit »zum eigentlichen Medium jeder computererzeugten Simulation: Vergangenheiten und Zukünfte werden auf ganz andere Weise präsent und nah, als das je über das Medium des Raums möglich war.« (ebd.: 189) Im Übrigen lassen sich auf der Seite materieller Simulationen mediale Rückwirkungen nachweisen, etwa im Falle architektonischer Erlebniswelten, die nach dem Vorbild von Fernsehen und Computer erzeugt und genutzt werden. Zum Beispiel erinnern Anlage und Kommunikationsformen in Shoppingmalls an telematische bzw. computerielle Praktiken. So wie der graphikoptimierte PC inzwischen viele Lebensbereiche mit einem hohen Grad an Ikonizität simulieren kann, so werden in den neuen MegaMalls seit den frühen 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hochdifferenzierte Lebenswelten inszeniert und in beispielloser Vielfalt an einem Ort verdichtet: »[…] Pachtpreise sind mit System berechnet, zum Beispiel kürzere Vertragsdauer und höheren Mieten für kleinere Läden, um somit das Angebot, vergleichbar einem Fernsehkanal, beständig den Verbraucherwünschen und dem aktuellen Käuferprofil optimal anzupassen.« (Sommer 1998) 61 Eine Stichprobe für die romanischen Ausdrücke ciberspazio (99800 Google-Treffer) und
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Cyberspace angesetzten Merkmale der Entgrenzung von Körper und Bewusstsein in parallelen Wirklichkeitsmodi dürften in der Praxis von Multi User Dungeons und Computerspielen noch am ehesten einen entfernten Widerhall finden. MUDs bieten die Möglichkeit, das Ich in eine Vielzahl beliebiger Agenten aufzulösen, unterschiedlichste Identitäten anzunehmen und im Schutz der Rolle unbekannte Seiten der Persönlichkeit zu entfalten. In den Worten von Sherry Turkle, die die MUD-Kulturen seit den frühen 90er Jahren studiert hat: »These fantasy environments allow people the chance to express multiple and often unexplored aspects of the self.« (Turkle 1995: 180) Ähnliche Möglichkeiten des Selbstvergessens bietet das Avatar-Prinzip im Computerspiel: Der Spieler kann in virtuelle Körper oder Gegenstände hineinschlüpfen und dann über diese Schnittstelle in virtuellen Realitäten agieren.62 Stand die Ursprungsmetapher noch für einen fremden, potentiell gefährlicherhabenen Raum jenseits unserer Alltagswirklichkeit, ist mit den sogenannten digital natives inzwischen eine Generation herangewachsen, für die der Cyberspace nicht länger furchtgebietend ist, sondern immer schon pragmatischer Bestandteil des Alltagslebens war. Dabei fällt auf, dass der Cyberspace mit der zunehmenden Pragmatisierung elektronischer Kommunikationswelten im Unterschied zu den oben genannten Konkurrenzmetaphern (Datenautobahn, Telepolis u. a.) als lexikalisierte Metapher weiterhin im Schwange steht, was einerseits auf den höheren Abstraktionsgrad und andererseits auf die semantische Anschlussfähigkeit des Ausdrucks zurückgehen dürfte. Wenn man Achim Bühls Frageperspektive modifiziert, indem man nicht länger nach dem Ursprungskontext und nach den Bedeutungsunterschieden gängiger Internetmetaphern fragt, sondern im Gegenzug überlegt, wie der lexikalisierte Sprachgebrauch ist bzw. worin die Gemeinsamkeit dieser Konkurrenzmetaphern besteht, dann kommt man zu dem Schluss, dass der Cyberspace in Verbindung mit der bei Bühl nicht erwähnten Metapher Datenmeer eingedenk weiterführender Metonymien ein konsistentes, die Einzelmetaphern übergreifendes Bildfeld hervorgebracht hat, das den Rang eines Denkmodells beanspruchen kann. Während der Soziologe Bühl seiner eigenen Metaphernanalyse nur einen »begrenzten Erklärungsanspruch« zugesteht, insofern »die von uns analysierten Metaphern cyberespace (195000 Google-Treffer) hat ergeben, dass Letztere inzwischen allgemein als Synonyme für das Internet und dessen Dienste benutzt werden. Repräsentativ sind die bei Riva (2004) aufgeführten, für den ciberspazio als konstitutiv geltenden Elemente: »Da un punto di vista fisico il ciberspazio puk essere considerato come una rete di computer in grado di supportare il processo di comunicazione e interazione. Da un punto di vista simbolico H invece possibile descrivere il ciberspazio come un luogo virtuale al cui interno l’utente puk incontrare altre persone e sviluppare relazioni. Da un punto di vista pragmatico, il ciberspazio H invece il risultato dell’interazione tra elementi materiali […] e simbolici […]. (ebd.: 74) 62 Vgl. hierzu im Detail Leitner (2004).
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lediglich Aspekte des transformatorischen Prozesses assoziativ beleuchten« (Bühl 1997: 32), bezeichnet Spangenberg (2002) dieselben Metaphern als »Beschreibungsmodelle der Kommunikationsorganisation« (ebd.: 101) und hebt durch diese Begriffswahl die erkenntnisfördernde Funktion von Metaphern hervor. Diese Perspektivenverschiebung lässt sich auf jene Tradition der Metapherntheorie zurückbeziehen, die in der Metapher mehr sieht als nur ein Element des dichterischen Ornatus und sich dabei auf Aristoteles berufen kann, der in seiner Rhetoriklehre auf den ursprünglich vorhandenen Erkenntnisaspekt semantischer Übertragungsprozesse hingewiesen hatte. Diese weit zurück reichende Tradition sah sich mit Anbruch der frühen Neuzeit einer langen Phase der Erosion ausgesetzt und erhielt erst durch Nietzsche bzw. – im 20. Jahrhundert – von Seiten der Literatur- und Sprachwissenschaft neue Impulse. Gemäß klassischer Definition überträgt die Metapher vom Bildspender zum Bildempfänger Bedeutung und substituiert dabei den angestammten wörtlichen Ausdruck. Die Übertragung erfolgt auf der Basis einer semantischen Schnittmenge, die auf ein Tertium Comparationis zurückgeht, das als Vergleichspunkt der Analogiebildung dient.63 Für das Auffinden von Analogiebeziehungen bedarf es nach Aristoteles der natürlichen Begabung. Dabei hebt Aristoteles ausdrücklich auf den erkenntnisfördernden Aspekt der Metaphernproduktion ab: Auf leichte Weise zu Wissen zu gelangen, ist für alle von Natur aus angenehm; es sind aber die Worte, die uns Wissen verschaffen, am angenehmsten. Die fremdartigen Worte nun sind uns unbekannt, während wir die gängigen kennen. Die Metapher aber versetzt uns am ehesten in diesen Zustand [der angenehmen Empfindung]; denn sofern man das Alter eine Stoppel nannte [Odyss. XIV 214], vermittelte man Lernen und Kenntnis mit Hilfe des Gattungsbegriffs; denn beide fallen unter die Gattung des Verblütseins. (Aristoteles 1980: 190 [1410b])
Das Angenehme und die Erkenntnis, delectare und docere, um mit Horaz zu sprechen, bilden demzufolge in der Metapherndefinition des Aristoteles eine fruchtbare Koexistenz. Neben ihrer schmückenden Funktion besitzt die Meta63 Die ›klassische‹ Aufteilung in Bildspender und Bildempfänger reproduziert sich in der konzeptuellen Metapherntheorie in der Zweiheit aus Ursprungs- und Zieldomäne. In der sogenannten blending theory (vgl. Fauconnier / Turner 1998 und 2002) werden dagegen vier Bereiche (»spaces«) angesetzt: Neben »source« und »target« befinden sich »generic space« und »blend space«. Der generische Bereich repräsentiert konzeptuelle Strukturen, die beiden »inputs« (Ursprungs- und Zielbereich) gemeinsam ist, der »blend space« wird als Bereich definiert, »where material from the inputs combines and interacts« (Grady 1999: 102). Während der generische Bereich ungefähr dem entspricht, was man in klassischer strukturalistischer Terminologie mit dem Begriff der semantischen Schnittmenge zu fassen sucht (vgl. Link 1979: 149), stellt die Kategorie des blend space eine Weiterentwicklung dar, die den Vorteil besitzt, dass Phänomene sichtbar gemacht werden können, welche im Zwei-Domänen-Modell verborgen bleiben. – Als Ausgangspunkt unserer metapherntheoretischen Analyse können wir uns freilich zunächst mit der klassischen Definition begnügen.
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pher Erkenntnisfunktionen, was an anderer Stelle mit wiederholtem Nachdruck unterstrichen wird, insofern es »z. B. auch in der Philosophie Charakteristikum eines richtig denkenden Menschen ist, das Ähnliche auch in weit auseinander liegenden Dingen zu erkennen;« (ebd.: 194 [1412a]). Bekanntlich wird jedoch der spätmittelalterliche Aristotelismus und damit einhergehend die Episteme der Ähnlichkeit im Verlauf der frühen Neuzeit einer gründlichen Kritik unterzogen, was dazu führt, dass die Metapher spätestens im 18. Jahrhundert in der Regel kein allzu großes theoretisches Ansehen mehr genießt.64 Metaphorisches Sprechen wird als uneigentliches Sprechen zunehmend dem Bereich der Poesie zugeschlagen, weil es den Erfordernissen der Klarheit und Präzision wissenschaftlicher Diktion nicht mehr gerecht werden kann. Symptomatisch für den fragwürdigen heuristischen Stellenwert der Metapher im wissenschaftlichen Zeitalter dürfte Hegels Auffassung sein, der in seinen Vorlesungen zur Ästhetik zwischen poetischer und prosaischer Vorstellung unterscheidet und bei der Bestimmung dieser nunmehr kategorischen Differenz auf die Problematik des übertragenen Sprachgebrauchs hinweist, indem er die Wahrheitsfähigkeit von Metaphern grundsätzlich in Zweifel zieht: Im allgemeinen können wir deshalb als Gesetz für die prosaische Vorstellung einerseits die Richtigkeit, andererseits die deutliche Bestimmheit und klare Verständlichkeit aufstellen, während das Metaphorische und Bildliche relativ undeutlich und unrichtig ist. […] in dem uneigentlichen [Ausdruck] aber wird eine von der Bedeutung sogar abliegende […] Veranschaulichung benutzt, so daß nun die prosaischen Kommentatoren der Poeten viel zu tun haben […]. (Hegel 1970, Bd. 15: 280; Hervorh. im Orig.)
In einer modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft bilden die Teilsysteme ihre je eigenen Teildiskurse aus, in denen aus Gründen der Effizienz je eigene Regeln des Denkens und Argumentierens gelten, ein Prozess, der bis auf die Ebene der Textsorten und -stile durchschlägt. War für das Denken in Ana64 Zum vorklassischen Ähnlichkeitsdenken in den Formen der convenientia, der aemulatio, der analogia sowie der sympathia vgl. grundlegend Foucaults Studie Les mots et les choses (1966). Die eloquenteste Verdammung rhetorischer Eloquenz findet man in John Lockes Essay Concerning Human Understanding (1690). Im III. Buch wird behauptet, dass die figürliche Anwendung von Worten zu nichts anderem tauge, als falsche Vorstellungen zu insinuieren, Leidenschaften zu erregen und dadurch das Urteil irrezuleiten und derart in der Tat vollkommener Betrug sei (Locke 1961, III, XI: 106). Dass aber Lockes Studie zur Mehrung von Wissen und Wahrheit selbst nicht dem postulierten Gebot tatsachenorientierter eigentlicher Rede entspricht bzw. gar nicht entsprechen kann, hat Paul de Man (1978) nachgewiesen. Im Zeitalter der Vernunft verstärkte sich die Abwertung der Metapher, gepaart mit einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Rhetorik. Im berühmten Vorwort zur Encyclop8die (1751) etwa bezeichnet d’Alembert die im Namen der Rhetorik erzielten Kenntnisse in ungewohnt polemischem Ton als »pu8rilit8s p8dantesques« und erwägt dabei sogar, die Redekunst gänzlich aus dem System der Wissenschaften und Kenntnisse zu verbannen (d’Alembert 1986, Bd. I: 100–101).
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logien noch ein geschlossenes Weltbild nötig, innerhalb dessen alle Dinge auf geheime Weise miteinander verbunden waren, so entfällt diese Voraussetzung in der Moderne. Damit hat die Metapher als Mittel der Erkenntnis scheinbar ausgedient. Denn Hegels Attribute zur Bezeichnung der Leistungsfähigkeit metaphorischer Rede sprechen eine deutliche Sprache: Metaphern sind »undeutlich«, »unrichtig« und »abliegend«. Ob sie zutreffen oder nicht, kann höchstens noch in Bezug auf das mit ihnen evozierte Bildfeld entschieden werden, eine Verbindung zur außersprachlichen Wahrheit dagegen kann mit ihrer Hilfe nicht mehr hergestellt werden. Allerdings handelt es sich bei Hegels Attributen ebenfalls um Metaphern. Im Falle von abliegend haben wir es mit einer Raummetapher zu tun, die suggeriert, dass die Wahrheit nicht nur nicht gefunden, sondern – räumlich gesehen – sehr deutlich verfehlt wird. Wenn Hegel mit metaphorischen Ausdrücken gegen die Wahrheitsfähigkeit von Metaphern ins Feld zieht, dann verwickelt er sich in jenen performativen Selbstwiderspruch, auf den Nietzsche in seiner Jugendschrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne hingewiesen hat: Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind […]. (Nietzsche 1980, Bd. I: 880)
Was Nietzsche in dieser Passage abwertend als Abnutzungserscheinung beschreibt, wird in der Sprachwissenschaft mit dem neutralen Begriff der Lexikalisierung bezeichnet, nämlich als Prozess eines Bedeutungswandels, an dessen Ende man es mit Wörtern zu tun hat, deren Bedeutung nicht mehr direkt aus ihren einzelnen Bestandteilen erschlossen werden kann. Zum Beispiel dürfte die Herkunft des Worts allarme (Alarm) für die meisten Sprecher des Italienischen nicht mehr durchsichtig sein, obwohl das wörtliche Gegenstück all’arme (zu den Waffen) homophon ist.65 Vergleicht man Nietzsches Überlegungen zur Metaphorizität der Sprache mit denen Hegels, muss eine komplette Inversion der Ausgangslage konstatiert werden. Während Hegel noch auf die Wahrheitsfähigkeit von Begriffen vertraut und ihnen deshalb einen wahrheitsfähigen Vorstellungsbereich der Prosa reserviert, geraten Letztere bei Nietzsche in den Brennpunkt der Kritik: Als habitualisierte und lexikalisierte Begriffe erhalten sie einen Malus und gelten fortan als »abgenutzt« und »kraftlos«. Dem Prozess der Begriffsbildung liegen nach Nietzsche trügerische Abstraktionen der Vernunft zugrunde, die dem Menschen allenfalls das »Gefühl der Wahrheit« (ebd.: 881; 65 Über die verschlungenen Pfade des Bedeutungswandels aus linguistischer Sicht vgl. Blank (2001).
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meine Hervorh.) in verträglicher Form nahebringen, um sich dabei aber immer weiter von ihr zu entfernen.66 An diesem letztgenannten Punkt wird die Metapherntheorie ansetzen – ein Teilbereich der Philosophie bzw. Literatur- und Sprachwissenschaft, der sich in prominenter Weise mit den Namen Hans Blumenbergs, Harald Weinrichs und George Lakoffs bzw. Mark Johnsons verknüpft. Bei aller Differenz im Einzelnen teilen die genannten Autoren die Überzeugung, dass Metaphern konstruktive Erkenntnisfunktionen besitzen. Zunächst soll von Blumenberg die Rede sein, später (vgl. 1.2.3) werden ergänzend die Theorien Weinrichs und Lakoffs bzw. Johnsons Berücksichtigung finden. In seiner Studie »Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit« (1979/ 1997) bestimmt Blumenberg den Metapherngebrauch als »authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen« (ebd.: 87). Allerdings wird dabei konzediert, dass die Metapher im jeweils aktuellen Zusammenhang für etwas stehe, was auf den ersten Blick nicht zu diesem Zusammenhang passe. Sie sei ein heterogenes Element, das durch die Reparaturleistungen des Bewusstseins eingegliedert werden müsse: Das prima facie destruktive Element werde überhaupt erst unter dem Druck des Reparaturzwangs aus Gründen der Konsistenzsicherung zur Metapher. Durch die steuernde Intentionalität des auf Schlüssigkeit abzielenden Bewusstseins werde der Fremdkörper durch einen »Kunstgriff des Umverstehens« (ebd.: 88) integriert. Die im je aktuellen Kontext störende Metapher wird in dieser von Blumenberg eingeschlagenen Argumentationsrichtung dann noch weitergehend positiviert und als »Hilfe qualifiziert« (ebd.), dank derer selbst die überraschendsten Phänomene einem kausalen Gesamtsystem eingegliedert werden können. Blumenberg veranschaulicht diese hilfreiche Form des Umverstehens an dem kanonischen Beispiel pratum ridet, das seit Quintilian als Metapher für den Frühling steht: Die durch die Metapher ausgelöste Umverstehensleistung sei paradigmatisch, weil sie »die Wiese dem Inventar einer menschlichen Lebenswelt« (ebd.: 89) zuweise. Im Folgenden gilt es, sowohl den Aspekt der Umverstehensleistung als auch den der Ausrichtung auf die anthropologische Lebenswelt im Auge zu behalten. Aus beiden Aspekten ergeben sich nämlich Anschlussmöglichkeiten an die Bildfeldtheorie (Weinrich) sowie an die kognitive Metapherntheorie (Lakoff / Johnson), mit deren Hilfe im übernächsten Abschnitt (vgl. 1.2.3) ein kognitives Modell für die Beschreibung aktueller Internetkommunikation rekonstruiert werden soll. Vor dem Hintergrund des oben Gesagten müsste allerdings zunächst noch geklärt werden, worin die vermeintliche primäre Fremdheit von Internetmeta66 Vgl. hierzu Karakassi (2004), die den von Nietzsche konstatierten Kollaps zwischen begrifflicher Eigentlichkeit auf der einen und metaphorischer Uneigentlichkeit auf der anderen Seite bereits in Kants Kritik der Urteilskraft vorgezeichnet sieht.
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phern bestehen könnte. Die Antwort auf diese Frage hat ein Literaturwissenschaftler gegeben: »All the common names for the Internet and its programs are catachreses.« (Miller 1996: 302) Hillis Millers Antwort verweist auf den Umstand, dass neue Technologien neue Sachverhalte mit sich bringen, für die keine Bezeichnungen existieren. In solchen Fällen springt von alters her die Katachrese als Spezialtropus ein. Definiert wird die Katachrese (abusio, jat\wqgsir) als Tropus, »der zur Bezeichnung einer der Bezeichnung bedürfenden Sache kein verbum proprium neben sich hat, sondern selbst die Stelle des verbum proprium in der consuetudo vertritt« (Lausberg 1971: 65).67 Demnach wäre der Ausdruck surfen (im Internet) eine Katachrese, weil keine eigentliche Bezeichnung vorliegt, die der Ausdruck surfen ersetzen könnte. Wenn aber kein angestammter Ausdruck vorhanden ist, dann hat das performative Konsequenzen, insofern nämlich, als der katachrestische Terminus einen Gegenstand oder Sachverhalt benennt, der noch keinen Namen hat.68 Supplementiert wird ein lexikalischer Mangel. Der Skandal der Katachrese besteht darin, dass sie weder als eigentlicher noch als uneigentlicher, weder als literaler noch als figurativer Ausdruck bezeichnet werden kann – und doch beides zugleich ist: literal, weil der Ausdruck mangels Alternative als ursprünglicher Term fungiert, figurativ, weil er immer auf einer tropologischen Bewegung beruht. Die Katachrese scheint sich demnach dem für die Metapher gültigen binären Schema von eigentlicher und uneigentlicher Rede zu entziehen, und sie scheint darüber hinaus in ein System eingeschrieben zu sein, dass auf der Differenz von Freiheit und Notwendigkeit beruht: »der Freiheit zu benennen, wie es einem beliebt, und der Notwendigkeit, dort eine Benennung zu finden, wo ein eigentlicher Name fehlt.« (ebd.: 19) Wie aber soll man sich einen Benennungsvorgang mittels Katachrese vorstellen? Welche Beziehung besteht zwischen einem katachrestischen Ausdruck und seinem Referenten? Wird ein Gegenstand oder Sachverhalt a posteriori mit einem Namen versehen, oder könnte es auch umgekehrt sein, dass nämlich Ersterer sich durch eine entsprechende Benennungshandlung überhaupt erst etabliert? Posselts Antwort lautet: Wenn es zutrifft, daß die Metapher weniger in dem Erkennen als dem Konstruieren von Ähnlichkeiten besteht, wie die modernen Metapherntheorien geltend machen, dann besteht die Leistung der Katachrese weniger in der Benennung dessen, was noch keinen
67 Es sei zumindest am Rande vermerkt, dass eine solche Handbuchdefinition Modellcharakter besitzt, und zwar mit allen Vor- und Nachteilen. Sie ist konzis und vereint unterschiedliche Aspekte im Hinblick auf universale Anwendbarkeit. Andererseits können synchrone Definitionen dieser Art historisch bedingten Differenzen nicht gerecht werden. Dass schon die antiken Autoren Aristoteles, Cicero und Quintilian die Katachrese unterschiedlich definierten, demonstriert Posselt in aller gebotenen Präzision und Ausführlichkeit (2005). 68 Zum Folgenden vgl. Posselt (2005).
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eigenen Namen in der Sprache hat, als darin, daß sie das, was sie benennt, durch den Vollzug dieses Benennungsaktes hervorbringt und konstituiert. (ebd.: 21)
Demnach handelt es sich beim katachrestischen Benennen um einen sprachlichen Setzungsakt. Die Einheit des Gegenstandes ergibt sich aus der diskursiven Praxis des Benennens, welche Letzteren als eine in Raum und Zeit identische Entität intelligibel macht. Die Plausibilität einer derartigen Gegenstandskonstitution – das sei im Vorgriff auf die beiden folgenden Abschnitte postuliert – ergibt sich dabei aus der figurativen Anschlussfähigkeit des katachrestischen Ausdrucks, womit wir die Wortebene verlassen und uns auf die textlinguistische Ebene des Bildfeldes begeben. Erst auf dieser Ebene können Metaphernkomplexe den oben postulierten Modellcharakter erlangen.69 Wenn man noch einmal auf den Ausdruck Cyberspace zurückkommt und ihn in seine Bestandteile zerlegt, dann werden mögliche semantische Anschlussstellen für Bildfelder erkennbar. Schon das konkretisierende Kompositum selbst verrät einiges über die Konnotationen, die sich mit dem Begriff verknüpfen. Das Determinatum space (spatium) bezeichnet in Opposition zu room einen Raum von unbegrenzter Weite, das Bestimmungswort Cyber steht verkürzt für Cybernetic (jubeqmetij^), für die Steuermannskunst also, ein Begriff, der im Verlauf der noch jungen Begriffsgeschichte eine ganze Reihe weiterer maritimer Bezeichnungen nach sich zog, nämlich im Verbund mit der wichtigsten Hintergrundmetapher, die überall präsent aber nirgends greifbar ist: mit der Metapher Datenmeer. Der Ausdruck ist nirgends greifbar, weil er im Sprachgebrauch eigentlich keine Rolle spielt: Niemand sagt *abends surfe ich im Datenmeer. Auch in den romanischen Sprachen würde man eine solche Aussage als ironisch verstehen. Wenn die Metapher Datenmeer auf der Ausdrucksebene nicht greifbar und dennoch allgegenwärtig ist, dann könnte das an der lexikalisierten Katachrese surfen liegen, welche die Art und Weise der oben genannten Steuerkunst spezifiziert und dabei auf Vorstellungsinhalte zurückgreift, die sich mit einer maritimen Sportart verbinden. Allerdings surft man eigentlich auf den Wellen, das heißt, es läge im Deutschen nahe, *auf dem Internet zu surfen. Wenn stattdessen die Wendung im Internet surfen üblich ist, dann liegt das daran, dass 69 Dieser Befund kann im Übrigen auch auf die Metapherntheorie selbst angewandt werden. In der jüngsten Summa zur Theorie der Metapher (vgl. Haverkamp 2007) findet sich im Kapitel »Die Aktualität der Metapher« folgender Abschnitt: »Seit hundert Jahren ist die Metapher ein sicheres Anzeichen für das Wiederauftauchen der Rhetorik nach dem Schiffbruch, den sie im Jahrhundert zuvor erlitten hatte. Nach Kant […], nach Chomsky erschien die Rhetorik […] überflüssig geworden zu sein und die Metapher das verblassende Souvenir einer verflossenen Epoche. Immerhin markierte ihr Begriff wie eine Boje das Problem, das unter ihrem Namen in unbestimmter Tiefe lag und dann und wann nach theoretischen Stürmen als Fata Morgana über den Wassern erschien.« (ebd.: 52, meine Hervorh.) Die mittels Kursivierung markierten Ausdrücke sind Elemente der Hintergrundmetapher Meer.
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eine Metapher syntaktisch so eingebunden wird wie ihr wörtliches Gegenstück: im vorliegenden Fall also im Meer surfen. Aufgrund der unveränderten Syntax entsteht im figurativen Zielkontext eine widersprüchliche Prädikation, deren Widersprüchlichkeit im Sprachgebrauch zunehmend verblasst und durch den Prozess der Lexikalisierung nicht mehr bewusst wahrgenommen wird. Gleiches gilt für die romanischen Sprachen (ital. navigare in / su internet bzw. frz. surfer sur internet / sur le web). Daraus folgt, dass die Valenz von surfen bzw. die seiner romanischen Entsprechungen auf die jeweils wörtliche Prädikation in Verbindung mit dem bildspendenden Konzept des Meeres zurückgeführt werden kann.70 Wenn oben gezeigt wurde, dass jede Katachrese einen unhintergehbaren tropologischen Anteil hat, dann liegt es nahe, den Bildspender Meer einer näheren Untersuchung zu unterziehen. Vorausgeschickt sei die These, dass sich die Kulturgeschichte des Meeres in den Kollektivvorstellungen – partiell auch in der Medientheorie – über die aktuelle Kommunikationsorganisation aktualisiert. Die Rede vom Datenmeer knüpft an überlieferte maritime Topoi an, wahlweise an den des Meeres als gefährliches, menschenfeindliches Ende der Welt, als chancenreicher Wasserweg zu neuen Ufern, als ästhetisch still gestellter Ort erhabener Schönheit oder auch als Medium und Kulisse aktueller Trendsportarten. Schließlich könnte der Erfolg der Hintergrundmetapher Datenmeer seinen tieferen Grund darin haben, dass Meeres- und Wissens- sowie nicht zuletzt Textwelten in der abendländischen Überlieferung durchgehend aufeinander bezogen werden.
1.2.2 Meereswelten und Wissenslandschaften Da der Ausdruck Meer als wichtigster Bildspender für die Inhalte des Internets gelten muss und da er im historischen Rückblick eine beträchtliche kollektivsymbolische Semantik akkumuliert hat, deren Facetten meines Erachtens in der heutigen Vorstellung vom Datenmeer in wechselnder Intensität aktualisiert und durch weitergehende Metonymisierung ausgebaut werden, seien im Folgenden einige Überlegungen zur Kulturgeschichte des Meeres eingelassen. Das Bild vom Datenmeer scheint sich in das oben herauspräparierte sublime Paradigma einzufügen. Der Vorstellung vom infiniten Raum in Gibsons Cyberpunk-Roman wird damit ein zweiter, klassischer Erhabenheitstopos an die Seite gestellt. Das Meer wurde in Antike und Mittelalter in der Regel mit den 70 Zur Bedeutung morphosyntaktischer Markierungen als Interpretationshilfe für das Verstehen von Metaphern vgl. Beckmann (2001) und Gardes Tamine (2005). Zur Kontextdeterminierung von Metaphern vgl. Weinrich (1976, insbes. 311–314).
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Prädikaten des locus horribilis ausgezeichnet. Corbin (1988) weist in seiner grundlegenden Studie zur Kulturgeschichte des Meeres darauf hin, dass die kollektiven Vorstellungen über das Meer als eines Territoriums der Leere wesentlich durch die alttestamentarische Sintfluterzählung geprägt waren: Plus pr8gnant encore, le r8cit du d8luge. L’oc8an appara%t alors, selon les auteurs, comme l’instrument de la punition et, dans sa configuration actuelle, comme la relique de la catastrophe. (ebd.: 12)
Das Grollen und Wüten des Ozeans erinnert den gottesfürchtigen Menschen zudem an das Chaos, das vor der Entstehung des irdischen Paradieses geherrscht hat. Es erstaunt daher nicht, dass die Vorstellung vom Paradies eine rein terrane Angelegenheit war, die Wasserwelten der Ozeane waren kategorisch davon ausgeschlossen (ebd.: 13). Zu Beginn der frühen Neuzeit setzt ein zunächst zögerlicher, später dann deutlich spürbarer Mentalitätswandel ein, als mit der Entdeckung Amerikas die Epoche der terrestrischen Globalisierung eingeleitet wird. Zwar bleiben die gigantischen Wasserwelten, die den größeren Teil des Globus’ bedecken, Zonen der Gefahr, in denen trotz nautischer Technik jederzeit mit Schiffbruch zu rechnen war, aber – darauf hat Sloterdijk (1999) hingewiesen – mit der geographischen Abkehr vom Osten und der Hinwendung zum Westen wird der Wechsel vom terranen zum nautischen Leitelement in der Neuzeit vollzogen: »Was Erde hieß, wurde als eine Waterworld enthüllt; drei Viertel ihrer Oberfläche gehören dem nassen Element […]« (ebd.: 842). Die durch Kolumbus, Vasco da Gama und Magellan ans Licht gebrachten und von Geometern wie Gerhard Mercator objektivierten hydrographischen Tatsachen zeigten, dass eingeübte Bezeichnungen wie Erdkugel oder auch die Redeweise von der terra continens bei näherem Hinsehen revisionsbedürftig waren. Galt der antike Seefahrer noch als prometheischer Frevler, der den angemessenen terranen Raum verließ und dessen Hybris folglich mit Schiffbruch bestraft wurde,71 so ändert sich diese Konstellation im neuzeitlichen experimentum maris in grundsätzlicher Weise. Der von Ohnmachtsgefühlen begleiteten Kenntnisnahme von den gewaltigen Ausmaßen der Wasserwelt folgte schon bald die Aussicht auf verlockende Profite an fernen Gestaden. Das unermessliche Meer schrumpft so gesehen zum Transportweg bzw. verwandelt sich 71 Vgl. hierzu die einschlägigen metaphorologischen Analysen von Blumenberg (1979). Als Beispiel für die Seefahrt als Grenzverletzung zieht Blumenberg ein Abschiedsgedicht des Horaz heran, in welchem von unzulässigen Meeresfahrten die Rede ist: »Horaz vergleicht solchen Frevel mit dem des Prometheus, der auch ein fremdes und dem Menschen entzogenes Element gewaltsam eroberte. Daedalus vertritt das dritte dem Menschen versagte Element. Luftfahrt, Seefahrt und Feuerraub sind in einen Kontext gebracht. Torheit scheint hier schon den Himmel zu stürmen; und es wird das gute Recht des Gottes, dagegen seine zürnenden Blitze zu schleudern.« (ebd.: 15).
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zum Leitmedium für die Agenten einer neuen Zeit. Konquistadoren, Gewürzhändler, Goldsucher und Realpolitiker künden als Subjekte von einer Risikogesellschaft, die darauf spekuliert, dass investigative Schiffsreisen schon bald vielfachen Gewinn abwerfen mögen. Es erstaunt daher nicht, wenn die römische Göttin Fortuna im Zeitalter der terrestrischen Globalisierung eine nicht zu übersehende Renaissance erlebt. Sie entspricht dem westeuropäischen Gefühl der Chancen-Ontologie, das Sloterdijk zufolge im Neo-Fatalismus des späten Shakespeare eine charakteristische Selbstaussage gefunden habe und eine Epoche kennzeichne, »die in ihren düsteren Momenten den Menschen als einen konkurrenz-infizierten, neidgeblendeten, vom Scheitern gezeichneten Risikonehmer wahrnimmt; hier erscheinen die Akteure auf der Weltbühne als Bälle, mit denen Illusionsmächte ihr Spiel treiben.« (Sloterdijk 1999: 856)
Abb. 1: Die terra continens als Leitelement (Weltkarte nach Ptolemäus, ca. 1474)72
Bevor die moderne Geschichte medialer Raumkompressionen einsetzen kann, musste sich zunächst einmal die Raumordnung verändern, und zwar dergestalt, dass der vertikal ausgerichtete spätmittelalterliche Kosmos zugunsten einer horizontalen Transzendenz verabschiedet wurde. In anderen Worten: Auf der Tagesordnung stehen nicht länger Himmel- sondern Überfahrten. Markierte der atlantische Ozean einst das Ende der Welt, ein Hort von Ungeheuern und bösen Mächten,73 verwandelt er sich zusehends in ein Gleitmedium für unruhige 72 Vgl. http://www.geo2geo.de/weltkart01.htm (1. 11. 2009), Zeichner unbekannt, heute Vatikan. 73 Noch in spätmittelalterlichen Enzyklopädien und Weltkarten werden die Ozeane an den Rand gedrängt, der Großteil der ikonischen Darstellungen ist der bewohnten, terranen Welt gewidmet. Auf einer spanischen Weltkarte des Beatus Liebanensis (o. J., frühes 13. Jahr-
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Geister oder umtriebige Entrepreneure, in der Regel beseelt von dem Wunsch, lokale Hemmnisse bzw. ständische Grenzen zu überwinden. Diese neue Spezies Mensch haust nicht länger im anthropologisch angemessenen Nahraum des Oikos, in der selbstwüchsigen Endosphäre des heimischen Herdes, sondern sie gibt sich an das Außen hin. Aus singulären Ozeanüberquerungen entstehen iterative Verkehrsströme, das heißt, sämtliche Punkte auf der Erde verwandeln sich in erreichbare Adressen, die nach und nach auf dem Globus eingetragen werden können. Die frühneuzeitliche Globenproduktion hinkt diesen hektischen transkontinentalen Innovationsrhythmen naturgemäß hinterher, aber immerhin weisen die kunstvoll gefertigten Modelle bereits auf das Zeitalter der Television voraus: […] es [das Zeitalter der Television] ist der Sache nach bereits gegeben, seit Voraussicht und Fernsicht sich des Mediums Globus bedienen – eines Mediums, das von sich her [sic] auf ständige Perfektionierung drängte. Den bewegten Bildern des 20. Jahrhunderts gehen die novellierbaren Bilder der großen Globen- und Kartenzeit voraus. (Sloterdijk 1999: 864)
Dieser scheinbar abwegige Vergleich leuchtet ein, wenn man die televisionären Ambitionen des bedeutenden europäischen Bankiers Anton Fugger in Rechnung stellt. Fugger, aus dessen reichlich sprudelnden Quellen die spanische Entdeckungs- und Handelsschifffahrt finanziert wurde, besaß nach eigenen Angaben eine telematische Kristallkugel, mit deren Hilfe er seine transatlantischen Handelsbevollmächtigten aus der Ferne sehen konnte.74 Zwar handelt es sich bei Fuggers Fernsehgerät um einen Fall von Magie, aber aufgrund der Querungsroutinen und nicht zuletzt dank perfektionierter nautischer Technik wird die Ferne in dem Maße verfügbarer, wie Schiffsverkehr und hydrographisches bzw. geologisches Wissen zunehmen. Die veränderte Einstellung gegenüber den Weltmeeren fand ihren sinnfälligsten Ausdruck in den spektakulären Hafenansichten der neuen Seemächte. So etwa bildete der Hafen von Amsterdam nach zeitgenössischer Meinung einen »microcosme au sein duquel la confluence des richesses de la planHte atteste la b8n8diction divine et l’h8ro"sme qui a permis / l’homme de triompher de la colHre des 8l8ments […]« (Corbin 1988: 215). Der Hafen – link zwischen Festland und Meer – zeugt als quirliges theatrum mundi von der frühneuzeitlichen Eroberung und Beherrschung der Welt. Das Schauspiel des Einschiffens, das Be- und Entladen der Waren, das Hin und Her der Karren und Lastenträger, das Auf- und Abrollen der Fässer, kurz, die Sichtbarkeit dieser reichen und vielfältigen Güterwelt lassen vor hundert) zum Beispiel wird das Meer als schmaler, peripherer und unüberwindlicher Gürtel dargestellt, der von monströsen Meerestieren bewohnt wird, darunter gut erkennbar von Sirenen. 74 Vgl. hierzu Roper (1995).
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dem geistigen Auge des aufgeklärten Zuschauers die Idee einer Taxinomie der über den Globus verteilten Reichtümer aufkommen. Vormalige Risiken werden kalkulierbar, die Seefahrer und ihre Kreditgeber müssen sich nicht länger vor ozeanischen Launen und Katastrophen fürchten, so dass das Meer im 18. Jahrhundert nicht ganz von ungefähr in neuem Licht erscheinen kann. Waren Meere und Strände bis dato bedeutungslose Wasserund Sandwüsten,75 so beleben sich diese Räume nicht nur durch das Aufblühen illustrer Hafenstädte, darüber hinaus entsteht zwischen 1750 und 1840 jene moderne Meereslust, die langfristig im Chartertourismus der Postmoderne ausufern würde. Während Meer und Strand im Zeitalter der Aufklärung eher als Orte der Therapie einerseits sowie als Objekte der libido sciendi andererseits entdeckt werden, rücken maritime Konstellationen zunehmend auch als ästhetische Faszinosa in den Blickpunkt des Interesses. An erster Stelle muss in diesem Zusammenhang das Meer als beispielgebender Landschaftsraum für eine Ästhetik des Erhabenen genannt werden. Im Unterschied zu Pseudo-Longinus und seinen Übersetzern bzw. Nachahmern allerdings ist das Erhabene nicht länger eine bloß rhetorische Kategorie, vielmehr wird das Sublime am Objekt selbst ›abgelesen‹. Als einflussreicher Gründungstext dieser neuen Sichtweise gilt ein im Jahre 1712 in dem Periodikum The Spectator veröffentlichter Reisebrief von Joseph Addison: […] of all Objects that I have ever seen, there is none which affects my Imagination so much as the Sea or Ocean. I cannot see the Heavings of this prodigious Bulk of Waters, even in a Calm, without a very pleasing Astonishment; but when it is worked up in a Tempest, so that the Horizon on every side is nothing but foaming Billows and floating Mountains, it is impossible to describe the agreeable Horror that rises from such a Prospect. A troubled Ocean, to a Man who sails upon it, is, I think, the biggest Object that he can see in motion, and consequently gives his Imagination one of the highest kinds of Pleasure that can arise from Greatness. I must confess, it is impossible for me to survey this World of fluid Matter, without thinking on the Hand that first poured it out […]. (Addison 1891: Saturday, September 20, 1712)
Mit dieser Beschreibung lässt Addison die topischen Vorratskammern des Barock hinter sich, und man gewinnt den Eindruck, dass die Wahrnehmungen wie »pleasing Astonishment« und »agreeable Horrour« auf tatsächlicher Erfahrung beruhen. Zum Erhabenen als einer autonomen ästhetischen Kategorie dringt Addison allerdings nicht vor, weil er seine Erfahrungen als gottesfürchtiger Mensch auf die Gegenwart des Allmächtigen zurückführt. Richtungsweisend für 75 Eine Ausnahme bildet die römische Antike. Das Konzept des otium cum dignitate, das zurückgezogene, kontemplative Leben fern der Stadt nach dem Modell des Cicero in Tusculum oder dem des Plinius des Jüngeren in Ostia war in der Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts durchaus präsent, und es bildete einen wichtigen Anknüpfungspunkt für neue, aufgeklärte Selbstpraxen (vgl. Roche 1988: 157ff).
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die spätere philosophische Diskussion wird dann Edmund Burkes Grundlegung des Erhabenen sein, eine Begriffsbestimmung, in deren Zentrum nicht ganz zufällig der weite Ozean als typischer Quell des Schrecklichen steht: And to things of great dimensions, if we annex an adventitious idea of terror, they become without comparison greater. A level plain of a vast extent on land, is certainly no mean idea; the prospect of such a plain may be as extensive as a prospect of the ocean; but can it ever fill the mind with anything so great as the ocean itself ? This is owing to several causes; but it is owing to none more than this, that the ocean is an object of no small terror. Indeed terror is in all cases whatsoever, either more openly or latently, the ruling principle of the sublime. (Burke 1998: 53)
Die Erhabenheit des Ozeans leitet sich nicht allein von seinen gewaltigen Ausmaßen ab. Der Vergleich mit einer weiten Ebene zeigt, dass infinite Wasserwelten weitere Bestimmungen aufweisen müssen, die sie zum ersten Kandidaten für das Sublime machen. Burkes Abhandlung liefert dazu ein reiches, scholastisch angeordnetes Kategorienarsenal. Beispielhaft zu nennen wären an dieser Stelle »sound and loudness« (ebd.: 75), »suddenness« (ebd.: 76), »the cries of animals« (ebd.: 77), wie zum Beispiel der durchdringende Schrei von Sturmvögeln, ein Schreckensschauspiel, das der Filmregisseur Alfred Hitchcock in dem Film Die Vögel (1963) in späteren Zeiten auf seine Weise inszeniert hat. In der Romantik hat die philosophische Aufregung um die leeren Weiten der nordischen Meere weiterhin Konjunktur. Wie oben erwähnt, verlagert der oknophile Philosoph Kant das Erhabene in das Vorstellungsvermögen des Ich hinein, ein Vorgang, der es in der Folge nicht vor philobatischen Weiterungen schützen wird. Das von Kant ruhiggestellte Ich wird erneut in Schwingungen versetzt, insofern beim Anblick des Meeres physikalische und psychische Grenzen verschwimmen. In Turners Bild »Strand von Calais« (1830) gehen die Elemente ineinander über, die Umrisslinien zwischen Himmel, Meer und Festland werden nicht mehr deutlich gezogen, sondern aufgelöst, was insbesondere der Technik des Aquarellierens geschuldet ist.
Abb. 2: William Turner : Calais Sands at Low Water (1830)
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Vollends aufgehoben ist das autonome transzendentale Subjekt der Kritik der Urteilskraft in den Bildern Caspar David Friedrichs, deren auffälligste Konstante darin besteht, dass ein einsamer Betrachter auf düstere Meeres- oder Mittelgebirgspanoramen blickt, wodurch Seelenlandschaften entstehen, die einer Metaphysik der Angst verpflichtet sind. Nicht selten verwandelt sich diese Angst in Angstlust, wenn man berücksichtigt, dass hysterische Verschmelzungs- und Erlösungssehnsüchte beim Anblick von Meereswellen in der romantischen Dichtung gut belegt sind.76 Schließlich setzt im 19. Jahrhundert die Banalisierung und Umwandlung von der riskanten Entdeckungfahrt zur massentouristischen, exakt getakteten Anund Abreise ein. Ein gutes Beispiel für die sphäropoietische Beschleunigung und Trivialisierung des Verkehrs zu Wasser und zu Lande bietet Jules Vernes populärer Roman Le tour du monde en quatre-vingts jours aus dem Jahr 1873. In die Romanfiktion montiert ist ein Zeitungsartikel aus dem Morning Chronicle, der eine Liste der Etappenziele von London über den Suezkanal, Indien, Hongkong, San Franzisko, New York und zurück nach London enthält.77 Mit ihren exakten Zeitangaben zu den einzelnen Reiseabschnitten ähnelt diese Liste der Textsorte ›Fahrplan‹, womit die Epoche routinisierter globaler Lokomotionen eingeläutet wäre. Freilich übertreibt Sloterdijk mit Blick auf diesen Fahrplan, wenn er postuliert, dass die »Botschaft Jules Vernes’« darin bestehe, »daß es in einer technisch gesättigten Zivilisation keine Abenteuer mehr gibt, sondern nur noch Verspätungen.« (Sloterdijk 1999: 838) Denn bei näherer Betrachtung bietet Le tour du monde Abenteuer ersten Ranges. In diesem Zusammenhang möge der Hinweis auf eine indische Witwenverbrennung im neunten Kapitel genügen: Gegen alle Widerstände gelingt es der Reisegruppe um den englischen Gentleman Phileas Fogg mit Hilfe einer gewagten Travestie, die junge und ausnehmend schöne Witwe auf spektakuläre Weise von dem brennenden Scheiterhaufen zu retten. Sloterdijks These müsste also dergestalt modifiziert werden, dass Ozeanüberquerungen zwar dank verkürzter Wege (Suezkanal) bzw. verbesserter Technik (Dampfschifffahrt) am Ende des 19. Jahrhunderts in geregelte Verkehrsroutine übergehen, aber sujethaltige exotistische Ereignisse sind weiterhin möglich, ja, sie multiplizieren sich sogar im weiteren Fortgang der Geschichte,78 76 Stellvertretend sei in diesem Zusammenhang Giacomo Leopardis notorisches Gedicht »L’infinito« aus den Canti (1831) erwähnt. Der Schlussvers des Gedichts »E il naufragar m’H dolce in questo mare« zeugt von einem lustvoll intendierten Schiffbruch in den Wellen eines Meeres (Leopardi 2008: 301), das im Einklang mit der Leopardi-Forschung auch als Textmeer der Moderne gelesen werden kann, welchem sich das lyrische Ich willentlich ausliefert und dabei die klassizistische Überlieferung negiert (vgl. Wehle 1997). 77 Im Druckbild sind die Etappenorte leicht auszumachen, weil sie in Form einer Liste untereinander angeordnet sind. Dabei sind die Fahrtzeiten rechtsbündig notiert, und sie addieren sich unter dem Strich zu einer Summe von 80 Tagen (vgl. Verne 1884: 20). 78 Vor der chinesischen Küste geraten Fogg & Co in einen infernalischen Taifun, bei der
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und zwar als narrative Konfektionsware, welche über die ästhetischen Formen der Massenkultur ventiliert werden: Die großen, singulären und ›authentischen‹ Seefahrergeschichten sind längst erzählt worden, so dass die Erzählstoffe für massenmediale Produktionen und Multiplikationen freigegeben werden konnten. Gesättigte Zivilisationen leiden also keinen Mangel an Abenteuern, vielmehr werden diese am laufenden Band erzeugt. Sie antizipieren damit den AbenteuerTourismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts, der unter dem assoziationsträchtigen Label des Tourismuskonzerns Thomas Cook Group in effizienter Weise organisiert und verwaltet wird. Eine andere Variante des serialisierten Fernabenteuers manifestiert sich im sportlichen Wettbewerb regelmäßig stattfindender Bootswettfahrten wie dem America’s Cup. Da es zudem seit dem Jahr 2000 dank GPS (Global Positioning System) sogar für zivile Zwecke möglich ist, Objekte auf dem Globus zentimetergenau zu orten, können Schiffe auf unseren Weltmeeren eigentlich nur noch nach Absprache unter den Supermächten verschwinden. Festzuhalten ist demnach, dass sich der locus horribilis der Antike und des Mittelalters in einen perfekt kalkulier- und damit beherrschbaren Verkehrsraum verwandelt hat, auf dessen ›Wasserwegen‹ Waren in weltweit genormten Containern zwischen den Kontinenten hin und her bewegt werden. Im Zeitalter der vollständigen Beherrschung der Meere haben maritime Bedrohungen nurmehr ein metaphorisches Leben. Wenn sich heutzutage die Inhalte des Internets im Sinnbild des Datenmeers verdichtet haben, dann werden dabei sowohl negative als auch positive kulturgeschichtliche Assoziationen wachgehalten. Letztere werden also auf das neue Feld moderner Kommunikationstechnologien übertragen und verbinden sich dabei mit neuen Vorstellungsinhalten. Es könnte sich bei dieser Übertragung um den Versuch handeln, opake digitale Technologien der Wissensverbreitung und -speicherung mit vertrauten Bildern aus der analogen Welt auf den Begriff zu bringen.
1.2.3 Das Datenmeer als idealisiertes kognitives Modell Das durch die Katachresen Cyberspace und surfen evozierte Bildfeld der Schifffahrt und des Meeres stellt einen traditionsreichen rhetorischen Topos für die Versprachlichung kühner geistiger Entdeckungsreisen dar und diente von
Überquerung des amerikanischen Kontinents müssen sie sich mit einer Büffelherde herumschlagen, und kurz vor New York werden sie von Sioux überfallen. Der Überfall wächst sich zu einem gewaltigen Gemetzel aus, Foggs französischer Diener Passepartout wird entführt, usw.
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jeher als Allegorie der theoretischen Neugierde.79 Man denke nur an jene beiden stolzen Schiffe, die mit geblähten Segeln an den columnae fatales vorbeiziehen und als Sinnbild für die Ausweitung des frühneuzeitlichen Wissenshorizonts auf dem Frontispiz von Francis Bacons Instauratio magna (1620) abgebildet sind. Der nautisch geprägte Geist des seinerzeitigen Epochenwandels benötigte nicht länger Fundamente, sondern Umschlagplätze, Fernziele, inspirierende Hafenbezüge, eine Einsicht, die der Sphärendenker Peter Sloterdijk in prägnanter Weise wie folgt formuliert: Der Form nach wäre eine Philosophie, die ihrem Ruf, den Weltbegriff der Neuzeit zu formulieren, hätte gehorchen wollen, dazu bestimmt gewesen, sich als schwimmende Fakultät oder zumindest als Hafen-Autorität Europas zu konstituieren. (Sloterdijk 1999: 891)
Die Entdeckung von Meeren und Kontinenten kann aber spätestens seit dem späten 19. Jahrhundert als abgeschlossen gelten. Was noch bleibt, das sind die Meerestiefen, deren Flora und Fauna im heutigen Dokumentarfilm bzw. – jüngste Entwicklung – dank Google Ocean einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert werden. Wo der ›reale‹ Raum nurmehr wenige unberührte Bezirke für imaginäre Besetzungen bereithält, bietet sich der Cyberspace als medial erzeugte, sujethaltige Horizonterweiterung an. Dabei werden die neuen Wissensbestände – im Fachjargon auch als content bezeichnet – als Datenströme oder Informationsflut vorgestellt, die in ein unermessliches Datenmeer münden, das in der Zwischenzeit dank eines differenzierten Arsenals letztlich tradierter anthropozentrischer Metaphern auf anschauliche Begriffe gebracht und dadurch plausibel geworden ist. Zieht man die kognitive Metapherntheorie heran, dann lässt sich diese Hypothese linguistisch erhärten, denn in der Regel werden unbekannte komplexe Sachverhalte zunächst einmal durch altbekannte Begriffe bezeichnet. Das gilt selbst für kühne Metaphern, deren Widerständigkeit – wie oben im Rekurs auf Blumenberg dargelegt – durch Akte des Umverstehens kompatibel gemacht werden und die, so ließe sich hinzufügen, bei näherer Betrachtung auf bereits habitualisierten Metaphern beruhen. Es sei in Erinnerung gerufen, dass Metaphern nicht ausschließlich als Redeschmuck dienen, schon gar nicht als akutesker Endzweck verblüffender Pointen nach Art der Barockdichtung, sondern sie durchziehen und bestimmen auf ganz prosaische Weise unser tägliches Leben und damit unsere Normalsprache – ziemlich genau das Gegenteil dessen also, was die Schulrhetorik lehrt. In den Worten von George Lakoff und Mark Johnson, die mit ihrem Buch Metaphors We Live By (1980) die kognitive Meta79 Zur Geschichte nautischer Metaphorik in literarischen und philosophischen Texten vgl. die Studien von Curtius (1967), Blumenberg (1979) und Baumbach (2013).
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pherntheorie mitbegründeten und damit eine Wende in der neueren Theoriebildung einläuteten: […] metaphor is persuasive in everyday life, not just in language but in thought and action. Our ordinary conceptual system, in terms of which we both think and act, is fundamentally metaphorical in nature. (Lakoff / Johnson 1980: 3)
Metaphern werden also nicht erst in der Sprache greifbar, sondern sie bilden ein konzeptuelles System, das man als vorsprachlich bezeichnen muss.80 Eine Sache oder einen Vorgang verstehen heißt demnach, dass der Mensch bei der Erklärung auf andere Sachen oder Vorgänge zurückgreift: »The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another« (ebd.: 5, Hervorh. im Orig.). In der Regel geht es dabei um die Konstruktion elaborierter abstrakter Konzepte. Die abstrakte Zieldomäne wird durch den Rückgriff auf eine konkrete Ursprungsdomäne veranschaulicht und plausibilisiert. Am einfachsten kann man sich das am Beispiel der konzeptuellen Metapher Zeit ist Geld erklären, die im Alltag in sprachlichen Metaphern wie Zeitverschwendung oder Zeitgewinn u. a. ventiliert wird und damit einen ganzen Metaphernkomplex ausbilden, mit dessen Hilfe die abstrakte Zieldomäne Zeit begreifbar wird. Da dieser metaphorologische Zusammenhang genauso gut in den romanischen Sprachen wie auch im Englischen nachweisbar ist, darf man behaupten, dass die Zeit in den westlichen Gesellschaften als ein knappes und deshalb kostbares Gut angesehen wird, weshalb der Bereich des Geldes als Bildspender aufgerufen wird.81 Diese Interferenz zwischen dem semantischen Ursprungsbereich des Pekuniären und dem Zielbereich der Temporalität bleibt – nebenbei bemerkt – auch in jüngerer Zeit als produktives Muster in Takt: Im Zusammenhang mit der Einführung von Studiengebühren etwa ist der eindrucksvolle Neologismus Studienzeitkonto entstanden. Lakoff hat in der später folgenden, bekannten Studie Women, Fire and Dangerous Things (1987/1990) gezeigt, dass die oben genannten konzeptuellen Metaphern zur Vernetzung tendieren, dergestalt, dass sie ihrerseits zu Bestandteilen eines umfassenderen Systems werden, das unsere Weltwahrnehmung letztlich in entscheidender Weise steuert: The main thesis of this book is that we organize our knowledge by means of structures called idealized cognitive models, or ICMs, and that category structures and prototype effects are by-products of that organization. […] Each ICM is a complex structured whole, a gestalt […]. (Lakoff 1990: 68) 80 Zur Operationalisierung onomasiologischer Metaphernanalysen vgl. Jäkel (2003: insbes. 141–143). 81 Zur prägenden Kraft dieser okzidentalen Metapher in kolonisierten Gesellschaften vgl. Lakoff / Johnson (1980: 145).
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Als Beispiel nennt Lakoff das Element Dienstag, das als dritter Wochentag gilt und nur dann einen Sinn ergibt, wenn man es in Relation zu dem kognitiven Modell der Woche setzt, die ihrerseits nicht objektiv existiert, sondern als Einheit aus sieben Tagen von Menschen konstruiert wurde (ebd.: 69). In ähnlicher Weise verhält sich der Vorgang des Surfens zum Meer. Es sei nun postuliert, dass die Redeweise vom (Daten)Meer ein solches idealisiertes kognitives Modell bildet, das über unterschiedliche konzeptuelle Metaphern und deren jeweilige sprachliche Realisierungen umgesetzt wird. Das ICM Daten(Meer) wirkt bei der kognitiven Aneignung aktueller Kommunikationstechnologie wie ein gestalthaftes Hintergrundwissen und prägt darüber hinaus das Denken und Handeln mittels prototypischer Effekte. Wenn man konzeptuelle Metaphern und deren sprachliche Ausprägungen analysiert, dann finden sich darunter Orientierungsmetaphern, ontologische Metaphern sowie strukturelle Metaphern.82 Orientierungsmetaphern dienen der Versprachlichung räumlicher Grundsituationen wie oben versus unten, innen versus außen, über versus unter usw., mittels derer abstrakte Sachverhalte veranschaulicht werden. Abstrakte Oppositionen wie Glück versus Unglück, mehr versus weniger oder gut versus schlecht werden beispielsweise über die Raummetaphern oben versus unten ausgedrückt.83 Mal hat man Oberwasser, mal ist man ganz unten oder auch auf dem Boden der Tatsachen gelandet, wenn nicht sogar tief gefallen. In ähnlicher Weise hat man sich die virtuellen Welten des Cyberspace sprachlich angeeignet. Die zu Beginn noch rätselhafte Welt hinter dem Bildschirm wird über die räumliche Opposition innen versus außen konzeptualisiert. Im deutschen Kulturraum ist jener Boris-Becker-Werbespot noch in Erinnerung, in dem der ehemalige Tennisspieler zu sehen ist, wie er sich mit dem Internet verbindet und diesen intern fokalisierten, verblüffenden Vorgang mit den Worten »Ich bin drin!« abschließt. ›Drin‹ sind auch die vielen InternetInsider, eine Begriffsprägung, die durch die virtuelle Werbefigur »Robert TOnline« populär wurde. Mit dem Spruch »Ich bin Internet-Insider und habe jede Menge Tipps« warb der blonde, blauäugige Anzugträger seinerzeit für die neue Telekom-Tochter T-Online.84 Dabei kann sich die Perspektive auch umkehren,
82 Diese triadische Differenzierung geht zurück auf Lakoffs und Johnsons (1980) grundlegende Einführung in die kognitive Metapherntheorie. Jäkel weist darauf hin, dass diese Konzeption in linguistischen Fachdiskussionen kritisiert wurde und von Lakoff (1987/1990) selbst später modifiziert wurde. Daneben wird aber auch herausgestellt, dass im Rahmen angewandter Studien weiterhin mit diesem Begriffsnetz gearbeitet wird. Die andauernde Konjunktur von Lakoffs Metaphorologie wird darauf zurückgeführt, dass eine erfolgversprechende terminologische Alternative bislang fehle (vgl. Jäkel 2003: 138). 83 Vgl. Lakoff / Johnson (1980: 14ff.). 84 Vgl. http://www.welt.de/print-welt/article505245/Telekom_startet_Werbefeldzug__fuer_TOnline-Boersengang.html (1. 1. 2006).
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wie zum Beispiel in der Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von John Perry Barlow (1996): Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus der neuen Welt des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Laßt uns in Ruhe! […] Wir haben Euch nicht eingeladen. Ihr kennt weder uns noch unsere Welt. Der Cyberspace liegt nicht innerhalb Eurer Hoheitsgebiete. Glaubt nicht, Ihr könntet ihn gestalten, als wäre er ein öffentliches Projekt. Der Cyberspace ist ein natürliches Gebilde und wächst durch unsere kollektiven Handlungen. (ebd.: 110)
Der auktoriale Redestandpunkt befindet sich in dieser Unabhängigkeitserklärung offensichtlich bereits im Datenmeer bzw. im Cyberspace,85 und er wendet sich von dort aus an ein staatliches »Ihr«. Der Außenraum des »Ihr« ist übermächtig (»Giganten«), materiell, körperlich und unbeweglich (»Fleisch und Stahl«). Dem steht ein geistiger Innenraum des »Wir« gegenüber, der als rein geistiger und natürlicher, heterarchisch wachsender Raum der Zukunft konzeptualisiert wird.86 Als aktiver User bleibt man nicht ›draußen‹, sondern surft im Internet, Web oder Datenmeer, das heißt, zu den Orientierungsmetaphern gesellen sich diverse ontologische Metaphern. »Ontological metaphors« (Lakoff / Johnson 1980: 25) gehen auf physische Objekte und Substanzen der menschlichen Alltagserfahrung zurück und verbreitern die über Orientierungmetaphern geschaffene Verstehensbasis. Zu diesem Erfahrungsschatz gehören auch kulturell überlieferte Erfahrungen, die elementar sind und nach Lakoff / Johnson häufig auf den menschlichen Körper bezogen werden können (ebd.). Die Metapher vom Datenmeer entspricht dieser Beobachtung, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen veranschaulicht die Metapher den abstrakten Aspekt des Quantifizierens, was Lakoff / Johnson an Beispielen wie I will take a lot of patience to finish this work oder There is so much hatred in the world erläutern (ebd.: 26). Entsprechende romanische Metaphern liegen vor in Ausdrücken wie un sacco di problemi oder un tas de problHmes. Mit anderen Worten: In der Meeresmetapher wird die Quantität der dargebotenen Inhalte akzentuiert. Zum zweiten entspricht das Datenmeer den bei Lakoff unter den ontologischen Metaphern speziell herausgehobenen Containermetaphern. Diese beruhen auf der anthropologischen Tatsache, dass wir uns vom Rest der Welt durch unsere Hautoberfläche abgrenzen. Jeder Mensch ist ein Container,
85 Barlows Redeweise vom Cyberspace kann als abermaliger Beleg für die Lexikalisierung des Ausdrucks gelten. 86 Vgl. hierzu Markus Schroer (2006), der sich mit Bühls Internetmetaphern auseinandersetzt und das Internet dabei aus der Perspektive einer Soziologie des Raums zu rekonstruieren versucht.
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und dementsprechend projezieren wir unsere Innen-Außen-Orientierung auf andere physikalische Objekte, denen wir entsprechende Territorien zuweisen: There are few human instincts more basic than territoriality. And such defining of territory, putting a boundary around it, is an act of quantification. Bounded objects, whether human beings, rocks, or land areas, have sizes. This allows them to be quantified in terms of the amount of substance they contain. (ebd.: 30)
An dieser Stelle könnte man natürlich einwenden, dass es sich bei der Meeresmetapher gerade nicht um ein begrenzbares Territorium handelt und dass sie genau aus diesem Grund als anschlussfähiges und deshalb erfolgreiches ICM funktioniert. Der Einwand gälte jedoch nur bedingt, weil die Idee des Meeres spätestens seit dem Zeitalter der Entdeckungen eine finite und teilbare Entität darstellt. Von entscheidener Bedeutung aber ist, dass Lakoff / Johnson im Hinblick auf Containermetaphern außerdem die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass auch Substanzen als Container angesehen werden können. Take a tub of water, for example. When you get into the tub, you get into the water. Both the tub and the water are viewed as containers, but of different sorts. The tub is a CONTAINER OBJECT, while the water is a CONTAINER SUBSTANCE. (ebd.: 30, Hervorh. im Orig.)
Neben der primär arealen Opposition zwischen dem anthropologisch angestammten terranen Standort des Subjekts und dem unbegrenzten maritimen Raum erlangt auch die physikalische Beschaffenheit von Containersubstanzen semantische Übertragungsqualitäten. Demnach wird außerdem der sekundäre Gegensatz zwischen festen und flüssigen Eigenschaften von der Dynamik metaphorischer Modellierung erfasst. Es fällt auf, dass die heutigen Formen der Kommunikationsorganisation in Gestalt von flüssigen Aggretatszuständen konzeptualisiert werden: Informationen müssen fließen, und zwar als movable types,87 Fließtexte, Datenflüsse oder -pools, denn nur in dieser Form sind sie jederzeit und überall zugänglich, nicht länger abgelegt in verfestigten, linear und hierarchisch organisierten Magazinen, Bibliotheken oder anderen Formen starrer Wissensspeicherung; und nur in der flüssigen Form bietet das Medium die Chancen für neue, unverhoffte Entdeckungen. Dagegen führt jede Verfestigung oder Austrocknung in Form des Ausdruckens, Scannens, der Umwandlung in PostScript oder in das Post Document Format, der territorialen Eindämmung durch Passwörter oder Gebühren zu Stauungen, Stockungen oder – in der Sprache der Kühltechnik – Verfrostungen. Aus diesem Grund ist man zum 87 Movable Type ist ein weit verbreitetes freies Weblog-Publikationssystem. Movable Type unterstützt einschlägige Weblogfunktionen wie zum Beispiel Trackback, Benutzerkonten, Kommentare, Beitragskategorien und Blogrolls. Zum Dispositiv Weblog und seinen technischen Voraussetzungen vgl. Abschnit 2.3.1 dieser Arbeit.
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Beispiel in der heutigen Bibliothekswissenschaft unter dem assoziationsträchtigen Fachbegriff des defrosting darum bemüht, weiter bestehende Informationssperren aufzuspüren und aufzuheben, etwa durch Optimierung bibliographischer Austauschformate und stärkere Venetzung bereits bestehender Datenpools.88 Der Begriff der Vernetzung lenkt die Aufmerksamkeit auf die kopräsenten Metaphern web bzw. net, die wie üblich auch Eingang in die romanischen Sprachen gefunden haben und ebendort als rete (ital.) oder web bzw. toile (frz.) vertreten sind. Ihr kognitives Vermögen entspricht dem dritten Typus der bei Lakoff / Johnson ausgearbeiteten Typologie und kann daher als strukturelle Metapher bezeichnet werden: Structural metaphors allow us to do much more than just orient concepts, refer to them, quantify them, etc., as we do with simple oriental and ontological metaphors; they allow as, in addition, to use one highly structured and clearly delineated concept to structure another. (Lakoff / Johnson 1980: 61)
Die Netzmetapher gehört zum metonymischen Inventar des Meeres und ist damit dem ICM des Datenmeers zuzurechnen, deutet aber als tradierte und hochstrukturierte philosophische Metapher zugleich eine Perspektive an, welche die Idee unablässigen Fließens modifiziert. Dabei verknüpfen sich mit der Netzvorstellung in erster Linie zwei Aspekte: Als anthroprozentrisches Fanggerät bringt das Netz einerseits den Seefahrer oder Fischer als metonymischen Akteur des Datenmeers ins Spiel, als sekundäre Metapher suggeriert es andererseits, dass der Datenozean seinem amorphen Charakter zum Trotz Strukturen aufweist, die in einer Similaritätsbeziehung zu der des Netzes stehen: Ähnlich wie im Fall der Meeresmetaphorik hat sich im Bild des Netzes eine weit zurückreichende kulturgeschichtliche Überlieferung sedimentiert. Matthias Bickenbach hat darauf hingewiesen, dass die philosophische Metapher des Netzes von Beginn an zur Sprache des Wissens gehört.89 Dabei verweist er u. a. auf den Aspekt des Gewebes (lt. textum) in Verbindung mit der mythologischen Figur der Arachne, der in eine Spinne verwandelten Weberin (Bickenbach 2009: 28f.), die, das sei hinzugefügt, fürderhin als mythologische Ursprungsfigur für Textualität schlechthin gilt90 und die beispielsweise in Gestalt des Browsers Arachne im hypertextuellen Zeitalter weiterhin als metonymischer Bestandteil der strukturellen Netzmetapher zu gelten hat.91 Dieser durch die Strukturme88 89 90 91
Vgl. hierzu den instruktiven Aufsatz von Hull (2008). Über den Ausdruck Netz als Metapher der Sprache des Wissens vgl. im Detail Emden (2007). Vgl. hierzu Knauth (2006). Arachne ist ein freier Webbrowser für DOS-basierte Betriebssysteme.Seit Mai 2008 steht auch eine Linux-Version zur Verfügung (vgl. http://sourceforge.net/projects/arachne-brow ser, 1. 4. 2010).
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tapher des Netzes erzeugte Nexus zwischen Textualität, Sprache und aktueller Kommunikationstechnologie ist in differenzierter Weise in Hartmut Winklers Studie Docuverse. Zur Medientheorie der Computer (1997) ausgearbeitet worden. Darin sondiert Winkler die auf Seiten der Doxa existierenden Wunschkonstellationen über das von ihm so bezeichnete Datenuniversum, und er stellt dabei fest, dass in diesem Universum ein Ideal der Kopräsenz von Gegenwart und Vergangenheit regiere, das die Zeitachse negiere und die Vergangenheit in die Gegenwart übernehme: Das Datennetz also verfolgt nicht nur das Projekt, die gesellschaftliche Topologie in einer 1:1-Landkarte abzubilden, sondern zusätzlich das weit ambitioniertere einer Abbildung auch der Zeit; und dies ebenfalls, wenn die Metapher die Dehnung zuläßt, im Maßstab 1:1. (ebd.: 175)
Diese Vorstellung spielt laut Winkler »sowohl in Realimplementierungen als auch in den Metadiskursen eine Rolle«, er bezeichnet sie jedoch zu Recht als »offen absurd« (ebd.). Im Gegenzug modelliert Winkler die Funktionsweise des Datenuniversums in Analogie zum Modell der Sprache bzw. – so wäre aus unserer Perspektive hinzuzufügen – in Analogie zu der horizontalen respektive vertikalen Struktur des Netzes und seiner Knoten. Die Sprache ist nämlich die Instanz, welche die kumulierenden syntagmatischen (horizontalen) Relationen in paradigmatische (vertikale) Relationen umarbeitet und die unermessliche Vielfalt äußerer Texte »in ein System von ›Bedeutungen‹« einpasst, »das, knapp und ökonomisch, vom einzelnen Sprechenden ›beherrscht‹ werden kann.« (ebd.: 168) So gesehen setzt Sprache auf der Basis der Intersubjektivität und der Beharrung in der Zeit dem unbegrenzten Sprechen zwei Trägheitsmomente entgegen (ebd.: 169). Analog zum Modell der Sprache, die mittels Wiederholung, Kumulation und Abstraktion zwischen Einzelereignis und Begriff moderiert und damit zur unabdingbaren Verdichtung der Kommunikation beiträgt (ebd.: 171), postuliert Winkler für die computerbasierte Kommunikationsorganisation, »daß zwischen Monument und Ereignis ein beschreibbarer Wechselprozess wird etabliert werden müssen.« (ebd.: 179) In deutlicher Frontstellung gegen überzogene Wunschvorstellungen auf Seiten der Medienphilosophie demonstriert Winkler,92 dass das bloß additive Speicherungsprinzip im Verbund mit der Behauptung eine Raums strikter Gegenwärtigkeit »weißes Rauschen« (ebd.: 176) produziert bzw. »linear in die Krankheit Sˇeresˇevskijs« (ebd.: 180) führt, nämlich in die Mnemopathie als Folge rein quantitativer memorialer Anhäufungleistungen.93 Um dieser unterschiedslosen Monumentalisierung zu entge92 Als virtueller Gesprächspartner für die Schärfung der eigenen Argumente dient ihm dabei in erster Linie Norbert Bolz (1994). 93 Winkler rekurriert dabei auf den paradoxen Fall des Gedächtniskünstlers Sˇeresˇevskij, der über ein hinsichtlich des Fassungsvermögens und der Beständigkeit der Erinnerungen
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hen, postuliert Winkler für das Datenuniversum – komplementär zur Idee des continous flow of data – in Analogie zum Netz der Sprache hierarchische Strukturen. Bei der Erläuterung dieser Netzstrukturen greift Winkler auf sekundäre Metaphern zurück, die für unseren Zusammenhang von einigem Interesse sind: […] polyzentrisch selbstverständlich, und keineswegs nach dem Muster einer Pyramide strukturiert, dennoch aber hierarchisch in der Verwaltung qualitativer Unterschiede, unterschiedlicher Verweisdichten und unterschiedlich tief gegrabener Bahnungen. Die Prognose also ist, daß im Datennetz ›Orte‹ unterschiedlicher Bedeutung sich herausbilden werden. […] Die Realgeschichte des Datenuniversums also wird zur Herausbildung von ›Monumenten‹ führen. (ebd.)
›Pyramiden‹, ›Grabungen‹, ›Bahnungen‹, ›Orte‹, ›Monumente‹, ›polyzentrisch‹, ›tief‹ – Winklers unhierarchische Hierarchiestrukturen zur Veranschaulichung netzartiger Verdichtungsprozesse werden interessanterweise in ontologischen Baumetaphern konzeptualisiert, ergänzt um spezifizierende Orientierungsmetaphern, die summa summarum einer Logik der Urbanisierung folgen, also eine terrane Orientierung aufweisen, was aus unserer heuristischen Perspektive als komplementärer konzeptueller Metaphernkomplex zu dem des Datenmeers eingestuft werden kann. Auch dieses Bildfeld wird also über metonymische Teilinventare anthropologischen Zuschnitts ausgebaut, was sich empirisch u. a. in partiell bereits erwähnten Konzepten wie Datenautobahn, eBay, Datenstadt, Telepolis oder Symbolen wie Firefox94 versprachlicht und auf eine mehr oder weniger erfolgreiche kognitive Bewältigungsstrategie schließen lässt. Vor diesem Hintergrund ist es insbesondere die Idee von der Wissensstadt, die im virtuellen Raum eine gut nachweisbare Konjunktur besitzt.95 Die beiden komplementären Konzepte deuten auf jene Logik der Landnahme hin, die sich bei der Ordnung der Dinge traditionell in einschlägigen raumsemantischen Dispositiven manifestieren. Stellvertretend für die Geschichte des Wissens sei hier an das programmatische Vorwort der mit dem wirkmächtigen scheinbar grenzenloses Gedächtnis zu verfügen schien. Nach einigen Jahren kam es allerdings zu Ausfallerscheinungen, dergestalt, dass sich ältere mit akuellen Erinnerungen mischten. Der völlige Zusammenbruch der psychischen Gesundheit konnte nur durch gezieltes Eliminieren von Gedächtnisinhalten verhindert werden (vgl. Lurija 1991). 94 Der Name des Internetbrowsers Firefox will auf den ersten Blick weder zur maritimen noch zur terranen Isotopie passen. Aber bei genauerem Hinsehen zeigt das Logo immerhin einen Roten Panda (engl. firefox), der sich um den Globus legt und sowohl die Weltmeere als auch die Kontinente mit seinem Schweif umschließt, also beide Komplemente umfasst. Freilich steht diese symbolische Allgegenwart des Bildschirm-Katzenbärs in groteskem Gegensatz zu seinem absehbaren Verschwinden in der wirklichen Welt: Der Rote Panda lebt heute nur noch an den Hängen des Himalaja und ist nach Darstellung des World Wildlife Fund vom Aussterben bedroht (vgl. http://wwf-arten.wwf.de, 1. 5. 2009). 95 Vgl. hierzu die grundlegende Studie Datenräume, Informationslandschaften, Wissensstädte von Wagner (2006, insbes. 329–376).
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Rang eines lieu de m8moire ausgestatteten französischen Encyclop8die (1750) erinnert. Ebendort wird das Universum zunächst als »vaste Oc8an, sur la surface duquel nous apercevons quelques %les plus ou moins grandes« (d’Alembert 1986: 114) konzeptualisiert, der dann von einem kontinentalen Standpunkt aus wie in der Geographie vermessen und geordnet werden kann.96 Die so erstellte Ordnung ist une espHce de mappemonde qui doit montrer les principaux pays, leur position et leur d8pendance mutuelle, le chemin en ligne droite qu’il y a de l’un / l’autre; chemin souvent coup8 par mille obstacles, qui ne peuvent Þtre connus dans chaque pays que des habitants ou des voyageurs, et qui ne sauraient Þtre montr8s que dans des cartes particuliHres fort d8taill8s. (ebd.: 112)
Als Spezialkarten sollen dann die alphabetisch geordneten Artikel der Encyclop8die fungieren. Wie man sieht, wird das Wissen von d’Alembert auf diskrete Art und Weise über metaphorische Reterritorialisierungsprozesse geordnet. Zunächst werden einzelne Inseln auf dem Ozean des Wissens erkennbar, die sich dann als Wissenskontinente herausstellen und kartographiert werden können. Es kann also festgehalten werden, dass schon in älteren Wissensdiskursen wie zum Beispiel dem enzyklopädischen die Binäropposition »maritimes versus terranes Begriffsfeld« eine Matrix für die Konstruktion von Wissensordnungen bildet. Dabei steht die metaphorische Vorstellung vom Ozean für den Pol schöpferischer Unordnung. Sie stellt aber im Sinne Lakoffs und Johnsons zugleich einen ersten Konzeptualisierungsversuch dar, dem weitere kohärenzbildende Schritte in Gestalt anthropozentrischer Metaphern folgen. Diese konzeptuelle Territorialisierungsdynamik ist auch in unseren Tagen bei der gedanklichen Verarbeitung der Rede vom Datenmeer mehr als deutlich erkennbar. Zusammengefasst erscheint der neue Cyberraum zunächst als unermessliche Weite, die sich in die Tradition des sublimen Raums einschreibt. Da das neuartige digitalmoderne Erhabene per definitionem nicht fassbar ist, greift man in der Frühphase entsprechender Interdiskurse auf vertraute konzeptuelle Metaphern zurück. Durch den Rekurs auf gebräuchliche Orientierungsmetaphern sowie auf einschlägige ontologische und strukturelle Metaphern eignet sich die globale Sprechergemeinschaft das Phänomen Cyberspace im Bereich des Vorsprachlichen an. Daraus entwickeln sich idealisierte kognitive Modelle (idealized cognitive models im Sinne Lakoffs / Johnsons) wie dasjenige vom Datenmeer. Die Rede vom Datenmeer stellt aus synchroner Sicht ein produktives ICM dar, das weitere metaphorische und vielfältige metonymische Anschlussstellen 96 Nicht ganz zufällig wird die Geographie neben der Chronologie als wichtigster Spross und Gehilfe bei der Ordnung des Wissens angeführt: »La Chronologie et la G8ographie sont les deux rejetons et les deux soutiens de la science dont nous parlons : l’une place les hommes dans le temps ; l’autre les distribue sur notre globe.« (d’Alembert 1986: 101).
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ermöglicht und damit die mentale Aneignung plausibilisiert. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die allegorische bzw. metaphorische Verbindung zwischen Meeres- und Wissenswelten auch in diachroner Hinsicht als eine abendländisch tradierte und daher anschlussfähige stabile Diskursformation bezeichnet werden muss – womit ein zusätzlicher, nämlich historischer Grund für den performativen Erfolg des kognitiven Modells Datenmeer benannt sei. Selbstverständlich wirkt sich dieser interdiskursive ›Erfolg‹ auch auf hypertextuelle Sinnbildungsprozesse im literarischen Feld aus, und zwar – wie die Kapitel 2 und 3 zeigen werden – sowohl hinsichtlich der Sujets als auch in Bezug auf die medienspezifische mise en discours. Nachdem der lexikalisierte Cyberraum aus kulturgeschichtlicher und metapherntheoretischer Perspektive analysiert worden ist und sich bereits erste Umrisslinien einer neuen Textualität des Fluiden abzeichnen, drängt sich die Frage nach der dazugehörigen texttheoretischen Fundierung auf. Immerhin wurde unter Abschnitt 1.1.3 postuliert, dass mit der Entstehung des Cyberspace bzw. des Datenmeers eine abermalige Zäsur in der Geschichte der Technologisierung der Wörter gesetzt werden muss. Letztere verwandeln sich in Hypertext. Daher soll der Blick im Folgenden auf die Ideen eminenter Hypertexttheoretiker gerichtet werden.
1.3
Ankunft im Hypertext
Im anschließenden Abschnitt wird es zunächst um die Darstellung von Hypertextmodellen in der Nachfolge Vannevar Bushs gehen. Dabei werden die Hypertexttheorien Theodor Nelsons und George Landows kurz erläutert (1.3.1). In den darauf folgenden Abschnitten (1.3.2. und 1.3.3) sollen dann in Abgrenzung bzw. Erweiterung dazu Elemente einer Theorie der Hypertextualität zusammengetragen werden, die als heuristische Basis für die analysepraktischen Kapitel dienen werden.
1.3.1 Von der Memex zum Hypertext Die Geschichte der Hypertextidee ist im Rahmen einer bereits erwähnten, umfangreichen Studie von Stephan Porombka (2001) rekonstruiert worden. Porombkas Grundlegung soll mir – abzüglich partiell polemischer Darstellungen – im Folgenden als Leitfaden dienen, an dem ich mich kritisch orientiere.97 97 Vgl. hierzu auch meine ausführliche Kritik an Porombkas polemisch verzerrender Darstellung der Hypertextidee (Scholler 2003).
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Vannevar Bush gilt als Stammvater der Hypertextvorstellung. Immerhin ist seine in den 1940er Jahren entstandene Idee von einer zukünftigen Datenverwaltungsmaschine zunächst einleuchtend.98 Mit Hilfe platzsparender, photomechanischer Verkleinerung und der Verknüpfung von Datenbeständen sowie neuartiger Indexierung sollte in Gestalt der analogen Memex (memory extender) eine Maschine geschaffen werden, welche die wachsenden Datenmengen auf intelligente Weise verfügbar machen würde.
Abb. 3: Memex (memory extender) von Vannevar Bush99
Wie jedoch die zahlreichen Publikationen des Memex-Erfinders zeigen, ist das nur die eine Seite der Medaille. Revolutionär und für spätere Hypertextanhänger attraktiv waren insbesondere die Enthierarchisierung der Wissensordnungen zugunsten netzartiger Verknüpfung sowie die Idee des Mitschreibens auf Rezipientenseite. Damit, so Porombka, sei man aber plötzlich »mittendrin in einem Entfremdungsdiskurs, in dem das falsche Bewusstsein als falsche Indexstruktur erkannt« (Porombka 2001: 34) werde. Dagegen gelte das Assoziative »als das Ursprüngliche, das Authentische, zu dem man nur zurückkehren kann, wenn man sich von der artifiziellen, kulturell erzwungenen Ordnung der Dinge befreit (ebd.).« Hypertext wäre also dank netzartiger Verknüpfungsmöglichkeiten ›authentisch‹, außerdem befreie er die Menschheit von jahrhundertelanger ›Knebelung‹ durch die lineare Ordnung des Buches. Porombka desavouiert diese Thesen unter Hinweis auf den zunehmend utopischen Anstrich von Bushs Überlegungen. Zwar ist Bushs Memex nie gebaut worden, aber wenn man die Entstehung des Internets mitberücksichtigt, dann darf wohl behauptet werden, dass die meisten von Bushs Ideen verwirklicht werden konnten. In 98 In seinem Bush-Referat bezieht sich Porombka vor allem auf Bushs berühmten Aufsatz »As wie may think« (Bush 1945). 99 Die vorliegende Illustration stammt von Alfred D. Crimi und ist von Bush autorisiert. Sie wurde mit nachstehender Legende im Jahre 1945 in der Zeitschrift Live Magazine veröffentlicht: »Memex in the form of a desk would instantly bring files and material on any subject to the operator’s fingertips. Slanting translucent viewing screens magnify supermicrofilm filed by code numbers. At left is a mechanism which automatically photographs longhand notes, pictures and letters, then files them in the desk for future reference.« Zit. n. Wagner (1999).
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anderen Worten: »In ›As We May Think‹ and ›Memex Revisited‹ Bush proposed the notion of blocks of text joined by links, and he also introduced the terms links, linkages, trails, and web to describe his new conception of textuality.« (Landow 1993: 17) Ausgehend von Douglas C. Engelbarts Forschungsarbeiten am Stanford Research Center lässt sich der weitere Gang der Dinge wie folgt erläutern: Die wichtigste Innovation gegenüber Bush besteht in der Digitalisierung und, damit einhergehend, in der Operationalisierung der Memex. Bereits 1963 sind heute vertraute PC-Ingredienzien wie Maus, Fenster- und Mehrfenstertechnik, computerunterstützte Gruppenkonferenzen und Telefon-Bildschirm-Konferenzen, Textverarbeitung, elektronische Post, Hypertextverfahren und anderes mehr von Engelbart und u. a. entwickelt worden (Porombka 2001: 50). Zwar wird auch Engelbart die weit reichenden Pläne der Memex nicht verwirklichen, aber immerhin gelingen ihm doch überzeugende Teillösungen. Als Techniker bietet Engelbart nur wenige Ansatzpunkte für kulturpessimistische Kritik. Ganz anders liegt der Fall bei Theodor H. Nelson, der – wie erwähnt – den Begriff Hypertext geprägt hat und seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts als wichtiger Stichwortlieferant einschlägiger Debatten gelten muss. Nelson zufolge hat der zweckorientierte Techniker Engelbart den MemexGedanken auf den der effizienten Informationsverwaltung reduziert. Mit seinem Plädoyer für eine holistische Umsetzung der Hypertextidee, dergestalt, dass sie auch »satisfactory, say, for philosophers and novelists« (Nelson 1987/1974: 16) sein möge, inthronisiert sich Nelson als wahrhaftiger Erbe Vannevar Bushs. Dementsprechend bewegt sich Nelson auf den Spuren seines Vorgängers, dabei ein »Docuverse« aus »non-sequential writing« (ebd.: 23) ersinnend,100 wodurch, wie Porombka ganz richtig feststellt, der »Entfremdungsgedanken noch deutlicher und drängender« (Porombka 2001: 72) formuliert wird als zuvor : Nicht in der hierarchisierten, linear strukturierten Buchwelt Gutenbergs kann das Leben in seiner ganzen Vielfalt abgebildet werden, vielmehr sei das Prinzip der intertwingularity (›alles hängt mit allem zusammen‹) viel besser im Hypertext aufgehoben. In den Worten Porombka-Nelsons: »Lesende und Schreibende werden nach einer Jahrhunderte dauernden Zwangsherrschaft aus Gutenbergs Bastille befreit.« (ebd.)101 Porombkas Gefängnismetapher, die zudem das Ancien R8gime 100 Mit dieser Definition gilt Ted Nelson als Schöpfer des Begriffs Hypertext. Seitdem versteht man darunter ein System zur Verknüpfung digitalisierter Dokumente. Porombka (2001: 71) weist darauf hin, dass Nelson den Begriff bereits zu einem früheren Zeitpunkt benutzt hat (vgl. Nelson 1965). 101 Als Leser Porombkas kann man sich in diesem wie in vielen anderen Fällen nicht immer sicher sein, wer gerade spricht. Zum wiederholten Male versteckt sich der Verfasser in paraphrasierender Rede hinter der Maske anderer Autoren, vermutlich in ironischer Absicht, ein Verfahren, das der argumentativen Klarheit mitunter abträglich ist.
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evoziert, deutet an, dass die hypertextuelle Befreiung neben der technischen auch eine politisch-emanzipatorische Komponente aufweist, die – man denke an die Zensurproblematik im Internet – bis in die Gegenwart nachwirkt. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts beherrschte IBM die Produktion der Informationstechnologie und verfügte über die Entwicklung bzw. aktive Beschränkung von Computern, eine Herrschaft, die jedoch nicht von ewiger Dauer sein sollte, weil IBM eine Fehlentscheidung von großer Tragweite fällte: Das IT-Unternehmen investierte nämlich weiterhin ausschließlich in Großrechner für das Militär bzw. für große Unternehmen und verzichtete auf die Entwicklung von Mikroprozessoren (ebd.: 85). In diese Lücke stießen andere Anbieter, die alsbald steile Wachstumskurven verzeichnen konnten. Mit dem PC war ein Gerät geboren, das individuell programmiert und mit den eigenen Ideen bestückt werden sollte: »new freedoms through computer screens« lautet nicht ganz zufällig der Untertitel von Nelsons inzwischen historischer Studie, die in der ersten Auflage (1974) unter dem Haupttitel Dream Machines veröffentlicht wurde und in der zum ersten Mal die großen Computerkartelle geschmäht wurden. Als prototypische Verkörperung der Computer-Lib-Bewegung schwebte Nelson der Darkside-Hacker vor, der sich zur Unzeit, wenn alle Welt schläft, an den Netzen von Big Brother zu schaffen macht, aber damit, das sieht Porombka ganz richtig, auch wieder nur ein mythisches Schema der amerikanischen Romantik erfüllt: »Atavismus und Technophilie« (Porombka 2001: 86); ein Mythos, so wäre dieser Gedanken noch weiter zu spinnen, der / la longue exakt ins Gegenteil umschlägt. Denn die neuen ›R8gimes‹ haben längst auf flexible Weise reagiert, indem sie die widerspenstigen Elektro-Partisanen der ersten Generation mit gut dotierten Verträgen kurzerhand eingekauft und in die betriebseigenen Sicherheitsabteilungen abgeordnet haben. Aber die Dialektik der Hyper-Aufklärung um die Hackerbewegung nimmt dann noch eine weitere, ganz unverhoffte Wendung, denn die Computerindustrie hat – wie man in der Zwischenzeit gelernt hatte – allergrößtes Interesse an der Verbreitung von Virusattacken; lassen sich doch sehr gute Geschäfte damit machen.102 Bei aller Kritik am Mythos Hypertext muss allerdings auch erwähnt werden, dass die von Nelson genährten Hoffnungen sich keineswegs zerschlagen haben. Im Gegenteil, wie am Beispiel der Rede vom Datenmeer gezeigt, werden aktuelle Formen der Kommunikationsorganisation weiterhin als offener demokratischer Möglichkeitsraum begriffen, was sich an zahlreichen Beispielen medialer Praktiken des Selbst belegen lässt103 und nicht 102 Vgl. hierzu Schmundt (2002: 140), der das Hightechmärchen vom apokalyptischen Computervirus entzaubert, indem er zeigt, wie »eine halbseidene und milliardenschwere Softwareindustrie von der Dämonisierung des groben Unfugs profitiert und die Virenpanik aus wirtschaftlichem Kalkül schürt.« 103 Ein viel zitierter Beleg für den Kampf um die Freiheit des Internet ist John Perry Barlows (1996) oben erwähnte Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. – Als zeitgemäße Form
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zuletzt im theoretischen Diskurs ein ostentatives Credo bildet: »I contend that that the history of information technology from writing to hypertext reveals an increasing democratization or dissemination of power«, behauptet George P. Landow in Hypertext. The Convergence of Contemporal Critical Theory and Technology (1993: 174). Die zuletzt genannte Studie bildet bis heute den wichtigsten Bezugshorizont der Hypertextdiskussion. Das gilt insbesondere für literaturwissenschaftliche Milieus, und zwar deshalb, weil – der Titel deutet bereits darauf hin – Landow den seinerzeit dominanten poststrukturalistischen Theoriediskurs für seine Hauptthese in Anspruch nimmt, was ihm eine intensive Rezeption bescherte und weiterhin beschert. Landow behauptet, dass zwischen poststrukturalistischer Texttheorie und dem Phänomen der Hypertextualität eine Konvergenzbeziehung bestehe, genauer, dass der Hypertext eine technische Realisierung einschlägiger Theoriebestandteile sei. Dazu zählen u. a. die Theoreme der Nichtlinearität (Barthes, Derrida; ebd.: 3 und 29), der Intertextualität (Barthes, Foucault; ebd.: 4), der Polyphonie (Bachtin; ebd.: 11), der Dezentrierung (Derrida; ebd.: 13), der Plurimedialität (Derrida; ebd.: 43) sowie der Demontage des Autors (Lyotard, Foucault; ebd.: 73).104 – In den folgenden beiden Abschnitten wird zu überprüfen sein, ob die hypertextuelle Praxis mit Landows Thesen modelliert werden kann bzw., falls das nicht der Fall sein sollte, inwiefern sie modifiziert werden müssten, zumal Landow eminenten Eigenschaften hypertextueller Kommunikation keine Beachtung schenkt. Dazu zählen zum Beispiel jene neuen Formen sekundärer Literalität, die deutliche Spuren konzeptioneller Mündlichkeit aufweisen, sich in jüngeren Hypertextformaten wie EMail oder Chat herausgebildet haben und schon deshalb vertiefte Aufmerksamkeit verdienen, weil sie einen neuen, bis hin zur Neographie reichenden Sprachgebrauch kreieren, der seinerseits auf hypertextuelle Formen der Literatur, aber auch auf die angestammte Printliteratur zurückwirkt.
medialer Selbstpraxis wäre etwa der Weblogkommentar anzusehen (vgl. hierzu Dünne 2004). 104 In der Zwischenzeit hat Landow eine dritte, stark ergänzte Version seiner epochalen Studie vorgelegt. Der Titel Hypertext 3.0. Critical Theory and New Media in an Era of Globalization (2006) deutet zwar eine Akzentverschiebung an, insofern der Begriff convergence nicht mehr auftaucht, dennoch hält Landow im Wesentlichen an seiner Konvergenzthese fest: »Bush and Barthes, Nelson and Derrida, like all theorists of these perhaps unexpectedly intertwined subjects, begin with the desire to enable us to escape the confinements of print.« (ebd.: 66)
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1.3.2 Sekundäre Literalität im Kontinuum von Schriftlichkeit und Mündlichkeit Unsere Analyse von Kommunikationsmetaphern hat gezeigt, dass die zur Erfassung aktueller Kommunikationsorganisation gebräuchlichen Ausdrücke wiederholt auf Textualität verweisen. Der Fluss der Wörter mündet in das Datenmeer, die Netzmetapher lässt den Gedanken an das Textgewebe aufkommen, so dass Hartmut Winkler (1997) den Aufbau des Datenuniversums – wie gezeigt – in Analogie zur Struktur der Sprache erläutert. Um das oben Gesagte in pointierter Weise in Erinnerung zu rufen, bietet sich eine Interviewäußerung Winklers an: Das WWW explodiert als ein Medium der Texte und der Schrift; und kein Mensch überlegt sich, wieso die Mediengeschichte die technischen Bilder (Photographie, Film und TV) nach 100 Jahren offensichtlich aufgibt und, wie es scheint, zu Schrift und Sprache zurückkommt. Stattdessen wird – völlig albern – das ›Ende der Gutenberggalaxis‹ verkündet, das, wenn überhaupt, bereits um 1900 eingetreten ist. (Lovink 1997: 355)
Die Äußerung mag übertrieben sein, zumal Photographie, Film und TV im weltweiten Netz durchaus präsent sind, aber niemand wird bestreiten, dass die neuen Medien allen Unkenrufen zum Trotz nicht zum Untergang der Schriftkultur, sondern ganz im Gegenteil zu einer deutlich spürbaren Vermehrung des Geschriebenen geführt haben, und zwar u. a. in Form einer neuen, sekundären Schriftlichkeit. Aus heutiger Sicht könnte man rückblickend – analog zu Ongs Idee der primären Oralität – die 3500 Jahre währende chiro- und typographisch geprägte Ära als Epoche der primären Literalität definieren, die mit dem Aufkommen elektronischen Schreibens einen qualitativen Sprung macht und damit ein posttypographisches, sekundärschriftliches Zeitalter einläutet. Diese Annahme beruht auf der Tatsache, dass neben der schon traditionellen Textverarbeitung eine ganze Reihe neuer Formate, Schreibformen und -stile entstanden ist, die ihr performatives Potential aus einer tippend beschleunigten Echzeitkommunikation zieht. Zumindest E-Mail, Weblog, Twitter, SMS und insbesondere dem Chat ist bei aller Verschiedenheit als situative Voraussetzung eine theatralische Dimension gemeinsam, dergestalt, dass – tendenziell – eine Simultäneität von Äußerungs- und Handlungsproduktion bzw. -rezeption erzeugt wird, dass also ähnlich wie zwischen einer Bühne und dem Zuschauerraum ein Wahrnehmungskontinuum existiert, nämlich dasjenige zwischen Sender, Kanal, Botschaft und Empfänger, ein Schriftlichkeitskontinuum, das darüber hinausgehend wie beim Telephonieren auf der Reversibilität von Senden und Emp-
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fangen basiert und im besten Fall quasi-simultanen Zeichenaustausch gestattet.105 Ein zweiter Grund für diese Transformation des Schriftgebrauchs dürfte auch im materiellen Prozess der Schriftzeichenerzeugung liegen: Das Schreiben mit der Hand, aber auch das Tippen auf der mechanischen Schreibmaschine muss als vergleichsweise langsamer Vorgang bezeichnet werden, der zehnmal langsamer als Sprechen ist. Es zwingt den Geist zum Innehalten, zur konzentrierten und dadurch auch ›unnatürlichen‹ Ausbildung linearer, Redundanzen ausschwemmender Denkstrukturen.106 Diese Dichotomie wird nun aufgelöst, wenn man bedenkt, dass ein des Zehnfingersystems mächtiger Chatter es mit einem geübten Partner leicht auf ein ›natürliches‹ chaining der Redezüge bringen kann.107 Hinzu kommt, dass auf Schreibmaschinen nicht länger analog mit einer ganzen Hand geschrieben wird, sondern beidhändig mit den Fingerkuppen. Diese senso-motorischen Entlastungen werden auf der Engine-Ebene zusätzlich unterstützt durch Softwareagenten, welche das Geschäft des Schreibens automatisieren, was man sich am leichtesten an der Word-Funktion »AutoZusammenfassen« klar machen kann. Hinter der Funktion verbirgt sich ein kleines Ausführungsprogramm, das automatische Inhaltszusammenfassungen generiert.108 Ergänzt wird dieser Vorgang durch Mausklicks bzw. – seit jüngerer Zeit – durch Berühren des Bildschirms. Norbert Bolz hat diesen Zusammenhang als »Konstellation von Taktilität, Befehl und Innervation der Technik« (Bolz 1993: 197) bezeichnet, welche den Einbruch des Mechanismus in den Bereich des Wortes konsequent fortsetzt. Es sind also technische Entwicklungen, die mit ursächlich für die hier postulierte neue Form von sekundärer Schriftlichkeit sind, Dispositive, die – der Gedanke liegt nahe – nicht zuletzt aufgrund der Kopräsenz und damit ineins der Situationalität der Schriftproduzenten ein 105 Zum interaktiven, theatralischen und operativen Charakter der Schrift unter den Bedingungen sekundärer Literalität vgl. die Ausführungen im Abschnitt »Hypertextmerkmale« (= 1.3.3). 106 Vgl. hierzu Chafe (1982). 107 Welche Anpassungsleistungen der menschliche Körper und Geist hinsichtlich neuer Medien immer wieder vollbringt, wird einem im öffentlichen Raum mit Blick auf das Simsen nachhaltig klar : Das hat die Wissenschaft neugierig gemacht, wie eine Studie über die »Generation Thumbie« belegt. Sadie Plant, Autorin des digitalfeministischen Buches Nullen+Einsen (1998), hat für ihr Cybernetic Culture Research Institut über längere Zeit hinweg in London, Tokio, Chicago und Berlin die Daumen von jungen Menschen aus der Generation Gameboy untersucht. Zur Gegenprobe mussten Angehörige der Generationen Golf und Nachkrieg den Daumen herhalten. Ergebnis: Bei den älteren Herrschaften ist »der Zeigefinger der rechten Hand der beweglichste, kräftigste und geschickteste aller Finger. Bei den Kindern aber sind es – Nintendo und Nokia sei Dank – die Daumen, die mittlerweile zu den beweglichsten, kräftigsten und geschicktesten Fingern geworden sind.« (Roll 2003) 108 Zur Funktionsweise von Softwareagenten in Weblog-Engines vgl. den Abschnitt »Dispositiv Weblog« (= 2.3.1).
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Einfallstor für genuin mündliche Sprachstrukturen im Medium der Schrift bilden. Eine wichtige Triebfeder für die Herausbildung des neuen Schriftlichkeitstyps besteht mutmaßlich darin, dass dank der noch jungen Teleschrift nunmehr genau jene Schriftmerkmale relativiert werden können, welche die kritische Schrifttheorie in der Vergangenheit als konstitutiv postuliert hatte. Aus der Sicht des wirkmächtigen Schriftkritikers McLuhan werden literal geprägte Gesellschaften im negativen Sinn des Wortes homogen, insofern nämlich die Literalisierung der menschlichen Kommunikation eine isolierende Wirkung hat: Die Mitglieder schriftkundiger Gesellschaften werden durch die neue Kulturtechnik von der diskontinuierlichen Fülle eines vormaligen Stammeslebens abgeschnitten (vgl. Abschnitt 1.1.3). In anderer Weise wird die isolierende Wirkung der Schrift von Seiten der dekonstruktivistischen Schrifttheorie hervorgehoben, insofern nämlich die Schrift »um das zu sein, was sie ist, in radikaler Abwesenheit eines jeden empirisch festlegbaren Empfängers überhaupt funktionieren können [muss]« (Derrida 2001: 25)109 Nur scheinbar befreite das Aufkommen der Schrift die Kommunikationsteilnehmer von der Bindung an Raum und Zeit und ermöglichte im Umkehrschluss die Speicherung und zeitverschobene Übertragung von Information. Aus kulturoptimistischer Sicht ist das zwar eine komfortable Emanzipationsleistung, die – wenn man die Tradition abendländischer Schriftkritik von Platon über Rousseau, Herder und McLuhan in Rechnung stellt – jedoch / la longue in neuerliche Heteronomie umgeschlagen ist, insofern Dargestelltes und Sender bzw. Empfänger hinter einer ubiquitär werdenden Schrift verschwinden: Aus lebhafter Rede ist ein Aufzeichnungssystem entstanden, das sich nicht länger auf Außersprachliches oder Vorschriftliches, sondern im infiniten Regress immer nur wieder auf Sprache und Schrift selbst beziehen kann.110 Die Schrift übermittelt demnach am Ende immer nur sich selbst, unabhängig davon, was sie im einzelnen parole-Akt repräsentiert, in welchen historischen oder kulturräumlichen Kontexten sie auftritt. Man mag zur Kritik der Präsenzmetaphysik stehen wie man will, ja, man kann sogar der Meinung sein, dass sich die abendländische Philosophie mit Hilfe der Schrift wiederholt zu vorschnellen Gegenwärtigkeitsbehauptungen hat verleiten lassen, aber selbst dann müsste man zugestehen, dass sich die Rolle der Schriftakteure mit dem Aufkommen der instantanen Teleschrift grundlegend verändert hat. Die Schriftlichkeit etwa des Chat setzt die Anwesenheit von Sender und Empfänger zwingend voraus:
109 Zum Folgenden vgl. Wirth (2008). 110 So etwa Laermann (1990) in seinem informativen Überblick über die Geschichte okzidentaler Schriftkritik.
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Insofern erschüttert der Schriftverkehr der Chat-Kommunikation das Dogma des Dekonstruktivismus, daß dem Funktionieren der Schrift die radikale Abwesenheit des Empfängers ›eingeschrieben‹ sein müsse: der Online-Chat funktioniert nämlich nur unter der Voraussetzung der ›fernen Anwesenheit‹ von Sender und Empfänger. (Wirth 2008: 305)
Dass selbst im Falle der zeitversetzten E-Mail-Kommunikation durch die QuoteTechnik und die schnellen Reaktionsmöglichkeiten ein erhöhtes Maß an Präsenz und Situationalität gegeben ist, haben sprachwissenschaftliche Untersuchungen gezeigt. Zum Beispiel können im Unterschied zur traditionellen Briefkommunikation komplexe anaphorische Bezüge wegfallen.111 Aber auch schon in früheren Epochen forcierter Literalisierungsschübe lassen sich gegenläufige Tendenzen feststellen, insofern die als Kulturtechnik der Entfremdung empfundene Schrift mit kompensierenden Präsenzeffekten ausgestattet wurde. Man denke etwa an die Briefliteratur der Empfindsamkeit und der Romantik,112 die den kalten Buchstaben der Druckschrift mit emotiven Ersatz-Anzeichen Leben einhauchte.113 Ein berühmtes Beispiel für die seinerzeit im Schwange stehende Poetik des written to the moment bieten Ugo Foscolos Ultime lettere di Jacopo Ortis, ein Briefroman aus dem Jahr 1801, dem Goethes Werther als Modell zugrunde liegt.114 Allerdings leidet der junge Held Jacopo Ortis im Unterschied zu Werther nicht nur an unerfüllbarer Liebe zu einer Dame, sondern darüber hinaus auch am hoffnungslosen Zustand seines »sciagurato paese« (Foscolo 1987: 53). Gemeint ist Venetien, das nach dem Frieden von Campoformio (1797) unter die Herrschaft der Habsburger Donaumonarchie gefallen war. Die Briefe Jacopos sind an seinen Freund Lorenzo Alderani gerichtet und handeln dementsprechend von den Enttäuschungen sowohl der Geschlechts- als auch der Vaterlandsliebe: Ti scongiuro, Lorenzo; non ribattere piF. Ho deliberato di non allontanarmi da questi colli. […] Oh quanti de’ nostri concittadini gemeranno pentiti, lontani dalle loro case! perch8, e che potremmo aspettarci noi se non se indigenza e disprezzo; o al piF, breve e sterile compassione, solo conforto che le nazioni incivilite offrono al profugo straniero? Ma dove cercherk asilo? in Italia? terra prostituita premio sempre della vittoria. 111 Typisch sind außerdem Adjazenzellipsen u. a.m. Vgl. hierzu die instruktiven Ausführungen bei Dürscheid (2005). 112 Zum Verhältnis zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit im französischen Briefroman vgl. Behrens (2001). 113 Dass das Auseinandergehen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit durch die Erfindung des Buchdrucks auch im Zeitalter der Aufklärung noch keineswegs besiegelt und deshalb das problematische Schisma von Druck und Schrift besser in Termini einer longue dur8e zu erfassen ist, hat Chartier (1982) herausgearbeitet. Zum Triumph des Buchs am Ende des klassischen Zeitalters vgl. Chartier/Martin (1990). 114 Zum Ursprung einer Poetik des written to the moment am Beispiel von Richardsons Briefroman Clarissa (1848) vgl. Wirth (2005).
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[…] Ahi! sovente disperando di vendicarmi mi caccerei un coltello nel cuore per versare tutto il mio sangue fra le ultime strida della mia patria. E questi altri? (ebd.: 53– 54)
Den zahlreichen ›Achs‹ und ›Ohs‹ in Goethes Werther entsprechen hier die durch »Oh« und »Ahi« eingeleiteten Wehklagen über das im Anschluss an die Napoleonischen Kriege darniederliegende Vaterland. Die durch Interjektionen eingeleiteten Ausrufe und kurzen Fragesätze sind Bestandteile einer Poetik der Emotion, die durch attestierende Illokutionen bzw. konative Nähesprache (»Ti scongiuro«) erzeugt wird und durch eine egozentrisch gefilterte, hypberbolische Semantik der Depression (»gemeranno«, »indigenza«, »disprezzo«, »solo conforto«, »disperando«, »ultime strida«) sowie durch die kaum weniger egologische Anthropomorphisierung des ›misshandelten Staatskörpers‹ (»prostituita«, »strida della patria«) zusätzliche Steigerung erfährt. Nicht zuletzt durch den wiederholten Ausfall einer vermittelnden Erzählinstanz, die in der klassischen Erzählliteratur in der Regel mit einem Er-Erzähler besetzt wird,115 und der dadurch bedingten Tendenz zum gleichzeitigen Erzählen werden zusätzliche Präsenzeffekte erzielt: Die dramatisierende Kongruenz von Erzählstimme und Wahrnehmungsinstanz bietet dabei den narratologischen Rahmen für die gesamte Konstellation. Demzufolge sind die referierten historischen Sachverhalte bereits zum Auftakt des Briefromans umgeben von pseudoperformativen Präsenzzeichen und -strukturen, die trotz der objektivierenden schriftlichen Einbettung für ein authentisches Ich bürgen, dessen Gemütszustand beim Leser jene »lagrime« und »compassione« (Foscolo 1987: 49) auslösen sollen, von denen der fiktionale Briefempfänger alias Herausgeber Lorenzo Alderani im einleitenden Paratext bereits voll und ganz übermannt worden ist.116 Mit anderen Worten: Während die Nachwehen der Gutenbergschen Medienrevolution und damit einhergehend die Dissoziierung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im 18. Jahrhundert bereits fortgeschritten sind und immer weitere Bereiche wie etwa Gedächtnis und Wissensvermittlung der Dominanz der Schrift unterworfen werden,117 finden im Gegenzug typische Elemente und Strukturen prälite115 Vgl. hierzu die grundlegenden Ausführungen zum Unterschied zwischen narrativer und dramatischer Sprechsituation bei Pfister (1982), der sich dabei u. a. auf das bereits bei Aristoteles formulierte Redekriterium berufen kann, wonach im Drama »das vermittelnde Kommunikationssystem also ausfällt« (ebd.: 21). 116 In der kurzen Vorrede »Al lettore« des fiktionalen Herausgebers mit Testimonialfunktion namens Lorenzo Alderani heißt es: »Pubblicando queste lettere, io tento di erigere un monumento alla virtF sconosciuta; e di consecrare alla memoria del solo amico mio quelle lagrime […]. […] E tu, o Lettore, […], darai, spero, la tua compassione al giovine infelice dal quale potrai forse trarre esempio e conforto.« (Foscolo 1987: 49) 117 Vgl. hierzu Kalmbach (1996), die den im 18. Jahrhundert feststellbaren Spaltungsprozess zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Detail untersucht hat. Vor diesem Hintergrund wird die auffällige spätaufklärerische Konjunktur der Dialogliteratur als kompen-
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raler Mündlichkeit, wie zum Beispiel starke emotionale Beteiligung u. a.m.,118 Aufnahme in den graphischen Code der Schrift und führen ebendort ein zweites – medial gesehen – verschriftetes Leben in Gestalt einer nunmehr konzeptionellen Mündlichkeit. Letztere Zusatzbestimmung trägt der Tatsache Rechnung, dass Mündlichkeit nicht an einen mündlichen Kontext gebunden ist, sondern – wie oben gezeigt – auch im graphischen Code vorkommen kann. Umgekehrt sind im phonischen Code Äußerungen denkbar, die einen stark schriftsprachlichen Einschlag aufweisen, was etwa bei Predigten der Fall ist. Dementsprechend wurde die von Söll (1974) postulierte, später dann von Koch / Oesterreicher (1985 und 1990) modifizierte Dichotomie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der linguistischen Fachdiskussion inzwischen zugunsten eines Quadriviums abgelöst. Seit die mediale Dimension berücksichtigt wird,119 kann zwischen medialer und konzeptioneller Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit unterschieden werden. Die Herzensergießungen des Jacopo Ortis erfolgen demnach im Paradigma medialer Schriftlichkeit, aber sie weisen zugleich Spuren konzeptioneller Mündlichkeit auf. Wohl darf man dem empfindsam-romantischen Briefroman wie oben gezeigt eine Vorläuferrolle hinsichtlich des Einstreuens nähesprachlicher Präsenzeffekte im ›kalten‹ Medium der Schrift einräumen. Dass es in der vergleichsweise unterdeterminierten und daher offenen Gattung Roman nicht bei diesem einen Versuch blieb, zeigen – in ganz unterschiedlicher Weise – die alltagssprachlichen Experimente im naturalistischen Roman nicht weniger als die völlig anders gearteten Introspektionen des Proustschen Ich-Erzählers, das zeigen die vulgärsprachlichen Präsenzexzesse in den Romanen eines Ferdinand C8line oder aber die rezenten Erzählwelten Niccolk Ammanitis, die vom Jugendslang der jüngsten Generationen durchwirkt sind. Was die neuen Formen elektronischer Schriftlichkeit jedoch grundlegend von den literarischen Präsenzsuggestionen der Vorläufer unterscheidet, das ist die reale Präsenz der heutigen Schriftak-
satorisches Phänomen interpretiert, ein Erklärungsansatz, der meines Erachtens auch einschlägige Mündlichkeitssignale in der zeitgenössischen Erzählliteratur verständlich macht. 118 Zur Charakterisierung der Sprechhandlung und den damit verbundenen sprachlichen Mitteln vgl. den Merkmalskatalog bei Oesterreicher (2001: 220): 1. private vs. öffentliche Kommunikation, 2. bekannte vs. unbekannte Kommunikationspartner, 3. starke vs. schwache emotionale Beteiligung, 4. maximale vs. minimale Handlungs- und SituationsVerankerung, 5. maximale vs. minimale referenzielle Verankerung, 6. raum-zeitliche Kopräsenz vs. raum-zeitliche Trennung, 7. intensive vs. minimale Kooperation, 8. Dialog vs. Monolog, 9. Spontaneität vs. Reflektiertheit, 10. thematische Freiheit vs. thematische Fixierung. 119 Vgl. hierzu die vielzitierten Aufsätze von Koch / Oesterreicher (1994) und – mit Bezug auf die neuen Medien – Dürscheid (2003) sowie – den Diskussionsstand zusammenfassend – Dürscheid (2006, insbes. 42–52).
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teure, insofern etwa die schriftlichen Äußerungen im Online-Chat wie in einem schriftlichen Telephonat quasi synchron übermittelt werden. Allerdings bedarf diese spezielle Form der Realpräsenz weiterer Differenzierung, denn näher betrachtet befinden sich die Schreibenden an verschiedenen Orten, ihre Präsenz ist an den virtuellen Chatraum geknüpft. Diese Doppelung aus räumlicher Ferne und virtueller Präsenz erinnert an die von Manfred Pfister für das Theater angesetzte Sprechsituation.120 Dem inneren Kommunikationssystem der Bühnenfiktion entspricht dabei die ›Bühne‹ des Chatraums, auf der pseudonyme Chatter wie Figuren interagieren. Im äußeren System dagegen zu verorten sind die realen Sender-Personen über ihren Computertastaturen. Dass solcherart geäußerte Schriftbeiträge von Elementen und Strukturen konzeptioneller Mündlichkeit überlagert werden, ist allgemein bekannt und in zahlreichen Studien nachgewiesen worden. Darüber hinaus finden sich aber auch Versprachlichungsstrategien, die nicht auf das Konto gesprochener Sprache gehen, wie zum Beispiel das Nachahmen von Geräuschen oder die Bildung konsonantischer Rumpfformen und Akronyme (zum Beispiel »mdr« = mort de rire). Nicht zuletzt sind die ›Redezüge‹ gegenüber einer normalen mündlichen Kommunikation erheblich kürzer.121 Es geht also zum einen wie im empfindsamen Briefroman um das Hineinkopieren von Situationalität in den graphischen Code, zum anderen ist kreativer Zeichengebrauch festzustellen, der ein neographisches Zeichen- und Strukturinventar hat entstehen lassen, das weniger mit konzeptioneller Mündlichkeit zu tun hat als vielmehr mit der Produktion von theatralischer Nähe: Unter diesen Auspizien erklärt sich auch das auffällige Bemühen um graphische Nachahmung des – wiederum mit Pfister gesprochen – plurimedialen »Repertoire[s] der Codes und Kanäle«.122 Wie im dramatischen Nebentext wird der leere virtuelle Raum mehr und mehr zu einem gestimmten, insofern die Redezüge in ostinater Manier mit metatextuellen Regieinformationen ausgestattet werden, wodurch die diskrepante Informationslage der Chatter nach und nach ausgeglichen werden kann. Im graphischen Code imitiert werden dabei Physiognomie, Gestik, Mimik, Stimmqualität, Intonation und Lautstärke, um nur die wichtigsten Punkte zu benennen. Aber auch im Haupttext wird ein klassisches dramatisches Verfahren der deiktischen Orientierung angewandt: das der Wortkulisse, das heißt, ähnlich wie in dramatischer Kommunikation wird der Ausfall eines vermittelnden Erzählers dadurch kompen120 Zum Folgenden vgl. den Ansatz von Kailuweit (2009), der sich von jüngsten Lösungsversuchen zum Thema »Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Netzkommunikation« (s. etwa Kattenbuch 2002 und Berrutto 2005) zugunsten einer theatralischen Dimension abhebt. 121 Vgl. die von Kailuweit et al. (2009) erhobenen und interpretierten Daten. 122 Zur Definition dramatischer Kommunikation veranschlagt Pfister neben dem aristotelischen Redekriterium die plurimediale Dimension als weiteres distinktives Merkmal. Zum Repertoire der Codes und Kanäle vgl. Pfister (1988: 27).
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siert, dass der Zuschauer / Leser seine Vorstellungskoordinaten über Raum und Zeit aus den Redezügen der Figuren gewinnt. In dem von Rolf Kailuweit präsentierten Textkorpus etwa wird die ›Bühne‹ mit einem Bett möbliert.123 Man wird zusammenfassend festhalten können, dass die Technologisierung des Wortes auf der einen Seite zu einem unermesslichen Anstieg des Schriftgebrauchs geführt hat. Zugleich aber lässt sich feststellen, dass die ubiquitäre Verschriflichung immer weiterer Bereiche der Lebenswelt eine Vielzahl von Formaten, Schreibformen und Textsorten hervorgebracht hat, die konzeptionell mündlich geprägt sind bzw. der Produktion von schriftlicher Nähe dienen. Mit anderen Worten: Die elektronische Technologisierung der Schrift tradiert nicht länger eine bis dato dominante Entfremdungsgeschichte, vielmehr wird die durch sie markierte Zäsur aufgrund der beschriebenen Präsenzdisposition medial gedämpft und überspielt. Nochmals anders formuliert: Der neoliterale Schriftverband dient nicht länger nur der Überbrückung von räumlicher Distanz, eine Funktion, die den Medien traditionell zugeschrieben wird. Denn wir haben es darüber hinaus mit einer Schwerpunktverlagerung zu tun: Im weltweiten Netz der kurzen Wege geht es eher im positiven Sinn um das literale Aushandeln von Nähe, weshalb Ferne nicht mehr ausschließlich in räumlichen Kategorien gefasst werden kann. Es sei bereits an dieser Stelle postuliert, dass die oben genannten Formate, Schreibformen und Textsorten als Ausdrucksformen sekundärer Schriftlichkeit sowohl für die digitale Literatur als auch für die jüngere Printliteratur ein erweitertes polyphones Anregungspotential bieten, und zwar sowohl im Hinblick auf die Sujetebene als auch in Bezug auf die Ebene der sprachlichen Diskursivierung. Welche weiteren typischen Eigenschaften diese sekundär literalen, hypertextuellen Wörter, Bilder und Klänge im einzelnen aufweisen, soll im folgenden Abschnitt »Hypertextmerkmale« (1.3.3) abgehandelt werden.
1.3.3 Hypertextmerkmale Die von den Hypertexttheoretikern Theodor Nelson und George Landow postulierten prototypischen Effekte hypertextueller Sinnbildung (vgl. 1.3.1) sollen nachstehend ausführlich diskutiert und ggf. modifiziert werden. Es handelt sich dabei um folgende Merkmale: Multilinearität, Autooperativität, Interaktivität, Plurimedialität und Theatralität. 123 (15) loveurpourmaloveuse> sarah59> je m ennuie la :’( :’( (16) bichon> louloutte62> au lit (17) bichon> lol (Kailuweit 2009: 17).
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Multilinearität Auch wenn die Buchstaben schon in Zeiten der historischen Avantgarden das Laufen lernen, indem die Wörter das vorbestimmte Korsett der Textzeile abstreifen und – etwa in der Lyrik oder der Plakatkunst – wie von einer würfelnden Hand über das Blatt verstreut scheinen, so bleiben sie doch dem angestammten Trägermedium des Buches verhaftet. Mit der Erfindung der hypertextuellen Schriftproduktion ändert sich jedoch der Status der Schrift grundlegend. Dem Hypertext liegt mit dem Programmcode eine Art Hypotext zugrunde, der kleine Anweisungsvorschriften enthält. Die wohl wichtigste Vorschrift besteht in der Verknüpfung, dem sogenannten Link. Selbstverständlich hat es schon immer Verknüpfungen in Texten gegeben, ja, die Textlinguistik sieht sogar eine eigene grammatische Kategorie für Verknüpfungswörter vor. Zum Beispiel ist der Konnektor »Im Folgenden« in dem Satz »Im Folgenden geht es um Multilinearität« ein textdeiktischer, kataphorischer Hinweis zum Zwecke der Leserorientierung. Aber in der Gutenbergwelt müssen vom Leser Raum und Zeit in Rechnung gestellt werden, um das Ziel des Verweises zu erreichen. Das gilt im Übrigen auch für das Inhaltsverzeichnis oder das Zitat als klassischen Formen des Verweisens. In einem Hypertext dagegen kann der Leser durch aktivierte Zeichen oder Felder ohne Umschweife zum Zielpunkt und wieder zurück oder aber zu einem anderen, neuen Ziel gelangen, wodurch ein nicht-linearer, netzartiger Text entsteht, der seit der Erfindung des world wide web den gesamten Globus umspannt.124 Allerdings können die mit dem Prinzip der Multilinearität erhobenen metaphysischen Ansprüche hinsichtlich neuartiger Schriftleistungen nur partiell durch die Machart von Hypertexten abgegolten werden. Aus kognitionspsychologischer Sicht bestehen gewisse Einschränkungen in Bezug auf die Rezeptionsfähigkeit von nichtlinearen Hypertexten. Denn Assoziationsvielfalt lässt sich nicht – wie in der historischen Hypertexttheorie erhofft (s. o.) – eins zu eins auf Hypertexte übertragen. Letztere müssen notwendigerweise linear rezipiert werden. Zwar ist es technisch möglich und auch üblich, dass in Hypertexten mehrere Sinneskanäle bedient werden und dass das lineare Fortschreiten des Textes durch unterschiedliche Typen von Verknüpfungen unterbrochen wird, aber das sollte nicht zur Bildung jener problematischen Analogie führen, die im
124 Welchen enormen Gewinn diese Form der Textorganisation darstellt, wird insbesondere bei Nachschlagewerken, aber auch bei scholastisch aufgebauten Lehrwerken deutlich. Um es kurz zu sagen: Zingarelli und Tr8sor de la langue fanÅaise online schlagen ihre OfflinePendants um Längen. In Bezug auf effiziente, hypertextuell organisierte Lehrwerke vgl. etwa die nutzerfreundlich aufbereiteten Literaturwissenschaftliche[n] Grundbegriffe online auf den Seiten der Universität Darmstadt (http://li-go.de, 1. 5. 2008).
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Hypertext die Nachahmung natürlichen Denkens verwirklicht sieht. Mit den Worten eines Skeptikers: Die mentale Gewinnung und Repräsentation der Information ist parallel, die Umsetzung dieser Information in Sprache – und damit hat es Hypertext zu tun – jedoch erfolgt seriell und lineare Sprache gibt es nur, wenn Wort auf Wort folgt, Satz auf Satz gesetzt wird. […] Der Vergleich zwischen Hypertextstruktur und mentaler Wissensrepräsentation vermengt die Ebenen von textueller Strukurierung (die sprachlich und damit linear ist) und neuronaler Organisation von Wissen. (Daiber 1999)
Unter Berücksichtigung dieser notwendigen Differenzierung hängt es natürlich auch von der Semantik der Absprungkante ab, ob die Verknüpfung – und damit der Ausstieg aus dem linearen Text – sinnvoll ist oder nicht. Folgt man der von Beat Suter vorgenommenen Klassifikation von Verknüpfungstypen, dann lassen sich zwei Hauptgruppen von Links unterscheiden: präskriptive versus performative Links. Präskriptive Links verweisen auf »klar zugeordnete Informationen, die wir als solche bereits im Link erahnen können« (Suter 2000: 150), und – so wäre hinzuzufügen – sie unterscheiden sich deshalb gar nicht so sehr von Inferenzschlüssen in der Gutenbergwelt. Über das Anklicken von performativen Links dagegen nimmt der Rezipient eine Rolle ein, die entweder interaktiv oder immersiv sein kann. Performativ wären demnach die kleinen Entdeckungshandlungen, welche die Spielerin vornehmen muss, die kleinen und grossen Rätsel, die sie mit Überlegungen und/ oder mit Handgriffen und Beobachtungen lösen muss, damit sie überhaupt weiterkommt, damit sie einen neuen Raum öffnen […] und das Spiel fortführen kann. (ebd.)
Der Begriff der »Spielerin« evoziert bereits jene ergodic literature, die im Grenzbereich zu Computerspielen anzusiedeln ist.125 Allerdings sei an dieser Stelle postuliert, dass der ›Leser-Spieler-Zapper‹126 von Hypertexten oder digitaler Literatur sich gegenüber dem Nutzer von Computerspielen kategorisch dadurch unterscheidet, dass seine Integrität als Zeichen interpretierendes Wesen gewahrt bleibt, während Letzterer in erster Linie Signale verarbeitet, also eine tendenziell automatisierte Tätigkeit verrichtet.127 125 Über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen narrativen Texten und PC-Spielen sowie zur Problematik einer Theorie des Computerspiels aus der Sicht der Textwissenschaften vgl. den umfassenden und differenzierten Ansatz von Kücklich (2001). 126 Detaillierte Ausführungen zu dieser Trias von Hypertextlesertypen folgen weiter unten im Zusammenhang mit der Kategorie Interaktivität. 127 Zur Präzisierung dieser Unterscheidung vgl. Leitner (2004). Womöglich bleibt diese kategorische Unterscheidung nicht von langer Dauer. Die semiotischen Räume und Figuren in Videospielwelten werden denen im Film immer verwandter. Auch Videospiele sollen uns ergreifen. Die neue Playstation 3 mit ihren High-Definition-Laufwerken und multiplen Prozessor-Kernen verwandelt die schematischen Kulissen tradierter Spiele nach dem Vorbild des Pygmalion in fotorealistische Traumfabriken. Dank der Kunstfertigkeit der
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Autooperativität Die oben postulierten Eigenschaften von Hypertexten werden nicht immer gleichrangig aktualisiert. Vielmehr sind sie in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen anzutreffen. Im Hinblick auf Online-Werbung oder auch auf die Computerlyrik etwa ist die Idee der multilinearen Verknüpfung und die damit verbundene Rhizom-Vorstellung zu vernachlässigen: Im Unterschied zur narrativen Hyperfiction, bei der der Autor dem Leser oder User vielerlei Aktionswörter oder -felder anbietet, damit Letzterer sich seinen eigenen Parcours konstruieren kann, enthalten lyrische Texte vergleichsweise wenige Hyperlinks. Wenn dem so ist, dann stellt sich bereits an dieser Stelle die heuristische Frage nach der Medienechtheit und Medienrelevanz der Gattung Computerlyrik, herrscht doch Übereinkunft darüber, dass nur solche Lyrik, die sich die spezifischen Eigenschaften des digitalen Mediums zu eigen macht, auch diesen Namen verdient.128 An diesem Punkt könnte womöglich eine alternative theoretische Diskussion mit Gewinn herangezogen werden, nämlich die um das Medium Schrift als Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine.129 Denn aus dem Blickwinkel der Schrifttheorie wird der grundlegend neue Charakter computerieller Schrift hervorgehoben, insofern sie eine Weiterentwicklung des referentiellen bzw. operativen Schrifttyps darstellt. Traditionell wird die Schrift als ein solches Zeichensystem aufgefasst, das die gesprochene Rede phonetisch nachahmt und dessen Zeichen wie Stellvertreter funktionieren, also für etwas in der außersprachlichen Wirklichkeit stehen. Neben diesen ontologischen Symbolismus tritt in der frühen Neuzeit der sogenannte operative Symbolismus: Die Zeichen lösen sich von ihren Referenzobjekten und können unabhängig von ihnen gehandhabt werden: »Die Zeichen werden durch die Operationen, nach denen sie manipulierbar sind, als Gegenstände spezifiziert. Man muss die Operationen kennen, um einen bestimmten Zeichengegenstand zu kennen.« (Grube 2005: 103) Spätestens mit dem mathematischen Kalkül kann die Schrift nicht mehr auf das Fixieren von Sachverhalten reduziert werden, vielmehr können operative Zeichen wie Lösungswerkzeuge gebraucht werden. Im digitalen Zeitalter radijüngsten Programmierergeneration entpuppen sich Spielcharaktere zusehends als Figuren, die Blut, Schweiß und – am wichtigsten – Tränen vergießen können. Wie das OnlineMagazin heise.de meldet, sei es mit dem neuen »Reality Synthesizer« [sic] möglich, menschliche Haut lebensecht darzustellen, und bei »dem Kampfspiel Tekken waren sogar die Schweißtropfen auf der Haut der Spielfiguren sichtbar«. (http://www.heise.de/newsti cker/meldung/59620, 1. 9. 2006. 128 Zum Zweck der Distribution ins Netz gestellte Gedichte gehören nicht zur digitalen Literatur. Für diese hat sich der Begriff digitalisierte Literatur eingebürgert. Zur Definition der Kriterien Medienechtheit und Medienrelevanz als distinktive Merkmale für digitale Literatur vgl. Simanowski (2005). 129 Einen Überblick über den Stand der Dinge bietet der Sammelband von Grube u. a. (2005).
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kalisiert sich diese Tendenz, insofern Zeichen entstehen, die auf die Anweisungen des Zeichenverwenders oder Users reagieren bzw. sogar selbständig agieren und dadurch einen autooperativen Charakter annehmen: »Beim agierenden Zeichen muss man abwarten, muss man auf die Reaktion des Zeichenautomaten schauen, muss man schauen, was die Zeichen tun. Der Mensch fordert die Zeichen auf, sich so und so zu verhalten.« (ebd.) Damit rückt neben das erklärungsmächtige Prinzip der Nicht-Linearität130 das der Interaktivität (s. u.), insofern Zeichenkomplexe auf die Aktionen eines Autors oder Lesers reagieren. Daraus ergibt sich ein grundlegender Haltungswechsel beim Umgang mit Hypertexten. Fortan kommt es darauf an, das Verhalten von Zeichenkomplexen zu steuern. Überspitzt könnte man mit Grube formulieren: »Die Frage ist nicht, was steht in dem Text, sondern sie lautet: welche Reaktionen kann man von dem Text verlangen?« (Grube 2005: 107) Diese Zuspitzung mag aus heuristischen Gründen gerechtfertigt erscheinen, wodurch ein oft übersehenes Merkmal von Hypertexten sichtbar werden kann. Diesem Alleinstellungsmerkmal zum Trotz wird sich jedoch in der konkreten Analysepraxis von digitaler Literatur zeigen, dass der referentielle Schriftgebrauch weiterhin eine wichtige Rolle spielt, selbst dann, wenn er in manchen Fällen auf eine Schwundstufe reduziert scheint. Interaktivität Auch wenn die Vorstellungen von Hypertexttheoretikern wie Bush, Nelson und Landow bzw. von Medienphilosophen wie McLuhan sich als nicht realisierbar erwiesen haben, wird andererseits niemand bestreiten, dass sich durch die Existenz der neuen Medien völlig neue Kommunikationskreise bilden bzw. das Kommunikationsgeschehen – ob gewollt oder ungewollt – in stetigem Wachstum begriffen ist. Zu allem und jedem findet man jederzeit Gleichgesinnte. Internetportale und Chaträume laden zum Besuch ein, und zwar als durchweg zugängliche und diskrete Orte, in die der Cyberspacebewohner unbeobachtet eintreten kann und nur dann, wenn er es möchte, Kontakte knüpft, vielleicht mit jemandem, mit dem man von Angesicht zu Angesicht niemals kommunizieren würde. Aus der Sicht des Online-Pioniers Howard Rheingold stiftet selbst das Ferngespräch noch zuviel Nähe zwischen den Kommunizierenden.
130 Die üblichen Definitionen von Hyptertext orientieren sich weiterhin zu sehr am Textbegriff. Vgl. etwa nachstehende Definition aus dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: »Hypertexte sind elektronische Texte, die mit anderen elektronischen Texten verknüpft sind oder auf einzelne in ihnen enthaltene Sequenzen verweisen. Die Strukturierung der Texte über Verknüpfungen erzeugt eine nicht-lineare Repräsentation der Inhalte in Form eines Netzwerkes.« (Braungart 2007, s.v. »Hypertexte«).
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[…] you can’t simply pick up a phone and ask to be connected with someone who wants to talk about Islamic art or California wine, or someone with a three-year-old daughter or a forty-year-old Hudson, you can, however, join a computer conference on any of these topics. (Rheingold 1994: 27)
Ausdruck dieser neuen Kommunikationsmöglichkeiten sind Newsgroups, Chatgroups, Weblogs, Suchmaschinen, Spezialsuchmaschinen, Suchmaschinensuchmaschinen und neuerdings sogar intelligente Antwortmaschinen.131 Inzwischen trifft wohl der Begriff Infotainment die digitalen Zeitläufte besser als der vor einigen Jahren in Umlauf gebrachte Terminus Informationsgesellschaft,132 denn das Netz bietet mehr als akademischen oder militärischen Datenaustausch. Vieles, was dort geboten wird, ist längst nicht mehr rein informationsorientiert, vielmehr erinnert das Internet an einen bunten Zeitungskiosk.133 Goethe würde sich wohl heute weniger als Weltbürger denn als netizen verstehen, als citoyen oder citizen eines Raumes also, in dem alle gleich resp. Brüder und Schwestern sind.134 Diese Kommunikationszunahme lässt es als völlig normal erscheinen, wenn ein leitender Bibliotheksangestellter nach der Rückkehr aus dem Urlaub 500 Mails vorfindet. Angesichts dieser Entwicklung ist es aber auch verständlich, dass die zunächst als befreiend empfundene Erweiterung und Intensivierung der Kommunikationskreise schon längst wieder eingedämmt wird. Denn der interaktive globalisierte Sozialkörper ist gegen Krankheiten nur unzureichend geschützt, vor allem aber bildet das hyperventilierende Interaktionsweb beste Voraussetzungen für die schnelle Verbreitung bösartiger Viren, vor allem dann, wenn die heimliche volont8 g8n8rale (Microsoft) die Weltgemeinschaft mit uniformer Software ausstattet. Zur ›Krankheitsbekämpfung‹ werden tradierte 131 Vgl. etwa die Antwortmaschine Wolfram/Alpha (www.wolframalpha.com, 1.10.09). Hauptziel ist nicht das Auffinden von Fakten im Internet, sondern die Verarbeitung von aufgefundenen Fakten, dergestalt, dass daraus echte Antworten generiert werden können. 132 Zu den sehr unterschiedlichen Schattierungen des Begriffs Informationsgesellschaft vgl. grundlegend Wersig (1996). 133 Die steigende Angebotsvielfalt ist dabei nicht mit wahlloser Beliebigkeit gleichzusetzen und sollte besser als effizienter Ausfächerungsprozess interpretiert werden. Neben die ursprünglich dominant akademischen Angebote sind zwar mannigfache neue getreten, aber Erstere haben sich ebenfalls auf eine kaum für möglich gehaltene Weise weiterentwickelt, dergestalt, dass Hypermedien ihren hölzernen Vorgängern in vielen Bereichen überlegen sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: Bei der Konsultation des Tr8sor de la langue franÅaise wird wohl kaum noch jemand auf die Papierversion zurückgreifen. Suchgeschwindigkeit und Lesekomfort sprechen für das digitale Medium. 134 Im Jahre 1998 gab es 100 Millionen davon. Seinerzeit wurden für das Jahr 2008 eine Billion Nutzer mit Online-Zugang prognostiziert (Wertheim 1999: 228), eine Schätzung, die von der Realität eingeholt worden ist. Die aktuelle Statistik (06/2009) besagt, dass gegenwärtig 1,7 Billionen Menschen das Internet nutzen. Der Anteil Asiens liegt bei 41,2 %, der Europas bei 24,6 %, der Nordamerikas bei 15,7 %, der Rest verteilt sich auf Afrika, Australien und den mittleren Osten (vgl. http://www.internetworldstats.com, 1. 8. 2009).
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Verfahren zur metaphorischen Veranschaulichung heranzgezogen: Im Zeitalter der Pest wurden infizierte Leichen verbrannt, seit Anbruch der CyberspaceEpoche ereilt befallene Dateien ein ähnliches Schicksal im firewall, oder aber sie werden – etwas zivilisierter – unter Quarantäne gestellt, wie im Falle des Virenbekämpfungsprogramms Norton Antivirus. Die oben skizzierte Erweiterung der Kommunikationskreise und -formen lässt sich in erster Linie darauf zurückführen, dass die neuen Medien einen Mehrwert besitzen, der den älteren Medien fehlt: Die neuen Medien sind u. a. bilateral. Es sind insbesondere die Partizipationsmöglichkeiten des Web 2.0, welche das Schlagwort von der Interaktivität nachhaltig geprägt haben. Dabei sind unterschiedliche Grade der Interaktion zu unterscheiden. Schon ein Leser der ersten Hypertextgeneration nimmt im Unterschied zum Leser typographischer Texte eine aktivere Rolle ein: Diskontinuität und die plötzliche Veränderung der Position durch einen Mausklick sind typische Erfahrungen eines Lesers von Hypertexten. Dadurch wird dieser zu einem Spieler, vergleichbar mit dem Spieler eines Konstruktionsspiels. Wie sehr ein Leser auch beim Lesen eines traditionellen Textes involviert ist, er bleibt machtlos, wie der Zuschauer eines Fußballspiels. (Wenz 1998)
Diese Form der Aktivität kann gesteigert werden. In jüngeren Hypertexten und -fiktionen kann das zum einen über programmierte Interaktivität (MenschSoftware) und zum anderen über netzgebundene Interaktivität (MenschMensch via Software) erfolgen.135 Unter Erstere fällt bereits die Wahlmöglichkeit zwischen alternativen Links. Zwar mag sich der Leser aufgrund dieser Optionen prinzipiell ›freier‹ bewegen als im druckbasierten linearen Text, was aber nicht – wie ursprünglich angenommen – zur Befreiung des Lesers geführt hat. Letztere Annahme bildete zu Beginn der Hypertextära bekanntlich ein unerschütterliches Credo. Durch einen berühmten Artikel mit dem spektakulären Titel »The End of Books« erblickte dieser – inzwischen als historisch zu bezeichnende – Befreiungsdiskurs das Licht einer größeren Öffentlichkeit, zumal er seinerzeit in der New York Times veröffentlicht wurde: Moreover, unlike print text, hypertext provides multiple paths between text segments, now often called ›lexias‹ in a borrowing from the prehypertextual but prescient Roland Barthes. With its webs of linked lexias, its networks of alternate routes (as opposed to print’s fixed unidirectional pageturning) hypertext presents a radically divergent technology, interactive and polyvocal, favoring a plurality of discourses over definite utterance and freeing the reader from domination by the author. (Coover 1992)
135 Vgl. hierzu Simanowski (2002: 18) mit Beispielen aus der germanophonen Hypertextliteratur.
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Neben einer falsch verstandenen Multilinearität (s. o.) wird demnach das Phänomen Interaktivität als probates Mittel zur Befreiung des Lesers aufgerufen, insofern Interaktivität eine »plurality of discourses« nach sich ziehe. Der Rekurs auf Roland Barthes ist dabei kein Zufall: Unter den genannten Auspizien erscheint Hypertext wie ein technisch erneuertes poststrukturalistisches Versprechen, das einer genaueren Untersuchung jedoch nicht standhalten kann. Denn in Bezug auf Verknüpfungsleistungen eines Hypertextes ist wider Erwarten sogar ein starker Autor nötig, ein Autor, der nicht nur für die Selektion von res und verba, sondern darüber hinaus auch für die sinnvolle Junktion der Absprungkanten verantwortlich ist, was wiederum reflexive Wirkungen auf die Anordnung und Ausformung der Semiosis haben kann.136 Noch schärfer wird das Argument von Roberto Simanowski konturiert, indem er erläutert, wie das in Anlehnung an Roland Barthes’ Idee des ›schreibenden‹ Lesers entstandene Konzept des wreader überhaupt entstehen konnte,137 nämlich durch ein falsches Verständnis von Links. Diese unterbrechen den Haupttext ähnlich wie Fußnoten, sind aber im Unterschied zu Letzteren keine »überlegt platzierten Autoritätsbelege« (Simanowski 2001b: 6), sondern laden zum zentrifugalen Lesen ein – zu mehr aber nicht. Denn – wie überzeugend herausgestellt wird – eigentlich pfropft der Hyper-Autor damit eine mechanische Intertextualität auf, die auch als Assoziationsbeschneidung aufgefasst werden kann. Die Befreiung des Lesers findet demnach nicht im Hypertext, sondern in sogenannten Mitschreibeprojekten statt, die, das müsste man ergänzend hinzufügen, ihre Existenz allerdings dem apriorischen Dispositiv des Hypertexts verdanken. Damit dürfte klar geworden sein, dass durch Klickentscheidungen weder die Autorität des Autors vermindert, noch der Leser befreit wird. Vielmehr ist von einer Skala auszugehen, auf der zwischen den Polen starker und schwacher Autorschaft unterschiedliche Mischformen einzutragen wären.138 136 Damit wächst dem Autor als Instanz eine Intentionalität zu, die im strukturalistischen und poststrukturalistischen Diskurs der Literaturwissenschaft lange Zeit als naiv galt, weshalb schon die Frage nach der Instanz des Autors sich nicht ziemte. Eine Wende wurde mit der Publikation des Sammelbandes Rückkehr des Autors (Jannidis 1999) eingeleitet, insofern die Autoren darin sinnvolle Aspekte des Autorkonzepts eruieren, zumal neue Medien auch neue Sichtweisen erfordern. Neuere Konzepte zur Autorschaft von Hypertextautoren hat Simone Winko einer kritischen Sichtung unterzogen. In Absetzung zur poststrukturalistischen These vom Tod des Autors postuliert sie eine doppelte Autorschaft, insofern Hypertextautoren »Verfasser und Verknüpfer« (Winko 1999: 533) sind. 137 Wie schon erwähnt greift der eminente Hypertexttheoretiker George Landow die poststrukturalistische Nivellierung zwischen Autor und Leser auf und vermag dabei erst im Hypertext deren Realisierung zu erkennen. Zur Idee des wreader vgl. Landow (1993). 138 Welche Spannweite das Dreieck »Autor – Werk – Leser« im Falle von Hypertexten tatsächlich aufweist, wenn man ›vom Material her‹ argumentiert, hat Florian Hartling (2009a) in der Monographie Der digitale Autor nachgezeichnet. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Thesen liegt auch in Aufsatzform vor (vgl. Hartling 2009b).
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Auch wenn man nach dem oben Gesagten nicht länger von der ›Befreiung des Lesers‹ sprechen mag, so erscheint die Kategorie der Interaktivität doch als unabweisbar – sie muss nur gänzlich anders begründet werden. Dabei lohnt sich ein erneuter Blick auf die Forschungen von Karin Wenz (2001), die einen konstruktiven Ordnungsversuch ganz anderer Art unternimmt. Auf empirischer Grundlage möchte Sie dem Hyper-Leseverhalten und damit unterschiedlichen Lesertypen auf die Spur kommen. Im Versuch wird dabei die Hypertextverweildauer der Probanden über die Aufrufzeit der jeweiligen Logfiles eruiert. Daneben sieht das Untersuchungsprofil auch einen qualitativ ausgerichteten Fragenkatalog zu Medienerfahrung und -gebrauch der Versuchskandidaten vor. Herausgekommen sind dabei zwei aufschlussreiche Hauptergebnisse: Zum einen werden die Links nach den »Gesetze[n] der Gestalttheorie« (ebd.: 48) angeklickt (Präferenz der visuellen Markierung und der subjektiven Proximität), zum zweiten laden Hypertextverfahren wie die der Montage oder des Kontrapunkts zum vertieften Lesen ein, während das ›Knäuel‹ (= Texteinheit mit vielen Links) zum Browsen animiert (ebd.: 51). Je nach Mediengebrauch und -erfahrung schälen sich zudem drei Rezeptionstypen heraus: »Leser, Zapper und Spieler« (ebd.: 52). Kurzum: Aus dem Leser wird kein wreader, vielmehr liest er wie im typographischen Zeitalter, er zappt wie in audiovisuellen Medien oder aber er spielt wie ein gamer. Komplexere Mensch-Maschine-Interaktionen liegen dann vor, wenn die Beteiligung über eine Klickentscheidung hinausgeht und vom User weitere Reaktionen erforderlich sind, die durch Feedbackautomaten ausgelöst werden. Erst bei derartigen Interaktionen tritt das klassische Autorsubjekt vor den Programmiersprachen zurück. Das gilt in gleicher Weise für Gebrauchshypertexte, insbesondere natürlich für Datenbanken. Simanowski erhellt die dahinter stehende Auffassung mit dem Hinweis auf die dichterische Praxis der Gruppe Oulipo. Durch die Konzentration auf die apparativen Dispositive (bei Raymond Queneau sind das die sogenannten, rein verbalsprachlichen contraintes) verschwindet der Autor, es entsteht Zufallsdichtung, die allerdings nurmehr einem kleinen Kreis von Eingeweihten zugänglich ist. Ein hypertextuelles Beispiel dieser Art stellt Christophe Brunos GogolChat dar. Wie beim Chat muss man sich mit einem Benutzernamen einloggen. In einem Textfeld können dann Texte eingegeben werden, die von einem Textautomaten verfremdet und beantwortet werden (vgl. Abschnitt 2.5.1). Zum Typus der netzgebundenen Interaktivität gehören die sogenannten Mitschreibprojekte, die in der Regel auf der Basis von Weblogs funktionieren. Der Autor übernimmt dabei eher die Rolle des Initiators und Herausgebers, fallweise auch die des Kritikers, der gute von schlechten Beiträgen trennt. Ein Beispiel dieser Art sind Antonio Zoppettis Esercizi di stile blog. Darin wurde die Ausgangsgeschichte von Raymond Queneaus Exercices de style in eine digitale
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Lebenswelt versetzt: Der Pariser Straßenverkehr verwandelt sich in Datenverkehr. Diese neue Ausgangsgeschichte wurde daraufhin im Rahmen eines Weblogs von 120 Autoren auf unterschiedlichste Weise inhaltlich und / oder stilistisch transformiert (vgl. Abschnitt 2.3). Plurimedialität Zu Beginn der Hypertextära waren die Computerbildschirme noch stärker durch den graphischen Code geprägt. Während der Monitor zu Zeiten des Microsoft Disc Operation System (kurz MS-DOS) noch eine gewisse Transparenz suggerierte, dergestalt, dass die Illusion aufrechterhalten wurde, man wisse, wie die Maschine funktioniere bzw. man begreife ihre Arbeit und sei im Idealfall befähigt, diese rational zu verstehen, steht der postmoderne Schirm für reine Emergenz. Spätestens seit der mit Windows 95 (1995) umgesetzten Ikonisierung der Benutzeroberflächen geht es darum, die Welt hinter dem Schirm zu verbergen und an ihrer Stelle unsere Alltagserfahrung so gut wie möglich zu simulieren: Zum Beispiel wird ein Ordner nicht länger über den DOS-Befehl mkdir erstellt, sondern indem man auf ein entsprechendes Ordnersymbol klickt. Ohne Zweifel hat sich der Personal Computer in den letzten zehn Jahren zum plurimedialen Super-Medium par excellence weiterentwickelt. Wenn medienphilosophische Begleitdiskurse von einer »Rückkehr zur pens8e sauvage«, von einer Wiederbelebung der intellektuellen Montage im Sinne Sergei Eisensteins reden, dergestalt, dass ein Essay im Cyberspace Fragmente von Musik, von Geräuschen und Sounds mit Texten, Bildern, Videoclips etc. konfrontiere (Zˇizˇek 1997: 95), dann möchte man dem – abzüglich des romantizistischen Pathos – nicht widersprechen. Die permanente Optimierung und Vereinfachung einschlägiger Publikationssoftware hat inzwischen dazu geführt, dass das schnelle und unkomplizierte Publizieren von Texten, Bildern und Tönen in die Reichweite von Jedermann gerückt ist. Als augenfällige Gesamttendenz fällt dabei auf, dass das diskursive, schriftsprachlich entfaltete Räsonnement einer deiktischlateralen, plurimedialen Kommentarpraxis gewichen ist. Am einfachsten kann man sich diese Entwicklungen am Beispiel der Weblogs klar machen, ein Publikationsformat, das innerhalb der letzten zehn Jahre eine erstaunliche Dynamik entfalten und sich fest im world wide web etablieren konnte.139 Zˇizˇeks pathetischer Rückbezug auf die historische Avantgarde ist aber auch in anderer Hinsicht von Interesse. Sein Vergleich macht deutlich, dass Texte – wie zu Zeiten Marinettis und Apollinaires – wieder verstärkt als Schriftbilder wahrgenommen werden. Als Beleg muss an dieser Stelle der Hinweis auf neue Zitierkonventionen innerhalb der res publica literaria genügen: Immer häufiger 139 Zur medialen Spezifik von Weblogs vgl. Abschnitt 2.3.1.
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werden Internettexte beim Zitieren nicht länger literal reformuliert, sondern in Form von screenshots (Bildschirmphotos) dokumentiert, also ähnlich wie Bildzitate behandelt, was auch gar nicht anders zu bewerkstelligen wäre, denn Hypertexten ist eine simulierte Dreidimensionalität eigen, die literal nicht zufriedenstellend reproduziert werden könnte. Historisch gesehen wird damit die typographische Normierung der Schrifträume korrigiert. Immerhin muss an dieser Stelle zumindest erwähnt werden, dass es auf dem Feld der Hypertexttheorie eine gewichtige Minderheit gibt, welche die Relevanz der plurimedialen Dimension von Hypertexten negiert, indem auf die ausschließlich schriftbasierte Erzeugung der Programmcodes verwiesen wird: Sogenannte Softwarearchitekturen, das Internet eingeschlossen, sind selbst nichts als Text; Text, der in Computersprachen geschrieben ist und als digitaler Schriftcode übermittelt, transformiert und ausgeführt wird. Das Internet ist ein Schriftgebilde aus komplex gewobenen Codes von Betriebssystemen, Hilfsprogrammen, Programmiersprachen und Netzwerkprotokollen, von denen »Hypertext« und »World Wide Web« nur eine äußerste und völlig arbiträre Repräsentationsschicht sind. (Cramer 2001: 112)
Daraus wird dann der naheliegende Schluss gezogen, dass die eigentliche Schriftsteller-Avantgarde des Internets sich aus seinen Programmierern zusammensetze, die den »Protokollcode verletzen und subvertieren« (ebd.: 113). Dieser an und für sich richtigen These in Bezug auf den Charakter von Programmcodes kann nicht widersprochen werden. Steht sie doch für eine Einsicht in EDV-Wissensbestände, die von einer relevanten Minderheit geteilt und für die hyperliterarische Produktion auch genutzt wird, wie zum Beispiel von den oben erwähnten, bereits in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts experimentierenden EDV-Pionieren vom Schlage eines Nanni Balestrini. Die algorithmisch ausgerichtete Computerpoesie bildet seither ohne Zweifel eine wichtige Säule der digitalen Literatur. Widersprochen werden kann jedoch den von Cramer unterstellten ästhetischen Prämissen. Letztere wurzeln nämlich deutlich erkennbar in einer als normativ verabsolutierten, bereits historisch gewordenen Ästhetik der Avantgarde, die nur denjenigen künstlerischen Ausdruck gelten lässt, der ›verletzt‹ oder ›subvertiert‹. Allerdings ist diese Position modernistischer Negativität nach dem Durchlauf durch die Postmoderne obsolet geworden, weil sie mit ihren normativen Ansprüchen der realiter gegebenen ästhetischen Vielfalt nicht gerecht werden könnte und sich zudem den Vorwurf des Esoterischen einhandeln würde, insofern auf der Rezeptionsseite ausschließlich hypotextuell versierte EDV-Spezialisten vorgesehen sind. Demgegenüber ist aber daran festzuhalten, dass der postmoderne Bildschirm einen Rahmen für emergente Phänomene bildet, deren Sinngehalt zweifellos mehr ist als die Summe ihrer Teile, was aber nicht ausschließt, dass deren Elemente, Strukturen und Verfahren auf der Ebene des medienphilologischen Diskurses
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Bestandteile einer Analyse werden, in der sowohl Oberflächenphänomene als auch – wenn es der Erläuterung der ästhetischen Funktionsweise dient – Phänomene der Steuerungsebene berücksichtigt werden können. Auf der Basis dieses integrativen Konzepts ist Plurimedialität im Sinne Manfred Pfisters als »Repertoire der Codes und Kanäle« (Pfister 1988: 25) zu verstehen, ein Repertoire, das dem Hypertext seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in verstärktem Maße zur Verfügung steht und dessen sich Hypertextautoren auf differenzierte Weise bedienen. Unter diesen Auspizien können die Attribute hypertextuell und hypermedial synonym gebraucht werden: In der gängigen Darstellungssoftware vernetzter Computer ist Hypertext immer schon hypermedial eingebettet. Von entscheidender Bedeutung für die Sinnbildung hypertextueller Artefakte ist dabei die Interrelation zwischen den Zeichensystemen, genauer, zwischen den am Situationsaufbau beteiligten Codes und Kanälen (ebd.: 39). Der Analyse solcher Relationen hat sich in den letzten 15 Jahren in verstärktem Maße die Intermedialitätstheorie im weiteren Sinne140 verschrieben und dabei den bei Pfister möglichen Bezugsmöglichkeiten noch weitere hinzugefügt. Typologisch lässt sich die solchermaßen manifeste Plurimedialität nach folgenden Kriterien unterscheiden: 1.) nach beteiligten Kanälen und Codetypen (Medien); 2.) hinsichtlich der Dominanz eines Kanals bzw. Codetyps (Mediums); 3.) nach der Quantität kopräsenter Kanäle bzw. Codetypen (Medien); 4.) hinsichtlich der Genese (primäre oder sekundäre Intermedialität, zum Beispiel Hypertextversion eines Printkrimis); 5.) nach der Qualität des intermedialen Bezugs kopräsenter Codes und Kanäle (Medien).141 Diese potentiellen 140 Zum Paradigma der ›Intermedialität im weiteren Sinne‹ vgl. kurz und prägnant Wolf (2008). Wolfs Erkenntnisinteresse richtet sich auf Fälle von manifester Intermedialität, auf solche Artefakte nämlich, in denen mindestens zwei Medien präsent sind, und zwar auch auf der Werkoberfläche (zum Beispiel Text und Musik in der Oper). Davon zu unterscheiden ist das insbesondere in der romanistischen Forschungstradition durch die Veröffentlichungen Christian von Tschilschkes (2000) und Irina Rajewskys (2003) prominent gewordene Paradigma der verdeckten Intermedialität in literarischen Texten (vgl. hierzu ausführlich das 3. Kapitel dieser Arbeit). 141 Der Begriff Medium wurde bewusst in Klammern gesetzt, um anzudeuten, dass die Verwendung der Begriffe Intermedialität bzw. Plurimedialität vom jeweiligen heuristischen Standpunkt abhängt. Auf unseren Fall angewandt heißt das: Wenn man – wie in der Medientheorie durchaus üblich (vgl. Faulstich 2004) – den Computer als Einzelmedium begreift, in dem weitere Einzelmedien wie Chat, E-Mail, Fernsehen, Film, Photo, Hörfunk, world wide web u. a.m. kopräsent sein können, dann müsste man Hypertext(literatur) im theoretischen Rahmen manifester Intermedialität verorten. Wenn man aber Hypertext(literatur) als Option des Einzelmediums Computer auffasst (vgl. Stockmann 2004: 179), dann wäre das nicht mit Monomedialität gleichzusetzen, vielmehr müsste man dann von einem als gegenüber anderen Medien distinkt wahrnehmbaren Medium sprechen, das selbst aber plurimedial konfiguriert ist. Letzteres schließt darüber hinaus nicht aus, dass sich ein hypermediales literarisches Artefakt auch verdeckt intermedial konstituieren oder aber intramediale Bezüge zu anderen Hypertextsorten oder -formen ausbilden kann. In
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Vom Hyperraum über das Datenmeer zum Hypertext
Relationsgefüge sollen im Hinblick auf das analysepraktische zweite Kapitel mit eingehen in die heuristische Grundausstattung. Theatralität Man muss nicht unbedingt ausgetüftelte Internetauftritte programmieren, um auf die Idee zu kommen, dass Hypertexte im Unterschied zu gedruckten Texten zum Auftritt tendieren und damit theatralischer sind. Wenn man als präsentationsbedachter Mensch auf das gängige Hypertextprogramm PowerPoint zurückgreift, dann springt einem der Performance-Charakter ganz umstandslos ins Auge. Die Präsentationssoftware aus dem Hause Microsoft bietet unterschiedliche Text- und Inhaltslayouts, Entwurfsvorlagen mit abstrakten oder szenischen Hintergründen; darunter auch eine Theaterbühne mit rotem Vorhang, auf der das ›Texttheater‹ aufgeführt werden kann, was man auch als Wiederkehr jener frühneuzeitlichen Darstellungen von Theaterräumen deuten kann, die als Kupferstich auf den Frontispizen zu finden waren, wodurch das Buch auch zum Schauraum prädisponiert war.142 Der Textregisseur sitzt am PC und bedient die plurimedialen Kanäle seines Buchstabentheaters. Dank unterschiedlicher Farbschemata wählt er die richtige Beleuchtung aus, und er kann Texte mit Hilfe von Animationsschemas auf unterschiedlichste Weise dramatisieren. Aber nicht nur der Einzelauftritt, sondern auch die Verbindung zwischen einzelnen ›Szenen‹ – also die syntagmatische Ordnung der Folien143 – kann im Sinne eines klassischen Szenenwechsels »horizontal blendend« (PowerPoint 2003) oder unter 25 weiteren Wahlmöglichkeiten auch »vertikal schließend« (ebd.) gestaltet werden. Diesem durch PowerPoint nahe gelegten Impuls möchte ich gerne folgen, und zwar unter der Leitfrage: Welche Konzepte aus der jüngeren Theatralitätsforschung könnten zu einem besseren Verständnis von literarischen Hypertexten dienen? Zu diesem Zweck sei zunächst ein informierender Kurzüberblick über das weite Feld der Theatralität gegeben. Jean-Pierre Balpes Babel Poesie (vgl. Abschnitt 2.5.1) etwa lässt sich ein intramedialer Bezug zu gängiger Übersetzungssoftware feststellen. Ob also von Inter- oder Plurimedialität die Rede ist, das ist eine Frage der Heuristik. Was dabei aber in beiden Perspektiven nicht verhandelbar sein kann, das ist die erforderlich Definition einer Grenze, die jeweils zwischen Kanal, Code oder Einzelmedium gezogen werden muss, andernfalls fallen beide Konzepte in sich selbst zusammen. Zur Frage der Grenzziehung vgl. Rajewsky (2008). 142 Zur Übertragung des theatralen Dispositivs Schauraum auf fremdmediale Kontexte vgl. Schramm (2003). 143 Als grundlegende strukturierende Einheit des immateriellen Darstellungsmediums PowerPoint gilt die »Folie«, eine metaphorische Bezeichnung, die – wie im Falle des Datenmeers (s. o., 1.2.2) – davon zeugt, dass neue Phänomene im Sinne der Metapherntheorie auf bereits bekannte Gegenstände oder Sachverhalte bezogen und dementsprechend konzeptualisiert werden. Zur Geschichte und Systematik von Präsentationsmedien vgl. Coy / Pias (2009).
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Das Konzept der Theatralität ist inzwischen ein erkenntnisförderndes Paradigma im Diskurs der Kulturwissenschaften. Eröffnet wurde damit ein Feld, das viel weiter reicht als die Domäne des alten Kunsttheaters und – darüber besteht Konsens in der Theaterwissenschaft – erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem russischen Theatertheoretiker Evreinov betreten und dabei wie folgt auf den Begriff gebracht wurde: Unter »Theatralität« als Terminus verstehe ich eine ästhetische Monstranz von offen tendenziösem Charakter, die selbst weit von einem Theatergebäude entfernt durch eine einzige bezaubernde Geste, durch ein einziges schön ausgesprochenes Wort Bühnenbretter und Dekorationen erzeugt und uns leicht, freudig und unabänderlich von den Fesseln der Wirklichkeit befreit. (Evreinov 1912, zit. nach Xander 1994: 113)
Führt man sich diese mit Blick auf eine Erweiterung des Theatralitätsbegriff vielfach zitierte Passage genauer vor Augen, dann fallen zwei Dinge auf: zum einen das oxymorale Prädikat des Ästhetisch-Tendenziellen, zum zweiten der durch räumliche Entfernung gewonnene Abstraktionsgewinn eines neuen Konzepts. Theatralisch können demnach Vorgänge sein, die zugleich ästhetisch freigesetzt und doch pragmatisch verzweckt sind und die im Sinne einer Kontiguitäts- oder Similaritätsbeziehung noch vage mit der Welt des Theaters verbunden sind. Es wurde zwar vielfach behauptet, dass mit einem solchermaßen entgrenzten Theatralitätsverständnis alles und nichts theatralisch sein könne,144 womit das Konzept jegliche Trennschärfe verloren hätte. Aber dieser Skepsis der Begriffssanierer steht inzwischen der unbestreitbare Erfolg einer glänzenden Begriffskarriere entgegen. Mit Hilfe des ethnologischen Blicks auf andere, dominant theatrale Kulturen konnte sich das text- und monumentenfixierte Abendland aus seiner selbst verschuldeten Beschränkung befreien und dabei erkennen, dass die ›fortschrittliche‹ okzidentale Kultur sich nicht allein aus geronnenen Texten, sondern auch aus theatralen Prozessen und Riten zusammensetzt; eine Erfolgsgeschichte, die inzwischen auch auf einem der lebendigsten globalen Letterntheater,145 in der Enzyklopädie Wikipedia, auf dem Spielplan steht:
144 Vgl. etwa Lazarowicz (1991). 145 Als ›Letterntheater‹ verkörpert die freie Enzyklopädie Wikipedia zwei klassische theatrale Merkmale: die Idee der Kollektivität auf Seiten der Produktion sowie die der Aufführung. Letzere Eigenschaft beruht auf den technischen Möglichkeiten sogenannter Wiki-Engines, einer Art Content Management System, in dem die Trennung zwischen Autoren und Lesern aufgehoben ist und dessen Editionsbereich jedermann zugänglich ist. Dadurch erhalten Lexikoneinträge wie Theateraufführungen einen Index der Zeitlichkeit. Die Vor- und Nachteile liegen auf der Hand: Auf der Basis von 20 Millionen registrierten aktiven Benutzern (vgl. http://meta.wikimedia.org/wiki/List_of_Wikipedias, 1. 11. 2009) bietet die Online-Enzyklopädie – insbesondere hinsichtlich aktueller und randständiger Wissensbestände – einen Abdeckungsgrad, den angestammte Enzyklopädien nicht erreichen
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In den Geisteswissenschaften ging man lange Zeit von einem grundsätzlichen Unterschied zwischen den modernen westlichen und unmodernen nicht-westlichen Kulturen aus. Das Selbstverständnis dieser nicht-westlichen Kulturen formulierte sich neben Texten und Monumenten vorrangig in theatralen Prozessen wie Ritualen, Zeremonien, Festen, Spielen, Wettkämpfen usw. Man ging außerdem davon aus, dass in den westlichen Kulturen diese Funktion allein von Texten und Monumenten erfüllt würde. Diese Darstellung wurde jedoch durch kulturwissenschaftliche Forschungen stark in Frage gestellt, nachdem erwiesen wurde, dass westliche Feste, politische Zeremonien, Strafund Begräbnisrituale usw. in ihrer Funktion und Wichtigkeit jenen der nicht-westlichen Kulturen stark ähneln. (www.wikipedia.de, s. v. Theatralität, 15.2.06)
Von der avancierten Theaterwissenschaft wird Theatralität als ›prä-ästhetischer‹ Instinkt des Menschen definiert, der die Kultur erzeugt, die Kulturgeschichte vorantreibt und vier Aspekte umfasst: 1.) Aufführung, 2.) Inszenierung, 3.) Korporalität, 4.) Wahrnehmung (vgl. Fischer-Lichte 2001: 2–4). Das ist eine zutreffende ontologische Beschreibung grundlegender kultureller Prozesse, aber zugleich ist zu fragen, wie man von diesen Kategorien zur Interpretation der Einzelphänomene kommen soll. Kurz, was fehlt, ist die Ebene der operationalen Vermittlung. An diesem Punkt müsste man dann doch wieder auf die verschmähte Textwissenschaft zurückkommen. Nur selten wird bei prominenten Vertretern des Theatralitätsparadigmas darauf hingewiesen, dass aus dem Zentrum der Literaturwissenschaft gerade auf dem Teilgebiet des Dramas eine folgenreiche Erneuerung in Richtung einer Theatralitätskonzeption durchgeführt worden war. Die Rede ist von Manfred Pfisters zum Klassiker avancierten, bereits erwähnten Buch Das Drama, in welchem die bis dato gültige Fixierung auf den Dramentext in überzeugender Weise überwunden wurde. Als wichtigste bedeutungsunterscheidende Merkmale des Theaters nennt Pfister bekanntlich Redekriterium, Plurimedialität und Kollektivität von Produktion und Rezeption, Kriterien, die zudem weitergehend operationalisiert werden und daher im Auge zu behalten sind. Wie man sieht, haben sich die Textwissenschaften nicht auf ihren Texten und Monumenten ausgeruht, sondern sie waren und sind durchaus hinreichend flexibel, um neuere Entwicklungen mit veränderten Interpretationhorizonten zu begleiten. Es ist daher kein Zufall, dass innerhalb der Literaturwissenschaft inzwischen nach der Theatralität des scheinbar ›Untheatralischen‹ gefragt wird, nämlich nach der Theatralität als Argument von narrativen und lyrischen Texten (vgl. Matala de Mazza / Pornschlegel 2003), eine reizvolle, weil scheinbar paradoxe Frageperspektive. Was also wäre das Theatrale an Texten, die von der Textlinguistik eher als narrativ, deskriptiv, argumentativ oder lyrisch bezeichnet würden? Die Antwort auf diese Frage finden Matala de Maza und Pornschlegel können. Die permanente Mutabilität führt jedoch auch zu mangelnder Verlässlichkeit bzw. Zitierfähigkeit (vgl. hierzu Hartling 2009a, insbes. 211–219).
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im aristotelischen Konzept der Mimesis, die nicht einfach das Vorhandene oder Sichtbare durch Verdoppelung abbilde, sondern das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit Mögliche darstelle. Aus diesem Grund sei der Mimesis-Begriff nicht geeignet, »landläufige Oppositionsbildungen – imitatio versus creatio, Abbildung versus Performanz, Text versus lebendiges Theater, Repräsentation versus Präsenz – legitimatorisch abzustützen« (ebd.: 12). Mit anderen Worten legt der Begriff der Mimesis »vielmehr ein Verständnis von Theatralität nahe, das nicht im Gegensatz oder Widerspruch zum Text und zur Sprache steht, sondern das Theatralität umgekehrt als fundamentalen Bestandteil von Sprachlichkeit zu begreifen erlaubt.« (ebd.) Theatralität bildet also keinen Gegensatz zur Textualität, vielmehr sind Wirklichkeit und Darstellung über das Prinzip des Szenischen dialektisch aufeinander zu beziehen. Zugespitzt formuliert: Sprachlichkeit ist gar nicht denkbar ohne Theatralität. Szene und fiktionaler Text bilden den Rahmen für einen formenden und wirklichkeitsschaffenden Umgang mit Zeichen. Dieser Rahmen wird in der Folge näher erläutert als Schnitt, Raum des Entzugs und der Einklammerung des Realen, eine Zäsur, die wahlweise mit der leeren Bühne, dem weißen Blatt Papier, dem leeren Stadion oder der verlassenen Straße gesetzt werden könne (ebd.: 13) und – so wäre für meine Zwecke hinzuzufügen – warum nicht auch mit einem grauen Bildschirm; zumal dann, wenn Theatralität zusätzlich als eine solche Mimesis gefasst wird, »die sich selbst als Mimesis öffentlich zu erkennen gibt« (ebd.: 14). Das heißt, Theatralität zeichnet sich nicht zuletzt durch einen doppelten Abstand zum Register der Dinge aus: Der erste Schritt zur Herstellung dieser Abständigkeit ist mit dem symbolischen, abbildend-formenden Zeichengebrauch an sich getan, der zweite Schritt besteht in der Selbstanzeige dieses Zeichengebrauchs.146 Nachdem klar geworden sein könnte, dass literarische Textualität und Theatralität keinen Gegensatz bilden, sondern letztere am literarischen Situationsaufbau wesentlich beteiligt ist, muss abschließend die Frage nach der medienspezifischen Theatralität gestellt werden. Immerhin stehen elektronische Artefakte zur Debatte und damit das Verhältnis zwischen Theatralität und Hypertextualität, eine Beziehung, die der Medienphilosoph Mike Sandbothe untersucht hat. Seine These lautet: »Aus zeichentheoretischer Perspektive kann man sagen, daß sich im World Wide Web eine Theatralisierung der klassischen Monumentalmedien Bild und Schrift vollzieht.« (Sandbothe 1998: 214) In seiner 146 Allerdings, das sei immerhin kritisch angemerkt, bieten auch Matala de Maza und Pornschlegel keine Erklärung dafür, welche Elemente und Struktureigenschaften vorhanden sein müssen, damit das Theatralische literarischer Texte greifbar werden kann. Was übrig bleibt, ist, dass sich Literatur auch »als szenisch dargebotene Rede begreifen« (ebd.) lasse. Damit ist man bei der Interpretation literarischer Texte letztlich doch wieder auf solche Analogien zurückgeworfen, die ›irgendwie‹ mit Theater zu tun haben.
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›kleinen Phänomenologie‹ unterscheidet er drei theatrale Aspekte des Internets: Theatralität im Sinne des Theaters, Theatralität im weiten Wortsinn und eine grundlegende, theatralisch orientierte »Ästhetisierung unseres Umgangs mit Zeichen« (ebd.: 217). Zur ersten Rubrik zählt er theaterähnliche Aufführungen mit semifiktionalen bis fiktionalen Handlungsabläufen auf einer mehr oder weniger öffentlichen Bühne, wie zum Beispiel in den sogenannten MUDs (Multi User Dungeons oder Dimensions), eine Art Subkultur, die sich neben den unidirektionalen Bildwelten des Fernsehens und den erstarrten Interaktionsformen der Institution Theater gebildet hat. Zur zweiten Rubrik gehören Formen der Theatralität, die außerhalb des Theaters angesiedelt sind und auf die Selbstdarstellung und -inszenierung von Menschen, Institutionen und Themen abheben. In dieser Hinsicht erscheint das Internet als »Raum einer auf Dauer gestellten Öffentlichkeitsarbeit« (ebd.: 216). Das interessanteste Feld wird betreten mit der im WWW statthabenden und von Sandbothe so genannten »Tiefentheatralisierung der symbolischen Formen menschlicher Kommunikation« (ebd.: 217). Diese Tiefentheatralisierung verdankt sich der Verschriftlichung der Sprache, der Verbildlichung der Schrift und der Verschriftlichung des Bildes. Entstanden sind neue transversale Medienhybride wie der Online-Chat, was dem performativen Schreiben eines Gesprächs gleichkommt und was in unserem Kontext als Form der sekundären Literalität bezeichnet wurde. Diese geht häufig Hand in Hand mit einer bildhaften Dramatisierung des Zeichenarrangements. Alles in allem läuft das bei Sandbothe auf eine rezeptionsästhetische Bestimmung dieser neuen Form theatraler Textualität hinaus: Die semiotische Verfassung theatraler Textualität läßt sich auf diesem Hintergrund rezeptionsästhetisch als eine Wahrnehmungshaltung bestimmen, die zwischen den beiden Extremen einer unmittelbaren, aktiven Partizipation, die das reale Handeln in der konkreten Lebenspraxis charakterisiert, und der reflektierenden Distanz der Theorie anzusiedeln ist, die durch das Medium des Buches befördert wird. (ebd.: 222)
Ein wichtiges Merkmal von Hypertexten besteht also in ihrem Aufführungscharakter. Die Rede ist von werkimmanenter bzw. rezeptionsabhängiger Performance. Dem Hypertext können auf hypotextueller Steuerungsebene mittels HTML-, Java- oder Pearl-Befehlen spektakuläre Eigenschaften eingeschrieben werden (zum Beispiel synästhetische oder kinetische Programmierung). Mangels entsprechender Software sind Hypertexte in der Frühphase noch eng an tradierte Textsorten und Gattungen angelehnt, vor allem in Gestalt ›ungenießbarer‹ Hypererzählungen.147 In der Zwischenzeit hat sich die digitale Ästhetik ohne Zweifel weiterentwickelt, indem sie ihre spezifischen Möglichkeitsbedin147 Vgl. etwa Michael Joyces Hyperfiction Afternoon (1987).
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gungen reflekiert hat und dementsprechend zum Zuge kommen lässt. Es verstärkt sich die Tendenz zum Auftritt, zum Spektakel, und zwar als Performativisierung im doppelten Sinne: Hypertexte werden dergestalt theatralisiert, dass eine Gleichzeitigkeit von Sprech- bzw. Handlungsproduktion und Rezeption erzeugt wird. Es entsteht ein Wahrnehmungskontinuum zwischen ›Bühne und Zuschauerraum‹ bzw. zwischen Produzent, Produziertem resp. zu Produzierendem und dem Empfänger als einem Rezipienten und potentiellen Produzenten. Abschließend sei hinzugefügt, dass die oben herausgestellte Theatralität von Hypertexten, ihre Prozess- und Ereignishaftigkeit auch selbst zum Thema werden kann, darin den Versuchen der Neo-Avantgarde um die Gruppe Tel Quel nicht unähnlich. Schon in der Gutenbergwelt hatte man es zum Beispiel mit Autoren wie Philippe Sollers oder Italo Calvino zu tun, die in ihren Romanen Drame (1965) resp. Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979) den Eindruck erweckten, als entstehe der Text erst unter den Augen des Lesers, obwohl er natürlich schon längst geschrieben ist und zwischen zwei Buchdeckeln gepresst vorliegt. Ein solches, auf der medialen Grundlage des druckbasierten Trägermediums Buch allenfalls in pseudo-performativer Weise nur fingiertes Spektakel lässt sich dagegen unter bestimmten Bedingungen hypertextuell auch tatsächlich realisieren. Beispiele für dergleichen Umsetzungen theatralischer Selbstbeobachtung wären etwa Jean-Pierre Balpes Generator Babel Poesie (vgl. 2.5.1) oder Tibor Papps Buchstabenstheater (vgl. 2.5.2). Bei erstgenanntem Werk erscheinen willkürlich zusammengewürfelte, polyglotte Verse auf dem Bildschirm, die vom User auf einer Skala lediglich ›besonders Französisch‹ oder ›besonders Deutsch‹ ausgesteuert werden können. Die Verse sind bar jeglicher Referenz, weshalb sich der User ganz auf den Auftritt konzentrieren kann. Bei Papp hingegen bleibt die referentielle Ebene wichtig, aber auch bei ihm sind die Wortkörper Bestandteil einer zusätzlichen sinnstiftenden mise en scHne, insofern sie als bewegte Wörter just im Moment der Rezeption zu entstehen scheinen bzw. wieder verschwinden, also wie Schauspieler auf- und abtreten. Zusammenfassend kann postuliert werden, dass Hypertexte ein theatralisches Potential eigen ist, das – wie gezeigt – auch dem druckbasierten graphischen Code bedingt anhaftet, das aber in hypermedialen Umgebungen in gesteigerter Form auf vielfältige Art und Weise aktualisiert werden kann und deshalb eminenter Bestandteil hypertextueller Artefakte ist. Auf welchen Wegen bzw. in welchen Formen das im Einzelnen geschieht, soll im folgenden analysepraktischen Teil der Untersuchung erläutert werden.
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
Im Anschluss an den historisch-systematischen Teil sollen in diesem analysepraktischen Kapitel Wege und Formen der italienischen und der frankophonen Hypertextliteratur untersucht werden. Dabei sind die im Einleitungsteil genannten Aspekte zu berücksichtigen: Inwiefern knüpft die Hypertextlitertatur an die traditionelle Literatur an bzw. inwiefern erweitert und überholt sie diese vermöge der im systematischen Teil dieser Arbeit postulierten neuen Artikulationsmöglichkeiten? Inwiefern unterscheiden sich literarische Hypertexte von Gebrauchshypertexten? Welche kulturspezifischen bzw. zeitgebundenen Eigenheiten lassen sich jeweils bestimmen? Wie positionieren sich Hypertextautoren gegenüber ihren eigenen medialen Voraussetzungen? Inwiefern sind die im ersten Teil dieser Arbeit herauspräparierten Vorstellungstopoi aktueller Kommunikationsorganisation an der Sujetfügung literarischer Hypertexte beteiligt? – Enzyklopädische Vollständigkeit im Sinne einer katalogisierenden Aufstellung von Einzelmerkmalen oder technischen Details wird dabei nicht angestrebt. Vielmehr werden solche Fallbeispiele präsentiert, die exemplarisch für die beiden wichtigsten Tendenzen der Hypertextliteratur stehen, nämlich für narrative und lyrische Formen. Diese Einteilung in narrative und lyrische Formen hat sich im Laufe der letzten 15 Jahre herausgebildet und kann inzwischen als Konvention gelten. Davon zeugen die gängigen Spezifizierungen Hyperfiction bzw. Computerlyrik oder digitale Poesie und ihre romanischen bzw. englischen Entsprechungen. Zusätzlich legitimierende Autorität für diese Unterteilung lässt sich dabei aus einschlägigen Aktivitäten im literarischen digitalen Feld ableiten. Zum Beispiel wird einer der wichtigsten europäischen Literaturpreise für Hypertextliteratur in ebendiesen Kategorien ausgelobt.148 Dementsprechend be148 Gemeint ist der von der katalonischen Gemeinde Vinarks im Verein mit der Universität Barcelona gesponsorte und jährlich vergebene Preis der Forschergruppe Hermeneia (vgl. http://www.hermeneia.net, 1. 10. 2007). Mit anderen Parametern würde man zu einer differenten Einteilung gelangen. Der wohl weltweit bedeutendste Situs für elektronische Literatur der Electronic Literature Collection zum Beispiel hat eine Klassifikation gemäß »keywords« vorgenommen. Herausgekommen ist dabei ein System mit 66 Subspezifizie-
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
ginnen die italienischen und die französischen Fallbeispiele jeweils mit narrativen Hypertexten (vgl. die Abschnitte 2.1 und 2.3). Es folgen dann jeweils Beispiele aus der Computerlyrik beider Nationalliteraturen (vgl. die Abschnitte 2.2 und 2.4). Die anschließenden Analysen sind nicht nur als exemplarisch zu verstehen. Es wird zudem der Anspruch erhoben, die kommentierten hypertextuellen literarischen Artefakte einer angemessenen literarhistorischen, insbesondere aber intertextuellen Einbettung zuzuführen.
2.1
Links entlang der Border Line: eine Hypererzählung von Miguel A. García
Miguel Angel Garc&a (*1938) ist Soziologe und stammt ursprünglich aus Argentinien. Im Jahr 1974 emigrierte Garc&a nach Italien. In den 80er Jahren lehrte er zeitweilig an der Universidad de la Baja California, wo er als Migrationsforscher ein gezieltes Interesse für den mexikanisch-amerikanischen Grenzraum entwickelte. Nebenbei bildete er sich u. a. am UCLA in Kalifornien fort, wo er sich bereits in der Hypertext-Entwicklungsphase mit einschlägigen Formen des Schreibens befasste. Nach Italien zurückgekehrt, gründete er diverse Webportale zu Fragen der Migration, der Hypertextualität, aber auch zu Jacques Lacan, außerdem hat er im Auftrag des italienischen Bildungsministeriums sowie der Universität von Bologna diverse hyperdidaktische Hochschulprojekte betreut.149 Als Hyper-Autor bekannt geworden ist er – freilich mit einiger Verzögerung – durch die Hypererzählung Border Line. Sie stammt aus dem Jahr 1991 und ist nach Aussage des Autors die erste Hypertexterzählung in italienischer Sprache.150 Seinerzeit kursierte der Text auf einer 5’1/4-Zoll-Diskette. Zwei Jahre rungen, die, um nur einige zu nennen, von »Ambient« über »Authors from outside North America« oder »Constraint-Base« bis zu »Javascript« oder »Wordtoy« reichen (vgl. http:// collection.eliterature.org/1/aux/keywords.html, 1. 10. 2009). Problematisch dabei ist allerdings die Tatsache, dass die vorliegenden Klassen völlig unterschiedlich motiviert sind, teils nach biographischen oder kontenutistischen, teils nach generischen, aber auch nach rein softwaretechnischen Kriterien. Andererseits erfüllt diese Sammel- und Ordnungtätigkeit ein dringendes Desiderat, auch wenn vieles darauf hindeutet, dass eine konsistente generische Klassifizierung nur schwer möglich sein wird. 149 Zu biographischen Details vgl. http://www.immigrazione-altoadige.net/personal/bio gramia.html (1. 9. 2009). 150 Vgl. hierzu Garc&as Selbstkommentar unter http://www.team2it.net/iper/hiper.html (4. 3. 2004) bzw. über die Wayback-Maschine von »archive.org« (1. 9. 2009): »Border Line H stato il primo racconto ipertestuale pubblicato in italiano. Nell’edizione del 1991 l’ipertesto entrava comodamente in mezzo floppy disk; gli editori vollero presentarlo assieme ad un saggio ipertestuale (una storia degli ipertesti di Carlo Rovelli ipertestualizzata anche da me). I due ipertesti erano cellofanati dietro ad un volume cartaceo classico; in questo modo
Links entlang der Border Line: eine Hypererzählung von Miguel A. García
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später wurde er mit einem Essay zur Geschichte des Hypertextes als Hybridpublikation in Buchform und auf Diskette in dem Band I percorsi dell’ipertesto veröffentlicht.151 Die Analyse dieser plurimedialen Hypererzählung soll dergestalt operationalisiert werden, dass zunächst histoire- und klassische discoursStrukturen erläutert werden (2.1.1), um anschließend den Blick auf die medienspezifische Inszenierung (2.1.2) bzw. auf das selbstbezügliche Zusammenspiel zwischen diesen beiden Ebenen zu richten (2.1.3).
2.1.1 Grenzgeschichten: der semiotische Raum Da es sich bei Border Line um eine typische Hyper-Narration mit entsprechender Verzweigungsstruktur handelt, musste Garc&a für die Druckversion besondere Maßnahmen ergreifen: Per fortuna mi sono ricordato di »Rayuela« […] di Julio Cort#zar ; seguendo il suo esempio ho numerato i pezzi, e ho pubblicato la mappa dell’ipertesto (cioH il grapho dei collegamenti) con il rispettivo numeretto ad ogni nodo. Il lettore, arrivato ad una scelta, doveva cercare la pagina dove continuare. (ebd.)
Demnach handelt es sich bei Border Line um einen narrativen Hypertext, der noch eine gemeinsame Schnittstelle mit druckbasierter Literatur aufweist. Nicht ganz zufällig operiert Garc&a nach dem Muster von Julio Cort#zars Roman Rayuela (1963). Handelt es sich bei Letzterem doch um den Versuch, durch das Anzeigen alternativer Lektürepfade aus der medialen Linearität des Buchdrucks auszuscheren, eine Tendenz, die vor der historischen Ankunft des Hypertextes in der druckbasierten modernen und postmodernen Erzählliteratur mehrfach dokumentiert ist.152 Auch wenn aus diesem Blickwinkel hypertextuelle Verfahgli acquirenti erano rassicurati, non si trattava di una forma tecnificata di truffa, pagavano della solida carta.« 151 Neben seiner experimentierenden Tätigkeit als Autor von Hypertexten ist Garc&a auch als konventioneller Romancier und Erzähler auf dem Buchmarkt vertreten. Nachdem er im Jahre 2001 mit der Erzählung »Il virus del colore« einen Preis für ausländische Schriftsteller in italienischer Sprache gewonnen hatte, wurde ihm vier Jahre später für den Erzählband Il maestro di tango (2005) der Preis »Eks& Tra 2005« zugesprochen. 152 Einen repräsentativen Überblick über prähypertextuelle Bestrebungen in der Welt der druckbasierten Literatur findet man bei Bauer (2004). Bauer konzentriert sich dabei in erster Linie auf multilineare Erzählplots, die in den neoavantgardistischen Experimenten des Nouveau Roman (Alain Robbe-Grillet) bzw. der Gruppe Oulipo (Georges Perec) nachweisbar sind. Es kann hinzugefügt werden, dass diese Experimente nicht nur gezielte ›prähypertextuelle‹ Verstöße gegen das Linearitätsprinzip aufweisen, sondern darüber hinaus eine weitere typische Hypertexteigenschaft antizipieren: die der Interaktivität bzw. Pseudointeraktivität. Als Vorstöße in diese Richtung können die Romane La modification (1957) von Michel Butor und Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979) von Italo Calvino angesehen werden, weil sie jeweils in der zweiten Person Plural bzw. Singular geschrieben
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
ren bereits in der Buchkultur vorgeprägt waren, war die parallele Buchveröffentlichung von Hypertexten seinerzeit in den frühen 90 Jahren des 20. Jahrhunderts immer noch ein Gebot der Stunde, weil das Internet als adäquater Distributionskanal noch nicht hinreichend ausgebaut war. Seit 1999 ist Border Line indes im Netz zugänglich und firmiert dort in ›dritter Auflage‹.153 Für die Analyse schlage ich vor, zwei Diskursivierungsebenen anzusetzen: Auf der ersten Ebene ist Garc&as Hypertext als narrativer Text zu interpretieren – wird doch durch den generischen Untertitel »Racconto ipertestuale« eindeutig angezeigt, dass es sich um Erzählliteratur handelt. Der racconto repräsentiert bzw. diskursiviert auf klassische, dominant literale Weise einen in der Fiktion evozierten physikalischen Raum, in unserem Beispiel: den Grenzraum zwischen Mexiko und Kalifornien. Dieser Raum lässt sich weitergehend segmentieren, und er wird durch Figuren belebt, die eine bestimmte Konfiguration bilden und dementsprechende Handlungen auslösen. Da der racconto auf dieser Ebene durchaus eine aristotelische histoire mit einem Anfang, einer Mitte und einem Schluss aufweist, stellt das angestammte Instrumentarium der Erzählanalyse auch in Zeiten hypermedialer Narrationen eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Analysevoraussetzung dar. Selbstverständlich kann eine hinreichende Analyse nur dann gelingen, wenn der Hypertext auch in seiner spezifischen medialen Verfasstheit untersucht wird. Dieser notwendige zweite Schritt soll im Anschluss an die primäre narratologische Analyse getan werden. Auf der zweiten, hypertextuellen Ebene erfolgt die Diskursivierung der histoire gemäß den im synchronen Theorieteil dieser Arbeit erläuterten Kategorien, ergo auf der Grundlage potentiell möglicher Multilinearität, Autooperativität, Interaktivität, Plurimedialität und Theatralität. Auf der histoire-Ebene begegnen wir einem jungen Mann aus Paraguay, der als Ich-Erzähler eingeführt wird und im Begriff ist, das Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA zu inspizieren. Er bereitet einen illegalen Grenzübertritt vor und befindet sich auf dem »ultimo marciapiede dell’America Latina«, einem klassischen Durchgangsraum mit den typischen Insignien einer Zivilisationswüste: Bierflaschen, Cola-Dosen, von streunenden Hunden zerfetzte Plastiktüten, Kulturfolger (Eichhörnchen, Ratten, Koyoten), Autowracks, ausrangierte Kühlschränke und eingeschlagene Fernsehgeräte, die wie »occhi ciechi« in den sind und dem Leser mit Hilfe dieser personaldeiktischen Unziemlichkeit scheinbar Zugang zum interface zwischen empirischer und fiktionaler Welt verschaffen. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass Multilinearität und Interaktivität im Druck nur simuliert und nicht realisiert werden. Um dieser kategorialen Differenz Rechnung zu tragen, unterscheidet man zwischen konzeptioneller und medialer Hypertextualität (vgl. Wirth 2004). Letztere bleibt Hypertexten vorbehalten. 153 Im Folgenden sämtliche Zitate – sofern nicht anders vermerkt – aus Border Line (Garc&a 1999).
Links entlang der Border Line: eine Hypererzählung von Miguel A. García
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Himmel blicken, lassen eine Kulisse entstehen, die in scharfem Kontrast zur projizierten Gegenseite steht: zum »paradiso americano«.
Abb. 4: Das Incipit in Border Line
Der Texteingang wird als klassischer non-lieu der Übermoderne im Sinne Marc Aug8s (1992) entworfen, nämlich als ein Ort, der weder eine historisch noch systematisch eruierbare Identität besitzt, noch identitätsstiftend wirkt, historisch nicht spezifiziert werden kann und oft als passiver Ort bezeichnet wird.154 Er fügt sich ein in das Paradigma der Flughäfen und Krankenhäuser, in die wachsenden Transiträume mit ihren provisorischen Beschäftigungen unter luxuriösen oder kärglichen Bedingungen, wie zum Beispiel die Hotelketten und Durchgangswohnheime, Feriendörfer oder Flüchtlingslager. Bei Nicht-Orten handelt es sich demnach in erster Linie um Verkehrsmittel, Warte- und Übernachtungsbereiche sowie Konsumzonen.155 Damit unterscheidet sich dieser Ort 154 Das Gegenteil des passiven Orts wäre der aktive Ort, den Aug8 auf paradigmatische Weise in den französischen Stadt- bzw. Dorfzentren der III. Republik ausmacht, belebte Orte, an denen sich Caf8s, Hotels und Läden versammeln, vorzugsweise in der Nähe eines Marktplatzes, der häufig mit dem Rathaus- oder Kirchplatz identisch ist und auf dem regelmäßig Märkte abgehalten werden (vgl. Aug8 1992: 85–86). 155 Der Begriff des non-lieu (Nicht-Ort) steht in Opposition zu dem des lieu anthropologique. Darunter versteht Aug8 Örtlichkeiten, die mindestens drei Eigenschaften aufweisen: »Ils [ces lieux] se veulent (on les veut) identitaires, relationnels et historiques.« (Aug8 1992: 69)
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
kategorisch von den Szenarien der klassischen Moderne, wie sie seit Baudelaires epochalen Pariser Bildern im Schwange stehen, und zwar insofern, als die Differenz zwischen Altem und Neuem in der literarischen Darstellung nicht länger kopräsent gehalten, sondern vollständig eingezogen wird. Im Unterschied etwa zu Baudelaires Auftaktgedicht »Paysage« aus den Tableaux parisiens, wo Kirchtürme und Schornsteine als Monumente unterschiedlicher Epochen aus dem Blickwinkel des Mansardenbewohners fließend ineinander übergehen und sich zu einem heterogenen Geschichtszeichen der Hochmoderne vereinigen,156 sind die Räume der Übermoderne eindimensional und bezüglich ihrer metonymischen Gliederung vergleichsweise homogen – was an der oben dargelegten Ausstattung des Transitraums zwischen Mexiko und den USA klar geworden sein dürfte. Die im Titel thematisch angezeigte Grenzlinie trennt zwei semantisch distinkte Räume, der beabsichtigte Grenzübertritt würde dann im Sinne Lotmans ein Ereignis konstituieren und eine sujethaltige Erzählung ins Werk setzen. In die semantische Raumkonstitution werden darüber hinaus referentielle, auffallend gergal bezeichnete, aktantielle Teilelemente wie »Migra« (Grenzpolizei), »coyote« (Schlepper) oder »cabrones« (span./ital. Schimpfwort cabrkn/caprone = Ziegenbock) evoziert. »El otro lado« steht demgegenüber für : una diversit/ organica e permanente, nel contempo quotidiana e familiare. Dal punto di vista messicano si va all’altro lato per fare shopping, per festeggiare a Las Vegas, per rimorchiare ragazze a Los Angeles, per lavorare, per usufruire di un servizio postale funzionante, per emergere dalla mediocrit/ e conquistare la metropoli (quest’ultimo H solo un sogno).
Bei dem Texteingang handelt sich um ein funktional ausbalanciertes Incipit, denn es besteht ein Gleichgewicht zwischen informierender und dramatischer Funktion. Die im zweiten Textbild einsetzenden Vordergrundhandlungen werden im ersten Bild durch die o.g. raumzeitliche Referentialisierung entsprechend vorentlastet und sind nicht weiter erklärungsbedürftig. Die Flüchtlinge werden beim Passieren der Grenze entdeckt, die gesamte Dabei ist insbesondere der Geburtsort identitätsbildend, so sehr, dass ein afrikanisches Kind, das außerhalb einer Ortschaft geboren wurde, »se voie attribuer un nom particulier emprunt8 / un 8l8ment du paysage qui l’a vu na%tre.« (ebd.) Außerdem bildet non-lieu einen Komplementärbegriff zu dem über die Geschichtsschreibung hinaus verbreiteten Konzept des lieu de m8moire (Gedächtnisort). Letzteres wurde von Pierre Nora (1984) entwickelt. Es verdankt sich einer alternativen Form der Geschichtsbetrachtung, die nicht länger rein diskursiv erfolgt. Kollektivgeschichte wird demnach nicht allein im abstrakten Medium der Schrift gespeichert, sondern darüber hinaus manifestiert sie sich auch in Monumenten, Plätzen und sogar in ritualisierten Massensportveranstaltungen. Zu diesen Raumkonzepten vgl. auch den kurzen Überblick bei Nitsch (1999). 156 Vgl. hierzu Starobinskis (1990) Kommentar zu Baudelaires Gedicht »Paysage«, in dem er auf der Koexistenz beider Welten insistiert.
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Aufspürungsmaschinerie (Hubschrauber, Flutlicht) wird in Gang gesetzt. Der Ich-Erzähler flüchtet sich in einen alten »Chevy«. Ebendort sieht er LEDs leuchten, die von einem Computer stammen. Es blinken drei Knöpfe, die angeklickt werden können und den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmen: »wright way« führt in die Fänge der ruppigen Grenzpolizei. Die korrupten Beamten vermitteln ihn an einen modernen Sklavenhändler, für den er sechs Monate lang arbeitet und einiges anspart. In der Folge werden kleinere Szenen des nordamerikanischen Migrantenlebens eingefangen.
2.1.2 Fiktionsbrüche und paradoxe Erzählschleifen Da es sich um einen racconto ipertestuale handelt, stellt sich die Frage, in welcher Weise das hypertextuelle Dispositiv an der Objektkonstitution beteiligt ist. Gegenüber einem klassischen literarischen Text unterscheidet sich das hypertextuelle raummetaphorische Apriori schon dadurch, dass Border Line über einen Situs,157 genauer, über eine Domäne verfügt. Auf dieser ist der racconto ipertestuale beheimatet, und zwar als HTML-Datei mit einer (aus heutiger Sicht bescheidenen) Größe von 97 KB, in welche rund 30 Bilddateien im GIF- oder JPG-Format eingebunden sind, meistens um die 10 KB, teilweise animiert. Die HTML-Datei ist intern in 23 ›Textbilder‹ unterteilt, die einzelne Episoden rund um den illegalen Grenzübertritt enthalten. Diese Textbilder sind mit ostinaten Zeichen ausgestattet. Dazu zählt ein kleines Navigationsmenü, das zur Orientierung vier Links bereithält: Man kann zum Anfang bzw. zum vorangehenden Bild zurück- oder zum nächsten weitergehen oder aber sich zur Übersichtskarte (»mappa«) klicken. Letztere liefert den Bauplan, gibt dem Orientierung suchenden Leser also Auskunft über die makrostrukturelle Verzweigungsstruktur und bildet ein inzwischen klassisches Element in narrativen Hyperfiktionen. Während sich Raummetaphern in Texten grundsätzlich eher auf Orte wie oben, unten, Rand, Textmitte beziehen und damit Ausdruck einer zweidimensionalen Wahrnehmung der materiellen und logischen Struktur des geschriebenen Textes sind, werden Raummetaphern in Hypertexten – wie oben angedeutet – eher durch Gebiete wie landscape, map, net, topography motiviert.158 Dementsprechend ist der Leser in Garc&as Hypererzählung als ein solches Wesen konzipiert, das materialiter weniger eine Textfläche denn eine Textlandschaft wie einen Raum erkundet und sich dabei navigierend, gleitend und springend, aber auch 157 Der im Deutschen verbreitete, sicherlich in volksetymologischer Analogiebildung zu die Seite entstandene Ausdruck *die Site täuscht darüber hinweg, dass Hypertexte eigentlich in Raummetaphern konzeptualisiert werden. 158 Vgl. hierzu Wenz (2001a).
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immersiv bewegt. Fester Bestandteil dieser dynamischen Lesebewegung im Raum ist das wiederkehrende Gefühl der Orientierungslosigkeit. Außerdem befindet sich auf allen Bildern links unten die photographische Abbildung eines Kakadus, ein im mouse-over-Verfahren programmierter Link, der auf ein kleines Migrations-Glossar verweist, dessen Lemmata die eigentümlichen Sitten und Gebräuche der Borderline-Region erschließen und dem Leser in Form des (zum Teil ironischen Selbstkommentars) wichtige Interpretationshinweise liefert. Navigationskarte und Glossar wirken kohärenzbildend und stabilisieren die tastenden Bewegungen des Navigators. Weiterhin sind die Textbilder über interne Links miteinander verknüpft, die beim literarischen Situationsaufbau im Incipit zunächst in linearer Folge angeordnet sind. Erst ab dem siebten Bild werden Verzweigungsmöglichkeiten angeboten. Die hypertextuelle Architektur ist kein Zufall, impliziert dieses Angebot doch eine Durchbrechung der in den ersten sechs Bildern aufgebauten literarischen Fiktion II.159 Zur Erinnerung: Nach dem illegalen Grenzübertritt rettet sich der Ich-Erzähler im siebten Textbild in einen alten Chevrolet. Ebendort befindet sich ein Bildschirm mit drei blinkenden Knöpfen, und zwar mit den Alternativen »right way, wrong way, random recalc«. Das heißt, dem extradiegetischen Leser-User wird suggeriert, dass es noch einen zweiten Bildschirm auf dem Bildschirm gebe. Durch diese hypertextuelle mise en abyme des Trägermediums werden IchErzähler und empirischer Leser auf geradezu physische Art und Weise verschmolzen. Denn im Anschluss an die im Haupttext o.g. Knöpfe (für den fiktionsinternen Leser = Ich-Erzähler) bzw. Links (für den fiktionsexternen Leser) heißt es: »Mossi il cursore con la tracking ball su uno di essi [tre pulsanti stimolati], e feci click.« Damit greift die im Hypertext aufgebaute Fiktion über in die Welt des Lesers und macht ihn zum User. Denn selbstverständlich klickt nicht der Ich-Erzähler im fiktionalen Chevrolet, sondern der empirische LeserUser auf die angebotenen Knöpfe resp. Links, eine Form der fiktionalen Täuschung, die nicht wie üblich der Illusionsdurchbrechung, also Distanzierung, sondern, ganz im Gegenteil, mittels eines physischen, performativen Klickakts der immersiven Identifikation dient: Der intradiegetische Ich-Erzähler wird 159 Der an dieser Stelle so bezeichneten Fiktionsebene II geht eine Fiktionsebene I voran, die sich aber erst rückwirkend über eine Analepse am Ende der Hypererzählung erschließt, als man erfährt, wie ein Ich-Erzähler einen Datenhelm abnimmt, woraus zu schließen wäre, dass nicht nur Fiktion III (nach dem Grenzübertritt) sondern schon Fiktion II (im Grenzgebiet) als künstliche Welt erlebt wird. Folglich handelt es sich bei den Fiktionsebenen II und III um sekundär bzw. tertiär erzählte Binnengeschichten, die von einem IchErzähler gerahmt werden, der sich über einen Datenhelm in virtuelle Realitäten begibt. Da im vorliegenden Fall Genettes Unterscheidungen zwischen intra- vs. extradiegetisch bzw. homo- vs. heterogetisch nicht greifen, folge ich dem reformierten Ebenenkonzept von Schmid (2005: 83f.).
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Abb. 5: Multilineares Erzählen in Border Line
zum Avatar des Lesers. Oder sollte womöglich der Leser zum Avatar des IchErzählers werden? Wie auch immer, man kann an diesem Punkt bereits festhalten, dass das Abweichen vom linearen zugunsten eines mehrsträngigen Erzählens einhergeht mit einer Fiktionsdurchbrechung, dass also die hypertextuelle Diskursivierung der histoire in Form der Mehrfachverlinkung mit einer ästhetischen Strategie verknüpft ist. Die angebotenen Links führen dann auf eine dritte Fiktionsebene (= Fiktion III), die ihrerseits drei mögliche Wege bereithält. Da es sich nicht um arbiträre sondern um bereits semantisierte Absprungkanten handelt, scheint der jeweilige erste Parcours schon vorgezeichnet: Der größere Teil der Leserschaft dürfte – wie im Abschnitt 1.3.3 dieser Arbeit dargelegt – aufgrund der Semantik, aber auch gemäß den Prinzipien der Gestaltwahrnehmung und der Proximität auf den Link »right way« klicken. An dieser Stelle sei nochmals auf die einschlägige Studie von Karin Wenz (2001b) hingewiesen: Demnach werden Links nach den »Gesetze[n] der Gestalttheorie« angeklickt (Präferenz der visuellen Markierung und der subjektiven Proximität), zum zweiten laden Hypertextverfahren wie die der Montage oder des Kontrapunkts zum vertieften Lesen ein, während das ›Knäuel‹ (= Texteinheit mit vielen Links) zum Browsen animiert. Je nach Mediengebrauch und -erfahrung schälen sich zudem drei Rezeptionstypen heraus: »Leser, Zapper und Spieler« (ebd). So unterschiedlich diese drei Typen in ihrem Nutzerverhalten auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen sicherlich der Wunsch nach Komplexitätsreduktion, genauer, die Aussicht auf eine Lysis im klassischen aristotelischen Sinne,
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auf eine Entflechtung der mehrsträngig geschürzten Erzählknoten. Jedoch unterläuft Garc&a diese Kohärenzerwartung, indem sich der naheliegende right way prompt als falscher Weg erweist, der direkt zur Festnahme führt, während der mit wrong way ausgezeichnete Link auf einem Umweg über einen modernen ›Sklavenhändler‹ ins ersehnte Los Angeles führt – ein klarer Fall von medienadäquater, ergonomischer Devianz. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass Hypertexte, um bestmögliches Verständnis zu gewährleisten, einer bestimmten Software-Ergonomie folgen sollten. Darunter versteht man kommunikative Glückensbedingungen, die nicht nur in einschlägigen hypertextuellen Rhetorik-Lehrwerken, sondern darüber hinaus auch gemäß DINNorm einer konsensbasierten Regelung unterzogen worden ist. Legt man etwa die bei Herczeg (1994: 105) aufgeführte DIN-Norm 66234 (Teil 8) mit ihren fünf ergonomischen Regeln der Aufgabenangemessenheit, Selbstbeschreibungsfähigkeit, Steuerbarkeit, Erwartungskonformität und Fehlerrobustheit zugrunde, wird schnell klar, dass Garc&as racconto ipertestuale sowohl gegen den Grundsatz der Steuerbarkeit als auch gegen den der Erwartungskonformität verstößt. Denn der narrative Parcours ist nicht ohne weiteres steuerbar, weil die Junktionen nicht dem Erwartungshorizont des Users entsprechen, führen sie doch evidentermaßen zu abwegigen Konjunkten.160 Eine interessante Variante hält der Link random recalc bereit. Das Adjektiv random (= wahllos, ziellos, zufällig, aufs Geratewohl) lässt zunächst im Rahmen der etablierten Landschafts-Raumsemantik an einen dritten, kontingenten Weg, an einen random shot, einen Schuss ins Ungewisse zwischen den scheinklaren Wegmarken wrong und right denken. Der existentielle Begriff des Zufalls besitzt aber darüber hinaus auch eine starke mathematisch-naturwissenschaftliche sowie informatikspezifische Konnotation: Ein random error (math.) ist ein Zufallsfehler, ein random mating (biol.) eine Zufallspaarung, eine random motion (phys.) eine unkontrollierbare Bewegung, random access memory (Computer) bedeutet Speicher mit wahlfreiem Zugriff und random recalc schließlich wird man in keinem Wörterbuch sondern höchstens in der leistungsstärksten Enzyklopädie unserer Zeit – der Suchmaschine Google – finden. Es handelt sich um je einen JavaScript-Befehl (Version 2.0),161 die im Befehlsglossar alphabetisch hintereinander stehen und mit deren Hilfe u. a. Zufallszahlen erzeugt resp. Neuberechnungen (recalc-ulation) durchgeführt werden können, Funktionen, die an dieser Stelle allerdings keine technische sondern lediglich erzähltechnische Relevanz besitzen. Anders formuliert: Auf der textuellen Diskursebene wird ein Phänomen evoziert, das eigentlich in die hyper160 Zur Bedeutung der Software-Ergonomie für die Analyse literarischer Hypertexte vgl. Bauer (2004). 161 Vgl. http://www.webreference.com/js/column65/6.html (24. 4. 2005).
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textuelle Diskursebene zweiter Ordnung gehört, handelt es sich doch um einen ›hypotextuellen‹ Steuerbefehl, welcher der textuellen Fläche bzw. dem hypertextuellen Raum zugrundeliegt und im Quellcode in der Regel studiert werden kann, welcher sich seinerseits aus binären Folgen von Nullen und Einsen zusammensetzt. Was geschieht nun eigentlich, wenn der User auf den Link »random recalc« klickt? Er wird in eine paradoxe Erzählschleife geschickt, in einen solchen strange loop, wie Douglas Hofstadter auf der Basis des mathematischen Unentscheidbarkeitstheorems von Kurt Gödel (1906–1978) u. a. am Beispiel der Graphiken und Holzschnitte des Malers Maurits Cornelis Escher (1898–1972) erläutert und zu populären Ikonen des Paradoxen gemacht hat.162
Abb. 6: Maurits C. Escher : Möbiusband II (1963)
Etwas konkreter : Der Ich-Erzähler klickt sich in eine mutmaßlich simulierte Welt (Fiktion IIIc), die Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede mit seiner Ausgangswelt (Fiktion II = Canyon im Grenzgebiet zwischen Mexiko und Kalifornien) aufweist. Bei Fiktion IIIc handelt sich ebenfalls um ein bewachtes Grenzgebiet mit einschlägigen referentiellen Teilelementen (»rotoli di filo spinato«, »si accendeva un faro«, »la luce folgorante degli spari«), andererseits finden sich urbane Zeichen wie »una fila di palazzi«, »un parco« und »insegne pubblicitarie«. In diesem Grenzraum nun betritt der Ich-Erzähler eine Ruine, findet darin einen Tunnel, an dessen Ende er auf eine Mauer stößt, die er über eine herumstehende Leiter überwindet, um sich unversehens auf einem Mauerstreifen im Sperrfeuer der Grenzwächter wiederzufinden. Die Erzählschleife kehrt zum Ausgangspunkt zurück und endet mit dem zumindest zweideutigen und damit zwei gegenstrebige Fiktionsebenen in paradoxer Weise zusammenspannenden Wort »impatto« (Einschlag, Einschuss versus Aufschlag, Aufprall):
162 Vgl. Hofstadter (1979); zum Modellcharakter von strange loops für postmoderne, pseudoperformative Erzählplots vgl. Hempfer (1999).
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
Abb. 7: »random recalc«, Anfang und Ende eines strange loop
Interpretiert man »impatto« als Einschuss, dann befindet man sich in der Binnenfiktion von IIIc und kommt – von der Information Schüsse ausgehend – über einen Inferenzschluss zum Einschuss in den Rücken des Ich-Erzählers. Interpretiert man das Wort dagegen im zweitgenannten Sinn, dann schlägt der flüchtende Ich-Erzähler aus Fiktion II nach ›einer Runde Computerspiel im Chevy‹ o. ä. auf die Rücklehne des Chevrolets auf, im wahrsten Sinne des Wortes zurückgeworfen auf die Ausgangssitation, immerhin mit dem Versprechen, dass ein neues (Erzähl)Programm geladen werden könne. Mit anderen Worten: Computerisiertes Erzählen wird nicht nur auf histoire-Ebene thematisiert, sondern auch auf der strukturellen Verfahrensebene des discours – also auf der Ebene hypertextueller Erzeugungstechniken – in Form einer rekursiven, unendlichen und im Sinne des Mathematikers Gödel unentscheidbaren Erzählschleife modelliert. Indem dabei die JavaScript Befehle random und recalc als Wegmarken auf die hypertextuelle Oberfläche geraten, wird suggerriert, dass nach dieser ersten Erzählschleife mit entsprechendem Rekalkulations-Trigger und im Rückgriff auf den Zufall prinzipiell unendlich viele Episoden folgen könnten, ein Versprechen, das zwar auf der Textoberfläche abgegeben wird (»Per rinfrescare lo scenario cliccare di nuovo su Random Recalc«), das aber technisch nicht realisiert wird. Das mag daran liegen, dass der Autor Garc&a seine Border-Erzählung insgesamt ironisch rahmt und den aufkommenden Hyper-Hype der frühen 90er Jahre des letzten Jahrhunderts mit ironischen Distanzsignalen auf beiden Diskursebenen begleitet: auf Ebene II, indem wiederholt Gebote der Software-Ergonomie
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missachtet werden, auf Ebene I, indem zum Beispiel der Vater des Ich-Erzählers in einer analeptischen Variante auf der Basis eines »capannone industriale pieno di macchine ossidate, tubi e caldaie inservibili, che aveva ereditato dal nonno« gemäß dem Garagenmythos des Bill Gates zum Multimilliardär und »Caudillo del Multimedia« stilisiert wird. Schließlich muss die äußere ›Datenhelm‹-Fiktionsebene I als ironischer Großrahmen gedeutet werden.
2.1.3 Zur Selbstbezüglichkeit des medialen Rahmens Am Ende von Garc&as racconto ipertestuale wird angedeutet, dass die Geschichte mittels Datenhelm (Fiktion I) als bloß simulierte erlebt wird. Rückwirkend erklärt sich dann auch, warum im fünften Bild von »scenario irreale« die Rede ist: Border Line thematisiert als Hypertext auch den Hyperraum, das heißt, wie in Cyberfiktionen der 80er (Blade Runner) und 90er Jahre (vgl. The Matrix, The Truman Show oder auch Abre los ojos) kommt es zu einer typischen Überblendung zwischen Realität und Virtualität. Vielleicht handelt es sich bei dem Protagonisten nur um einen Konsolencowboy oder um einen Cyborg? Zum notwendigen Aufbau einer fiktionalen, physischen Welt wird im vorliegenden Fall also der Hypertextraum des racconto ipertestuale auf Sujet-Ebene kurzgeschlossen mit Topoi des Hyper- bzw. Cyberraums, wie sie oben im ersten Kapitel entfaltet wurden. Durch Ausstreuung von medial spezifischen Indizien im Verlauf und am Schluss der Erzählung und durch die zwar bloß punktuelle, dafür aber demonstrative Hervorhebung von Hypertextstrukturen und -verfahren und deren Programmierungsmöglichkeiten wird Garc&as Hypertext zudem selbstbezüglich. Es handelt sich also nicht zuletzt auch um eine metapoetische Hyperfiktion, insofern die eigenen medialen Präsentationsvoraussetzungen bzw. die Repräsentationsfähigkeit der digitalen Trägermedien selbst thematisiert werden. Allerdings muss einschränkend hinzugefügt werden, dass die Voraussetzungen des Mediums dabei in erster Linie thematisch und noch nicht mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln behandelt werden, wie das bei einem Teil jüngerer Hyperfiktionen der Fall ist. Diese basieren zum Teil auf echten rekursiven Programmen, die wie automatische Textgeneratoren funktionieren.163 Zusammenfassung: Mit der Hypererzählung Border Line knüpft Miguel A. Garc&a explizit an narrative Experimente des modernen Romans an, namentlich an Julio Cort#zars multilinearen Roman Rayuela (1963). Garc&a übernimmt das darin waltende Prinzip alternativer Lektürepfade und führt es darüber hinaus163 Zur Problematik von ›High-Tech-Hypertexten‹ vgl. Simanowski (2001: 13).
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
gehend auch einer adäquaten technischen Lösung zu. Während man in Cort#zars Roman mühsam vor- und zurückblättern muss, um den vorgegebenen Leseparcours zu verlassen, gelangt man in Garc&as Hypererzählung mit einem Klick zum Zielpunkt und wieder zurück. Auch die in der Semiosis evozierten Nichtorte können als Reverenz an eine Ästhetik der Moderne begriffen werden, die allerdings digitalmodern interpretiert und überboten wird, insofern sich die vorliegende, potentiell sujetträchtige Flüchtlingsgeschichte rückwirkend über eine Analepse als eine bereits auf intradiegetischer Ebene erzeugte, rein transitorische Illusion erweist, nämlich als virtuelle Realität, die der Ich-Erzähler mittels Datenhelm an sich vorüberziehen lässt.
2.2
Verse in Bewegung: Elisa Carlottis Poesie visive
In Italien gehörte Elisa Carlotti zu den ersten Lyrikerinnen, die in hypermedialen Anwendungen eine Chance für neue poetische Ausdrucksmöglichkeiten sahen und sehen. In einem Interview mit einer Redakteurin des Portals Supereva lässt sie durchblicken, dass die poetische Inspiration im Falle der Computerlyrik über unterschiedliche Kanäle verläuft: »Ogni poesia nasce da una suggestione diversa. A volte l’effetto grafico mi ispira un’idea, altre volte H l’esatto contrario: sono le parole a ricercare un modo nuovo di manifestarsi.«164 Bevor Carlottis computerbasierte poesia visiva an verschiedenen Fallbeispielen erläutert werden kann (vgl. 2.2.2 und 2.2.3), sind einige grundlegende Überlegungen zum Status von hypertextueller Lyrik bzw. zur Vorgeschichte der visuellen Lyrik italienischer Provenienz anzustellen (vgl. 2.2.1), da Letztere eine wichtige Vorstufe für die computerbasierte visuelle Poesie darstellt.
2.2.1 Zum systematischen Status von hypertextueller Lyrik Die bisherigen Überlegungen beziehen sich auf das Verhältnis zwischen klassischer Textualität und Hypertextualität. In einem zweiten Schritt wäre die Frage zu stellen, in welcher spezifischen Weise computerbasierte Netzwerke am Produktions- und Rezeptionsprozess von hypertextueller Lyrik beteiligt sind. Zur Beantwortung dieser Frage fand im Jahre 2004 aus Anlass der Berliner Ausstellung »p0es1 s. Ästhetik digitaler Poesie« ein Kolloquium statt, auf dem eine Zwischenbilanz gezogen wurde. Wenn man sich die ausgestellten und kommentierten Werke vor Augen führt und die dabei aufgestellten ästhetischen Kategorien in Rechnung stellt, dann muss die These vom Medienumbruch wohl 164 Vgl. das Interview mit Annamaria Manna (2000).
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modifiziert werden: Begriffe wie »mediale[r] Selbstbezug, Prozessualität, Interaktivität, Hypermedialität und Vernetzung« (Block/Heibach/Wenz 2004: 24) erinnern stark an Phänomene, die aus den historischen Avantgarden bzw. aus der Neoavantgarde bekannt sind. Zu postulieren ist also partielle Kontinuität im Wandel. Medialer Selbstbezug ist ein Verfahren, das schon in der Buchkultur auf innovative Weise zum Zuge kommt, wider Erwarten bereits in der Lyrik D’Annunzios, erwartungsgemäß dann in der konkreten Poesie oder auch im zeitgenössischen Roman.165 Da aber das Buch ein reines Speichermedium darstellt und nicht programmiert werden kann, ist das Spektrum des medialen Selbstbezugs vergleichsweise beschränkt. Kennzeichnend für digitale Literatur ist hingegen die Differenz zwischen dem, was auf dem Bildschirm erscheint, und den zugrunde liegenden, nicht sichtbaren Symbolebenen. Aus dieser Differenz kann ästhetischer Mehrwert gezogen werden, zum Beispiel, indem ein Hyperlink nicht länger zweckorientiert gesetzt wird, wie in nachstehendem Beispiel: Walt Disney. Im Oberflächentext erscheint »Walt Disney«. Allerdings wird man beim Anklicken der Verknüpfung nicht auf den dazugehörigen Webseiten landen, weil im hypotextuellen Steuercode als Ziel eine Nonsense-Seite programmiert wurde,166 das heißt, die vorliegende Junktion widerspricht Navigationsmaximen im Allgemeinen und den ergonomischen Grundsätzen der Steuerbarkeit bzw. der Erwartungskonformität im Besonderen. Vielen Arbeiten aus der Medienlyrik wird das Merkmal der Prozessualiät zugeschrieben. Anknüpfend an Umberto Ecos Begriff des offenen Kunstwerks geht es dabei in erster Linie um die Dynamik von Zeichenprozessen: Verse geraten in Bewegung, und die solcherart entstandene mobile Lyrik könnte man als die Fortschreibung der konkreten und visuellen Poesie mit neuen Mitteln bezeichnen: Buchstaben- oder Wortketten wandern über den Bildschirm und versammeln sich nach bestimmten Prinzipien, verschwinden wieder oder rücken in neue Konstellationen ein. Es wäre sinnlos, diese Lyrik laut vorzulesen, denn ihre Bedeutung speist sich wesentlich aus dynamischen, meist visuellen ›Aufführungen‹.167 165 Vgl. hierzu die Analyse zu Carlottis Gedicht »Il Fiume delle Parole« (2.2.3). 166 Vgl. Stefans (2003: 46). 167 Vgl. etwa das Projekt ER/SIE von Menzer/Orth (2001), das ca. 20 animierte Variationen über Wörter mit den ›Silben‹ er und sie aufweist. Diese fallen zum Beispiel in dem Beitrag »Wörterkolonnen« von oben herab und bilden dann getrennte Haufen. Die Wörter »FedER« und »PapiER« schweben herab. Das Wort »SIEchen« verkleinert sich zusehends, bis es schließlich ganz verschwindet, das heißt, die arbiträren Sprachzeichen werden so programmiert, dass die Semantik der Wörter in einer ikonisierenden, dynamischen, Bewegung veräußerlicht werden. Als dynamisch und unabgeschlossen muss man auch Loss PequeÇo Glaziers (2002) Gedicht »Io Sono At Swoons« bezeichnen, das, ins Internet gestellt,
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Auch die Ideen der Interaktivität und der Vernetzung gehören schon vor der Entstehung des weltweiten Datenraums zur Ästhetik der Avantgarde, sei es im Zusammenhang mit der Erweiterung des Kunstbegriffs oder – produktionsseitig – in Gestalt der kollektiven Schreibexperimente des Surrealismus. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf die Intermedia- und Happeningkunst verwiesen.168 Was schon für die oben genannten Merkmale gilt, trifft auch hier zu: Die digitalen Künste gehen auf den bereits gebahnten Wegen noch ein Stück weiter und bereichern lyrische Sinnbildungsprozesse mittels technischer Sekundärcodierung bekannter Verfahren. Dabei kann der Leser-User in einen Dialog mit dem Computer treten oder über vernetzte Rechner mit anderen kollaborative Gemeinschaften bilden.169 Der Personal Computer hat sich seit geraumer Zeit von der Schreib- und Rechenmaschine zu einem Super-Medium weiterentwickelt. Wie bereits festgestellt wurde, ist Hypertextualität immer schon in einem hypermedialen Kontext eingebettet. Wie jedoch Block hervorhebt, geht es bei der Hypermedialität »nicht um das bloße Verknüpfen von Medienformaten zu einem Multimediaspektakel […]«, sondern darüber hinaus auch um »die dieses erst erzeugende Programmierebene, die die Transformation und Interaktion der Codes erst ermöglicht.«170 Wie man aus der von Block, Heibach und Wenz durchgeführten Standortbestimmung leicht wird folgern können, bietet sie operationalisierbare Kategorien, die einen Ausgangspunkt für die Analyse computerbasierter Literatur alle 40 Sekunden seinen Inhalt rekombiniert. Es ist also nahezu ausgeschlossen, ein- und dieselbe Version zu lesen. 168 Vgl. Block/Heibach/Wenz (2004: 28–32). 169 Ein Werk, das beide Seiten beispielhaft vereint, ist der »Assoziations-Blaster« von Espenscheid und Freude (1999). Der Leser-User kann ausgehend von einem gegebenen oder von einem selbst formulierten Stichwort eine kleine Geschichte in ein Formular eintragen. Dank entsprechender Softwareagenten werden die Wörter der Geschichte unmittelbar mit bereits vorhandenen Wörtern anderer Geschichten verlinkt, so dass ein unendliches interaktives Textnetzwerk ensteht. Ein Selbstversuch ergab, dass ein Klick auf das Wort »Lustprinzip« eine kurze Geschichte sichtbar macht, in der das Lexem »Nachtschwester« enthalten ist. Klickt man auf »Nachtschwester«, dann erscheint eine neue Geschichte usw. Ein zusätzlicher interaktiver Reiz besteht nun darin, dass diese Geschichten von den Usern benotet werden, das heißt, nicht nur die Autorschaft, sondern auch das Prinzip der literarischen Wertung wird aus angestammten Kontexten herausgelöst und vulgarisiert. Im Jahr 2004 enthielt der datenbankbasierte Assoziations-Blaster bereits 360.000 Texte! 170 Vgl. Block/Heibach/Wenz (2004: 28). Ein Beispiel dieser Art stellt das Projekt »Apartment« von Walczak/Wattenberg (2001) dar. Als User kann man im Interface beliebigen Text eingeben, dieser wird auf seine Semantik hin überprüft und dann in entsprechende Raumkonstruktionen übersetzt. Enthält der eingetippte Text bspw. die Wörter »computer« und »shower«, dann werden im Wohnungsgrundriss automatisch ein Büro und ein Badezimmer berücksichtigt. Konstruktion und Einrichtung erfolgen also nach dem Prinzip metonymischer Zugehörigkeit der eingegebenen Sätze, aus denen einschlägige Lexeme herausgefiltert werden.
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markieren, eine theoretische Verortung digitaler Lyrik wird jedoch nicht geliefert. Aber immerhin wird in einem Einzelbeitrag die Hypothese aufgestellt, dass sich im Gegensatz zur bislang privilegierten, narrativen Hyperfiction gerade die Poesie eigne, um neue ästhetische Formen im Zeitalter der Digitalität zu erkunden. Die Kunst des 20. Jahrhunderts, so das Argument, habe sich in den Sparten Malerei, Bildhauerei und Musik »gerade durch die Weigerung, den ideologischen Ballast des Erzählens weiterhin mitzuschleppen, neue Möglichkeiten geschaffen […].« (Glazier 2004: 62) Vor diesem Hintergrund sei postuliert, dass die Poesie mit vergleichsweise schwach ausgebildetem narrativem Substrat eine entscheidende Pilotfunktion ausüben könnte, zumal sie sich – und das wäre ein zweiter Vorteil – nach gattungskonventioneller Übereinkunft in erhöhtem Maße der Materialität von Sprache zuwendet. In anderen Worten: The object of poetry is to display their own textual condition. Poetry is language that calls attention to itself, that takes its own textual activities as its ground subject […]. Poetical texts operate to display their own practices, to put them forward as the subject of attention. (McGann 1991: 10)
Wenn also das Ziel der Lyrik vornehmlich darin besteht, die Bedingungen der Möglichkeit von Textualität an und für sich auszutesten, dann muss Hypertextlyrik als feinstes Instrument zur Erforschung von Hypertextualität bzw. Hypermedialität angesehen werden. Zu diesem Zeitpunkt wäre es sicherlich verfrüht, verbindliche Aussagen im Sinne einer Gattungspoetik zu machen. Aber mit jeder Einzelinterpretation wird man diesem Ziel näherkommen, ein Weg, der nachfolgend beschritten werden soll, und zwar zunächst am Beispiel der italienischen Literatur. Entscheidende Impulse erhält die computerbasierte Literatur von der visuellen Poesie. Letztere kann als Weiterentwicklung des Konkretismus verstanden werden, und sie hat sich auf dem Feld der italienischen Lyrik in den 60er Jahren etabliert. Während die konkrete Poesie den Schwerpunkt auf die ikonische Verlebendigung der arbiträren Schrift legt und damit letztlich dem Buchstaben verhaftet bleibt, öffnet sich die poesia visiva anderen Zeichensystemen. Als intersemiotische Dichtung geht sie einerseits auf die tavole parolibere des Futurismus zurück, andererseits öffnet sie sich schon in den 60er Jahren den modernen Massenmedien, indem sie Text- und Bildfragmente im Sinne der Collagetechnik verbindet. Non-verbale Zeichencodes werden aus der Werbung, dem Fernsehen oder aus Comics entnommen und neu gerahmt. Dabei entstehen im Unterschied etwa zur alten Tradition der Emblematik meist widersprüchliche Text-Bild-Kompositionen, was die Zuordnung häufig schwierig gestaltet. In den Worten eines Klassikers der visuellen Poesie: Lucidamente infatti la poesia visiva si H posta subito come genere che ortodossamente non rientra n8 nella letteratura, n8 nella pittura. L’albero genealogico, la culla e i
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
progetti per il futuro sono stati posti fin dall’inizio all’insegna della tecnologia e delle communicazioni di massa. Non per piegarsi ad esse, ma per piegarle a finalit/ critiche, ideologiche, estetiche. […] La poesia visiva, una scrittura verbo-visiva, muove, come ho gi/ detto qui e in altre occasioni, dalla ›bi-grafia‹ per proporre e realizzare diversi tipi di ›plurigrafia‹. (Pignotti 2000: 188)
Lässt man die kanonischen Texte der konkreten und visuellen Poesie Revue passieren,171 dann fällt auf, dass die primär am Signifikanten orientierte, sprachzersetzende Ausrichtung des Konkretismus wenn nicht korrigiert, so doch zurückgenommen wird: In der visuellen Poesie kommen die Signifikate wieder zu ihrem Recht. Unter den ästhetischen Bedingungen der klassischen Lyrik der Moderne werden – zumindest ansatzweise – über die Wörter wieder fiktionale Situationen aufgebaut, die durch die visuelle Sinnschicht häufig konterkariert werden – und vice versa. Das gilt insbesondere für die poesia visiva der 70er und 80er Jahre. Mehr als greifbar wird dieser ideologiekritische Gestus bei Lamberto Pignotti, wenn von »contropubblicit/«, »controrotocalco« oder von »controfumetto« die Rede ist. (Pignotti 2000: 188) Jüngeren Arbeiten eignet dagegen ein dominant ludischer Zug, eine Form der ›Konterdiskusivität‹, die eher als geistreiches Spiel im Sinne einer postmodernen Poetik der Oberfläche inszeniert wird.172 In computerbasierter Poesie werden dabei durch die Dynamisierung von Bild und Schrift ganz neue ironische Spielräume erschlossen – wie etwa in Elisa Carlottis Lyrik, die als repräsentativ gelten kann und im Folgenden mittels exemplarischer Analysen erläutert werden soll.
2.2.2 »Il treno« im Horizont der Grußdichtung Auf den ersten Blick erscheint auf dem Bildschirm ein aus heutiger Sicht antiquierter mechanischer Faltblattanzeiger, der aufgrund der darauf aktualisierten 171 Einen guten Überblick bietet Simanowsi (2003), für den Bereich der italienischen Literatur vgl. Segler-Messner (2004). Zur skriptural-pikturalen Dimension der romanischen Lyrik seit 1945 vgl. jüngst die grundlegende Überblicksstudie von Nickel (2015). 172 Die Rede von der »Poetik der Oberfläche« geht auf Regn (1992) zurück und steht in Opposition zu Foucaults für die Moderne angesetztes Konzept der Tiefenepisteme. Die »Poetik der Oberfläche« dient als Fundierungskategorie für das Epochenkonstrukt ›Postmoderne‹. Aufgrund ihres Allgemeinheitscharakters ist es möglich, den inneren Zusammenhang unterschiedlicher Merkmalskataloge auf den Begriff bringen (vgl. ebd.: 55). Zwar illustriert Regn diese Kategorie am Beispiel des italienischen Gegenwartsromans, aber eine Untersuchung der zeitgenössischen Lyrik dürfte zumindest in Teilen zu einem ähnlichen Ergebnis führen. So zum Beispiel trifft das Phänomen des ›doppelt kodierten Vergnügens‹ – die Promotion des Unterhaltungswertes von Kunst (ebd.: 69) – ganz ohne Zweifel auf Elisa Carlottis Lyrik zu, worauf noch zurückzukommen ist.
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Abb. 8: Elisa Carlotti: »Il treno«
Fahrzeiten und Gleisangaben noch in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts einen wichtigen Versammlungsort auf italienischen Bahnhöfen bildete: Wo sich auf Bahnhöfen eine Menschentraube bildete, befand sich der Faltblattanzeiger, weil ebendort die Fahrzeiten aktualisiert wurden. Allerdings stehen auf Carlottis Fahrplan weder partenze noch arrivi, vielmehr zeigen die herabfallenden Faltblätter vor dem Auge des geneigten Lesers nach und nach gänzlich anders geartete Informationen an, nämlich Textzeilen in gebundener Sprache, die sich nacheinander zu einem ganzen Gedicht addieren. Bevor jedoch die medienspezifische mise en scHne bzw. ihr Zusammenspiel mit der Semantik des Gedichts eingehender untersucht wird, soll das Augenmerk aus heuristischen Gründen zunächst dem textuellen Substrat gelten. Es sei vorausgeschickt, dass die semantische Dimension – wie schon bei der oben analysierten Hypererzählung – auch in hypertextueller Lyrik nicht vernachlässigt werden kann, sondern ganz im Gegenteil sogar eine entscheidende Voraussetzung für hypermediale Zusatzcodierungen und damit für den gesamten Sinnbildungsprozess bildet.173 173 Aus den genannten Gründen stütze ich mich hinsichtlich des verbalsprachlichen Kanals auf paradigmatische Kriterien der Lyrikanalyse, namentlich auf die von Horst Weich (1998:
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
Im schriftlichen Code wird eine Ankunfts- bzw. Abfahrtssituation geschildert, die von einer Sprecherin (Z. 6: »COME RAGGAZINA«) im Traum imaginiert wird. Die Sprecherin befindet sich in einem Bahnhof, der in kurzen Strichen auf der Basis von haptisch-visuellen Eindrücken (Z. 9: »QUELLA STAZIONE POLVEROSA«) skizziert wird, weitergehend spezifiziert durch typische Geräusche wie das Donnern der Gleise (Z. 13: »SFERRAGLIAR«) und den durchdringenden Signalpfiff (Z. 13: »FISCHIO ACUTO«). Die Temporaldeixis ist komplex geschichtet und diskursiviert den Gegenstand des Sprechens bereits in entscheidender Weise. Im Textein- und ausgang dominieren die besprechenden Tempora des Passato prossimo und des Presente, im Hauptteil (Z. 4–14) dagegen zeichnet sich eine Ballung von Imperfektformen auf der einen und Formen des Passato remoto auf der anderen Seite ab. Zu unterscheiden sind also zwei Zeitebenen: Vergangenheit und Gegenwart. Der Einstieg in das vergangene Geschehen – die Einfahrt des Zuges – erfolgt über ein Passato prossimo, also über das Rückschautempus der Gegenwart, wodurch dem Leser ein bereits zurückliegendes Geschehen vergegenwärtigt wird. Für die folgende kleine Narration werden mit Ausnahme des rhythmisierenden, anaphorischen »L’HO VISTO« ausschließlich Tempora der erzählten Welt benutzt. Nachdem der Zug eingefahren ist, erblickt die wartende Sprecherin auf dem Zug eine Person. Das lyrische Ich bekommt Herzklopfen, die Blicke kreuzen sich, und über die gerauchten Zigaretten erfährt man, dass sie nach Küssen schmecken. Die Begegnung mit dem grußlos Vorbeifahrenden sowie die begleitenden Gefühlszustände und Handlungen werden im Imperfekt dargestellt. Das heißt, obwohl das Zeitintervall der flüchtigen Begegnung objektiv kurz ist, weitet sich letztere im Traum der Sprecherin zu subjektiver Dauer. Blickwechsel und Gefühle dehnen sich zu einem kurzen Moment der Ewigkeit aus. Die Weiterfahrt des Zuges wird anschließend parallelisiert mit der Verflüchtigung des Traums, und im Excipit kehrt die Sprecherin zum Präsens des Sprechzeitpunkts zurück. Die soeben geträumte Geschichte gibt Anlass zu fortgesetzten Tagträumen. Wie man schon gemerkt haben wird, handelt es sich um einen szenischen Topos, dessen Elemente in der Geschichte der romanischen Lyrik gut belegt sind, in prominenter Weise bei Dante, Petrarca und Baudelaire: um den Topos der ›grußlos Vorüberschreitenden‹.174 In den einschlägig bekannten Grußsonetten der genannten Autoren lassen sich bei allen Unterschieden solche invarianten Merkmale der Situation benennen, die auch bei Carlotti zum Zuge kommen: Blickwechsel, Gefühlsverwirrung beim Sprecher, Weiterschreiten der geliebten Person. Durch den modernen Non-Lieu der Begegnung – der Bahnhof als tyinsbes. 21–45) in seiner theoretischen Grundlegung dargelegten Elemente lyrischen Sprechens. 174 Vgl. hierzu ausführlich Warning (1983).
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pischer Transitraum heutiger Verkehrsströme – und durch die unterschwellige Erotisierung des Blickwechsels ergeben sich in erster Linie Berührungspunkte mit Baudelaires Sonett »A une passante«. Darin ereignet sich die zufällige Begegnung mitten im Verkehrsgetöse einer lauten Straße (Z. 1: »La rue assourdissante autour de moi hurlait.«) Durch den Titel der Gedichtsammlung (»Tableaux parisiens«) wissen wir, dass sich die Straße in einer Großstadt befindet, nämlich in Paris, der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Da es in beiden Gedichten bei einer flüchtigen, anonymen Begegnung bleibt, kann das Übersetzen über den Rubikon bloß imaginiert werden: mittels metaphorischer (Baudelaire) bzw. metonymischer (Carlotti) synästhetischer Verschiebung des Blickes. Während bei Baudelaire der Sprecher aus dem Auge der Passantin Lust trinkt (Z. 6: »je buvais […] dans son œil […] le plaisir qui tue«),175 löst der Blickkontakt bei Carlottis Sprecherin eine erotische Sensation aus, die über das Schmecken der Zigarette ventiliert wird (Z 8: »SIGARETTE CHE SAPEVANO DI BACI«). Es ergeben sich also aufgrund des gemeinsamen epistemischen Horizonts der Moderne, aufgrund der urbanen Ortswahl und der Anonymität der Begegnung deutliche Übereinstimmungen zwischen den Gedichten »A une passante« und »Il treno«. Carlotti kann mindestens Baudelaires Anverwandlung der topisch überlieferten Szene als bekannt voraussetzen. Wie schon bei Baudelaire im Rückblick auf seine berühmten, amortheologisch ausgerichteten Vorgänger Dante und Petrarca erkennbar, sind es aber gerade die Differenzen, welche Carlottis Passantengedicht zu ästhetischem Eigenwert verhelfen. Zwar schafft Baudelaire durch die Anonymität und Flüchtigkeit der rencontre ein originär modernes und deshalb viel zitiertes Gedicht, aber es bleibt dabei doch ein solches Monument, das in Form und Inhalt auf klassizistischen Säulen steht. Strophenform und Reimschema sind traditionell, traditionell sind auch die Attribute der grußlos Vorübergehenden: »Agile et noble, avec sa jambe de statue« (Z. 4) – durchweg Eigenschaften, die man auch in Dantes Sonett finden könnte. Und selbst jene semiotischen Details, die der Damenmode des 19. Jahrhunderts zuzurechnen sind, werden im Kontext klassischer Anmut vorgeführt, denn die gestickte Borte des Rocksaums wird von einer »main fastueuse« (Z. 3) so gehalten, dass zwischen dem Weiterschreiten und der Kleidung eine fließende, harmonische Bewegung entsteht. Das heißt, einerseits inszeniert Baudelaire die Liebe als transitorische Erotik, zugleich aber adelt er den kontingenten Metropolenflirt als einen Vorgang, der aufgrund seiner Plötzlichkeit und sublimen Anonymität selbst schon wieder eine neue Klassizität begründet, nämlich die Fixierung eines spezifischen, modernen ›Ewigen‹, das paradoxer-
175 In der Übersetzung von K. Schmid (Baudelaire 1947) wird die sensualisierende Semantik des »buvais« noch verstärkt und mit »saugen« wiedergegeben.
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weise im Transitorischen und Kontingenten aufgefunden werden kann, insbesondere durch das Dichterwort. Baudelaires hochtönende Ergriffenheit, seine ›Antikisierung‹ moderner Alltäglichkeit wird bei Carlotti transformiert in die Iteration einer banalen Liebesbegegnung: auf der einen Seite die statuengleiche Passantin, auf der anderen das versachlichende maskuline Personalpronomen »LUI« (Z. 3) des fremden (?) Zuginsassen, auf der einen das elegant verzierte Kleid, auf der anderen die »CAMICIA ARANCIONE« (Z. 3) von der Warenhausstange, hier die geöffnete, vornehme Hand der balancierenden Grazie, da die zerknüllte Zeitung in der geballten, wahrscheinlich druckgeschwärzten Faust des lyrischen Ichs, und wo schließlich die rencontre beim Baudelaireschen Sprecher nichts Geringeres als Wiedergeburts- und Ewigkeitsphantasien auslöst (»m’a fait soudainement rena%tre«, Z. 10), da bleibt bei Carlotti nicht viel mehr übrig als ein beliebiges Kleinmädchenherzklopfen (»PALPITAVO COME RAGAZZINA«, Z. 6). Dennoch geht von Carlottis scheintrivialer Darstellung keine korrosive Wirkung auf den kurzen Augenblick intensiven Sehnens aus. Wie Baudelaire schlägt Carlotti poetische Funken aus dem Alltäglichen, allerdings nicht indem sie es idealisiert, sondern indem sie es latent verfremdet und in den Halbschatten einer im Ansatz surrealen Diegesis hineinzieht. Aus dieser leicht verzerrten Perspektive schmecken Zigaretten nach Küssen, steht zerknülltes Zeitungspapier weniger für ein Wegwerfprodukt als vielmehr für die Aufregung der Sprecherin, und indem der Gedichttitel »Il treno« in orangefarbenen Lettern gesetzt wird, färbt das Casual-Wear-Hemd des Geliebten in der Vorstellungswelt der Sprecherin sozusagen auf den ganzen Zug ab: die Welt als Orange. Mit diesem Kunstgriff sei der erste Baustein einer verstärkenden intersemiotischen Textinszenierung genannt: Carlotti nutzt den konkreten Textraum zur poetischen Verdichtung. Die deiktische Angabe »SOPRA LUI« (Z. 3) bezieht sich auf die innerfiktionale Situation ›im bzw. auf dem Zug‹, doch zugleich verweist die Präposition sopra selbstbezüglich auf den Textkörper des Gedichts. Nachdem zunächst aus heuristischen Gründen der semantische und intertextuelle Gehalt des Gedichts erschlossen worden ist, stellt sich im Folgenden die Frage, in welcher Weise der computerielle Sekundärcode am Bedeutungsaufbau beteiligt ist. Der hypermediale Status des Gedichts ermöglicht es, dass auf dem Bildschirm ein metonymisches Detail des Bahnhofs herausgegriffen wird, welches die literal vermittelte Szenerie visuell indiziert und deshalb als unterstützende Zusatzcodierung aufgefasst werden muss: Wie schon gesagt erscheinen die Verse sukzessive auf einer Abfahrtstafel. Links oben steht an Stelle der üblichen Anzeige partenze der Namen der Autorin, rechts oben befindet sich eine digitale Anzeige der realen Uhrzeit, ein ›Textelement‹, das sich bei jedem Besuch des Situs’ ändert. Von einigem Interesse ist die Tatsache, dass die Autorin nicht die inzwischen üblichen LCD-, TFT-, LED- oder CRT-Anzeiger simuliert, welche
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dank GPS die aktuelle Verkehrssituation in Realzeit wiedergeben können, sondern stattdessen auf einen klassischen Faltblattanzeiger zurückgreift. Entsprechend dieser noch analogen Technik erscheint der Gedichttext nicht ›auf einen Schlag‹, sondern er entsteht Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort und Zeile für Zeile. Bei jedem neuen Buchstaben wird dabei wie beim klassischen Faltblattanzeiger das gesamte Alphabet ›abgetastet‹, bis der passende Großbuchstabe erreicht ist. Ist das der Fall, dann wird er fixiert, und für den nächsten Buchstaben läuft erneut das Alphabet durch. Damit deutet sich bereits an, dass Carlottis »Il treno« auch eine selbstbezügliche Dimension eingeschrieben ist. Dank ›bewegter Lettern‹ kann das Jakobsonsche Grundprinzip der poetischen Funktion – das Prinzip der Äquivalenz wird von der Achse der Selektion auf die der Kombination projiziert – in seiner Dynamik performativ vor dem Auge des Betrachters inszeniert werden.176 Neben dieser allgemeinen Form der Selbstbezüglichkeit hinsichtlich der poetischen Sprachfunktion sui generis wird indirekt auch der historische Medienwechsel, mithin das Einrücken in das Zeitalter der Digitalität parallel zur Geschichte des schönen Passanten mitverhandelt. Der nostalgische Traum der Sprecherin ist nicht nur dem durchreisenden Herrn im orangefarbenen Hemd gewidmet, sondern darüber hinaus auch auf das Verschwinden von staubigen Bahnhöfen mit veralteter Technik zu beziehen. Wenn Carlotti im Zeitalter der Digitalisierung der Lebenswelt den analogen Faltblattanzeiger als Schriftübertragungsvehikel hypermedial simuliert, dann handelt es sich um eine doppelbödige ironische Geste. Einerseits drückt sich darin die Avanciertheit digitalen Prozessierens aus, insofern weite Teile der Lebenswelt künstlich erzeugt werden können, und genau das wird im milden Überlegenheitsgestus vorgeführt. Andererseits wird beim Betrachter jene Form nostalgischen Vergnügens freigesetzt, die sich beim Anblick veralteter Technik einzustellen pflegt. So gesehen sorgt gerade die technische Textaufführung dafür, dass »Il treno« nicht nur als eso176 In der Sprachwissenschaft werden bekanntlich sechs grundlegende Sprachfunktionen postuliert: emotive (sprecherbezogen), konative (adressatenbezogen), referentielle (kontextbezogen), phatische (kontaktorientiert), metasprachliche (codeorientiert) und poetische Funktion. Letztere betrifft im Unterschied zu den erstgenannten Funktionen den »message en tant que tel, l’accent mis sur le message pris pour son propre compte« (Jakobson 1963: 218). Die Art und Weise des zeichenbewussten Selbstbezugs ist das Ergebnis eines bestimmten Umgangs mit den Grundprinzipien der Selektion und der Kombination: Im normalen Sprachgebrauch werden äquivalente Wörter einem Paradigma entnommen (zum Beispiel Kind, Balg, Göre, Kid, Bengel) und auf der syntagmatischen Achse mit anderen Wörtern kombiniert. In der poetischen Sprache wird das Selektionsprinzip der Äquivalenz auf die horizontale Achse der Kombination projiziert. In den Worten Jakobsons: »La fonction po8tique projette le principe d’8quivalence de l’axe de la s8lection sur l’axe de la combinaison.« (ebd.: 220) – was der Prager Strukturalist bekanntlich an dem Eisenhowerschen Wahlkampfslogan I like Ike demonstriert, welcher horizontale Äquivalenzbeziehungen aufweist (ebd.: 219).
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terisches intertextuelles Spiel, sondern auch als exoterischer Spaß rezipiert werden kann und damit jene doppelte Kodierung des Vergnügens aufweist, die als Signum der Postmoderne gelten kann.177 Darüber hinaus wird auch das immaterielle Trauma des flüchtigen elektronischen Textes angesprochen. Zur Erinnerung: Thema des Gedichtes ist eine flüchtige Begegnung auf dem Bahnhof. Diese thematische Flüchtigkeit wird technisch redupliziert. Denn so wie das Gedicht Zeile für Zeile vor dem Auge des Users entsteht, so verschwindet es auch wieder. Kaum steht der letzte Vers, verabschiedet sich auch schon der erste Vers, bis schließlich von der Abfahrtstafel nur noch die schwarzen Faltblätter zu sehen sind.178 Damit aber noch nicht genug: Es wurde bereits unterstrichen, dass Carlotti im Unterschied zu Baudelaire weniger auf die Einmaligkeit der zufälligen Begegnung abhebt, sondern mit einem gewissen Understatement auf die beliebige, massenhafte Vervielfältigung derartiger Szenen zielt, ja, im Zeitalter der Mobilität und Flexibilität mag es wahrscheinlich sein, dass ein und dieselbe Person zum wiederholten Male ›den gleichen Film‹ erlebt. Demnach wird eine banalisierende Repetitionserfahrung dargestellt, die sich bei Carlotti dadurch ausdrückt, dass die Szene abschließend in die Iteration eines Traumes hineingezogen und perpetuiert wird. Der Schlussvers »ED IO SOGNO ANCORA…« (Z. 16) mit den drei Auslassungszeichen legt es nahe, den gleichen Traum nach einer kurzen Pause zu wiederholen. Kurz, das Gedicht wird zirkulär, eine semantische Struktur, die wiederum durch die computerielle Programmierung unterstützt wird. Denn nachdem das Gedicht vollständig vom Bildschirm verschwunden ist, haben die ersten Verse schon nach einer kurzen Pause ihren erneuten Auftritt, fast so, als hätte man auf eine unsichtbare Repeat-Taste gedrückt. Abschließend erklärungsbedürftig erscheint die Tatsache, dass klassische hypertextuelle Kategorien wie Interaktivität und Vernetzung (s. o.) bei diesem Beispiel keine Rolle spielen. Der Leser-User kann im vorliegenden Fall weder in einen Dialog mit dem PC noch in einen solchen mit anderen Lesern oder ›KoAutoren‹ treten geschweige zum bedeutungskonstituierenden Navigatoren aufsteigen. Ganz im Gegenteil: Er wird durch die rigide Programmierung geradezu gegängelt und besitzt nicht einmal die Freiheit des Papierlesers, der sein Lesetempo selbst bestimmen kann. Man könnte also mit einigem Recht ein177 Zur Doppelkodierung postmodernen Vernügens vgl. Jencks (1986: 209) und Regn (1992: 69). – Dass »Il treno« – einmal ganz abgesehen von der Textsemantik – aufgrund seiner dynamischen Performance wie ein berückender Filmtrailer aufgenommen wurde, berichtet Carlotti in einem Interview mit A. Manna: »Un lettore mi ha scritto che ›Il treno‹ H uno dei cortometraggi piF emozionanti che abbia mai visto.« (Manna 2000). 178 Bei der in Abb. 8 präsentierten Momentaufnahme handelt es sich um eine künstliche Fixierung des gesamten Gedichttextes, die kurz nach dem Aufbau des 16. Verses durchgeführt wurde.
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wenden, wo denn jene, von Sandbothe für theatrale Textualität angesetzte Wahrnehmungshaltung auszumachen wäre, die neben distanzierter Rezeption auch das andere Extrem »einer unmittelbaren aktiven Partizipation« (Sandbothe 1998: 222) vorsieht. Jedoch sei postuliert, dass sich hinter diesem scheinbaren Manko eine ästhetische Funktion verbirgt, die wiederum auf den medialen Selbstbezug zurückzuführen ist: Um den Inhalt des Gedichts zu begreifen, ist man als Leser zu höchster Konzentration gezwungen, eine Rezeptionsleistung, die dem Publikum seit Aufkommen der hermetischen Lyrik traditionell abverlangt wird, eine Forderung, die nunmehr medial spezifisch nicht nur aufgestellt sondern geradezu ›erpresserisch‹ direkt eingeklagt werden kann. Wir haben es mit einer klassischen poetischen Lizenz zu tun, die gegen die guten Sitten auf dem Feld smarter usability verstößt. Zum zweiten wird durch das Verschwinden (bzw. durch das spätere, abermalige Auftauchen) des Textes das Wesen des Traumes mittels ikonisierender Textdynamisierung nachgeahmt. In dem Maße wie der Traum verblasst, verschwinden die Wörter und Sätze.
2.2.3 Textflüsse – »Il fiume delle parole« Auch das folgende Gedicht verdankt sein Sinnpotential nicht allein dem computeriellen Code, vielmehr lässt es sich, wie schon »Il treno«, zunächst einmal in eine gut überlieferte topische Tradition einfügen, nämlich in die an Beispielen reiche Überlieferungsgeschichte metapoetischer Aqua-Mimesis.179 Die metaphorische Verbindung zwischen Wort- und Wasserflüssen ließe sich gewiss bis in die Antike zurückverfolgen, aber im Folgenden wird sich aufgrund des gemeinsamen epistemischen Horizonts bzw. der sich zuspitzenden modernen Repräsentationsproblematik zeigen, dass Elisa Carlottis Gedicht »Il fiume delle parole« zuvörderst eine hypermedial weiterentwickelte, nachmoderne Antwort auf einschlägige Wassergedichte der konkretistischen Avantgarde darstellt. Wie man weiß, setzt Letztere nicht erst mit dem Futurismus, sondern bereits mit der Lyrik Gabriele D’Annunzios bzw. mit den Experimenten der Scapigliatura ein.180 179 Es sei zumindest das berühmteste Beispiel dieser Art aus der Geschichte der italienischen Lyrik erwähnt: Torquato Tassos Madrigal »Ecco mormorar l’onde« (Tasso 1963: 315). Tasso geht es bei diesem petrarkistischen Gedicht um die Mimetisierung der Lyrik, um das VorAugen-Rücken des behandelten Sujets. Das gelingt ihm dadurch, dass die Semantik des Textes auch auf der phonetischen und syntaktischen Ebene realisiert wird, und zwar durch lautmalerische Verfahren (»mormora l’onde«), durch Verwendung von mutae und liquidae sowie insbesondere durch die auffällige anaphorische Junktion mittels »e«, wodurch das Strukturmoment des corrente syntaktisch umgesetzt wird. Dieses präkonzeptistische Dahinfließen kann zugleich metapoetisch auf die scherzhafte Machart der parole selbst bezogen werden. Vgl. hierzu grundlegend Schulz-Buschhaus (1968). 180 Zu präkonkretistischen Experimenten bei D’Annunzio vgl. grundlegend Schamm (2006).
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Bevor jedoch das Gedicht in den erweiterten epistemischen Horizont motivverwandter avantgardistischer Intertexte gestellt werden kann, soll das heuristische Augenmerk zunächst der über den graphischen Code vermittelten Semantik gelten. Im Anschluss an die Erläuterung der intertextuellen Dimension ist schließlich in einem zusätzlichen Lektüredurchgang definitiv zu klären, inwiefern Text und Intertexte durch die medienspezifische mise en scHne eine Zusatzcodierung erhalten, die von ausschlaggebender Bedeutung für den Gesamtprozess der Sinnbildung ist.181 Il Fiume delle Parole
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E le Parole scorrono come acqua del fiume Ed a volte risalgono come fanno i salmoni dentro i vortici estatici di efebica ninfa rimembrando sardoniche risatine distratte. E le Parole scorrono ed il fiume H in tormenta ribadisce costante il dominio del ventre che natura ci pose entro fervidi limiti e carpendo le vite che si accingono all’onta di violare indefesse quell’acqua invitante ma terribile e infida. E le Parole scorrono di Parole io vivo e ricordo le sere otto il sole di maggio a cantare nel brivido di un pensiero non ruvido canti poco intonati canti che scaldan la vita. E le Parole scorrono ed io scorro con loro.
Die von der Literatur der Scapigliatura ausgehenden, wichtigen Impulse für die italienische Moderne hat Schrader (2004, 2007, 2010 und 2013) herausgearbeitet. 181 Wie schon bei der vorangegangenen Analyse des Gedichts »Il treno« entspricht die hier vorgenommene Separation unterschiedlicher Analyseebenen nicht der tatsächlichen Rezeption des Users. Letzterem präsentiert sich das Gedicht als plurimedial-interaktives Artefakt wie in Abbildung 10.
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Auf den ersten Blick handelt es sich bei Carlottis »Il Fiume delle Parole« um ein vergleichsweise ›konventionelles‹ Gedicht, das die geschredderten Formen der modernen Lyrik hinter sich gelassen hat: nichts von entgliederter Syntax, von absichtsvoll geschrumpften Nominalaussagen oder von irrealen Vereinigungen des logisch Unvereinbaren und auch nichts von der Sprengung des Satzspiegels in der Tradition von Mallarm8s berühmtem Würfel-Poem.182 Das Gedicht ist gut erkennbar aufgebaut durch vier strophenähnliche Abschnitte, die jeweils einen Satz bilden, der durch das wiederkehrende Syntagma »E le Parole scorrono« eingeleitet (Verse 1–8, 9–19, 20–27 und 28–30) und durch einen Punkt abgeschlossen wird. Die aus acht Versen bestehenden Abschnitte eins und drei umrahmen einen um drei Verse längeren, mittleren Abschnitt, an den sich eine zweizeilige Coda anschließt, in der sich das lyrische Ich mit den Wörtern vereinigt. Die strophenähnlichen Zäsuren bilden Sinnabschnitte, die ihrerseits metonymische Elemente des zenralen isotopen Narratems entfalten: Wie im thematischen Titel bereits angedeutet, geht es im Kern um den Fluss der Wörter. Über die Vergleichspartikel »come« wird eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Worten bzw. Wörtern und Wasser hergestellt, Wörter, die sich aneinander reihen und dadurch den Strom eines Flusses bilden, aber – und dieser Sonderfall steht im Zentrum des ersten Abschnitts – mitunter auch gegen den Strom ›springen‹ (»salgono«), nämlich wie Lachse, die zum Laichen bekanntlich flussaufwärts schwimmen und dabei gewaltige Hindernisse überwinden müssen. In der lyrischen Fiktion ist dabei mit oxymoraler Tendenz von entrückten Strudeln (»vortici estatici«) und von einer jünglingshaften Nymphe (»ninfa efebica«) die Rede, deren hämisches Lachen die Lachse bzw. die Wörter speichern und weitertragen. Im zweiten Abschnitt befinden sich die Wörter in einem tosenden Fluss (»in tormenta«), und diesem so anziehenden wie treulosen Fluidum entwinden sie fortwährend Lebensstoff (»carpendo le vite«). Im dritten Abschnitt wird dann eine lyrische Sprecherin greifbar, die dem fluvialen Geschehen mutmaßlich zugesehen oder es imaginiert haben mag, dabei mit einem deiktischen Fokuswechsel auf sich selbst als Sprechinstanz emphatisch bekundend, dass sie von Worten lebe, was syntaktisch durch die Inversion von Subjekt und Präpositionalobjekt herausgestrichen wird (»di Parole io vivo«). In der Folge werden vergangene Zeiten heraufbeschworen, darunter eine schöpferische Periode »sotto il sole di maggio«, in der unerhörte und doch trostspendende Gesänge ertönten. In der zweizeiligen Coda schließlich verschwindet die Reminiszenz, und die Sprecherin überlässt sich dem Wörterfluss (»ed io scorro con loro«). Schon beim interpretierenden Durchgang durch die Verse dürfte klar geworden sein, dass es sich um ein selbstbezügliches bzw. metapoetisches Gedicht 182 Zur Negativität der modernen Lyrik vgl. grundlegend Friedrich (1961) und Wehle (1983).
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handelt. Aqua-Dichtung bietet von alters her den privilegierten Stoff für poetologische Selbsterkundungen.183 Leopardis berühmtestes Gedicht »L’infinito« etwa endet mit dem Vers »e il naufragar m’H dolce in questo mare«, und mehr als ein Interpret hat darauf hingewiesen, dass Leopardi die konventionellen klassizistischen Grenzen einer idyllischen Ausgangssituation des »ermo colle« überschreitet und damit seine Verse dem heranbrandenden Textmeer der Moderne überantwortet. Allerdings gerät diese Moderne am Ende des 19. Jahrhunderts in eine Repräsentationskrise. In der Zwischenzeit haben die technischen Medien mit ihren verbesserten illusionistischen Möglichkeiten einen Großteil der Aufzeichnungs-, Abbildungs- und Speicherfunktionen der Literatur übernommen. Folglich besinnt sich die Literatur – insbesondere die rezeptorische Lyrik – auf ihre eigene Medialität, die sie auslotet und daraus neue Sinnpotentiale schöpft. Zwar ist jedes neue Medium ein Zugewinn, aber zugleich bringt es eine Verlusterfahrung mit sich, weil es Präsenz nicht ersetzen bzw. sinnlich repräsentieren kann, schon gar nicht das abiträre Medium ›Schrift‹. Im Gegenteil, das Schrifttum im ausgehenden 19. Jahrhundert beruht größtenteils auf den vorgestanzten Formeln einer bürgerlichen Kopierkultur, ein Zustand, der nicht unwesentlich dazu beigetragen haben dürfte, dass die historischen Avantgarden für die Sezession optieren. Die Referenzqualität des Aufzeichnungssystems ›Schrift‹ wird dabei grundsätzlich in Frage gestellt und schließlich radikal negiert, und zwar zugunsten einer theatralisierenden Versinnlichung der Signifikantenebene oder, anders formuliert, zugunsten »aisthetischer Präsenz«.184 Wie man sich diesen Sprung in die Lettern-Aisthesis näherhin vorzustellen hat, soll im Folgenden an zwei aqua-mimetischen Gedichten der klassischen Moderne erläutert werden, um dann in einem zweiten Schritt auf Carlottis computerielle Textinszenierung zurückzukommen. Das erste Gedicht, Gabriele D’Annunzios »La pioggia nel pineto«, handelt von einem Liebespaar (Sprecher und Ermione), das in einem Pinienwald von einem warmen Sommerregen überrascht wird, der auf eine üppige Pflanzenwelt niedergeht, wodurch vielfältige Klänge erzeugt werden. Sprecher und Angespro183 Zur nautischen Symbolik in der romanischen Lyrik vgl. Knauth (1990). Dass Texte und Gewässer über ein tertium comparationis miteinander verbunden sind, zeigen auch jüngere Studien auf dem Feld der Narratologie. So etwa wird das offenkundige und doch schwer fassbare Changieren zwischen verschiedenen Perspektiven und Positionierungen der Wahrnehmung in Germaine de Sta[ls Roman Corinne metaphorologisch als »stimmliche Konfluenz« bzw. als »Fließtext« auf den Begriff gebracht (Behrens 2007: 16). In besonderer Weise greifbar wird die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Liquidität und Textualität am Beispiel des idealisierten kognitiven Modells Datenmeer (vgl. hierzu Abschnitt 1.2.3 dieser Arbeit). 184 Vgl. hierzu die Unterscheidung von drei Dimensionen der Schriftlichkeit bei Grube u. a. (2005): Referenz, aisthetische Präsenz (Schrift als visuelle notationale Gestaltungsform), Operationalität (Schrift als Aufforderung zur Interaktivität).
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chene (Ermione) verlieren angesichts dieses kreatürlichen Spektakels zusehends ihre menschlichen Züge und vermischen sich mit der vegetativen Welt des Pinienwaldes. Schon im Gedichtauftakt werden Wörter und Wasser in Beziehung zueinander gesetzt, allerdings nicht in der Form des Vergleichs, vielmehr verfügt ein herrischer Sprecher, dass die Wortkörper in den Versen Regentropfen sind, Letzere also nicht repräsentieren: »Taci. Su le soglie / del bosco non odo / parole che dici / umane; ma odo / parole piF nuove / che parlano gocciole e foglie / lontane.«185 Die Worte werden also nicht von menschlichen Stimmen erzeugt, wie die angesprochene Ermione fälschlicher Weise meint, sondern von Regentropfen. Wenn dabei von »parole piF nuove« die Rede ist, das heißt von bislang nicht gehörten Worten, dann besitzt das Gedicht von Beginn an eine selbstbezügliche bzw. metapoetische Sinnschicht, insofern die aktualiter gelesenen Verse auch sich selbst meinen. Die Neuheit dieser vorliegenden Verse soll nun darin bestehen, dass sie mittels mimetischer superatio das Regengeschehen nicht bloß nachahmen, sondern in einer aufwändigen Komplexion aus syntaktischen, lexikalischen, phonetischen und graphischen Informationen mittels Sprachmagie überhaupt erst erzeugen. In der zweiten von vier Langstrophen liest sich das wie folgt: Odi? La pioggia cade / su la solitaria / verdura / con un crepit&o che dura / e varia nell’aria / secondo le fronde / piF rade, men rade. / Ascolta. Risponde / al pianto il canto / delle cicale / che il pianto australe / non impaura, / n8 il ciel cinerino. / E il pino / ha un suono, e il mirto / altro suono, e il gin8pro / altro ancjra, stromenti / diversi / sotto innumerevoli dita. (ebd.)
Die hier wiedergegebenen ersten 19 von 30 Versen bestehen aus vier Sätzen, darunter je ein Frage- und ein Befehlssatz, welche die Strophe rhythmisch gliedern und in ihrer konativen Sprachfunktion sowohl an einen intragdiegetischen (Ermione) wie auch an einen extradiegetischen Adressaten (Leser) gerichtet sind. In den jeweils sich anschließenden zwei Sätzen, welche über kurze Verszeilen springen und dadurch wie Regenfäden auf den unteren Rand des bedruckten Blattes herabfallen, wird eine regelrechte Wassersymphonie aufgeführt, insofern das Prasseln der Regentropfen in Umfang, Intensität und Melodie moduliert wird: Es ist von einer gewissen Dauer (»dura«), es verändert sich (»varia«) je nach Morphologie des Blattwerks (»secondo le fronde«), dessen Formen unterschiedliche (»altro«, »altro ancora«) Klänge erzeugen (»pino«, »mirto«, »gin8pro«), die abschließend als Instrumente bezeichnet werden, 185 Das Gedicht stammt aus der Sammlung Alcyone, erstmals veröffentlicht im Jahre 1903. Die Sammlung enthält 88 Gedichte, die durch einen thematischen Faden miteinander verbunden sind: Auftakt- und Schlussgedicht umrahmen einen ›Canzoniere‹, der von den vitalistischen Ekstasen eines mediterranen Sommers handelt. Zitiert wird nach D’Annunzio (1995), hier : 252–258.
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
welche von unzähligen Fingern bedient werden. Die kurzzeilige Langstrophe dient so gesehen auch dazu, die transphrastische Polyphonie der vegetativen Klangkörper wie in einer Partitur zu notieren, was auf der Satzebene durch parataktische Aufzählungen unterstrichen wird. Bekanntlich haben die Wörter für den italienischen Dichter des decadentismo einen höheren Wert als die Sachen. Es erstaunt daher nicht, dass D’Annunzios Lyrik geprägt ist von lexikalischen Entscheidungen, die dem Grad der Erlesenheit indulgieren; so etwa, wenn die Schallwellen der Zikaden bildungssprachlich als »pianto australe« verbrämt oder die antiquierten, rein literatursprachlichen Wörter »cinerino« und »stromenti« benutzt werden. Der letztgenannte Ausdruck verweist im Übrigen erneut auf die autopoetische Dimension des Gedichts. Wenn D’Annunzio ausdrücklich nicht von nahe liegenden »strumenti muscali« spricht, dann deshalb, weil der von ihm gewählte Ausdruck anschlussfähig für jene »dita« bleibt, die das Schreibwerkzeug über das Papier führen und dabei auch im materiellen Sinn einen Textregen entstehen lassen. Wie man sieht, reagierte D’Annunzio auf die Repräsentationskrise des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit einer mimetischen Überbietungsstrategie nach dem Muster ästhetizistischer Wirklichkeitsmodellierung, was mit einer letztmaligen Steigerung aulischer Sprachmacht einherging, die in der Regel von einem nietzscheanisch inspirierten, souveränen Dichterführer ausgeübt wird. Die sprachgewaltigen Kathedralen des decadentismo beginnen aber kurze Zeit später schon mächtig zu bröckeln unter dem linguistischen Dauerbeschuss einer futuristischen Avantgarde, die sich die Befreiung der Wörter auf die Fahnen geschrieben hatte und mit dem parfümierten Sprachzauber / la D’Annunzio nicht mehr viel anzufangen wusste, wie das nachstehende Anti-D’Annunzio-Gedicht von Paolo Buzzi zeigen wird. Buzzis Regengedicht »Pioggia nel pineto antidannunziana« gibt sich schon im thematischen Titel als Anti-Gedicht zu erkennen, und zwar nicht nur durch das Attribut »antidannunziana«, sondern auch durch den Gebrauch des Nullartikels: Während bei D’Annunzio ein einzigartiger Regen im Pinienwald beraunt wird, entwirft Buzzi die paradigmatische Iteration eines meteorologischen Normalgeschehens. Über seinen generischen Untertitel ist das Gedicht dem Ideal des Paroliberismo verpflichtet, das von einer Gruppe linguistischer Freischärler kreiert wurde, welche sich die Zerschlagung der Syntax u. a.m. zum Ziel gesetzt hatten. In schnörkelloser Klarheit werden die sprachtheoretischen Ziele in Filippo Tommaso Marinettis stark-italienischen Manifesten formuliert. In dem im Jahr 1913 veröffentlichten Manifest Distruzione della sintassi fordert Marinetti vom futuristischen Dichter : »Egli comincer/ col distruggere brutalmente la sintassi nel parlare. Non perder/ tempo a costruire i periodi. […] in fretta vi getter/ affannosamente nei nervi le sue sensazioni visive, auditive, olfattive, secondo la loro corrente incalzante.« (Marinetti 1983: 70) Die behäbige
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Abb. 9: Paolo Buzzi: »Pioggia nel pineto antidannunziana« (1916)
passatistische Sprachkunst des Fin de SiHcle musste also das Feld räumen. An ihre Stelle sollten hektische Zeicheneruptionen treten, weil in den Augen der Futuristen nur eine solche Kunst der komplexen Gleichzeitigkeit moderner Wahrnehmungsbeschleunigung entsprechen konnte. Damit tendiert Schriftlichkeit zur Theatralität im oben beschriebenen Sinn. Denn dem Anspruch nach soll diese Kunst alle Sinne ansprechen und neben dem visuellen Kanal auch den akustischen und sogar den olfaktorischen reizen. Am Beispiel Buzzis wird schnell klar, wie diese Postulate in der poetischen Praxis umgesetzt werden. Durch den Verzicht auf Satzperioden wird die Zeit – als Signum narrativen Fortschreitens – aus dem Gedicht ausgetrieben, und das Regengeschehen kann dadurch – fast unvermittelt wie in dramatischer Kommunikation – zu einem punktuellen Schrifttheaterereignis zusammenlaufen, das sämtliche Geschehenspartikel wie in einer Nussschale simultan versammelt, und zwar »in fretta«, also ohne Übertragungsverluste.186 Die tradierte Repräsentationsfunktion der Schrift wird ausgeschaltet, was aber zugleich mit einem performativen Mehr186 Marinetti zeigt in seiner gesamten Essayistik größtes Interesse an neuen Übertragungstechniken. Wie schon erwähnt dient dabei die von dem Italiener Marconi erfundene Telegrafia senza fili wiederholt als metaphorologisches Modell für die Erläuterung seiner Dichtungstheorie.
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
wert einhergeht, der wesentlich durch die von Marinetti und seinen Gesinnungsgenossen geforderte typographische Revolution erzielt wird.187 Im vorliegenden Fall werden die Regenkaskaden durch sechs Reihen von je neun einfachen typographischen Anführungszeichen dargestellt. Der darunter befindliche Pinienwald wird metonymisch durch eine Zeile von 27 Schrägstrichen alias Piniennadeln symbolisiert. Aufgrund der quantifizierenden Zusatzinformation »10 miliardi di aghi di legno per 10 mq« hat man sich eher ein aufgeforstetes Waldwirtschaftsgebiet vorzustellen; und in dem Maße wie dadurch im Vergleich zu D’Annunzio die vegetative Vielfalt verringert wird, werden auf der anderen Seite mittels chemischer Formeln und partiturartiger Notationsschemata olfaktorische und akustische Simultanerscheinungen expressiv gesteigert.188 Ruft man sich an dieser Stelle das rein textuelle Substrat von Elisa Carlottis Fluss-Gedicht in Erinnerung, dann könnte man auf den Gedanken verfallen, dass der Schrift als Darstellungsvehikel ihre alten Rechte zurückerstattet werden: Die Wörter sind in einheitlicher Schrifttype und -größe gesetzt und fügen sich zu Satzperioden, die nicht aus dem Satzspiegel ausbrechen, sondern, ganz im Gegenteil, wie bei D’Annunzio mittels Enjambements eine Langstrophe bilden, die den Verlauf des Flusses imitiert. Die beiden unterschiedlichen Schriftfarben (blau für den Haupttext, lachsfarben für den Titel) dienen bei Carlotti mit Sicherheit nicht zur Steigerung der »forza espressiva delle parole«, vielmehr addieren sie sich pointillistisch zu einer größeren und zu einer kleineren Farbfläche, welche das schriftsprachlich vermittelte Sinnpotential nicht zerstört, sondern in seiner Semantik stabilisiert. So gesehen würde das die Rückkehr der Narration in die zerstückelten Formen der modernen Lyrik bedeuten, einer Narration, die außerdem in der visuellen Gestaltung eine Verbündete gefunden hätte – vorausgesetzt, man würde die computerielle mise en scHne unberücksichtigt lassen. Denn auf dem Bildschirm erscheint Carlottis Poem wie folgt: 187 »La mia rivoluzione H diretta contro la cos' detta armonia tipografica della pagina, che H contraria al flusso e riflusso, ai sobbalzi e agli scoppi dello stile che scorre nella pagina stessa. Noi useremo percik, in una medesima pagina, tre o quattro colori diversi d’inchiostro, e anche 20 caratteri tipografici diversi, se occorra. Per esempio: corsivo per una serie di sensazioni simili o veloci, grassetto tondo per le onomatopee violente, ecc. Con questa rivoluzione tipografica e questa variet/ multicolore di caratteri io mi propongo di raddoppiare la forza espressiva delle parole.« (Marinetti 1983: 77) Man beachte die wiederholten aquatischen Vergleiche zur Erfassung traditioneller Schriftlichkeit. 188 Nur am Rande bemerkt sei, dass die von Buzzi für »acqua ragia«, also für das aus Pinienharz gewonnene Terpentin, gewählte Formel »AZO3CL« falsch ist und korrekter Weise mit »C10 H16« wiedergegeben werden müsste. – Hinzugefügt sei, dass die Notationsschemata von den Partituren futuristischer Geräuschmusik inspiriert sind. Bei den »intonarumori« handelt es sich um Geräuschintonatoren, deren Klangwerte diejenigen klassischer Instrumente ersetzen. Die hier verzeichneten »crepitatori«, »gorgogliatori« und »ululatori« findet man in Luigi Russolos Symphonie Risveglio di una citt/ aus dem Jahr 1913.
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Abb. 10: Elisa Carlotti: »Il Fiume delle Parole«
Zunächst mag sich der bis dato gewonnene Eindruck verstärken: ein dekorativer Text, dessen medienspezifische Relevanz immerhin darin besteht, dass er eine zusätzliche Dimension der Schriftlichkeit aktualisiert, nämlich die des operativen Schrifttyps.189 Denn wenn der User mit dem Curser im mouse-over-Verfahren über die Pfeile streift, dann löst er im Programm eine autooperative Handlung aus. Der Text beginnt entweder nach oben – sozusagen flussaufwärts – oder nach unten zu fließen, das heißt, der in den ersten beiden Versen angestellte metaphorische Vergleich wird in der Interaktion mit dem PC performativ in Szene gesetzt. Man könnte diese Aufbereitung mit dem Vorwurf des Manierismus abtun und darauf hinweisen, dass damit jeglicher Tiefsinn auf leichtfertige Weise zugunsten clip-devoter Spielerei geopfert würde. Und in der Tat wird ja von Beobachtern des Visual Turn eine sogartige Drift vom Text zum Bild zum Tand konstatiert, die dazu führt, dass Schrift in der direkten Nachbarschaft von anderen semiotischen Systemen unweigerlich deren Eigenschaften annimmt und in plurimedialen Umgebungen nolens volens zum Bildfluss mutiert. Das Wort will nicht länger digital entziffert, sondern analog erkannt werden wie das Bild. In etwas anderen Worten: Das ist barock. Unser Beispiel-Bildschirm schmückt sich mit vier verspielten Putten in den Ecken, reizt alle Sinne, ästhetisiert sämtliche Inhalte, zeigt Texte vorwiegend in begleitender, dienender oder bildähnlicher Rolle. Da will geschaut und bewegt, weniger gelesen und bedacht werden. Die klassische Sicherheit des strengen Wortes weicht unruhiger Dynamik endloser Bilderfülle. Protestantischer Aufklärung folgt katholische Ergreifung. (Schmitz 1997: 143)
Es mag wohl so erscheinen, dass Carlottis medienadäquate Vertextung mittels visualisierenden und kinetischen Elementen scheinbar einer rein theatralischsensuellen Ästhetik der Oberfläche im oben genannten Sinn huldigt, aber auf den zweiten Blick stellt sich genau das Gegenteil heraus. Da beim Durchlaufen immer nur sieben Verse von Carlottis Textfluss im definierten Rahmen erscheinen können (wie auf dem Bildschirmphoto in Abb. 10) und da beim Anklicken der Pfeile der Text mit hohem Tempo nach oben bzw. nach unten fließt, 189 Vgl. Grube (2005).
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
kann der User den Textsinn zunächst nicht erfassen – ein Fall von intentionaler Rezeptionsbehinderung bzw. mehr als deutlicher Verstoß gegen die guten Sitten und Gebräuche auf dem Feld der Software-Ergonomie. Ein nicht-literarischer Gebrauchshypertext dürfte so nicht programmiert werden! Der inszenierte Referenzentzug muss daher als intentionale mediologische Störung interpretiert werden. Im Unterschied zur futuristischen Dichtung wird der vorliegende entautomatisierende Effekt nicht durch die Suspendierung schriftlicher Referenzqualität erzielt, können doch Semantik, Syntax und textlinguistische Bezüge als vergleichsweise ›intakt‹ bezeichnet werden. Vielmehr wird der Verstehenszusammenhang bei Carlotti durch kontraintuitive User-Führung entkoppelt und erhält dadurch eine medienreflexive Zusatzcodierung. Um es noch einmal anders zu formulieren: Die beiden Pfeile suggerieren, dass es sich um präskriptive Links handelt, also um Wegzeichen, die wie Fußnoten auf naheliegende, in jedem Falle aber bedeutungsunterstützende oder erläuternde Informationen verweisen. In der interaktiven Praxis jedoch erweisen sie sich als kommunikative Venusfallen bzw. als performative Links in dem oben von Suter beschriebenen Sinn.190 Prima facie lädt Carlotti also zu einem sinnlich-interaktiven Pläsier ein, das beim Leser-User sicherlich auch jene Form der infantilen Lust erzeugt, die aus der Einsicht in die Similaritätsbeziehung zwischen Wörtern, Textform und computerieller Steuerung erwächst, aber es handelt sich um eine reine captatio benevolentiae, denn selbstverständlich möchte der Leser den Sinn der Verse entschlüsseln. Das heißt, das szenische Geschehen dient gemäß typographischer Doktrin als Blickfang, der die Aufmerksamkeit des Users erregen soll, um daraufhin diese Energie in der Form des milden Zwangs umzulenken, insofern der User angehalten ist, sich nicht nur geistig, sondern flankierend auch sensomotorisch auf die akribische Entzifferung lyrischer Schriftlichkeit zu konzentrieren. Damit wird ein originär lyrisches Rezeptionsanliegen der Gattung an und für sich mit den Mitteln der Digitalmoderne auf prononcierte Weise reformuliert: die erhöhte Aufmerksamkeit für das Formale.191 Diese wird mittels kontraergonomischer Programmierung erzeugt, denn aufgrund der hohen Fließgeschwindigkeit muss der User ständig zwischen Pfeil- und Knopftaste hin190 Vgl. hierzu das Stichwort »Multilinearität« im Abschnitt »Hypertextmerkmale« (= 1.3.3). 191 Auf dem Feld der Gattungstheorie hat man sich in jüngerer Zeit darüber verständigt, dass die Lyrik nicht durch den Mangel an Narrativität bzw. Dramatizität von den anderen Großgattungen abgegrenzt werden kann. Selbst an einem Sonett ließe sich demonstrieren, dass die Gattung der Lyrik sowohl eine narrative als auch eine dramatische Dimension besitzt. Da auch das seit Jakobson häufig genannte Merkmal der Poetizität nicht haltbar ist, weil es selbst pragmatischen Texten zugesprochen werden muss (vgl. Küpper 2008), bleibt eigentlich nur die »durch Kürze, Rhetorisierung, und (oftmals) Euphonisierung konditionierte, d. h. dem Text implizite, erhöhte Aufmerksamkeit für das Formale« (ebd.: 70) als distinktives Merkmal übrig.
Hyperoulipotische Stilübungen: Antonio Zoppettis Esercizi di stile blog
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und herspringen, was ihn als Leser der graphisch codierten Verse zu verstärkter hermeneutischer Tätigkeit, wenn nicht zu höchster Konzentration veranlasst, zumal die insgesamt 29 Verse nach einem Durchlauf gänzlich verschwinden. Sie münden gewiss im Datenmeer, vielleicht auch im Nichts: in aqua scribere. Zusammenfassung: Die beiden Computergedichte »Il treno« und »Il fiume delle parole« beruhen auf traditionellen lyrischen Topoi: auf dem der grußlos Vorübergehenden bzw. auf dem des selbstbezüglichen Wassergedichtes. Beide Topoi werden thematisch variiert und mittels computeriellem Sekundärcode einer überbietenden Neuinterpretation unterzogen. Baudelaires auratische Pariser Urszene der modernen Lyrik wird in den Transitraum eines modernen Bahnhofs verlegt, und den kanonischen aquamimetisch-selbstbezüglichen Gedichten eines Torquato Tasso, eines Gabriele D’Annunzio und eines Paolo Buzzi mit ihren ›murmelnden Sätzen‹, ›plätschernden Versen‹ und ›Wortkaskaden‹ wird ein Wortfluss an die Seite gestellt. Darüber hinausgehend überboten werden diese klassisch-modernen Flüchtigkeitstopoi dadurch, dass die in der gedruckten Lyrik anzutreffende bloß thematische Transitorik auf der Basis eines performativen Aktes tatsächlich realisiert wird. Denn in beiden Fällen handelt es sich auch im materiellen Sinne um transitorische Texte, insofern die bewegten Lettern am Bildschirm vorüberziehen und verschwinden.
2.3
Hyperoulipotische Stilübungen: Antonio Zoppettis Esercizi di stile blog
Antonio Zoppetti (geb. 1965) ist seit 1992 im Verlagswesen tätig und ist dabei u. a. als Mitarbeiter und Herausgaber digitaler Nachschlagewerke hervorgetreten. Zum Beispiel hat er an der Hypertextversion des bekannten italienischen Lexikons Devoto/Oli mitgearbeitet. Seit 2002 betreibt er den Weblog zop blog (http://zop.splinder.com, 1. 11. 2009), eine Plattform zur Diskussion und Veröffentlichung von hyperliterarischen Projekten, die, den Vorzügen des Weblogformats entsprechend, häufig einen kollaborativen Anstrich haben. Ein Mitschreibprojekt dieser Art stellen die von ihm orchestrierten Esercizi di stile blog (Zoppetti 2002) dar, für die er im Jahr 2003 auf dem Turiner Salone del Libro di Torino im Rahmen des Concorso Scrittura Mutante einen Preis erhielt. Bei den Esercizi handelt es sich unverkennbar um eine Hommage an Raymond Queneaus berühmte Exercices de style aus dem Jahr 1947, die jedoch unter heutigen sekundärliteralen Bedingungen fortgeschrieben und überboten werden, um sich schließlich selbst zu überholen. Im Folgenden werden zunächst die technischen Rahmenbedingungen kol-
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
laborativer Autorschaft am Beispiel von Zoppettis zop blog erläutert (2.3.1). Daraufhin sollen Queneaus Exercices im Horizont einer computeraffinen Literaturästhetik erläutert werden (2.3.2). Anschließend wird gezeigt, wie das Queneausche Modell von Antonio Zoppetti in die italienische blogosfera transferiert wird (2.3.3), und schließlich sind die gewonnenen hyperästhetischen Spielräume im Hinblick auf neuartige Themen und Verfahren zu analysieren, was an ausgewählten Einzelbeispielen aus Zoppettis Esercizi di stile blog erfolgen soll (2.3.4).
2.3.1 Dispositiv Weblog Ohne die Partizipationsmöglichkeiten der neuen, zu Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelten Software zum Einsatz von Weblogs wäre Antonio Zoppettis kollaborative Weiterentwicklung von Queneaus Exercices de style wohl kaum entstanden. Mehr noch: Die von Zoppetti verwendete Weblogtechnik bildet geradezu ein Dispositiv im Dispositiv Internet bzw. im Makrodispositiv der Medien192 für diese Art von Literatur, insofern sie der im systematischen Teil dieser Arbeit evozierten Idee der Interaktivität193 einen operationalisierbaren technischen Erzeugungsrahmen bieten kann, denn weblogs are part of the great paradigm shift in textual culture, which eradicates restrictive print-based terms such as center and margin, and advances post-structuralist concepts such as network and connection. Weblogs are making the Internet more interactive, more »writerly«. (Jerz 2003)
War die Hypertextwelt in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts noch klar getrennt in Sender und Empfänger, wird diese Grenze in den Nullerjahren zusehends durchlässig, wenn nicht gegenstandslos. Dank neuer sozialer Software wird aus dem passiven Surfer ein aktiver User, weil das Hochladen von Texten, Bildern und Tönen für jedermann möglich geworden ist. Worin aber besteht die Spezifik der Software von Weblogs? – Der Begriff Weblog stellt eine Kontraktion 192 Das auf Foucault zurückgehende Konzept des Dispositivs ist mit Gewinn auf die speziellen Gegebenheiten der Medientheorie übertragen worden. Knuth Hickethier (1993) unterscheidet in seinem Dispositivmodell der Medien zwischen technischem Charakter, Institutionscharakter, Marktcharakter sowie Wahrnehmungscharakter bzw. Rezeptionssituation. Dieses in der Forschung legitimierte Modell wurde in der Zwischenzeit an die neuen Medien angepasst, namentlich von Florian Hartling, der in seiner Studie Der digitale Autor (2009a) vom Dispositivcharakter des Internets ausgeht, um daraus eine Globaltheorie hypermedialer Autorschaften abzuleiten. Dabei orientiert er sich an Hickethier (1993), verwirft aber aus naheliegenden, produktionsästhetischen Gründen Hickethiers Kategorie des Wahrnehmungscharakters bzw. der Rezeptionssituation (ebd.: 191). 193 Vgl. hierzu den Abschnitt »Hypertextmerkmale« (= 1.3.3).
Hyperoulipotische Stilübungen: Antonio Zoppettis Esercizi di stile blog
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aus den englischen Ausdrücken (world wide) web und log(book) dar und kombiniert die Metapher des Netzes mit einem Begriff aus der bereits vertrauten Bildsphäre der Nautik.194 Der Begriff Weblog (kurz Blog) legt es also nahe, dass man als Internetsurfer nicht nur auf den Informationswellen gleitet, sondern Letztere auch kommentiert und dadurch miterzeugt. In anderen Worten: A weblog is a textual genre native to the World Wide Web, comprising a regularlyupdated collection of links to other documents, together with a commentary that evaluates, amplifies, or rebuts the off-site information. A cross between an online diary and a newspaper clipping service, a weblog is an important factor in the ongoing democratization of hypertext – that is, a means by which ordinary people who do not think of themselves as programmers or designers can efficiently harness the power of hypertext, and thereby add their voices to the community of global villagers. (ebd.)
In dieser Definition von Dennis Jerz sind alle wesentlichen Elemente des medialen Dispositivs im Sinne Hickethiers angesprochen: Die von kommerziellen oder nicht-kommerziellen Anbietern wie Hochschulen angebotene Software stellt eine Mischung aus Tagebuch und Zeitung bezüglich des Genres bzw. der Textsorte und auch der Rezeptionssituation dar, ist einfach zu bedienen, weil die wichtigsten Formatierungen bereits vorgegeben und daher keine speziellen Kenntnisse in Dokumentauszeichnungssprachen zur Erstellung von Webseiten (zum Beispiel HTML) nötig sind. Außerdem werden von der Engine Softwareagenten zur Verfügung gestellt, die das Schreiben und Veröffentlichen automatisieren und den bloggenden Autor entsprechend vorentlasten (technischer Charakter).195 Antonio Zoppetti lässt es diesbezüglich nicht an klaren Worten fehlen: Rispetto ai programmi che servono a realizzare pagine internet la forza del blog H nella sua immediatezza e semplicit/, ed H soprattutto in quest’ultima che sta una delle ragioni dell’esplodere del fenomeno. […] ð sufficiente iscriversi in una delle tante comunit/, in modo assolutamente gratuito e istantaneo, scegliere un template, cioH una gabbia editoriale con una forma grafica gi/ precostituita ma personalizzabile dai piF esperti, e il gioco H fatto. (Zoppetti 2003: 47)
Die von Zoppetti erwähnten Templatesysteme (»gabbia editoriale«) der unterschiedlichen Anbieter unterscheiden sich kaum, was zur Folge hat, dass Blogs in der Regel ein uniformer Seitenaufbau eigen ist. Dieser besteht aus einer breiten und aus einer schmalen Spalte. In der größeren Hauptspalte werden Beiträge in umgekehrter chronologischer Reihenfolge abgelegt. In der kleineren Spalte 194 Vgl. hierzu den Abschnitt »Das Datenmeer als idealisiertes kognitives Modell » (= 1.2.3). 195 Zu technischen Merkmalen von Weblogs vgl. ausführlich Dünne (2004) sowie die sachkundige, auf dem aktuellen Stand der Technik basierende Erläuterung von Hartling, der im Rahmen seiner theoretischen Fundierung des digitalen Autors auch auf Weblogs zu sprechen kommt (vgl. Hartling 2009a, insbes. 220–231).
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
werden das Impressum, die jeweiligen Themen bzw. verwandte Blogs (die sogenannte »Blogroll«) aufgelistet und verlinkt und determinieren derart Wahrnehmungscharakter und Rezeptionssituation. Die Beiträge in der Hauptspalte können über ein Interface kommentiert werden. Die Paratexte in der Nebenspalte sowie die Gesamtarchitektur eines Weblogs dagegen können nur vom Administrator verändert werden (Institutionscharakter).196 In nachstehendem Beispiel aus Antonio Zoppettis zop blog wurde am 30. Mai 2003 ein Beitrag ›gepostet‹ (»postato da zop«), der elf Kommentare (»commenti«) anderer Autoren aufweist (s. Abb. 11). In der Regel ist ein doppelter Zugriff auf Weblogbeiträge möglich; im vorliegenden Fall über das in der linken Spalte chronologisch aufgelistete »archivio« sowie über das Inhaltsverzeichnis der Esercizi di stile blog, welche eines unter anderen Themen darstellt, die ihrerseits in der Nebenspalte aufgeführt und verlinkt sind. In diesem speziellen Beispiel befindet sich in der linken Spalte (weiter unten und daher auf dem Bildschirmphoto nicht erkennbar) zudem ein Verzeichnis sämtlicher Esercizi-Autorennamen. Diese sind – sofern vorhanden – mit den Blogs der Autoren verlinkt, außerdem sind ihnen diejenigen Esercizi-Nummern zugeordnet, für die sie verantwortlich zeichnen. Zusammenfassend darf man festhalten, dass das Dispositiv Weblog besonders dazu geeignet ist, die Idee der Interaktivität in Form von netzgebundener Kollaboration umzusetzen. Dabei sei hervorgehoben, dass mediale Dispositive in der Regel ambig sind. Aus der Sicht der technikzentrierten Medientheorie wäre auf der einen Seite die präformierende Prägekraft der Software hervorzuheben. Andererseits bieten neue Dispositive aus anthropologischer Sicht einen Rahmen für neue Handlungs- und Kreativitätschancen im Sinne einer Ausformung individueller Subjektivität, was den Blick auf das Genre schreibender Selbstpraktiken lenkt, die in der Tradition des Tagebuchs stehen,197 durch die synergetische Rückkoppelungsintensität der Blogtechnik darüber hinaus jedoch eine zusätzliche Dimension der Vergemeinschaftung erhalten. Diese zweite, kollaborative Seite des Dispositivs tritt nachgerade deutlich hervor, wenn man Zoppettis Esercizi mit anderen Mitschreibprojekten vergleicht, die aus historischen Gründen noch nicht über soziale Software implementiert werden konnten. 196 An diesem Punkt sei auf die von Hartling zusätzlich eingeführte Kategorie »Rechtliche Bedingungen« hingewiesen (ebd.: 191), ein Faktor, der in Bezug auf die auktorialen Rechte im Rahmen des digitalen Subsystems Weblog Reglementierungen nach sich ziehen kann und daher dispositivierende Wirkung besitzt. 197 Diesen Gedanken arbeitet Dünne (2003: insbes. 50–54) im Rekurs auf Foucaults bekannten Aufsatz »L’ecriture de soi« (1994) heraus, insofern es wie im rinascimentalen MontaigneKommentar auch in der fortgesetzten, verdichtenden Kommentiertätigkeit des Bloggers »um Modi der Aneignung von häufig disparaten fremden Diskursen und Gedanken durch Zusammenführung zu einem Konvolut von Notizen« (ebd.: 52) geht, und zwar im Hinblick auf die Formierung von Subjektivität auf der Basis medialer Selbstpraxis.
Hyperoulipotische Stilübungen: Antonio Zoppettis Esercizi di stile blog
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Abb. 11: Zoppetti, Antonio (2003a): Esercizi di stile blog
Ein berühmtes, in der Zwischenzeit nicht zuletzt aufgrund seiner literarischen Qualität kanonisiertes und vielfach interpretiertes Beispiel stellt das deutschsprachige Mitschreibprojekt Beim Bäcker dar, initiiert und koordiniert von Claudia Klinger (1996–2000).198 Das Incipit in medias res stammt von Carola Heine und handelt von einer Ich-Erzählerin, die in einer Bäckerei drei kleine Mädchen beim Ausrechnen eines geplanten Lollikaufs beobachtet. Daraufhin richtet sich der Blick auf »einen muskulösen und attraktiv verschwitzten jungen Mann in dem blauen Overall« (ebd.), welcher bei der Ich-Erzählerin eine sexuelle Phantasie auslöst, in der sie sich »animalisch auf der Theke zwischen Laugenbrezeln und Aufbackbrötchen« (ebd.) situiert und von dem Samenspender mit guten »Erbanlagen« und »Stehvermögen« (ebd.) zum Zwecke der Schwangerschaft inseminiert wähnt. Sogleich folgt eine Fortsetzungsgeschichte von Herbert Hertramph, in welcher der Erzähler in die Rolle des Mannes im Overall schlüpft und die Szene aus männlicher Perspektive schildert. So reizvoll die 198 Ausführliche Interpretationen des Projekts bieten Heibach (2000: 324–326) und Simanowski (2002: 27–34), der die Geschichte schon im Jahr 2002 »zu den Veteranen der Mitschreibprojekte« (ebd.: 27) zählte.
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
folgenden Anknüpfungsepisoden unterschiedlicher Autorinnen und Autoren auch sein mögen, so wenig können sie insgesamt betrachtet von den Defiziten der kollaborativen Architektur ablenken. Christiane Heibach (2000: 325) bemängelt zum Beispiel, dass die Zunahme von Autoren auch die Widersprüche vervielfältige, die Perspektivenübernahme beim weiteren Fortgang kaum noch praktiziert werde, narrative Stränge zusehends zerfransten, so dass Textkohärenz und Leserbindung schließlich gefährdet seien, weil man den Eindruck habe, »als wollten die meisten Autoren letztlich doch ihr eigenes Werk schaffen« (ebd.: 326). Wendet man sich an diesem Punkt erneut Antonio Zoppettis Esercizi zu, dann treten die anders gearteten softwaretechnischen Rahmenbedingungen im Vergleich zu Beim Bäcker deutlich hervor. Während Claudia Klinger etwaige Autoren mühevoll per E-Mail anschreiben musste und deren Beiträge mit einigem Aufwand eingesammelt wurden, konnte Zoppettis Ankündigung seinerzeit nicht nur auf der Startseite von zop blog, sondern darüber hinaus auch automatisch auf den Seiten eines ganzen Blogarchipels erscheinen, also auf jenen Blogs, die zop blog verbunden waren und mit diesem ein Netzwerk bildeten und auch noch weiterhin bilden. Neben der aktiven Verlinkung, hinter der jeweils ein individueller intentionaler Bloggerakt steht, sind es insbesondere die Möglichkeiten der automatisierten reversiblen Querverknüpfungen bzw. synchronen Koaktualisierungen mittels Trackback-Funktion und Newsfeed-Technologie, mit deren Hilfe neue Beiträge auf fremden Webseiten wie von dritter unsichtbarer Hand platziert und sichtbar gemacht werden können. Nachstehend verweist zum Beispiel der Mitautor »personalit/confusa« in seinem eigenen Blog gleichen Namens auf eine von ihm geschaffene und in zop blog bereits publizierte Stilübung. Der blau markierte Verweis »un terzo esercizio« bringt den Leser nicht nur zum Verweisziel, auch der Zielort zop blog seinerseits sowie alle Abonnenten des Blogs personalit/confusa werden – je nachdem – per Trackback oder Newsfeed automatisch über nachstehende »segnalazioni« informiert.
Abb. 12: personalit/confusa (2002–): personalit/confusa
Hyperoulipotische Stilübungen: Antonio Zoppettis Esercizi di stile blog
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Hinzugefügt sei, dass automatisierte maschinelle Mitteilungen über die Trackback-Funktion – das sogenannte ›Pingen‹ oder ›Anpingen‹ – in der Blogosphäre kontrafaktisch nicht als Formen distanzierter Signalkommunikation verstanden werden, sondern, ganz im Gegenteil, als positive Zeichen virtueller Kopräsenz, wie man nachstehendem Beispiel entnehmen kann:
Abb. 13: uzi (2002–): Scopriamo l’acqua calda
In diesem Beitrag des Esercizi-Autors »uzi«, veröffentlicht in seinem Antonio Zoppetti verbundenen Blog Scopriamo l’acqua calda, wird das Pingen zwischen Koautoren thematisiert und dabei offensichtlich als kommunikativer Vorgang zwischen Rede und Schrift aufgefasst. Damit fügt sich diese automatisierte Benachrichtigungspraxis gut ein in das oben beschriebene Paradigma sekundärer Literalität, die zwar medial schriftlich, aber aufgrund ihrer Situationsgebundenheit als konzeptionell mündlich rezipiert wird und deshalb Präsenz erzeugen kann, auch wenn es sich nur um das Echo eines entfernt platzierten Beitrags handelt (»risuona lontana la eco [sic] di una parte di me«; ebd.). Aus dem oben Gesagten wird klar, inwiefern die erläuterten dispositionellen Vorgaben der Weblogtechnik der interaktiven Pragmatik einer Mehrautorenschaft und damit letztlich auch dem ästhetischen Gelingen von Mitschreibprojekten Vorschub leistet: Während das Projekt Beim Bäcker weiterhin eine starke auktoriale Persönlichkeit erfordert, die den Situs betreibt, die pragmatische und ästhetische Architektur entwirft, die Beiträge einwirbt, veröffentlicht oder verwirft sowie den Abschluss des Projekts bestimmen muss, zeichnet sich ein Blogverband dadurch aus, dass die Partizipationsmöglichkeiten weniger dirigistisch disponiert sind, insofern ebendort Auktorialität pragmatisch und performativ besser verteilt ist und auch besser sichtbar bzw. zugleich dissimuliert werden kann. Die letztere, scheinbar paradoxale Konstellation ist der Tatsache geschuldet, dass Blogger im Unterschied zu den als noch traditionell zu bezeichnenden Mitautoren in Claudia Klingers Projekt überhaupt keinen Wert auf namentliche Erwähnung legen und damit auf tradierte Gratifizierungspraktiken der Institution Literatur verzichten. Im Gegenteil, bekanntlich drücken Blogger ihren auktorialen Stolz in pseudonymen Bloggernamen wie den oben genannten (»personalit/confusa«, »uzi«) aus und wetteifern in bester Überbietungsmanier unter ihrem Pseudonym um Netzkredibilität, wodurch eine Avatarexistenz etabliert wird, wie man sie aus MUDs oder Onlinespielen kennt, eine sekundäre
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Existenz, die in diesen letztgenannten Umgebungen allerdings immer nur temporär für die Dauer des Rollenspiels gilt. Dagegen haben wir es bei Zoppetti mit durativen Avataren zu tun. Besonders deutlich wird diese Eigenart bei einem Blick auf die Autorenliste, besteht diese doch ausschließlich aus Bloggernamen. Wir treffen also im Unterschied zu Klingers Projekt Beim Bäcker auf eine Art doppelter (fallweise auch multipler) Autorschaft jedes einzelnen Autors, ein Autorkonzept, das zwischen empirischem Autor und intradiegetischem Sprecher bzw. Erzähler immer schon eine semifiktionale auktoriale Zone vorsieht, welche Autorschaft zugleich enthüllt und dissimuliert. Narratologisch gesehen entspricht der solchermaßen entzweite auctor duplex damit jenem hybriden Status zwischen Faktum und Fiktion, der für virtuelle Zwischenwelten typisch ist.199 Abschließend sei darauf verwiesen, dass die vergleichsweise gelungene Umsetzung kollaborativer Autorschaft im Falle Zoppettis nicht allein dem Weblogdispositiv zu verdanken ist. Mit ausschlaggebend für den Erfolg des zop blog dürfte auch die generische Struktur des Mitschreibprojekts gewesen sein – weisen doch die Experimente der Gruppe Oulipo im allgemeinen und die Exercices de style Raymond Queneaus im speziellen eine natürliche Affinität zur Hypertextliteratur, insbesondere aber zu blogbasierten Mitschreibprojekten auf. Diesen Zusammenhang gilt es im Folgenden zu beleuchten.
2.3.2 Raymond Queneaus Exercices de style als hypotextuelles Modell Bei dem Ausdruck exercices de style werden frankophone Sprecher/innen an gespitzte Bleistifte oder Tafelkreide denken, erinnert das Kompositum doch in erster Linie an den Schulunterricht vergangener Zeiten, in denen Stilübungen zur Anbahnung einer gehobenen Ausdrucksweise durchgeführt wurden, in der Regel auf Schiefer oder Papier. Dem deutschen Französischlerner mögen dar199 Wenn ich richtig sehe, spielen diese Überlegungen in Hartlings (2009a) grundlegender Studie zur Autorschaft im digitalen Zeitalter keine Rolle. Sie müssten aber bei der Kommentierung und Bewertung entsprechender Artefakte im Sinne einer hypermedialen Poetik des Paratextes berücksichtigt werden. Bei Zoppetti liest sich ein Auszug aus der Liste semifiktionaler Autornamen wie folgt: »frammento, trilly, zizzi, mu, palomar, skip intro u. a.m.« Bereits dieser Auszug aus der insgesamt 130 Namen umfassenden Autorenliste stattet den Leser mit einem Informationsvorsprung aus und baut einen Erwartungshorizont auf, der auf intellektuell ambitionierte (»frammento«, »palomar«), ludische (»trilly«, »zizzi«) und medienreflexive (»skip intro«, »ctrl-alt-canc«) Variationen schließen lässt. Selbst dann, wenn – wie im Falle des Bloggers »skip intro« – auf den Seiten des dazugehörigen Blogs der Klarname im Impressum fällt, wird die auctoritas des eineindeutig referenzierenden Eigennamens modal abgeschwächt: Der Untertitel des Blogs skip intro heißt »Il blog di Matteo Cassese (forse)« (Cassese 2007).
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über hinaus auch noch die in Lehrbuchlektionen üblichen exercices im Ohr klingen, deren Erledigung die Fremdsprachenlehrerin mit gestrenger Stimme anmahnte. Aber auch die militärischen und religiösen Konnotationen des Begriffs exercice dürfte Raymond Queneau, Mitbegründer der literarischen Gruppe Oulipo (Ouvroir de litt8rature potentielle),200 einkalkuliert haben, als er sich daran machte, 99 Variationen einer alltäglichen Pariser Busfahrtgeschichte anzufertigen. Der sich solchermaßen über die Titelgebung konstituierende Erwartungshorizont wird allerdings unterlaufen, insofern es in Queneaus Exerzitien weder um grammatischen pattern drill, noch um linguistische Habachtstellungen, noch um puristische Sprachkasteiung geht, sondern um die ludischmetonymische Inszenierung von sprachlicher Vielfalt,201 bei der man ganz im Gegenteil häufig gegen den exercice-Geist der sprachlichen Richtigkeit verstoßen muss. Letzteres erhellt schon aus den Überschriften vieler Stilübungen: Wenn Queneaus Kurzgeschichte einer Busfahrt / la »Onomatop8es« (Queneau 1990: 39), »Moi je« (ebd.: 57), »Vulgaire« (ebd.: 64), »Loucherbem«, »Macaronique« (ebd.: 126) »Italianismes« (ebd.: 128) etc. variiert wird, kann man sicher gehen, dass sich die mise en discours der erzählten Geschichte deutlich von der Standardsprache entfernt.202 Nach dieser kurzen Exposition stellt sich die Frage, inwiefern Exercices de style als besonders geeigneter Hypotext für ein kollaboratives Hypertextprojekt dienen kann. Zu ihrer Beantwortung sei zunächst auf die Makrostruktur der Exercices hingewiesen. Überspitzt könnte man sagen: Sie existiert nicht. Es ließen sich zwar verschiedene Gruppen von Stilübungen zusammenstellen – zum Beispiel unter den Rubriken »Wortfiguren«, »Satzfiguren«, »literarische Genera«, »Soziolekte«, »Xenolekte« etc. –, aber diese oder andere Ähnlichkeiten 200 Die Gruppe Oulipo wurde im Jahr 1960 von FranÅois Le Lionnais und Raymond Queneau u. a. gegründet. Die im Akronym angelegten Bestimmungen (»ouvroir« und »potentielle«) stehen für eine handwerkliche bzw. unvorhergesehene, eventuelle oder auch realisierbare Literatur. Handwerklich ist sie insofern, als sich die Mitglieder der Gruppe literarische Produktionsregeln (sogenannte contraintes) geben. Daraus wiederum resultiert der potentielle Charakter : Paradoxerweise führt der Regelzwang zur dichterischen Befreiung der Wörter. Dabei fällt bei der Relektüre des ersten Oulipo-Manifests (datiert auf 1962) aus heutiger Sicht auf, dass sein Verfasser, FranÅois Le Lionnais, zum wiederholten Mal auf den literarischen Einsatz von Rechenmaschinen zu sprechen kommt: »Ce que certains 8crivains ont introduit dans leur maniHre, avec talent (voire avec g8nie), […] l’Ouvroir de Litt8rature Potentielle (OuLiPo) entend le faire syst8matiquement et scientifiquement, et au besoin en recourant aux bons offices des maschines / traiter l’information.« (FranÅois Le Lionnais 1973: 17) Zur Geschichte und Poetik der Gruppe Oulipo vgl. grundlegend Schleypen (2004). 201 Zum ludisch-metonymischen Charakter der Exercices de style vgl. Bonhomme (1991). 202 Besonders eklatant sind sprachliche Regelverstöße in der letztgenannten Variante »Italianismes«, insofern ein italo-französisches Sprachgemisch produziert wird, in dem so gut wie kein einziges korrektes italienisches oder französisches Wort mehr enthalten ist. Der erste Satz lautet: »Oune giorne en plein8 merigge, i8 saille sulla plataforme d’oune otobousse et l/ quel ouome i8 vidis?« (Queneau 1990: 128)
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spielen in der tatsächlichen Anordnung im discours keine Rolle. Da die syntagmatische Verknüpfung der einzelnen Stilübungen nicht von Belang ist, sind sie als unabhängige Einzelkomponenten einer endlichen Beispielmenge durchweg vertauschbar, so dass die oben im Hinblick auf das narrative Mitschreibprojekt Beim Bäcker festgestellten Kohärenzprobleme von vornherein ausgeschlossen werden können. Im Gegenteil, die lose Anordnung autonomer und beliebig kombinierbarer Erzählmodule könnte man beinahe als Aufforderung zur kollaborativen Autorschaft auffassen. Hinzu kommt, dass die potentiell möglichen Variationen der Ausgangsgeschichte scheinbar unbegrenzt und aufgrund der vorgegebenen Regeln auch realisierbar sind.203 Umberto Eco, der italienische Übersetzer der Exercices, hat darauf hingewiesen, dass Queneau selbst auf dem begrenzten Terrain rhetorischer Stilfiguren längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat.204 Diese Offenheit gilt in noch stärkerem Maße für varietätenlinguistische oder auch kulturspezifische Stilübungen, insofern die italienische Kultur noch gar nicht ausgelotet worden sind, was als eine Einladung zum kreativen Transfer angesehen wurde. Welches Potential in einer solchen Übertragung und Fortschreibung liegen würde, hatte schon Ecos Übersetzung angedeutet. Um nur das oben genannte französische Beispiel der »Italianismes« aufzugreifen: Im italienischen Zieltext werden daraus – honni soit qui mal y pense – »Francesimi«, die sich im ersten Satz wie folgt vernehmen: »Allora, un jorno verso mesojorno egli mi H arrivato di rencontrare su la bagnola de la linea Es un signor molto marante […].« (Queneau 2001: 191) Jedoch mochten die hier bislang beschriebenen rezeptiven Kulturtechniken des Übersetzens und epigonalen Variierens – so kongenial sie auch sein mögen –, im Hinblick auf ein hypertextuelles Mitschreibprojekt noch zu sehr in der tradierten Gutenbergwelt verankert gewesen sein, denn Antonio Zoppetti entscheidet sich bei seiner Queneau-Aneignung für eine zusätzliche Transformation, welche die Esercizi di stile blog darüber hinaus zu einem Hypertext im doppelten Sinne des Wortes weiterentwickeln. Denn die Blogversion ist nicht nur technisch, sondern auch literarisch gesehen ein Hypertext, insofern Zoppetti in seiner Funktion als Initiator des Mitschreibprojekts die Pariser Aus203 Der allen oulipotischen Verfahrensweisen innewohnende Aspekt potentieller Kreativität unter Beachtung präziser Vorgaben hat naturgemäß auch die Literaturdidaktik auf den Plan gerufen, zumal das Dichten seit den Zeiten der Romantik durch die Oulipiens erstmals wieder auf eine handwerkliche und regelgeleitete Grundlage gestellt worden ist und aufgrund dieser Tatsache auch eine Einladung an solche Lernende darstellt, die nicht vom Furor des Originalgenies befallen sind. Vgl. hierzu die Rezepte von Boehncke / Kuhne (1993) und von Steinbrügge (1999). 204 Zum Beispiel fehlen kurioserweise eminente Tropen wie Synekdoche, Metonymie, Oxymoron und Zeugma, was Eco zu dem Schluss kommen lässt: »D’altra parte, a volersi attenere alla lista, non dico di Lausberg, ma almeno di Fontanier, gli esercizi avrebbero dovuto essere ben piffl che cento.« (Eco 2001: VIII)
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gangsszene unter Beibehaltung diverser Strukturhomologien in die Blogosphäre transponiert. Man sollte das nicht vorschnell als durchschaubare Konzession an den Publikumsgeschmack des literarischen Bloggermilieus abtun, auch wenn mit dieser raumzeitlichen Translatio sicherlich eine Distanzierung von der tradierten Literaturmetropole Paris einhergehen mag. Entscheidend ist vielmehr die dabei entstehende ästhetische Differenzqualität, die qua semantischer Transposition bereits auf der rein literarischen Ebene anzusetzen ist und durch die metamediale Situierung der histoire sowie schließlich durch die computerielle Inszenierung ein komplexes Spannungsfeld zu Raymond Queneaus Hypotext herzustellen vermag. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Mitglieder der Gruppe Oulipo bei der Formulierung von literarischen Produktionsregeln schon zu Gründungszeiten auf Rechenmaschinen zurückgriffen. Diese Offenheit gegenüber der elektronischen Datenverarbeitung erklärt sich aus dem oulipotischen Interesse an kombinatorischen Dichtungsverfahren, wurden doch im ersten Manifest zwei grundlegende, potentiell computeraffine Ziele festgelegt: zum einen die Sichtung und Beschreibung der vorhandenen kombinatorischen Literatur, zum anderen die Erfindung und Realisierung neuer Modelle der Texterzeugung.205 Mit einigem Recht ist zum wiederholten Male darauf hingewiesen worden,206 dass dieser Hang zur Koppelung von literarischer und elektronischer Kombinatorik die heutigen Hypertextphänomene präfigurierte.207 Es ist daher nur konsequent, dass die Gruppe Oulipo in der Zwischenzeit in das Internet umgezogen ist, wo sie – freilich vergleichsweise spät – seit dem Jahr 2005 über ein eigenes Webseitenangebot verfügt,208 was zu einer deutlichen Steigerung des Bekanntheitsgrades und zu einer verstärkten Internationalisierung geführt hat. Andreas Gelz (2006: 189) wirft im Hinblick auf diesen proprietären Akt einer »evolutive[n] Transformation des poetischen und identitätsstiftenden Kraftzentrums« die Frage auf, »ob sich durch diese neue Form medialer wie generationsspezifischer Verknüpfung Rückkopplungseffekte auf die literarische Arbeit von Oulipo ergeben« (ebd.: 189). Im Hinblick auf Antonio Zoppettis Esercizi di stile blog kann man diese Frage schon jetzt positiv beantworten. Wie man an diesem Beispiel sieht, hat die oulipotische Eroberung der Hypermedien längst stattgefunden, und zwar schon bevor Rückwirkungseffekte bei den be205 Im ersten Manifest werden diese beiden Grundrichtungen als »tendance analytique« bzw. »tendance synthetique« (Le Lionnais 2003: 17) bezeichnet. 206 Zum Medienwandel der Gruppe Oulipo vgl. Gelz (2006). 207 Besonders überzeugend lässt sich das an Queneaus Papierstreifensonetten Cent mille milliards de poHmes (1961) nachvollziehen, für die später mehrere Computerprogramme geschrieben worden sind. Vgl. hierzu ausführlich den Abschnitt »Poesiemaschinen« (= 2.5.2). 208 Vgl. (http://www.oulipo.net, 1. 11. 2009).
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rüchtigten regelmäßigen Donnerstagssitzungen der altehrwürdigen Gruppe verzeichnet worden wären. Wie Zoppettis Fall zeigt, haben sich oulipoaffine Netzliteraten unterdessen selbst zum oulipotischen Dichten ermächtigt. Auch wenn dabei weiterhin der traditionsträchtige Topos des poeta nugellae gepflegt wird, sind Überbietungsanstrengungen nicht zu übersehen.209 Diese speisen sich nicht allein aus hypermedial-emulierender Hybris oder purer »quantit/« (ebd.), sondern sie lassen sich bereits auf der qualitativen Ebene der literarischaemulierenden Aneignung des hypotextuellen Modells erkennen. Werden doch über die rein quantitative Steigerung der vorhandenen französischen Stilübungen hinausgehend auch die semantischen Grundlagen des Ausgangstextes verändert, insofern Letzerer komplett in die Blogosphäre transferiert wird. In welcher Weise das geschieht, sei nachstehend erläutert.
2.3.3 Vom Pariser Straßenverkehr in die blogosfera italiana In Queneaus Ausgangsversion namens »Notations« (Queneau 1990: 7) wird der Versuch unternommen, Handlung, Figuren und erzählte Welt einer Pariser Szene im öffentlichen Nahverkehr möglichst neutral zu schildern, also unter Verzicht auf ungewöhnliche diskursive oder rhetorische Selektionen. Einmal abgesehen davon, dass das Gebot einer neutralen Darstellung seinerseits eine diskursiv-rhetorische Wahl darstellt, wird der Neutralitätseffekt durch einen sachlichen Darstellungsgestus erzielt: Dans l’S, / une heure d’affluence. Un type dans les vingt-six ans, chapeau mou avec cordon remplaÅant le ruban, cou trop long comme si on lui avait tir8 dessus. Les gens descendent. Le type en question s’irrite contre un voisin. Il lui reproche de le bousculer chaque fois qu’il passe quelqu’un. Ton pleurnichard qui se veut m8chant. Comme il voit une place libre, se pr8cipite dessus. Deux heures plus tard, je le rencontre cour de Rome, devant la gare Saint-Lazare. Il est avec un camarade qui lui dit : »tu devrais faire mettre un bouton suppl8mentaire / ton pardessus.« il lui montre oF (/ l’8chancrure) et pourquoi. (ebd.)
Der Ich-Erzähler oder besser Ich-Berichterstatter schildert zwei Pariser Szenen. Die erste Szene ereignet sich zur Hauptverkehrszeit in einem Bus der Linie S, wo er einen jungen Mann beobachtet, der sich über die Rempeleien eines Nachbars beschwert und sich kurz danach auf einen frei werdenden Sitzplatz stürzt. Die 209 Das tradierte Spiel von imitatio und aemulatio wird von alters her gerne im paratextuellen Vorfeld oder im Texteingang in Szene gesetzt. So auch bei Zoppetti, wo es im Präsentationstext heißt: »Ricordo infine che siamo tutti consapevoli che non potremo mai eguagliare l’altezza e la QUALITA’ di Raymond… per cui abbiamo solo una chance: CERCHIAMO DI FREGARLO ALMENO SULLA QUANTITA’!!« (http://www.linguaggioglobale.com/blog/ default1.htm, 1. 11. 2009).
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zweite Szene spielt vor der Gare Saint-Lazare, wo der derselbe junge Mann mit einem Freund zusammensteht. Letzterer rät ihm, einen zusätzlichen Knopf an seinem Überzieher anbringen zu lassen. Wie man leicht merken wird, werden die Sachlichkeitseffekte im wesentlichen durch einfachen Satzbau, notizenhafte Präsensverwendung und den Verzicht auf subjektivierende Modalisierungen erzeugt. Raymond Queneaus Exercices de style wurden im Unterschied zur deutschen Übersetzung (1961) von Ludwig Harig und Eugen Helml8 vergleichsweise spät im Jahre 1983 ins Italienische übersetzt – dafür umso prominenter. In der italienischen Übersetzung Umberto Ecos, die Antonio Zoppetti zur Grundlage seiner Transformation macht, entsteht daraus folgender Text: Sulla S, in un’ora di traffico. Un tipo di circa ventisei anni, cappello floscio con una cordicella al posto del nastro, collo troppo lungo, come se glielo avessero tirato. La gente scende. Il tizio in questione si arrabbia con un vicino. Gli rimprovera di spingerlo ogni volta che passa qualcuno. Tono lamentoso, con pretese di cattiveria. Non appena vede un posto libero, vi si butta. Due ore piF tardi lo incontro alla Cour de Rome, davanti alla Gare Saint-Lazare. E’ con un amico che gli dice: »dovresti far mettere un bottone in piF al soprabito«. Gli fa vedere dove (alla sciancatura) e perch8. (Queneau 2001: 3)
Diesen Ausgangstext transformiert Zoppetti in einen solchen Zieltext, der den überschriebenen Hypotext noch durchscheinen lässt, dabei aber zugleich einer grundlegenden Transformation unterzieht: In un’ora di grande traffico e di molteplici affluenze sul WEB, un pomeriggio di un mercoled' qualsiasi, stavo curiosando tra i bloggers quando mi sono imbattuto in un blog che aveva un template azzurro, un po’ confuso… ma ricco di link interessanti… Il blogger in questione doveva essere piuttosto giovane, almeno stando a quello che scriveva. Ad un tratto ho notato un commento a un suo post, un po’ banale… commento a cui il proprietario del blog aveva a sua volta risposto in modo molto secco e alterato, inveendo contro questo mal costume di lasciare in giro commenti gratuiti e inopportuni sui blog degli sconosciuti. … Due ore piF tardi, mentre navigavo su un sito dedicato a un poco noto ma geniale cantautore italiano, ho rincontrato quello stesso blogger, o meglio una sua mail, che diceva al webmaster del sito in questione: »Dovresti far mettere un bottone in piF al menu principale«. Gli fa vedere dove (vicino all’icona dell’uscita) e gli dice perch8. (Zoppetti 2002, Hervorh. im Original)
Das Grundprinzip der Transformation verdankt sich einem räumlichen Transfer : Die Pariser Busszene wird in den virtuellen Raum der Blogosphäre verlegt. Dabei werden die apriorischen Grundstrukturen der histoire (Handlung, Figuren und erzählte Welt) zwar übernommen, jedoch über metaphorische Similaritätsstrukturen verschoben und auf discours-Ebene in neuem Gewand aktualisiert. Aus dem Straßenverkehr einer ›realen‹ Pariser Verkehrsszene wird der »grande traffico« mit entsprechenden »affluenze« des virtuellen Nichtortes
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world wide web. Das Ich des Berichterstatters verwandelt sich vom zielstrebigen Fahrgast zum ziellosen (»mi sono imbattuto«) Gast in einem Blog, der im Übrigen von Seiten des Ich-Erzählers als anthropologischer Ort wahrgenommen wird.210 Der Fahrgastraum des Busses wird also ersetzt durch den Verkehrsraum eines Weblogs. Letzterer zeichnet sich durch angenehme Farblichkeit aus (»azzurro«), weist einladende Abzweige auf (»ricco di link interessanti«) und wird mutmaßlich von einem Generationsgenossen bewohnt, der sich als bloggender Wiedergänger des unbekannten »tizio« aus Ecos Übersetzung entpuppt. Dessen Alter wird – im Unterschied zu seinem Modell – naturgemäß nicht über das Aussehen, sondern über Inhalt und Stil der Blogbeiträge bestimmt. Dem »vicino« aus Queneaus Bus wird im Zieltext die Rolle eines kommentierenden Surfers zugeordnet, mit dem der Blogbetreiber nicht wegen eines »posto« (Ausgangstext), sondern wegen eines »post« aneinandergerät. Die physische Auseinandersetzung des Hypotextes wird demnach in ein sekundärliterales Wortturnier auf der redaktionellen Ebene einer Kommentarkette transformiert.211 Das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit von Queneau übernehmend, trifft der Ich-Erzähler zwei Stunden später erneut auf den schmähenden Kommentator.212 Der Ortswechsel des Ausgangstexts wird ebenfalls übernommen, jedoch anders realisiert. Die reale Gare Saint-Lazare verwandelt sich dabei in einen zweiten virtuellen Situs, auf den der Ich-Erzähler beim Surfen stößt und der einem cantautore gewidmet ist. Ebendort übernimmt der Kommentator die Rolle von Queneaus »amico«, indem er dem zugehörigen Webmaster rät: »Dovresti far mettere un bottone in piF al menu principale« (ebd., Hervorh. im Original). Wie man sieht, zitiert Zoppetti an diesem konzeptistischen Endpunkt der Szene den zugrundeliegenden Hypotext wortwörtlich. Lediglich der Ausdruck »soprabito« wird durch »menu principale« ersetzt. Auch die abschließende Coda (»Gli fa vedere dove [alla sciancatura] e perch8.«) wird wörtlich zitiert, nur der in Klammern stehende Ausdruck wird durch »vicino all’icona dell’uscita« ersetzt. Zoppettis als akutesk zu bezeichnende Strategie 210 Die prinzipielle Ortlosigkeit des world wide web wird in Weblogs ›bewohnbar‹ gemacht, und zwar bereits auf der apriorischen dispositiven Ebene. Das geschieht über verschiedene, im Templatesystem schon voreingestellte Approximationsstufen. Zum Beispiel erhalten nicht angemeldete Besucher eines Weblogs den Status eines Gastes und können bereits in diesem Annäherungsstadium Kommentare einstellen. Bei Kommentaren angemeldeter ›Bewohner‹ wird automatisch der Bloggername hinzugefügt. 211 Weblogs sind grundsätzlich so konfiguriert, dass ein Kommentar zu einem Beitrag seinerseits kommentiert und selbst wiederum zum Gegenstand eines neuerlichen Kommentars kann, so dass mitunter Kommentarketten von zehn und mehr Kommentaren enstehen können. 212 Zum flaming als netztypische Fortsetzung der tradierten Schmährede im Zeitalter der Digitalmoderne vgl. im Detail den Abschnitt »URLs, Mails, Screenshots« (= 3.2.2).
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besteht also aus einer maximalen Engführung beider Texte. Da das auf der Signifikantenebene weitgehend umgesetzt wird, ist man als Leser umso verblüffter darüber, dass die prima vista identischen Lautketten dennoch auf grundverschiedene Weltausschnitte referieren. Möglich ist das aufgrund der Polysemie des Ausdrucks bottone. Seine denotative Bedeutung (Verschließen von Kleidung) wird bei Zoppetti nicht realisiert. Vielmehr tritt die konnotative Bedeutung (Bedienelement einer graphischen Benutzeroberfläche) hervor und kann im Verbund mit den Termini »menu principale« und »icona dell’uscita« auf überraschende Weise ein metonymisches Netz aus Funktionselementen der Bildschirmwelt ausbilden: Demnach bezieht sich der Vorschlag der ›Knopfanbringung‹ im Zieltext auf das Webdesign der cantautore-Homepage. Außerdem kann der Online-Leser dieser transformierten Stilübung das literale binnenfiktionale Exzipit performativ umsetzen, indem er auf der paratexuellen extradiegetischen Ebene den »bottone« der »icona dell’uscita« auf der aktuellen Webseite des realiter benutzten, eigenen Computers anklickt, um sich der Lektüre einer neuen Stilübung zu widmen. Es handelt sich dabei um eine solche mediale Verdoppelung einer intradiegetischen Szene, wie wir sie bereits in Garc&as racconto ipertestuale beobachten konnten.213 In beiden Fällen nutzen die Autoren den realen paratextuellen bzw. paramedialen Rahmen des Trägermediums (Knöpfe als Schaltflächen) als zusätzliche extradiegetische Handlungskulisse zur Erzeugung performativer Präsenzeffekte und bestätigen dadurch die im systematischen Teil dieser Arbeit aufgestellten Thesen vom interaktiven bzw. theatralischen Charakter der Hypertextliteratur : Zoppetti macht sich damit ein spezifisches Intermedialitätspotential zu Nutze, das der französischen Originalfassung naturgemäß nicht zur Verfügung stand.214 Durch den Vergleich beider Incipit-Fassungen dürfte klar geworden sein, dass Zoppetti als Initiator neooulipotischer Stilübungen nicht nur auf die rein quantitative epigonale Vermehrung weiterer stilistischer Varianten abzielt. Im Gegenteil, die vorliegende Transformation der ursprünglichen res und verba verdankt sich genauer betrachtet einem qualitativen Impuls. Recht deutlich zeichnen sich die Umrisse eines hyperliterarischen Ingeniums ab, das in Konkurrenz zu Queneau tritt, durchaus auf Originalität bedacht ist und dabei auch 213 Vgl. hierzu den Abschnitt »Links entlang der Border Line: eine Hypererzählung von Miguel A. Garc&a« (= 2.1). 214 Es liegt auf der Hand, dass derartige Phänomene mit Genettes Theorie der Paratextualität nicht mehr abgedeckt werden können. Der erste Schritt in Richtung einer erweiterten Theorie der Paramedialität wurde mit der Veröffentlichung des Sammelbandes Paratext in Literatur, Film, Fernsehen (Kreimeier / Stanitzek 2004) getan. Neben den traditionellen audiovisuellen Medien wird darin auch die paratextuelle Funktion von Hypertexten thematiert, und zwar am Beispiel von Trailern im Internet als »Vorhof des Films« (vgl. Hediger 2004) – nebenbei gesagt ist dieser Untertitel ein weiteres Beispiel für die grassierende Behausungsmetaphorik zur Besiedlung des Nichtortes world wide web.
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einem neuen medialen Aptum Rechnung trägt. Mit den Figuren des Ich-Erzählers, des Blogbetreibers, des Kommentators und des Webmasters stellt Zoppetti im Zeichen medialer Konvergenz ein Inventar an Charakteren bereit, das für eine erneuerte potentielle Literatur eine potentielle Einladung darstellt, die adressatenbezogen ist und das Interesse der digital natives wecken dürfte, und zwar sowohl hinsichtlich möglicher Koautoren als auch im Hinblick auf lesende Surfer. In welcher Weise diese Einladung von Seiten potentieller Autoren angenommen worden ist, sei im Folgenden erläutert.
2.3.4 Kollaborative Überbietung, Überholung und Selbstauflösung Um es gleich vorwegzuschicken: Die Resonanz auf Antonio Zoppettis Einladung zur Fabrikation von Stilübungen war seinerzeit (2002–2004) gewaltig. Das interaktive Dispositiv des Weblogs zop blog erwies sich offensichtlich als adäquates mediales Format zur Realisierung eines kollaborativen Projekts, das quantitativen und qualitativen Ansprüchen genügen konnte, was seinen Grund sicherlich auch darin hatte, dass ebendieses Format zu Beginn der Jahrhundertwende einen regelrechten Boom erlebte. Innerhalb des Dispositivs Internet bildete und bildet es ein rhizomartiges Subnetz aus, das post festum als technologische Möglichkeitsbedingung zur Auslösung vielfältiger und intensiver synergetischer Effekte aufzufassen ist. Vielzahl und Vielfalt der Beiträge sind u. a. auch einer medialen Disposition zu verdanken. Die mehr als 400 veröffentlichten Stilübungen stellen wie schon das transformierte Incipit eine Mischung aus imitatio und aemulatio des Originals dar. Es finden sich darunter Variationstypen, die bereits bei Queneau anzutreffen sind, wie etwa nachstehende Beispiele: »Interrogativo«, »Interiezioni / esclamazioni«, »Retromarcia« (Rückwärtserzählung), »Latino maccheronico« (Küchenlatein). Eine wesentlich stärkere ästhetische Innovations- und Attraktionskraft geht indessen von jenen Beispielen aus, die außerhalb des Queneauschen Horizonts liegen, insofern sie sich parasitär auf Letzteren beziehen oder aber den vorgegebenen Gegenstandsbzw. Darstellungbereich schlicht erweitern. Eine parasitäre Bezugnahme wird man in der Version »Vocale E« erkennen, weil sie auf Queneaus Version »Lipogramme« respondiert. Hatte Queneau darin den Buchstaben »e« weggelassen, so wird dieses Verfahren im italienischen Hypertext einfach invertiert: Der monovokalische Zieltext besteht nämlich ebendort aus solchen Wörtern, die ausschließlich den Vokal »e« enthalten, was sich in einem Ausschnitt wie folgt liest:
Hyperoulipotische Stilübungen: Antonio Zoppettis Esercizi di stile blog
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- Che lentezze nel WEB! - E che H? - C’H gente… c’H gente… perennemente! - Che bel web celeste! - Che belle le celle… che bel vedere! - E’ ’l WEB del bebH. (Zoppetti 2002)
Wie man sieht, führt die contrainte dazu, dass das Kernlexem »traffico« (ebd.) aus dem Incipit durch das vergleichsweise umständliche Syntagma »C’H gente… c’H gente… perennemente!« ersetzt werden muss, wohingegen die Personencharakterisierung des jungen Bloggers erheblich knapper ausfällt: Aus »Il blogger in questione doveva essere piuttosto giovane, almeno stando a quello che scriveva« wird »E’ ’l WEB del bebH« (ebd.). Was schließlich die von Zoppetti initiierten und dirigierten Esercizi zu einem originellen Mitschreibprojekt mit Tendenz zur superatio reifen lässt, ist durch einen dreifachen Kontextwechsel bedingt: Themen und Stile sind erstens akualitätsbezogen, zweitens auf die italienische Kultur ausgerichtet und weisen drittens eine starke Tendenz zu medialer Selbstrefllexion auf. Aktualitätsbezogen sind u. a. Stilübungen zum Fachjargon bestimmter Sektorsprachen (»Psichiatrico«, »Annunci secondamano«), Jugendsprache bzw. gesprochene Sprache (»CioH«, »Supergiovane«, »Toscanaccio Cuttraiolo«), politische Satire (»Oriana Fallaci«, »Berluska«, »Culto della personalit/«) sowie explizite Erotik (»Stile rosa«, »Stile Hard«). Schon die bloße Aufzählung dieser Titel zeigt, dass Zoppettis Stilübungen weit über das von Queneau vorgegebene Themenspektrum hinausgehen. Das letztgenannte Beispiel weist gegenüber Queneau – aber auch im Vergleich zu Zoppettis Ausgangsgeschichte – ein besonders hohes Differenzpotential auf und sei daher im Folgenden analysiert. Bei der Wahl des thematischen Titels und der entsprechenden visuellen Aufmachung kann der Autor (das Beispiel stammt von zop) auf Seiten des Publikums mit einem eingespielten Erwartungshorizont rechnen, der zugleich deutlich macht, wie sehr sich die okzidentalen Zeitläufte seit dem vergleichsweise beschaulichen Queneau-Frankreich der Nachkriegszeit verändert haben: In den nordatlantischen Staaten – seit 1989 womöglich weltweit – dürfte die sexuelle Konnotation des englischen Adjektivs hard unangesehen existierender Englischkenntnisse relativ gut verstanden werden. Die Fetischisierung und mediale Vervielfältigung des Sexus im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ist zu einem Gemeinplatz des Medienzeitalters geronnen, was sich in Zeiten des Globalmediums Internet kaum geändert haben dürfte. Im Gegenteil: Der stile hard ist unabwendbar zum omnipräsenten Diskurs mutiert, der eine ganze Phalanx von Psychologen, Soziologen, Philosophen, Gender- und Medienwissenschaftlern zur kulturkritischen Dauerreflexion animierte, ohne dass
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Fallbeispiele aus der ästhetischen Praxis der Hypertextliteratur
Abb. 14: zop blog
ein Ende abzusehen wäre. Unter diesen Prämissen kann die vorliegende Stilübung als konterdiskursive literarische Fußnote aufgefasst werden: Die heutzutage gängige durative hypermediale Explizierung und damit aus Sicht der Kulturkritik einhergehende symbolische Entleerung215 der Geschlechtsliebe wird zwar auf der Geschichtsebene evoziert und damit scheinbar fortgeschrieben, jedoch im literarischen discours in den Bereich des Impliziten zurückverlagert. Dargestellt wird eine symmetrische Situation zwischen einer weiblichen und einer männlichen Person. Die metaphorische Ebene des Ausgangstextes (das Internet als Verkehrsraum) erfährt dabei eine weitere Metaphorisierung, 215 Die Zahl kulturkritischer Studien, in denen auf den Nexus zwischen einer auf Dauer gestellten massenmedialen Vervielfältigung und der damit einhergehenden symbolischen Entleerung kultureller Werte hingewiesen wird, ist Legion. An dieser Stelle sei stellvertretend für diesen medienkritischen Diskurs auf Neil Postmans wirkmächtiges Buch Das Technopol (1992) hingewiesen, worin Postman dem Technopol die Schuld an diesem Zustand gibt: »Es [das Technopol] ist das, was einer Gesellschaft zustößt, wenn die Abwehrmechanismen gegen die Informationsschwemme zusammenbrechen.« (ebd.: 81) Diesen Zustand führe das Technopol halb bewusst, halb unbewusst herbei, um den Bestand tradierter Werte durch die massenhafte Darstellung ihrer Symbole zu entwerten und daraufhin deren Platz einzunehmen (vgl. ebd., insbes. 177–193).
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insofern die Szene vom expliziten Verkehr zwischen den Geschlechtern handelt. Die mangelnde Geschwindigkeit der Internetverbindung des Ausgangstextes verwandelt sich in die weibliche Ermahnung zur überlegten Eröffnung (»piano! piano! lentamente…!«). Dabei wird der durch die Titelgebung naheliegende propositionale Gehalt der Äußerungen durchweg evoziert und zugleich ausgespart, indem Auslassungszeichen und heterosyntagmatische Elemente verwendet werden. Verständlich wird das am Beispiel folgender Äußerung: »metti uno di quei cosi… metti un blog, cosi siamo piF sicuri…«. Durch den Hinweis auf die verbesserte Sicherheit müsste man die Struktur des Funktionsverbgefüges »mettere un …« durch das homologe Element »preservativo« ergänzen. Letzterer Ausdruck wird naturgemäß vom Leser erwartet, zumal er im vorangehenden Satz durch die Kataphorik des Demonstrativartikels »quei« bereits angekündigt worden ist. Durch das Vorenthalten des erwartbaren Ausdrucks bzw. dessen Ersetzung durch einen zunächst gänzlich unerwarteten, semantisch unverträglichen Term wird eine überspannte Erwartungshaltung geschaffen, die plötzlich im Gegensinn der Katachrese kollabiert und damit in die Nähe des Komischen gerät, eine poetische Lizenz mit manieristischer Tendenz, weil sich das hier vorgeführte literarische Grundprinzip im weiteren Textverlauf fortsetzen und auf verblüffende Weise zur metaphora continuata ausfalten wird. Während die blaue Farbe der ursprünglichen Webseite nunmehr dem Präservativ zugeordnet wird (»uuuhh H tutto azzuro, non mica male… perk!«), machen sich die beiden Liebenden gegenseitige Komplimente im Hinblick auf die jeweiligen körperlichen Vorzüge: »– ma lo sai hai proprio dei bei… link? – e tu hai un gran bel… template!« Auch in diesen Redezügen würde die Semantik der Syntagmen andere Ausdrücke als die vorhandenen erfordern, nämlich explizite Benennungen sekundärer bzw. primärer Geschlechtsmerkmale, die durch den Plural bzw. den Singular auch markiert und damit eindeutig zuzuordnen wären. Freilich wiederholt sich das oben benannte Verfahren. Angebahnt werden ›explizite‹ Ausdrücke (»seni«, »pene«), nach den Auslassungszeichen aber zugunsten medialer Fachbegriffe (»links«, »template«) unterdrückt. Durch diese Katachrese erhalten die menschlichen Körper einen komisch verdinglichenden Anstrich. Der sowohl bei Queneau als auch in Zoppettis Ausgangstext angelegte Zeitsprung wird mittels Auslassungspunkten nur graphisch in Szene gesetzt und bildet damit eine jener klassischen Leerstellen, von denen schon Proust im Hinblick auf Erzähltexte des 19. Jahrhunderts behauptete, dass sie schöner als Sätze seien216 – und die überproportional häufig dann vorkommen, wenn die 216 Den ästhetischen Reiz von Leerstellen hat Proust am Beispiel Flauberts studiert: »A mon avis la chose la plus belle de l’Education Sentimentale, ce n’est pas une phrase, mais un blanc.« (Proust 1927: 205) Zur Ästhetik von Leerstellen vgl. Friedrich (1973) und Iser (1976). Die systematische sprachwissenschaftliche Aufarbeitung von Leerstellen wird ak-
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Vorstellung des don de mercy nicht explizit in Lettern gefasst werden, sondern implizit vor dem geistigen Auge des individuellen Lesers entstehen soll.217 In Zoppettis Stile hard wird selbst die chronologische Darstellung in den Bereich des Impliziten verlegt. Während die Ellipse zwischen erster und zweiter Szene in der Ausgangsgeschichte durch eine exakte Zeitangabe markiert wird (»Due ore piF tardi«), heißt es am Ende von Stile hard »– ancora?! non possiamo farlo ogni due ore!«, das heißt, der Leser wird auf indirektem Wege über die erzählte Zeit orientiert. Das Finale schließlich läuft auf ein da capo hinaus, zumindest wird das durch die semantische Refunktionalisierung des Knopfes angedeutet. Dabei wird der metaphorische Gebrauch des Audrucks bottone (Bedienelement einer Benutzeroberfläche) aus Zoppettis Ausgangsversion zurückübertragen und wie bei Queneau gemäß der konkreten denotativen Bedeutung verwendet: Hier geht es nicht um die Optimierung von Software, sondern um das (erneute) Aufknöpfen von Textilien, ein geistreicher Schlusspunkt, der über diese akuteske Pointe zugleich einen Blick auf die Machart von Textgewebe und -körper gewährt. Viele der oben genannten Themen beziehen ihren ästhetischen Mehrwert nicht zuletzt aus der Tatsache, dass sie auf die italienische Kultursphäre bezogen sind. Darunter fallen die bereits erwähnten, satirisch ausgerichteten Beiträge, außerdem Stilübungen auf der Basis sprachlicher Varietäten (zum Beispiel »Stile leggenda metropolitana. A Roma«, »Butch de borgata«, »Stile Maradona«) sowie Parodien und Pastiches der klassischen italienischen Literatur (»Divina Commedia«, »Decamerone«, »Leopardi«). Wir übergehen diese Beispiele und wenden uns stattdessen aus heuristischen Gründen einer dritten Gruppe von Texten zu, weil diese überdeutliche Spuren einer Reflexion hypertextueller Artikulationsformen an und für sich aufweisen, wodurch sie ein Spezifikum ausbilden und sich zudem fundamental von Queneaus Exercices unterscheiden. Bei Queneau spielen technische Medien bis auf eine einzige Ausnahme überhaupt keine Rolle. Diese Ausnahme bildet ein Exercice namens »T8l8graphique« (Queneau 1990: 95), das in Queneaus nostalgischer Welt bezeichnender Weise auf ein Medium bezogen ist, das im 18. Jahrhundert erfunden wurde, im 19. Jahrhundert zum bedeutendsten Mittel der Fernkommunikation aufstieg, jedoch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Exercices de style bereits erheblich an Bedeutung eingebüßt hatte. Bemerkenswert ist immerhin die Tatsache, dass »T8l8graphique« unter den 99 Queneauschen Stilübungen das einzige Beispiel darstellt, in welchem die typographische Gestaltung eine Rolle spielt, insofern ausschließlich tualiter von Seiten der romanistischen Linguistik ins Visier genommen. Vgl. hierzu Fesenmeier (2013). 217 Berühmte literarische Beispiele bieten die Szenen des Errötens und der Ohnmacht bei Heinrich von Kleist, die Kutschfahrten in D’Annunzios Il piacere, in Flauberts Madame Bovary oder auch die Inselszene in Maupassants Une partie de campagne.
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Majuskeln zum Einsatz kommen – und just dieses weite Feld der Schriftinszenierung sollten Zoppettis Autoren im Unterschied zu Queneau nach den Regeln der Kunst nutzen: zur Erzeugung plurimedialer Sekundäreffekte im Falle traditioneller Stilübungen einerseits, zur Nachahmung und Konterkarierung jüngerer Formen sekundärer Literalität andererseits. Wenn letztgenannten Formen nachstehend unsere Aufmerksamkeit gilt, dann deshalb, weil – so meine abschließende These – die Koautoren in Zoppettis hypertextuellem Mitschreibprojekt sich zwar auf innovative Weise rezenter Hypertextformen bedienen, diese aber zugleich in selbstbezüglicher Weise ausstellen und dabei auch einer kritischen Reflexion unterziehen, was man in anderen Worten auch so formulieren könnte: Die Hypertextliteratur überholt dank softwareergonomischer Eloquenz und einer dadurch freigesetzten dynamischen Schwarmintelligenz tradierte Formen des kollaborativen Schreibens – dabei en passant einen kanonischen Text der Gutenbergepoche überbietend –, um sich im kritischen Selbstbezug auf die eigenen medialen Möglichkeitsbedingungen und schließlich sogar auf das akualiter entstehende Werk zurückzuwenden. Auf der Makroebene ist der Selbstbezug schon dadurch gegeben, dass Queneaus Ausgangsversion »Notations« in die italienische blogosfera übertragen wurde, wodurch Mittel und Gegenstand der Darstellung zusammenfallen. Diese neue Ausgangsgeschichte wird dann ihrerseits zum Ausgangspunkt für thematisch-stilistische Variationen, die dabei u. a. auch auf folgende Themen, Formen und Formate neomedialer sekundärer Schriftlichkeit zurückgreifen: Thematisiert werden die Weiten des digitalen Raums in den Variationen »Cyberpunk«, der Parodie des ersten Cyberromans Neuromancer (1984) von William Gibson,218 »Superechelon (supereroe)«, der Nachschöpfung eines digitalen Marvel-Helden sowie »Virus informatico«, einem per se virulenten User-Thema. Die vergleichsweise umfangreiche Liste an sekundärschriftlichen Formen und Formaten kann als eindeutiger Beleg dafür gelten, dass ebendiese hypertextuellen Artikulationen im Jahr 2004, – während die letzten der über 300 esercizi entstehen – als gängige Textmuster in der sekundärschriftlichen res publica literaria nicht nur angekommen, sondern bereits verinnerlicht waren, andernfalls hätte das Autorenkollektiv keinen Gebrauch zweiten Grades in nachstehenden Stilübungen machen können: » STYLE«, »sms«, »bloggers«, »Spam«, »Word: sunto automatico al 25 %«, »Runtime error«, »Codice binario style«, »Ascii art«, »Crazy sytes [sic]«, »Diagramma di flusso«, »E-Mail«, »Emoticon asiatici«, »Stile generatore automatico di esercizi de stile«. Wie aber positionieren sich die literarischen Koautoren gegenüber ihren eigenen Arti-
218 Vgl. hierzu den Abschnitt »Das digitalmoderne Erhabene: zur Rhetorik des Unermesslichen« (= 1.2.1).
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kulationsvoraussetzungen? Zur Beantwortung dieser Frage sei ein Blick auf das erstgenannte Beispiel gestattet: ESERCIZI DI STILE BLOG: 19 STYLE
html stile
Shynistat indicava un numero impressionante di pagewiew [sic] quel pomeriggio… e tutti indirizzi IP diversi! Stavo controllando gli aggiornamenti dei blog e sono finito su Splinder che ospitava un template interessante perch8 si appoggiava a delle routine programmate in asp che erano in grado di gestire delle .jpg sincronizzate con files mp3. E su questo sito c’erano dei link a delle risorse per implemetare [sic] i blog molto ben fatte.
La gestione dei commenti ai post, invece, era html puro. Aprendo un commento a caso si vedeva chiaramente… e anche la risposta che il blogger lasciava tecnicamente era identica.
PiF tardi, mentre facevo un altro giro in rete, con un nuovo indirizzo IP, perch8 mi ero riconnesso con un altro provider, sono finito su un sito realizzato in flash, e ho notato che dallo stesso indirizzo e-mail del blog di prima era partito un messaggio che segnalava un bug. In pratica, dopo avere skippato l’intro, e la welcome page, una volta finiti nell’home page non veniva data la possibilit/ di ritornare alla welcome, nH di rivedere l’intro, in quanto mancava un bottone o un semplice link che si sarebbe dovuto trovare di fianco all’icona della home.