Transgression und Devianz in der antiken Welt [1. Aufl.] 9783476055071, 9783476055088

Durch Normen wird gesellschaftliches Zusammenleben ermöglicht und reguliert. Welche Handlungen als Transgressionen von N

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German Pages IX, 204 [208] Year 2020

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Transgression und Devianz in der antiken Welt [1. Aufl.]
 9783476055071, 9783476055088

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Die Darstellung von Normtransgressionen und deviantem Verhalten in antiken Gesellschaften (Lennart Gilhaus)....Pages 1-5
Der Tragiker Agathon bei Aristophanes und Platon (Beatrice Gavazza)....Pages 7-20
Transformation oder Transgression? (Anne Gürlach)....Pages 21-43
Gerechter Lohn – gerechte Strafe? (Anja Pfeiffer)....Pages 45-74
When is Revolt not Revolting? (Imogen Herrad)....Pages 75-92
Sanguine non modo se non contaminarunt, sed etiam honestarunt (Janico Albrecht)....Pages 93-120
Transgressionen bei Lucan (Philipp Brockkötter)....Pages 121-141
Dux femina (Marie Joselin Düsenberg)....Pages 143-167
Ästhetische Transgressionen in der antiken Kunst am Beispiel bemalter Skulpturen (Katharina Ute Mann)....Pages 169-195
Back Matter ....Pages 197-204

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Lennart Gilhaus / Imogen Herrad Michael Meurer / Anja Pfeiffer (Hg.)

Transgression und Devianz in der antiken Welt SCHRIFTEN ZUR ALTEN GESCHICHTE

Schriften zur Alten Geschichte

In dieser Reihe erscheinen Monographien und Sammelbände aus der aktuellen althistorischen und altertumswissenschaftlichen Forschung. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16092

Lennart Gilhaus · Imogen Herrad · Michael Meurer · Anja Pfeiffer (Hrsg.)

Transgression und Devianz in der antiken Welt

Hrsg. Lennart Gilhaus Institut für Geschichtswissenschaft Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Deutschland

Imogen Herrad Bonn Center Dependency and Slavery Studies, University of Bonn Bonn, Deutschland

Michael Meurer Institut für Geschichtswissenschaft Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Deutschland

Anja Pfeiffer Historisches Institut Universität Duisburg-Essen Essen, Deutschland

ISSN 2524-4280 ISSN 2524-4299  (electronic) Schriften zur Alten Geschichte ISBN 978-3-476-05507-1 ISBN 978-3-476-05508-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05508-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Oliver Schütze J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhaltsverzeichnis

Die Darstellung von Normtransgressionen und deviantem Verhalten in antiken Gesellschaften – Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Lennart Gilhaus Der Tragiker Agathon bei Aristophanes und Platon – Der dramatische Aufbau eines devianten Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Beatrice Gavazza Transformation oder Transgression? Initiationsund Übergangsrituale im attischen Artemis-Kult. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Anne Gürlach Gerechter Lohn – gerechte Strafe? Religiöse Normen, Normtransgressionen und deren Folgen in Xenophons Hellenika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Anja Pfeiffer When is Revolt not Revolting? Rule–breaking and Revolt in Sparta in Plutarch’s Lives. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Imogen Herrad Sanguine non modo se non contaminarunt, sed etiam honestarunt – Die religiöse Devianz des furor und Ciceros Umgang mit dem Tod der Gracchen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Janico Albrecht Transgressionen bei Lucan – Ein notwendiges Übel?. . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Philipp Brockkötter Dux femina – Transgressive Frauen bei Tacitus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Marie Joselin Düsenberg Ästhetische Transgressionen in der antiken Kunst am Beispiel bemalter Skulpturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Katharina Ute Mann Quellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 V

Autorenverzeichnis

Janico Albrecht  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn. In seiner Dissertation hat er sich mit den religiösen Performanzen republikanischer Feldherren und der religiösen Medialisierung des Krieges auseinandergesetzt. Janico Albrecht  works as resarch assissent at the University of Bonn. In his PhD thesis he analysed the religious perfomances of generals and the religious medialisation of war in the Roman Republic. Philipp Brockkötter  ist Doktorand am International Graduate Centre for the S ­ tudy of Culture an der JLU Gießen. Der Arbeitstitel seiner Dissertation lautet „Imitatio Augusti. Vergangenheitsbezüge in Julisch-Claudischer Zeit“. Philipp Brockkötter  is a PhD student at the International Graduate Centre for the Study of Culture at the JLU Gießen. His thesis topic is „Imitatio Augusti. References to the past in the Julio- Claudian Period”. Marie Joselin Düsenberg  ist wissenschaftliche Redakteurin beim altertumswissenschaftlichen Excellenzcluster Topoi. Sie absolvierte ihr Masterstudium der ­Alten Geschichte an der Freien Universität Berlin und beschäftigt sich vorrangig mit ­römischer Historiographie und Geschlechtergeschichte. Marie Joselin Düsenberg  is a academic editor at the Cluster of Excellence Topoi which focuses on the ancient world. She completed her master’s degree in Ancient History at the Free University of Berlin and is primarily interested in Roman historiography and gender history. Beatrice Gavazza  ist Doktorandin an der Università degli Studi di Perugia und an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die attische Tragödie im klassischen Griechenland, dionysische Kulte und die damit verbundene Mythologie.

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Autorenverzeichnis

Beatrice Gavazza  is a PhD candidate at Perugia University and the Albert-Ludwig University of Freiburg. Her research interests include Attic tragedy in the Classical period, the cults of Dionysius, and Dionysiac mythology. Dr. Lennart Gilhaus  arbeitet als akademischer Rat a. Z. am Institut für Geschichtswissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Gewaltgeschichte der Antike, das römische Nordafrika sowie Alexander der Große. Dr. Lennart Gilhaus  works as assistant professor in the Department of History at the University of Bonn. His research interests include the history of violence in antiquity, Roman North Africa and Alexander the Great. Anne Gürlach ist Doktorandin der Klassischen Archäologie an der Universität Rostock. Ihr Dissertationsprojekt wird durch ein Promotionsstipendium der Landesgraduiertenförderung Mecklenburg-Vorpommern gefördert. Zur ihren Forschungsinteressen zählen u. a. Kultaktivitäten in Heiligtümern sowie die museale und ­didaktische Konzeption archäologischer Sammlungen. Anne Gürlach is a PhD student in Classical Archeology at the University of Rostock. Her dissertation project is funded by a doctoral scholarship from the Landesgraduiertenförderung Mecklenburg-Vorpommern. Her research interests include cult ­activities in sanctuaries, as well as museal and didactic conceptions of archaeological collections. Imogen Herrad ist Lektorin und Übersetzerin beim Exzellenzcluster „Beyond Slavery and Freedom: Asymmetrical Dependencies in Pre-Modern Societies“ an der Universität Bonn und promoviert zu politischem Ungehorsam und Devianz in der römischen Republik und in Sparta. Zu ihren Forschungsinteressen zählen ­außerdem antike Frauen- und Gendergeschichte. Imogen Herrad is academic editor and translator for the Cluster of ­Excellence „Beyond Slavery and Freedom: Asymmetrical Dependencies in Pre-Modern ­Societies” at the University of Bonn, and a mature PhD student. Her thesis topic is political disobedience and deviance in Sparta and in Republican Rome. Her research interests also include women’s and gender history in antiquity. Dr. Katharina Ute Mann  studierte von 2000 bis 2006 an der Kunstakademie Düsseldorf. Nach ihrem Studium der Kunstgeschichte erwarb sie 2013 den Doktortitel der Universität zu Köln und Akademia Ignatianum in Krakau (Cotutela). Seit 2013 arbeitet sie an ihrem Postdoc-Projekt.

Autorenverzeichnis

IX

Dr. Katharina Ute Mann studied from 2000‒2006 at the Academy of Arts, ­ üsseldorf. She obtained a doctorate 2013 in Art History at the University of D ­Cologne and Akademia Ignatianum in Krakow (Cotutela). She has been working on her post-doc project since 2013. Michael Meurer  promoviert am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn über die gesellschaftlichen Strukturen spätantiker gentes. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören das römische ­Gallien und Nordafrika. Michael Meurer  is a PhD student in the Department of History at the University of Bonn and writes his thesis about the social structures of late antique gentes. His research interests include Roman Gaul and Roman North Africa. Anja Pfeiffer ist Doktorandin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören das Privatrecht sowie Familienstrukturen und Verwandtschaftsnetzwerke im archaischen und klassischen Griechenland. Anja Pfeiffer  is a PhD student and research assistant in the Department of History at the University of Duisburg-Essen. Her main research interests are civil law, ­family structures and kinship networks in archaic and classical Greece.

Die Darstellung von Normtransgressionen und deviantem Verhalten in antiken Gesellschaften Eine Einleitung Lennart Gilhaus

Zusammenfassung

Durch Normen wird gesellschaftliches Zusammenleben ermöglicht und reguliert. Welche Handlungen als Transgressionen von Normen etikettiert und sanktioniert werden, ist das Resultat sozialer Aushandlungsprozesse und abhängig von verschiedenen Faktoren. Im Sammelband wird daher der Frage nachgegangen, wie Normtransgressionen in antiken Gesellschaften wahrgenommen, dargestellt und verarbeitet wurden. Die Beiträge können deutlich zeigen, wie die Grenzen zwischen Konformität und Devianz je nach Zusammenhang anders gezogen und neu ausgehandelt wurden. Abstract

Human social coexistence is made possible and regulated by norms. Actions can be considered acceptable or labelled and penalised as transgressive as a result of social processes of negotiation, which depend on a variety of factors. The essays in this collection explore the question of how ancient societies perceived, portrayed and understood transgressions. In their case studies, the contributors show how boundaries between conformity and deviance were always being (re)drawn and (re)negotiated, depending on the context.

L. Gilhaus (*)  Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung Alte Geschichte, Rheinische FriedrichWilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Gilhaus et al. (Hrsg.), Transgression und Devianz in der antiken Welt, Schriften zur Alten Geschichte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05508-8_1

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L. Gilhaus

Ohne allgemein anerkannte Regeln, nach denen man das eigene Handeln ausrichtet, können gesellschaftliches Zusammenleben und Interaktionen zwischen sozialen Gruppen nicht dauerhaft funktionieren.1 Über Normen werden Erwartungen von Gesellschaften für konkrete Handlungen formuliert, sie sind als Handlungsanweisungen für Individuen und Gruppen zu betrachten. Normen sollen die soziale Interaktion vorhersagbar und berechenbar machen und dienen der Komplexitätsreduktion im sozialen Miteinander, indem sie Handlungsoptionen als erwünscht oder unerwünscht markieren. Damit Normen ihre verhaltensregulierende Wirkung entfalten können, müssen sie nicht nur gesellschaftlich akzeptiert sein, sondern auch internalisiert werden. Normtransgressionen müssen daher auch immer ein Risiko auf Sanktion in sich tragen. Gesellschaften bilden differenzierte Normensysteme aus. So können Normen einen unterschiedlichen Grad an Verbindlichkeit haben oder nur für bestimmte Teilfelder, Kontexte, Gruppen und Rollen gelten. In konkreten Situationen können sich Normen daher auch widersprechen und unterschiedliche Handlungsweisen nahelegen, woraus auch Dysfunktionalitäten entstehen können und Verhalten gerade unberechenbarer wird.2 Weil aber Normen auch in hierarchischen Verhältnissen zueinander stehen, lassen sich solche Widersprüche häufig auflösen. Daher werden nicht alle Regelbrüche immer als die Ordnung gefährdende Transgressionen betrachtet, da weniger zentrale Normen zur Wahrung übergeordneter Prinzipien verletzt werden können. Wann und wie Verhalten als Transgression etikettiert und auch als solche bestraft wird, ist folglich ein Resultat sozialer Aushandlungsprozesse.3 Auf jeden Fall verdeutlichen Brüche und Regelkonflikte überhaupt erst die Grenzen des bestehenden Normsystems; denn Transgressionen machen die Normen überhaupt erst sichtbar und zwingen zu Entscheidungen. Ein und dasselbe Verhalten kann daher je nach handelnder Person und Situation sanktioniert, toleriert oder befürwortet werden. Normübertretungen werden, insbesondere wenn sie eklatante Verstöße gegen die akzeptierten Moralvorstellungen darstellen, als negativ und systemgefährdend wahrgenommen, Transgressionen können aber auch das bestehende Normsystem stabilisieren, weil sie dazu beitragen, die zugrundliegenden Regeln einzuschärfen. Deviantes Verhalten kann aber auch, wenn es wiederholt nicht sanktioniert wird, zur neuen Normalität werden und neue Normen schaffen und somit auch Handlungen, die bisher als normkonform galten, als Transgressionen erscheinen lassen.4

1Vgl.

zur Definition und Funktion sozialer Normen grundsätzlich Popitz 1980 und Popitz 2006. Regelkonflikten aus Perspektive der Altertumswissenschaften vgl. Lundgreen 2011, 29–50 und Lundgreen 2017; vgl. auch die terminologischen Überlegungen von Hölkeskamp 2019. 3Stellvertretend für die reichhaltige soziologische und pädagogische Forschung zur Devianz vgl. die Einführung in die verschiedenen Theorien bei Lamnek 2017a und Lamnek 2017b; vgl. auch Dollinger/Raithel 2006. 4Vgl. mit ähnlichen Überlegungen anhand frühneuzeitlicher Beispiele Schwerhoff 2004 sowie Beiträge und die einleitenden Überlegungen in Hölkeskamp et al. 2019. 2Zu

Einleitung

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Die Beiträge dieses Sammelbandes wenden sich weniger der Frage zu, warum Menschen gegen bestehende Normen verstoßen, sondern untersuchen vor allem Wahrnehmung, Darstellung und gesellschaftlichen Umgang mit Transgressionen. Mehrere Beiträge untersuchen dabei, wie antike Autoren abweichendes Verhalten konstruieren und welche Absichten sie mit der Darstellung von Transgressionen verfolgen. So vergleicht Beatrice Gavazza die unterschiedlichen Bewertungen von Agathons homosexuellen Beziehungen bei Platon und Aristophanes. Sie zeigt, dass das sexuelle Verhalten und Auftreten des Tragödiendichters insbesondere in intellektuellen Kreisen der Elite durchaus positiv gewertet werden konnte, während in der Komödie klargestellt wird, dass Agathon den Männlichkeitsidealen seiner Zeit nicht entsprach. Anne Gürlach betrachtet aus archäologischer Perspektive den Artemis-Kult von Brauron. Mit der Göttin und dem Heiligtum waren rites de passages des jungen Mädchens zur Frau verbunden. Damit waren nicht nur körperliche, sondern vor allem soziale Veränderungen in der Rolle der jungen Athenerinnen verbunden. Während der Übergangsrituale wurden geltende Konventionen und Normen überschritten und außer Kraft gesetzt, um die Transformation der Mädchen zu verdeutlichen und damit auch auf ihre Rolle als Frau und zukünftige Mutter vorzubereiten. Gerade diese kontrollierten Transgressionen erlaubten die Einschärfung des bestehenden Normensystems. Anja Pfeiffer untersucht, wie und unter welchen Umständen Xenophon in den Hellenika Verstöße gegen religiöse Normen als solche markiert. Auf Transgressionen folgen bei Xenophon durchaus nicht zwangsläufig göttliche und menschliche Bestrafungen. Pfeiffer kann vielmehr feststellen, dass der Historiker religiöse Vergehen nur dann ausgestaltet, wenn sie der Charakterisierung der Akteure dienen und Handlungen gegen Transgressoren als gerechte Strafaktionen eines vorbildlichen Anführers gekennzeichnet werden sollen. Imogen Herrad widmet sich der Darstellung von revolutionären Handlungen in den Viten berühmter Spartaner bei Plutarch. Sie kann feststellen, dass es für Plutarchs Darstellung und Bewertung viel wichtiger war, welche Ziele die Akteure verfolgten und welchen sozialen Rang diese innehatten als die Wahl der Mittel. Während nämlich gewalttätige Handlungen von Königen und Aristokraten, die das spartanische System mit Gewalt stabilisieren wollten, als legitim angesehen werden, sind für Plutarch Aktionen aus dem Volk, die sich gegen den Status quo richten, immer abzulehnen. Zur Erhaltung des Normsystems dürfen nach Plutarch also auch schwere Normbrüche begangen werden. Ciceros Darstellung des Tribunenmords ist der Untersuchungsgegenstand von Janico Albrechts Beitrag. Cicero rechtfertigt den schweren Tabubruch der Tötung des eigentlich unantastbaren Tribuns nicht mit dem Motiv des furor tribunicius, sondern hebt vor allem die staatsrechtliche Notwendigkeit des Tribunizids hervor. Der Schutz des Tribuns wird in Ciceros Argumentation durch höhere Normen außer Kraft gesetzt. Philipp Brockkötter setzt sich mit Normtransgressionen in Lucans Pharsalia auseinander. All seine Protagonisten überschreiten Grenzen und ihre Handlungen

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L. Gilhaus

werden als ambivalent dargestellt. Neben anderen Persönlichkeiten wird vor allem Caesar als Transgressor dargestellt, gerade er handelt aber sehr erfolgreich. Normbrüche in der Bürgerkriegszeit sind in Lucans Werk ein „notwendiges Übel“, um das Normsystem des Prinzipats zu schaffen. Durch den erinnernden Rückgriff auf die Bürgerkriege reflektiert Lucan auch die versuchte Umgestaltung der kaiserlichen Rolle durch Nero. Die literarische Ausgestaltung von Akteurinnen in Machtpositionen in Tactius’ Geschichtswerken wird von Joselin Düsenberg untersucht. Sie stellt fest, dass Frauen überhaupt nur auftreten, wenn sie Grenzen überschreiten. Insbesondere die duces feminae Agrippina und Boudicca werden mit ansonsten typisch männlichen Attributen charakterisiert und gerade die Verkehrung der Geschlechterrollen macht die Transgression der Frauen deutlich. Transgressionen anderer Art analysiert in übergreifender Perspektive Katharina Mann. Sie untersucht Übertretungen ästhetischer Normen und das Innovationspotential der antiken Malerei im antiken Griechenland, Ägypten und China und zeigt, wie die Veränderungen in Maltechnik und Farbgebung mit gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden waren. In der Zusammenschau der Beiträge lassen sich einige Grundtendenzen im literarischen und gesellschaftlichen Umgang mit Transgressionen in den untersuchten gesellschaftlichen Zusammenhängen erkennen. Die Darstellung und Ausgestaltung von transgressiven Handlungen erfüllen bei antiken Autoren konkrete literarische Funktionen. Daher kann ein und dasselbe Verhalten bei unterschiedlichen Autoren oder sogar innerhalb eines Werkes als Transgression erscheinen, übergangen oder gerechtfertigt werden. Die hier untersuchten Autoren konstruieren Normenhierarchien, spielen Verhaltensregeln gegeneinander aus oder bestreiten die Geltung bestimmter Normen in konkreten Zusammenhängen. Deutlich werden in allen Fällen Bruchkanten und Grenzen des bestehenden Normsystems aufgezeigt und so einerseits die evozierten Normen eingeschärft. Andererseits können Regelbrüche aber auch legitimiert werden. Dabei lassen sich durchaus divergierende Intentionen beobachten. Während etwa Lucan im erinnernden Rückgriff auf die Bürgerkriegszeit gerade die auf Veränderung abzielende Politik Neros legitimieren will, ist etwa Xenophon bestrebt, die hergebrachten Normen zu bewahren, und steht den Entwicklungen seiner Zeit sehr kritisch gegenüber. Dafür führt er seinen Lesern vorbildliche und nachahmenswerte Personen, aber zugleich auch abschreckende Beispiele vor. Eine ähnliche Vorgehensweise wählt auch Plutarch, der Charaktere, die den Status quo bewahren wollen als positiv darstellt, egal welche Mittel sie dabei benutzen. Auch Cicero will das Normsystem bewahren, argumentiert dabei aber gänzlich anders als seine Zeitgenossen. Inwiefern die untersuchten Autoren nur Einzelmeinungen wie Cicero oder die communis opinio vertreten, ist nicht immer klar. Ohnehin bieten die Autoren immer nur einen sehr eingeschränkten Blickwinkel und Veränderungen in einem Bereich können ungeahnte Folgen in anderen Feldern haben, wie das komplexe Verhältnis zwischen gesellschaftlicher und künstlerischer Entwicklung zeigt. Zudem wird etwa am Beispiel des Tragikers Agathon deutlich, dass Gesellschaften nicht über einheitliche Normsysteme verfügen, sondern

Einleitung

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Partikularnormen nebeneinander und im Widerspruch zueinander gleichzeitig gelten können. Entsprechend erscheinen auch bei Männern positiv konnotierte Attribute in der Zuschreibung zu Frauen negativ, wie Tacitus nachdrücklich beschreibt. Wie die archäologischen Zeugnisse zeigen, gibt es in Gesellschaften aber auch immer bestimmte Situationen und Räume, in denen etwa Frauen außerhalb hergebrachter Rollen agieren. Allerdings wird das bestehende Normensystem niemals grundsätzlich oder höchstens im Nachhinein, nach einer bereits vollzogenen Veränderung, infrage gestellt. Die untersuchten Kontexte zeigen, dass die Grenzen zwischen Devianz und Konformität fließend waren und ständig neu ausgehandelt wurden. Gerade anhand der literarischen Verarbeitung von Transgressionen und in sozialen Grenzbereichen und -situationen lassen sich diese inhärenten Dynamiken von Gesellschaften deutlich erkennen.

Literatur Dollinger, B./Raithel, J.: Einführung in die Theorien abweichenden Verhaltens. Weinheim/Basel 2006. Hölkeskamp, K.-J. et al. (Hg.): Die Grenzen des Prinzips. Die Infragestellung von Werten durch Regelverstöße in antiken Gesellschaften. Stuttgart 2019. Hölkeskamp, K.-J.: Prinzip – Regel – Norm – Wert. Unabgeschlossene Bemerkungen zu Konzepten und Kategorien. In: K.-J. Hölkeskamp et al. (Hg.): Die Grenzen des Prinzips. Die Infragestellung von Werten durch Regelverstöße in antiken Gesellschaften. Stuttgart 2019, 20–24. Lamnek, S.: Theorien abweichenden Verhaltens, Teil 1. „Klassische Ansätze“. Paderborn 102017a. Lamnek, S.: Theorien abweichenden Verhaltens, Teil 2. „Moderne Ansätze“. Paderborn 42017b. Lundgreen, C.: Regelkonflikte in der römischen Republik. Geltung und Gewichtung von Normen in politischen Entscheidungsprozessen. Stuttgart 2011. Lundgreen, C.: Norme, loi, règle, coutume, tradition: terminologie antique et perspectives modernes. In: T. Itgenshorst/P. Le Doze (Hg.): La norme sous la République et le ­Haut-Empire romains. Élaboration, diffusion et contournements. Bordeaux 2017, 17–33. Popitz, H.: Die normative Konstruktion von Gesellschaft. Tübingen 1980. Popitz, H.: Soziale Normen. Frankfurt a. M. 2006. Schwerhoff, G.: Institutionelle Ordnungen und die Konstruktion von Devianz. Konzeptuelle Überlegungen und frühneuzeitliche Beispiele. In: J. Guilbaud et al. (Hg.): Normes culturelles et construction de la déviance. Accusations et procès antijudaïques et antisémites à l’époque moderne et contemporaine. Actes des journées d’etudes organisées à Paris, les 6 et 7 juin 2003. Paris 2004, 7–26.

Der Tragiker Agathon bei Aristophanes und Platon Der dramatische Aufbau eines devianten Verhaltens Beatrice Gavazza

Zusammenfassung

Der Tragödiendichter Agathon, der am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Athen tätig war, galt in der Antike als Erneuerer der tragischen Gattung. Seine für die Tragödie innovative Musik wird in einer von Aristophanes’ Komödien, den Thesmophoriazusen, parodiert. Platon ahmt Agathons rhetorische Redeweise im Symposion nach. Beide Texte stellen die Sexualität Agathons in den Fokus und zeigen, dass Agathon die passive sexuelle Rolle zugeteilt wird. Während das sexuelle Verhalten von Agathon bei Platon keine Devianz darstellt, wird genau dieselbe passive Rolle bei Aristophanes als normabweichend hervorgehoben und verspottet. In diesem Beitrag soll anhand der Texte von Aristophanes und Platon untersucht werden, unter welchen Bedingungen dasselbe Verhalten einerseits als positiv und musterhaft geschildert wird, unter welchen andererseits als deviant. Abstract

The Athenian tragic poet Agathon (c. 448-c. 400 BC) was considered by the ancients an innovator in tragedy. Agathon’s ‘new’ music is mocked by Aristophanes in the comedy Thesmophoriazousae. Plato in the Symposium portrays Agathon as a cunning rhetorician. Both authors focus on Agathon’s sexuality and depict him as passive partner. For Plato there is no deviance in Agathon’s sexual behaviour, whereas Aristophanes spotlights and ridicules it as abnormal. The aim of this paper is to examine the characterization of Agathon in the Thesmophoriazousae and in the Symposium and to show how the same behaviour is depicted as deviant in the one case and customary in the other.

B. Gavazza (*)  Dipartimento di Lettere, Università degli Studi di Perugia, Perugia, Italien © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Gilhaus et al. (Hrsg.), Transgression und Devianz in der antiken Welt, Schriften zur Alten Geschichte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05508-8_2

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B. Gavazza

1 Einleitung Der Tragödiendichter Agathon, der am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Athen tätig war, galt in der Antike als Erneuerer der tragischen Gattung. Seine für die Tragödie innovative Musik wird in einer von Aristophanes’ Komödien, den Thesmophoriazusen, parodiert. Platon ahmt Agathons rhetorische Redeweise im Symposion nach. Es handelt sich um einen von der sophistischen Rhetorik stark beeinflussten Stil, der insbesondere durch den Einfluss des Rhetors Gorgias geprägt war. Von Agathons Tragödien sind nur Fragmente überliefert1 und heute ist keine befriedigende Rekonstruktion seines Werkes mehr möglich. Durch die Überlieferung bei Aristophanes und Platon bleibt Agathon trotzdem eine spannende Figur. Wir haben nämlich die Möglichkeit, den Tragödiendichter im Spiegel der Meinungen seiner Zeitgenossen zu sehen. Wir müssen natürlich in Betracht ziehen, dass Aristophanes die Parodie auf Agathon für das Vergnügen eines breiten Publikums auf die Bühne bringt und dass Platon das Porträt des Tragödiendichters durch besonders affektierte Züge übertreibt. Weder die aristophanische Gestalt noch die platonische Agathon-Darstellung sind als neutral zu betrachten. Es fällt trotzdem auf, dass beide Texte die Sexualität Agathons in den Fokus stellen: die Thesmophoriazusen greifen Agathon auf dem Niveau der Geschlechtszugehörigkeit an, während er im Symposion zum Objekt erotischer Aufmerksamkeit und gutmütiger Auseinandersetzungen unter den anderen Teilnehmern wird. Beide Texte zeigen deutlich, dass Agathon die passive sexuelle Rolle zugeteilt wird:2 [Αγαθων] Δοκῶν γυναικῶν ἔργα νυκτερείσια κλέπτειν ὑϕαρπάζειν τε θήλειαν Κύπριν. [Κηδεστης] Ἰδού γε κλέπτειν· νὴ Δία, βινεῖσθαι μὲν οὖν. [Agathon] Ich wär verdächtig, der Frauen nächtliches Geschäft Zu stehlen und zu rauben den weiblichen Liebesreiz. [Euripides’ Verwandter] Ha, stehlen: dich bestoßen lassen doch, bei Zeus. Allein, der Grund, bei Zeus, ist freilich einzusehn. (Aristoph. Thesm. 204–2073) ὡς οὐ πάντα τούτου ἕνεκα εἰρηκώς, τοῦ ἐμὲ καὶ Ἀγάθωνα διαβάλλειν, οἰόμενος δεῖν ἐμὲ μὲν σοῦ ἐρᾶν καὶ μηδενὸς ἄλλου, Ἀγάθωνα δὲ ὑπὸ σοῦ ἐρᾶσθαι καὶ μηδ’ ὑϕ’ ἑνὸς ἄλλου.

1Gesammelt

zuletzt bei Snell/Kannicht 1986, 161–168. Thema der männlichen Homosexualität im antiken Griechenland (Auswahl): Dover 1978; Hubbard 2003 (Quellenwerk); Davidson 2007; Hubbard 2014. 3Aristophanes’ Texte werden hier in der Übersetzung von Rau wiedergegeben. 2Zum

Der Tragiker Agathon bei Aristophanes und Platon

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[Alkibiades an Sokrates] Als hättest du nicht alles zu dem Zweck gesagt, mich und Agathon zu entzweien, weil du meinst, ich dürfe nur dich lieben und niemand sonst, Agathon aber dürfe nur von dir geliebt werden und von niemand sonst. (Plat. symp. 222c7–d34)

Während das sexuelle Verhalten von Agathon bei Platon keine Devianz darstellt, wird genau dieselbe passive Rolle bei Aristophanes als normabweichend hervorgehoben und verspottet. Unter welchen Bedingungen wird dasselbe Verhalten in diesen zwei Werken einerseits als positiv und musterhaft geschildert, unter welchen andererseits als deviant? In meinem Beitrag werde ich die Texte von Aristophanes und Platon vergleichen und die unterschiedlichen Bewertungen von Agathons sexueller Rolle untersuchen. Ich werde dann anhand des Vergleichs zwischen den Thesmophoriazusen und dem Symposion prüfen, wie Aristophanes die Devianz seines ‚Agathon‘ im Text aufbaut. Die beiden relevanten Texte sollen hier kurz vorgestellt werden: Die Thesmophoriazusen handeln vom Bemühen des Tragikers Euripides, sein Leben vor dem Zorn der Athenerinnen zu retten. Die Frauen werfen ihm vor, dass er sie auf der Bühne in einem negativen Licht erscheinen gelassen habe, und planen deshalb, ihn zum Tode zu verurteilen. Euripides erfährt von diesem Plan und beschließt, dass Agathon sich als Frau verkleiden und ihn auf der Versammlung vor den anderen Frauen verteidigen solle – Agathon weigert sich aber. Die Aufgabe übernimmt stattdessen der alte Mnesilochos, ein Verwandter von Euripides. Im Symposion finden sich verschiedene Persönlichkeiten des sokratischen Kreises in Agathons Haus ein. Der Anlass des Gastmahls ist Agathons erster Sieg in einem tragischen Wettbewerb. Die Gäste beschließen, jeder eine Lobrede auf Eros zu halten. Nach einem kurzen Blick auf den historischen Kontext und die Biographie Agathons werde ich seine Darstellung und Charakterisierung bei Platon und Aristophanes vergleichen. Danach soll geprüft werden, welche Werturteile in den Quellen gefällt werden. Anhand der textuellen Kontexte versuche ich zu erschließen, unter welchen Umständen dasselbe Verhalten einerseits als musterhaft und andererseits als normabweichend dargestellt werden kann.

2 Päderastische Beziehungen Was die Chronologie betrifft, können wir auf Grundlage der überlieferten Angaben davon ausgehen, dass Agathon um das Jahr 450 v. Chr. geboren wurde. Platon soll das Symposium zwar um das Jahr 380 v. Chr. geschrieben haben, aber das fiktionale Datum der Handlung ist 416 v. Chr., als Agathon seinen ersten Sieg in einem tragischen Wettbewerb erreichte. 411 v. Chr. ist das wahrscheinlichste Aufführungsdatum von Aristophanes’ Thesmophoriazusen. Daher kann man davon

4Platons Texte werden hier in der Übersetzung von Boll (Symposion) und von K. Bayer und G. Bayer (Protagoras) wiedergegeben.

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B. Gavazza

ausgehen, dass Agathon sowohl im Symposion als auch in den Thesmophoriazusen kein Jüngling mehr, aber noch unter vierzig Jahren ist. In Platons Protagoras liest man die folgende Stelle: παρεκάθηντο δὲ αὐτῷ ἐπὶ ταῖς πλησίον κλίναις Παυσανίας τε ὁ ἐκ Κεραμέων καὶ μετὰ Παυσανίου νέον τι ἔτι μειράκιον, ὡς μὲν ἐγᾦμαι καλόν τε κἀγαθὸν τὴν ϕύσιν, τὴν δ’ οὖν ἰδέαν πάνυ καλός. ἔδοξα ἀκοῦσαι ὄνομα αὐτῷ εἶναι Ἀγάθωνα, καὶ οὐκ ἂν θαυμάζοιμι εἰ παιδικὰ Παυσανίου τυγχάνει ὤν. Bei ihm aber saßen auf Betten, die daneben standen, Pausanias aus Kerameis, und bei Pausanias ein Jüngelchen, meinem Eindruck nach mit ausgezeichneten körperlichen und geistigen Gaben ausgestattet, in seiner Erscheinung jedenfalls von großer Schönheit. Ich [Sokrates] glaube aber gehört zu haben er heiße Agathon, und es sollte mich nicht wundern, wenn er der Geliebte [paidiká] des Pausanias wäre. (Plat. Prot. 315d6–e3)

Sokrates, der gerade spricht, vermutet hier, der Jüngling Agathon sei paidikà von Pausanias; Pausanias erscheint auch im Symposion unter den Gästen und Rednern, und aus den folgenden Stellen erfahren wir, dass er immer noch Agathons Partner ist: οὔτε γὰρ ἄν που ἐγὼ ἀποϕήσαιμι, ὃς οὐδέν ϕημι ἄλλο ἐπίστασθαι ἢ τὰ ἐρωτικά, οὔτε που Ἀγάθων καὶ Παυσανίας […]. Denn weder könnte wohl ich selbst [Sokrates] es ablehnen, der ich, offen gesagt, mich nur in der Welt des Eros auskenne, noch vermutlich Agathon und Pausanias […]. (Plat. symp. 177d7–e1) καὶ μή μοι ὑπολάβῃ Ἐρυξίμαχος, κωμῳδῶν τὸν λόγον, ὡς Παυσανίαν καὶ Ἀγάθωνα λέγω – ἴσως μὲν γὰρ καὶ οὗτοι τούτων τυγχάνουσιν ὄντες καί εἰσιν ἀμϕότεροι τὴν ϕύσιν ἄρρενες […]. Und Eryximachos soll mir nicht ins Wort fallen, um sich über meine Rede lustig zu machen, als ob ich [Aristophanes] Pausanias und Agathon meinte – möglich zwar, daß sie auch dazu gehören und beide Manneswesen sind […]. (Plat. symp. 193b6–c2)

Paidikà ist abgeleitet von paĩs, ‚Junge‘. Die Zuneigung zum paĩs wird bereits in der klassischen Epoche mit dem Wort paiderastía bezeichnet und noch früher bezeugen Texte der archaischen Epoche die Knabenliebe als ein zumindest in der Dichtung gepriesenes Verhalten.5 In der klassischen Epoche bezeichnet paidikà wörtlich den ‚Geliebten‘ (der eine passive sexuelle Rolle einnimmt) im Rahmen einer erotischen Beziehung zwischen einem jüngeren männlichen Partner, der noch keinen Bart bekommen hat, und einem älteren (der die aktive Rolle innehat).6 Eine Stelle im Protagoras zeigt, dass der Bartwuchs die Grenzlinie zwischen Knabe und Mann zeichnet: 5Vgl. 6Vgl.

Dover 1978, 9–10. Dover 1978, 16.

Der Tragiker Agathon bei Aristophanes und Platon

11

Πόθεν, ὦ Σώκρατες, ϕαίνῃ; ἢ δῆλα δὴ ὅτι ἀπὸ κυνηγεσίου τοῦ περὶ τὴν Ἀλκιβιάδου ὥραν; καὶ μήν μοι καὶ πρῴην ἰδόντι καλὸς μὲν ἐϕαίνετο ἀνὴρ ἔτι, ἀνὴρ μέντοι, ὦ Σώκρατες, ὥς γ’ ἐν αὐτοῖς ἡμῖν εἰρῆσθαι, καὶ πώγωνος ἤδη ὑποπιμπλάμενος. Woher kommst du, Sokrates? Natürlich kommst du von der Jagd auf die jugendliche Schönheit des Alkibiades? Auch ich fand, als ich ihn kürzlich sah, er sei noch ein schöner Mann, ein Mann allerdings, Sokrates, unter uns gesagt, und mit einem schon immer dichter sprießenden Bart. (Plat. Prot. 309a1–5)

3 „Weiß wie eine Frau“ Im Symposion und den Thesmophoriazusen ist Agathon deutlich dem Jünglingsalter entwachsen. Trotzdem wird er im Symposion als neanískos7 (ein Synonym von néos, ‚jung‘) und meirákion8 bezeichnet. Meirákion gilt in medizinischen Texten als terminus technicus für junge Männer zwischen 14 und 21.9 Wir könnten annehmen, dass diese Termini ironisch gebraucht werden. Lesen wir aber noch den Text von Aristophanes, finden wir für Agathon nochmal die Appellative neaníske und paĩ (‚Kind‘): [Κηδεστης] Καί σ’, ὦ νεανίσκ’, εἴ τις εἶ, κατ’ Αἰσχύλον ἐκ τῆς Λυκουργείας ἐρέσθαι βούλομαι. Ποδαπὸς ὁ γύννις; Τίς πάτρα; Τίς ἡ στολή; Τίς ἡ τάραξις τοῦ βίου; Τί βάρβιτος λαλεῖ κροκωτῷ; Τί δὲ δορὰ κεκρυϕάλῳ; Τί λήκυθος καὶ στρόϕιον; Ὡς οὐ ξύμϕορα. Τίς δαὶ κατόπτρου καὶ ξίϕους κοινωνία; Σύ τ’ αὐτός, ὦ παῖ, πότερον ὡς ἀνὴρ τρέϕει; [Verwandter] Und so, mein Junge [neaníske], will ich dich nach Aischylos Aus seiner „Lykurgie“ befragen, wer du bist: „Woher der Weibling? Welche Herkunft? Welch Gewand?“ Welch Widerspruch der Lebensform? Was schwatzt die Laute Zum Safrankleid? Und was die Lyra zum Haarenetz? Und Salbentopf und Busenband? Das passt doch nicht. Was macht der Spiegel in Gesellschaft denn des Schwerts? Wer bist du selber, junger Mensch [paĩ]? Vielleicht ein Mann? (Aristoph. Thesm. 134–141)

7Plat.

symp. 198a2. symp. 223a1. 9Hippocr. hebd. 5, l. 16–22 Roscher (i.e. Phil. opif. mund. 105); Gal. san. tu. II,12,16. 8Plat.

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B. Gavazza

In den Versen 191–192. der Thesmophoriazusen lesen wir: [Eυριπιδης] σὺ δ’ εὐπρόσωπος, λευκός, ἐξυρημένος, γυναικόϕωνος, ἁπαλός, εὐπρεπὴς ἰδεῖν. [Euripides] Doch du bist schön von Angesicht [euprósōpos], weiß [leukós], glattrasiert [exyrēménos], Von weiblich hoher Stimme, zart, hübsch anzusehn. (Aristoph. Thesm. 191–192)

Agathon sei leukós, ‚weiß‘, und exyrēménos, ‚glattrasiert‘. Aus den Versen 218– 219 der Thesmophoriazusen erfahren wir, dass Agathon ein xyrón, ein Rasiermesser, besitzt: Agathon pflegt also, sein Gesicht zu rasieren, sodass seine Haut weiß, leukós, erscheint, wie die Haut einer Frau oder eines Jünglings, der noch keinen Bart bekommen hat. Was bedeutet die Rasur? Eine Antwort lässt sich in der Komödie selbst finden. In Vers 235 hat sich Mnesilochos den Bart rasieren lassen, um zum Thesmophorien-Fest als Frau verkleidet einzudringen, und schaut sich im Spiegel an: ‚Ich sehe wie Kleisthenes aus!‘, kommentiert er. Den Witz erklären uns die Scholien:10 Kleisthenes wird als gynnís bezeichnet – wir werden bald nochmal zu diesem Wort zurückkommen –, weil er sich schminkt und rasiert, sodass er weiß wie eine Frau oder wie ein jüngerer Mann aussieht. Auch ein Fragment von Theopompos, der zwischen dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. als Komödiendichter tätig war, ist diesbezüglich relevant: παρ’ ἐμοὶ τὰ λίαν μειράκια χαρίζεται τοῖς ἡλικιώταις. Bei mir pflegen diejenige, die zu lange Jüngling bleiben, ihren Gleichaltrigen Genuss zu bieten. (Theop. comicus Fr. 30 Kassel–Austin)

Der Ausdruck „zu lange Jüngling bleiben“ könnte den Versuch von Männern bezeichnen, Jugendeigenschaften beizubehalten, wie zum Beispiel ein glattes Gesicht. Ich folgere aus dem Fragment, dass die ‚zu-lange-Jüngling-Gebliebenen‘ erwachsene Männer sind, die das Aussehen eines meirákion zu erhalten versuchen und ihren Gleichaltrigen (d. h. anderen erwachsenen Männern) sexuellen Genuss bieten, da sie in homoerotischen Beziehungen eine passive Rolle spielen. Beide Texte stimmen zwar darin überein, dass Agathon jung und gut aussieht, vermitteln aber zwei entgegensetzte Wertbotschaften. Im Symposion wird Agathon mehrmals als kalós, ‚schön‘ und sogar als kállistos, ‚der Schönste‘, bezeichnet.11 Die Verwendung des Adjektivs kalós gibt aber mehr als ein ästhetisches Urteil.

10Schol.

vet. VEΓ2Γ3Θ in Aristoph. Equ. 1374a Jones–Wilson; Schol. R in Aristoph. Thesm. 575 Regtuit; Schol. vet. REΓLh in Aristoph. Ach. 118 Wilson. 11Plat. symp. 174a9; 212e8; 213c5.

Der Tragiker Agathon bei Aristophanes und Platon

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Wie wir es in der oben zitierten Protagoras’ Stelle12 lesen können, sagt kalós auch etwas über den Rang einer jungen Person aus: in Platons Werken sind nämlich jugendliche kalói kai agathói die jungen Abkömmlinge aristokratischer Familien. Sie ragen sowohl durch ihre Schönheit als auch durch ihre Vornehmheit hervor.13 Daher ist Platons Agathon nicht nur schön, sondern auch edel. Im Gegensatz dazu finden wir in den Thesmophoriazusen nie das Adjektiv kalós für Agathon. Der Tragiker wird hier als euprósōpos bezeichnet (V. 191, oben zitiert), das heißt, er sieht gut aus: es geht nur um ein ästhetisches Urteil. Weitere Details sind bei Aristophanes zu lesen: Agathon betritt die Bühne und Mnesilochos, Euripides’ Verwandter, erkennt ihn nicht als Mann, sondern behauptet, „Kyrene“ zu sehen.14 Die antiken Kommentare erklären, dass Kyrene eine berühmte Hetäre war.15 Kyrene ist im aristophanischen Werk auch in den Fröschen belegt, wo der Tragiker Aischylos die neue Musik von Euripides mit den sexuellen Leistungen der Kyrene vergleicht.16 Vermutlich gilt der Witz in den Thesmophoriazusen als doppeldeutig: Aristophanes erniedrigt sowohl Agathons Aussehen als auch seine Musik.17 Der Vergleich mit einer Hetäre hat in jedem Fall einen entwürdigenden Effekt. Kommen wir zum Wort gynnís zurück. Mnesilochos bezeichnet Agathon als gynnís, nachdem der Tragiker auf der Bühne erschienen ist und ein Lied gesungen hat. Als Reaktion auf Agathons Auftritt und Gesang zitiert Mnesilochos eine Stelle aus der aischyleischen Tetralogie Lykourgeia (Vv. 136–137, oben zitiert), und fragt: Woher du Weibling (gynnís)?18 Gynnís bezeichnet bei Aischylos den Gott Dionysos und muss bereits eine erniedrigende Bedeutung aufweisen, da der König Lykourgos diese Frage seinem Feind Dionysos stellt.19 Bei Aristophanes verstehen wir also gynnís in einem negativen Sinn als Bezeichnung für Männer, die zarte Züge oder ein effeminiertes Verhalten haben. In den aristophanischen Komödien steht der Ausdruck für eine Kategorie von Männern, die passive sexuelle Beziehungen zu anderen Männern vollziehen. Es gibt also passive Partner, Frauen und Jünglinge, die als ‚normal‘ gelten. Ein erwachsener Mann, der eine passive Rolle in einer Beziehung spielen möchte, orientiert sich an dieser Norm. Andere Komödienpassagen bestätigen diese Schlussfolgerung. Wir lesen in den aristophanischen Wolken einen Genuss-Katalog: [O ηττων λογος] σκέψαι γάρ, ὦ μειράκιον, ἐν τῷ σωϕρονεῖν ἅπαντα ἅνεστιν, ἡδονῶν θ’ ὅσων μέλλεις ἀποστερεῖσθαι· παίδων, γυναικῶν, κοττάβων, ὄψων, πότων, καχασμῶν. καίτοι τί σοι ζῆν ἄξιον, τούτων ἐὰν στερηθῇς; 12Plat.

Prot. 315d6–e3. Bourriot 1995, 236–237. 14Aristoph. Thesm. 97–98. Zum Thema der Maskulinität in der Antike vgl. Masterson 2014. 15Schol. R in Aristoph. Thesm. 101a Regtuit. 16Aristoph. Ran. 1327–1328. 17Vgl. Muecke 1982; Robson 2005. 18Aischyl. Fr. 61 Radt. 19Radt 1985, 182. 13Vgl.

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B. Gavazza [Unrechter Lógos] Denn sieh, mein Junge, was du hast von Sittsamkeit und Tugend, Und wieviel Freuden du dagegen wirst entbehren müssen, Die Knaben, Frauen, Würfelspiel und Schmausen, Zechen, Lachen; Wann hast du denn vom Leben, wenn du all dies musst entbehren? (Aristoph. Nub. 1071–1074)

Knaben und Frauen zählen zu den Genüssen, Männer hingegen nicht. In den Fröschen erkundigt sich Herakles nach der Begierde, die Dionysos quält: [Hρακλης] Πόθος; πόσος τις; [Dionyςoς] – Σμικρός, ἡλίκος Μόλων. [Hρ.] – Γυναικός; [Di.] – Οὐ δῆτ’. [Hρ.] – Ἀλλὰ παιδός; [Di.] – Οὐδαμῶς. [Hρ.] – Ἀλλ’ ἀνδρός; [Di.] – Ἀπαπαῖ. [Hρ.] – Ξυνεγένου τῷ Κλεισθένει; [Di.] – Μὴ σκῶπτέ μ’ […]. [Herakles] – Sehnsucht? Wie groß? [Dionysos] – Klein – nein, wie Molon riesengroß [Her.] – Nach einer Frau? [Di.] – Nein. [Her.] – Einem Knaben? [Di.] – Aber nein. [Her.] – Nach einem Mann? [Di.] – Ach, ach! [Her.] – Hattest du’s mit Kleisthenes? [Di.] – Mach dich nicht lustig [mē skōpté m’] (Aristoph. Ran. 55–58)

Geht es um eine Frau? Um einen Knaben? Um einen Mann? Um Kleisthenes, also um einen gynnís, ein Weibling? Die Fragen und die negativen Antworten bilden eine absteigende Klimax, vom Besseren zum Schlechteren, wie es die entnervte Antwort von Dionysos zu dieser letzten Option zeigt: „Mach dich nicht lustig“ (mē skōpté m’).

4 Der weise Agathon – Positive Beurteilungen Wir kommen nun zu der Beurteilung des sexuellen Verhaltens von Agathon in den Quellen. Wir betrachten die Stellungnahme der anderen Gestalten, die in Platons Symposion agieren, zu Agathons Figur. Δεῦρ’, ἔϕη ϕάναι, Σώκρατες, παρ’ ἐμὲ κατάκεισο, ἵνα καὶ τοῦ σοϕοῦ ἁπτόμενός σου ἀπολαύσω, ὅ σοι προσέστη ἐν τοῖς προθύροις. […] – […] Εὖ ἂν ἔχοι, ϕάναι, ὦ Ἀγάθων, εἰ τοιοῦτον εἴη ἡ σοϕία ὥστ’ ἐκ τοῦ πληρεστέρου εἰς τὸ κενώτερον ῥεῖν ἡμῶν, ἐὰν ἁπτώμεθα ἀλλήλων, ὥσπερ τὸ ἐν ταῖς κύλιξιν ὕδωρ τὸ διὰ τοῦ ἐρίου ῥέον ἐκ τῆς πληρεστέρας εἰς τὴν κενωτέραν. εἰ γὰρ οὕτως ἔχει καὶ ἡ σοϕία, πολλοῦ τιμῶμαι τὴν παρὰ σοὶ κατάκλισιν· οἶμαι γάρ με παρὰ σοῦ πολλῆς καὶ καλῆς σοϕίας πληρωθήσεσθαι. ἡ μὲν γὰρ ἐμὴ ϕαύλη τις ἂν εἴη, ἢ καὶ ἀμϕισβητήσιμος ὥσπερ ὄναρ οὖσα, ἡ δὲ σὴ λαμπρά τε καὶ πολλὴν ἐπίδοσιν ἔχουσα, ἥ γε παρὰ σοῦ νέου ὄντος οὕτω σϕόδρα ἐξέλαμψεν […]. Hierher, Sokrates, nimm neben mir Platz, damit ich [Agathon] auch noch von dem weisen Gedanken durch Berührung mit dir Gewinn habe, der dir im Vorhof gekommen ist […] – Das wäre schön, Agathon, wenn es mit der Weisheit [sophίa] so stünde, daß sie von dem Volleren von uns in den Leereren flösse, wenn wir einander berühren, wie das Wasser in den Bechern, das durch den Wollfaden aus dem volleren in den leereren fließt. Denn wenn

Der Tragiker Agathon bei Aristophanes und Platon

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es so auch mit der Weisheit steht, schlage ich den Platz neben dir hoch an; denn ich werde ja gewiß von dir mit vieler und schöner Weisheit angefüllt werden. Die meine ist ja wohl nur karg oder auch fragwürdig wie ein Traum, die deine aber strahlend […]. (Plat. symp. 175c7–e4)

Nach dieser Stelle aus Platons Symposion hält Agathon Sokrates für sophόs, während Sokrates andersherum die hervorragende sophίa, die Weisheit, von Agathon preist. Die Begriffe sophίa und sophόs20 stehen im Mittelpunkt der Diskussion, die im 5. Jahrhundert v. Chr. aus der Bildungsart der Sophisten entsteht: wer ist sophόs? was ist die wahre sophίa? Das Thema findet eine bedeutende Ausführung in dem platonischen Gesamtwerk und in einer kritischen Weise in der aristophanischen Komödie Die Wolken, um bei den hier behandelten Autoren zu bleiben. Wenn wir sophίa als Ausdruck für die sophistische Weisheit betrachten, erkennen wir, dass es sich in den Werken von Aristophanes und Platon auch um die rhetorische Weisheit handelt.21 Wie bereits erwähnt, stellt Platon Agathon im Symposion als Lehrling des Rhetors Gorgias dar. Obwohl Platon diese Art von sophistischer sophίa als zweifelhaft charakterisiert, zeigt er dennoch, dass Agathon ein hochgebildeter Intellektueller ist, der aus einem auserwählten Kreis stammt. Die anderen Gäste erkennen und preisen seine sophίa im Rahmen eines Zusammentreffens von Männern, die gemeinsame Werte teilen. Ich würde also das interne Publikum von Platons Symposion als ein sophoί-Publikum verstehen. Agathons Gäste sind nämlich hochgebildet, wir zählen darunter einen Rhetor, Phaidros, einen Arzt, Eryximachos, einen Philosophen, Sokrates und einen aristokratischen Feldherrn, Alkibiades. Aus den verschiedenen Reden zeichnet sich ab, dass sie insofern eine Vorstellung von der Liebe teilen, als sie sich darin einig sind, dass die Seele über den Körper zu stellen ist. Werfen wir einen Blick auf die wichtigsten Textstellen: a) καὶ οὗτός ἐστιν ὃν οἱ ϕαῦλοι τῶν ἀνθρώπων ἐρῶσιν. ἐρῶσι δὲ οἱ τοιοῦτοι πρῶτον μὲν οὐχ ἧττον γυναικῶν ἢ παίδων, ἔπειτα ὧν καὶ ἐρῶσι τῶν σωμάτων μᾶλλον ἢ τῶν ψυχῶν […]. ὁ δὲ τῆς Οὐρανίας πρῶτον μὲν οὐ μετεχούσης θήλεος ἀλλ’ ἄρρενος μόνον – καὶ ἔστιν οὗτος ὁ τῶν παίδων ἔρως – ἔπειτα πρεσβυτέρας, ὕβρεως ἀμοίρου· ὅθεν δὴ ἐπὶ τὸ ἄρρεν τρέπονται οἱ ἐκ τούτου τοῦ ἔρωτος ἔπιπνοι, τὸ ϕύσει ἐρρωμενέστερον καὶ νοῦν μᾶλλον ἔχον ἀγαπῶντες. […] οὐ γὰρ ἐρῶσι παίδων, ἀλλ’ ἐπειδὰν ἤδη ἄρχωνται νοῦν ἴσχειν, τοῦτο δὲ πλησιάζει τῷ γενειάσκειν. παρεσκευασμένοι γὰρ οἶμαί εἰσιν οἱ ἐντεῦθεν ἀρχόμενοι ἐρᾶν ὡς τὸν βίον ἅπαντα συνεσόμενοι καὶ κοινῇ συμβιωσόμενοι, ἀλλ’ οὐκ ἐξαπατήσαντες, ἐν ἀϕροσύνῃ λαβόντες ὡς νέον, καταγελάσαντες οἰχήσεσθαι ἐπ’ ἄλλον ἀποτρέχοντες. Und das ist der, dem die gewöhnlichen Menschen sich ergeben. Und zwar lieben solche erstens Frauen nicht weniger als Knaben, ferner, wenn sie denn diese lieben, den Leib mehr als die Seele […]. Aber der andere gehört zu der himmlischen Göttin, die erstens nicht am Weiblichen, sondern nur am Männlichen teilhat, die sodann die ältere ist, der Mutwillen fernliegt. Daher wenden sich die von diesem Eros Begeisterten zum Männlichen; denn sie lieben das von Natur Stärkere und mehr Vernunftbegabte. […] denn sie

20Zur

Entwicklung des Adjektivs sophόs, vgl. Dover 1980, 82. z. B. Aristoph. Nub. 412; Ran. 882; 1519; Plat. apol. 19d; 20e; Prot. 109d; 312c–d.

21Vgl.

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B. Gavazza verlieben sich in Knaben erst dann, wenn sich bei diesen schon der Verstand regt, das entspricht etwa der Zeit, wo der erste Flaum sprießt. Wer erst von da an zu lieben beginnt, ist, wie ich glaube, bereit, sein ganzes Leben hindurch mit dem anderen zusammen zu sein und Gemeinschaft zu halten, statt den Geliebten, wenn sie seine törichte Jugend gewonnen haben, zu betrügen und mit Hohnlachen zu einem anderen davonzulaufen. (Plat. symp. 181a7–d5) b) ὅσοι δὲ ἄρρενος τμῆμά εἰσι, τὰ ἄρρενα διώκουσι, καὶ τέως μὲν ἂν παῖδες ὦσιν, ἅτε τεμάχια ὄντα τοῦ ἄρρενος, ϕιλοῦσι τοὺς ἄνδρας καὶ χαίρουσι συγκατακείμενοι καὶ συμπεπλεγμένοι τοῖς ἀνδράσι, καί εἰσιν οὗτοι βέλτιστοι τῶν παίδων καὶ μειρακίων, ἅτε ἀνδρειότατοι ὄντες ϕύσει. ϕασὶ δὲ δή τινες αὐτοὺς ἀναισχύντους εἶναι, ψευδόμενοι […]. μέγα δὲ τεκμήριον· καὶ γὰρ τελεωθέντες μόνοι ἀποβαίνουσιν εἰς τὰ πολιτικὰ ἄνδρες οἱ τοιοῦτοι. Die aber Teil eines Mannes sind, trachten nach dem Männlichen; und so lange sie Knaben sind, haben sie, als Stücke von Manneswesen, die Männer gern und freuen sich, bei Männern zu liegen und sie zu umarmen; und das sind die besten unter den Knaben und Jünglingen, denn sie sind von Natur am männlichsten. Manche behaupten zwar, sie seien schamlos, aber das ist gelogen […]. Dafür spricht eines sehr deutlich: nur Wesen dieser Art wenden sich, sind sie zu Männern herangewachsen, den Staatsgeschäften zu. (Plat. symp. 191e6–192a8) c) οἱ μὲν οὖν ἐγκύμονες, ἔϕη, κατὰ τὰ σώματα ὄντες πρὸς τὰς γυναῖκας μᾶλλον τρέπονται καὶ ταύτῃ ἐρωτικοί εἰσιν, διὰ παιδογονίας ἀθανασίαν καὶ μνήμην καὶ εὐδαιμονίαν, ὡς οἴονται, αὑτοῖς εἰς τὸν ἔπειτα χρόνον πάντα ποριζόμενοι· οἱ δὲ κατὰ τὴν ψυχήν – εἰσὶ γὰρ οὖν, ἔϕη, οἳ ἐν ταῖς ψυχαῖς κυοῦσιν ἔτι μᾶλλον ἢ ἐν τοῖς σώμασιν, ἃ ψυχῇ προσήκει καὶ κυῆσαι καὶ τεκεῖν· τί οὖν προσήκει; ϕρόνησίν τε καὶ τὴν ἄλλην ἀρετήν – ὧν δή εἰσι καὶ οἱ ποιηταὶ πάντες γεννήτορες καὶ τῶν δημιουργῶν ὅσοι λέγονται εὑρετικοὶ εἶναι. Die nun vom leiblichen Zeugungsdrang erfüllt sind, sagte sie weiter, wenden sich mehr den Frauen zu und sind dieser Art des Eros ergeben, wobei sie durch Kinderzeugung Unsterblichkeit und Andenken und Glückseligkeit, wie sie meinen, ‚für alle Folgezeit sich schaffen‘. Die aber in der Seele das Verlangen tragen – denn es gibt solche, sagte sie, die noch stärker als den leiblichen Zeugungsdrang den seelischen haben, zu dem, was der Seele in sich zu tragen und zu zeugen gemäß ist. Was ist nun gemäß? Einsicht und jede andere Tüchtigkeit – zu diesen gehören ja die schöpferischen Dichter alle und von den Gewerbetreibenden die sogenannten erfinderischen. (Plat. symp. 208e2–209a5)

Im Textabschnitt a) vertritt Agathons Liebhaber Pausanias die Meinung, die höhere himmlische Liebe sei die Liebe unter Männern und gehöre zu „dem Stärkeren und mehr Vernunftbegabten“. Bei b) behauptet Aristophanes, „die besten unter den Knaben und Jünglingen“ freuen sich, von Männern umschlungen zu werden, weil diese Knaben „am männlichsten von Natur sind“. In der Rede von Aristophanes stammen nämlich die homosexuellen männlichen Paare aus einem ursprünglichen männlichen Individuum, das Zeus in zwei männlichen Teilen zertrennt hat. Die Superlative enthüllen einen elitären Gedanken, obwohl auch eine andere Meinung in der Rede mitschwingt: „Manche behaupten zwar, sie seien schamlos“. Platon könnte hier durch den Komödiendichter Aristophanes an die Meinung des breiteren Publikums von asophoí erinnern. Im Textabschnitt c) geht

Der Tragiker Agathon bei Aristophanes und Platon

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Sokrates auf den Unterschied zwischen der Liebe nach dem Körper und der Liebe nach der Seele ein; die Weisen neigen zu der zweiten, und daraus folgt, dass sich die Unweisen, die Niedrigdenkenden, an Kindererzeugung und an Frauenliebe erfreuen. Wir können daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass die von Agathon vertretene Liebesart eine hochrangige Stelle in der Einstufung der Liebesarten einnimmt: Agathon ist kein Jüngling mehr; sein jugendliches Aussehen, vermutlich seine Bartlosigkeit, symbolisiert seine Rolle als passiver Geliebter; er ist kalόs und sophόs, und seine erotische Ausstrahlung wird gelobt. Am Ende des Symposion bietet Sokrates sich an, Agathons Lobrede zu halten.

5 Der deviante Agathon – Negative Beurteilungen Das Adjektiv sophόs spielt eine primäre Rolle auch bei der Darstellung von Agathon bei den aristophanischen Thesmophoriazusen. In der ersten Szene der Komödie – der Agathon-Szene – wird der Unterschied zwischen den gegensätzlichen Verhaltensweisen von sophoí und asophoí aufgeführt. Die Tragödiendichter Euripides und Agathon führen feinsinnige Argumentationen vor, verwenden tragische Zitate und erkennen sich gegenseitig als sophoí. Wir lesen: [Eυριπιδης] Οὕτω ταῦτα διεκρίθη τότε. Αἰθὴρ γὰρ ὅτε τὰ πρῶτα διεχωρίζετο καὶ ζῷ’ ἐν αὑτῷ ξυνετέκνου κινούμενα, ᾧ μὲν βλέπειν χρὴ πρῶτ’ ἐμηχανήσατο ὀϕθαλμὸν ἀντίμιμον ἡλίου τροχῷ, ἀκοῇ δὲ χοάνην ὦτα διετετρήνατο. [Κηδεστης] Διὰ τὴν χοάνην οὖν μήτ’ ἀκούω μήθ’ ὁρῶ; Νὴ τὸν Δί’ ἥδομαί γε τουτὶ προσμαθών. Οἷόν γέ πού ‘στιν αἱ σοϕαὶ ξυνουσίαι. [Eυρ.] Πόλλ’ ἂν μάθοις τοιαῦτα παρ’ ἐμοῦ. [Euripides] Wie folgt ward dies gesondert einst. Als nämlich sie zuerst der Äther sonderte Und in sich selbstbewegte Lebewesen bracht’ hervor, Ersann er dem, was sehen sollte, allererst Das Auge, „Widerspielung der Sonne Rad,“ Und fürs Gehör als Trichter bohrte er das Ohr. [Verwandter] Ah, also durch den Trichter hör und sehe ich nicht? Bei Zeus, dann bin ich froh, dass ich auch das nun weiß. Was für ein Glück ist so „ein weiser Umgang“ doch [haì sophaì xynusíai]! [Eur.] Noch viel dergleich kannst du von mir lernen. (Aristoph. Thesm. 13–22) [Eυριπιδης] Ἀγάθων, „σοϕοῦ πρὸς ἀνδρός, ὅστις ἐν βραχεῖ πολλοὺς καλῶς οἷός τε συντέμνειν λόγους“. [Euripides] Agathon, „es zeigt den klugen Mann, imstand zu sein, zu resümieren viele Worte bündig knapp.“ (Aristoph. Thesm. 177–178)

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B. Gavazza

Die beiden gehören auch bei Aristophanes zu einer hochgebildeten Gruppe. Wenn es um die Redekunst geht, ist Euripides Agathon gegenüber tatsächlich respektvoll: „Du nur sprichst ja meiner würdig!“ (V. 187); wenn es aber um Agathons Sexualität und Aussehen geht, schwankt die Stellungnahme von Euripides. Vor Agathons Auftritt sagt Euripides zu Mnesilochos: „Gewiss hast du ihn schon belegt [bebínēkas] – Du weisst’s nur nicht!“ (V. 35). Er deutet hier die passive Homosexualität des tragischen Kollegen mit dem vulgären Verb bineĩn an: in der aktiven Form bezeichnet es den Akt der Penetration.22 Die gewitzte Andeutung findet sich im Rahmen eines Dialogs mit dem groben Mnesilochos. Als aber Agathon die Bühne betreten hat, nimmt Euripides den Kollegen gegen die sexuelle Aggressivität seines Verwandten in Schutz und vergleicht sich selbst mit Agathon: [Eυριπιδης] Παῦσαι βαΰζων· καὶ γὰρ ἐγὼ τοιοῦτος ἦν ὢν τηλικοῦτος, ἡνίκ’ ἠρχόμην ποεῖν. [Euripides] Hör auf zu schwatzen; denn so war ich selber auch In seinem Alter, als zu dichten ich begann. (Aristoph. Thesm. 173–174)

Ich sehe in dieser Stelle einen Hinweis darauf, dass Aristophanes Euripides als Sympathisanten von Agathon auftreten lässt. Darüber hinaus beschreibt Euripides Agathons weibliches Aussehen mit positiven Wörtern, die wie Komplimente klingen (zu erinnern ist nochmals an die Verse 191–192, „Doch du bist schön von Angesicht, weiß […]“) und wendet sich an ihn – obwohl vielleicht ironisch – mit dem Adjektiv gennaĩos, „Edler Mann!“ (V. 220). Die Stellungnahme des groben Mnesilochos zu Agathon wird dagegen als negativ und aggressiv dargestellt. Für Mnesilochos ist Agathon ein devianter Mann, ein gynnís, der sexuell erniedrigt werden kann, als ob er eine Frau, oder sogar eine Prostituierte wäre:23 [Κηδεστης] Οὐκοῦν κελητίζεις, ὅταν Φαίδραν ποῇς; [Verwandter] So reitest du beim Dichten einer „Phädra“ wohl? (Aristoph. Thesm. 153) [Κηδεστης] Ὅταν σατύρους τοίνυν ποῇς, καλεῖν ἐμέ, ἵνα συμποιῶ σοὔπισθεν ἐστυκὼς ἐγώ. [Verwandter] Wenn du denn also Satyrn dichtest, ruf nur mich, Dass ich mit meinem Steifen dir von hinten helf. (Aristoph. Thesm. 157–158)

22Vgl. 23Zum

Henderson 1975, 151–152; Bain 1991, 54–62; Austin/Olson 2004, 63. Bild des κελητίζειν, vgl. Pretagostini 1997.

Der Tragiker Agathon bei Aristophanes und Platon

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Sobald klar ist, dass Agathon Euripides nicht helfen wird, wird der Spott aggressiver. Mnesilochos greift Agathon nun direkt als passiven Homosexuellen an. Die negative Beurteilung ist eindeutig: [Κηδεστης] Καὶ μὴν σύ γ’, ὦ κατάπυγον, εὐρύπρωκτος εἶ οὐ τοῖς λόγοισιν, ἀλλὰ τοῖς παθήμασιν. [Verwandter] Ja, freilich, Stricher, du bist liederlich ja nicht Mit Worten, sondern mit geduldigem Sich-Fügen. (Aristoph. Thesm. 200–201)

Was für eine Figur ist Mnesilochos? Die oben zitierten Verse 13–22 am Anfang der Komödie schließen ihn vom Kreis der sophoí aus; wir erfahren, dass er ein présbys, ein alter Mann, ist (Vv. 62; 146); er wird explizit als agriōtēs, grob, bezeichnet (V. 58), wie es auch sein Verhalten und seine Ausdrucksweise bestätigen; er ist sexuell aggressiv, hybristēs (V. 62). Diese Züge finden wir auch bei anderen aristophanischen Helden wieder: bei Dikaiopolis in den Acharnern, Strepsiades in den Wolken, Philokleon in den Wespen, Trygeos im Frieden, schließlich auch bei Peisetairos und Euelpides in den Vögeln.24 Sie vertreten eine männliche Weltanschauung, nach der Frauen und Knaben normale Objekte sexueller Handlungen durch Männer sind. Die gynnídes weichen von dem normalen männlichen Verhalten ab und sollen nach dieser Anschauungsweise verspottet werden.

6 Schlussbetrachtungen Die Untersuchung von Agathons Figur bei Platons Symposion und bei Aristophanes’ Thesmophoriazusen zeigt, wie dasselbe Verhalten sowohl als positiv und musterhaft als auch als deviant und lächerlich dargestellt werden kann. In beiden Texten erscheint der Tragiker als ein passiver Homosexueller, in beiden Texten ragt er durch sein Aussehen hervor und wird als sophós beschrieben. Bei Platon trägt das gefällige Aussehen eine positive moralische Bedeutung (kalόs ist auch agathόs). Die Gestalten im Symposion zeichnen im Laufe des Dialogs ein Wertsystem, bei dem Liebesbeziehungen zwischen Männern vorgezogen werden. Es geht um eine Liebe, die zur Erzeugung immateriell-intellektueller Kinder und nicht zur Erzeugung irdisch-menschlichen Nachwuchses führt. Agathon, ein schöner (kalόs) und weiser (sophόs) Dichter, ist daher ein musterhafter Partner. Sein sexuelles Verhalten entspricht den Werten seines intellektuellen Kreises und erweist sich nie als deviant. Bei Aristophanes werden dagegen zwei unterschiedliche Verhaltensweisen zu Agathon gegenübergestellt. Euripides als sophόs sympathisiert mit dem jüngeren Tragiker, obwohl er auch Agathons Homosexualität als Gelegenheit für verschiedene Witze nutzt. Gleichzeitig wird Agathon in der 24Zu Aristophanes’ komischen

Helden, vgl. Whitman 1964, 21–58.

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Szene auch aus der Perspektive des grobschlächtigen Mnesilochos betrachtet. Die passive Homosexualität wird von Mnesilochos für eine Transgression gehalten, hat eine starke visuelle Auswirkung und degradiert Agathon auf das Niveau einer Prostituierten. Mnesilochos spricht Agathon die Männlichkeit ab, da Agathons Aussehen die normalen Erwartungen an einen Mann nicht erfüllt. Verspottung und Aggression bestätigen die negative Bewertung und die Unannehmbarkeit eines solchen abweichenden Verhaltens. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir nicht von einer Entsprechung zwischen den Meinungen der Figuren und den Meinungen der Autoren ausgehen können. Bei Aristophanes vertritt jede Gestalt ihre eigene Weltanschauung, sodass die negative und aggressive Stellungnahme nur von Mnesilochos und nicht von Euripides vertreten wird. In Platons Werken spielt die Ironie eine große Rolle und einige Begriffe (z. B. neanískos, meirákion) dürfen nicht in ihrer wörtlichen Bedeutung verstanden werden. Ich hoffe aber, dass wir dank dieses Beispielfalls ein tieferes Verständnis vom Aufbau poetisch-literarischer Vorstellungen von einem potenziellen transgressiven Phänomen wie der Männerliebe gewonnen haben.

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Transformation oder Transgression? Initiations- und Übergangsrituale im attischen Artemis-Kult Anne Gürlach

Zusammenfassung

Antike Heiligtümer liefern mit ihren vielfältigen und umfangreich erhaltenen epigraphischen und archäologischen Zeugnissen wichtige Dokumente zur Erforschung antiker Kult- und Ritualpraktiken. Betrachtet man die vorliegenden Zeugnisse unter sozialhistorischen und kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, die etwa nach Geschlechtsspezifika oder regionalen Sonderformen von Kulten fragen, so fällt auf, dass die Auswertung des archäologischen Materials im Zusammenspiel mit den Schriftquellen wichtige Erkenntnisse liefern können. In meinem Beitrag wird diese Tendenz anhand des attischen Artemis-Kultes näher beleuchtet. Die regionale Ausrichtung des transformierenden Rituals in den dortigen Heiligtümern weist dabei mitunter einen transgressiven Charakter auf und kann als normstabilisierendes Initiations- bzw. Übergangsritual verstanden werden. Abstract

Ancient sanctuaries, with their diverse and extensively preserved epigraphic and archaeological evidence, provide important documents to explore ancient cult and ritual practices. If one looks at the available evidence from ­socio-historical and cultural-scientific points of view, which ask about gender specifics or regional special forms of cults, it is striking that the evaluation of the archaeological material in conjunction with the written sources can provide

A. Gürlach (*)  Heinrich-Schliemann-Institut für Altertumswissenschaften, Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Gilhaus et al. (Hrsg.), Transgression und Devianz in der antiken Welt, Schriften zur Alten Geschichte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05508-8_3

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important insights. In my contribution, this tendency is examined in more detail on the basis of the Attic cult of Artemis. The regional orientation of the transforming ritual in the sanctuaries has a sometimes transgressive character and can be understood as a norm-stabilizing initiation or transition ritual.

1 Einleitung Heiligtümer und Orte sakralen Handelns bieten anhand des vielfältigen und stellenweise umfangreich erhaltenen Votivmaterials unterschiedlichster Materialgattungen eine Möglichkeit zur Rekonstruktion von antiken Kult- und Ritualpraktiken der jeweiligen Akteure. Untersucht man die erhaltenen archäologischen wie literarischen Befunde und Funde nach sozialhistorischen Fragestellungen, die etwa das Geschlecht, den Status, die Biographie oder einen einzelnen Akteur in den Blick nehmen, so eröffnet sich mit Hilfe einer zeit- und raumübergreifenden Analyse ein vielschichtiger Zugang zum Quellenmaterial. Im Folgenden werde ich diese Tendenz anhand des griechischen und vorrangig des attischen ­Artemis-Kultes nachzeichnen, da die regionale Ausrichtung des transformierenden Rituals in den Heiligtümern mitunter einen transgressiven Charakter aufweist. In der altertumswissenschaftlichen Forschung beschäftigt man sich seit längerem mit geschlechts- und sozialspezifischen Themen, wie etwa mit Fragen nach der Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben oder den Rechten von sozialen Gruppen.1 Zahlreiche Publikationen widmen sich dem Vergleich mit nicht-antiken Ritualpraktiken anderer Konfessionen und der Analyse des vorhandenen Materials unter soziologischen, hermeneutischen und religionswissenschaftlichen Gesichtspunkten. Im Bereich der Klassischen Archäologie wurden derartige Fragestellungen bis dato vorrangig in Einzelstudien und gelegentlich auch in Grabungspublikationen aufgegriffen. Seit einigen Jahren werden jedoch auch hier vermehrt Materialanalysen unter empirischen Gesichtspunkten vorgenommen.2 Für die Frage nach transgressiven Handlungen in sakralen Räumen bildet das Artemis-Heiligtum im attischen Brauron3 einen Ausgangspunkt, wobei auch Heiligtümer anderer Mitglieder des griechischen Götterkanons eng mit der Lebenswelt der damaligen Menschen verwoben waren. Der Besuch eines Heiligtums war in der Regel mit der Weihung einer Votivgabe oder einer Opferung, sei diese blutig oder unblutig, verbunden. Dem voraus ging stets ein spezifischer

1Da

das Thema in allen Disziplinen der Altertumswissenschaften präsent ist, kann an dieser Stelle keine ausführliche Vorstellung des aktuellen Forschungsstandes erfolgen. Es sei jedoch auf die einschlägigen Werke hingewiesen, die der Bibliographie dieses Beitrags beigefügt sind. Siehe dazu auch u. a. Nelson 2007. 2Als Beispiel sei hier die Studie zu den Votivgaben für die Göttin Hera von Baumbach aus dem Jahr 2004 genannt. 3Aktuell zum Artemis-Kult in Attika und Brauron im Speziellen Guarisco 2015, 21–46.

Transformation oder Transgression?

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Anlass. Die Kommunikation mit der Gottheit folgte speziellen Regeln und Normen, die ähnlich wie die Strukturierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Oikos auch die sakralen Aktivitäten der Gemeinschaftsmitglieder definierte. Handlungsanweisungen für soziale Gruppen innerhalb dieses sakralen Raumes bestimmten wiederum den Erfolg oder Misserfolg einer Kultaktivität. Handelte es sich wie bei einigen Ritualen im attischen Artemis-Kult um Initiations- oder Übergangsrituale, konnten der betreffenden Person durch Nichtbeachtung der vorgegebenen Regeln negative Folgen drohen. Insbesondere für das weibliche Geschlecht galten strenge Regularien, die den biographischen Lebensweg einer Frau gewissermaßen direkt beeinflussten.

2 Artemis – Charakteristika und Zuständigkeiten einer Göttin Für die spezielle Frage nach der sozialen Funktion von Frauen im sakralen Raum und der Auseinandersetzung mit der daraus resultierenden Bedeutung für die städtische Kultaktivität bieten sich zunächst eine Charakterisierung der Göttin Artemis4 und eine Materialanalyse des ihr geweihten Votivmaterials an. Artemis ist als Göttin der Jagd, des Waldes und der wilden Natur bekannt, wobei eine ihrer bedeutendsten Funktionen die Begleitung der Mädchen beim Heranwachsen zur Frau darstellt. Auf der strukturellen Ebene war diese Entwicklung in der griechischen Kultur als Domestizierung wilder, naturgebundener Weiblichkeit konzipiert, in deren Verlauf die jungen Frauen gewissermaßen aus der freien Natur herausgeführt und auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter, die sie innerhalb der Polis ausüben sollten, vorbereitet wurden. Die Religion spielte bei diesen transformierenden Abläufen eine entscheidende Rolle, insbesondere im Hinblick auf die soziale Stellung der Mädchen bzw. Frauen. Am Beispiel von ausgewählten griechischen Artemis-Kulten können Aktivitäten in Heiligtümern rekonstruiert werden, die in besonderem Maße als Orte transgressiven Interagierens von sozialen Gruppen fungierten. Dabei trägt besonders das archäologische Votivmaterial zur Rekonstruktion von Kultaktivitäten bei, das im Zusammenspiel mit literarischen und epigraphischen Dokumenten einen Einblick in die identitätsstiftenden Rituale im griechischen Attika der klassischen Zeit liefert. Im Götterkanon übernimmt die junge Artemis als Mitglied der Olympischen Zwölf einige zentrale Wirkungsbereiche, die neben der Jagd, dem Behüten und dem gezieltem Entnehmen von wilden Tieren aus der Natur auch die Begleitung

4Mit ihrem Zwillingsbruder Apollon übernimmt sie Funktionen mit einem unmittelbaren Bezug zur sozialen Rollenverteilung in der städtischen Gemeinschaft. Ihre Aufgabe als Hüterin der Frauen und der Kinder beider Geschlechter gerät dabei häufig in den Hintergrund, wobei diese Wirkungsbereiche von enormer Bedeutung sind. Siehe dazu King 1983, 109–127; Gennimata 2000, 93; Gennimata 2013, 17–32; Budin 2016, 69–72; 77–80; 92–103; Graf 2016 und Léger 2017.

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und den Schutz von Mädchen und jungen Frauen am Ende der Pubertät umfasst.5 Burkert beschreibt ihre zentralen Wirkungsbereiche folgendermaßen: Keine Hochzeit ohne Artemis: das Davor und das Danach in diesem entscheidenden Wendepunkt des Mädchenlebens untersteht ihrer Macht, Gefahren zu senden und abzuwehren.6

Artemis selbst durchläuft diese postpubertäre Entwicklung allerdings nicht, da sie als jungfräuliche Göttin weder zur Braut noch zur Mutter wird.7 Sie hilft den Mädchen aber dennoch bei der Transformation von einer Jungfrau (parthénos) zur Braut (nýmphē) und schließlich zur Mutter (gynē).8 Diese drei Phasen sind dabei nicht nur in physiologischer Hinsicht bedeutend, da sich neben dem Äußeren auch der rechtliche und ökonomische Status und damit die soziale Rolle9 der betreffenden Person veränderte.10 Als Göttin des Übergangs ist Artemis hier in besonderem Maße für die weibliche Lebenswelt zuständig, wodurch sie eine exponierte Rolle in weiblichen Kult- und Ritualpraktiken einnimmt.11 Neben Artemis fungieren zwar noch andere Gottheiten wie etwa Aphrodite (Sexualität und Hochzeit),12 Hera (Ehe), Demeter (Fruchtbarkeit und Mutterschaft),13

5Siehe

zu Artemis’ Mythologie und Ikonographie u. a. Kahil, L.: s. v. Artemis. In: LIMC II.1. 1984, 618–855 und Kahil, L.: s. v. Artemis. In: LIMC II.2. 1984, 442–628. 6Burkert 1977, 236. 7Vgl. Budin 2016, 92–93. Siehe dazu auch Burkert 1977; King 1983; King 1998, 75–98 und Gennimata 2000, 93. 8Zu Übergangsriten (rites des passage) im Allgemeinen siehe v. a. van Gennep 2005. Er entwirft ein Dreistufenmodell für einen Initiationsritus bzw. für ein Übergangsritual (Separation, Liminalität und Reintegration). In van Genneps Vorstellung begleiten „Übergangsrituale […] nach diesem Modell Statusveränderungen, so den Wechsel vom Status eines Jugendlichen zum Status eines Erwachsenen. In einer Phase der Trennung nehmen die Betroffenen Abschied vom alten Status, es folgt eine Schwellen- oder Umwandlungsphase, in der die Betroffenen weder dem alten noch dem neuen Status angehören. Danach schließt sich eine Eingliederungsphase an, in der die Rechte und Pflichten der neuen Position adaptiert werden.“ Seifert 2007, 58. 9Die soziale Rolle einer griechischen Frau war in erster Linie durch ihre Funktionen als Ehefrau und Mutter definiert. Artemis stellte sicher, dass ein Mädchen dieser vorbestimmten Rolle gerecht werden konnte, indem sie bei allen entscheidenden physischen wie psychischen Transformationen begleitend zur Seite stand. Die zentralen Initiationsriten galten daher Artemis, was durch literarische, archäologische und epigraphische Zeugnisse eindeutig belegt ist. Eine Zusammenstellung der literarischen Zeugnisse findet sich aktuell bei Budin 2016, 69–91; 92–114. 10Für Brauron und Sparta sind auch Initiationsriten für Knaben überliefert. Siehe dazu Dawkins 1929; Seifert 2007, 55–71 und Lundgreen 2009, 117–126. 11Ihre Funktion als Geburtshelferin resultiert daraus, dass sie ihrer Mutter Leto bei der Geburt des Zwillingsbruders Apollon auf der Insel Delos geholfen haben soll. Siehe Apollod., Bibl. I,4,1. 12Zu

Sexualität und Geschlecht siehe u. a. McClure 2002. zu den attischen Demeter-Festen u. a. Brumfield 1981. Siehe Cole 1994, 199–216.

13Siehe

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Eileithyia (Geburt und Wehen),14 Apollon15 (Erziehung der Kinder), Hestia (Ernährung der Kinder)16 und Athena17 (Handwerk der Frauen wie das Spinnen und Weben) als Beschützer des weiblichen Geschlechts. Initiationsriten und Transformationen in sozialer wie physischer Hinsicht sind aber in erster Linie bei Artemis-Kulten greifbar. Die Aktivitäten in den Heiligtümern sind, ähnlich wie bei anderen genannten Gottheiten, in der Regel im Funktions- und Wirkungsbereich lokal definiert, weswegen betont werden muss, dass nicht in allen griechischen Kultstätten der Artemis Initiations- oder Transformationsriten stattfanden. Die unmittelbare räumliche Nähe der nachfolgend betrachteten Heiligtümer zu politisch wie gesellschaftlich relevanten Poleis hatte dabei wohl entscheidenden Anteil an der Entwicklung und Bedeutung der Votiv- und Kultpraxis an jenen Orten. Anhand des archäologischen, literarischen und epigraphischen Quellenmaterials, das beispielsweise in den Artemis-Heiligtümern von Sparta,18 Messene,19 Athen,20 Brauron,21 Mounichia (Piräus)22 und Delos23 und damit auch außerhalb von Attika zu Tage kam, lassen sich die Interaktionen zwischen dem weiblichen Geschlecht und der Gottheit unmittelbar am Objekt nachvollziehen. Befunde von Votivmaterialien wie Statuetten aus gebranntem Ton, Schmuckstücken, diversen Keramikgefäßen oder marmornen Weihreliefs belegen, auf welche Weise die Mädchen und Frauen in Kontakt zur Göttin treten konnten und welche Funktion dieser im Einzelfall zugeschrieben wurde. Ausgangspunkt ist hier die Überlegung, dass es in der Regel eine direkte Verbindung zwischen dem geweihten Objekt und einem bestimmten Ereignis im Leben einer Frau gab, zu dem sie das Votiv der Gottheit darbrachte. Parallelen in der lokalen Kult- und Votivpraxis sind daher hinsichtlich des spezifischen Wirkungsbereiches der Göttin zu erwarten. Außerdem sind Besonderheiten in Bezug auf die

14Siehe

dazu Pingiatoglou 1981. Zu den Bereichen Schwangerschaft und Geburt sowie den Funktionen der Gottheiten innerhalb dieses Feldes siehe Demand 1994. 15Auch einige männliche Gottheiten wie Apollon oder Dionysos (meist zusammen mit der Göttermutter Kybele) sind eng mit weiblichen Wirkungsbereichen verbunden. Siehe dazu u. a. Graf 2016 und Ketscher 2016. 16Vgl. dazu v. a. Hadzisteliou Price 1978. 17Siehe zum Athena-Kult u. a. Loraux 1981 und Meyer 2017 mit aktueller Bibliographie. 18Zum archäologischen Fundmaterial aus dem Artemis-Orthia-Heiligtum von Sparta und zur Rolle der spartanischen Frauen siehe Dawkins 1929 und Pomeroy 2002. 19Dazu u. a. Themelis 1994, 101–122; Themelis 1997, 157–186 und Spathi 2015, 437–448. 20Zum Artemis-Brauronia-Kult siehe u. a. Waldner 2000b, Seifert 2007, 55–71 und Léger 2017. Zum Athena-Kult auf der Akropolis von Athen siehe u. a. Meyer 2017 mit aktueller Bibliographie und Mejer 2009, 61–77. 21Dazu Sourvinou-Inwood 1988; Kahil 1994, 281–289; Cleland 2005; Seifert 2007, 55–71 und Mitsopoulos-Leon 2015. 22Vgl. Palaiokrassa 2011, 217–224; Palaiokrassa 2015, 155–180; Palaiokrassa 2017, 245–259; Viscardi 2015 und Léger 2017. 23Siehe zu den Kulten der Gottheiten Artemis, Apollon, Hekate und Helios auf der Insel Delos u. a. Boussac 1992.

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familiär vorgegebene soziale Stellung der Frau innerhalb des Oikos zu beachten. Die Ehefrau eines wohlhabenden Mannes oder die Tochter aus reichem Hause hatte von Geburt an oder durch Heirat einen weitaus größeren Handlungsspielraum, auch im Religiösen, als beispielsweise eine Hetäre oder eine Unfreie.24

3 Votivgaben in Artemis-Heiligtümern – Gattungen und Funktionen Archäologische Fundmaterialien aus den griechischen Artemis-Heiligtümern, wie beispielweise Ton- oder Bleifiguren aus Sparta, marmorne Weihreliefs und duplizierte Tempelinventare aus Brauron oder Delos und andere, vor allem kleinformatige Votive belegen, inwiefern die Mädchen und Frauen in Kontakt zu Artemis traten und welche Rolle die Göttin hier in ihrer Funktion als Schützerin des weiblichen Geschlechts im Speziellen ausübte. Das zeigt, dass die Frau ungeachtet ihrer nicht-bürgerlichen Stellung25 in der Gesellschaft als handelnde Person auftreten konnte. Es gilt allerdings zu beachten, dass die finanzielle Macht in den meisten Fällen wohl von den dazugehörigen Ehemännern bzw. Vätern ausging. Inwiefern es sich hier um eine religiöse Transgression handelt und ob Frauen eigene finanzielle Ressourcen hatten, um großformatige und damit kostspielige Weihungen zu errichten, ist in der Forschung noch immer umstritten. In den meisten Fällen kann eine genaue Aussage über die Finanzierung der jeweiligen Objekte nur selten getroffen werden. Zuweisungen an die Männer resultieren aus der nichtbürgerlichen Stellung von Frauen im klassischen Griechenland und der Annahme, dass diese unabhängig ihres Vormundes keine eigenständigen wirtschaftlichen Entscheidungen treffen konnten.26 Fest steht, dass es derartige Feste und Stiftungen mit Sicherheit nicht gegeben hätte, wenn die Ehemänner oder Väter diese

24Vgl. dazu Pomeroy 1975 und aktuell Blok 2017. Im zweiten Kapitel ihrer Monographie behandelt sie die unmittelbaren Zusammenhänge zwischen den Göttern und den Menschen. Im vierten Kapitel fragt sie unter aktuellen Gesichtspunkten nach den rechtlichen und sozialen Unterschieden zwischen Mann und Frau in der athenischen Bürgerschaft. Der Status eines jeweiligen Oikos- und auch Polismitgliedes definiert sich dabei vor allem durch seine Familienzugehörigkeit und Abstammung. Besonders hervorzuheben sei an dieser Stelle das passive Bürgerrecht einer athenischen Frau. Dazu s. u. 25Dabei ist zu beachten, dass den Frauen zumindest ein passives Bürgerrecht zustand, da sie den Bürgerstatus an ihre Nachkommen weitergaben. Den Kindern einer Nicht-Bürgerin blieb dieses Recht jedoch verwehrt. Der nicht-bürgerliche Status in Bezug auf Teilhabe am öffentlichen Leben ist daher vor allem auf den gesellschaftlichen Status der jeweiligen weiblichen Person zu beziehen. Siehe dazu aktuell Blok 2017. 26Zur Geschlechterordnung antiker Gesellschaften und zu den Grenzen, die den Geschlechtern dabei gesetzt werden, siehe u. a. Hartmann 2007.

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nicht gewollt bzw. akzeptiert hätten.27 Nichtsdestotrotz treten Frauen hier häufig als eigenständig handelnde Subjekte auf, was in erster Linie durch die zahlreichen archäologischen Zeugnisse, auch kleineren und weniger kostbaren Formates, deutlich wird. Die literarisch belegten Gewandweihungen und die zahlreichen Funde im Artemis-Heiligtum von Brauron zeigen, welche spezifischen Riten notwendig waren, um die Transformation vom Mädchen zur Frau zu vollziehen. Inwiefern dabei Normen überschritten wurden oder ob genau diese geregelten Abläufe für eine bestimmte Gruppe von Mädchen zum Funktionieren der griechischen Gesellschaft beitrugen, möchte ich im Folgenden anhand einiger Beispiele untersuchen. Dazu dienen u. a. Vergleiche des archäologischen Fundmaterials aus Heiligtümern mit einer vorrangig weiblichen Kultgemeinde und die Auswertung der Überlieferungen der Kultaktivitäten in Brauron, Sparta, Messene, Athen und dem Piräus. Durch die Einbettung der Materialanalyse in die moderne altertumswissenschaftliche Forschung können übergreifende Interpretationsansätze hinsichtlich der gesellschaftlichen Stellung einer Frau in Bezug auf ihre Funktion innerhalb des sakralen Raumes untersucht werden. Literarische, archäologische und epigraphische Zeugnisse bilden dafür das Fundament, wobei eine zeitliche und geographische Eingrenzung nur bedingt möglich ist. Die wichtigsten Quellen zur Rekonstruktion von Ritualen im griechischen Artemis-Kult sind neben den literarischen Beschreibungen die zahlreichen Votivgaben, die in den genannten Heiligtümern bei archäologischen Grabungen freigelegt wurden. Hervorzuheben sind die großen Mengen an Blei- und Metallstatuetten aus dem Artemis-Orthia-Heiligtum in Sparta, Weihreliefs mit Familiendarstellungen und Kinder- und Priesterinnenstatuen aus Messene, Brauron und von der Insel Delos sowie tausende Terrakotten, u. a. aus den beiden ArtemisHeiligtümern von Messene, aus Lousoi und aus Brauron. Darüber hinaus können schriftliche Quellen hinzugezogen werden, wie etwa die Abschriften des brauronischen Tempel- und Votivinventars, die im Artemis-Brauronia-Heiligtum auf der Akropolis von Athen aufbewahrt wurden. Sie liefern die wichtigsten Anhaltspunkte für die charakteristische Gewandweihung, die ebenfalls im Zeichen der Transformation vom Mädchen zur Frau und schließlich zur Mutter steht, wie auf einem Weihrelief aus Achinos eindrucksvoll zu erkennen ist.28 Das Ablegen eines Gewandes und die rituelle Einkleidung in einen speziellen Stoff kann gleichermaßen als Ablegen der Kindheit verstanden werden. Hier ist außerdem

27In

den Weihinschriften sind daher häufig die Frauen als aktive Stifterinnen namentlich genannt, jedoch zusammen mit ihrem Patronymikon beziehungsweise dem Namen des männlichen Verwandten, der sie juristisch und ökonomisch als Vormund vertrat. Diese Abhängigkeit trifft jedoch bei weitem nicht auf alle griechischen Frauen zu. Im Hellenismus konnten die den Königs- und Herrscherhäusern zugehörigen Frauen durchaus eigenständige Stiftungen oder größere Weihungen vornehmen. Eine große Rolle spielten zudem Priesterweihungen und Stiftungen der Familien, aus denen die Mädchen mit Priesteramt stammten. Siehe dazu u. a. Kron 1996, 139–186. 28Siehe dazu u. a. Dakoronia 1992, 217–227 und Taf. 57–60.

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in besonderem Maße auch der ökonomische Wert zu beachten, da die Gewänder nicht nur von Frauen oder in deren Namen geweiht wurden, sondern die Frauen sie auch selbst herstellten.29 Durch die direkte Verbindung zwischen Votivgabe und dem typischen Handwerk der Frauen, dem Spinnen und Weben, erhält das Gewand nochmals eine viel stärkere Bedeutung im Hinblick auf die Rolle der Weiblichkeit innerhalb der Kultaktivitäten. Indem sie aktiv das Kultgeschehen im Heiligtum mitgestalteten, wurden den Frauen funktionale Handlungsbereiche zugänglich, die ihnen in der politischen Sphäre der antiken Gesellschaft weitestgehend versperrt blieben.

4 Frauen als soziale Gruppe innerhalb einer Religionsgemeinschaft Der alltägliche Besuch eines Heiligtums war Frauen gestattet, wobei sie im Rahmen von öffentlichen Kulthandlungen in besonderem Maße aktiv an der Gestaltung und Ausübung der Polisreligion beteiligt waren.30 In ihrer besonderen Funktion als Kultpersonal, als Stifterinnen von großformatigen Weihgeschenken und als Priesterinnen31 konnten Frauen in Heiligtümern als eigenständig handelnde Personen auftreten. Die Interaktion zwischen einer Frau und der Gottheit wurde dabei meist durch eine namentliche Nennung der Stifterperson am geweihten Objekt manifestiert.32 Diese Handlungsfreiheit im sakralen Raum steht bis zu einem gewissen Grad im Widerspruch zur sozialen Rolle der Frau in der griechischen Gesellschaft, in der ihr der rechtliche sowie soziale Status einer freien und aktiven Bürgerin verwehrt blieb.33 Ungeachtet der damit verbundenen juristischen und gesellschaftlichen Einschränkungen tritt das weibliche Geschlecht

29Siehe

dazu Marchiandi 2018, 61–93. dazu u. a. Hendersen 1991, 133–147 und Schmitt Pantel 1994. 31Siehe dazu u. a. Kron 1996, 139–186; Larsson Lovén/Strömberg 2003; Larsson Lovén/Strömberg 2007 und Conelly 2009. 32Vor der Heirat oblag die Vormundschaft dem Vater oder einem anderen männlichen Mitglied der Familie, sofern der Vater bereits verstorben war. Nach der Hochzeit ging die Vormundschaft, zu der auch die Verwaltung der Gelder und der Besitztümer gehörte, in die Hände des Ehemannes über. Es gilt zu beachten, in welchem Maße die finanzielle Macht von den Ehemännern bzw. Vätern ausging und wie die religiöse Transgression im griechischen Kult zu bewerten ist. Siehe zur Diskussion über die rechtliche Stellung der Frau im Gegensatz zum Mann u. a. Baltrusch 2007, 153–168 und Blok 2017, Kap. 4. 33Zur Diskussion um das griechische Bürgerrecht von athenischen Frauen und den damit verbundenen Statusgrundlagen innerhalb der Gesellschaft siehe aktuell Blok 2017. 30Siehe

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im Rahmen von Kulthandlungen,34 v.a. aus Anlass eines explizit weiblichen Ereignisses, wie dem Übergang vom Mädchen zur Frau am Ende der Pubertät, der Schwangerschaft, der Geburt eines Kindes oder der sich daran anschließenden Mutterschaft, als autonom agierendes Subjekt auf, was von den Männern geduldet werden musste und mithin als Konzession gewisser Rechte den Frauen gegenüber verstanden werden kann.35 Einige Kulte, wie die regelmäßig stattfindenden Initiationsrituale im Artemis-Heiligtum von Brauron, waren sogar dringend notwendig, damit die Geschlechter ihren jeweiligen Rollenbildern entsprechen konnten.36 Gewandweihungen37 und die Darstellungen auf einer speziellen Klasse von bemalten Weihgefäßen38 zeigen, welche spezifischen Riten erforderlich waren, um beispielsweise die Transformation von einem Mädchen zu einer Frau am Ende der Pubertät zu vollziehen.

34In

meiner Dissertation zum Thema „Materielle Weiblichkeit – Aspekte des Weiblichen in griechischen Kulten und die soziale Funktion der Frau im sakralen Raum“ konstruiere ich die religiöse Biographie einer griechischen Frau anhand idealer weiblicher Aspekte wie Schwangerschaft, Geburt oder Mutterschaft. Dabei gehe ich methodisch akteurszentriert vor, indem ich die handelnde Person einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich die der Frau, in der räumlichen Umgebung eines Heiligtums durch epigraphisches, literarisches und archäologisches Material kontextualisiere. Im Fokus steht dabei die Idealbiographie einer griechischen Frau, zu der spezifische Lebensabschnitte zählen, die wiederum religiöse Handlungen erfordern oder nach sich ziehen. 35Dabei ist zu beachten, dass die Primärquellen zur Rolle der Frau fast ausschließlich von Männern stammen. 36Hier ist explizit das Fest der Arkteia im attischen Artemis-Heiligtum von Brauron gemeint. Siehe dazu im Folgenden Cole 1984; Sourvinou-Inwood 1988; Sourvinou-Inwood 1990; Waldner 2000b und Seifert 2007, 55–71. Ursprünglich sollten alle Mädchen Attikas an den alle vier Jahre stattfindenden Ritualen in Brauron teilnehmen, jedoch ist davon auszugehen, dass im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. vorrangig Mädchen aus aristokratischen Familien teilnahmen. Siehe dazu v. a. Sourvinou-Inwood 1988, 39–66; 111–118; Sourvinou-Inwood 1990, 1–14; Seifert 2007, 57–59 und Nielsen 2009, 83–116. 37Bei den Gewändern handelt es sich um Kleidungsstücke, die die Frauen bei der Entbindung trugen und nach der Geburt der Göttin Artemis weihten. Einige Schriftquellen belegen, dass die Gewänder der Frauen, die die Geburt erfolgreich überstanden, als Geschenk für Artemis galten und die Gewänder der Frauen, die eine schwere Geburt hatten und dabei eventuell ihr Kind verloren oder gar selbst ums Leben kamen, der Heroine Iphigenie dargebracht wurden. Siehe dazu Nielsen 2009, 83–116; Sourvinou-Inwood 1988; Sourvinou-Inwood 1990; Waldner 2000b und Cleland 2005. Kürzlich wurden wohl archäologische Überreste von Gewändern und Stoffen im Artemis-Heiligtum von Brauron gefunden. Ich danke an dieser Stelle Dr. Maria Spathi für diesen wichtigen Hinweis. 38Siehe dazu Sourvinou-Inwood 1988; Kahil 1994 und Seifert 2007, 55–71.

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Öffentliche Prozessionen und Rituale, an denen zum Teil ausschließlich Frauen teilnehmen durften,39 wie etwa das Thesmophorien-Fest40 für die Fruchtbarkeitsund Ackerbaugöttin Demeter, lassen erkennen, welch wichtiger Stellenwert dem weiblichen Geschlecht in der griechischen Religion zukommen konnte. Vorschnelle Interpretationen sollten jedoch vermieden werden: Auch wenn es angesichts der zahlreichen exklusiv weiblichen Kulte verlockend wäre, von einer ›Frauenreligion‹ zu sprechen, so dürften diese Überlegungen zeigen, dass es sowohl historisch als auch methodisch falsch wäre, dieser Versuchung nachzugeben. Statt dessen stellt sich in jedem einzelnen Fall die Frage, wie die Kulthandlungen von Frauen ins gesamte System der Polisreligion eingebettet waren, welche politische Dimension sie hatten und wie die soziale und symbolische Position von Frauen und Männern jeweils rituell definiert waren.41

Für die Göttin Artemis können letztlich die Kultaktivitäten im attischen Heiligtum von Brauron am besten für eine Antwort auf die Frage nach transgressivem Interagieren von sozialen Gruppen in sakralen Räumen herangezogen werden.

5 Die Arkteia von Brauron – Transformation oder Transgression? Die Existenz des Kultortes und die Aktivitäten im attischen Artemis-Heiligtum von Brauron sind sowohl in archäologischer wie literarischer Hinsicht gut belegt.42 Die wichtigsten Zeugnisse im Hinblick auf die Kult- und Ritualaktivitäten bilden dabei neben dem architektonischen Befund und dem Votivmaterial wohl die Abschriften des Tempelinventars sowie Fragmente einer bestimmten Klasse von Weihgeschenken, den sogenannten Krateriskoi. Die Originale der in Athen aufbewahrten Tempelinventarduplikate sind nicht erhalten, stammen aber mit Sicherheit aus dem ca. 50 km entfernten Brauron, wo sich eines der wichtigsten Artemis-Heiligtümer des griechischen Festlandes befand.43 Die Siedlungsspuren des Stadtbezirks von Brauron reichen bereits in

39Zu

Frauenfesten siehe Foxhall 1995 mit weiterführender Literatur. Thesmophorien sind für Athen, Korinth, Kyrene oder Gela (Bitalemi) gut überliefert. Darüber hinaus ist die Zeugnislage schwierig, obwohl das reine Frauenfest in ganz Griechenland gefeiert wurde. Bislang gibt es keine zusammenhängende Monographie zu den Thesmophorien. Siehe Kron 1992, 611–650; Foxhall 1995; Bremmer 1996, Lowe 1998; Wagner-Hasel 1998; Winkler 1994 und Waldner 2000a, 25–29 mit Bibliographie. 41Waldner 2000b, 60. 42Eine gute Zusammenstellung findet sich bei Budin 2016, 77–80. Sie weist auch auf die unterschiedlichen Interpretationen des literarischen Materials hin und auf die Schwierigkeiten, die sich daraus für die Rekonstruktion des Rituals ergeben. Siehe dazu auch aktuell Guarisco 2015, 81–90. 40Die

43Zur

Topographie, Architektur und Geschichte des Artemis-Heiligtums von Brauron siehe Seifert 2007, 55 und Anm. 2 mit Bibliographie. Siehe auch Antoniou 1990.

Transformation oder Transgression?

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neolithische und mykenische Zeit zurück. Inschriften und materielle Hinterlassenschaften sichern den regen Kultbetrieb im heiligen Bezirk jedoch erst ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. Die Nutzung des Areals als Kultort der Artemis ist anhand der Befunde schließlich bis in das 3. Jahrhundert v. Chr. belegt.44 Innerhalb dieser Zeit veränderte sich, ähnlich wie in anderen griechischen Heiligtümern, die Votivpraxis, weshalb unterschiedliche Fundgattungen im archäologischen Befund auftreten. Die einzelnen Objektgattungen sind daher vermutlich nur für eine bestimmte Zeit der Kultaktivitäten benutzt worden und verschwanden anschließend oder wurden durch eine andere Gattung ersetzt.45 In der Nähe des Tempels befindet sich eine noch heute fließende Quelle, in der Tausende von kleinformatigen Votivgaben rituell deponiert wurden, darunter Spiegel, verschiedene Schmuckstücke, kleinere Gefäße, Webgewichte, Tonstatuetten und Geräte, die unmittelbar mit dem Spinnen und der Textilverarbeitung im Zusammenhang stehen. Dieses Fundspektrum lässt sich grob auf die Zeit zwischen 700 und 480 v. Chr. datieren. Während dieser Zeit wurden die Votivgaben in der Quelle versenkt, nachdem sie der Göttin Artemis geweiht worden waren.46 Neben kleineren, vor allem figürlichen Votiven, bilden die bereits angesprochenen Krateriskoi für dieses Heiligtum und die damit verbundenen Rituale47 die wichtigsten materiellen Zeugnisse. Dabei handelt es sich um figürlich oder ornamental bemalte Keramikgefäße, die jedoch nicht nur in Brauron gefunden wurden, sondern beispielsweise auch im Artemis-Mounichia-Heiligtum im Piräus oder in den Artemis-Heiligtümern auf der Agora bzw. der Akropolis von Athen.48 Weitere Fundkontexte sind Nymphen-Heiligtümer, das Heraion von Samos und kleinere Kultstätten in Attika.49 Anhand der Zeugnislage sind sie demnach als zeitlich fixiertes, in erster Linie lokales Phänomen für Attika und einige Teile der Peloponnes zu bewerten.50 Hamilton fasst die auf den Gefäßfragmenten dargestellten Szenen folgendermaßen zusammen:

44Vgl.

dazu u. a. Seifert 2007, 55. kann selbstverständlich keine konkrete Chronologie der Votivpraxis erstellt werden, da einerseits das bislang bekannte Fundmaterial nicht vollständig publiziert worden ist und andererseits die Ablösung von Materialgruppen nicht abrupt erfolgte.

45Hier

46Vgl.

Waldner 2000b, 61. Die Lage der Einzelpublikationen zu den genannten Fundgattungen ist extrem schwierig, da 1963 der Ausgräber J. Papadimitriou noch vor Veröffentlichung der Grabungsergebnisse verstarb. Vgl. Waldner 2000b, 61 mit Anm. 40 und Bibliographie. 47Siehe dazu u. a. Kahil 1963, 13–14 und Nr. 25–26, Taf. 6.1–2 und 25–26 Nr. 56, Taf. 14.3; Kahil 1965; Kahil 1977; Kahil 1988, 801–809 und Krauskopf 2005. 48Siehe dazu Seifert 2007, 55 mit Anm. 3; Hamilton 1989, 450 mit Nr. 1–30 und Kahil 1981, 253–263 und Taf. 62. 49Siehe dazu u. a. Mitsopoulos-Leon 1996, 185–206 und Rocco 2017, 3–18. 50Zur Problematik des Befundes und der Publikationslage siehe Seifert 2007, 65.

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Abb. 1  a Fragmente des rot-figurigen Krateriskos A aus einer Schweizer Privatsammlung (nach Kahil 1977, Taf. 18, übernommen aus Sourvinou-Inwood 1988, Taf. 1), b Fragmente des rotfigurigen Krateriskos B aus einer Schweizer Privatsammlung (nach Kahil 1977, Taf. 19, übernommen aus Sourvinou-Inwood 1988, Taf. 2)

The participants range from very young girls to adults; their garments, if they wear any, can reach to the ankles, to knees, midtigh, or the hips; the garments can be plain or decorated with white stripes or a white border, sleeved or sleeveless, belted or without belt. The figures’ hair can be long, shoulder length, short, or tied in a bun. The females most often are racing but can be depicted dancing, processing, or standing, and they can hold torch, garland, basket, staff, or laurel branches.51

Die Darstellungen auf den Krateriskoi aus Brauron zeigen also junge Mädchen beim Tanzen, bei agonalen Läufen und in unterschiedlicher Gewandung, darunter auch im sogenannten Krokotos52, oder unbekleidet in ritueller Nacktheit (Abb. 1 und 2). Darüber hinaus sind Orte und typische Objekte eines Heiligtums wiedergegeben, wie ein Altar und (Palm-)Bäume, was auf Kulthandlungen unter freiem Himmel hindeutet und Votivgaben oder Kränze, die die Mädchen in den Hän-

51Hamilton

1989, 453. Name Krokotos bezieht sich hier unmittelbar auf die Gestaltung und Farbe des Gewandes. Die vermutlich gelbe Farbe des Stoffes erklärt die Bezeichnung ‚Safrankleid‘. Siehe dazu u. a. Waldner 2000b, 64–65; Gennimata 2000, 101–104; Sourvinou-Inwood 1971, 339–342; Sourvinou-Inwood 1988, 131–133; 136–148. In der älteren Fachliteratur wurde der Krokotos auch als Anspielung auf das Bärenfell interpretiert. Siehe dazu Gennimata 2000, 107 und Anm. 68 mit Bibliographie. 52Der

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Abb. 2  Fragmente von diversen schwarz-figurigen Krateriskoi aus dem Artemis-Heiligtum von Brauron mit der Darstellung von rennenden und tanzenden Mädchen. (Nach Kahil 1965, Taf. 8, übernommen aus Sourvinou-Inwood 1988, Taf. 3)

den halten oder am Altar ablegen.53 Bislang sind einige Dutzend Krateriskoi und deren Fragmente mit rituellen Szenen, Prozessionen und agonalen Darstellungen publiziert und dem Artemis-Kult zugeordnet worden, wobei es hunderte Fragmente allein aus dem Heiligtum von Brauron gibt.54 Die Datierung der Fragmente gestaltet sich wegen der zum Teil eher minderwertigen oder schlechten Ton- und Bemalungsqualität als schwierig. Außerdem liefert die Stratigraphie

53Vgl.

Waldner 2000b, 65–67. Waldner untergliedert die Darstellungen ähnlich: Wettlauf, rituelle Jagd, Tanz, Gewänder, Palmen und Opfer. Dazu auch Nielsen 2009, 87–96. Zur Konstruktion sozialer Räume von Frauen siehe Stähli 2005, 83–110. 54Der Fundkontext ist nicht für alle Krateriskoi und deren Fragmente gesichert. Hamilton publizierte 1989 eine Zusammenstellung mit 32 Exemplaren. 1990 erschien ein Appendix von Scanlon mit weiteren 34 Krateriskoi. Vgl. Hamilton 1989, 449–472 und Scanlon 1990, 73–120.

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im Areal von Brauron keinen ungestörten Fundkontext, da zahlreiche Erdbeben in der Region für eine Durchmischung der Schichten sorgten. Ein Großteil der Fragmente kann daher nur grob in die Zeit zwischen 510/500 und 450 v. Chr. datiert werden.55 Die meisten Krateriskoi(-Fragmente) wurden im Umkreis des ArtemisTempels und der im Temenos-Gebiet liegenden Höhle, zu der auch das sogenannte Heroon oder Grab der Iphigenie gehört, gefunden.56 Die vorrangig lokal produzierten Gefäße wurden höchstwahrscheinlich im Ritual eingesetzt und anschließend als Votivgabe genutzt und im heiligen Bezirk deponiert.57 In der Forschung gibt es zudem die Interpretation, dass die Krateriskoi von den Mädchen bzw. deren Familien gestiftet wurden, die nicht an dem eigentlichen Ritual und den Initiationsriten teilnehmen konnten oder durften.58 Für griechische Heiligtümer sind Bildquellen von tatsächlich stattgefundenen Ritualen zwar eher untypisch, jedoch gibt es solche Funde im griechischen Raum nicht nur in Artemis-Heiligtümern, sondern beispielsweise auch im Kabirenheiligtum bei Theben59 und im Demeter und Kore-Heiligtum von Eleusis.60 Auf diese Weise konnten einige der zentralen religiösen Rituale nachgezeichnet werden; in Eleusis u. a. die Mysterien und in Brauron die sogenannten Arkteia. Doch was sagt das über die spezifische Funktion und den Wirkungsbereich der jeweiligen Gottheit aus? In ihrer lokalen Form im Heiligtum von Brauron ist Artemis in erster Linie zuständig für die Geburt, die Erziehung und Ernährung der Kinder sowie die Begleitung der jungen Erwachsenen beider Geschlechter am Ende der Pubertät. Der Aspekt der Kourotrophos ist im Wirkungsbereich der Göttin Artemis und auch in dem ihres Zwillingsbruders Apollon besonders zentral, da die Transformation vom Mädchen oder Knaben zur/zum Erwachsenen sowohl in physischer als auch in sozialer Hinsicht bedeutend ist. Insbesondere in Bezug auf das weibliche Geschlecht übernehmen die Götter hier wichtige Begleitfunktionen, wodurch die Rituale und die in ihren Heiligtümern zelebrierten Kulthandlungen einen zentralen Stellenwert im gesellschaftlichen Leben einnahmen. Der durch die Initiationsrituale am Übergang vom Mädchen zur Frau bedingte zentralisierte Fruchtbarkeitscharakter im Heiligtum von Brauron konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Artemis bei Mensch und Tier sowohl über das Leben als auch über den Tod entschied.61 Diese Funktionen spiegeln sich nicht nur in ihrer Ikonographie, sondern auch in ihren zahlreichen Votivgaben unterschiedlichster

55Siehe

dazu Nielsen 2009, 87–88 und Dowden 1990, 29–43. Nielsen 2009, 88. 57Vgl. dazu u. a. Sourvinou-Inwood 1988, 111–152; Waldner 2000b, 66; Seifert 2007, 55–71 und Nielsen 2009, 83–116. 58Siehe dazu Sourvinou-Inwood 1988; Dowden 1990, 25 und Nielsen 2009, 88. 59Siehe dazu Schmaltz 1974. 60Siehe dazu u. a. Clinton 1992. 61Siehe dazu Budin 2016 und Léger 2017. 56Vgl.

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Form und Größe wider. So ist beispielsweise genau geregelt, wann und in welcher Form die Gewänder der Frauen, die sie beim Geburtsakt trugen, im Heiligtum deponiert werden mussten. Die athenischen Tempelinventare geben hier genauestens Aufschluss darüber, welche Szenarien welche rituellen Akte voraussetzten. So wurden die Gewänder, Decken und Gürtel etc. beispielsweise beim Tod der Frau im Kinds- oder Wochenbett, bei Fehlgeburten oder beim plötzlichen Kindstod der Iphigenie geweiht, die ihren Kultplatz innerhalb des brauronischen Artemis-Heiligtums hatte.62 Die Gewänder etc. derjenigen Frauen, die die Geburt überlebten und gesunde Kinder zur Welt brachten, wurden Artemis persönlich geweiht. Auch hier waren die Namen der Stifterinnen an dem Objekt angebracht. Die Tempelinventare geben daher nicht nur die Art, die Stofffarbe und besondere Charakteristika der Gewänder wieder, sondern auch die Namen der Adorantinnen und ehemaligen Besitzerinnen der Kleidungsstücke.63 Die Inschriften und archäologischen Zeugnisse aus Brauron zeigen, dass die mit den Weihgaben verbundenen Kultaktivitäten sowohl innerhalb als auch außerhalb des Tempels stattgefunden haben müssen. Das ist u. a. mit dem Artemis-Brauronia-Heiligtum auf der Akropolis in Athen zu vergleichen, das dieselbe Funktion wie das ca. 50 km entfernt gelegene Heiligtum von Brauron hatte. Im Zusammenspiel mit den Vasendarstellungen auf den Krateriskoi(-Fragmenten) lassen sich so einige Kulthandlungen rekonstruieren, die regelmäßig im Heiligtum stattgefunden haben müssen. Obwohl ein Großteil des direkt in Brauron gefundenen archäologischen Materials bislang nicht oder nur unvollständig publiziert wurde, unterstreichen die bekannten Grabungsbefunde die kultischen Handlungen, die bereits in einzelnen literarischen Zeugnissen beschrieben worden sind. In den Scholien der Komödie Lysistrate von Aristophanes (Vers 645)64 wird beschrieben, dass die Mädchen mehrere Kultämter für verschiedene Gottheiten durchliefen und schließlich als Bärinnen im Artemis-Heiligtum von Brauron dienen mussten: ἡμεῖς γὰρ, ὦ πάντες ἀστοὶ, λόγων κατάρχομεν τῇ πόλει χρησίμων: εἰκότως, ἐπεὶ χλιδῶσαν ἀγλαῶς ἔθρεψέ με. ἑπτὰ μὲν ἔτη γεγῶσ᾽ εὐθὺς ἠρρηϕόρουν: εἶτ᾽ ἀλετρὶς ἦ δεκέτις οὖσα τἀρχηγέτι: κᾆτ᾽ ἔχουσα τὸν κροκωτὸν ἄρκτος ἦ Βραυρωνίοις: κἀκανηϕόρουν ποτ᾽ οὖσα παῖς καλὴ ‘χουσ᾽ ἰσχάδων ὁρμαθόν:

62Vgl.

Kahil 1994; Gentili/Perusino 2002; Cleland 2005; Nielsen 2009, 88; Despinis 2010 und Eur. Iph. T. 1456–1467. Zur Verbindung zwischen Artemis und Iphigenie siehe auch Budin 2016, 120–123. 63Siehe dazu den Katalog von Cleland 2005. 64Die Komödie wurde im Februar des Jahres 411 v. Chr. an den Lenäen in Athen aufgeführt. Zu dieser Zeit befand sich die Stadt bereits seit 20 Jahren im Krieg mit Sparta. Zum historischen Hintergrund der Lysistrata siehe auch Waldner 2000b, 53 mit Anm. 1–2.

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A. Gürlach Denn wir beginnen zu empfehlen, was nützlich für die Stadt ist, Bürger! Das steht ihr zu, denn prachtvoll und mit Glanz zog sie mich auf. Mit sieben war ich Arrhephoros, mahlt’ Opfermehl mit zehn für Pallas, war Bärin dann im Safrankleid in Brauron, trug dann den Korb als schönes Mädchen, hatte aus Feigen eine Kette.65

Daraus ergibt sich folgendes Szenario66: Präpubertäre Mädchen mussten für eine gewisse Zeit im Artemis-Heiligtum von Brauron leben, getrennt von ihren Eltern, und einen mehrtägigen religiösen Dienst verrichten. Dazu gehörten Rituale, vorbereitende Dienste im Hinblick auf die große Prozession und das wichtigste Fest, die alle vier Jahre stattfindenden Brauronia mit dem zentralen Initiationsritual, den Arkteia. Dabei traten die jungen Mädchen der Göttin als Arktoi, als (kleine) Bärinnen, entgegen, was einer Art Mysterienkult entspricht. Mythologische Grundlage für das Dienen als Bärinnen in Brauron war die Tötung eines heiligen Bären der Artemis durch den Bruder eines jungen Mädchens, das von dem Tier angegriffen worden war.67 Um das heilige Tier zu rächen und den Zorn der Artemis zu mildern, mussten sich junge Mädchen fortan als Bärin verkleidet in einem Ritual beweisen und bei rituellen Jagden ein kleines Tier, beispielsweise eine Ziege, opfern. Budin spricht sich auf dieser Grundlage sogar gegen eine Interpretation als Initiationsritual aus, da sie einerseits das Alter der Mädchen für zu jung bzw. zu alt für eine Initiation hält und andererseits den Aspekt der Sanktion betont, was u. a. durch den mythologischen Bezug erklärt werden kann.68 Ihrer Ansicht nach opfern die Mädchen der Göttin und halten Rituale ab, um sie zu besänftigen, da sie in der nahenden Zukunft ihren Kreis als Jungfrauen verlassen und als Ehefrauen per se nicht mehr in ihre Zuständigkeit fallen (abgesehen von der Geburt und der Mutterschaft). Meiner Ansicht nach besteht genau darin der Initiationscharakter dieses Rituals, weshalb der sanktionierende Aspekt ja nicht ausgeschlossen werden muss. Ursprünglich sollte dieses initiierende wie sanktionierende Ritual von allen attischen Mädchen durchgeführt werden, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und dem gesellschaftlichen Status. Aber in der Zeit des späten 6. und frühen 5. Jahrhunderts v. Chr., aus der auch die meisten archäologischen Zeugnisse stammen und in der wohl auch der Fokus auf der spezifischen Weihung der Krateriskoi lag, nahmen vorrangig Mädchen teil, die den aristokratischen und den höhergestellten Familien in Attika angehörten.69 In der Forschungsliteratur wird daher vorrangig

65Aristoph.

Lys. 637–647 (Übers. N. Holzberg 2012). dazu auch Sourvinou-Inwood 1988, 119–135 und Gennimata 2000, 103–104. Gennimata äußert dabei Kritik an Sourvinou-Inwoods Lesart des Lysistrata-Verses, was sich in erster Linie auf die Überlieferungsvarianten bezieht. Vgl. Gennimata 2000, 104. 67Siehe dazu u. a. Nielsen 2009, 98. 68Vgl. Budin 2016, 80. 69Vgl. Waldner 2000b und Seifert 2007, 55–71. 66Siehe

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die Meinung vertreten, dass die Krateriskoi mit den Darstellungen der Arkteia von Mädchen und deren Familien stammen, die nicht an dem eigentlichen Ritual teilnehmen konnten bzw. durften und auf diese Weise dennoch ihre Pflicht gegenüber der Göttin erfüllten.70 Die Teilnehmerinnen müssen sehr jung gewesen sein; in der Forschungsliteratur wird meist eine Altersspanne zwischen etwa 5 und 10 Jahren angegeben.71 Christiane Sourvinou-Inwood gibt hierfür jedoch eine andere Lesart. Sie geht davon aus, dass die jüngsten Mädchen etwa 10 Jahre alt waren.72 Ihre Altersgruppierung deckt sich auch mit den bildlichen Darstellungen auf den Krateriskoi, wo die Mädchen anhand ihrer physiognomischen Eigenschaften wie Figur und Frisur und ferner ihrer Kleidung grob in eine Altersgruppe zwischen 10 und 14 Jahre eingeordnet werden können. Diese Interpretation beruht auch auf Vergleichsmaterial außerhalb des Fundkontextes des Heiligtums, sodass dieser Altersklassifizierung mehr Gewicht beigetragen werden muss als den Interpretationen der literarischen Angaben in den Scholien des Aristophanes. 10 Jahre muss demnach die unterste Altersgrenze gewesen sein, was wiederum auch zu der Funktion als rites des passage passt, in diesem speziellen Fall zur transformierenden Altersstufe von der Präpubertät zur Pubertät. Dies entspricht dem Alter, ab dem Mädchen in der griechischen Antike heiratsfähig waren. Somit schließt dieses Ritual eine große soziale Gruppe innerhalb der Gesellschaft ein, auch wenn davon auszugehen ist, dass nicht alle Mädchen aus jeder sozialen Schicht am eigentlichen Ritual teilnahmen.73 Neben den Aktivitäten im Artemis-Heiligtum von Brauron und dem ArtemisMounichia-Heiligtum im Piräus sind auch Kulte und Rituale für andere Gottheiten bekannt, bei denen Mädchen gleichen Alters in Gruppen in den Kreis der Erwachsenen initiiert wurden. Oft fanden solche Rituale unter Ausschluss der Öffentlichkeit und insbesondere unter Ausschluss der Männer statt. Solche reinen Frauenkulte sind besonders durch das Fest der Thesmophorien aus griechischen Demeter- und Kore-Heiligtümern bekannt, wo alle zentralen Kultfunktionen von Frauen ausgeübt wurden.74 Dadurch ergibt sich ein deutlicher Gegensatz zur alltäglichen Rolle der Frau, da derartige Ämterrollen und selbstbestimmte Dynamiken von Frauen wie beispielsweise bei Übernahme einer Priesterschaft lediglich in religiösen Kontexten denkbar waren.

70Siehe

dazu Giuman 1999, 114 und Nielsen 2009, 85 und Anm. 11. dazu Brelich 1969; Sourvinou-Inwood 1971; Sourvinou-Inwood 1988; Waldner 2000b und Seifert 2007. 72Vgl. Sourvinou-Inwood 1971, 341. Siehe auch Sourvinou-Inwood 1988, 65. Hier stuft sie die Altersspanne wieder ein wenig zurück. Siehe dazu auch Brelich 1969. 73Zu den bildlichen Darstellungen von kindlichen Sozialisationsstufen im 6.–4. Jahrhundert v. Chr. siehe v. a. Seifert 2011. 74Die Thesmophorien sind für Athen, Korinth, Kyrene und Gela (Bitalemi) gut überliefert. Obwohl dieses reine Frauenfest in ganz Griechenland gefeiert wurde, ist die Zeugnislage schwierig. Bislang gibt es keine zusammenhängende Monographie zu den Thesmophorien. Siehe dazu Versnel 1992; Kron 1992, 611–650; Foxhall 1995; Bremmer 1996; Lowe 1998; Wagner-Hasel 1998; Winkler 1994 und Waldner 2000a, 25–29 mit Bibliographie. 71Siehe

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6 Kult und Ritual – Ausnahmezustand oder Alltag? Die hier untersuchten Kult- und Ritualhandlungen in einem griechischen Heiligtum folgen speziellen Regeln und entsprechen demnach nicht der alltäglichen ­Praxis. Dennoch zeigen sie, dass auch Oikos-Mitglieder, die ihrem sozialen Status und ihrer Zugehörigkeit zu einer definierten sozialen Gruppe, bedingt durch das Geschlecht,75 gemäß eigentlich nicht dazu befugt waren, an öffentlichen Handlungen aktiv teilnehmen konnten oder im Falle der Arkteia sogar mussten. Damit trugen sie wesentlich zur Gruppendynamik innerhalb der Gemeinschaft bei. Diese Aktivitäten können daher als identitätsstiftende Maßnahmen verstanden werden. Da die Rolle der athenischen Frau in der Gesellschaft letztlich darin bestand, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein und den Fortbestand des Oikos, im größeren Sinne auch den der Polis zu gewährleisten,76 kann das Ritual sogar als normstabilisierende Transgression gedeutet werden. Wenn ein Mädchen ihrer durch das Geschlecht vorgegebenen Bestimmung nicht entsprach, weil es die rituelle Transformation nicht vollzogen hatte, konnte das Rollenbild auch nicht erfüllt werden. Die Interaktion zwischen Frau und Gottheit befähigte dazu, vermeintlich festgesetzte Regeln außer Kraft zu setzen. In anderen ­Artemis-Heiligtümern, etwa dem auf Delos, traten Frauen mitunter aktiv als handelnde Subjekte auf, indem sie als Adorantinnen oder gar Stifterinnen von großformatigen Weihungen agieren, wie beispielsweise bei der Nikandre-Statue.77 Eine Frau konnte das allerdings nie ohne ihren Ehemann oder ihren Vater tun, da sie ökonomisch und finanziell abhängig war und nur selten über eigenes Vermögen verfügte.78 Dennoch wird beim Beispiel der delischen Nikandre die Frau namentlich als aktive Stifterin angeführt:79

75Siehe

dazu u. a. Wagner-Hasel 1988, 11–50 und Wagner-Hasel 1993, 535–543.

76Diese

spezielle Rolle der Frau bezieht sich vorrangig auf höhergestellte Frauen. Sklavinnen, Hetären und Frauen der unteren Gesellschaftsschichten waren davon ausgenommen, da sie von vornherein andere Aufgaben innerhalb der Stadt- und damit auch Religionsgemeinschaft übernommen haben. Ihre Aufgabe bestand u. a. im Arbeiten auf dem Feld, auf dem Hof u. Ä. Dadurch kam ihnen jedoch ebenfalls eine wichtige Rolle innerhalb der Gesellschaft und dem Oikos zu. Sie waren dadurch auch nicht ausschließlich auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter reduziert. Vgl. dazu Pomeroy 1975 und Blok 2017. 77Die

Statue der Nikandre wurde bereits 1878 auf der Insel Delos gefunden. Sie datiert in die Zeit um 660 v. Chr. und gehört damit zu den frühesten erhaltenen Großplastiken der griechischen Kunst. Die 1,75 m große Statue besteht aus Marmor und ist im Typus einer Kore gestaltet. Ob sie die Stifterin Nikandre darstellt oder die Empfängerin des Geschenks, Artemis selbst, ist bislang umstritten. Die am Objekt angebrachte Inschrift nennt besagte Nikandre als Stifterin und Artemis als Empfängerin. Eine Aufstellung im Artemis-Heiligtum von Delos ist daher anzunehmen. Vgl. zur Weihung der Nikandre-Statue und der damit verbundenen sozialen Bedeutung u. a. Kron 1996, 155–157 und Abb. 9–10. 78Siehe dazu die Forschungsliteratur zu den Vermögens- und Erbrechten von griechischen Frauen. Aktuell Blok 2017. Zur rechtlichen und juristischen Stellung der Frau siehe u. a. Pomeroy 1975. 79Eine Zusammenstellung von Weihungen an Artemis findet sich u. a. bei Budin 2016, 69–114.

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Nikandre hat mich der Fernhintrefferin, der Schützerin der Pfeile geweiht, die Tochter des Deinodikos, des Naxiers, hervorragend unter den Frauen, Schwester des Deinomenes, Frau des Phraxos.81

Nicht nur die kostbaren, großformatigen und besonderen Weihungen von Priesterinnen und Frauen im Kreise der Tempel- und Kultdiener repräsentieren die aktive Teilhabe des weiblichen Geschlechts an öffentlichen Kulthandlungen. Auch die Befunde von marmornen Weihreliefs, Statuen und Terrakotta- bzw. Bleistatuetten bezeugen Frauen als Akteurinnen,81 die etwa beim Darbringen von Votivgaben, beim Opfern oder beim Präsentieren des Nachwuchses und der damit verbundenen Dankesbekundung für ein gesundes Kind in Kontakt zu den Gottheiten traten.82 Die zentralen Rituale und Kultaktivitäten, wie etwa die Arkteia im Artemis-Heiligtum von Brauron, gehörten zum Erwachsenwerden und der damit verbundenen physiognomischen Transformation eines athenischen Mädchens dazu.83 Auch die gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen wurden davon beeinflusst, da athenische Frauen erst nach Durchlaufen der einzelnen Ämter würdig waren, eine Ehe zu schließen und das Dasein als Kind abzulegen.84 Ähnliche Initiationsrituale gab es auch für Jungen, beispielsweise im Artemis-Heiligtum von Sparta,85 wobei hier in erster Linie die Würde eines Athleten oder zukünftigen Kriegers im Vordergrund stand.86

80Nach

Ekschmitt 1986, 85. ist zu beachten, dass Frauen auf der Ebene der symbolischen Repräsentation, beispielsweise in Bildern oder Mythen, zwar sehr präsent sind, die damit verbundenen Narrative aber nicht der tatsächlichen Lebenssituation entsprechen. Vgl. dazu Waldner 2000a, 26 und Giuliani 2003. 82Die Repräsentation der Frau und der Nachkommen war auch zugleich eine Repräsentation der Familie oder des Vormunds, sofern sie noch keinen Ehemann hatte. 83Rituelle Nacktheit und die „symbolische Sexualisierung“ der Mädchen, die durch die Teilnahme an den Kultaktivitäten auf die Hochzeit und das Leben als erwachsene Frauen vorbereitet wurden, „bildete […] einen Gegenpol und eine Ausnahme zum normalen Leben.“ Waldner 2000b, 67 und Sourvinou-Inwood 1988, 129. 84Diese Vorgabe bezieht sich in erster Linie auf Mädchen und Frauen der Oberschicht, d. h. auf Frauen, die frei waren und somit zumindest ein passives Bürgerrecht besaßen. 85Siehe dazu u. a. Dawkins 1929. 86Auch hier ist davon auszugehen, dass nur eine bestimmte Gruppe von Jungen an den Initiationsritualen teilgenommen hat. Der Fokus wird ähnlich wie bei den Arkteia in Brauron auf aristokratischen und wohlhabenden Familien gelegen haben. Wettläufe, Schaukämpfe und athletische Agone sollten die Knaben auf eine ihrer zentralen Aufgaben als zukünftige Krieger vorbereiten. Siehe dazu u. a. Dawkins 1929 und Kaasgaard Falb 2009, 127–152. 81Hierbei

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Ähnlich der Interaktion zwischen der Adorantin und der Gottheit gibt es auch Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen wie Gesellschaft, Religion, Öffentlichkeit und Privatheit, Status und Rollenbild sowie Normen und Transgressionen. Damit die städtische Gemeinschaft fortbestand, mussten ihre Mitglieder ihre jeweiligen, meist vorbestimmten Aufgaben erfüllen. Damit die Götter nicht zürnten, sollten Rituale eingehalten werden. Um den Status jedes Einzelnen zu definieren, mussten ihm spezielle Funktionen zugewiesen werden. Schließlich mussten Transformationen erfolgen, um den vorbestimmten Platz in der Gesellschaft einnehmen zu können. Diese gingen nicht immer ohne Transgressionen vonstatten. Die Interaktion zwischen Gesellschaft in Form von Staat bzw. Stadt auf der einen Seite und der Religion auf der anderen Seite ist im Speziellen für die klassische Antike von großer Bedeutung. Der attische Artemis-Kult bietet dafür ein wichtiges Zeugnis antiker Religionsgemeinschaften. Durch die materielle und schriftliche Überlieferung der Rituale, unabhängig von den unterschiedlichen Deutungsvorschlägen, können Bild- und Textanalyse Hand in Hand gehen. Nicht nur die großen materiellen Zeugnisse der Architektur liefern dabei wichtige Informationen über die Lebensweise der Menschen. Gerade die kleinen, unscheinbaren Objekte wie Votivgaben aus Heiligtümern geben einen tiefen Einblick in das Zusammenleben und die Funktionen eines jeweiligen Gemeinwesens.

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Gerechter Lohn – gerechte Strafe? Religiöse Normen, Normtransgressionen und deren Folgen in Xenophons Hellenika Anja Pfeiffer

Zusammenfassung

Während die moralische-didaktische Zielsetzung der Hellenika in der Forschung übereinstimmend betont wird, bestehen nach wie vor Kontroversen über die Rolle der Religion und insbesondere der Götter in dem Geschichtswerk, da Xenophon diese an vielen Stellen nur implizit andeutet. In diesem Aufsatz wird eine systematische Untersuchung der Darstellung religiöser Normen und Normtransgressionen sowie deren Konsequenzen versucht. Zunächst werden eindeutige Marker für die sichere Identifizierung religiöser Normen und ihrer Transgressionen entwickelt, die in einem zweiten Schritt analytisch auf das Geschichtswerk angewendet werden. Hierbei zeigt sich, dass die Darstellung religiöser Normbrüche im Verlauf des Werkes und im Einzelnen abhängig von Xenophons jeweiligen Darstellungsabsichten stark divergieren und Xenophon an einigen Stellen bewusst von gängigen Deutungen historischer Ereignisse durch die Zeitgenossen abweicht, die seinem Narrativ zuwiderlaufen. Insbesondere die in der Forschung vielfach postulierte Regel einer zwangsläufigen göttlichen Sanktionierung religiöser Normtransgressionen muss angezweifelt werden.

Abstract

While scholars unanimously agree in emphasising the Hellenica’s underlying moral didacticism, controversy continues to exist about the role played in it by religion and especially the gods, to whom Xenophon frequently only makes somewhat vague allusions. This essay will attempt a systematic investigation of

A. Pfeiffer (*)  Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Gilhaus et al. (Hrsg.), Transgression und Devianz in der antiken Welt, Schriften zur Alten Geschichte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05508-8_4

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the representation of religious norms and transgressions, as well as of their consequences by developing a set of distinct markers for the identification of religious norms and their transgressions, which will then be used in an analysis of the Hellenica. This shows a great variability in how Xenophon depicts religious norm violations, with each case depending on his intentions; in some places he even deliberately deviates from traditional and commonly-held interpretations of historical events where they run contrary to his narrative. As a result, the rule frequently postulated by scholars, namely that in the Hellenica divine sanction inevitably follows the transgression of religious norms, cannot be upheld.

1 Einleitung Zu Beginn seines Berichts über den Asienfeldzug des spartanischen Königs Agesilaos 3961 schildert Xenophon einen Waffenstillstand mit dem persischen Satrapen Tissaphernes, der von beiden Seiten mit Eiden bekräftigt wird. Diesen Frieden habe Tissaphernes allerdings nur als Vorwand genutzt, um militärische Verstärkung kommen zu lassen, während Agesilaos ungeachtet dessen den Waffenstillstand eingehalten habe (III,4,5–6).2 Als der Satrap Agesilaos bald darauf aus einem Überlegenheitsgefühl heraus den Krieg erklärt, dankt der ihm dafür, „dass er sich durch seinen Eidbruch die Götter zu Feinden, den Griechen aber zu Bundesgenossen gemacht habe.“3 Damit wird der Eidbruch als Transgression einer religiösen Norm charakterisiert, für die Konsequenzen von Seiten der Götter angekündigt werden. Die „Feindschaft“ der Götter wird jedoch nicht näher expliziert und die Warnung scheint zunächst nur auf die Motivation der zahlenmäßig unterlegenen griechischen Truppen abzuzielen.4 Im weiteren Handlungsverlauf scheinen die Vorhersagen aber einzutreffen: Während die Lakedaimonier in der Schlacht bei Sardeis 395 über die persischen Truppen siegen und reiche Beute machen, fällt Tissaphernes in der Folge beim Großkönig in Ungnade und wird auf dessen Geheiß hingerichtet (III,4,24–26). In der Forschung ist das plötzliche und gewaltsame Ende des Tissaphernes als göttliche Strafe für die Normtransgression interpretiert worden, während der

1Falls nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich alle Jahresangaben auf die vorchristlichen Jahrhunderte. 2Alle Quellenverweise ohne Angabe beziehen sich auf Xen. hell. 3Xen. hell. III,4,11: […] ὅτι ἐπιορκήσας αὐτὸς μὲν πολεμίους τοὺς θεοὺς ἐκτήσατο, τοῖς δ᾽ Ἕλλησι συμμάχους ἐποίησεν. Übers.: Will 2016. Auch im Folgenden wird diese Übersetzung für Xen. hell. verwendet. 4Eine ähnliche Aussage macht Xenophon in der Anabasis zur Motivierung seiner Männer: Xen. an. III,1,21–22; vgl. Pownall 1998, 258 mit Anm. 35.

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Sieg der Lakedaimonier in der Schlacht als Belohnung für die Achtung göttlicher Gesetze, bzw. religiöser Normen gedeutet wurde.5 Für eine solche Deutung sprechen die Warnung, die Xenophon seinem Protagonisten in den Mund legt sowie einige Verweise auf dessen Handeln im Einklang mit den göttlichen Normen in der gesamten Passage.6 Insbesondere die Tatsache, dass in den Parallelüberlieferungen bei Diodor und Plutarch Referenzen auf den Eidbruch des Tissaphernes, die Gottgefälligkeit der Griechen und die Warnung des Agesilaos fehlen, verweist darauf, dass Xenophon seine Darstellung bewusst auf die moralische Lehre ausgerichtet hat.7 Die moralisch-didaktische Zielsetzung der Werke Xenophons und insbesondere sein Interesse an der Darstellung guter und schlechter Anführer sowie göttlicher Gerechtigkeit ist in der Forschung wiederholt betont worden.8 Nach Rudolf Dietzfelbinger dienen religiöse Normüberschreitungen in den Hellenika zum einen der negativen Charakterisierung von Personen, deren Schlechtigkeit durch die Übertretung nicht nur menschlicher, sondern auch göttlicher Normen gesteigert werde, zum anderen zur Erklärung ungewöhnlicher oder überraschender Vorgänge.9 Das „Motiv der göttlichen Vergeltung“ erfüllt nach Kai Trampedach ein allgemeines Bedürfnis nach „höherer Gerechtigkeit“. Durch das Aufzeigen der Konsequenzen für die Transgression grundlegender religiös-sozialer Normen würden diese eingeschärft und zementiert. Außerdem ermögliche dies die kausale Verknüpfung von zum Teil weit auseinanderliegenden Begebenheiten.10 Insbesondere Frances Pownall hat die Bestrafung religiöser Normtransgressionen als zentrales Motiv der Hellenika erkannt.11 Dieser Gedanke werde im fünften Buch der Hellenika ausgedrückt, wo es heißt:

5Vgl. u. a.: Pownall 1998, 257–258; Pownall 2004, 83–84; Hau: 2012, 593, 606–607; Hau 2016, 227; Flower 2016, 108–109; die gesamte Passage findet sich fast wörtlich im Enkomion auf Agesilaos: Xen. Ages. 1,10–17, 30–35. 6Vgl. Xen. hell. III,4,15: Agesilaos bricht aufgrund negativer Opferzeichen den Feldzug in Phrygien ab und zeigt sich damit gehorsam gegenüber den Göttern; III,4,18: Xenophon kommentiert Waffenübungen und Weihungen der Lakedaimonier an Artemis mit den Worten: „Wo nämlich Männer die Götter verehren, das Kriegshandwerk üben, Gehorsam gegenüber Vorgesetzten pflegen, wie sollte dort nicht wirklich alles bester Hoffnung sein?“: ὅπου γὰρ ἄνδρες θεοὺς μὲν σέβοιντο, τὰ δὲ πολεμικὰ ἀσκοῖεν, πειθαρχεῖν δὲ μελετῷεν, πῶς οὐκ εἰκὸς ἐνταῦθα πάντα μεστὰ ἐλπίδων ἀγαθῶν εἶναι; 7Diod. XIV,80,1–8; Plut. Ages. 9,1–10,3; Bei Paus. III,9,7 bleiben diese Elemente ebenfalls unerwähnt, dennoch führt er den Tod des Tissaphernes auf den Neid einer Gottheit zurück. 8U. a. Gray 1989, insb. 45; Dietzfelbinger 1992, insb. 142; Pownall 1998; Labadie 2014, 4–7; Pownall 2004; Hau 2012; Tamiolaki 2012; Hau 2016; Flower 2016; Pownall 2016, insb. 51–52, 61, 68; Marincola 2017. 9Dietzfelbinger 1992, insb. 142; vgl. Dillery 1995, 180–181. 10Trampedach 2005, 144–156, insb. 147–148. 11Pownall 1998, 252–253, 271–276; Pownall 2016, 75.

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A. Pfeiffer Viele Beispiele ließen sich aus der Geschichte der Griechen und der Barbaren als Beweis dafür anführen, dass die Götter diejenigen, die an ihnen freveln oder (den Menschen) heilige Gebote verletzen, nicht aus den Augen verlieren.12

Dennoch muss Pownall zugeben, dass die unvermeidliche Bestrafung religiöser Normverstöße in einigen Fällen schwer erkennbar ist und ohne die Beteiligung der Götter erfolgt.13 Sie erklärt dies mit dem Umstand, dass Xenophon nur an wenigen Stellen explizit auf religiöse Normübertretungen und deren Bestrafung hinweise, diese aber häufiger durch mehr oder weniger konkrete Andeutungen impliziere. Diese fehlende Konkretheit ist auch von anderen Forschern als narratologische Besonderheit Xenophons erkannt worden und wird zum Teil mit seiner Orientierung am Werk des Thukydides bei gleichzeitigem Rückgriff auf herodoteische Erzählmuster erklärt.14 Die fehlende Explizitheit hat einerseits dazu geführt, dass viele Studien nur auf die Passagen eingehen, in denen Xenophon eine entsprechende Deutung entweder direkt kommentiert oder den Akteuren in den Mund legt.15 Auch wurden die Handlungsspielräume der Götter in den Hellenika zum Teil unterschätzt, bzw. übersehen.16 Pownall betont dagegen, dass durch eine sorgfältige Lektüre der Quelle auch implizite Indizien für religiöse Normüberschreitungen und deren (göttliche) Bestrafungen identifiziert werden können, versäumt es aber diese konkret zu benennen.17 Dies birgt die Gefahr, die (göttliche) Vergeltung überall erkennen zu wollen, wo es in die Erzählung passt, auch wenn eindeutige Hinweise darauf im Text fehlen.18 Ziel dieser Studie soll es daher sein, zu zeigen, dass Xenophon an vielen Stellen von dem Muster der zwangsläufigen (göttlichen) Bestrafung ­ religiöser

12Xen. hell. V,4,1: πολλὰ μὲν οὖν ἄν τις ἔχοι καὶ ἄλλα λέγειν καὶ Ἑλληνικὰ καὶ βαρβαρικά, ὡς θεοὶ οὔτε τῶν ἀσεβούντων οὔτε τῶν ἀνόσια ποιούντων ἀμελοῦσι· […]. Vgl. Pownall 1998, 271. 13Pownall 1998, 272–273. Es ist zum Teil dem Fokus ihrer Studie auf (göttliche) Strafen und der isolierten Betrachtung der Passagen geschuldet, dass sie an vielen Stellen allzu leicht bereit ist, eine Strafe für religiöse Normüberschreitungen aus den Schilderungen Xenophons herauszulesen, wo eindeutige Hinweise darauf fehlen. Zum Teil nimmt sie mangels eindeutiger Hinweise auf konkrete Strafen die Bestrafung durch unbeteiligte Dritte an. 14Dillery 1995, 180–181; Pownall 1998, 252–253; 272–274; Trampedach 2005, 431–435; zur Rolle der Götter bei Herodot und Thukydides: Will 2015, 184–189; zur Erzählweise Herodots weiterführend: Mikalson 2002, 187–198; Will 2015, 92–103; zur Religion bei Thukydides weiterführend: Hornblower 1992. 15U. a. Dietzfelbinger 1992, insb. 135; Tuplin 1993, 215; Trampedach 2005. 16So sieht Bowden 2004, 231–232, 238–245 die Wirkmacht der Götter vornehmlich auf die Kommunikation mit den Menschen beschränkt; kritisiert von: Trampedach 2005, 87, Anm. 231. 17Pownall 1998, insb. 252–253, 256, 272–273, 276; vgl. Pownall 2004, 86. 18So versucht Pownall 1998, 269–276, die offensichtliche Abweichung zweier Passagen (Xen. hell. II,4,4; VI,5,6–9) vom Muster der zwangsläufigen (göttlichen) Strafe mit dem Verweis auf eine etwaige zeitverzögerte Bestrafung ihrer These einzupassen. Hau 2016, 238, Anm. 69 hat diese Hypothese zurückgewiesen und konnte ein weiteres Beispiel ergänzen (V,4,11–12), für das Pownall in ihrer Studie wenig glaubhaft eine Strafe konstruiert hat.

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Normüberschreitungen abweicht, ohne dass dieser Regel ihre Geltung völlig abgesprochen werden soll. Des Weiteren soll gezeigt werden, dass Xenophons Darstellung der Missachtung und Achtung religiöser Normen in den verschiedenen Teilen der Hellenika divergiert. Daher sollen in dieser Arbeit zunächst eindeutige Marker für eine Bewertung eines Ereignisses als Achtung oder Überschreitung einer religiösen Norm eruiert werden. Anschließend daran soll geprüft werden, welche Handlungen Xenophon als religiöse Normüberschreitungen und welche er (wider Erwarten) nicht als solche markiert. Insbesondere ist zu prüfen, ob er Normüberschreitungen immer mit (göttlichen) Strafen in Verbindung bringt und wo und warum er von diesem Erzählmuster abweicht.

2 Markierung religiöser Normen und Normüberschreitungen in den Hellenika In seinen didaktischen und sokratischen Schriften äußert sich Xenophon sehr konkret zu religiösen Normen, während in den Hellenika deren Überschreitung im Fokus steht.19 Den Gehorsam gegenüber den Göttern und die Beachtung religiöser Normen, beziehungsweise ein gottgefälliges Verhalten bezeichnet Xenophon meist mit Begriffen der Wortfamilie εὐσέβεια, ευσεβής, εὐσεβεῖν. Eusébeia umfasst unter anderem regelmäßige Gebete und Opfer, den Gebrauch mantischer Praktiken in wichtigen Fragen, das Vermeiden frevelhafter Reden sowie das Einhalten von Gelübden und bei den Göttern geschworenen Eiden.20 Nach Xenophon könne sich der Mensch durch die Achtung der göttlichen Normen die Götter gewogen machen, sodass sie gewillter seien, ihn zu unterstützen. Dies wird als reziprokes System gedacht, das nach dem do-ut-des-Prinzip funktioniert.21 Dass dieser Gedanke auch in den Hellenika eine Rolle spielt, konnte eingangs gezeigt werden. Die wenigen Verweise auf angemessenes Verhalten gegenüber den Göttern finden sich in den Hellenika ausschließlich in direkten oder indirekten Reden der Akteure, wobei hier das Adjektiv ὅσιος am häufigsten Verwendung findet.22

19Tamiolaki

2012, 566. Flower 2016, 89–90; zur Definition bei Xenophon insb.: Kaiser 2000, 363–364; Bowden 2004, 232–233; Im griechischen Denken wurde der Begriff auch für ein respektvolles Verhalten gegenüber den Eltern, Verstorbenen und dem Vaterland, gemäß den geltenden Normen, angewendet: vgl. Ps.-Aristot. De virtutibus et vitiis 1250b 9–24; zu allgemein griechischen Vorstellungen: Mikalson 2010, 140–186. 21Dillery 1995, 183–184; Kaiser 2000, 359–360, 364–365; Chernyakhovskaya 2014, 236–244; Berti 2017, 30; vgl. v. a.: Xen. mem. II,1,28; die Götter werden von Xenophon als allwissend, allmächtig und allgegenwärtig gedacht. Sie sind für die Menschen nicht unmittelbar wahrnehmbar und erfassbar, sondern nur durch ihr Wirken erkennbar, insbesondere durch ihre Kommunikation mit den Menschen; vgl. u. a.: symp. 4,47–48; mem. I,1,19; dazu: Dillery 1995, 183–185; Kaiser 2000, 355–360; Bowden 2004, 230–232. 22Vgl. ὅσιος: Xen. hell. I,7,19; II,4,42; IV,1,33; IV,7,2; VII,4,35; ὁσίως: IV,7,2; εὐσεβείν: I,7,25. 20Vgl.

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Das Gegenteil, der Ungehorsam gegenüber den Göttern und die Übertretung religiöser Normen, wird meist mit ασέβεια (asébeia) bezeichnet. In Xenophons Heimat Athen unterlag asebeía auch rechtlichen Sanktionen und umfasste die nichtsachgerechte oder fehlende Verehrung der Götter, die Beleidigung und Verletzung von Gottheiten, Priestern, Heiligtümern und anderen heiligen Gegenständen, aber auch die ungenehmigte Einführung neuer Gottheiten. Neben der rechtlichen Ahndung wurden diese Vergehen nach der allgemeinen Vorstellung durch die Götter bestraft.23 In den Hellenika findet für solche Handlungen neben Begriffen der Wortfamilie ασέβεια, ασεβής, ἀσεβεῖν häufig das Adjektiv ἀνόσιος Verwendung.24 Handlungen, die mit einer Transgression religiöser und göttlicher Normen einhergehen, können aber auch unspezifischer als Vergehen oder Verbrechen gegen die Götter charakterisiert werden, im Falle der Normeinhaltung als Pflichterfüllung gegen die Götter. Eine Handlung muss aber nicht zwingend als Normbruch (oder Normeinhaltung) benannt werden, um als solche erkennbar zu sein; es reicht aus, auf die göttlichen Konsequenzen hinzuweisen, wie dies Agesilaos mit seiner Warnung an Tissaphernes tut. Xenophon legt diese Deutungen in der Regel den Akteuren seines Geschichtswerks in den Mund; nur an wenigen Stellen kommentiert er die Ereignisse direkt.25 Religiöse Normbrüche können weiterhin markiert werden, indem ein gegenteiliges Handeln als normkonform bezeichnet wird oder ein Wohlverhalten der Götter erwarten lässt, oder ihnen tatsächlich ein normkonformes Verhalten gegenübergestellt wird.26 Neben der direkten oder indirekten wörtlichen Benennungen verwendet Xenophon noch subtilere Mittel, um die Verletzung (oder Achtung) einer religiösen Norm anzuzeigen: Im Folgenden sollen eindeutige Marker für die Identifizierung religiöser Normen und Normüberschreitungen in den Hellenika anhand der Passage zur Herrschaft der Dreißig in Athen 404/3 herausgearbeitet werden. Diese Passage eignete sich dafür besonders, da sie neben wörtlichen Benennungen von asébeia auch zahlreiche implizite Verweise auf die Transgression religiöser Normen und das Eingreifen der Götter enthält.

23Im

weiteren Sinne galten auch Mord, die Vernachlässigung oder Verletzung der Eltern, die nicht sachgerechte oder fehlende Bestattung und Verehrung der Verstorbenen sowie Verrat des Vaterlandes als asébeia: Kaiser 2000, 375; Mikalson 2010, 140–186; Bowden 2015, 326–336. 24Kommentar Xenophons: ἀσέβεια: Xen. hell. IV,4,3; ἀσεβεῖν: I,4,14, 20; V,4,1; ἀνόσιος: IV,4,2, 3; V,4,1; Äußerungen der Akteure: ἀσεβής: II,3,53; ἀνόσιος: II,4,21, 22; VII,3,6, 7. 25Vergehen gegen die Götter: ἡμαρτηκότας εἰς θεούς: Xen. hell. I,7,19; ἔγκλημα τοῦτο πρὸς τοὺς θεούς: VII,4,34; Pflichterfüllung gegen die Götter: οὐκ ἐπελάθετο τοῦ θείου: IV,3,20; göttliche Konsequenzen: πολεμίους τοὺς θεοὺς ἐκτήσατο […]. Ἕλλησι συμμάχους ἐποίησεν: III,4,11; θεοῖς […] πόλεμον: II,4,22; θεῷ […] χαρίζεσθαι: VII,4,35; θεοὺς εὐμενεστάτους: VI,4,2; Transgressionen menschlicher Normen werden eindeutig abgegrenzt und als ἄδικος, ἀδικεῖν, ἄνομος bezeichnet. Zum Teil werden sie parallel zur Überschreitung religiöser Normen geschildert: II,4,22; IV,4,3; VII,3,6; vgl. Pownall 1998, 253–256; Hau 2016, 219–223. 26Ausschließlich von den Akteuren geschildert: Lob gegenteiligen Handelns: Xen. hell. I,7,25; VI,4,2–3; Gegenüberstellung einer Normkonformität: VII,3,6.

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Die Dreißig werden 404 für die Reformierung der Verfassung gewählt, errichten aber bald eine Tyrannis, verfolgen Gegner, limitieren das Bürgerrecht und vertreiben einen Großteil der Athener aus der Stadt (II,3,11–22). Die Darstellung fokussiert auf den Konflikt zwischen Theramenes und Kritias; Ersterer kritisiert das Vorgehen gegen unschuldige Bürger, Letzterer verteidigt dies aber als Mittel der Herrschaftssicherung (Xen. hell. II,3,23–49). Die unrechtmäßige Hinrichtung des Theramenes durch seine Mittyrannen unter der Missachtung seines sakralen Schutzrechts an einem Altar wird durch diesen selbst als religiöser Normbruch markiert, indem er die Tyrannen als ἀδικώτατοι […] καὶ ἀσεβέστατοι bezeichnet (II,3,53), die zur Zustimmung gezwungenen Ratsherren dagegen als καλοὶ κἀγαθοί. Er ruft darüber hinaus Götter und Menschen als Zeugen des Normbruchs an. Außerdem betont Xenophon die ungewöhnliche Reaktion der anwesenden Ratsherren, die sich aus Furcht vor bewaffneten Wächtern und Soldaten ruhig verhalten (II,3,55). Er impliziert damit, dass unter anderen Umständen eine betroffene oder entrüstete Reaktion erfolgt wäre. Kurz darauf wechselt Xenophon die Perspektive und schildert den Kampf der Demokraten gegen die Dreißig und ihre Anhänger. Ein ungewöhnlicher Schneesturm, der aus heiterem Himmel hereinbricht und die Belagerung der Demokraten in einer attischen Grenzfestung vereitelt (II,4,2–3), wird rückblickend vom Anführer der Demokraten, Thrasybulos, als göttliches Werk gedeutet (II,4,14). Vor der Schlacht zwischen Demokraten und Tyrannen im Piräus kündigt Thrasybulos seinen Männern weitere göttliche Unterstützung an (II,4,15). In der Darstellung wird außerdem die eusébeia der Demokraten und ihres Feldherrn betont, die einen Schlachtgesang anstimmen, Ares anrufen und sich gehorsam gegenüber den Opferzeichen zeigen (II,4,17–18). Die Opferzeichen kündigen den Sieg der Demokraten an, sofern sie erst angreifen, nachdem einer von ihnen von den Gegnern verwundet oder getötet wurde. Während die Demokraten abwarten, erfüllt der Seher selbst diese Bedingung, indem er sich den Feinden als Erster entgegenwirft. Xenophon kommentiert, dass er wie von einem Verhängnis (μοῖρα) getrieben handelte und mit seiner Vorhersage Recht behielt, womit er als göttliches Werkzeug erscheint (II,4,19). Anschließend fordert ein Herold zur Versöhnung der Athener auf und benennt noch einmal die Vergehen der Dreißig, die er mit dem normkonformen Verhalten der Demokraten kontrastiert (II,4,20–22).27 Zwar ist an keiner Stelle ausdrücklich von der Bestrafung der Dreißig durch die Götter, insbesondere für die Missachtung des Asylierechts, die Rede, doch

27Xen.

hell. II,4,21–22: πρὸς θεῶν πατρῴων καὶ μητρῴων […], αἰδούμενοι καὶ θεοὺς καὶ ἀνθρώπους παύσασθε ἁμαρτάνοντες εἰς τὴν πατρίδα, καὶ μὴ πείθεσθε τοῖς ἀνοσιωτάτοις τριάκοντα […]. ἐξὸν δ᾽ ἡμῖν ἐν εἰρήνῃ πολιτεύεσθαι, οὗτοι τὸν πάντων αἴσχιστόν τε καὶ χαλεπώτατον καὶ ἀνοσιώτατον καὶ ἔχθιστον καὶ θεοῖς καὶ ἀνθρώποις πόλεμον ἡμῖν πρὸς ἀλλήλους παρέχουσιν. Übers.: „Bei den Göttern unserer Väter und unserer Mütter […] achtet die Götter und die Menschen, hört auf, euch an der Vaterstadt zu versündigen und folgt nicht mehr den frevelhaften Dreißig […]. Obwohl wir als Bürger in Frieden leben könnten, bringen uns diese den allerschändlichsten, grausamsten, gottlosesten, Göttern wie Menschen verhasstesten Krieg, den Krieg der Bürger untereinander.“

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unterstützten die Aussagen der Beteiligten und der Verlauf der Ereignisse diese Deutung. Kritias selbst, den Xenophon als Kopf der Dreißig und als verantwortlich für viele ihrer Verbrechen darstellt, stirbt in der Schlacht und erhält, so kann gedeutet werden, seine gerechte Strafe (II,4,19).28 Die Tatsache, dass weder Aristoteles noch Diodor in ihren Darstellungen ein Eingreifen der Götter andeuten, obwohl Letzterer den Frevel an den Göttern deutlich benennt, spricht dafür, dass es sich um eine bewusste Gestaltung der Passage durch Xenophon handelt.29 Es kann festgehalten werden, dass Xenophon die Übertretung (oder Achtung) religiöser Normen mit folgenden Mitteln markiert: (A) die wörtliche Benennung durch einen Autorkommentar von Xenophon selbst, (B) die wörtliche Benennung in der (direkten oder indirekten) Rede der Akteure, (C) die Ankündigung göttlicher Konsequenzen für eine Handlung (durch Autorkommentar, die Akteure oder Orakel und Götterzeichen), (D) die Anrufung von Göttern (und Menschen) als Zeugen (eines Unrechts), (E) die Kontrastierung mit normkonformem oder transgressivem Verhalten, (F) die Schilderung der Reaktionen von Zeugen, (G) die Schilderung göttlichen Wirkens als (positive oder negative) Sanktion, (H) die Schilderung ungewöhnlicher Ereignisse, die auf göttliches Wirken verweisen können und als (positive oder negative) Sanktion gedeutet werden können.30 Trotz dem Zutreffen einiger Marker kann nicht immer eine klare Identifizierung religiöser Normen und Normbrüche erfolgen, wie am folgenden Beispiel verdeutlicht werden soll: Der Alkibiades angelastete Mysterienfrevel wird wörtlich klar als religiöser Normbruch markiert (A). Die Täterschaft des Alkibiades bleibt allerdings fraglich und er wird in dieser Sache freigesprochen. Seine Rückkehr nach Athen wird von einigen Athenern als schlechtes Vorzeichen für ihn und die Stadt gedeutet – Xenophon gibt, neben anderen, eine Meinung wieder, nach der Alkibiades künftiges Unglück für die Stadt verursachen werde (C) –, nicht aber als Normbruch. Das Gros der Athener begrüßt dagegen seine Rückkehr (I,4,14, 20). Als Stratege kann er zunächst Erfolge für Athen erringen (I,4,21–23). Seine spätere Absetzung infolge einer Niederlage gegen die Lakedaimonier erscheint unbegründet, da die

28Pownall

1998, 259–260; Villani 2003, 288–289; Trampedach 2005, 85; Flower 2016, 106–107; Pownall 2016, 58–60; nach Pownall 2016, 60–61 erfüllt die Betonung des Eingreifens der Götter die Funktion, den untypisch heroischen „Tyrannentod“ des Kritias in der Schlacht zu verschleiern und als gerechtes Ende darzustellen; dagegen: Dillery 1995, 253. 29Diod. XIV,2,1; XIV,3–6; Aristot. Ath. pol. 34–40; zur Darstellung des Theramenes in diesen Quellen: Shear 2011, 181–183; Xenophon hat vermutlich auf zeitgenössische Deutungsmuster des Geschehens durch die Athener zurückgegriffen. Er selbst hat sehr wahrscheinlich als Reiter unter den Dreißig gedient: Will 2016, 355–356. 30Die Marker werden im Folgenden als Buchstaben in Klammern hinter den entsprechenden Passagen angegeben. Nicht-zutreffende Marker werden durch das Symbol ≠ und den Buchstaben gekennzeichnet.

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Schlacht bei Notion 407 in seiner Abwesenheit und gegen seinen ausdrücklichen Befehl geschlagen wird (I,5,11–17). Insbesondere tritt er vor der entscheidenden Schlacht bei Aigospotamoi, die den Krieg zugunsten Spartas entscheidet, als Warner auf, findet aber kein Gehör (II,1,25). Die Befolgung seines Rates, so wird impliziert, hätte das Kriegsglück vielleicht wenden können (II,1,27–29). Alkibiades ist nicht für die Kriegsniederlage Athens verantwortlich, womit sich die Vorhersagen nicht erfüllen (≠C). Auch seine Absetzung als Stratege erscheint unberechtigt und wird frei von jedem übernatürlichen Bezug geschildert (≠G). Auffällig ist allein, dass keine Motivation für das Handeln des Mannes genannt wird, der durch sein unbedachtes Verhalten den Kampf mit den Lakedaimoniern provoziert (I,5,12) (H?). Dieser Umstand allein ist aber nicht ausreichend, um eine göttliche Herbeiführung des Ereignisses anzunehmen. Die Identifizierung eines eindeutigen Normbruchs des Alkibiades bleibt zweifelhaft, was auch durch die unterschiedlichen Deutungen der Passage in der Forschung deutlich wird.31 Dies verdeutlicht, wie wichtig für die folgende Untersuchung der Hellenika auf religiöse Normen und deren Transgression eine genaue Prüfung ganzer Passagen auf das Zutreffen der Marker ist.

3 Religiöse Normen und Normüberschreitungen in den Hellenika Die folgende Untersuchung orientiert sich an der Typisierung von asébeia bei Pownall und Trampedach. Pownall fügt ihrer Studie eine Auflistung aller „cases of impiety“ in den Hellenika an, die sie nach sieben Typen kategorisiert.32 Trampedach hängt seiner Untersuchung zur hierosylía ebenfalls eine ähnlich kategorisierte Auflistung an.33 Die von Pownall und Trampedach aufgelisteten Fälle sollen im Folgenden anhand der oben erarbeiteten Marker überprüft, korrigiert und ergänzt werden.

31Gray 1989, 91–93 bewertet die Beschreibung der Rückkehr des Alkibiades positiv und betont, dass die Vorhersagen nicht eintreffen; vgl. auch: Brown Ferrario 2012, 354–356. Pownall 1998, 262–263 dagegen deutet die Rückkehr des Alkibiades an einem Feiertag als bewusste Missachtung einer religiösen Norm und als Anspielung auf seine tatsächliche Beteiligung am Mysterienfrevel. Außerdem sieht sie seine Absetzung als göttliche Strafe für die Missachtung des Festtags. 32Pownall 1998, 276–277: ‚Breaking of Oaths‘, ‚Violation of Sanctuary‘, ‚Violation of Cult or Festival‘, ‚Negligence in Religious Ritual‘, ‚Manipulation of Religious Ritual‘, ‚Physical Damage to Temple Buildings‘, ‚Temple Robbery‘. Insgesamt identifiziert sie 31 ‚Cases‘. 33Trampedach 2005, 157–165: Aufgrund des Fokus auf die Hierosylia, die er als Gewaltausübungen im Zusammenhang mit griechischen Heiligtümern auffasst, fehlen die Kategorien ‚Eidbruch‘ und ‚Missachtung sowie Manipulation religiöser Rituale‘. Dagegen wird zwischen verschiedenen Formen der Verletzung von Heiligtümern (durch Feuer, Entweihung, Zerstörung heiliger Gegenstände) unterschieden. Daneben finden sich die Kategorien ‚Tempelraub‘; ‚Verletzung von Kult oder Festen‘; ‚Missachtung von Kultvorschriften‘, sowie die ‚Verletzung des sakralen Asyls, bzw. der Hikesie‘. Insgesamt werden neun Fälle von Hierosylia in den Hellenika aufgeführt.

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3.1 Eidestreue und Eidbruch Eide wurde im antiken Griechenland bei bestimmten Schwurgöttern geleistet, die nach allgemeinen Vorstellungen den Meineid bestraften.34 In der Forschung wurde häufig darauf verwiesen, dass Xenophon insbesondere das Einhalten von Eiden als wichtig erachtet, den Eidbruch in den Hellenika deutlich als asébeia markiert und von den Göttern ahnden lässt.35 Auf den Eidbruch des Tissaphernes und die Eidestreue des Agesilaos sowie deren göttliche Konsequenzen ist bereits eingegangen worden (III,4,5–26) (B, E, H). Xenophon hebt an anderer Stelle positiv hervor, dass die Athener nach der Restauration der Demokratie 403/2 einer Aufforderung des Thrasybulos folgen und ihre Eide achten (εὔορκοι καὶ ὅσιοί) (A, B), wodurch ein friedliches Zusammenleben der Bürger gewährleistet wird (II,4,42, 43).36 Insbesondere der Bruch der Eide der Lakedaimonier auf den Königsfrieden 387/6 mit der Besetzung der thebanischen Akropolis (Kadmeia) (Xen. hell. V,2,25 und V,2,31) wird nachträglich mit deutlichen Worten als Bruch religiöser Normen markiert (τῶν ἀσεβούντων; τῶν ἀνόσια) (A) und eine göttlich motivierte Strafe durch die Hände der Thebaner angekündigt (C), die die bis dahin unbesiegten Lakedaimonier vertrieben hätten (H) (V,4,1).37 Durch die deutliche Markierung des Normbruchs und den direkten Verweis auf die göttliche Sanktionierung ist diese Passage gegenüber den übrigen deutlich herausgehoben. Sie markiert die Peripetie der spartanischen Hegemonie: im Folgenden häufen sich die Niederlagen der Lakedaimonier.38 In der Forschung ist darauf hingewiesen worden, dass die Lakedaimonier bereits vor dem Eingreifen in Theben mit den Feldzügen gegen Mantineia 386 (V,2,1–7), Olynth 383–379 (V,2,11–24, 37–43; V, 3,8, 26) und Phleius 384–379 (V,2,8–10; V,3,21–25) den Königsfrieden gebrochen hätten, was von Xenophon jedoch nicht eindeutig als Normbruch und vor allem nirgends als religiöser Normbruch charakterisiert wird (≠ A–H).39 Interessanterweise wird auch bei Diodor (XIV,20; XV,23,3–4), dessen Bericht sich auf den Zeitgenossen Ephoros stützt, das Vorgehen gegen Theben herausgehoben, das er aber weder als Bruch religiöser Normen deutet noch göttlich ahnden lässt.40 Die Besetzung der Kadmeia wird bei Xenophon und in der Parallelüberlieferung dem eigenmächtigen Handeln

34Graf

2005, 237–238, 245–246; Berti 2017, 17. 1995, 184; Kaiser 2000, 375; Marincola 2017, 311–314. 36Dazu: Gray 1989, 104–105. 37Vgl. oben das Zitat in der Einleitung; vgl. Flower 2017, 319. 386 hatten die Lakedaimonier im Königsfrieden geschworen, die Autonomie der Poleis im griechischen Mutterland zu achten (Xen. hell. V,1,29–35); dass die Lakedaimonier zuvor bereits Niederlagen hinnehmen mussten (u. a.: IV,5,11–18; IV,5,19; V,3,3–6), übergeht Xenophon. 38Dillery 1995, 220–221; Pownall 2004, 68: in Xen. hell. V,3,27 werden die Lakedaimonier auf dem Höhepunkt ihrer Macht geschildert; vgl. auch: V,2,36. 39Dillery 1995, 215–225, insb. 215–216, 222. 40Dillery 1995, 207–223. 35Dillery

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des spartanischen Feldherren Phoibiades angelastet (V,2,25–30), dessen Vorgehen allerdings Agesilaos verteidigt (V,2,32). Bei Plutarch (Ages. 23–24) und Diodor (XV,19,4–20,2) wird deutlichere Kritik an der Haltung des Agesilaos geübt.41 Ein erneuter Bruch eines Friedens 371 führt die Lakedaimonier direkt in die Niederlage bei Leuktra gegen Theben und dessen Verbündete (VI,4,3–15). Kontrastiert wird dies mit der Eidestreue der Athener (VI,4,1) (E). Außerdem tritt der Spartaner Prothoos als Warner auf, der den Lakedaimoniern göttliches Wohlwollen für die Auflösung ihres Heeres in Aussicht stellt (C, E). Die Ablehnung seines Vorschlags scheint von einem Gott beeinflusst, sodass die Niederlage als langfristig angelegte göttliche Strafe für das Fehlverhalten der Lakedaimonier erscheint (VI,4,2–3) (H).42 Insgesamt scheint Xenophon der Verweis auf die göttlichen Sanktionen als Erklärung für den unerwarteten Verlust der spartanischen Hegemonie in Hellas und insbesondere die Niederlage der Lakedaimonier in der Schlacht bei Leuktra 371 zu dienen.43 Wenig Beachtung haben dagegen in der Forschung Beispiele gefunden, in denen der Eidbruch nicht geahndet wird: Während der Befreiung Thebens von der lakedaimonischen Besatzung 379 brechen die Thebaner ihre Eide, den Lakedaimoniern und ihren Verbündeten freien Abzug zu gewähren, indem sie diejenigen der Abziehenden, die sie als Feinde erkennen, ergreifen und zum Teil auch zusammen mit ihren Familien hinrichten lassen. Xenophon bezeichnet dies zwar mit drastischen Worten als Blutbad (ἀπέσϕαξαν), aber nicht konkret als religiösen Normbruch (V,4,10–12) (≠A). Das Vergehen bleibt weitgehend ungeahndet (≠G, ≠H).44 41Zur

Darstellung Xenophons: Goodman/Holladay 1986, 153; Tuplin 1993, 98 f.; Flower 2017, 308–309; zu Plutarch und Diodor: Westlake 1986, 267–268; Hamilton 1994, 240, 253–255, 258. 42Vgl. Pownall 2004, 89–90; Trampedach 2005, 357–359; vgl. Dillery 1995, 245–246, mit Anm. 20: die Figur des „Warners“ tritt bei Herodot in verschiedenen Kontexten und verschiedenen Variationen auf. Er rät in der Regel einer Führungspersönlichkeit von übermütigen, kritischen oder riskanten Unternehmungen ab, findet jedoch selten Gehör, womit der Irrtum und das Scheitern des Gewarnten noch eindrücklicher hervorgehoben werden. Dazu ausführlich: Will 2015, 100–103. Pownall 1998, 257 und 2004, 89–90 deutet die Niederlage bei Leuktra auch als Strafe für die widerrechtliche Besetzung der spartanischen Kadmeia. Obwohl in Xen. hell. V,4,1 zunächst nur von der Vertreibung der Lakedaimonier als Strafe die Rede ist, wird diese Deutung durch göttliche Vorzeichen gestützt: u. a. V,4,17; zu diesem und weiteren Vorzeichen: Trampedach 2015, 87–88. 43Dillery 1995, 223–225; Pownall 2016, 63–64; Trampedach 2015, 356–357, 377–378. Dass die unerwartete Schlachtniederlage der Spartaner auch bei den Zeitgenossen einer Erklärung bedurfte, zeigt die ungeheure Anzahl überlieferter Orakel und Vorzeichen, die auf den Ausgang hinweisen. Xenophon hat davon nur einen kleinen Teil in seine Darstellung aufgenommen und bemüht sich insgesamt, ihre Bedeutung durch den Verweis auf mögliche Manipulationen durch die Thebaner herunterzuspielen: dazu weiterführend: Trampedach 2015, 356–378. 44Eine Kampagne der Lakedaimonier unter Kleombrotos 379 wird nicht als Rachefeldzug geführt (V,4,14–18); Agesilaos kann zwar in den Folgejahren das Gebiet der Thebaner verheeren, aber eine göttliche Einmischung wird nicht angedeutet (V,4,34–55) (≠G, ≠H). Pownall 1998, 258 hat dagegen die Tötung von 150 thebanischen Leichtbewaffneten, die während der Befreiung Thebens aus dem Gefängnis befreit wurden, durch die Lakedaimonier als konkrete Strafe für den Eidbruch der Thebaner durch die Hinrichtung der Verräter interpretiert; es fehlen aber eindeutige Indizien für diese Deutung. Hau 2016, 239, Anm. 70 hat eingewendet, dass die Beteiligung der Leichtbewaffneten an den Ereignissen nirgends erwähnt wird und höchst zweifelhaft sei.

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Die Vertreibung der Lakedaimonier und ihrer Verbündeten ist darüber hinaus zuvor als göttliche Strafe für diese angekündigt worden (V,4,1) und die Tötung der thebanischen Verräter wird rückblickend als gerechtfertigte Strafe gekennzeichnet (VII,3,7), gilt somit also nicht als Normbruch.45 Die Verurteilung und Hinrichtung der athenischen Strategen im Arginusenprozess durch das Volksgericht 406 wird im Vorfeld von dem Politiker Euryptolemos als Frevel gegen die Götter (ἡμαρτηκότας τὰ μέγιστα εἰς θεούς) und Verletzung ihrer Richtereide gedeutet (I,7,19, 25) (B, E). Dies zieht jedoch keine Strafe nach sich (I,7,35) (≠G, ≠H).46 Insbesondere in den letzten beiden Büchern werden Eidbrüche verschiedener Akteure berichtet, die zwar direkt oder indirekt als Transgression religiöser Normen markiert werden, aber weder göttlich noch menschlich motivierte Sanktionen nach sich ziehen: Das Eingreifen in den tegeischen Bürgerkrieg 370 durch die Mantineier wird als Bruch ihrer Eide auf den Frieden von 371 bezeichnet (VI,5,8–10) (A, E), ein Rachefeldzug der Lakedaimonier gegen die Arkader – es wird betont, dass sie damit ihren Eiden entsprechend, den Tegeaten zu Hilfe kommen, ohne dies als religiöse Normeinhaltung zu charakterisieren (≠A, ≠B) – ist aber nur mäßig erfolgreich (VI,5,10–21) (≠H), wohingegen diese erfolgreiche Feldzüge gegen die Orchomeneier (VI,5,13–14) und sogar die Lakedaimonier führen (VI,5,22–50).47 Die Beteiligung der Mantineier an religiösen Normverstößen in Tegea (VI,5,6–9) wird dagegen nicht thematisiert. Weitere ungeahndete Eidbrüche werden von den Argivern und Tegeaten begangen.48 Auffällig ist zudem, dass Xenophon neben den Verbrechen der Demokraten während des korinthischen Bürgerkriegs 393 auch erwähnt, dass die neuen Machthaber den ins Exil gegangenen Aristokraten die unbeschadete Rückkehr eidlich versicherten (IV,4,5–6). Über die Einhaltung der Eide geht Xenophon aber stillschweigend hinweg (≠A, ≠B).

45Vgl. Pownall 2016, 65; Trampedach 2005, 155–156 konnte zeigen, dass im 5. und 4. Jahrhundert ein Tyrannenmord den Bruch religiöser Normen rechtfertigte und zu keiner Befleckung der Täter führte. 46Es werden zwar Athener angeklagt, die das Volk zu einem gesetzwidrigen Verfahrensprozess überredet hatten, doch können sie aus der Gefangenschaft fliehen; allein Kallixenos kehrt nach Athen zurück und verhungert, von allen gemieden. Aber auch dies wird nicht als göttliche Strafe markiert (≠H). 47Selbst Pownall 1998, 270–271 kann an dieser Stelle keine göttliche oder menschliche Strafe konstruieren. 48Xen. hell. VII,4,11: Die Argiver brechen 366 einen Frieden mit Korinth, Theben und anderen Poleis. Dies wird mit dem eidgerechten Verhalten der Phleiasier kontrastiert (E). VII,4,36–40: Auf Befehl ihres Kommandanten nehmen tegeatische Truppen während eines Friedensfestes 363 der Arkader und Eleier unrechtmäßig und entgegen ihrer Eide Gefangene; dies wird ebenfalls mit dem gottgefälligen Verhalten der Feiernden kontrastiert (E); auf Betreiben der Mantineier werden die Gefangenen später allerdings freigelassen. Pownall 1998, 259 hat den Ausgang der Schlacht bei Mantineia 362 und den Tod des Epameinondas, der den betreffenden Kommandanten verteidigte, als göttliche Strafe interpretiert; dies erscheint jedoch wenig überzeugend, da das Vorgehen des Epameinondas nicht kritisiert wird und die Schlacht weder eindeutige Sieger noch Verlierer kennt und so eine zielgerichtete Bestrafung der Thebaner nicht erfolgen kann. Den Eidbruch der Argiver führt Pownall dagegen überhaupt nicht auf.

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Durch die Anwendung der Marker lassen sich an acht Stellen Eidbrüche als Bruch religiöser Normen identifizieren. Außerdem konnte gezeigt werden, dass entgegen der Auffassung Pownalls nur die Hälfte davon (göttlich) sanktioniert wird. Positiv als Einhaltung einer religiösen Norm wird Eidestreue an drei Stellen hervorgehoben, wobei nur für die Einhaltung des Eides durch Agesilaos eine positive göttliche Sanktion angedeutet wird. Auffällig ist, dass Xenophon durchaus nicht jede Achtung oder Missachtung eines Eides als solche markiert. Dort wo er dies aber tut, erfüllen sie eine wichtige Funktion für den weiteren Handlungsverlauf, indem spätere Ereignisse als Bestrafung oder Belohnung herausgestellt werden und mit den vorherigen Vergehen verknüpft werden können.

3.2 Gehorsam und Ungehorsam gegenüber den Göttern Weniger Aufmerksamkeit als Eidestreue und Eidbruch scheint Xenophon dem Gehorsam und der richtigen Verehrung der Götter entgegenzubringen, obwohl er eine ungeheure Zahl an Opferhandlungen schildert. Diese werden in der Regel aber nur nebensächlich erwähnt und nirgends direkt als religiöse Normen markiert. Interessanterweise entfällt der Großteil von ihnen auf spartanische Feldherren und beinahe die Hälfte auf Agesilaos, den Protagonisten in weiten Teilen der Hellenika.49 Trotz der meist nebensächlichen Erwähnung wird die Befolgung von Opferzeichen in den Hellenika immer mit Erfolg belohnt, während das Hinwegsetzen darüber immer in Misserfolg resultiert.50 Besonders eindrücklich wird dies am Beispiel des spartanischen Feldherrn Derkylidas gezeigt, der die Truppen der Lakedaimonier während des spartanisch-persischen Krieges in Kleinasien kommandiert. Dieser verschiebt den Angriff auf die Stadt Kebren 400/399 an vier aufeinanderfolgenden Tagen aufgrund negativer Opferzeichen; als die Zeichen am fünften Tag positiv ausfallen, wird die Stadt ihm kampflos übergeben. Der Lochage Athenadas, der, während Derkylidas abwartet, einen eigenmächtigen Vorstoß gegen die Stadt unternimmt, scheitert, wobei er selbst verwundet wird und zwei seiner Leute getötet werden (III,2,17–19). Zwar wird nicht auf ein göttliches Eingreifen eingegangen (≠G), die von den Göttern durch Zeichen ­

4944 der insgesamt 56 Opferschilderungen führen spartanische Feldherren aus, 25 davon Agesilaos: Spartaner: Xen. hell. I,1,4; I,6,37; III,1,17–19 (5x); III,1,21; III,1,23; III,2,10; III,2,16; III,2,26; III,3,1; III,3,4; III,3,4; III,4,3; III,4,4; III,4,15; III,4,23; III,5,7; IV,1,22; IV,2,20; IV,3,14; IV,3,21; IV,5,10; IV,6,6; IV,6,10; IV,7,2; IV,7,4; IV,7,5; IV,7,7; IV,8,36; V,1,18; V,1,33; V,3,14; V,4,37; V,4,41; V,4,47; V,4,49; VI,4,19; VI,5,12; VI,5,17; VI,5,18; ­Nicht-Spartaner: II,4,18; II,4,39; IV,2,18; IV,4,5; IV,5,1; IV,5,2; VI,4,29; VI,5,49; VII,2,20–21; VII,2,23; VII,4,30; VII,4,36; Orakelkonsultationen: Spartaner: IV,7,2; IV,7,2; Delphier: VI,4,30 (Delphier); spontane Götterzeichen mit Handelsanweisungen: Spartaner: III,2,24; IV,7,4; IV,7,7; V,4,17. 50U. a. Hau 2012, 607.

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k­ ommunizierten Aussagen über den Erfolg eines Unternehmens bewahrheiten sich aber (C, E).51 An einer anderen Stelle impliziert Xenophon, dass ein vom persischen Großkönig vermittelter Frieden 368 in Delphi scheitert, da versäumt wurde das Orakel in dieser Sache zu befragen (VII,1,27). Auch hier wird keine göttliche Strafe angedeutet (≠G,≠H), wohl aber, dass die Befragung des Orakels und die Befolgung des göttlichen Rates das Scheitern der Verhandlungen hätten verhindern können (C, E).52 Dem entgegen steht die Orakelkonsultation des Spartanerkönigs Agesipolis vor seinem Feldzug gegen Argos 391, mit der er sich absichert, dass er mit der Ablehnung eines von den Argivern vorgeschobenen Waffenstillstands keine religiöse Norm verletzt (IV,7,2–3).53 Die regelmäßige Konsultation von Opferzeichen und Orakeln in wichtigen Fragen, deren Befolgung sowie die Achtung religiöser Normen insgesamt sind bei Xenophon wichtige Qualitäten guter Anführer. Der Verweis auf die Achtung oder Missachtung von Götterzeichen dient somit vor allem ihrer Charakterisierung als gute oder schlechte Feldherren, aber auch als Erklärung für ihren Erfolg oder Misserfolg.54 Vor allem die Spartaner und insbesondere Agesilaos werden mit diesem Mittel positiv charakterisiert. Bei der Betrachtung der Verteilung der Schilderung von Opferhandlung auf die einzelnen Bücher der Hellenika fällt auf, dass über die Hälfte davon auf die Bücher drei und vier entfallen, insgesamt sieben und sechs auf Buch fünf und sechs; auf das letzte Buch vier und die ersten beiden Büchern je zwei. Dies widerspricht der Hypothese von Michael A. Flower,

51Trampedach

2015, 166–167; Flower 2016, 105–106; Hau 2016, 226–227, 231–232; weitere Beispiele: Befolgung negativer Zeichen: Xen. hell. III,4,15, 16–24: durch den Abbruch seines Feldzugs kann Agesilaos seine Reiterei ausbauen und Truppen stärken, um im nächsten Frühjahr die persischen Truppen bei Sardeis zu schlagen; vgl. auch: IV,4,5: eine Gruppe junger Aristokraten besetzt während des korinthischen Bürgerkriegs 393 die Akropolis, ergibt sich jedoch aufgrund ungünstiger Zeichen kampflos und geht in die Verbannung; IV,7,7: der Spartanerkönig Agesipolis bricht 390 aufgrund ungünstiger Opferzeichen einen Feldzug gegen Argos ab. Missachtung von Opferzeichen: IV,8,36: der spartanische Feldherr Anaxibios gerät 388 in einen Hinterhalt der Athener und fällt mit 250 Männern. Xenophon gibt ein Gerücht wieder, nach dem er unter Missachtung negativer Opferzeichen aufgebrochen sei; vgl. Hau 2012, 594; Trampedach 2015, 166–167; weiterführend dazu: Goodman/Holladay 1986, 151–152. 52Vgl. Pownall 1998, 264; Bowden 2004, 79; Hau 2012, 593. 53Während Xenophon den weiteren Feldzug des Agesipolis als erfolgreich beschreibt, obwohl der Feldherr durchaus ambivalent beschrieben wird, wird er bei Paus. III,5,8–9 kritisch dargestellt. Hier lehnt Agesipolis den Waffenstillstand unbegründet ab und missachtet negative Götterzeichen, die in der Darstellung Xenophons von Agesipolis als positive Zeichen gedeutet wurden. Während Trampedach 2015, 332–335 in Xenophons Bericht durchaus versteckte Kritik an Agesipolis ausmacht und eine von ihm abgeschwächte Agesipolis-kritische Tradition als Vorlage annimmt, sehen Bowden 1999, 78–79 und Labadie 2014, 288–291 die Darstellung vor allem positiv. 54Trampedach 2015, 166–167; Flower 2016, 86–102; Hau 2016, 226–227.

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der Großteil der Opferhandlungen entfalle aufgrund der spartanischen Perspektive Xenophons auf diese. Dagegen scheint Xenophon sie bewusst zur Charakterisierung vor allem spartanischer, aber auch anderer Anführer zu verwenden.55

3.3 Manipulation von Kulten und Festen Manipulationen im Zusammenhang mit Kulten und Festen werden in den Hellenika nur an wenigen Stellen geschildert, aber nirgends eindeutig als Bruch religiöser Normen gekennzeichnet. Um die Stringenz seiner Darstellung zu wahren, geht Xenophon bei der Schilderung von Schlachten nur auf die Opferzeichen einer Seite, in der Regel der Sieger, ein. Die einzige Ausnahme ist die Schlacht am Nemeabach 394 zwischen Lakedaimoniern und Boiotern, in der Letztere trotz günstiger Opferzeichen unterliegen. Bei genauem Hinsehen behaupten die Boioter allerdings nur, ihre Opferzeichen seien günstig; die Opferzeichen der Lakedaimonier werden nicht beschrieben, müssten aber aufgrund ihres Sieges ohne Verluste positiv ausgefallen sein (IV,2,18–23). Die Niederlage der Boioter und ihrer Verbündeten wird als Folge taktischen Versagens geschildert und nicht als göttliche Strafe für die Manipulation der Opferzeichen (≠A, ≠B, ≠G, ≠H). Allerdings kann angenommen werden, dass die Opferzeichen auf boiotischer Seite negativ ausgefallen sind und damit ihre Niederlage durch die Götter vorausgedeutet wurde.56 Das Vortäuschen günstiger Opferzeichen erscheint als Kriegslist der Boioter, um sich eine günstige Position in der Schlachtaufstellung zu sichern. Auch das Vortäuschen einer guten Nachricht durch Dankesopfer, was Xenophon an zwei Stellen schildert, wird nicht als Bruch einer religiösen Norm markiert (≠A, ≠B), sondern im Gegenteil als Kriegslist dargestellt, die die Kampfesmoral der Truppen sichert und weder durch Menschen noch durch Götter geahndet wird (≠G, ≠H).57 Das Vortäuschen religiöser Festtage wird in den Hellenika ebenfalls als Kriegslist gekennzeichnet. Dies wird zwar militärisch, aber ohne Involvierung der ­Götter

55Flower

2016, 112; Mittel der positiven Charakterisierung: Villani 2004, 299; Labadie 2014, 264–267; zur eusébeia der Spartaner: Goodman/Holladay 1986, 154–156. 56Pownall 1998, 265 deutet die Niederlage dagegen als Strafe für die Kultmanipulation; zu Schlachtdarstellungen in der Historiographie weiterführend: Jameson 1991, 99–100; Trampedach 2015, 167–169. 57Xen. hell. I,6,36–37: Nach der Schlacht bei den Arginusen täuscht der spartanische Kommandant die Truppen mit einem Dankesopfer über die Niederlage der Spartaner. IV,3,10–14: das Gleiche tut Agesilaos 394, als er die Nachricht einer Niederlage der spartanischen Flotte bei Knidos erhält. Xenophon kommentiert, dass die Lakedaimonier in einem Scharmützel nur aufgrund dieser Nachricht siegten; dazu: Trampedach 2015, 75–76. Plut. Ages. 17,3 schildert die Begebenheit ebenfalls ohne Kritik an Agesilaos’ Verhalten.

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bestraft (≠G, ≠H).58 Pownall führt weiterhin das Vortäuschen eines Festes durch die Phleiasier, mit dem Ziel, den Spartanern 394 keine Heeresfolge leisten zu müssen, auf. Allerdings wird der Sachverhalt von Xenophon neutral berichtet und nirgends bestätigt, dass es sich um einen Vorwand gehandelt habe (IV,2,16) (≠A, ≠B).59 Auch für die späteren Feldzüge gegen Phleius 381–379 spielt dies keine Rolle; hier steht die Verbannung prospartanischer Phleiasier im Vordergrund (V,2,8–10; V,3,10–17, 3,21–25). Das Vortäuschen von Festtagen fügt sich zwar insofern in Pownalls Studie zur „condemnation of the impious“ ein, als dies an zwei Stellen von den Lakedaimoniern militärisch bestraft wird, bzw. als Vorwand für militärisches Eingreifen dient, aber es handelt sich nicht um die Bestrafung von asébeia, sondern der Transgression menschlicher Normen. Das Vortäuschen von Dankesopfern wird darüber hinaus sogar positiv dargestellt. Deutlich als asébeia charakterisiert, wird allerdings der Mysterienfrevel 415 (A), da es sich um die Entweihung eines Kultes handelt. Wie eingangs gezeigt werden konnte, wird der Frevel Alkibiades aber nicht direkt angelastet und weder von Göttern noch Menschen sanktioniert (I,4,14, 20) (≠G, ≠H).

3.4 Hierosylia Die weiteren in den Hellenika geschilderten Normbrüche lassen sich mit Trampedach unter dem Begriff der hierosylía zusammenfassen. Obwohl es zum Teil eine rechtliche Verfolgung dieser Vergehen gab, wurden sie nach allgemeinen Vorstellungen der Griechen von den Göttern geahndet.60

3.4.1 Missachtung des sakralen Asyls und der Hikesia Ähnlich wie den Eidbruch markiert Xenophon auch die Missachtung des sakralen Asyls von Schutzflehenden häufig mit deutlichen Worten als Bruch religiöser Normen, wie das Beispiel des Theramenes gezeigt hat (II,3,52–55) (B, D, F).61 Die Ermordung prospartanischer Aristokraten während eines Bürgerkriegs in Korinth 393 an öffentlichen Plätzen und insbesondere Altären und Götterstatuen durch proargivische Korinther wird von Xenophon direkt als asébeia bezeichnet (A) und

58Xen.

hell. IV,7,2–3; V,1,29; V,3,27: der Spartanerkönig Agesipolis sichert sich durch zwei Orakelsprüche ab, dass sein Feldzug gegen die Argiver, die den Lakedaimoniern unter Vortäuschung religiöser Festtage einen Waffenstillstand aufzwingen wollen, nicht gegen göttliche Normen verstoße. Der Vorwand selbst wird aber nicht als religiöser Normbruch gekennzeichnet, sondern nur die Missachtung religiöser Feste. Der Feldzug verläuft weitgehend erfolgreich. V,2,1–7: die Vortäuschung von Waffenruhen, um der Heeresfolge zu entgehen, dient den Lakedaimoniern unter anderem als Begründung zur Niederreißung der Mauern Mantineias und der Auflösung der Polis als politischer Einheit 386/6; vgl. Pownall 1998, 265. 59Vgl. den Appendix bei Pownall 1998, 277. 60Trampedach 2005, insb. 143–144 bezieht den Begriff nicht nur auf Tempelraub im engeren Sinne, sondern auf jede Form der Gewaltausübung im Zusammenhang mit Heiligtümern. 61Weiterführend zur asylía: Sinn 2005.

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zugleich die betroffene Reaktion Unbeteiligter betont (IV,4,1–5) (F). Außerdem wird hervorgehoben, dass die proargivischen Korinther und ihre Verbündeten für ihre Bluttat bewusst einen Festtag wählten, um mehr Menschen töten zu können, was als τὸ πάντων ἀνοσιώτατον bezeichnet wird (IV,4,2) (A).62 Kontrastiert wird dies mit dem Gehorsam prospartanischer Aristokraten, die aufgrund ungünstiger Götterzeichen die Besetzung der Akropolis aufgeben (IV,4,5) (E). Xenophon impliziert eine göttliche Strafe durch die Hände der Lakedaimonier, denen ein Gott (ὁ θεὸς) die Feinde kopf- und wehrlos in die Hände gegeben habe (IV,4,11–12) (G).63 Diodor berichtet zwar die Ermordung der Aristokraten an einem Festtag, wobei er die Missachtung des sakralen Asyls übergeht, aber er führt die große Zahl an Feinden, die durch die Lakedaimonier in der folgenden Schlacht getötet werden nicht auf die Götter zurück (Diod. XIV,86). Das Eingreifen der Götter dient Xenophon wohl insbesondere zur Erklärung der kopflosen Panik der Truppen und der hohen Zahl der Gefallenen. Durch die Betonung der doppelten Normüberschreitung werden die proargivischen Korinther negativ charakterisiert und das Vorgehen der Lakedaimonier legitimiert.64 Darin ist wahrscheinlich auch der Grund zu sehen, weshalb Xenophon die Einhaltung ihrer Eide auf die Zusicherung, die Aristokraten könnten unbeschadet aus dem Exil zurückkehren, weitgehend übergeht und nicht als Einhaltung einer religiösen Norm betont (IV,4,5–6). An anderer Stelle betont Xenophon die Achtung des Asyls durch Agesilaos, der nach der Schlacht bei Koroneia 394 einigen in ein Heiligtum geflüchteten Thebanern freien Abzug gewährt, was als Pflichterfüllung gegenüber einem Gott (οὐκ ἐπελάθετο τοῦ θείου) charakterisiert wird (IV,3,20) (A).65 Interessant ist eine Passage, in der Agesilaos während des korinthischen Krieges 392 im Gebiet des Peiraion Menschen, die sich in ein H ­ era-Heiligtum geflüchtet haben, nicht abziehen lässt, sondern sie zum Teil als Sklaven verkauft und zum Teil ihren Mitbürgern ausliefert (IV,5,5). Da er das Verlassen des Heiligtums allerdings nicht erzwingt und sich die Menschen scheinbar freiwillig in seine Hand geben, wird sein Vorgehen nicht als Normtransgression charakterisiert und zieht keine Strafe nach sich (≠A, ≠G, ≠H). Außerdem handelt es sich um die proargivischen Korinther, die

hell. IV,4,3: ἔνθα δὴ οἱ ἀνοσιώτατοι καὶ παντάπασιν οὐδὲν νόμιμον ϕρονοῦντες, οἵ τε κελεύοντες καὶ οἱ πειθόμενοι, ἔσϕαττον καὶ πρὸς τοῖς ἱεροῖς, ὥστ᾽ ἐνίους καὶ τῶν οὐ τυπτομένων, νομίμων δ᾽ ἀνθρώπων, ἀδημονῆσαι τὰς ψυχὰς ἰδόντας τὴν ἀσέβειαν. Übers.: „Da mordeten diese Gottverlassenen, denen jede rechtliche Gesinnung mangelte, Rädelsführer und Befehlsempfänger gleichzeitig, selbst bei den Heiligtümern weiter, sodass auch manche, denen die Mörder nicht nachstellten, die aber rechtschaffene Menschen waren, von Entsetzen ergriffen wurden, als sie diesen Frevel sahen.“ 63Zur Passage ausführlich: Gray 1989, 154–157; Tuplin 1993, 69–70; Pownall 1998, 284–285, Pownall 2004, 85, 88–89; zur Verwendung der abstrakten und unpräzisen Formulierungen δαιμόνιον, μοῖρα, θειον, θεός, θεοί in den Hellenika: Pownall 2004, 88–89. 64Bowden 2004, 244; Gray 2010, 568. Die proargivischen Korinther werden außerdem als Tyrannen dargestellt und als von den Persern bestochen (Xen. hell. IV,4,2, 6); vgl. Pownall 2016, 62–63. Interessanterweise lässt Xenophon Agesilaos in seinem Enkomion Bedauern über die große Zahl der Gefallenen äußern, ohne das Vorgehen der Lakedaimonier zu kritisieren: Ages. 7,4–5. 62Xen.

65Plut.

Ages. 19,1 erwähnt diese Begebenheit auch, allerdings betont er weniger die Frömmigkeit des Agesilaos.

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während des korinthischen Bürgerkriegs ihre Mitbürger unter Missachtung religiöser Normen töteten; das Vorgehen des Agesilaos kann demnach als Strafe für deren Verbrechen gedeutet werden, wie es auch oben im Falle des Eidbruchs der Thebaner der Fall war. Die kurz darauf bekanntwerdende Niederlage einer Mora der Lakedaimonier bei Lechaion erscheint nicht als göttliche Strafe, sondern wird als Folge der Unterschätzung der Feinde und ihrer taktischen Überlegenheit geschildert (IV,5,7, 11–18); außerdem findet die Schlacht in der Vergangenheit statt (≠G, ≠H).66 Bei Plutarch wird das Vorgehen zwar ebenso wenig als Normtransgression charakterisiert, hier bringt Agesilaos aber anscheinend das Heiligtum in seine Gewalt (Ages. 22,1). Xenophon scheint bemüht eine solche Deutung in seiner Darstellung herunterzuspielen, um seinen Protagonisten nicht mit einem Akt der asébeia in Verbindung zu bringen.67 Insbesondere in den letzten beiden Büchern findet Xenophon keine deutlichen Worte für die Missachtung des sakralen Schutzes: Die prospartanische Partei des Stasippos wird während des Bürgerkriegs in Tegea 363 mit Gewalt aus einem Heiligtum gezwungen, wobei dieses auch beschädigt wird, und später verurteilt und hingerichtet. Dies steht im Kontrast zur zuvor geschilderten Milde des Stasippos, der nicht mehr Gegner als nötig töten wollte. Wie oben bereits gezeigt werden konnte, wird aber nur das Eingreifen der Mantineier in den Bürgerkrieg und der damit verbundene Eidbruch auf den Frieden von 371 zumindest indirekt als religiöser Normbruch bewertet, aber nicht geahndet (VI,5,6–9) (≠A, ≠B, ≠G, ≠H).68 Ebenso wenig wird die Tötung eines Wächters an einem Heiligtum während des Angriffs der Argeier und Eleier auf Phleius 369 eindeutig als religiöser Normbruch markiert. Die Phleiasier können die Feinde zurückschlagen und Xenophon betont ihre große Freude darüber (Xen. hell. VII,2,6) (H?). Dies erscheint aber nicht als Bestrafung der Angreifer. Vielmehr scheinen die Phleiasier auch an anderen Stellen aufgrund ihrer Tugenden allgemein in der Gunst der Götter zu stehen und zum Teil von diesen im Kampf unterstützt zu werden.69 Die Herausstellung der Achtung oder Missachtung des sakralen Schutzes dient Xenophon vor allem der positiven oder negativen Charakterisierung der Akteure.

66Pownall

1998, 261 sieht das Vorgehen Agesilaos einerseits als Strafe für die Vergehen der Korinther während des Bürgerkrieges und andererseits selbst als Normbruch, infolgedessen die Götter den Lakedaimoniern ihre Gunst entziehen und diese bei Lechaion die Niederlage erleiden; Hau 2012, 553–554, 598–605 sieht die Niederlage dagegen als Folge des übermäßigen Stolzes des Agesilaos und seiner herablassenden Behandlung der um Frieden bittenden Boioter; vgl. Gray 1989, 158–161; Brown Ferrario 2012, 350–351. 67Vgl. das Lob des Agesilaos im Enkomion: Xen. Ages. 11,1. 68Pownall 1998, 270–271; das Vorgehen der Mantineier wird in der Rückschau in Athen ambivalent bewertet: Xen. hell. VI,5,36. 69Die Phleiasier werden im Vorfeld für ihre militärischen Tugenden und Bündnistreue zu den Lakedaimoniern gelobt (Xen. hell. VII,2,1–4, 16); in VII,2,20–21 deutet Xenophon an, dass ihre Kampfmoral beim Angriff auf eine von Sikyonern besetzte Grenzfestung 367/6 göttlich motiviert war. Pownall 2004, 87 sieht dagegen einen deutlichen Bezug zwischen dem Frevel und der Niederlage der Angreifer, die sie als göttliche Strafe bewertet.

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Außerdem zeigt er die Tendenz, jeden Zweifel an der eusébeia seines Protagonisten Agesilaos auszuräumen, indem er ihn nirgends mit der Transgression religiöser Normen in Verbindung bringt und kritische Handlungen herunterzuspielen, bzw. umzudeuten versucht. Weiterhin konnte auch die, im Zusammenhang mit anderen Formen der asébeia beobachtete, Tendenz Xenophons festgestellt werden, die Überschreitung religiöser Normen in den letzten beiden Büchern weniger stark zu betonen und nicht mehr von Göttern oder Menschen ahnden zu lassen. Nur an einer Stelle wird die Missachtung des sakralen Schutzes eindeutig geahndet.

3.4.2 Gewalt gegen Heiligtümer und Kulte Dagegen wird Gewalt im Zusammenhang mit Heiligtümern oder heiligen Gegenständen, wenn es nicht zugleich zur Missachtung des sakralen Schutzrechts kommt, nicht als Transgression einer religiösen Norm charakterisiert und göttlich geahndet. In zwei Passagen zu Agesilaos zeigt sich erneut die Tendenz Xenophons, diesen von jedem Vorwurf der asébeia frei zu halten: Während Agesilaos vor seinem Asienfeldzug 396 in Aulis opfert, wird er von Beamten des boiotischen Bundes gestört, die die Opferstücke vom Altar reißen. Agesilaos ruft die Götter als Zeugen an, wodurch das Vorgehen als religiöser Normbruch charakterisiert wird (III,4,4) (D). Eine konkrete göttliche Strafe wird jedoch nicht geschildert; das Vorgehen der Boioter wird später allerdings von den Lakedaimoniern zur Begründung ihrer Feldzüge gegen Theben genutzt (III,5,5; VII,1,34) (≠G, ≠H).70 Die Schwierigkeiten von Pownall und Hau, die fehlende göttliche Sanktionierung des eindeutigen Normverstoßes zu erklären,71 lösen sich auf, wenn man die Parallelüberlieferungen hinzuzieht: In den Darstellungen des Pausanias (III,9,4, 7) und Plutarch (Ages. 6,4–6) wird nämlich das unautorisierte Opfern des Agesilaos als Normbruch und der Misserfolg des Asienfeldzuges als göttliche Strafe dafür beschrieben.72 Xenophon hingegen zieht keine solche Verbindung.73 Er schildert die Szene aus der spartanischen Perspektive und rückt die

70Vgl.

auch: Xen. hell. III,2,22–26: dem spartanischen König Agis wird das Opfern in Olympia 399 untersagt; erst nach einem Feldzug gegen Elis kann er dies nachholen; dazu weiterführend: Nevin 2017, 174–178. 71Pownall 1998, 271–272 versucht die fehlende Sanktion u. a. damit zu erklären, dass Xenophon von einer sehr späten göttlichen Rache ausgeht; Hau 2016, 238–239 mit Anm. 70 dagegen erklärt dies damit, dass Xenophon den Fokus im Folgenden auf einen anderen Handlungsstrang legt und das Schicksal der Boiotier nicht weiter verfolgt. 72Nach Pausanias habe Agesilaos selbstherrlich geglaubt, Agamemnon zu übertreffen, was von den Göttern mit dem Misserfolg des Feldzugs bestraft wird. In der Darstellung Plutarchs empfinden die Boioter die Tatsache, dass Agesilaos das Opfer von seinem eigenen Seher durchführen lässt als Verstoß gegen ihre althergebrachten Gesetze. Agesilaos selbst deutet die Störung seines Opfers als schlechtes Zeichen für den Erfolg seines Feldzugs; zur Parallelüberlieferung: Villani 2004, 300–301; Trampedach 2015, 348–354. 73In der Forschung ist das Opfer dagegen vielfach als Vorbote für den Misserfolg des Feldzugs interpretiert worden: vgl. Dillery 1995, 23–24, 116; Pownall 1998, 272; Villani 2004, 269, 301–302.

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Boiotier in ein schlechtes Licht – dadurch, dass er ihre Motivation nicht nennt, erscheint ihr Vorgehen unberechtigt. Dafür, dass Xenophon die spartakritische Version der Geschichte kannte, spricht unter anderem der Umstand, dass er die Passage in seinem Enkomion auf Agesilaos nicht erwähnt und den Thebaner Pelopidas im letzten Buch der Hellenika stolz auf das gestörte Opfer verweisen lässt (VII,1,34).74 Das Stören eines Opfers der Argiver am Isthmos von Korinth während der Isthmischen Spiele 392 durch die Lakedaimonier wird nicht als Normbruch gekennzeichnet (≠A, ≠B). Die Argiver unterbrechen ohne erkennbare Provokation ihr Opfer und fliehen, werden aber, wie Xenophon hervorhebt, nicht von den Lakedaimoniern verfolgt (IV,5,1–2). Außerdem scheint der Anspruch der Argiver, die Spiele abzuhalten, unberechtigt.75 Auch in der Darstellung Plutarchs fehlt die Kritik am Vorgehen des Agesilaos; hier scheint er allerdings die Argiver bewusst aus dem Heiligtum zu vertreiben und nimmt Einfluss auf die Spiele (Ages. 21).76 Xenophons Darstellung scheint dagegen bemüht, jeden Zweifel an einem unberechtigten Vorgehen des Agesilaos zu zerstreuen. Pownall will Agesilaos, bzw. seinen Truppen, einen Tempelbrand in einem Poseidonheiligtum anlasten, in dessen Nähe sie nach dem Abzug vom Isthmos lageren. Die Täterschaft ist in der Darstellung allerdings ungewiss; der Brand wird weder als religiöser Normbruch noch als ungünstiges Zeichen interpretiert (IV,5,4) (≠A, ≠B). Es scheint sich zudem um das Heiligtum am Isthmos zu handeln, wo die Argiver nach dem Abzug der Lakedaimonier die Isthmischen Spiele erneut abhalten (IV,5,1–2).77 Im letzten Buch der Hellenika schildert Xenophon einen Angriff der Eleier während der olympischen Spiele 364 auf den von den Argivern besetzten heiligen Bezirk. Die Kämpfe zwischen und teilweise auf den Heiligtümern werden weder bewertet noch kommentiert. Xenophon deutet lediglich eine göttlich motivierte Kampfkraft der Eleier an, die aber nicht auf etwaige Normbrüche der Argiver bezogen wird, sondern lediglich der Erklärung ihrer ungewöhnlichen Tatkraft zu dienen scheint; auch müssen die Eleier den Angriff abbrechen (VII,4,28–32) (≠G, ≠H).78

74Trampedach

2015, 351–352, insb. 355. 2017, 180–183. Nach dem korinthischen Bürgerkrieg 393 hatte die proargeische Partei einen Anschluss an Argos durchgesetzt. Es kam 392 zu einer sympoliteía mit Argos und zum Verlust der Autonomie Korinths. 76Dazu: Shipley 1997, 261; Nevin 2017, 182. 77Nevin 2017, 185–186, mit Anm. 71. 78Pownall 1998, 265–266 und 2004, 91–92 hat dagegen die göttliche Unterstützung der Eleier als Konsequenz der Verletzung der Heiligtümer durch die Arkader erklärt. Im Nachhinein erscheint der Angriff der Eleier, dies noch dazu an Festtagen, als gerechtfertigt; die Arkader sehen ein, dass sie die Oberhoheit über Olympia unberechtigterweise innehaben, geben diese an Elis ab und schließen Frieden : Xen. hell. VII,4,33, 36. 75Nevin

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Gewalt im Zusammenhang mit Heiligtümern wird an keiner Stelle konkret als Normtransgression markiert. Das Vorgehen wird zwar beschrieben, nicht aber bewertet oder kritisiert. Sanktionen durch Götter oder Menschen fehlen sämtlich. Außerdem zeigt sich wiederum das Bemühen Xenophons, Agesilaos frei von jeder Verbindung mit einer Übertretung religiöser Normen darzustellen.

3.4.3 Achtung und Missachtung von Festtagen Die Missachtung von Festtagen wird in den Hellenika nur an zwei Stellen konkret als Transgression religiöser Normen markiert, ansonsten aber, selbst wenn parallel weitere Formen der asébeia geschildert werden, übergangen: Während eine mögliche Missachtung eines Feiertags der Argiver Agesipolis 383 dazu bewegt, seinen Feldzug von gleich zwei Orakeln legitimieren zu lassen, um eine Übertretung religiöser Normen auszuschließen (IV,7,2–3) (B, C?),79 spielt die Tatsache, dass die thebanische Kadmeia durch die Lakedaimonier 383 an einem Festtag besetzt wurde, für die Charakterisierung als (religiöser) Normbruch keine Rolle (V,2,29). Es ist der Eidbruch der Spartaner, der von den Göttern (durch die Hände der Thebaner) sanktioniert wird (V,4,1). Auch die bereits erwähnte Störung der Isthmischen Spiele durch Agesilaos wird nicht als Normbruch charakterisiert, da sich die Lakedaimonier jeder Kampfhandlung enthalten und die Argiver aus eigenem Antrieb das Feld räumen. Außerdem wird in der Darstellung Xenophons erst durch die Anwesenheit der Lakedaimonier die korrekte Durchführung der Isthmischen Spiele durch die Korinther gewährleistet, die sich die Argiver unrechtmäßig angemaßt haben (IV,5,1–2) (≠A–H).80 Auch bei Plutarch (Ages. 21) spielt das Fest keine Rolle. Wie bereits gezeigt werden konnte, werden die Kämpfe zwischen Arkadern und Eleiern während der Olympischen Spiele 364 im heiligen Bezirk Olympias nicht als Normbruch gekennzeichnet und ebenso wenig geahndet (VII,4,28–32) (≠A–H). Im Falle des gewaltsamen Eingreifens der Tegeaten während des Friedensfestes der Arkader und Eleier 363 werden Eidbruch und Missachtung des Festes zumindest indirekt durch die Betonung des gottgefälligen Verhalten der Feiernden als Normbruch markiert (E), wobei eine Sanktion ausbleibt (VII,4,36–40) (≠G, ≠H).81

79Dazu:

Goodman/Hollady 1986, 156–157. 2017, 180–183. 81Pownall 1998, 265–266 hat versucht die Unterstützung der Eleier durch die Götter als Folge der Beschädigung der Heiligtümer durch die Argeier zu deuten, denn diese bewerfen die Eleier von den Tempeldächern aus, wofür es aber keine Grundlage in der Quelle gibt. Xen. hell. V,4,4: Die Rückeroberung Thebens durch die Demokraten 379 findet an einem privaten Fest der Polemarchen zu Ehren der Aphrodite statt. Es handelt sich allerdings nicht um ein offizielles Fest, weshalb dies auch weder als Normüberschreitung markiert noch sanktioniert wird. Auch ist die Tötung der in Xenophons Darstellung unrechtmäßigen und tyrannischen Machthaber die Bestrafung von deren Verrat; vgl. zur negativen Charakterisierung der Machthaber; Pownall 2016, 63–64.VI,4,29–32: Die öffentliche Ermordung des „Tyrannen“ Iason an einem Festtag wird nicht als Normbruch charakterisiert; die Täter werden zwar von Iasons Leibwache zum Teil getötet, die überlebenden aber später als „Tyrannenmörder“ geehrt. Nach Trampedach rechtfertigte eine solche Tat im 5./4. Jahrhundert auch religiöse Normbrüche: Trampedach 2005, 155–156. 80Nevin

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Obwohl Xenophon an anderen Stellen die Einhaltung religiöser Normen durch die Spartaner und insbesondere Agesilaos stets betont, übergeht er kommentarlos, dass dieser 392 die Amyklaier aus dem Heer der Lakedaimonier aufgrund eines Festes entlässt (≠A, ≠B). Es schließt sich sogar die Schilderung einer Niederlage der Lakedaimonier an, sodass auch nicht indirekt auf eine göttliche Belohnung einer Normerfüllung geschlossen werden kann (IV,5,11–18) (≠G, ≠H). Die Niederlage könnte der Grund dafür sein, dass Xenophon die Normachtung durch Agesilaos nicht kommentiert. Allein die Ermordung prospartanischer Aristokraten während des korinthischen Bürgerkriegs 393 an einem Festtag und unter Missachtung des sakralen Schutzrechts wird, wie gezeigt werden konnte, deutlich als religiöse Normübertretung benannt und von den Göttern geahndet (IV,4,1–5) (A, E, F, G).82 Pownall hat die Rückkehr des Alkibiades nach Athen an einem Festtag als Bruch einer religiösen Norm interpretiert, wofür es aber keine Grundlage in der Quelle gibt (I,4,12) (≠A–H).83 Sie führt ebenfalls das Auftreten falscher Trauernder am Apaturien-Fest in Athen im Vorfeld des Arginusen-Prozesses 407 auf (I,7,8). Dies wird aber weder als religiöse Normüberschreitung markiert noch in irgendeiner Weise geahndet (≠A–H).84 Obwohl Xenophon die Missachtung religiöser Feste, insbesondere durch kriegerische Auseinandersetzungen, an zwei Stellen deutlich als Transgression einer religiösen Norm markiert, tritt diese Form der asébeia an den meisten Stellen zugunsten anderer, etwa dem Eidbruch oder der Missachtung des sakralen Schutzes, in den Hintergrund. Dies fällt insbesondere im Falle der Besetzung der thebanischen Kadmeia auf, die deutlich als Normtransgression markiert wird und für die göttliche Sanktionen angekündigt werden. Möglicherweise scheut sich Xenophon, den Lakedaimoniern mehr als den offensichtlichen Eidbruch zu unterstellen. Immerhin bemüht er sich jeden Verdacht, Agesilaos oder Agesipolis habe einen religiösen Festtag missachtet, aus seiner Darstellung zu verbannen. Das Vorgehen der proargivischen Korinther und ihrer Verbündeten kann er dagegen durch den doppelten Normbruch als besonders verwerflich und ihre Bestrafung als gerechtfertigt darstellen. Auch eine Normüberschreitung der Eleier würde deren positiver Charakterisierung in der Passage widersprechen. Die fehlende Sanktionierung des Eingreifens der Thebaner in das Friedensfest 363 fügt sich wiederum in die

hell. IV,4,2,2: καὶ πρῶτον μὲν τὸ πάντων ἀνοσιώτατον ἐβουλεύσαντο: οἱ μὲν γὰρ ἄλλοι, κἂν νόμῳ τις καταγνωσθῇ, οὐκ ἀποκτιννύουσιν ἐν ἑορτῇ: ἐκεῖνοι δ᾽ Εὐκλείων τὴν τελευταίαν προείλοντο, ὅτι πλείους ἂν νοντο λαβεῖν ἐν τῇ ἀγορᾷ, ὥστε ἀποκτεῖναι. Übers.: „Was sie als Erstes planten, übertraf an Abscheulichkeit alles. Niemand wird sonst, selbst wenn er nach dem Gesetz zum Tode verurteilt worden ist, während eines Festes hingerichtet. Jene aber wählten gerade den letzten Tag des Festes der Artemis Eukleia aus, weil sie glaubten, dann mehr Leute auf dem Markt vorfinden zu können, um sie zu töten.“ 83Pownall 1998, 262. 84Vgl. den Appendix: Pownall 1998, 277. 82Xen.

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Beobachtung, dass in den letzten beiden Büchern der Hellenika Bestrafungen von asébeia weitgehend fehlen.

3.4.4 Tempelraub Hierosylía im engeren Sinne schildert Xenophon an drei Stellen und markiert sie in allen Fällen deutlich als Transgression religiöser Normen, lässt aber nur zwei davon durch Götter oder Menschen ahnden: Iason von Pherai wird 370 während der Pythischen Spiele ermordet. Sein angebliches Vorhaben, sich der Tempelschätze zu bemächtigen, wird vom delphischen Orakel mit den Worten kommentiert, der Gott werde sich selbst um die Angelegenheit kümmern (C). Da das Attentat sofort folgt und weder auf die Herkunft noch die Motivation der Täter eingegangen wird, erscheinen diese als göttliche Werkzeuge zur Sanktion des geplanten Tempelraubs (VI,4,30–31) (H). Andererseits erscheint Iasons Ermordung auch als Folge seines eigenen Machtstrebens. Nach Vivienne Gray liefert Xenophon die Geschichte vom Aufstieg und Fall eines Mannes nach herodoteischem Vorbild: Xenophon beschreibt Iason nicht ohne Bewunderung als Anführer mit militärischen Tugenden. Auffällig ist die wiederholte Betonung seiner Größe und Macht (VI,1,4, 18; VI,4,28, 31). Die Warnung Iasons an die Thebaner, die Gottheit fände Vergnügen daran, „die Kleinen groß und die Großen klein zu machen“, weist auf sein eigenes Ende auf dem Höhepunkt seiner Macht (C).85 Die Ahndung eines noch nicht begangenen sondern nur gedachten Vergehens ist in den Hellenika singulär. In der Forschung sind häufig die Parallelen zwischen den Darstellungen der „Tyrannen“ Iason und Euphron von Sikyon betont worden.86 Hier sollen deshalb die deutlichen Unterschiede der Passagen herausgehoben werden, denn Xenophon versäumt es, die Darstellung des zweiten Tyrannen nach ähnlichen Motiven und Mustern zu gestalten: Euphron gelangt 367 in Sikyon im Zuge eines antispartanisch motivierten demokratischen Umsturzes an die Macht (VII,1,44), die er aber nicht langfristig halten kann (VII,3,1–4). Neben seinen anderen Vergehen gegen Mitbürger und politische Verbündete – insbesondere werden ihm Verrat und Disloyalität vorgeworfen – werden die Verwendung von öffentlichen Geldern und Tempelgeldern für eigene Zwecke genannt, aber nicht übermäßig stark herausgestellt und nicht direkt als Transgression einer religiösen Norm charakterisiert (VII,1,46; VII,3,1–4) (≠A, ≠B).87 Euphron wird in Theben während einer Ratssitzung ermordet. Obwohl er durch die Täter als ἀνόσιος bezeichnet (B) und der

hell. VI,4,23: καὶ ὁ θεὸς δέ, ὡς ἔοικε, πολλάκις χαίρει τοὺς μὲν μικροὺς μεγάλους ποιῶν, τοὺς δὲ μεγάλους μικρούς. Gray 1989, 163–164; Dillery 1995, 172–174; Pownall sieht einen moralischen Verfall Iasons von seinem Aufstieg zum tagós Thessaliens, über die eigennützige Vermittlung eines Friedens zwischen Sparta und Theben 371 bis zur Anmaßung, die Pythischen Spiele auszurichten, bzw. die Tempelschätze zu rauben: Pownall 2004, 100–103; Pownall 2016, 65–66. 86Pownall 1998, 267–267; Pownall 2004, 105; Trampedach 2015, 382; Pownall 2016, 68–69. 87Pownall 2016, 69. 85Xen.

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Tempelraub noch einmal erwähnt wird, wird sein Tod nicht als göttliche, sondern als menschliche Strafe charakterisiert (≠G, ≠H).88 Die Attentäter werden als politische Gegner eingeführt und die Übertretung menschlicher Gesetze durch Euphron stehen im Vordergrund ihrer Argumentation (VII,3,7–11). Dennoch wird seine Ermordung als gerechtfertigter ‚Tyrannenmord‘ und gerechte Strafe Euphrons geschildert. Allerdings werden die Attentäter selbst zunächst wegen ihrer Bluttat in Theben angeklagt, die mit deutlicheren Worten als Transgression religiöser und rechtlicher Normen charakterisiert wird (B).89 Das Urteil der Thebaner, Euphron habe seine gerechte Strafe erhalten, befreit sie jedoch von diesem Vorwurf (VII,3,6, 12) (≠B). Anscheinend lieferte Euphron keine gute Vorlage für eine moralisierende Geschichte nach dem Vorbild Iasons. Anders als Iason zeichnet er sich nicht durch militärische und moralische Tugenden aus und seine Herrschaft scheint andererseits nicht genügend gefestigt, um eine ausreichende Fallhöhe zu konstruieren.90 Andererseits existierte eine zeitgenössische positive Erzähltradition, in der Euphron wahrscheinlich als guter politischer Führer und Opfer einer Bluttat dargestellt wurde, denn Xenophon schildert, nicht ohne Kritik, dass die thegeatischen Demokraten Euphron bestatten und nach dem Tod verehrten (VII,3,12).91 Die Nutzung der Tempelschätze der Heiligtümer Olympias durch die Arkader 364 wird von diesen selbst als Übertretung religiöser Normen charakterisiert, denn sie fürchten, dass dieser Frevel (ἔγκλημα τοῦτο πρὸς τοὺς θεούς) noch ihren Nachfahren anhängen werde (VII,4,33–34) (B, C). Die Bundesversammlung beschließt darauf, die Tempelschätze nicht weiter zu verwenden. Auch wollen sie

88Zu

den Reden weiterführend: Gray 1989, 134–136; Pownall 1998, 267–268 und 2016, 69–70 verweist auf die Kontrastierung Euphrons mit den Phleiasiern, deren Tugenden in einem Exkurs herausgestellt werden. Obwohl, wie sie richtig erkennt, unter anderem auch die eusébeía der Phleiasier hervorgehoben wird, steht ihre Bündnistreue zu den Spartanern deutlich im Fokus der Passage; demnach wird durch den Exkurs in erster Linie der Fokus auf die Bündniswechsel Euphrons verstärkt; vgl. dazu: Hau 2016, 228–229; dagegen nimmt Pownall 2016, 71 die Passage als Beleg für eine göttliche Bestrafung Euphrons. 89Xen. hell. VII,3,6: „[...] ὁρῶντες ὅτι οἱ μὲν σώϕρονες οὐδὲν δήπου ἄδικον οὐδὲ ἀνόσιον ποιοῦσιν […], οὗτοι δὲ τοσοῦτον πάντας ἀνθρώπους ὑπερβεβλήκασι τόλμῃ τε καὶ μιαρίᾳ ὥστε παρ᾽ αὐτάς τε τὰς ἀρχὰς καὶ παρ᾽ αὐτοὺς ὑμᾶς […] αὐτογνωμονήσαντες ἀπέκτειναν τὸν ἄνδρα. […] ἡμεῖς μὲν δὴ τούτους διώκομεν ὡς ἀνοσιωτάτους καὶ ἀδικωτάτους καὶ ἀνομωτάτους καὶ πλεῖστον δὴ ὑπεριδόντας τῆς πόλεως […].“ Übers.: „Denn während, wie wir wissen, rechtschaffene Menschen doch wohl keinerlei Unrecht und keinerlei Frevel begehen […], haben diese mit ihrer Dreistigkeit und ihrer Gottlosigkeit alle Menschen so weit übertroffen, dass sie sogar in Anwesenheit der Behörden und von euch selbst […] aus eigener Willkür heraus diesen Mann töteten. […] Wir klagen diese also der besonders großen Gottlosigkeit, Unredlichkeit sowie Gesetzlosigkeit und zudem der besonders schweren Missachtung unserer Stadt an.“ 90Gray 1989, 134–136; Pownall 1998, 105 und 2004, 105 betont dagegen die Parallelen der Darstellung beider Tyrannen und will auch eine Korrumpierung Euphrons ausmachen; im Text fehlen aber Hinweise auf eine Entwicklung Euphrons. Er scheint vielmehr von Beginn an unmoralisch zu handeln. 91Vgl. Pownall 2016, 68–69.

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fortan auf die Aufsicht über den Heiligen Bezirk Olympias verzichten und mit Elis Frieden schließen, da sie damit gerechter und gottgefälliger handelten (καὶ δικαιότερα καὶ ὁσιώτερα ποιεῖν, καὶ τῷ θεῷ […] χαρίζεσθαι). Es wird keine göttliche oder menschliche Sanktion berichtet (≠G, ≠H). Der Verzicht auf die Mittel der Heiligtümer führt allerdings dazu, dass ein Teil ihrer Söldner abzieht (VII,4,33–34).92 Insbesondere der Friede mit Elis und der freiwillige Verzicht auf die Oberaufsicht über Olympia werden positiv als gottgefällig charakterisiert und die Verehrung der Götter während des folgenden Friedensfestes 363 hervorgehoben (VII,4,35–36), sodass insgesamt in der Passage nicht die Normtransgression, sondern die Normeinhaltung im Vordergrund steht.93 Die Verbrechen der „Tyrannen“ werden eindeutig geahndet, wobei nur im Falle Iasons der Tempelraub im Fokus steht und göttlich sanktioniert wird. Euphron erhält zwar seine gerechte Strafe, dies aber ohne Intervention der Götter. Zudem spielt der Tempelraub bei ihm nur eine untergeordnete Rolle. Im Falle der Arkader liegt der Fokus dagegen auf der Beendigung der Normtransgression, weshalb ihr Vorgehen im Ganzen positiv charakterisiert wird. Obwohl sie selbst Angst vor göttlichen Sanktionen äußern, wird keine Strafe berichtet. Die fehlende Sanktionierung von Normtransgressionen taucht regelhaft in den letzten beiden Büchern der Hellenika auf. Die Passagen zu den ‚Tyrannen‘ stellen allerdings Ausnahmen von diesem Muster dar.

3.5 Sonstiges Die lang zurückliegende Vergewaltigung thebanischer Jungfrauen, der sogenannten Leuktriden, durch die Lakedaimonier, wird von einem Orakelspruch mit deren Niederlage in der Schlacht bei Leuktra 371 in Verbindung gebracht (VI,4,7) (C, G); dies ist der einzige Beleg einer Strafe für länger zurückliegende Vergehen. Die Bestattung von Gefallenen spielt nur an wenigen Stellen eine Rolle.94

92Pownall

2004, 92 sieht dagegen die Entzweiung des Arkadischen Bundes sowie den Ausgang der Schlacht bei Mantineia 362 als göttliche Strafe für den Tempelraub. 93Vgl. Xen. hell. VII,4,13–14: Die vorherige Einnahme von Olympia, das traditionell unter der Oberaufsicht der Eleier stand, wird nicht als Bruch religiöser Normen geschildert, doch hebt Xenophon in III,2,30 positiv hervor, dass die Lakedaimonier unter Agis, während eines erfolgreichen Feldzuges in Elis, den Eleiern die traditionelle Oberaufsicht über Olympia beließen; dazu weiterführend: Nevin 2017, 175–176. 94In Xen. hell. III,5,22–24 verzichten die Spartaner auf die Konfrontation mit Theben und verlassen deren Territorium, um ihre Gefallenen bergen zu können. I,7,1–33: Der Verzicht auf die Rettung (und Bergung) athenischer Schiffsbesatzungen führt zum Arginusen-Prozess in Athen VII,2,9: Die Arkader und Eleier lassen 369 nach einem gescheiterten Angriff auf Phleius, ihre Toten und Verwundeten zurück. Die Begebenheiten werden aber nirgends klar als Einhaltung bzw. Bruch einer religiösen Norm markiert (≠A–H).

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Obwohl dies im eigentlichen Sinne nicht zur asébeia gezählt wird, sei auf eine göttliche Sanktionierung der phrónēma des Lykomedes im letzten Buch der Hellenika (VII,1,23–26; 4,3) hingewiesen.95 Dieser wird als reicher und einflussreicher Mantineier beschrieben, der die Arkader durch Schmeicheleien hochmütig werden und sich gegenüber ihren Bundesgenossen überheblich verhalten lässt (VII,1,23– 26). Der Sieg der Lakedaimonier gegen die Arkader, Argiver und Mantineier in der sogenannten tränenlosen Schlacht 368 wird daher von den eigenen Bundesgenossen mit Schadenfreude bedacht. Die Niederlage erscheint als gerechte Strafe, wird aber nur indirekt mit den Göttern in Verbindung gebracht: Der Sieg wird den Lakedaimoniern vor der Schlacht durch günstige Opferzeichen angekündigt; außerdem fällt keiner der Lakedaimonier, während die Gegner hohe Verluste haben (VII,1,31–32) (H?). Wenig später schildert Xenophon den gewaltsamen Tod des Lykomedes, den er aufgrund des Zufalls auf göttlichen Einfluss zurückführt (VII,4,3) (A, H).96

4 Schlussfolgerungen Es konnte gezeigt werden, dass Xenophon Transgressionen religiöser Normen nur an wenigen Stellen direkt benennt. Direkte Bezeichnungen als ασέβεια, ασεβής, ἀσεβεῖν oder häufiger ἀνόσιος scheinen aber nur dort dazu zu dienen, die Handlungen als besonders verwerflich hervorzuheben, wo Xenophon sie direkt kommentiert. Dies trifft nur an zwei Stellen zu: Auf die Schilderung des Bürgerkriegs in Korinth 393 (IV,4,2–3) und die rückblickende Kommentierung der Besetzung der thebanischen Kadmeia durch die Lakedaimonier 383 (V,4,1).97 An diesen Stellen häuft sich außerdem die Verwendung der Begriffe. Durch die direkte oder indirekte Rede der Akteure können Handlungen ebenso deutlich als Normtransgressionen hervorgehoben werden, wie beispielsweise die Verbrechen der Dreißig (II,4,21–22); andererseits können diese auch irren. Dies zeigt sich besonders eindrücklich am Beispiel des Attentats auf Euphron, das im Nachhinein als gerecht bewertet wird, davor aber mehrmals deutlich als Frevel gegen die Götter bezeichnet wird (VII,3,5–12).

95Übermäßiger

Stolz (phrónēma) ist nicht der asébeia zuzurechnen, weil es sich nicht um die Überschreitung einer religiösen Norm handelt, sondern um hýbris. Diese umfasst Verstöße sowohl gegen die göttliche als auch die menschliche Ordnung: Gewalt, Ehrverletzungen, Machtmissbrauch und insbesondere Rache (tísis), Habsucht (pleonexía) und übermäßigen Stolz (phrónēma). Bei Herodot verbindet sich das hýbris-Motiv mit dem Motiv des göttlichen Neides (phtónos), der sich gegen die Menschen richten, die sich den Göttern näher rücken: Trampedach 2015, 400–418; Hau 2016, 172–193; zu Herodot: Romm 1998, 65–68; Fisher 2002, insb. 217–222; bei Xenophon führt phrónēma an einigen Stellen zur Selbstüberschätzung von Kriegsparteien und zu deren militärischer Niederlage, als göttliche Strafe wird dies aber mit Ausnahme des Falles des Lykomedes nicht markiert: Vgl. u. a. die Niederlage der Lakedaimonier bei Lechaion 392: Xen. hell. IV,5,11– 18. Zum Motiv der Schadenfreude bei Xenophon: Gilhaus 2019. 96Pownall

2004, 72–73, 91, 97. ebenfalls direkt kommentierte Mysterienfrevel lässt sich, wie gezeigt werden konnte, keinem konkreten Täter zuordnen: Xen. hell. I,4,14, 20.

97Der

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Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass die konkrete Markierung eines Vergehens als Transgression einer religiösen Norm nicht zwangsläufig dazu führt, dass ähnliche Vergehen auch an anderen Stellen als Normbruch markiert und geahndet werden. Xenophon scheint vielmehr Vergehen nur dann als religiöse Normüberschreitungen zu markieren, wenn sich dies in die historische Ereignisfolge einfügt oder eine wichtige literarische Funktion – vor allem die positive oder negative Charakterisierung von Akteuren, die Erklärung unerwarteter oder unerklärlicher Ereignisse oder die Legitimierung bestimmter Handlungen als gerechtfertigte Strafe – übernehmen kann. Es lässt sich die Tendenz erkennen, die Spartaner und insbesondere seinen Protagonisten Agesilaos, frei von jedem Verdacht der Übertretung religiöser Normen zu halten. Das bedeutet jedoch nicht, dass er sie frei von jeder Kritik hält.98 Insbesondere dient die häufige, wenn auch nebensächliche, Schilderung von Opferhandlungen der Charakterisierung des Protagonisten und anderer guter Anführer.99 Dass die ungleiche Verteilung der Opferschilderungen auf Spartaner und insbesondere Agesilaos nicht nur die Folge der pospartanischen Perspektive Xenophons ist, zeigt die Tatsache ihrer ungleichen Verteilung auf die Bücher der Hellenika. Die Bücher, in denen Agesilaos als Protagonist auftritt, beinhalten ein Vielfaches der Opferschilderungen der anderen Bücher. Auffällig ist das Abfallen der Opferzahl im fünften Buch. Hier liegt der Fokus nicht mehr ausschließlich auf Agesilaos, sondern auf weiteren spartanischen und nichtspartanischen Feldherren.100 Entgegen der vorherrschenden Forschungsmeinung konnte gezeigt werden, dass Xenophon an zahlreichen Stellen von der Regel der zwangläufigen (göttlichen) Sanktionierung religiöser Normüberschreitung abweicht. Dabei lässt sich eine ungleiche Verteilung auf die einzelnen Bücher der Hellenika ausmachen: Insbesondere fällt auf, dass in den ersten beiden Büchern, genauer der ersten und frühesten Sektion der Hellenika (I,1,1–II,3,10), die Transgression religiöser Normen nie von Göttern oder Menschen geahndet wird. Dies kann leicht mit der deutlichen Anlehnung Xenophons an das thukydeische Werk in dieser Sektion erklärt werden. Thukydides vermeidet es gänzlich, ein strafendes oder belohnendes Eingreifen der Götter ins Geschehen auch nur anzudeuten.101 Auch in den letzten beiden Büchern der Hellenika, genauer nach der Schlacht bei Leuktra (VI,5,1), werden göttliche (oder menschliche) Strafen nur noch an wenigen Stellen geschildert. Dem entgegen steht eine Tendenz Xenophons, die Götter zunehmend in das Schlachtgeschehen eingreifen zu lassen, ohne dies als Sanktion zu kennzeichnen.102 Die Vergehen,

98Zur kritischen Darstellung des Agesilaos vgl.: Gray 1989, 158–161; Brown Ferrario 2012, 350– 351; Hau 2012, 553–554, 598–605; Tamiolaki 2012, 571, 587; Will 2016, 363–364; Flower 2017, 308–309. 99Villani 2003, 299; Labadie 2014, 264–267. 100Xen. hell. V,4,58: 376 erkrankt Agesilaos und übernimmt bis nach der Schlacht bei Leuktra (VI,5,10) kein militärisches Kommando. 101Weiterführend zu Thukydides: Hornblower 1992; Trampedach 2005, 433–434; Will 2016, 369–370. 102U. a. Xen. hell. VII,2,21; 4,32; 5,12–13; 5,26.

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die eindeutig geahndet werden, sind der Tempelraub des Iason (VI,4,30–32), die Vergehen des Euphron (VII,1,46; 3,1–12) sowie der Hochmut des Lykomedes (VII,1,23–26; 4,3). Es handelt sich um Vergehen Einzelner, die nicht durch kriegerische Maßnahmen geahndet werden, sondern durch wenige Männer. Vor dem Hintergrund, dass in den vorherigen Büchern die Lakedaimonier häufig als Vollstrecker von Sanktionen für den Verstoß gegen religiöse und menschliche Normen aufgetreten sind,103 kann dieser Umstand erklärt werden: Spätestens mit der Besetzung der thebanischen Kadmeia 373 beginnt ein moralischer Abfall der Spartaner, der in der Schlacht bei Leuktra 371 und dem Verlust ihrer Hegemonie in Hellas mündet. Fortan können sie nicht mehr als moralisches Vorbild herhalten, müssen zunehmend militärische Niederlagen hinnehmen und es gelingt ihnen kaum mehr, Vergeltung für religiöse oder menschliche Normbrüche zu üben.104 Da sich auch die Machtverhältnisse der übrigen Poleis ständig im Fluss befinden, fehlt eine Macht, die als zuverlässiger Garant der Normen auftreten kann. Das zunehmende Auftreten der Götter kann möglicherweise als Erklärungsversuch Xenophons für den wechselnden Kriegserfolg gedeutet werden.105 Insbesondere zum Ende der Hellenika versinkt die griechische Staatenwelt in allgemeinem Chaos, das seinen Höhepunkt in der Schlacht bei Mantineia 362 findet (VII,5,26): Nach diesen Ereignissen trat das Gegenteil von dem ein, was alle erwartet hatten. Weil sich nämlich fast ganz Griechenland versammelt und im Kampf gegeneinander gestanden hatte, gab es niemanden, der nicht geglaubt hätte, dass, wenn es erst zur Schlacht komme, den Siegern die Herrschaft zufallen werde, die Besiegten aber diesen untertan würden. Die Gottheit freilich lenkte es so, dass beide Seiten ein Siegeszeichen aufstellten, als ob sie gesiegt hätten, wobei keine von beiden die andere an der Aufstellung hinderte. Die Toten gaben beide Seiten wie Sieger unter den Bedingungen eines Waffenstillstands heraus und beide Seiten nahmen unter diesen Bedingungen ihre Toten wie Besiegte entgegen. Und obwohl beide Seiten behaupteten, gesiegt zu haben, besaß doch offensichtlich keine Seite mehr an Land, an Städten oder Macht, als es vor dem Kampf der Fall gewesen war. Unordnung und Verwirrung in Griechenland aber waren nach der Schlacht noch größer geworden als vorher.106

103U. a. Xen. hell. IV,2,18–23; IV,4,11–12; IV,5,1–2; IV,7,3–7; V,2,1–7; V,2,8–10; V,2,11–24; 21–25; V,2,37–43; V,3,8, 26; VII,1,31–32. 104Vgl. u. a. den Feldzug des Kleombrotos 479 gegen Theben (Xen. hell. V,4,14–18); den Feldzug des Agesilaos gegen die Arkader 370 (VI,5,10–21); das Vorgehen der Lakedaimonier gegen die Arkader 364, die Olympia besetzt halten (VII,4,19–27); die einzige Ausnahme bildet die tränenlose Schlacht (VII,1,31–32). 105Beispielsweise wird beim Angriff der Thebaner auf Sparta 362 von einer Gottheit bestimmt, bis zu welchem Punkt die Spartaner siegreich sind: Xen. hell. VII,5,9–13; dazu: Flower 2017, 320. 106Xen. hell. 7,5,26–27: τούτων δὲ πραχθέντων τοὐναντίον ἐγεγένητο οὗ ἐνόμισαν πάντες ἄνθρωποι ἔσεσθαι. συνεληλυθυίας γὰρ σχεδὸν ἁπάσης τῆς Ἑλλάδος καὶ ἀντιτεταγμένων, οὐδεὶς ἦν ὅστις οὐκ ᾤετο, εἰ μάχη ἔσοιτο, τοὺς μὲν κρατήσαντας ἄρξειν, τοὺς δὲ κρατηθέντας ὑπηκόους ἔσεσθαι: ὁ δὲ θεὸς οὕτως ἐποίησεν ὥστε ἀμϕότεροι μὲν τροπαῖον ὡς νενικηκότες ἐστήσαντο, τοὺς δὲ ἱσταμένους οὐδέτεροι ἐκώλυον, νεκροὺς δὲ ἀμϕότεροι μὲν ὡς νενικηκότες ὑποσπόνδους ἀπέδοσαν, ἀμϕότεροι δὲ ὡς ἡττημένοι ὑποσπόνδους ἀπελάμβανον, νενικηκέναι δὲ ϕάσκοντες ἑκάτεροι οὔτε χώρᾳ οὔτε πόλει οὔτ᾽ ἀρχῇ οὐδέτεροι οὐδὲν πλέον ἔχοντες ἐϕάνησαν ἢ πρὶν τὴν μάχην γενέσθαι: ἀκρισία δὲ καὶ ταραχὴ ἔτι πλείων μετὰ τὴν μάχην ἐγένετο ἢ πρόσθεν ἐν τῇ Ἑλλάδι. dazu: Dietzfelbinger 1992, 140–141; Rood 2017, 269.

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When is Revolt not Revolting? Rule–breaking and Revolt in Sparta in Plutarch’s Lives Imogen Herrad

Zusammenfassung

Plutarch kommt zu einer Reihe unterschiedlicher Werturteile über die revolutionären Handlungen, die er in seinen spartanischen Parallelviten beschreibt, wobei er einige Akte verurteilt, andere hingegen lobt. Dabei war offenbar die revolutionäre Handlung an sich für Plutarch weniger bedeutend als die Identität und der soziale Status des Akteurs sowie dessen Motive. Der Biograph billigte es offenbar, wenn Aristokraten (bisweilen sogar Aristokratinnen) in kleinen Gruppen gewalttätige Maßnahmen ergriffen, um die Stabilität des lakedaimonischen Gemeinwesens (wieder)herzustellen. Wenn hingegen das Volk in gleicher Weise die Initiative ergriff und nach Veränderungen rief, stellt Plutarch dies als Aufstand des Pöbels dar, der Stabilität und aristokratische Herrschaft in Gefahr bringt.

Versions of this paper were read at the postgraduate conference ‘Norm and Transgression in the Ancient World’ at Bonn University on 29 August 2018 and at the postgraduate colloquium ‘Migration, Emotion und Transgression’ at Osnabrück University on 18 January 2019. I would like to thank the participants of both events for their helpful questions and feedback. I am also grateful to Konrad Vössing and Wolfgang Will for comments and advice. All remaining errors are, of course, my own. I. Herrad (*)  Bonn Center for Dependency and Slavery Studies, Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn, Bonn, Germany E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Gilhaus et al. (Hrsg.), Transgression und Devianz in der antiken Welt, Schriften zur Alten Geschichte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05508-8_5

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Abstract

In depicting acts of revolt in his Spartan biographies, Plutarch displays a range of value judgements, condemning some acts but praising others. He appears to have regarded the act of revolt itself as less significant than the identity, the social status and the motives of the person who revolted. If noblemen (and noblewomen) individually or in small groups took—even violent—action in order to preserve the stability of the Lacedaemonian state and its constitution, Plutarch approved. But if members of the lower orders grouped together and demanded change, he depicted them as a mob endangering stability and aristocratic rule.

1 Introduction Around the year 700 someone observed to the Spartan king Theopompus that the reason for his state’s famous stability lay in the fact that Spartan kings knew how to command (ἀρχικοὺς γεγονότας). Theopompus begged to differ. ‘No,’ he replied: ‘but because her citizens know how to obey (πειθαρχικοὺς ὄντας).’ (Plut. Lyc. 30.3) Classical Sparta’s peculiar constitution heavy on military discipline, order and obedience was already (in)famous in antiquity. Both Greek and Roman authors admired the Lacedaemonians for their austere discipline (Val. Max. 1.6.1) and their freedom from that scourge of Greek city states: stasis, civil war. (Thuc. I.18; Xen. Lac. 14.7) But even Sparta had its share of deviant and, on occasion, rebellious characters: in the fourth century the rule-breaker Lysander and the conspirator Cinadon; in the third, the two revolutionary kings, Agis and Cleomenes; as well as a number of other, unnamed, conspirators. In this paper I shall look at how Plutarch depicts incidents of revolutionary behaviour in his Lives of great Spartiates: Lycurgus, Lysander, Agesilaus, and Agis and Cleomenes. In asking how Plutarch narrates and judges rebellious acts and the people behind them, I shall largely leave aside the much thornier question of ‘what really happened’, concentrating instead on how the biographer-philosopher depicted behaviour that broke rules and, at times, laws. I define revolt (and revolution, which shall I use interchangeably to avoid tedious repetition) as involving the violation of both rules and laws, and including a component of potential or actual violence. The closest equivalent term in Ancient Greek is νεωτερισμός (innovation, change; revolution in the literal as well as the metaphorical meaning of the word: overturning, overthrow). Related terms are derivations of the verb μεθίστημι (to change, to transform, to revolt), as well as μεταβολή (change, transition).1 In antiquity, revolt was generally held not to be

1Cartledge/Spawforth

1989, 39.

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a good thing: it attempted to overturn the established order and led to instability, tyranny and civil war.2 Plutarch’s highest praise for the Roman king and lawgiver Numa (the Roman complement in the Lives to the Spartan lawgiver Lycurgus) is that ‘there is no record either of war, or faction (στάσις), or political revolution (νεωτερισμός) while Numa was king. […] Such a life is the noblest end of all government.’ (Plut. Num. 20.5, 8)3 While it is important to bear in mind that none of the terms for revolt I have listed carried an exclusively negative connotation—not even νεωτερισμός—we would nevertheless expect to find Plutarch condemning all instances of revolt and violent overthrow. The interesting thing is that he does not. Opinion on Plutarch has undergone a revision in the past couple of decades. While scholars used to regard him at best as a naïve compiler and his works as little more than a conduit to other, now lost, ancient historiographers, recent scholarship has amply demonstrated that Plutarch was an original and thoughtful author who crafted and shaped the life stories he wrote.4 His intention was ethical and didactic: he intended to demonstrate and analyse particular traits of the characters of ‘great men’; mostly for emulation but also in order to challenge his readers and make them think about the interplay of character and fate.5 Tim Duff has argued convincingly that contradictions and ambiguities in Lives such as that of Lysander are not the result of clumsy composition, but are intentional to show the complexity inherent in the human character: ‘Like the best tragedies, the Parallel Lives invite the reader to consider and ponder.’6 In his depiction of revolutionary acts in his Lacedaemonian Lives, Plutarch displays a range of value judgements, condemning some acts of revolt but condoning and even explicitly praising others. In this seeming contradiction I see another example of Plutarch inviting his readers ‘to consider and ponder’ moral and political issues: what is the best, the noblest, the wisest way to act in a given situation? What should one do when there are no easy choices? When is revolt, νεωτερισμός, not revolting? I hope to show this by analysing cases of revolutionary

2Two

of many possible examples are Nep. Eum. 8.2–3 (Nepos compares the ‘licentious’ armies of Alexander with those of the late Roman Republic, observing that in both cases the soldiers’ failure to obey commands had resulted in devastating civil wars) and Plut. Pomp. 20.3 (letters to Sertorius written by leading men in Rome who plan ‘to subvert the existing order’ ‘[…] and change the form of government’ (οἳ τὰ παρόντα κινῆσαι βουλόμενοι […] καὶ μεταστῆσαι τὴν πολιτείαν), which Pompey fears will reignite the civil war). 3οὔτε γάρ πόλεμος οὔτε στάσις οὔτε νεωτερισμὸς περὶ πολιτείαν ἱστόρηται Νομᾶ βασιλεύοντος […] καὶ μακάριον βίον, ἐν ᾧ τὸ κάλλιστον ἁπάσης πολιτείας τέλος ἐστί. Translations from Plutarch’s Lives are by Bernadotte Perrin in the Loeb Classical Library series unless otherwise stated. 4Duff 1997 and 1999; Humble 2010, Pelling 2002 and passim; Shipley 1997. This had already been pointed out by Marasco 1981, 24. 5Pelling 1995, 206; Roskam 2011, 218; Erskine 2016, xv. The locus classicus is Plut. Alex. 1.1–3, but see the illuminating discussion of the programmatic statements in Duff 1999, 13–51. 6Duff 1999, 9.

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behaviour in the Lives of five Spartans. Because Plutarch carefully crafted each pair of Lives, interweaving, echoing and contrasting themes and strands, I shall also briefly look at how revolt is depicted in the Roman half of each pair.

2 The Spartan Constitution The peculiarities of the Spartan order are well rehearsed: common meals and accommodation in barracks for the men, athletic competition for both sexes, and of course the all-important training in discipline and military matters, which began in childhood. Plutarch tells us: The boy who excelled in judgement and was most courageous in fighting, was made captain of his company; on him the rest all kept their eyes, obeying his orders, and submitting to his punishments, so that their education was a practice of obedience (τὴν παιδείαν εἶναι μελέτην εὐπειθείας). […] Of reading and writing, they learned only as much as was necessary; all the rest of their training was calculated to make them obey commands well (τὸ ἄρχεσθαι καλῶς), endure hardships, and conquer in battle. (Plut. Lyc. 16.5–6)7

In Greek thought, the twin ability to command and obey was held to be a universal aristocratic virtue.8 But the pair ἄρχω (to rule) and ἄρχομαι (to be ruled) or εὐπειθέω (to obey) occurs particularly frequently in writings about Sparta.9 So it is somewhat surprising to find that the Spartan order should have been brought about through a coup—by definition an act of revolt. Plutarch speaks of ταραχή (Plut. Lyc. 5.5); the Latin equivalent is tumultus: disorder, disturbance, upheaval.10

3 Reform by coup d’état: Lycurgus The figure of Lycurgus is shrouded in mystery. Even Plutarch starts his Life of the Spartan lawgiver by admitting that ‘nothing can be said [about him] which is not disputed’ (Plut. Lyc. 1.1). We cannot tell if there ever was a Lycurgus, and if so 7ἄρχοντα

δ̓ αὑτοῖς παρίστατο τῆς ἀγέλης τὸν τῷ ϕρονεῖν διαϕέροντα καὶ θυμοειδέστατον ἐν τῷ μάχεσθαι: καὶ πρὸς τοῦτον ἀϕεώρων καὶ προστάττοντος ἠκροῶντο καὶ κολάζοντος ἐκαρτέρουν, ὥστε τὴν παιδείαν εἶναι μελέτην εὐπειθείας. […] γράμματα μὲν οὖν ἕνεκα τῆς χρείας ἐμάνθανον ἡ δ̓ ἄλλη πᾶσα παιδεία πρὸς τὸ ἄρχεσθαι καλῶς ἐγίνετο καὶ καρτερεῖν πονοῦντα καὶ νικᾶν μαχόμενον. 8See for example Plat. leg. 6.762e; Plut. mor. 806e. M. Perperna, an officer under Sertorius, can be seen to be a useless and ignoble person by his ability ‘neither to command nor to obey’ (μήτε ἄρχειν μήτε ἄρχεσθαι, Plut. Sert. 27.1). 9Plut. Lyc. 30.3; Ages. 1.3; 20.3; mor. 202a; 208b; 215d; 816f; Xen. Ages. 1.3; 15.4. 10Unlike the term tumultus in the Roman Republic, ταραχή did not denote an official state of emergency but merely a situation of chaos and confusion. Contexts of ταραχή in the Lives range from an army in confusion (Cam. 20.1) and turmoil due to stormy weather (Rom. 27.7) to civil unrest and stasis (στάσις καὶ ταραχή, Thes. 35.2; ταραχή καὶ στάσις, Num. 2.4). For tumultus see Golden 2013, 42–49.

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when he lived.11 Even so, Plutarch appears convinced that there was a historical Lycurgus, whom he admires as a wise and energetic legislator (Lyc. 28.6; 29.5–6; comp. Lyc. et Num. 1.1; 2.1–2). He tells us that Lycurgus was a member of the Eurypontid royal house and guardian for King Charillus during the latter’s minority. He was absent from Sparta during his travels. When he returned and found the state in disarray, he at once undertook to change the existing order of things (τὰ παρόντα κινεῖν) and revolutionise (μεθιστάναι) the polity. He was convinced that a partial change of the laws would be of no avail whatsoever, but that he must proceed as a physician would with a patient who was debilitated and full of all sorts of diseases; he must reduce and alter the existing temperament by means of drugs and purges, and introduce a new and different regimen. (Plut. Lyc. 5.2)12

Herodotus also describes Lycurgus as an innovator (Hdt. 1.65.5), but Plutarch explicitly tells us that there was turmoil and rioting and armed conspiracy. Lycurgus gathers together a band of armed men. On the designated day, they occupy the market place, ‘to strike consternation and terror into those of the opposite party.’ (Plut. Lyc. 5.4).13 Then ‘the tumult’ (ταραχή) begins, and so great is the turmoil that king Charillaus flees to seek refuge in a temple. Only after he has received assurances and oaths for his safety does he come out again—to join Lycurgus’ party. Plutarch is at pains to stress that the ‘coup’ is not aimed against the dyarch. Lycurgus respects and upholds the existing hierarchy, taking care that no harm comes to the divinely–descended kings. As a rule Plutarch is greatly in favour of peace and harmony,14 but here he presents Lycurgus’ forcible intervention—disturbance and revolt—not only with equanimity, but with approval. Plutarch invites his readers to ponder a paradox. Lycurgus is wise and prudent. He initiates a coup, but not in the heat of the moment. He acts with deliberation and forethought, a good doctor: he can bring about law and order out of revolt; he inflicts pain in order to cure his ailing patient. And there is one more point: the revolt was initiated from above.

4 Revolting People: Uprisings Quashed by Agesilaus This is true for the majority of cases we know from Sparta. Apart from the great Helot uprising after the earthquake of 465 and the unsuccessful conspiracy of Cinadon in 398 (of which Plutarch makes no mention), reports about attempted 11But

note recent work which links Lycurgus to a specific moment in history during the Messenian wars: Schmitz 2018. 12ἐπανελθὼν οὖν πρὸς οὕτω διακειμένους εὐθὺς ἐπεχείρει τὰ παρόντα κινεῖν καὶ μεθιστάναι τὴν πολιτείαν, ὡς τῶν κατὰ μέρος νόμων οὐδὲν ἔργον οὐδὲ ὄϕελος, εἰ μή τις ὥσπερ σώματι πονηρῷ καὶ γέμοντι παντοδαπῶν νοσημάτων τὴν ὑπάρχουσαν ἐκτήξας καὶ μεταβαλὼν κρᾶσιν ὑπὸ ϕαρμάκων καὶ καθαρμῶν ἑτέρας ἄρξεται καινῆς διαίτης. 13εἰς ἀγορὰν προελθεῖν ἐκπλήξεως ἕνεκα καὶ ϕόβου πρὸς τοὺς ἀντιπράττοντας. 14Comp. Lyc. et Num. 1.4–5; comp. Nik. et Crass. 2.3.

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revolts from below are rare indeed. But two such cases occur, albeit briefly, in the Life of Agesilaus. When after the battle of Leuctra the Thebans under Epaminondas marched into Laconia and were about to invade the city of Sparta itself, ‘about two hundred of those who had long been disaffected and mutinous banded together’15 (Plut. Ages. 32.3), Plutarch tells us. The would-be rebels seized and occupied a hill near the outskirts of the city. The Spartans attempted to take it by force, but Agesilaus, fearing νεωτερισμός, told his troops to desist (Ages. 32.4). Instead he tricked the rebels into dispersing and then had fifteen of the leaders executed. Much the same story is told by Cornelius Nepos (Nep. Ages. 6.1–3). When a second, more serious (μείζων)16 conspiracy was discovered which included Spartiate citizens,17 he consulted the ephors and had the conspirators executed without trial—the first time, according to Plutarch, that Spartiates were put to death in this manner (Ages. 32.6). Plutarch again describes what happens as a revolt (πράγμασι νεωτέροις), but his take on it is clearly unfavourable. He does not believe that these insurgents from below, who were merely ‘disaffected and mutinous’,18 had the state’s best interests at heart. For Plutarch, even slaves could be fellow humans, and he did sympathise with them.19 But they could not be allowed to make any political decisions; and neither could members of the lower orders, who were liable to let themselves be swayed by emotions and act irrationally.20 If they threatened revolt, they had to be swiftly discouraged and stopped, if need be; and order restored. Agesilaus, the good and prudent king, does exactly that, and in Plutarch’s eyes he does right.21 The swift putting down of a conspiracy by execution occurs also in the Roman parallel Life, that of M. Pompeius Magnus. After he had beaten the forces of

πάλαι τινὲς ὑπούλων καὶ πονηρῶν ὡς διακόσιοι συστραϕέντες. follow Michael Flower in understanding μείζων to mean ‘more serious’ instead of the usual translation of ‘larger’ (so for example in Perrin’s English, and in Konrat Ziegler’s German rendering: ‘eine andere, noch größere Zusammenrottung’). If the second conspiracy had been ‘larger’ than the first, which Plutarch tells us involved some two hundred men, they would hardly have been able to meet ‘secretly in a house’ (εἰς οἰκίαν κρύϕα συνερχομένων). In Flower’s view, which I share, the second conspiracy was the more serious one because it involved Spartan citizens. Plutarch does not specify the status of the members of the first conspiracy, who are usually taken to have been hypomeiones (inferiors), perioikoi and/or Helots or neodamodeis. Flower 1991, 87, n. 47. 17Donald Shipley believes that the second group of conspirators may have been much smaller than reported, and made up of perioikoi rather than full Spartiate citizens (Shipley 1997, 347). Xenophon reports perioikoi deserting Sparta and collaborating with the Thebans after Leuctra, but does not mention any executions: Xen. Hell. 6.5.25. 18ὑπούλων καὶ πονηρῶν, Ages. 32.3. 19Plut. Cat. mai. 5.1; Demetr. 1.4; Lyc. 28.6. 20Plut. mor. 802e. For an excellent analysis of Plutarch’s portrayal of the people in the Lives see Saïd 2005. 21This view is echoed by other moralising authors like Valerius Maximus, who praises Agesilaus’ swift action against the conspirators as wise (nihil […] sapientius, Val. Max. 7.2 ext. 15). 15τῶν 16I

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Sertorius in Spain, Sertorius’ successor (and murderer) Perperna offered Pompey his papers, which include letters from the leading Roman senators ‘who had desired to subvert the existing order and change the form of government’ (οἳ τὰ παρόντα κινῆσαι βουλόμενοι πράγματα καὶ μεταστῆσαι τὴν πολιτείαν, Pomp. 20.4). Pompey fears that knowledge of the conspirators’ identity will merely reignite the war, so he orders the ignoble Perperna22 to be executed on the spot, and the letters burnt unread. Plutarch praises Pompey’s action as prudent and politically wise. But perhaps a better parallel is to be found in another Life: in the slave uprising (ἐπανάστασις) under Spartacus, which Plutarch describes at length in his biography of Crassus. Slave revolts were greatly feared in antiquity;23 according to an proverb quoted by Macrobius in his Late Roman Saturnalia, a person had as many enemies as they had slaves (Macr. Sat. 1.11.13). Plutarch’s depiction of the uprising is famously sympathetic to the rebels. While he does not go as far as condoning the revolt, he explains that the initial, small group of rebels were enslaved and trained as gladiators ‘through no fault of their own, but due to the injustice of their owner’ (Crass. 8.1). We might draw the conclusion that they were justified in fighting back against unjust oppression. Spartacus in particular—a native of Thrace—is painted as a Greek hero (‘in sagacity and culture superior to his fortune, and more Hellenic than Thracian’, Crass. 8.2) who dies a hero’s death on the battlefield. Plutarch’s sympathies are clearly on the side of the original small band of rebels, but not, significantly, that of the uncontrolled mass (πλῆθος) of men who later join them, and whose lack of restraint might have cost them their chance to return home (Crass. 9.6). In the end, the slaves are vanquished and order restored.

5 The Coup that Never Was: Lysander The biography of Agesilaus’ contemporary Lysander is one of the most fascinating of the Lives, because unlike the majority of Plutarch’s subjects he is not wholly exemplary and virtuous, but a colourful figure possessed of both positive and negative traits. Initially the former predominate. Plutarch begins with Lysander’s descent: like the kings (as well as a number of other Spartiates) he was one of the Heracleidae, the divine descendants of Heracles; but he did not belong to either of the royal houses. Scholars believe he may have been a hypomeion, a demoted Spartiate of less than full citizenship status.24 Lysander was possessed of the usual

22Cf.

n. 9 above. Martínez-Lacy argues that this fear only developed after the great slave revolts of the second and first centuries BCE: Martínez-Lacy 2004 passim. 24The term is mentioned but not explained by, amongst others, Xenophon. Scholars “have reasonably deduced that [hypomeiones] were the demoted former Spartiates and their descendants” (Hodkinson 2015, 23). 23Ricardo

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Spartan virtues: austerity, bravery, ambition.25 He excelled in the Peloponnesian War, destroyed the Athenian fleet at Aigospotami in September 405, and a year later forced Sparta’s great rival to surrender. Just as he had in the Greek cities of Asia Minor, he supported the power-grab by an oligarchic clique (the Thirty Tyrants) in Athens. He appointed the Spartan Callibius as governor (harmost) of the city. But in relating a minor incident that occurred in Athens, Plutarch shows Lysander as an unusual, atypical Spartan. He [Callibius] it was who once lifted his staff to smite Autolycus, the athlete, whom Xenophon makes the chief character in his ‘Symposium’; and when Autolycus seized him by the legs and threw him down, Lysander did not side with Callibius in his vexation, but actually joined in censuring him, saying that he did not understand how to govern free men. (Lys. 15.5)26

Autolycus had been the winner of the pankration in the 422 Panathenaea. To celebrate this victory, his lover Callias invited friends to a symposium: the reallife event that would inspire Xenophon’s literary work.27 Some twenty years later in post-Peloponnesian-War Athens, an argument erupted between the Athenian athlete and the Spartan harmost, in the course of which Callibius raised his staff to give (or threaten to give) Autolycus a thrashing.28 This behaviour struck a number of people (from the context these appear to have been fellow Lacedaemonians as well as oligarchically-minded Athenians) as perfectly correct: they criticised Autolycus for fighting back. But Lysander told Callibius that he had brought his disgrace on himself, because he did not know how to rule over free men.29

25Ambition

frequently carries a negative connotation in Plutarch (Plut. Ages. 58.4; Agis 2.1; Crass. 27.4; comp. Lys. et Sull. 4.2; Sull. 4.4), but since all young Spartans were raised to covet fame and honour (Plut. Ages. 5.3), Plutarch has some sympathy with Lysander’s ϕιλοτιμία, which was due to nurture rather than nature (Lys. 2.2). For Plutarch’s thinking on ambition see also the articles by Jeffrey Becker and Christopher Pelling in Humble 2010; Duff 1999, 83–87; Roskam 2011, 208–209; Shipley 1997, 12–13. 26ἐπεὶ δὲ οὗτος [Καλλίβιος] Αὐτόλυκον τὸν ἀθλητήν, ἐϕ᾽ ᾧ τὸ συμπόσιον ὁ Ξενοϕῶν πεποίηκε, τὴν βακτηρίαν διαράμενος παίσειν ἔμελλεν, ὁ δὲ τῶν σκελῶν συναράμενος ἀνέτρεψεν αὐτόν, οὐ συνηγανάκτησεν ὁ Λύσανδρος, ἀλλὰ καὶ συνεπετίμησε, ϕήσας αὐτὸν οὐκ ἐπίστασθαι ἐλευθέρων ἄρχειν. 27Nemeth 2006, 146. 28The story is also in Pausanias, who adds the detail that the two were involved in a legal dispute over an (unnamed) possession of the athlete’s before Callibius carried out the unprovoked attack (Paus. 9.32.8). It is most likely due to a scribal error that the harmost is called Eteonicus in Pausanias; see Nemeth 2006, 146–7. 29Plutarch reports that only a short time later, the Thirty condemned the athlete to death in order to please Callibius (Lys. 15.5). Diodorus Siculus mentions Autolycus in passing as an outspoken man (ἀνήρ παρρησιαστής), who, like many other Athenians, fell victim to the Thirty. Diodorus makes no mention of any previous confrontation with a Spartan harmost (Diod. 14.5.7).

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We know that corporal punishment in public for boys was an element of Spartan education.30 Dionysius of Halicarnassus supplies the information that older Spartans were also allowed to beat disobedient or offending (ἀκοσμοῦντες) citizens with a stick in public places (Dion. Hal. 20.13.2). Callibius’ mistake was to demand Spartan discipline in the wrong place—in Athens. Lysander sided with an Athenian rather than with a Spartan. Remarkably, elsewhere Plutarch quotes a saying according to which ‘in Lacedaemon the free are freer than anywhere else’ (Lyc. 28.5), but the ἐλεύθεροι to whom Lysander refers here are Athenians. By contrast, back home in Sparta Lysander was said to be ‘impatient of the yoke […] and unable to endure having to obey (ἄρχεσθαι).’31 After his return to Sparta Lysander acted as kingmaker and managed to secure the command of Sparta’s campaign in Asia in 396 for his protégé and former lover Agesilaus. But Agesilaus soon began to perceive the powerful and well-connected Lysander as a rival, and did not hesitate to take him down a few pegs. Lysander, unamused, began to hatch plans—not for revenge, but for revolt. Plutarch tells us that after his command had expired, he returned to Sparta seething with rage against Agesilaus and against the Spartan constitution, and more determined than ever to put into action his scheme for change and revolution: μεταβολὴ καὶ νεωτερισμός (Lys. 22.2). He wanted to take away the kingship from the two royal houses and open it up to all descendants of Heracles, of whom he himself just happened to be one; or possibly even to all deserving Spartiates.32 But Lysander’s revolt never came to fruition, because when one of his co-conspirators jumped ship, Lysander decided to abandon his plans despite ­ years of careful and devious scheming. Only after his death in 395 were certain suspicious documents discovered in his house. In the end the ephors decided that—laconic—silence was the better part, and they buried Lysander together with the evidence against him (Lys. 30.4). There is an echo here of Lycurgus, who returned to Sparta after a long absence, sees the state in want of improvement, and carefully plans his coup d’état. There are also obvious differences: Lysander acts, initially at least, out of pique; his motives are more selfish than those of the wise and dispassionate Lycurgus; most importantly, his plans are never translated into reality.

30Plut. Lyc. 17.3; Xen. Lac. 2.10. On the rigours of Spartan training in obedience and discipline see David 1999. 31τοῖς δὲ πλείστοις ἐδόκει […] τὸν οἴκοι ζυγὸν οὐ ϕέρων οὐδ᾽ ὑπομένων ἄρχεσθαι, Lys. 20.6. See also Duff 1999, 191. 32τοῦ χρόνου διελθόντος ἀπέπλευσεν εἰς τὴν Σπάρτην ἀτίμως, […] μισῶν δὲ καὶ τὴν ὅλην πολιτείαν ἔτι δὲ καὶ τὴν ὅλην πολιτείαν ἔτι μᾶλλον ἢ πρότερον, καὶ τὰ πάλαι δοκοῦντα συγκεῖσθαι καὶ μεμηχανῆσθαι πρὸς μεταβολὴν καὶ νεωτερισμὸν ἐγνωκὼς ἐγχειρεῖν τότε καὶ μὴ διαμέλλειν […] καὶ διενοεῖτο τὴν ἀρχὴν ἐκ τῶν δυεῖν οἴκων μεταστήσας εἰς κοινὸν ἀποδοῦναι πᾶσιν Ἡρακλείδαις, ὡς δὲ ἔνιοί ϕασιν, οὐχ Ἡρακλείδαις, ἀλλὰ Σπαρτιάταις; Plut. Lys. 24.2–4 (the story is repeated with minor alterations in Ages. 8.3).

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Scholarship is divided as to whether even the plans were real33 or whether the story was perhaps only circulated later by Lysander’s arch enemy, the exiled king Pausanias.34 For my purposes the question is irrelevant. Plutarch is quite convinced of the reality of Lysander’s scheming. Interestingly, he does not condemn it outright.35 At least Lysander’s plans were not nearly as bad as the actions of Sulla, his Roman complement: It is true, indeed, that Lysander attempted, as I have said, to change the form of government (μεταστῆσαι τὰ περὶ τὴν πολιτείαν πρᾳότερον καὶ νομιμώτερον), but it was by milder and more legal methods than Sulla’s; by persuasion, namely, not by force of arms, nor by subverting everything at once, as Sulla did, but by amending merely the appointment of the kings. (comp. Lys. et Sull. 2.1)36

As would-be revolutionaries went, Plutarch regarded Lysander as belonging to a very different category to the mere malcontents whose uprising Agesilaus would later quash: for Plutarch, Lysander was ‘regarded as almost one of the best [Spartans], and chiefest of the chief men’ (comp. Lys. et Sull. 1.3).37 And, crucially, he was not a revolutionary. He did not want to do away with the Spartan order, he wanted to keep it just as it was—merely with himself as king. For Plutarch, this ambition is not in contradiction with the Lycurgan system. A glance at the Life of Lysander’s Roman counterpart, Sulla, confirms this reading. When Cinna is made consul, he swears a solemn oath not to harm Sulla. But then he promptly attempts ‘to subvert the existing order of things’ (ἐπεχείρει τὰ καθεστῶτα κινεῖν, Sull. 10.4)—the result is civil war. Cinna does not act with the best interest of the state at heart; like the malcontents put down by Agesilaus, and unlike Lysander, he has no business trying to change things.

33Paul

Cartledge thinks so: Cartledge 1987, 95–98; although the majority of scholars tend to be sceptical, see most recently Davies 2018, 524. 34Flower 2002, 203. 35Again, comparison is instructive. Xenophon, Lysander’s contemporary, does not mention the scheme at all in his works. The Roman biographer Cornelius Nepos, who was active in the late Republic, a good century before Plutarch, knows of it and devotes an entire chapter of his brief (four-chapter) life of Lysander to the latter’s ‘resolution to do away with the Spartan kings’ (consilia reges Lacedaemoniorum tollere, Nep. Lys. 3.1, my translation), which he condemns in no uncertain terms: his Lysander is not, like Plutarch’s, an interesting mixture of brilliance and flaws, but merely lucky rather than talented (1.1), seditious (1.3), and cruel and perfidious (2.1). When his scheme is found out, he is deservedly brought to trial and, although acquitted, immediately killed by the Thebans at Haliartos in Nepos’ telescoped version of events (3.4), which makes his end look like a death sentence imposed by a higher authority. The last chapter and a half of Nepos’ biography are taken up with more of Lysander’s highly dubious schemes, leaving no doubt at all that this was an undeserving and ignoble character through and through. 36ἐπεχείρησε μὲν οὖν ὁ Λύσανδρος, ὡς εἴρηται, μεταστῆσαι τὰ περὶ τὴν πολιτείαν πρᾳότερον καὶ νομιμώτερον ἢ Σύλλας: πειθοῖ γὰρ, οὐ δι᾽ ὅπλων οὐδὲ πάντα συλλήβδην ἀναιρῶν, ὥσπερ ἐκεῖνος, ἀλλ᾽ αὐτὴν ἐπανορθούμενος τὴν κατάστασιν τῶν βασιλέων. 37σχεδὸν ἀρίστων ἄριστος ἐκρίνετο καὶ πρώτων πρῶτος; my translation.

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Like Cinna, Plutarch’s Lysander is a flawed character: overly ambitious, devious (Lys. 7.4; 8.3–4), excessive, and harsh (Lys. 19.1–6; 22.1–2); but Lysander’s many flaws are balanced by the fact that he was successful where other, more conformist, more typically spartan, Spartans failed.38 Everything Lysander did served to further the interests of Sparta, even if his successes where achieved by questionable means.39 This in itself need not be seen as a flaw. As Tim Duff has shown, trickery in warfare was not necessarily considered a bad thing in Greek thought.40 Plutarch manages to present even the planned coup in a somewhat benevolent light. But Lysander left behind a harmful legacy—one of the many contradictions in his contrary life. He was the first to introduce gold and silver currency into Sparta (Lys. 2.4). For Plutarch, this influx of money was the root of all evil.41 Lycurgus had imposed poverty, discipline and an unwieldy iron currency on the Spartans and so given them moral and military greatness. Corrupted by gold, they no longer followed the straight and narrow. Sparta slid into crisis.

6 Rebel Kings and Queens: The ‘Spartan Revolution’ Some one and a half centuries later two more ‘top-down’ revolutionaries would attempt to halt the deterioration: they were the so-called reform kings, Agis and Cleomenes. Plutarch treats them in a joint biography; their Roman equivalents are another pair of noble rebels, the brothers Tiberius and Gaius Gracchus.42

38Cf.

Plutarch’s contrasting of the upright, but luckless, Callicratidas with Lysander, who is devious but successful: Lys. 7.1; for Plutarch’s take on success in general see the discussion in Duff 1999, 97–99. 39Agesilaus, a more upright Spartan than the unruly Lysander, might on occasion defend even otherwise unacceptable behaviour as long as it served Lacedaemonian interests. Both Plutarch and Xenophon report that when the Lacedaemonian general Phoibidas seized the Theban Cadmeia in peacetime and without warning (and off his own bat), Agesilaus told Phoibidas’ critics that they must consider ‘whether the act itself was serviceable or not; for that which was advantageous to Sparta might well be done independently, even if no one ordered it.’ (τὰ γὰρ συμϕέροντα τῇ Λακεδαίμονι καλῶς ἔχειν αὐτοματίζεσθαι, κἂν μηδεὶς κελεύσῃ; Ages. 23.4). The story is virtually identical in Xenophon’s Hellenica, one of Plutarch’s sources (Xen. Hell. 5.2.32). 40Duff 1999, 171. 41Agis 3.1; Lys. 17.1; cf. also Plut. mor. 239f. The theme is echoed in the Life of Lysander’s Roman counterpart, Sulla, who corrupts and undermines the traditional frugality of his soldiers with rich gifts: Plut. Sull. 12.8–9. 42He was not the first to spot the parallels: Cicero had done the same in de officiis, where he criticises both Agis (he does not mention Cleomenes) and the Gracchi for having caused civil strife, and judges that all three brought their violent ends upon themselves: ‘Now, it was on account of just this sort of wrong-doing [i. e. promising land and/or financial reforms] that the Spartans […] put their king Agis to death—an act without precedent in the history of Sparta. […] What shall we say then of our own Gracchi […] was it not strife over the agrarian issue that caused their downfall and death?’ ac propter hoc iniuriae genus Lacedaemonii […] Agim regem, quod numquam antea apud eos acciderat, necaverunt […] quid? nostros Gracchos […] nonne agrariae contentiones perdiderunt? Cic. off. 2.80, trans. Walter Miller.

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By the mid-third century Sparta had become strictly a local power, its military heyday a distant memory. Like other poleis in the Hellenistic world, the city struggled with great financial inequality and demands for debt relief and land reform.43 The number of full Spartiate citizens had declined to just 700, Plutarch tells us, and of these a mere one hundred owned land and property. The dispossessed masses went about discontented and muttering, their minds on change and overthrow (μετάστασις, Agis 5.4). ὀλιγανθρωπία, a shortage of citizens had bedevilled Sparta since at least the fourth century, when the once mighty citizen body of eight thousand in 480 BCE (Hdt. 7.234) had shrunk a mere one thousand after Leuctra (Arist. pol. 2.1270a29–31).44 The Spartiates of old had prided themselves on the fact that they were homoioi: equals. We know from both Xenophon (Xen. Lac. 2.10–11) and Aristotle (Arist. pol. 4.1294b22–24) that conformity and equality were held up as ideals in Spartan education, although there clearly had been inequality in terms of wealth from probably quite early on.45 Because full Spartiate citizenship was bound up both with land ownership and entitlement to fight in the citizen army, financial inequality led not only to discontent, but also poor military showing. Most third-century Spartiates simply could not afford to be fighters. So King Agis sprang into action. The idealistic young man cited both old and new oracles which warned the Spartans about the dangers inherent in avarice and greed, and urged them to return ‘to their previous equality, according to the law drawn up by Lycurgus in the beginning’ (Agis 9.3).46 He also convinced several members of his family to support him: his uncle Agesilaus and a pair of very wealthy women: his mother Agesistrata and grandmother Archidamia, jointly described by Plutarch as the wealthiest persons in Sparta (Agis 6.4). In fact, according to Plutarch most of the wealth in the city was in female ownership by this time (Agis 7.3). Aristotle had reported in the fourth century that nearly two fifths of Spartan property was held by women (Arist. pol. 2.1270a23– 25). Spartan daughters were able to inherit and own property outright. Stephen Hodkinson has shown how through marriage alliances, wealth could have accumulated in very few hands over time.47 This would plausibly have given the very richest women the kind of political clout described by Plutarch:

43Marasco

1981, 70–72; Mossé 1991, 307–308. 2005, 23. 45‚Despite any distribution of land in the archaic period, ownership of landed property was never equal and became more unequal over the course of time.‘ (Hodkinson 2000, 107). 46προστάττειν τοῖς Σπαρτιάταις ἴσους γενέσθαι πάντας καθ᾽ ὃν ὁ Λυκοῦργος ἐξ ἀρχῆς ἔταξε νόμον; my translation. 47Hodkinson 2004, 103–105; see also Mossé 1991, 144. 44Hodkinson

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[T]hanks to all the clients and friends [Agesistrata] had, and the large number of people who owed her money, she had a great deal of influence in the city and often played an effective political role (μέγα δυναμένην ἐν τῇ πόλει καὶ πολλὰ τῶν κοινῶν διαπραττομένην, Agis 6.4).48

Despite support from Agesistrata’s and Archidamia’s friends and clients, Agis’ attempts to introduce land reform and debt relief, and to re-impose the old constitution, were foiled by violent resistance from landowners and the wealthy. They, too, included women, who feared that with their money they would also lose their power and political leverage. They found an ally in the other king, Leonidas, who managed to persuade just enough members of the gerousia to vote down Agis’ proposals. The young man’s support collapsed, and he was forced to flee. He was captured and, together with his mother and grandmother, executed by the ephors—the first Spartan king to suffer this fate (Agis 21.3; cf. Cic. off. 2.80). For almost a couple of decades things went on much as before, with discontent continuing to simmer but apparently unable to break out unaided. But things had got no better, and so Agis’ successor, Cleomenes, made a second attempt at reform. He was, in fact, the son of Agis’ fellow king and enemy, Leonidas; but in a manner of speaking he was also related to Agis, because he had married the latter’s widow Agiatis, a wealthy heiress. She was still devoted to Agis’ memory, and because Cleomenes was devoted to her, Plutarch tells us, he would often listen to her as she spoke of Agis’ reform plans. Inspired by these tales, Cleomenes ‘determined thoroughly to shake up the existing situation’ (τὰ παρόντα μεθιστάναι καὶ κινεῖν; Cleom. 3.2; my translation). Like Agis before him, Cleomenes had the support of his wealthy and influential mother, Cratesiclea. Having learnt his lesson from his predecessors’ violent ends, Cleomenes did not even try to bring about the desired changes through legal channels. He put together a group of armed men to eliminate the ephors and his fellow king. Plutarch explicitly has him invoke Lycurgus as a role model: Lycurgus [he said] had borne witness by his actions to the fact that it was hard to bring about change in a state without violence and terror (μεταβαλεῖν ἄνευ βίας καὶ ϕόβου; Cleom. 10.5, my translation).49

As sole ruler, he introduced ‘Lycurgan’ reforms: he organised a redistribution of land and reintroduced the syssitia and the agogé (Cleom. 11.2).50 The military δὲ πελατῶν καὶ ϕίλων καὶ χρεωστῶν μέγα δυναμένην ἐν τῇ πόλει καὶ πολλὰ τῶν κοινῶν διαπραττομένην, trans. Robin Waterfield. 49ἔργῳ δὲ μαρτυρῆσαι τὸν Λυκοῦργον ὅτι πολιτείαν μεταβαλεῖν ἄνευ βίας καὶ ϕόβου χαλεπόν ἐστιν. 50Gabriele Marasco is surely right in pointing out that this passage echoes the official line given out by Cleomenes (‘il biografo [i. e. Plutarch] rispecchia qui in maniera abbastanza evidente i motivi della propaganda cleomenica’, Marasco 1981, 368); but I would argue that rather than being taken in by that ‘propaganda’, Plutarch chose to follow this line of argument and portray Cleomenes (and Agis before him) as a latter-day Lycurgus. This argument is further strengthened 48πλήθει

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training soon produced results: Sparta fought and won battles against the Achaean League, ‘as though Lycurgus lived among them once more’ (Cleom. 18.4).51 But only a few years later the Spartan army under Cleomenes suffered a defeat against the Achaean League (now supported by the Macedonian king Antigonus Doson) and fled to Egypt, where he died. In Plutarch’s account, Agis and Cleomenes break rules and laws; Cleomenes orders (perhaps even himself commits) political assassinations. Plutarch tells us that Hellenistic Sparta was in ferment, that the people called for economic reform, that Agis’ plans to cancel debts and redistribute the land were supported by the multitude (πλήθος, Agis 11.1). These are precisely the sorts of activities characterised by Plato as elements of tyranny (Plat. rep. 565e–566a)52—another indication that the actions of the two kings ought really to be condemned. And so they are, for example, by Cicero, who blames Agis for having established a tyranny and sent the Spartan aristocrats (optimates) into exile, which inevitably led to the downfall of not just Sparta, but all of Greece. (Cic. off. 2.80). Polybius calls Cleomenes a tyrant, who had ‘dissolved the constitution [which the Spartans had] inherited from their fathers and transformed the lawful rule of kings into a tyranny’ (Polyb. 2.47.3).53 Polybius, himself of course a Peloponnesian, was not greatly enamoured of Hellenistic Sparta, which had conquered and sacked his native city of Megalopolis. Agesistrata, Archidamia and Cratesiclea do not break any laws, but by being active in the political arena they clearly break the rules for accepted female behaviour. Spartan women were infamous for their autonomy, at least in the eyes of external commentators (most famously Aristotle, pol. 2.1269b20–25)—we have, of course, no sources to tell us what the Spartans themselves thought. Plutarch was no admirer of politically active and outspoken women, whom he tended to regard as both unnatural and unhelpful.54 But he clearly approved of these three Spartan queens. He gave them noble speeches before their heroic

by the fact that Plutarch only mentions in passing the growing military and political threat to Sparta posed by the Achaean League under the leadership of Aratus, which by the time Cleomenes had acceded to the Agiad throne had become the largest power in the Peloponnese. The reforms of the historical Cleomenes will have been in response to that threat, rather than an attempt to return to time-honoured Spartan values and traditions as painted by Plutarch. (For the actions of the historical Cleomenes see Paul Cartledge’s lucid discussion in Cartledge and Spawforth 1989, 48–58.) Plutarch’s biography of Aratus shows that he was quite aware of the military and political background, but chose not to bring it into play in his Life of the two Spartan kings. 51In

fact, a large part of these successes was due to the military might of mercenaries fighting alongside the Lacedaemonians, Cleom. 7.4. 52For Plato condemning violent uprisings by the common people (πολλοί) see also Plat. leg. 1.627b. 53τό τε πάτριον πολίτευμα καταλύσαντος καὶ τὴν ἔννομον βασιλείαν εἰς τυραννίδα μεταστήσαντος, my translation. 54See for example his unsympathetic treatment of Fulvia in the Life of Mark Antony; Ant. 10.3.

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deaths (Agis 20.4–5; Cleom. 22.6–7); Agesistrata, her neck in the noose, explicitly prays that her end may be for the good of Sparta (Agis 20.5), echoing Plutarch’s recommendation that the noble statesman should be willing to suffer and even die for the good of his country (Plut. mor. 815d–816a). Karin Blomqvist has shown that although Plutarch denounces powerful women,55 he is also capable of putting a positive spin on active, dominant female behaviour. Blomqvist’s explanation for this apparent discrepancy is that the women presented as positive by Plutarch only act in emergencies and in order to defend themselves, their families or their states. As soon as they can, they withdraw from the public sphere of politics and return to appropriate feminine behaviour.56 To a degree, this explanation also applies in this case. Like the men under discussion here, the Spartan queens acted for the greater good of the polis. But the decisive factor is the fact that Sparta was without its Lycurgan constitution. In Plutarch’s thinking, this obviously represented enough of an emergency to justify the women’s active participation in politics. Once more, a comparison with the Roman equivalent of the pair helps to strengthen this interpretation. Like Agis, Tiberius Gracchus is brave and noble (Ti. Gracch. 4.4–5.1). But while the Spartan king takes the initiative (Agis 4.1) which is then supported by the multitude, Tiberius’ ‘energy and ambition […] were most of all kindled by the people themselves’ (αὐτὸς ὁ δῆμος, Ti. Gracch. 8.7); later on he ‘court[s] popular favour’ (δημαγωγῶν εἰσήνεγκε, Ti. Gracch. 14.1). Both Agis and Tiberius seek counsel from older and wiser people and come up with plans for a just and fair redistribution. Their enemies in both cases are the wealthy, who resist from wholly selfish motives (Agis 6.2; 7.4; Ti. Gracch. 9.3; 10.7; 20.2). But while Agis remains noble and selfless to the last, Tiberius increasingly allows himself to be swayed by the mob (οἱ θρασύτατοι καὶ ἀπορώτατοι τῶν δημοτῶν, Ti. Gracch. 14.4). Plutarch depicts the younger brother, Gaius, as initially even unwilling to take up a political career, pushed into it by his sense of duty to the memory and the death of his brother (C. Gracch. 1.6). Like Cleomenes, Gaius is more reckless and inclined to take violent action than his predecessor, but just as noble. But there are differences. Plutarch stresses the fact that the Spartan reform kings did not act in response to demands made by the people, but were instead driven purely by their own decency and patriotism and a desire to return to the good old days. The project of Tiberius and Gaius Gracchus was worthy and noble, but it did not go beyond the usual scope for a Roman politician (comp. Ag. Cleom. Gracch. 2.1). They did not set out to save Rome. Tiberius might have

55Blomqvist

1997, 78–81. 1997, 81–86. In her reading of the so-called Laudatio Turiae, Emily Hemelrijk showed that a very similar mechanism was at work in late Roman Republican thinking, see Hemelrijk 2004. 56Blomqvist

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started out with the earnest wish to repopulate the regions of Italy with sturdy sons of toil (Ti. Gracch. 8.2–7), but even this is nowhere near the noble grandeur of the plans of Agis and Cleomenes. Agis and Cleomenes in their reforms (νεωτερισμός) […] tried to introduce into the constitution a change (μεταβολὴν) which was able to transform and get rid of all evils at once; though perhaps it is more in accordance with the truth to say that they banished the change which had wrought all sorts of evils (τὴν πάντα ἀπεργασαμένην κακὰ μεταβολὴν), by bringing back the state to its proper form and establishing it therein. (Plut. comp. Ag. Cleom. Gracch. 2.2–3)57

Their revolts aimed to bring back Sparta’s old greatness and the proper rule of the law of Lycurgus.

7 Conclusion Plutarch was—like many ancient Greeks—an admirer of the classical Spartan constitution: aristocratic rule that had guaranteed stability, discipline, frugality and military hegemony (Thuc. 1.18; Xen. Lac. 14.7). In weighing the evil of νεωτερισμός against the evil of στάσις, Plutarch encourages his readers to ponder which is the smaller of the two, and to accept that sometimes, the end not only justifies but even ennobles the means. He does this by presenting as wholly positive those men and women who respect the Lycurgan system, or whom he sees as wanting to preserve it (Agesilaus), to reinstate (Agis and Cleomenes) or even slightly improve on it (Lysander)—even where they employ questionable means. This is true for Lysander, who wanted to bring about transition and revolution (μεταβολή καὶ νεωτερισμός) by means of bought oracles and a conspiracy; and for Cleomenes, who eliminated the ephors and even his fellow king. In his Life of Aratus of Sicyon, leader of the Achaean League, Plutarch describes Cleomenes as tyrannical and lawless (παράνομος καὶ τυραννικός, Arat. 38.5)—and even so, he approves of Cleomenes’ actions in Sparta. This contrasts sharply with his stance towards the revolting (in both senses) group during the reign of Agesilaus. They are rightly quashed and their leaders executed without trial. The decisive element is not the action (revolt, νεωτερισμός) but the actor and their motives.58 In this way of thinking, Plutarch was of course not unique.

57ὁ

δὲ Ἄγιδος καὶ Κλεομένους νεωτερισμός […] τὴν ἅμα πάντα ἀπαλλάξαι κακὰ καὶ μετασκευάσαι δυναμένην μεταβολὴν ἐπῆγε τοῖς πράγμασιν. ἀληθέστερον δ᾽ ἴσως εἰπεῖν ἐστιν ὅτι τὴν πάντα ἀπεργασαμένην κακὰ μεταβολὴν ἐξήλαυνεν, ἀπάγων καὶ καθιστὰς εἰς τὸ οἰκεῖον σχῆμα τὴν πόλιν. 58In his insightful discussion of the theme of ambition in the Lives of Agis, Cleomenes and the Gracchi, Geert Roskam points to Plutarch’s statement in the Political Precepts that a politician can break the law ‘when he has necessity as his defence, or the greatness and glory of the action as a consolation for the risk. (mor. 817f).’ Roskam 2011, 217.

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Polybius believed that in evaluating a situation, ‘the final criterion of good and evil lies not in what is done, but in the different reasons and different purposes of the doer’ (Polyb. 2.56.16).59 Plutarch condemned bottom-up revolt that aimed to overturn the status quo: ‘[I]n a time of sedition, even a scoundrel gains glory.’60 He was able to sympathise with rebels like Spartacus and his inner circle if they fought against unjust and dishonourable treatment. And he could even approve of rule-breaking and revolt—as long as both the motives and the revolutionaries were noble and served to keep to or reinstate the approved order. These paradeigmata are the tools that Plutarch hands to his readers so that they, too, may throw conflicting circumstances into the balance and decide which course of action is the noblest and the best in a given, uncertain situation.

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59ἐν

παντὶ τὸ τέλος κεῖται τῆς διαλήψεως ὑπὲρ τούτων οὐκ ἐν τοῖς τελουμένοις, ἀλλ᾽ ἐν ταῖς αἰτίαις καὶ προαιρέσεσι τῶν πραττόντων καὶ ταῖς τούτων διαϕοραῖς, trans. William Roger Paton. Emphasis added. 60ἐν δὲ διχοστασίῃ καὶ ὁ πάγκακος ἔλλαχε τιμῆς; comp. Lys. et Sull. 1.1, my translation.

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Sanguine non modo se non contaminarunt, sed etiam honestarunt Die religiöse Devianz des furor und Ciceros Umgang mit dem Tod der Gracchen Janico Albrecht

Zusammenfassung

Für die römische republikanische Religion stellt Cicero einen überlieferungsgeschichtlichen Flaschenhals dar, der das Erschließen verbreiteter oder gegensätzlicher Positionen und Diskurse oft erschwert. In diesem Aufsatz wird anhand eines konstruktivistischen Ansatzes zur Devianz versucht, seine über Jahrzehnte hinweg erfolgte Arbeit am furor nachzuzeichnen – einem Vorwurf religiöser Devianz, der in besonderem Maße unter anderem juristische und pathologische Dimensionen von Schuldhaftigkeit vereinte. In einem zweiten Schritt wird ein von Cicero vielfach rezipiertes Ereignis behandelt: die Ermordung der Volkstribune Ti. und C. Gracchus, die von ihm trotz umfangreicher Interpretationsbestrebungen nicht mit dem furor tribunicius in Verbindung gebracht wird. Es handelte sich um einen seltenen Fall, in dem die religiöse Deutungshoheit bei den zumeist nur indirekt erschließbaren Gegnern lag. Diese sahen sich in der Lage, den ansonsten stets souverän erscheinenden Cicero zu Dekonstruktionsversuchen einer offenbar unangenehmen religiösen Ausdeutung der republikanischen Vergangenheit zu bewegen. Abstract

Scholars of Roman Republican religion have to face the fact that Cicero is an overwhelming presence in the extant record. Consequently, it is often easier to deduct Ciceronian views on religion than to understand the underlying normative discourse. This essay employs a constructionist approach to deviance in order to analyse, in a first step, Cicero’s decade-long work on the definition J. Albrecht (*)  Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung Alte Geschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Gilhaus et al. (Hrsg.), Transgression und Devianz in der antiken Welt, Schriften zur Alten Geschichte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05508-8_6

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of furor as a label that combined juridical, pathological and other degrees of culpability. In a second step, it considers the historical case of the murders of the tribunes Ti. and C. Gracchus as an often recurring topic in Cicero’s works. Despite his extensive efforts to construct the tribunes according to his own political beliefs, he never applied the concept of furor tribunicius to their controversial behaviour. This essay proposes that in the case of the Gracchi Cicero’s opponents held the interpretative high ground, and that it was consequently he who had to attempt to deconstruct the religious dimension of the affair.

1 Einleitung Transgressionen religiöser Normen waren in der späten Republik keine Seltenheit. Insbesondere bei Cicero, der umfänglichsten Quelle für die römische Religion, finden sich wenige Themen, die nicht religiös ausgestaltet und wenige Kontrahenten, die nicht mit dem Vorwurf religiöser Devianz belegt werden. Die schiere Quantität1 macht eine qualitative Einordnung mitunter schwierig, nicht zuletzt, weil es kein Gegengewicht zur ciceronischen Dominanz als Quelle gibt.2 Wer Cicero heranzieht, muss sich folglich bewusst machen, dass sich mitunter mehr Erkenntnisse über dessen Konstruktion eines Religionsbildes gewinnen lassen, als über den religiösen Alltag der späten Republik. Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht ein Thema, das bei Cicero gerade keine religiöse Aufladung erhält, sondern bei dem er sich ausdauernd bemüht, es der religiösen Sphäre zu entziehen. Es handelt sich um die Ermordung von Volkstribunen durch ihre innenpolitischen Gegner – ein Ereignis, das zu Ciceros Zeit aufgrund mehrfacher Wiederholung bereits als historische Tradition begriffen werden konnte. Aufgrund ihrer sakralrechtlich verankerten Unverletzlichkeit war jeglicher Angriff auf die Volkstribune von vorneherein als ultimativer Akt der Transgression definiert. 1Siehe

die einschlägige Studie von Vera Sauer, die Ciceros religiöse Referenzen in der ersten Catilinarischen Rede untersucht und zu dem Ergebnis kommt, dass er zahlreiche religiöse Argumente einbrachte, um seinem Anliegen damit eine legitimatorische Basis zu verschaffen (Sauer 2013, bes. 227–233). Den Vorwurf der übermäßigen religiösen Inszenierung musste sich Cicero auch von seinen politischen Gegnern gefallen lassen: „Da verbietest du mir noch, ruhmredig zu sein; du sagst, es sei nicht auszuhalten, was ich immer wieder über mich zum Besten gebe, und schlägst sogar, Witzkopf, der du bist, einen ironischen und geistreichen Ton an: ich pflegte zu behaupten, ich sei Jupiter, und würde nicht müde, Minerva für meine Schwester auszugeben.“ (Cic. dom. 92, hier und bei allen folgenden Reden Ciceros: Übers. Fuhrmann; Hic tu me etiam gloriari vetas; negas esse ferenda quae soleam de me praedicare, et homo facetus inducis etiam sermonem urbanum ac venustum, me dicere solere esse me Iovem, eundemque dictitare Minervam esse sororem meam.); s. dazu Lacey 1974. Tatsächlich beanspruchte Cicero eine besondere Verbindung zu Minerva, beispielsweise als er ihr im Zuge seiner Exilierung publikumswirksam ein Bildnis auf dem Capitol weihte (Plut. Cic. 31). Auch in Cic. dom. 144 weist er schließlich auf die Hilfe hin, die er von ihr erhalten habe. Vgl. weiterhin Ps.-Sall. in Tull. 2, 3, wonach Cicero (in De consulatu?) behauptet habe, er sei der Stadt auf göttlichen Rat hin als Retter gesandt worden. 2S. Beard 1992, bes. 735 zur Verfänglichkeit des von Cicero propagierten Narrativs religiösen Niedergangs.

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Die religiösen Superlative lassen sich etwa bei Plutarchs Wertung des Präzedenzfalls von 133 v. Chr. nachvollziehen: Scipio Nasica, der den unverletzlichen und heiligen (ἄσυλος καὶ ἱερός) Ti. Gracchus getötet hatte, sei verflucht (ἐναγής) und ein Tyrann gewesen.3 So absolut die Devianz hier erscheinen mag, so groß waren in der politischen Praxis die Spielräume für Auslegungen: Scipio Nasica und seine Anhänger wurden juristisch nicht belangt und in der Folgezeit schuf sich der Senat mit dem Senatus Consultum Ultimum einen Ausnahmezustand, der weitere Tribunizide legitimieren konnte. Der Charakter der religiösen Transgression blieb aber weiterhin problematisch, weshalb Ciceros titelgebende Aussage aus der ersten Catilinaria, die Mörder der Volkstribune hätten sich mit deren Blut nicht nur nicht befleckt, sondern sogar Ehre verschafft (sanguine non modo se non contaminarunt, sed etiam honestarunt),4 eine Extremposition darstellte. Innerhalb des ciceronischen Corpus handelte es sich dabei um den pointiertesten Ausdruck seiner Versuche, den Tribunizid als historisches exemplum für die eigene Sache brauchbar zu machen – und dies bedeutete ungewöhnlicher Weise, ihn der religiösen Deutung zu entziehen. Ciceros politische Karriere und Perspektive machen es hinlänglich deutlich, warum er den Volkstribunen gegenüber kritisch eingestellt war: Sein extralegales Handeln gegen die Anhänger Catilinas hatte ihn selbst (auch aus der eigenen Sicht) zu einem Nachfolger im Geiste der Tribunenmörder werden lassen, deren Verdienste um die Res Publica bei ihm folglich zu einem wichtigen Motiv wurden. Im Fokus der folgenden Abhandlung steht Ciceros kontinuierliche Arbeit am Tribunizid, die sich unter der Voraussetzung eines konstruktivistischen Verständnisses5 der Devianz als Dekonstruktionsprozess greifen lässt: Der seinerzeit offensichtlich verbreiteten Wertung des Tribunizids als religiöse Devianz entgegnet Cicero mit seiner eigenen, areligiösen Auslegung. Hier erweist sich seine quantitative Überpräsenz als Quelle durchaus als Vorteil, da sich dieses Thema in diversen seiner Reden und Schriften greifen lässt und zudem den in anderen Kontexten bei ihm greifbaren religiösen Ausdeutungen gegenübergestellt werden kann. Ciceros Unterlassung, das Geschehen religiös auszudeuten, wird dadurch auffällig, dass ein Vorwurf von Devianz existierte, den man in diesem Fall hätte erwarten können und den Cicero in anderen Kontexten auch auf viele seiner (teils tribunizischen) Kontrahenten anwendet: der des furor bzw. in k­ onkreterer Ausprägung des furor tribunicius. Hierbei handelt es sich um ‚Definitionen‘

3Plut.

Ti. Gracch. 21,3. Catil. 1,29. 5An zentraler Stelle für diese soziologische Perspektive auf abweichendes Verhalten und Normbruch steht die Annahme, dass Devianz keine inhärente Eigenschaft von Personen oder Verhaltensweisen ist, sondern das Resultat eines gesellschaftlichen Zuschreibungsprozesses (labeling); s. dazu Erikson 1962, Kitsuse 1962, Goffman 1963, Schur 1971, Becker 1973, Kitsuse/Spector 1975. Nach Schur 1980, bes. 7, stehen die Konstruktionsprozesse von Devianz in einem reziproken Verhältnis zu den Machtverhältnissen einer Gesellschaft, die sie sowohl abbilden als auch beeinflussen. 4Cic.

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­religiöser Devianz,6 anhand derer sich gut aufzeigen lässt, wie eine religiöse Stigmatisierung eines Gegenübers (oder einer Personengruppe) ablaufen konnte. Die bei Cicero ausbleibende Übertragung der Vorwürfe auf die ermordeten Gracchen zeigt zunächst, dass die Vergangenheit ihm zur Herausstellung der gegenwärtigen Krisensituation als historischer Superlativ diente: Noch nie hatten die Verteidiger der Res Publica mit derartig verkommenen Gegnern ringen müssen! Darüber hinaus lassen sich Vermutungen anstellen, dass die religiöse Devianz der Tribunizide der Deutungshoheit von Ciceros Opponenten (etwa Clodius) unterlag und das auffällige Schweigen somit auf eine dominante religiöse Wahrnehmung zurückgehen könnte, die nicht die ciceronische war. Die breite Überlieferung Ciceros ist auch hier von Vorteil, denn es lässt sich so stellenweise erkennen, wie die gegnerische Aussage gelautet haben müsste, auf die Cicero mit dekonstruierender Stoßrichtung antwortete. Darüber hinaus ermöglichen die wenigen erhaltenen Belege über das literarische Wirken des C. Gracchus Hinweise auf den Ursprung der gegnerischen Position. Nicht nur lässt sich somit die Dehnbarkeit sakralrechtlicher Stringenz am Fall einer der größten religiösen Transgressionen in der Res Publica aufzeigen, das sich ergebende Bild des bei religiösen Deutungen reaktiven und abwiegelnden Ciceros mahnt zudem zur kritischen Reflexion dieser so wichtigen Quelle für die römische Religion der späten Republik.

2 Die religiöse Devianz des furor zwischen Tragik und Pathologie Wer sich bei Cicero auf die Suche nach häufig verwendeten und ausgestalteten Definitionen religiöser Devianz macht, wird in den politischen und juristischen Reden schnell beim furor fündig: Am ehesten mit ‚Wahnsinn‘ oder ‚Raserei‘ zu übersetzen – also (göttlich induziertem) Kontrollverlust –, wird dieser mit einer Reihe von Verhaltensweisen wie dem Gebrüll des Redners, Angriffen auf römische Bürger, Brandschatzung, Inzest etc. assoziiert. Kaum einer seiner bedeutenden Gegner wurde von Cicero nicht mit diesem Vorwurf bedacht.7 In den meisten Behandlungen des Begriffs wird auf seine beiden zentralen Verwendungskontexte hingewiesen, nämlich den juristischen8 und den

6Vgl.

Kitsuse/Spector 1975, 593: „If the subject matter is definitions of social problems and deviance, then it is definitions that are socially processed. In this sense, we can say that definitions have careers, one aspect of which is their institutionalization as official categories.“ 7So musste sich Cicero offenbar keine Mühe geben, den Vorwurf des Wahnsinns zu erläutern: „As in many of the other cases, Cicero labels them with madness or aberration simply because he disagreed with their political stance […] with few details of the madness explained or illustrated.“ (Alessi 1974, 187–188; für eine Aufzählung der Stellen S. 397 Anm. 68). 8Nach

Florence Dupont war der furor eine anthropologische Gemeinsamkeit früher Gesellschaften: ein Zustand der Wildheit und Entmenschlichung, den der Krieger annehmen musste, um töten zu können und den er ablegen musste, um wieder zu einem Teil der Gemeinschaft

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­tragischen.9 Juristische und tragische Bedeutung des furor einte die implizierte Entfremdung von Gesellschaft und Zivilisation.10 Furor beschrieb fast immer Alterität und ließ sich insbesondere auf soziale Minoritäten wie Frauen11, Sklaven12 oder Fremde13 übertragen. Dies bestätigt

­ erden zu können (Dupont 1990). Aus diesem vorhistorischen ‚Ur-furor‘ leitet Dupont dann den w juristischen Umgang, nachweisbar schon im Zwölftafelgesetz, her (Lex XII tab. V 7a, b.). Seit diesem frühen Zeitpunkt ist der furiosus, in diesem Kontext meist als ‚Geisteskranker‘ übersetzt, jemand Defizitäres; die Bestimmungen schließen ihn von den meisten juristischen Handlungen aus. Er war nicht rechenschaftsfähig, nicht selbstbestimmt und benötigte einen curator, um rechtlich bindende Handlungen vornehmen zu können (Cic. inv. II,148; Rhet. Her. I,23). 9Muñiz Coello 2000. Römische Tragödiendichter übernahmen den Begriff zur Umschreibung der geistigen Verfassung von Handelnden, wobei Senecas Hercules furens sicherlich den bekanntesten Fall darstellt (Dupont 1990, 141; eine detaillierte Behandlung des furor in Senecas Tragödien bei Glaesser 1984, 18–36). Daran anknüpfend fand der furor später auch Verwendung in der dichterischen Aufarbeitung des Bürgerkriegs, s. dazu Franchet d’Espèrey 2003; vgl. den Aufsatz von Brockkötter in diesem Band. Zur Übernahme aus der griechischen Tragödie s. Dupont 1990, die in der griechischen Tragödie kein Äquivalent zum als Erklärung für die menschliche Schuld gebrauchten furor zu erkennen meint; vgl. Köhm 1928, 26; Effe 2000. 10Dupont 1990, 146. 11Weibliche Religiosität als Verlust von Kontrolle und Überhandnehmen von Emotionalität war ein topisches Motiv. Einschlägig ist die Rede Pro Cluentio, in der Sassia von Cicero an mehreren Stellen furor und amentia attestiert wird (Cic. Cluent. 15; 177; 182; 191; 194). Für ihn steht fest, welche Haltung die Götter gegenüber einer solchen Frau, die sich als Katalog weiblicher Lästerlichkeit liest, einnehmen: „Ich bin überzeugt, dass die unsterblichen Götter das grausame Wüten dieser Frau von ihren Altären und Tempeln mit Abscheu zurückgewiesen haben.“ (Cic. Cluent. 194; Cuius ego furorem atque crudelitatem deos immortales a suis aris atque templis aspernatos esse confido.). Als Beleg dafür, dass dies nicht nur als ciceronische Misogynie zu lesen ist, lässt sich die inschriftliche laudatio der Turia anführen. Bei der Aufzählung ihrer Tugenden legte ihr Mann offenbar Wert darauf, ihre Beschäftigung mit der Religion (stud[ii religionis] ist zwar ergänzt, aber kaum zu bezweifeln) mit einer Anmerkung zu versehen: Turia habe sich der Religion sine superstitione gewidmet (CIL VI,1527 col. 1, Z. 31). 12Für die Republik ist die Quellenlage wenig ergiebig. Als vergleichsweise allgemein liest sich Catos Empfehlung an den Gutsherren, dem vilicus keinen Zugang zu Weissagern zu gestatten (Cato agr. 5,4). Hierbei ist es jedoch nicht klar, ob Cato dabei auf die Leichtgläubigkeit von Sklaven und damit ihre Anfälligkeit für Betrüger anspielte oder ob dahinter doch eher eine Verachtung für ‚private‘ Prophetie zu vermuten ist. Als relevant erweist sich eine Stelle des Juristen Vivianus, der im späten ersten Jahrhundert n. Chr tätig war. Die von ihm behandelte Frage, inwieweit religiöser Fanatismus eines Sklaven ein Anzeichen für seine ‚Defektivität‘ (und damit relevant für die Anfechtung des Kaufvertrags) sein konnte, wird zwar erst in den Digesten überliefert (Dig. XXI,1,9–10) und muss daher mit Vorsicht betrachtet werden. Die Stelle ist aber interessant, weil hier verschiedene Definitionen religiöser Devianz graduell abgewogen und gegenübergestellt werden. Hilton 2009 hat diese Aufzählung als typisch für eine Sklavenhaltergesellschaft gedeutet und in Beziehung zur Konzeption von Apuleius‘ Metamorphosen gesetzt: Es sei kein Zufall, dass gerade die Geschichte um Lucius, in der die Dialektik zwischen Freiheit und Dienerschaft, Mensch und Tier, so zentral ist, eine Fülle an Zuständen des Wahnsinns und religiöser Fanatismen aufweise. 13Diejenigen

Momente der Defizienz, die die Religiosität von Frauen und Sklaven ausmachten, konnten auch Fremdheit charakterisieren, auch hierfür ließ sich die Assoziationsvielfalt des furor ohne weiteres nutzen. Vor allem von Livius wird furor konkret mit dem Handeln von Nichtrömern bzw. Gegnern der Römer assoziiert: Hannibal (Liv. XXI,41,3), Hieronymus von Syracus

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auch der Umstand, dass furor kaum als Selbstbeschreibung vorkommt. Hier wird der Unterschied zur ira oder iracundia, dem (Jäh-)Zorn, offenkundig.14 Die Grenze zwischen ira/iracundia und furor wurde markiert durch die Beherrschung und das Bewusstsein über den eigenen Zustand sowie die Fähigkeit, ihn aus ­eigener Kraft zu überwinden. Konnte die Erkenntnis und Entschuldigung, im Zorn gehandelt zu haben, auch im öffentlichen Raum vertretbar oder sogar wünschenswert sein, ging mit dem furor eine Stigmatisierung des von ihm Betroffenen einher: Er hatte die Kontrolle verloren, was neben der skizzierten juristischen Deutung auch den Charakter einer pathologischen Erkenntnis haben konnte – so diagnostizierte der Autor der Sallust zugeschriebenen Schmähschrift auf Cicero diesem aufgrund seiner Beleidigungen gegen andere ein morbus animi, der ihn jedoch nicht vor einer Retorte bewahren würde.15 Es gab zwei Ausnahmen, deren furor zwar eindeutig religiös konnotiert, aber nicht unbedingt negativ gedeutet wurde: Dichter16 und Propheten17 – bei Letzteren lässt sich auf die Verwandtschaft der griechischen Begriffe μαίνομαι/μανία (rasen/Raserei) und μάντις (Seher, Prophet) verweisen.18 Beide vereinte die Nähe

(XXIV,6,9), Nabis von Sparta (XXXVII,25,12), die hispanischen Gegner Mandonius und Indibilis (XXVIII,24,3–4), die Aetoler (XXXVI,34,3). L. A. Thompson hat in seiner Untersuchung der ‚foreign furiosi‘ als definierendes Moment für die Entstehung die expansionistischen Ambitionen Roms und ihre Folgen ausgemacht: „[…] behind the notion of the ‚foreign furiosus‘, there is always a strong element of jingoism, especially as it appears in Livy. […] Livy employs this terminology to characterize the actions and policies of foreign peoples and individuals who preferred independence to the status of subiecti or amici sociique populi Romani, or who had the insolence to challenge the heaven-sanctioned power of Rome.“ (Thompson 1965, 18). 14Diesen

kann Cicero etwa seinem Bruder Quintus ohne Weiteres vorhalten: Er sei ein Laster (vitium), das er sich möglichst schnell abgewöhnen müsse (Cic. ad Q. fr. I,1,37). Auch Ciceros eigenes Verhalten, für das er sich entschuldigt, sei iracundius geschehen (Cic. ad Q. fr. I,2,12). In der Rede über das Gutachten der Opferschauer schließlich meint er sich gegenüber denen rechtfertigen zu müssen, die ihn als zornig und unbeherrscht (iratus, impotenti animo) wahrgenommen haben (Cic. har. resp. 3). Eine Ausnahme stellt Att. IV,1,1 dar, hier entschuldigt sich Cicero für seine Fehleinschätzung seiner eigenen Lage im Exil. Dieses stellte einen so bedeutenden und entwürdigenden Einschnitt für Cicero dar, dass er hier sogar eine Sprache verwendet, die ansonsten seinen schlimmsten Gegnern vorbehalten ist; s. Alessi 1974, 187.

15Ps.-Sall.

in Tull. 1: „Schwer und nicht mit Gleichmut würde ich deine Schmähungen ertragen, Marcus Tullius, wenn ich nicht wüsste, dass es weniger Urteilsvermögen als vielmehr ein geistiger Defekt ist, was dich derartig unverfroren sein lässt.“ (Übers. Eisenhut; Graviter et iniquo animo maledicta tua paterer, M. Tulli, si te scirem iudicio magis quam morbo animi petulantia ista uti.). Vgl. Cic. Tusc. III,11 zur Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Intensitäten von Geisteszuständen (insanus – furiosus). 16Cic. div. I,80: „Niemand könne nämlich, sagt Demokrit, ohne Wahnsinn ein großer Dichter sein, und Platon behauptet das ebenfalls. Er mag den Zustand, bitte schön, ruhig ‚Wahnsinn‘ nennen, wenn nur dieser Wahnsinn so gepriesen wird, wie ihn Platon in seinem ‚Phaidros‘ gepriesen hat.“ (Übers. Schäublin; Negat enim sine furore Democritus quemquam poetam magnum esse posse, quod idem dicit Plato. Quem, si placet, appellet furorem, dum modo is furor ita laudetur ut in Phaedro [Platonis] laudatus est.). Obwohl Cicero diesem auf Demokrit zurückgeführten Verständnis hier nur widerwillig zuzustimmen scheint, verweist er an anderer Stelle (Arch. 18–19) selbst darauf. 17Cic.

div. I,66.

18Köhm

1928, 5.

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zu der ihnen Inspiration oder Wissen eingebenden Gottheit – hierin sind wiederum Parallelen zu den mit Wahnsinn geschlagenen furiosi der Tragödien und der römischen Politik zu sehen: Göttliche Eingebungen, sei es von Dichtern, Propheten oder den Gegnern Ciceros, gingen mit Verblendung einher. Stets also musste es sich – selbst wenn nicht per se negativ konnotiert – um etwas handeln, das den Betroffenen von der Gesellschaft, noch spezieller aber von den politisch aktiven Senatoren, separierte. Eine derer Tugenden war schließlich – das zeigen Ciceros Ausmalungen – die ratio, für ihn das genaue Gegenteil des furor.19 Wenn es darum ging, andere als furiosi zu beschreiben, war diese Separierung immer intendiert, es waren Konstruktionen von Alterität. Dies konnten Einzelpersonen oder Gruppen verschiedener Ausmaße sein. Allein für das ciceronische Corpus hat Paul Thomas Alessi über 300 Verwendungen des semantischen Feldes von furor festgestellt (furiosus, furere, furibundus, furia, amentia, rabies, rabidus, insanior/insanire).20 Eine der anschaulichsten Verwendungen stammt aus De haruspicum responso: Hier legt es Cicero darauf an, den Bericht der haruspices über die religiösen Missstände in Rom in einem rhetorischen Gewaltakt auf seinen Gegner Clodius zu münzen. Dieser allein sei für sämtliche Probleme verantwortlich, und Cicero kann für jeden Punkt auf der Liste der haruspices ein entsprechendes Vergehen des Clodius anführen: Doch die unsterblichen Götter: welche schlimmere Strafe können sie über einen Menschen verhängen als Raserei und Wahnsinn? Denn du glaubst ja wohl nicht, dass die Gestalten, die du in den Tragödien von körperlichen Wunden und Schmerzen gepeinigt und verzehrt werden siehst, schwerer unter dem Zorn der unsterblichen Götter zu leiden haben als diejenigen, die im Zustande der Raserei auftreten. Das Schreien und Stöhnen Philoktets mag ergreifend sein – es ist keineswegs so jammervoll wie der Irrsinn des Athamas und die Qual der Muttermörder. Und du: wenn du in den Volksversammlungen wahnsinniges Gebrüll von dir gibst, wenn du die Häuser deiner Mitbürger zerstörst, wenn du die rechtschaffensten Leute mit Steinen vom Forum vertreibst, wenn du lodernde Fackeln auf die Dächer deiner Nachbarn schleuderst, wenn du heilige Gebäude in Brand steckst, wenn du die Sklaven aufhetzt, wenn du die Opfer und Spiele durcheinanderbringst, wenn du Frau und Schwester nicht zu unterscheiden vermagst, wenn du nicht weißt, in welches Bett du dich legst, dann bist du besessen, dann rasest du, dann erleidest du die einzige Strafe, ­welche die unsterblichen Götter über menschliche Missetat verhängt haben.21

19Im

Zuge der augusteischen Vereinnahmung und Propagierung der pietas bildete sich eine andere, in der frühkaiserzeitlichen Literatur weit verbreitete, Gegenkonstruktion heraus; s. dazu Korpanty 1985, 249. 20Alessi 1974, 149. 21Cic. har. resp. 39: a dis quidem immortalibus quae potest homini maior esse poena furore atque dementia? nisi forte in tragoediis quos vulnere ac dolore corporis cruciari et consumi vides, graviores deorum immortalium iras subire quam illos qui furentes inducuntur putas. Non sunt illi eiulatus et gemitus Philoctetae tam miseri, quamquam sunt acerbi, quam illa exsultatio Athamantis et quam senium matricidarum. Tu cum furialis in contionibus voces mittis, cum domos civium evertis, cum lapidibus optimos viros foro pellis, cum ardentis faces in vicinorum tecta iactas, cum aedis sacras inflammas, cum servos concitas, cum sacra ludosque conturbas, cum uxorem sororemque non discernis, cum quod ineas cubile non sentis, tum baccharis, tum furis, tum das eas poenas quae solae sunt hominum sceleri a dis immortalibus constitutae.

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Furor und dementia als schlimmste Strafen, welche die Götter über die Menschen verhängen können – diesen Gedankengang mit seiner im Folgenden erläuterten Entlehnung aus der Tragödie kann Cicero ohne weiteres an zentraler Stelle in seine Rede einbauen. Interessant ist darüber hinaus aber auch die Leichtigkeit, mit der sich dennoch die Verbindung zur pathologischen Eigenschaft des Wahnsinns herstellen lässt: Denn unser Körper ist von sich aus durch seine Gebrechlichkeit vielen Wechselfällen ausgesetzt, und er wird oft durch die geringsten Ursachen niedergeworfen – die Geschosse der Götter bohren sich in die Seele der Frevler. Du bist daher elender dran, wenn deine Augen dich zu jeglicher Missetat verleiten, als wenn du überhaupt keine Augen mehr hättest.22

Zugrunde lag mit dem furor eine in verschiedene Richtungen ausdeutbare Definition von Devianz.23 In ihrer konkreten Bedeutung vage bleibende Anführungen eines der Begriffe waren dabei ebenso möglich wie konkrete und meist sehr bildliche Erläuterungen wie die genannte Passage aus De haruspicum responso. Furor erinnerte an das Tragisch-Religiöse des Bühnenspiels gleichermaßen wie er bestimmte Verhaltensweisen von Kranken und der rechtlichen Geltungskraft entzogenen Personen (oder deshalb gerade ‚Nicht-Personen‘) vor Augen führte. Eine ausschließlich religiöse Dimension hatte der furor damit ebenso wenig wie eine rein ‚profane‘, ‚rationale‘ oder medizinische – auch dies zeigt das obige Beispiel. Es ließen sich bestimmte Aspekte betonen, die anderen dafür aber nicht völlig ­ausblenden.24 Ein Beispiel dafür zeigt sich uns in Ciceros Anklage gegen Piso, als Statthalter der Provinz Macedonia das ihm unterstellte Heer (zum eigenen Vorteil) entlassen zu haben – für Cicero ein Anlass, Pisos furor weit über die tragische und die pathologisch-juristische Konnotation hinaus auszudeuten: Ich sollte nun nicht glauben, du seist wahnsinnig, rasend, besessen und verwirrteren Geistes als Orest oder Athamas in der Tragödie […] Welche Vollmacht hat dir das gestattet, welches Gesetz, welcher Senatsbeschluss, welcher Rechtssatz, welcher Präzedenzfall? Wahnsinn: was ist das sonst? Die Unfähigkeit, Menschen zu erkennen? Nein: die Unfähigkeit, die Gesetze, den Senat, den Staat zu erkennen! Oder die Zerfleischung der eigenen Glieder? Schlimmer ist’s, wenn sich jemand wie in diesem Falle die Existenz, den Namen, die bürgerlichen Rechte verstümmelt! Wenn du deine Sklaven fortgeschickt hättest (was ja, außer dir selbst, niemanden etwas anginge), dann sähen sich deine ­

22Cic.

har. resp. 39: Nam corporis quidem nostri infirmitas multos subit casus per se, denique ipsum corpus tenuissima de causa saepe conficitur: deorum tela in impiorum mentibus figuntur. Qua re miserior es cum in omnem fraudem raperis oculis quam si omnino oculos non haberes. 23Vgl. Alessi 1974, 343: „Often even the same author alters his expression and conceptualization of the nature of madness within his literary works.“ 24Gegen die Annahme von Alessi 1974, 351, der mit Blick auf Ciceros philosophische Behandlung des Wahnsinns die medizinische strikt von der religiösen Konzeption trennt. Er erkennt dafür erst Vergil als denjenigen, auf den eine „integrated unitary conception“ (353) zurückgeht.

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Freunde veranlasst, dir einen Vormund zu bestellen: hättest du nun wohl ohne Erlaubnis des römischen Volkes und Senats den Schutz des Staates, die Sicherung der Provinz entlassen, wenn du bei Sinnen gewesen wärst?25

Cicero macht deutlich, dass er in diesem Fall nicht nur den Bezug in dem furor des Akteurs sucht, der seine Selbstbestimmungskraft verloren hat. Dieser entspräche der tragischen Figur oder dem juristischen furiosus, der keine Menschen mehr erkennt und vor sich selbst geschützt werden muss (non cognoscere homines; cruentare corpus suum leve est): Er ist entpersonalisiert und damit primär aufgrund seines defizitären Zustandes verständlich – dies hat Edwin Schur als eines der Ziele eines jeden Anwendungsprozesses von Devianz im politischen Kontext bezeichnet.26 Freilich wäre die juristische Handlungsunfähigkeit des furiosus zunächst nur ein Problem für ihn selbst und für sein privates Umfeld, weshalb sich Cicero einer weiteren Steigerung bedient: Der von ihm hier skizzierte furiosus ist der Feind, das Gegenbild der politischen Ordnung – und der göttlichen, wie an anderer Stelle deutlich wird. Verbunden werden die unterschiedlichen Bedeutungen stets dadurch, dass der furor als Zuschreibung eine Konstruktion absoluter Alterität darstellte, ein Gegenmodell dessen, für das man selbst einstand. Von den Verrinen27 abgesehen, ist furor vor allem in den Catilinarischen Reden allgegenwärtig und verbindet die sämtliche Reden durchziehenden Vorwürfe über Catilinas ungesetzliche und umstürzlerische Tätigkeiten. So beginnt Cicero gleich mit der Frage, wie lange man den Wahnsinn des Catilina noch ertragen müsse.28 Bei der Herausstellung seiner früheren Vergehen – Cicero skizziert Catilinas wahnsinniges Streben nach Macht von Sullas Zeit an – macht er deutlich, wie der furor Catilinas zu verstehen ist: Jeder wisse schließlich, dass sich deinem verbrecherischen Wahnsinn nicht ein Entschluss oder eine Furchtanwandlung von deiner Seite, sondern das gnädige Geschick des römischen Volkes ­widersetzt hat.29

Die Paarung von Kriminalität und Besessenheit zieht sich durch Ciceros Charakterisierung von Catilina. Die vermeintliche Gefahr, von der Nachwelt aufgrund

25Cic.

Pis. 47: Ego te non vaecordem, non furiosum, non mente captum, non tragico illo Oreste aut Athamante dementiorem putem […] quam potestatem habuisti, quam legem, quod senatus consultum, quod ius, quod exemplum? Quid est aliud furere? non cognoscere homines, non cognoscere leges, non senatum, non civitatem? Cruentare corpus suum leve est; maior haec est vitae, famae, salutis suae volneratio. Si familiam tuam dimisisses, quod ad neminem nisi ad ipsum te pertineret, amici te constringendum putarent; praesidium tu rei publicae, custodiam provinciae iniussu populi Romani senatusque dimisisses, si tuae mentis compos fuisses? 26Schur 1980, 4 („depersonalization“). 27Vgl. Cic. Verr. 2,1,7; 2,5,139; zum ciceronischen Verres s. Alessi 1974, 157. 28Cic. Catil. 1,1. 29Cic. Catil. 1,15: […] sceleri ac furori tuo non mentem aliquam aut timorem tuum sed fortunam populi Romani obstitisse?

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seiner Härte gegenüber Catilina verurteilt zu werden, sofern dieser seinem ‚Vorschlag‘, ins Exil zu gehen folge, kann Cicero nutzen, um sich als das selbstlose Gegenteil darzustellen, das nur um das Wohl des Staates bemüht ist.30 Dass ein solcher Ausgang des Konflikts jedoch unwahrscheinlich sei, macht Cicero kurz zuvor deutlich, als er seinen Wunsch äußert, die Götter mögen Catilina den Willen zur Flucht eingeben.31 Dies könne aber nur vergebliche Hoffnung bleiben, denn jemanden, dem die Götter bereits den Wahnsinn eingegeben haben, verwehren sie das klare Denken. Somit ist die ratio ein weiteres Antonym zu Catilinas furor.32 Nach der Rückkehr aus dem Exil änderte Cicero an dieser Taktik wenig, einzig bot sich mit Clodius nun ein neues Ziel. Besonders präzise wird Cicero in den vier Reden de domo sua, de haruspicium responso, pro Sestio und in Vatinium, in denen die Herausarbeitung des furor als verunglimpfende Eigenschaft von Ciceros Gegnern ihren Höhepunkt erfährt. Nicht nur in seinen direkten Angriffen gegen Clodius wird die religiöse Dimension seiner Vergehen bzw. der daraus entstandenen Folgen betont. In seinen Paradoxa schreibt Cicero unter der Frage, ob jeder Dummkopf wahnsinnig sei (ὅτι πᾶς ἄϕρων μαίνεται), von den „Reste[n] der Verschwörung, die sich von den bösen Geistern des Catilina getrieben deinem wahnsinnigen Wüten angeschlossen hatten“.33 Hier wird eine Getriebenheit der Anhänger des angesprochenen Clodius nahegelegt, eine Abstraktion von ‚bösen Geistern‘, die nicht mehr in der Sphäre des Menschlichen und Rationalen zu verorten sind. Alfons Weische schließt daraus, die „Teilnahme an seinen [Clodius’] politischen Aktionen wird von Cicero geradezu als religiöse Befleckung verurteilt.“34 Die Gegenkonstruktion ist in diesem Fall wieder die eines funktionierenden Gemeinwesens, womit Ciceros Urteil über die Anhängerschaft der Wahnsinnigen, zunächst Catilina, dann Clodius, eindeutig und ganz im Sinne der durch Dupont beschriebenen Außenseiterstellung der furiosi ausfällt: non civitas erat.35 In dieser Entpolitisierung besteht ein zweites, von Schur formuliertes

30Cic.

Catil. 1,22. Catil. 1,22: Utinam tibi istam mentem di inmortales duint! 32Cic. Catil. 1,22: Neque enim is es, Catilina, ut te aut pudor umquam a turpitudine aut metus a periculo aut ratio a furore revocarit; vgl. Alessi 1974, 162. In der zweiten Rede macht Cicero auch vor der contio mit demselben Muster weiter. Nichts deutet darauf hin, dass das Publikum der contio eine andere oder etwa gemäßigtere Verwendung des furor-Vorwurfs erforderte (Cic. Catil. 2,1; 19–21). Auch in der dritten und vierten Rede ändert sich daran wenig, es ist nun vor allem Cethegus, dem Wahnsinn unterstellt wird (3,16; 4,11). Die Zuschreibung des furor an Catilina und seine staatsfeindlichen Unternehmungen kann Cicero schließlich in pro Murena (49; 83) fortsetzen. Auch in der Verteidigungsrede für P. Sulla wird, aufgrund des Inhalts naheliegend, der furor Catilinas mehrfach wieder in Erinnerung gerufen (Cic. Sull. 26; 29; 67; 75; 76). 33Cic. parad. 27 (reliquiae coniurationis a Catilinae furiis ad tuum Scelum furoremque conversae). 34Weische 1966, 27–28. 35Cic. parad. 27. Vgl. auch Alessi 1974, bes. 2, eines dessen Ziele es ist, aufzuzeigen, dass furor/ furere in der späten Republik zu den Standardbegriffen für jegliche Abweichung vom normalen gesellschaftlich anerkannten Verhalten und der ordentlichen Funktion der Res Publica wurden. 31Cic.

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Resultat des Vorwurfs von Devianz: Zielte die Entpersonalisierung auf die Überlagerung individueller Charakteristika einer Person durch eine bekannte Definition der Defektivität, wurde dem entpolitisierten Individuum die Teilhaftigkeit an der politischen Gemeinschaft abgesprochen, was wiederum emotionalisiertere Angriffe ermöglichte.36 Ciceros konstante Verbindung von furor und seinen Vorstellungen einer funktionierenden Res Publica hat in der Forschung ihre Spuren hinterlassen. Angesichts des weitgehenden Schweigens anderer republikanischer Quellen ließ sich der furor bequem als ein Kampfbegriff der ‚Parteienkämpfe‘ lesen: Der Gebrauch von „furor“ und „furere“ im politischen Sinne scheint in internen Optimatenkreisen geradezu der terminus technicus für gegnerische Aktionen gewesen zu sein […]37

Weiterhin lege die Häufung des furor bei Cicero sogar eine Monopolisierung des Begriffs nahe: Dieser Vorstellungskomplex [des Wahnsinns] war durch den Sprachgebrauch der Optimaten so fest geworden, dass die Gruppe ‚furere, furor‘ von den Popularen in ihrer Polemik kaum verwendet werden konnte, obwohl man theoretisch erwarten sollte, dass man in Rom von jedem Standpunkt aus seinem Gegner ‚Wahnsinn‘ hätte vorwerfen können.38

Diese Annahmen sind in zweierlei Hinsicht problematisch: Zunächst ist die Quellenlage ‚schief‘. Das erdrückende Übergewicht des ciceronischen C ­ orpus sollte uns eigentlich davor warnen, quantitative Vergleiche dieser Art vorzunehmen. Hinzu kommt, dass gerade Cicero insofern besonders wirkmächtig war, als er später in vielen Bereichen zur kanonischen Referenz wurde, was ihn für seine Zeit aber keineswegs repräsentativer macht. Dennoch – dies zeigt der ­Vergleich mit den anderen republikanischen Autoren – ist die Diskrepanz zu den anderen Quellen beim semantischen Feld des furor tatsächlich so groß,39 dass man

36Schur

1980, 139 („depolitization“). 1966, 25; vgl. Korpanty 1985, 248. 38Weische 1966, 26–27. 39So finden sich in Caesars Commentarii insgesamt drei Verwendungen der semantischen Gruppe (Caes. Gall. I,40; II,3; VII,42), bei allen handelt es sich aber um Zuschreibungen der jeweiligen Gegner, Germanen und Gallier, die – wenngleich nicht so explizit wie bei Cicero – irrationales Handeln an den Tag legen. Wenig überzeugend ist der Schluss von Weische 1966, 26 auf eine rein ‚optimatische‘ Nutzung des Begriffs. Sallust verzichtet, abgesehen von der Beschreibung Catilinas, weitgehend auf den furor und bevorzugt stattdessen die Begriffe vecordia/vecors (Alessi 1974, 223–224.). Sein und Caesars Schweigen wird von Alessi 1974, 191 daher in Bezug zur umfassenden Verwendung des Terminus bei Cicero gesetzt, dieser wiederum als Erfinder vieler Varianten verstanden. Abgesehen von einigen wenig ergiebigen Verwendungen in den Sententiae des Publilius Syrus gibt zumindest eine von Nonius überlieferte Aussage des spätrepublikanischen Grammatikers Santra Auskunft über mögliche literarische Assoziationen, die den Aspekt der religiösen Devianz deutlich vor Augen führt (hier in der seltenen Adverbform furenter): ita oppletum sono furenter omni a pacto bacchatur nemus. (Non. 78,28). 37Weische

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zumindest vorsichtig und gerade in qualitativer Hinsicht Schlüsse über Ciceros Verwendung und Prägung dieser Form religiöser Devianz vornehmen kann: Es ist offensichtlich, dass der Vorwurf des Wahnsinns eine zentrale Stellung in Ciceros Demontage seiner Gegner einnahm, sowie, dass er in großem Umfang an dieser, für ihn offenbar nützlichen, Definition von Devianz gearbeitet hat. Es liegt damit der Schluss zumindest nahe, dass er versuchte die Deutungshoheit über die polemische Kategorie des furor zu erlangen. Schwieriger wird es jedoch bei der zweiten Problematik, dem verallgemeinernden Hinweis auf die „internen Optimatenkreise“, die Annahme also, dass der furor ein fester Bestandteil eines ‚Optimatensprechs‘ und daher für die ‚Popularen‘ nicht mehr benutzbar wurde. Die lange Debatte über den Parteiencharakter kann hier unter keinen Umständen wieder aufgegriffen werden, aber bereits die im Fokus dieses Aufsatzes stehenden (De-)Konstruktionsprozesse und Ciceros auf Dualismen aufbauende Polemik sollte als Warnung vor einer Reifizierung dienen.40 Jenseits aller ‚Parteifragen‘ bestand ein Teil der Konstruktionsbemühungen darin, die vielfachen Assoziationsmöglichkeiten des furor – medizinisch, juristisch, tragisch, hier ferner inspirativ – zur universellen Anwendung tauglich zu machen.41 Bezeichnend für die rhetorischen Vorgehensweisen war dabei, dass das Nebeneinander der vielen, sich vermeintlich ausschließenden Assoziationsmöglichkeiten offenbar als Vorteil gereichte, denn selbst wenn man sich Ciceros Bemühungen ansieht, eine davon in den Vordergrund zu rücken, dann ging dies gerade nicht mit einer Dekonstruktion, Verneinung oder einem Verschweigen der anderen einher.42 Der Grund dafür war die kumulative Einbindungsmöglichkeit in argumentative Strukturen, bei der die geschickte Verknüpfung von emotional wirksamen Aussagen, zu denen Vorwürfe religiöser Devianz immer gezählt werden können, oftmals eine bedeutendere Funktion besaß als forensische Stringenz.

40So

war die Gegenüberstellung von ‚Optimaten‘ und ‚Popularen‘ zunächst ebenfalls eine Konstruktion. Folglich ist es methodisch unzulässig, in einem eisegetischen Prozess von zwei schematisch ähnlichen Gegensatzkonstruktionen die eine zu reifizieren, zum Abbild einer historischen Tatsache umzudefinieren und danach heranzuziehen, um die andere historisch zu erklären. Erschwerend kommt hinzu, dass Cicero sich gerne selbst als popularis stilisierte, wenn es opportun schien (Cic. leg. agr. 2,6–10; vgl. Rab. perd. 11–15). Zu der grundsätzlichen Dehnbarkeit des Begriffs aufgrund je nach Gelegenheit unterschiedlich zusammengesetzten Publika und Definitionen dessen, was im eigentlichen Sinne ‚volksfreundlich‘ sei, s. Meier 1965, 568– 572, hier 570. Zur Terminologie s. Robb 2010. S. die Warnung von Erich Gruen, sich von den Bezeichnungen der „senatorial party“ und der „popular party“ täuschen zu lassen: „Such labels obscure rather than enlighten understanding.“ (Gruen 1974, 50); vgl. Wiseman 2002, bes. 293. 41Vgl. Alessi 1974, 2. 42So sind z. B. in der oben besprochenen Stelle Cic. har. resp. 39 die tragische und medizinische Dimension nicht so sehr der Gegenentwurf, sondern vielmehr der Ausgangspunkt, von dem aus eine Steigerung vorgenommen wird, um Vergehen und Verwerflichkeit des Clodius in noch grellerem Licht erscheinen zu lassen.

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3 Die Historisierung der Devianz: furor tribunicius Scheint es sich bei der Konstruktion einer effektiv anwendbaren Definition des furor um eine im Grunde simple Vereinnahmung – hier weniger ‚optimatisch‘ als ciceronisch – zu handeln, müssen im Folgenden komplexere Assoziationsstränge religiöser Devianz in den Blick genommen werden. Die vielfache Ausdeutbarkeit des furor und seiner semantischen Verwandtschaft erlaubte Spezifizierungen. Eine davon war die assoziative – die Verknüpfung mit bestimmten Personengruppen oder Rollen. In geringerem Maße lässt sich ein solches Vorgehen schon bei der Assoziation mit kontingenten Eigenschaften (wie Weiblichkeit) beobachten. Weniger generell und auf einem Grundkonsens beruhend, erforderte die Verknüpfung von Devianzdefinitionen mit Rollenbildern einen höheren Konstruktionsaufwand und unter Umständen auch das Überwinden alternativer Deutungsmodelle. Der Vorteil lag in der Möglichkeit, einprägsame und in ihrer Wertung eindeutige Assoziationen zu schaffen. Eine solche war die des tribunus furens oder des furor tribunicius. Bezug genommen wurde dabei besonders auf die vermeintlich typische Artikulation von Volkstribunen vor ihrem bevorzugten Publikum, dem Volk. So ist tribunizischer furor meist mit der Aufstachelung einer Menschenmenge v­ erbunden.43 Der sich in ihrem emotional aufgeladenen ‚Gebrüll‘ vor dem Volk äußernde furor der Volkstribune44 rekurrierte einerseits auf die Topoi der (potentiell ansteckenden) Geisteskrankheit und der politisch-rechtlichen Handlungsunfähigkeit der Erkrankten, stellte zugleich aber auch insofern eine besondere Konstruktion religiöser Devianz dar, als sie den Gegensatz zur sacrosanctitas der Volkstribune bilden musste. Diese – gewissermaßen positiv gedeutete Form religiöser Devianz – sollte Unverletzlichkeit garantieren und galt einigen als ursprüngliches Zugeständnis der Patrizier an die plebejische Institution.45 Auf seine sacrosanctitas als Legitimationsgrundlage soll sich der Volkstribun C. Atinius Labeo 130 v. Chr. berufen haben, als er den Besitz des Censors Q. Caecilius Metellus Macedonicus konsekrierte und diesen vom Tarpeischen Felsen stürzen lassen wollte.46 Atinius’ Verhalten dient Cicero als exemplum innerhalb einer Tradition tribunizischen Wahnsinns. Seine Ausdrucksweise ist dabei stark suggestiv: Natürlich kenne sein Publikum die vielen älteren Fälle, die das Handeln des Atinius dirigierten, genau – tribunizischer furor wird damit historisiert. Sicherlich waren es die zumeist späteren und blutigen Höhepunkte der Auseinandersetzung

43Vgl.

Cic. leg. III,26. Die ungezügelte Menge konnte bei Cicero auch auf der eigenen Seite stehen und sich gegen einen furiosus wenden, so etwa bei der Beschreibung von Szenen nach seiner Rückkehr aus dem Exil und der Anwesenheit des Clodius bei den Spielen (Cic. Sest. 117). 44Vgl. Cic. har. resp. 39. 45Pellam 2015 attestiert der lex sacrata, auf die die tribunizische Unverletzlichkeit zurückgegangen sein soll, tatsächlichen Rechtscharakter anstatt sie als Schwur der Plebs zur Rachenahme im Falle der Verletzung des Tribuns zu betrachten, der im Laufe der Zeit verrechtlicht wurde (so bspw. Cornell 1995, 159–160). 46Cic. dom. 123; vgl. Liv. per. LIX; Plin. nat. VII,143.

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mit anderen Senatoren, die zum Tode der jeweiligen Volkstribune führten, so im Falle der Gracchen und des Saturninus, an die Cicero hier primär dachte.47 Darüber hinaus, so die Suggestion, lieferte auch die Geschichte Roms vor den Gracchen zahlreiche Beweise für den Wahnsinn der Volkstribune. Der tribunicius furor als historische Konstante, dessen Gegenmodell selbstverständlich die Redlichkeit und Besonnenheit des Senats sein musste, stellt für Cicero ein entscheidendes Schematisierungsmoment dar und taucht in dem Augenblick auf, da er sich in seinen politischen Anliegen und im Gerichtshof Volkstribunen gegenübersah: so zuerst in seiner Verteidigungsrede für den des Hochverrats angeklagten C. Rabirius, den seine Vergangenheit als ­ Teilnehmer an der Ermordung des Volkstribuns Saturninus fast vierzig Jahre nach dem Geschehen eingeholt hatte. Auch jenseits der persönlichen und juristischen Dimension – Caesar stand hinter dem tribunizischen Ankläger T. Labienus und hatte die altertümliche Anklageform der perduellio wiederbelebt – ist dieser Fall relevant, denn er offenbart die potentielle Aktualität der zumeist ungeahndeten politischen Morde. Diese Krisenmomente der Republik blieben nicht nur aufgrund der Empörung und Unversöhnlichkeit der Beteiligten lange im Gedächtnis präsent, sondern gerade aufgrund der Tatsache, dass es auf allen Seiten zu umfangreichen Vorwürfen religiöser Devianz gekommen war und immer wieder kommen konnte. Zunächst aber stellt Pro Rabirio perduellionis reo für uns den frühesten ciceronischen Beleg für den furor tribunicius, hier bezogen auf Saturninus, dar: Es seien dessen improbitas und furor gewesen, die alle Rechtschaffenen zum Handeln zwangen.48 Als Kontrast zum tribunizischen furor dient die für Besonnenheit und Legalität stehende konsularische auctoritas. Wieder werden klare Alternativen formuliert: Verstecken wäre einem schändlichen Tode gleichgekommen (dies wird also ausgeschlossen – es gibt nur noch einen Dualismus), es blieben also die Möglichkeiten auf Seiten des Saturninus verbrecherisch und wahnsinnig (furoris et sceleris) zu wirken oder auf Seiten der Konsuln für virtus, honestas und pudor

47Vgl.

Cic. Mil. 8, in der Cicero die historische Tradition – in diesem Fall von den jeweiligen Rettern des Staates – aufführt, und dabei mit seiner eigenen, zum Zeitpunkt der Rede etwas mehr als zehn Jahre vergangenen Ruhmestat gegen die Catilinarier endet. Ebenso einfach, wie historische Argumentationen in Debatten um aktuelle Fragen eingebracht werden konnten, ließ sich das Geschehen der jüngsten Vergangenheit in die Grundlinien der römischen Geschichte einflechten. Vgl. Cic. Sest. 101, wo Cicero, selbige Tradition betonend, die Auflistung abkürzt: „[…] um von weiteren Beispielen aus früherer Zeit, deren Zahl dem Ruhme unseres Reiches entspricht, abzusehen und andererseits niemanden zu erwähnen, der noch lebt […]“ ([…] ut vetera exempla, quorum est copia digna huius imperi gloria, relinquam, neve eorum aliquem qui vivunt nominem […]). 48Cic. Rab. perd. 22: „Da […] der frevlerische Wahnsinn des L. Saturninus [dich] aufs Kapitol zog […] Die gesamte picenische Mark: Folgte sie der Raserei des Tribunen oder dem Befehl der Konsuln?“ (Cum […] improbitas et furor L. Saturnini in Capitolium arcesseret […] ager Picenus universus utrum tribunicium furorem, an consularem auctoritatem secutus est?; s. dazu Alessi 1974, 164–165).

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einzustehen.49 Hier wird wieder Ciceros Anliegen deutlich, gegensätzliche Rollenbilder zu konstruieren und dabei jegliche Grauzone auszuschließen. Es sind die Reden gegen Clodius, die den Höhepunkt von Ciceros Agitation gegen den furor der Volkstribune darstellen. In welchem Maße er zum Zeitpunkt der Rückkehr aus dem Exil bereits auf den Topos des tribunus furens setzen konnte, offenbart sich in De domo sua, wo der furor des Clodius zum strukturierenden Element der Argumentation wird: Da dieser die meisten der von Cicero skizzierten Schandtaten50 als Volkstribun begangen hatte, spielt der tribunicius furor überall dort eine Rolle, wo die negativen Eigenschaften des Clodius (demens, perditus, improbus) sowie seine schändlichen Verbrechen (scelus, flagitium) herausgekehrt werden.51 Cicero kann dabei mit Varianten spielen: Was zeitweise ein „general statement […], usually indicating a depersonalized, almost institutionalized reference“52 ist, kann auch konkret auf Clodius und die aktuelle Situation gemünzt werden. Das Moment der Entpersonalisierung dient der Anknüpfung an die historische Tradition – es wird die Reihe früherer Tribunen in Erinnerung gerufen, deren Schädlichkeit für die Res Publica als erwiesen gelten konnte –, und sie diente der essentiell ahistorischen Stereotypisierung: Es sollte für die Zuhörer außer Frage stehen, dass die Rolle des tribunus furens auf Clodius voll und ganz zutraf, dass er nur anhand dieser identifiziert werden konnte. Den dialektischen Gegenpart dazu bildete Cicero, in diesem Falle gleichbedeutend mit der Res Publica selbst als Geschädigter, Ankläger und Repräsentant einer Gruppe von rechtschaffenen Bürgern, mit denen sich die Zuhörer identifizieren sollten. Kein Zweifel sollte mehr daran bestehen, dass hier nicht die Vendetta zweier Privatpersonen ausgetragen wurde oder dass es sich dabei um das Resultat kontingenter Ursachen handelte, sondern um einen Konflikt, in dem man als römischer Bürger Position beziehen musste.53 Ein solches Darstellungsbestreben konnte zwar dazu beitragen, den Gegner und den ihm zur Last gelegten Vorwurf dem Alltäglichen zu entziehen und beide damit in ihrer einzigartigen Schwere zu präsentieren.54 Paradoxerweise war dies für einen gleichzeitig Versuch der Stereotypisierung kaum hinderlich. So sieht Harold Garfinkel darin die beiden frühesten, sich ergänzenden und essentiellen Schritte einer erfolgreichen Denunziation.55

49Cic.

Rab. perd. 24: „Sich versteckt zu halten kam dem schimpflichsten Tode gleich, aufseiten des Saturninus zu stehen verbrecherischem Wahnsinn; Mut und Anstand und Ehrgefühl zwangen ihn, den Konsuln zu folgen.“ (Latere mortis erat instar turpissimae, cum Saturnino esse furoris et sceleris; virtus et honestas et pudor cum consulibus esse cogebat.). 50Cic. dom. 63–69 51Cic. dom. 2–3; 44; 55; 103; 113; 123. 52Alessi 1974, 167. 53Vgl. Cic. Sest. 99. 54Garfinkel 1956, 422. 55Garfinkel

1956, 422: „To be successful, the denunciation must redefine the situations of those that are witnesses to the denunciation work. […] Both event and perpetrator must be removed from the realm of their everyday character […] Both event and perpetrator must be placed within a scheme of preferences […]“.

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Der Blick auf Ciceros „schemes of preferences“, die Uniformierung als tribunus furens und die Einordnung in den dialektischen Dualismus Popularer – Optimat/Cicero, zeigt, auf welch effektive Möglichkeiten ein Redner in einem solchen Fall zurückgreifen konnte. Die Suggestion eines historischen furor tribunicius war konkret genug, den Zuhörern ein Verständnis für die Einordnung in historische wie aktuelle Debatten und Positionen zu liefern, ohne diese ausführen zu müssen, und zugleich offen genug für Steigerungen in Qualität und Dimension, womit die Notwendigkeit zum unverzüglichen Handeln herausgestellt wurde.

4 Ein auffälliges Schweigen: Ciceros legalistische Auslegung des Tribunizids Als Cicero am 7. November 63 seine erste Rede gegen Catilina vor dem Senat hielt, wollte er den Anwesenden zum Verlassen Roms bewegen und drohte ihm mit dem Tod.56 Er berief sich dabei auf Scipio Nasica, der Ti. Gracchus wegen weitaus geringerer Vergehen getötet habe, und das sogar als privatus.57 Es handelt sich hierbei um einen frühen Verweis Ciceros auf die Ermordung des Ti. Gracchus, den er im Laufe der Jahre in vielen seiner Reden immer wieder anführen würde, um die Problematik hervorzuheben, die der Umgang mit Staatsfeinden stets barg: Wie sollte man einem Römer beikommen, der nun tatsächlich „an den Grundfesten der Republik rüttelte“? Eine Antwort dafür war natürlich schon lange bekannt und in der Extralegalität des Senatus Consultum Ultimum zu finden. Hier brauchte es exemplarische Belege dafür, dass bereits in früherer Zeit große Römer auf diesem Wege die Res Publica vor Schaden hatten bewahren können, eine Tradition römischer ‚Tyrannenmörder‘ also. Wie eine solche aussehen konnte, zeigt Cicero einige Jahre später in seiner Verteidigung Milos, der sich für den Tod des Clodius verantworten musste: Wem wäre denn unbekannt, dass man bei einem Prozess wegen Mordes die Tat entweder rundweg zu bestreiten oder aber zu behaupten pflegt, sie sei mit gutem Grund und zu Recht geschehen? Oder glaubt ihr, P. Africanus sei verrückt gewesen, als ihm der Volkstribun C. Carbo in einer Volksversammlung die herausfordernde Frage stellte, wie er über den Tod des Ti. Gracchus denke, und er daraufhin antwortete, Gracchus sei offenbar zu Recht getötet worden? Denn auch der berühmte Servilius Ahala oder P. Nasica

56Cic.

Catil. 1,2: „Zum Tode hätte man dich schon längst, Catilina, auf Befehl des Konsuls abführen [sollen]“ (Ad mortem te, Catilina, duci iussu consulis iam pridem […]). 57Cic. Catil. 1,3: „Der Oberpriester P. Scipio, ein Mann von größtem Ansehen, hat, ohne eine Amtsgewalt zu besitzen, Ti. Gracchus getötet, der nur mit Maßen an der Staatsverfassung zu rütteln suchte; da sollen wir, die Konsuln, Catilina ertragen, der mordend und brennend die Welt zu verwüsten trachtet?“ (An vero vir amplissumus, P. Scipio, pontifex maximus, Ti. Gracchum mediocriter labefactantem statum rei publicae privatus interfecit; Catilinam orbem terrae caede atque incendiis vastare cupientem nos consules perferemus?).

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oder L. Opimius oder C. Marius oder – während meines Konsulats – der Senat mussten ja unbedingt für Frevler gelten, wenn die Tötung von Hochverrätern ein Frevel wäre.58

Schon am Anfang der Rede macht Cicero somit deutlich, welche Charakterisierung von Angeklagtem und Opfer er darzustellen beabsichtigt und wie die Tat daher einzuschätzen sei: Tötung eines römischen Bürgers – ja; Frevel – auf keinen Fall! Die selbst für Ciceros Verhältnisse außerordentlich weitreichende Liste der Präzedenzfälle offenbart, welches Integrationspotential entsprechende exemplarische Traditionen haben konnten, auch wenn sich die Überzeugungskraft des Arguments in diesem Fall angesichts des richterlichen Urteils anzweifeln lässt – Milo wurde schuldig gesprochen.59 Beginnend mit dem Nachspiel des Todes von Ti. Gracchus, bei dem Scipio Aemilianus das Geschehene beurteilte, springt Cicero in die römische Frühzeit, zu C. Servilius Ahala, der Mitte des fünften Jahrhunderts als magister equitum den Sp. Maelius getötet hatte, als dieser nach der Königsherrschaft gestrebt haben soll,60 um danach auf Scipio Nasica zu sprechen zu kommen. Bereits hier zeigt sich, dass nicht zwischen Tätern und unbeteiligten Befürwortern differenziert wird. Schließlich folgen L. Opimius, als Konsul zweifellos verantwortlich für den Tod des C. Gracchus und seiner Anhänger, und C. Marius, der zwar damals Konsul, aber wohl kaum für den Tod des Volkstribuns Saturninus im Jahr 100 verantwortlich war.61 Die Vereinnahmung des Marius übertrifft Cicero schließlich noch durch die Mittäterschaft, die er dem gesamten Senat bei dem Todesurteil gegen die Anhänger Catilinas während seines eigenen Konsulats unterstellt, womit es für die Suggestivfrage (All die Genannten sollen nefarii sein?) nur eine negative Antwort geben konnte. Die Deutung extralegaler Maßnahmen gegen Staatsfeinde als römische Tradition und die exemplifizierende Vereinnahmung berühmter römischer Politiker schaffen es hier nicht zu verdecken, dass der Vorwurf religiös aufgeladen und

58Cic.

Mil. 8: An est quisquam qui hoc ignoret, cum de homine occiso quaeratur, aut negari solere omnino esse factum aut recte et iure factum esse defendi? Nisi vero existimatis dementem P. Africanum fuisse, qui cum a C. Carbone tribuno plebis seditiose in contione interrogaretur quid de Ti. Gracchi morte sentiret, responderit iure caesum videri. Neque enim posset aut Ahala ille Servilius, aut P. Nasica, aut L. Opimius, aut C. Marius, aut me consule senatus, non nefarius haberi, si sceleratos civis interfici nefas esset. 59Bei der überlieferten Rede handelt es sich um eine mitunter stark redigierte spätere Ausarbeitung. Der Prozess selbst fand unter außergewöhnlichen Bedingungen statt, die es Cicero – laut eigener Aussage – erschwerten, seine Botschaft zu vermitteln (opt. gen. 4,10; vgl. Asc. Mil. 1). So fand die Verteidigungsrede Ciceros auf dem Forum unter Bewachung von Truppen statt, die der consul sine collega Pompeius abgestellt hatte. Dennoch konnten sich die zahlreich anwesenden Anhänger des Clodius lautstark bemerkbar machen und Cicero niederbrüllen (Asc. Mil. 31; vgl. 27). Den Rahmen des Prozesses gaben zwei leges vor, die Pompeius kurze Zeit zuvor (aber nach der Tat) durchgesetzt hatte: de vi, bezogen speziell auf den Mord an Clodius, und de ambitu, bezogen auf Wahlbestechung, weswegen sich Milo im Anschluss an den Prozess de vi verantworten musste (Asc. Mil. 15); zum Geschehen s. Nippel 1988, 128–135. 60Vgl. Liv. IV,13,14. 61S. dazu Badian 1984.

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die Gegenfrage Ciceros eine Ausweichstrategie war. Sicherlich hatten die drei Ankläger Milos die Frevelhaftigkeit der Tat angeführt, möglicherweise ebenfalls mit Verweis auf die früheren Fälle, in denen ermordete Volkstribune von den religiösen Vergehen senatorischer Hardliner zeugten.62 Eine Entkräftung des Vorwurfs religiöser Transgression liefert Cicero hier nicht, nur eine Negierung. Interessant wird es, wenn man die titelgebende Parallelstelle aus der ersten Catilinaria heranzieht und die religiöse Dimension des Tribunizids fokussiert. Wieder geht es um Ciceros Ziel: die Vertreibung Catilinas aus Rom. Ihn stattdessen zu töten, so Cicero, wäre angesichts der früheren Beispiele aber auch kein Problem: […] Männer von höchstem Rang, sehr angesehene Bürger, haben sich durch das Blut des Saturninus, der Gracchen, des Flaccus und anderer in früherer Zeit keineswegs befleckt, sondern sogar Ehre verschafft […]63

Auch hier negiert Cicero eine religiöse Auslegung des Tribunizids, wie sie am deutlichsten in der Ti. Gracchus-Vita des Plutarch zum Ausdruck kommt: Verflucht (ἐναγής) und ein Tyrann sei Scipio Nasica gewesen, der mit dem Blut eines unverletzlichen und heiligen Mannes (ἄσυλος καὶ ἱερός) den weihevollsten und furchteinflößendsten Ort der Stadt (ἁγιώτατός καὶ ϕρικωδέστατον) befleckt habe.64 Selbst wenn ein Teil dieser dem Volk attestierten Sichtweise auf den griechischen Biographen selbst zurückgehen mag, ist der Vorwurf, es habe sich um eine contaminatio ‚per sanguinem‘ gehandelt, bei Cicero noch deutlich erkennbar.65 Es ist wenig überraschend, dass der zu Ciceros Zeit immer noch aktuelle Streit um die ermordeten Volkstribune auch auf einer zentralen religiösen Ausdeutung fußte, denn die Problematik, unlösbar gewordenen Konflikten mit Volkstribunen per Senatus Consultum Ultimum zu begegnen, wurde nach dem Tod des C. Gracchus mehrfach reproduziert. Die beiden angeführten Stellen zeigen bereits, unter welchen Gesichtspunkten Cicero den Tod des Ti. Gracchus ausarbeitet: Scipios Tat habe keine contaminatio gezeitigt, sei kein nefas gewesen, sondern die rühmenswerte Tat eines privatus. Zwei Bedingungen charakterisieren sein extralegales Handeln: die Notwendigkeit des Tyrannenmords und seine Amtslosigkeit. Letztere veranlasst Cicero im Kontext des nur in seinen philosophischen Schriften relevanten Diskurses über den idealen Staatsmann und Philosophen66 zur Bestätigung der stoischen Maxime numquam privatum esse sapientem: 62Vgl.

die Beschreibung von Asc. Mil. 41C, wonach Cicero als einziger Verteidiger direkt auf die Reden der Ankläger einging. 63Cic. Catil. 1,29: […] summi viri et clarissimi cives Saturnini et Gracchorum et Flacci et superiorum complurium sanguine non modo se non contaminarunt, sed etiam honestarunt […] 64Plut.

Ti. Gracch. 21,3. Rhet. Her. IV,68: sanguine aspersus. 66Am deutlichsten hatte Cicero seine Position, Philosophie gehöre nicht in die intellektuelle Separation, sondern müsse mit politischer Tatkraft kombiniert werden, im ersten Buch seiner Res Publica vertreten. Seine Beschäftigung mit dem philosophischen aber immer politischen privatus geschah damals vor dem Hintergrund seiner eigenen politischen Marginalisierung im Zuge des ersten Triumvirats. 65Vgl.

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Mir scheint nicht einmal jener Pontifex Maximus Scipio […] gegen Ti. Gracchus zornig gewesen zu sein, als er den zögernden Konsul verließ und als Privatmann, wie wenn er selbst der Konsul gewesen wäre, alle jene, denen an der Rettung des Staates gelegen sei, aufforderte, ihm zu folgen.67

Auf welchem Schlachtfeld Cicero hier die Rationalität des ‚Tyrannenmörders‘ Scipio Nasica verteidigt, zeigt die Rhetorica ad Herennium, in der Scipio als Mörder im Affekt charakterisiert und sein geistiger Zustand bildlich vermittelt wird.68 Auch bei Cicero werden schließlich Tat und Charakter danach bewertet, in welchem emotionalen Zustand Scipio handelte. Die hier von Cicero präferierte ‚apathia‘ Scipios scheint auf den ersten Blick nur die stoische Verachtung physischer Hinderungsgründe zu sein („Man muss die menschlichen Dinge verachten, den Tod für gleichgültig und Schmerzen und Mühen für erträglich halten“69). Von ihr konnte in einem weiteren Schritt aber ebenso der Rat zur Immunisierung gegenüber der Volksmeinung ausgehen: Die ingrati cives hätten, so Cicero in De re publica, bisher vielen großen Männern, die das Beste für den Staat geleistet hatten, nur Schwierigkeiten bereitet.70 Die dann folgende Liste römischer Opfer der mitbürgerlichen Undankbarkeit kommt bekannt vor: Unter anderen genannt werden Servilius Ahala, Scipio Nasica, P. Popillius Laenas (der die Untersuchungen gegen die Anhänger des Ti. Gracchus geleitet hatte), L. Opimius, Q. Caecilius Metellus (auf Betreiben des Saturninus exiliert), C. Marius und schließlich Cicero selbst. Der Legitimierungsmechanismus des Tyrannenmords ist offensichtlich eng verwandt mit dem Bewältigungsmechanismus feindlicher Publikumsreaktionen. In den Reden entzieht Cicero die Tat der religiösen Auslegung in mehreren Fällen, indem er die Notwendigkeit extralegalen Handelns mit Autoritätsverweisen kombiniert.71 Von dem Vorwurf des furor, mit dem Cicero seine (nur teils tribunizischen) Gegner bedachte, fehlt jede Spur. Anders als etwa Livius72 stellt Cicero

67Cic.

Tusc. IV,51 (Übers. hier und im Folgenden Gigon; Mihi ne Scipio quidem ille pontifex maximus […] iratus videtur fuisse Ti. Graccho tum, cum consulem languentem reliquit atque ipse privatus, ut si consul esset, qui rem publicam salvam esse vellent, se sequi iussit.); vgl. off. I,76; Brut. 107. Vgl. Linderski 2002, 347 Anm. 34 und Badian 2004, 264 zum möglichen Cognomen Sapiens für Scipio Nasica. 68Rhet. Her. IV,68 (scelere et malis cogitationibus; sudans, oculis ardentibus, erecto capillo, contorta toga; excors; spumans ex ore scelus, anhelans ex infimo pectore crudelitatem). 69Cic. Tusc. IV,51: Contemnendae res humanae sunt, neglegenda mors est, patibiles et dolores et labores putandi. 70Cic. rep. I,4–6. 71Cic. dom. 91; Planc. 88. Es ist bezeichnend für die Schwierigkeit seines Anliegens, dass Cicero in den griechischen Kontext wechselt, als er auf die religiösen Ehren für Tyrannenmörder zu sprechen kommt, unter die er Milo einzuordnen versucht (Mil. 80). 72Liv. per. LVIII. Es war bezeichnenderweise die Absetzung des M. Octavius, also die Verletzung der sacrosanctitas, auf welche sich die Raserei bezog: In […] furorem exarsit ut M. Octavio collegae […] potestatem lege lata abrogaret.

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das Handeln des Ti. (und C.) Gracchus nicht als Raserei dar, obwohl dies seine Aussageabsicht unterstrichen hätte, es habe die Notwendigkeit der überlegten ­ extralegalen Ausschaltung von Staatsfeinden bestanden. Warum tat er es also nicht? Hier bieten sich zwei (grundsätzlich vereinbare) Antworten an: 1. Die Ausmalung religiöser Devianz sollte der Dramatisierung der gegenwärtigen Situation dienen. 2. Es gab gute Gründe, die religiöse Deutungsebene des Tribunizids im Falle der Gracchen nicht zu thematisieren. Für die erste Möglichkeit finden sich eindeutige Belege der exemplarischen Verharmlosung früherer Vorfälle. Im Vergleich zu Catilina habe Ti. Gracchus schließlich geradezu rücksichtsvoll revolutioniert (mediocriter labefactantem statum rei publicae73). Aber auch die gesamte Tradition der früheren Staatsfeinde ließ sich relativieren. So sagt Cicero mit Blick auf Clodius über die früheren Volkstribune: Sich mit diesen Leuten herumzuschlagen und gegen sie tagtäglich für das Wohl des Vaterlandes zu kämpfen, war ganz gewiss für diejenigen, die damals den Staat lenkten, eine schwierige Aufgabe – immerhin hatte diese Aufgabe eine gewisse Würde.74

Männer wie Ti. und C. Gracchus, ferner sogar L. Saturninus und P. Sulpicius, gehörten nach Cicero noch zu einer anderen Generation von Volkstribunen, die im direkten Vergleich mit seinen Zeitgenossen als regelrechte ‚Gentleman-Gangster‘ erschienen. Zuvor konnte Cicero für jeden der Genannten gute Worte finden, die meist auf rhetorisches Geschick und Tatkraft abzielten. Im Hintergrund stand offensichtlich die (gefühlte) Notwendigkeit, die aktuelle Krise und den aktuellen Gegner als Superlativ in der römischen Geschichte zu präsentieren. Die Kontrastierung mit Clodius – Cicero leitet den folgenden Abschnitt mit hic vero ein75 – lässt vermuten, dass sich dahinter aber noch mehr verbarg, nämlich die Erwiderung auf einen vom Vorredner Clodius gemachten Anspruch, für ihn seien die ermordeten Volkstribune der Vergangenheit Vorgänger im Geiste. Cicero wäre folglich die Rolle des frevelhaften Mörders zugefallen – hier brauchte es angesichts seines Vorgehens gegen Catilinas Anhänger sicherlich nur wenig Phantasie. Weiterhin passte es gut, dass Clodius in seiner vor der Volksversammlung gehaltenen Rede die Profanierung des Libertas-Tempels auf Ciceros palatinischem Grundstück als Ursache der verstörenden Zeichen deutete, welche die Haruspices aufgelistet hatten. Die religiösen Vergehen der Feinde der Volkstribune waren mit einiger Sicherheit also das Bindeglied in seiner exemplarischen Ausgestaltung des Tribunizids. Cicero versuchte gezielt, diese Verbindung anzugreifen, wobei er sich

73Cic.

Catil. 1,3. har. resp. 41 (Fortsetzung zu den jeweiligen Motiven: 43): Cum his conflictari et pro salute patriae cotidie dimicare erat omnino illis qui tum rem publicam gubernabant molestum; sed habebat ea molestia quandam tamen dignitatem.; s. dazu Rieger 1991, 99–100. 75Cic. har. resp. 42. 74Cic.

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von einem Eingehen auf die Persönlichkeiten offenbar mehr versprach, als davon, die religiöse Qualität der exempla zu thematisieren.76 Es ist zu vermuten, dass sich Clodius auf eine eigene Tradition stützen konnte, der zufolge die ermordeten Volkstribune das religiöse Unrecht symbolisierten, das die Feinde des Volkes auf sich zu nehmen bereit waren. In der Rhetorica ad Herennium wird die Parole inulti iacent Gracci zur Warnung an Saturninus gebraucht, sich nicht zu viel auf die zahlreiche Unterstützung aus dem Volk einzubilden.77 Zugleich spiegelt sich darin das Mobilisierungspotential der Erinnerung an die Umstände der Gracchenermordung. Die Ausmalung der religiösen Devianz der vermeintlichen Tyrannenmörder begann früh, das belegt ein beim spätantiken Grammatiker Charisius überlieferter Ausspruch des C. Gracchus, in dem dieser beklagt, Scipio Nasica habe seinen Bruder einem Schlachtopfer gleich zu Tode gebracht.78 Womöglich hatte diese Anklage des C. Gracchus eine tatsächliche religiöse Inszenierung der Tat zum Hintergrund,79 zumindest aber spricht einiges dafür, dass die zeitnahe Rechtfertigung der Ermordung auf der Ti. Gracchus vorgeworfenen religiösen Devianz basierte, auch wenn nachträgliche Maßnahmen wie die Entsorgung der Leichen im Tiber80 oder die Sühnemission nach Henna81 ihren Zweck betreffend nicht genau eingeordnet werden können. Ein offenbar beträchtlicher Teil des Volkes akzeptierte jedenfalls die Auslegung des Senats nicht und der Pontifex Maximus Scipio Nasica verließ Rom zur eigenen Sicherheit.82 Dafür, dass die Erinnerung an die Tat nicht zu schnell verblasste, sorgte C. Gracchus, der später nicht nur die Reformpolitik seines Bruders fortführte, sondern auf das religiöse Unrecht der Abschlachtung seines

76Cicero

sprach vor dem Senat. Hätte er seine Antwort vor der Volksversammlung gehalten, wäre seine Erwähnung der getöteten Volkstribune wohl noch mehr zu einer Gratwanderung verkommen. Zum Vergleich eignen sich die Catilinaria, bei deren beiden vor dem Volk gehaltenen Reden Cicero die Erwähnung der früheren Volkstribune weitgehend vermeidet (nicht aber des furor). Seine Folgerung der ersten Rede, früher habe man bereits berühmtere, aber weniger gefährliche politische Gegner getötet, die Tötung Catilinas sei daher eigentlich das Debet eines aufrichtigen Konsuls (Cic. Catil. 1,2–3), verkommt in der zweiten Rede zu einem vergleichsweise lahmen und vagen Verweis auf die ihn als Konsul verpflichtenden Institutionen (2,3): „Schon längst hatte man L. Catilina töten und der schwersten Strafe ausliefern müssen: So forderten es von mir der Brauch der Vorfahren und die Strenge dieser Amtsgewalt und das Wohl des Staates.“ (Interfectum esse L. Catilinam et gravissimo supplicio adfectum iam pridem oportebat, idque a me et mos maiorum et huius imperii severitas et res publica postulabat.). 77Rhet. Her. IV,67. 78Char. 256,1–2 (Lesung nach Badian 1971): „Communiter“ C. Gracchus ut lex Papiria accipiatur: „qui sapientem †cum faciet, qui et vobis et rei publicae et sibi communiter prospiciat, non qui pro †sylla humanum trucidet.“ 79Für diese Diskussion s. Earl 1963, 118–119; Freier 1963, 107–108; Badian 1971, 3–5; 1972, 725–726; Döbler 1999, 252–257 sowie zuletzt Linderski 2002, Badian 2004 und Clark 2007. 80Liv. per. LVIII; vgl. Vir. ill. 64,9 und Ian. Nepot. I,4,2. 81Cic. Verr. 2,4,108 (cum Tiberio Graccho occiso); Val. Max. I,1,1 (Gracchano tumultu); vgl. Ian. Nepot. I,1,1; s. dazu Spaeth 1990. 82Plut. Ti. Gracch. 21,3; vgl. Vir. ill. 64,9.

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Bruders verwies und literarisch innovativ an dem Bild seiner Familie arbeitete. Es bestehen keine Zweifel, dass sowohl die Idealisierung der Gracchenmutter Cornelia83 als auch die des Vaters Ti. Gracchus84 auf C. Gracchus’ literarische Tätigkeit zurückging.85 Die Wirkmacht und -dauer der Schrift sollte nicht unterschätzt werden, das legt bereits die breite und späte Überlieferung der Fragmente nahe. Ein verbreitetes und fixiertes Wissen über das mit C. Gracchus’ Geburt im Zusammenhang stehende Schlangenorakel oder die Ursprünge der politischen Überzeugungen seines Bruders86 erschwerten die Entpersonalisierung und Entpolitisierung der Gracchen maßgeblich. Schließlich schuf C. Gracchus ein Bild der Familie, das – und hierin liegt der für die Wirkung entscheidende Faktor – dem senatorischen Wertekanon entsprach. Es war fern jeglicher ‚popularer Radikalität‘ und funktionierte nach den Regeln der Senatsaristokratie, was es selbst den entschiedensten Gegnern schwer machte, es mit Rekurs auf römische Werte und Religion zu dekonstruieren. Während die großväterliche cornelische Seite keiner Ausschmückung bedurfte, dürfte die Verherrlichung des 154 v. Chr. – also für viele von Gaius‘ Zuhörern oder Lesern noch zeitgenössisch – verstorbenen Vaters, welcher Konsulat, Censur, Triumph, eine illustre Ehe und wenig Kontroversen vorweisen konnte, ebenfalls weitgehend widerstandsfrei abgelaufen sein. Auch beim Bruder, der in politischer und religiöser Hinsicht durchaus kontrovers war, musste unter diesen Voraussetzungen die Abscheulichkeit der Tat seine vorausgegangenen Transgressionen überdecken – wie sämtliche Quellen betonen, war nicht nur irgendjemandes Blut vergossen ­worden, sondern das eines besonders edlen Mannes. Die hier begonnene Martyrisierung erhielt schließlich Aufschwung durch das gleichartige Schicksal des Gaius und der später getöteten Volkstribune, sodass der Ausspruch inulti iacent Gracci auch vier Jahrzehnte später noch viel Aktualität barg. Wie Ciceros Umgang mit dem heiklen Thema zeigt, war es daher noch in den sechziger Jahren leichter, die contaminatio ‚per sanguinem‘ in Abrede zu s­ tellen87, als den vorzüglichen Ruf der Sempronier. Dies bedeutete jedoch zugleich die Vermeidung religiöser Vorwürfe, womit sich Cicero bereits von dem religiösen Narrativ der Gracchusgegner abgewandt hatte, das mit der Befragung der

83Val.

Max. IV, 4 praef. Cornelia wiederum spielte eine zentrale Rolle bei der Erinnerung an ihre toten Söhne: Plut. C. Gracch. 40,1 überliefert ihren Trost darüber, dass ihre Söhne an heiligen Stätten zu Tode gekommen waren. 84Schlangenorakel: Cic. div. II,62; vgl. I,36; Val. Max. IV,6,1; Plin. nat. VII,122; Plut. Ti. Gracch. 1,2–3; Vir. ill. 65,5. 85Santangelo 2005; zur Frage des literarischen Charakters von Gaius’ Schrift s. Lewis 1993, bes. 658–660. 86S. Plut. Ti. Gracch. 8,7, der sich auf das βιβλίον des Gaius beruft. Hier geht es um Tiberius‘ Autopsie der verödeten Landgebiete Etruriens, die ihn erstmals über soziale Reformen hätten nachdenken lassen. 87Zur Deut- und Dehnbarkeit religiöser Verschmutzung, die gerade kein sakralrechtliches Absolutum darstellte, vgl. Lennon 2014, bes. 167–168.

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Sibyllinischen Bücher, der Gesandtschaft nach Henna und (nach dem Tod des C. Gracchus) der ostentativen Erweiterung des Concordia-Tempels auf rechtlicher Legitimation, aber gleichzeitig auch auf dem Motiv der pax deorum rupta basiert hatte. Die Wirkmacht und -dauer dieses ‚senatorischen‘ Narrativs religiöser Devianz ist nur schwer einzuschätzen. Als bedeutend sollte sich erweisen, dass die pro-gracchischen Konternarrative auch auf anderen Wegen zirkulierten, einerseits natürlich im kollektiven Gedächtnis des populus, zugleich aber – dies war innovativ – literarisch. Die literarische Tradition hatte ihrerseits zwei wichtige Konsequenzen: Die erste betrifft die Leserschaft, die, wenngleich wir auch hier die Wirkmacht nicht einschätzen können, sicherlich der Oberschicht entstammte – Cicero zumindest hatte die Schrift des C. Gracchus gelesen.88 Zudem ergab sich eine Diskrepanz zwischen den jeweiligen Positionen. Für eine Auslegung der Taten des Ti. Gracchus und seiner Nachfolger als religiöse Verstöße stand notwendigerweise der Senat als Deutender. Wie sich aber bereits beim eigenmächtigen Handeln des Scipio Nasica gegen Ti. Gracchus gezeigt hatte, erwies es sich in dieser Zeit als äußerst schwierig, den Senat als konsequent und kohärent handelnde Instanz zu präsentieren. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass die Autorität und Entscheidungsgewalt des Senats über alle religiösen Fragen (von der Einberufung der Spezialisten bis zur Entscheidung, Sühnungen vorzunehmen, Feste zu wiederholen etc.) nie infrage gestellt worden war. Der Legitimierungsprozess der eigenmächtigen Aktion Scipios machte wiederum eine Bruchstelle erkennbar, die seine Isolierung und Entpolitisierung vereinfachte. Auf der gracchischen Seite bot sich ein anderes Bild. Ihr gewaltsamer Tod machte die Gracchen, besonders aber Gaius als ‚Biographen‘ seiner Familie, zu authentischen Vertretern ihrer Ansprüche. Vom Anfang bis zum Ende hatten sie, zumindest ließ sich das einfach suggerieren, an ihren Absichten und Prinzipien festgehalten. Die dafür notwendigen Rechtsbrüche verblassten angesichts des (religiösen) Unrechts, unter welchem sie zu Tode gekommen waren. Bevor aber dieses Moment der ‚Martyrisierung‘ wirksam werden konnte, hatte Gaius längst anderweitig Einfluss auf das religiöse Image der Gracchen genommen und zwar auf systematische Weise: Die exempla des Vaters, die emotionale Rückbesinnung auf den getöteten Bruder und der Vorwurf religiöser Devianz an die Gegner wirkten nicht nur nachträglich legitimierend, sondern ermöglichten ihm auch die Übernahme der Rolle seines Bruders. Der Umstand, dass ihn schließlich dasselbe Schicksal ereilte und nach ihm noch weitere Volkstribune, machte den Tribunizid zu einem mächtigen Deutungswerkzeug. Selbst wenn spätere Volkstribune wie Clodius politisch nur schwerlich an die Gracchen anknüpfen konnten, der Verweis auf die Vergangenheit konnte ihrer Position Nachdruck verleihen. Als Clodius 56 v. Chr. in seiner Deutung des haruspicischen responsum diese Verbindung herstellte (sicherlich nicht zum ersten

88Vgl.

Cic. div. II,62.

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Mal), blieb Cicero folglich als erfolgversprechendste Vorgehensweise, die Nahtstelle unter Beschuss zu nehmen: Er versuchte zu belegen, dass Clodius kein Recht hatte, sich in die Tradition der martyrisierten Tribunen einzureihen, die schließlich – trotz einiger Verfehlungen – gute Männer gewesen seien.89 Ein Eingehen auf die religiösen Verstöße der Tribunen hätte wohl selbst vor einem wohlwollenden Senat wenig Unterstützung hervorgerufen, zu hoch war die Gefahr, dass man sich damit wieder in die Rolle der nefarii einpasste, die sich mit dem Blut der Volkstribune besudelt hatten. In der Kaiserzeit, als die Erinnerung längst kein Politikum mehr darstellte, schrieb Florus lakonisch zu den Todesumständen des Tiberius: quasi iure oppressus est – „scheinbar dem Recht nach“ wurde Tiberius zu Fall gebracht, nicht legitime, legaliter, recte, de iure oder secundum ius, was jeweils tatsächliche Rechtmäßigkeit ausdrücken würde.90 Einerseits mag man hierin eine Bezugnahme auf die direkte Legitimierung erkennen – man denke an das später institutionalisierte Senatus Consultum Ultimum –, andererseits könnte der Autor hier auch den Eindruck formuliert haben, den die legalistisch fixierte Tradition im Sinne Ciceros bei ihm hinterlassen hatte. Die Suche nach konkreten Gegendeutungen aus der Zeit Ciceros ist zwar wenig ergiebig, eignet sich aber immerhin dazu, aufzuzeigen, dass die juristische Nachbereitung des Tribunizids viel Angriffsfläche bot. Wie eine tribunizische Agitation zu diesem Thema ausgesehen haben könnte, führt Sallust in einer Rede vor Augen, die C. Memmius im Zuge der Iugurtha-Affäre in der Volksversammlung gehalten haben soll. Für Sallust verkörperte Memmius den Archetypen des energischen Antiaristokraten,91 dessen Rede daher vor allem aus Spitzen gegen die tyrannische Herrschaft der Wenigen bestand: Nach der Tötung des Tiberius Gracchus, von dem sie sagten, er bereite eine Alleinherrschaft vor, wurden gegen das römische Volk gerichtliche Untersuchungen durchgeführt. Nach dem Mord an Gaius Gracchus und Marcus Fulvius wurden ebenfalls viele Menschen eures Standes im Kerker umgebracht; beide Male hat dem Morden nicht das Gesetz, sondern nur die Willkür ihrerseits ein Ende gemacht. Aber: dem Volk seine Rechte zurückzugeben, das mag ruhig Vorbereitung einer Alleinherrschaft gewesen sein; und alles, was ohne Blut von Bürgern zu vergießen, nicht gesühnt werden kann, das soll Rechtens sein. […] Trotzdem hatten sie noch nicht daran genug, dass sie solche Handlungen straflos begehen konnten, und so wurden schließlich die Gesetze, eure hohe Würde, die ganze göttliche und menschliche Ordnung an die Feinde ausgeliefert. Und die, die diese Dinge taten, empfinden keine Scham oder Reue, sondern stolzieren vor euren Augen großtuerisch einher, weisen ihre Priesterämter und Konsulate vor, zum Teil auch ihre Triumphe, als ob sie diese als Ehre, nicht als Beutegut besäßen. […] Doch was sind das für Leute, die den Staat in Besitz genommen haben? Verbrecherische Unmenschen mit blutbefleckten Händen, von ungeheuerlicher Habgier, ganz schuldbeladene und zugleich hochmütigste Leute, denen Treue, Anstand, Pflichtgefühl, kurz, alles, ob ehrenhaft oder

89Cic.

har. resp. 41; 43. epit. II,2,3. 91Vgl. Sall. Iug. 27. 90Flor.

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nicht, zum Geldmachen dient. Ihren Schutz haben sie darin, dass ein Teil von ihnen Volkstribunen umgebracht hat, dass andere widerrechtliche Verhöre durchgeführt, die meisten aber eine Mordtat an euch begangen haben.92

Das zentrale Motiv der Anklage liegt offensichtlich in der Legalisierung des Unrechts durch die homines sceleratissimi – hier findet sich das von Cicero geleugnete Befleckungsmoment wieder (cruentis manibus). Den Versuchen des Senats, mit Untersuchungen und Schauprozessen die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, wird parodierend unterstellt, das Vergießen von Bürgerblut sei bereits notwendiger und institutionalisierter Bestandteil dieser ‚Sühnehandlungen‘. Der zeitliche Kontext der Rede sind die Ereignisse des Jahres 111 v. Chr., zugleich werden aber Sallusts Erfahrungen der inneren Konflikte und Bürgerkriege eingeflossen sein. Caesar wiederum bediente sich der juristischen Auslegung im Sinne Ciceros – freilich konnte er beklagen, dass die Bedingungen, unter denen die früheren Sühnungen (!) von tribunizischen Übergriffen geschahen, in seinem Fall allesamt nicht zutrafen.93 Er argumentiert sachlich, seine Gegner in Rom hätten sich bei dem Übergehen des tribunizischen Vetos und gegen ihn gerichteten Senatus Consultum Ultimum gerade nicht auf diese Tradition berufen können. Die Erklärungsabsicht der Schrift und der versöhnliche Ton legen nahe, warum er sich hier auf die delegitimierende Auslegung der pompeianischen Position beschränkte. Für die tatsächlich gehaltene Rede an die Soldaten, die er referiert,94 dürfte sich mit dem frevelhaften Unrecht der Tribunizide eine Erinnerung geboten haben, die sich weitaus effektiver zur Mobilisierung gegen den Senat einsetzen ließ.

5 Schlussbetrachtung Cicero steht für die religiösen Normen der späten Republik. Für ihn als Kenner des Sakralrechts und moralisierenden Ankläger seiner Kontrahenten eigneten sich Vorwürfe religiöser Devianz als Diffamierungsstrategie und Sachargumente

92Sall.

Iug. 31,7–10; 12–13 (Übers. Lindauer): Occiso Ti. Graccho, quem regnum parare aiebant, in plebem Romanam quaestiones habitae sunt; post C. Gracchi et C. Fulvi caedem item vestri ordinis multi mortales in carcere necati sunt: utriusque cladis non lex, verum lubido eorum finem fecit. Sed sane fuerit regni paratio plebi sua restituere; quicquid sine sanguine civium ulcisci nequitur, iure factum sit. […] Tamen haec talia facinora impune suscepisse parum habuere, itaque postremo leges, maiestas vestra, divina et humana omnia hostibus tradita sunt. Neque eos qui ea fecere pudet aut paenitet, sed incedunt per ora vestra magnifici, sacerdotia et consulatus, pars triumphos suos ostentantes; proinde quasi ea honori, non praedae habeant. […] At qui sunt ii, qui rem publicam occupavere? Homines sceleratissimi, cruentis manibus, immani avaritia, nocentissimi et idem superbissimi, quibus fides decus pietas, postremo honesta atque inhonesta omnia quaestui sunt. Pars eorum occidisse tribunos plebis, alii quaestiones iniustas, plerique caedem in vos fecisse pro munimento habent. 93Caes. civ. I,7,5–7. 94Caes. civ. I,7,1: apud milites contionatur.

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gleichermaßen. Dass die ciceronische Sichtweise keineswegs eine Communis Opinio abbildete, lässt sich an De domo sua und De haruspicum responso gut aufzeigen.95 Aber selbst, wenn sich seine Darstellungsweise eher als Bestandteil eines abgehobenen normativen Diskurses verstehen lässt, und nicht als gemeinhin anerkannte sakralrechtliche Auslegung, trübt dies Ciceros Dominanz in diesem Feld nicht denn Explizites von der Gegenseite erfährt man kaum. Hierin liegt die Besonderheit des ciceronischen Umgangs mit dem Tribunizid. Bei diesem stets aktuellen (bzw. aktualisierten) Thema stand mit dem furor (tribunicius) zwar eine Definition religiöser Devianz bereit, mit der sich die Gracchen hätten belegen lassen. Obwohl er sich in der Tradition der Tribunengegner fest verortet und die Vorwürfe anderweitig wohl erprobt hatte, verzichtete Cicero darauf, die Gracchen als furiosi zu brandmarken. Sein Interesse, die aktuellen Feinde der Res Publica als Superlative herauszuheben, kann nicht als alleinige Motivation betrachtet werden – der ‚historische Sündenfall’ war dafür einfach zu wichtig und präsent. Ciceros Präferenz, die staatsrechtliche Notwendigkeit des Tribunizids immer wieder hervorzuheben und sogar explizit gegen die Vorstellung einer religiösen Verunreinigung in Stellung zu bringen, lässt den Schluss zu, dass er auf eine religiöse Auslegung reagierte, die seine Gegner immer wieder vorbrachten. Erwies es sich offenbar als wenig problematisch, bei Saturninus und anderen späteren Fällen die religiöse Devianz zu thematisieren, stellte der Tod der Gracchen offenbar eine Gretchenfrage. Die Ursache dafür lag weniger in den unterschiedlichen Hintergründen und Abläufen des jeweiligen Geschehens, als in dem Ansehen der involvierten Volkstribune. Besonders C. Gracchus sorgte mit seiner literarischen Arbeit am Bild des Bruders und der anderen Familienmitglieder dafür, dass sich Zuschreibungen persönlicher Defektivität nur schwerlich anbringen ließen. Anders als beim (geleugneten) Affekt des Scipio Nasica geht Cicero daher auch nicht auf Gemütszustände oder Charakterfragen der Gracchen ein. Sein Alternativkonstrukt verweist auf Staatsräson, institutionalisierten Extralegalismus und ein ‚Gewohnheitsrecht‘, das sich aus der Tradition von römischen ‚Tyrannenmördern‘ speist. Die auffällige Länge und Integrationsfähigkeit dieser Tradition, in der auch Marius und dem gesamten Senat Mittäterschaft zugesprochen wird, lenkte wiederum von den Einzelfällen ab, bei denen die juristische Auslegung die religiöse Devianz nur unzureichend verdecken konnte. Es bleibt der Eindruck, dass es sich beim Tribunizid um eine exemplarische Ausarbeitung der Vergangenheit handelte, die sich für Cicero als vergleichsweise undankbar erwies und daher in erster Linie reaktiv oder prophylaktisch geschah. Es handelt sich dabei insofern um eine aufschlussreiche Schwäche, als sich hier in seinen eigenen Reden offenbart, dass Ciceros Geltungsanspruch als religiöse und moralische Autorität nicht unangefochten war und wo Angriffsflächen bestanden.

95S.

Patzelt 2018, 125–144 zu den Vorstellungen eines angemessenen Gebets und dem Schluss, dass das von Cicero gezeichnete Gebetsprotokoll ebenso eine persönliche Konstruktion war wie die vermeintlichen Abweichungen davon durch Clodius.

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Trotz aller Schwierigkeiten, die ein Argument e silentio stets begleiten, lässt sich Ciceros Dominanz als Quelle für die Religion der späten römischen Republik im Allgemeinen und ihrer normativen Auslegung im Speziellen hier zumindest ein Stück weit relativieren. Nicht nur setzten auch seine Gegner religiöse Devianz als Diffamierungsstrategie ein, sie waren damit sogar nachweislich erfolgreich.

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Transgressionen bei Lucan Ein notwendiges Übel? Philipp Brockkötter

Zusammenfassung

Wohl kaum ein Autor der antiken Welt steht so beispielhaft für den literarischen Einsatz von Transgressionen wie der frühkaiserzeitliche Autor Lucan. Dabei ist jedoch die Aussageabsicht seines Werkes über den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius so umstritten wie bei kaum einem anderen Schriftsteller seiner Zeit. Der Aufsatz widmet sich dieser Frage mittels der analytischen Betrachtung der mit den drei Hauptprotagonisten des Werkes – Caesar, Pompeius und Cato – verbundenen Normtransgressionen. Dabei wird nicht nur eine Dekonstruktion spätrepublikanischer Normen und Werte deutlich, sondern auch ein steter Bezug zu Ideologemen augusteischer Zeit und damit zur frühkaiserzeitlichen Lebenswelt der Rezipienten. Dies wird im Zusammenhang mit der fehlenden Konstruktion eines moralischen Leitbildes als Schritt zur Öffnung eines Kommunikationsfensters im Hinblick auf die Aushandlung neuer Normen interpretiert, der im Gesamtkontext der Umdeutung der kaiserlichen Rolle durch Kaiser Nero zu sehen ist. Abstract

There appears to be no other author in the ancient world as closely connected to the term “transgression” as Lucan. At the same time his intended message is highly disputed by modern scholars. The article addresses this question by means of an analytical approach on the transgression of norms by the three main protagonists, Caesar, Pompey and Cato. In doing so it is not only possible to show the deconstruction of late Republican norms and values, but also the P. Brockkötter (*)  Historisches Institut/ Alte Geschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Gilhaus et al. (Hrsg.), Transgression und Devianz in der antiken Welt, Schriften zur Alten Geschichte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05508-8_7

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continual reference to ideologems of Augustan times, and thus of the readers’ own, early Imperial, realm of experience. In conjunction with a lack of moral orientation this is read as an attempt to reinterpret norms within the general context of the reevaluation of the emperor’s role by Nero.

1 Einleitung Behandelt man Transgressionen in der Literatur der frühen Kaiserzeit, so kommt man an einem Werk sicherlich nicht vorbei: den Pharsalia des Lucan. Mit seiner schonungslos brutalen Beschreibung des Bürgerkrieges zwischen Caesar und Pompeius durchbricht das Werk nicht nur gattungsspezifische Grenzen, sondern erscheint auch selber als eine einzige große Transgression, als „Umwertung aller Werte“.1 Gerade aufgrund dieses Verstoßes gegen die Normen seiner Zeit stellt sich jedoch die Frage, warum Lucan die Pharsalia in dieser Weise schrieb, bzw. welche Aussageabsicht er verfolgte. Dies soll zugleich die Leitfrage des vorliegenden Aufsatzes sein. Lucan selbst gibt darauf bereits am Beginn seines Werks in einem eingeschobenen Lob auf den Kaiser Nero einen ersten Hinweis: „multum Roma tamen debet ciuilibus armis quod tibi res acta est“.2 Ist es also denkbar, dass die Transgressionen als notwendiges Übel zur Ermöglichung der neronischen Herrschaft zu sehen sind oder wird hier lediglich die Ironie eines desillusionierten Autors greifbar?3 Eine Deutung dieser Frage ist nur möglich, wenn man das Werte- und Normengerüst des Autors offenlegt und genau hier offenbart sich der Wert der analytischen Betrachtung der Transgressionen. Sie verdeutlichen nicht nur, welche Normen der Autor ablehnt, sondern ex negativo auch, welchen er zustimmt bzw. welche Normen er etablieren möchte. Auch die moderne Forschung4 hat sich vielfach mit den Transgressionen bei Lucan beschäftigt, jedoch werden Überschreitungen von Normen und Werten sowie der Grenzen von Handlungsraum und Gattung tendenziell eher ohne genauere theoretische Definition als Unterthema größerer Forschungsnarrative behandelt. Viel Aufmerksamkeit erhielt die Frage nach der Aussageabsicht bzw. dem Normen- und Wertehorizont Lucans, wobei er einmal als Republikaner und Prinzipatsfeind,5 einmal als Verfechter eines Staatswesens auf Basis stoischer Werte6 oder aber als grundsätzlicher Unterstützer des Prinzipates bezeichnet wird.7 Die Diversifizierung der Forschung führte dazu, dass sich bis heute keine

1Schmitz

2007, siehe ferner z. B. Sklenar 2003. I,44. 3Das Nerolob hat eine reichhaltige Auseinandersetzung der Forschung mit diesem Thema angeregt, die zwischen ehrlicher Bewunderung und subversiver Ironie oszilliert. Siehe z. B. Holmes 1999, Meier 2009, Radicke 2004, 162, Kimmerle 2015, 14–19. 4Für einem differenzierten Forschungsüberblick zu Lucan siehe z. B. Nill 2018, 11–29. 5Lange Zeit vorherrschend: Siehe z. B. Ahl 1976, Bartsch 1997, 131–149. 6Siehe z. B. Wiener 2006, 5–11 für einen Überblick. 7Siehe z. B. Kimmerle 2015. 2Lucan.

Transgressionen bei Lucan

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communis opinio etablieren konnte und die Frage nach der Aussageabsicht des Werkes sogar zuweilen aufgrund ihrer angeblichen Unbeantwortbarkeit komplett in den Hintergrund gestellt wird.8 Eine erneute Untersuchung erscheint also durchaus lohnend. Aufgrund der gebotenen Kürze beschränke ich mich dabei auf Fallbeispiele aus den ersten drei Büchern, da diese laut den Quellen9 als einzige wahrscheinlich noch zur Lebzeiten des Lucan veröffentlicht wurden und daher voraussichtlich seine ursprüngliche Darstellungsintention beinhalten. Zu beachten ist dabei weiterhin, dass sie vor seinem offiziellen Bruch mit Nero im Jahre 64 n. Chr. entstanden.10 Vor einer genaueren Betrachtung des Textes muss jedoch zunächst definiert werden, was genau unter Transgressionen verstanden wird, was diese bewirken und wie sie untersucht werden können. Als Transgression fasse ich gemäß der lateinischen Wortherkunft von transgredere rein deskriptiv die Übertretung einer physischen oder metaphysischen bzw. normativen Grenze.11 Als Norm wird dabei eine gesellschaftliche Handlungserwartung definiert, die sich aus ethisch-moralischen Zielvorstellungen, d. h. Werten speist. Die Transgression einer Norm kann dabei die unterschiedlichsten Zwecke verfolgen: Laut Durkheim und Luhmann ist eine Norm ohne Transgression undenkbar, da erst durch die Transgression und die Verteidigung der Norm diese im Gedächtnis aktualisiert wird.12 So entsteht in der Empörung über den Normverstoß eine Efferveszenz der moralischen Empfindung, die die Norm revitalisiert. Dabei müssen Transgressionen nicht immer negativ konnotiert sein, sondern können vielmehr im Sinne einer „supererogatorischen“ Leistung verstanden werden. In dieser Funktion ermöglichen sie Aristien und Heroisierungen.13 Schließlich kann die Transgression nicht nur normverstetigend, sondern auch innovativ wirken, wenn mittels der Transgression alte Normen verflüssigt werden und eine Kommunikation über neue Normen in Gang gesetzt wird.14 Um zu definieren, welchen dieser Zwecke die Transgressionen bei Lucan verfolgen, müssen die Transgressionen als solche also zunächst beschrieben und genau analysiert werden, wobei insbesondere die Frage nach bestätigten oder negierten Normen und Wertvorstellungen zu stellen ist. Da diese insbesondere in römischer Zeit hauptsächlich in personalisierter Form, also mittels exempla,

8Dies geht oftmals einher mit einer starken Konzentration auf das Narratologische. Für einen Überblick siehe Nill 2018, 14–16. 9Die Information über die Veröffentlichung stammt aus der Vita Lucani des Vacca, der zudem mit der Phrase „tres libros quales videmus“ impliziert, dass die anderen Bücher nach Lucans Ableben von anderen Personen veröffentlicht wurden (Fantham 2011, 15). 10Zur generellen Forschungslage diesbezüglich siehe Fantham 2011. 11Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie s. v. Transgression: Als transgressiv lassen sich somit performative Praktiken der Übertretung kultureller Grenzen bezeichnen. 12Siehe dazu Hahn 2002, 452–455; Durkheim 1981, 67–70; Luhmann 1982, 40–63. 13Hahn 2002, 455–457; siehe dazu auch von den Hoff et al. 2013. 14Siehe dazu Hahn 2002; Ferla 1996, 1–17.

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­verhandelt wurden,15 und auch Transgressionen in der Regel von einem handelnden Akteur ausgehen, sollen in der folgenden Betrachtung zunächst die drei Hauptprotagonisten der Pharsalia, Caesar, Pompeius und Cato im Fokus stehen.

2 Caesar Ich komme als erstes zum Haupttransgressor im Narrativ Lucans: Gaius Iulius Caesar. Bereits vor dem Einsetzen der eigentlichen Handlung gibt Lucan im Anschluss an das Nerolob eine kurze Ursachensuche für den Bürgerkrieg wieder,16 in deren Rahmen er sowohl Caesar als auch Pompeius charakterisiert. Bei Caesar wird insbesondere seine Tatkraft und ambitio hervorgehoben, die wie ein Blitz alles skrupellos überwindet.17 Lucan charakterisiert Caesar somit bereits hier mit einem transgressiven/normdevianten, das Ideologem des primus inter pares potentiell überschreitenden, Moment, das aber zugleich die Heraushebung des einzelnen als Helden im Sinne einer supererogatorischen Tat erst ermöglicht. Zugleich wird Caesar so zu einem Exponenten der topischen Klage über das den Bürgerkrieg verursachende Machtstreben der großen Männer der späten Republik. Angesichts der ersten Charakterisierung Caesars erscheint es nur folgerichtig, dass sich die Erzählung der ersten drei Bücher hauptsächlich auf dessen Taten konzentriert. Es können hier daher in der Folge nur einige ausgewählte, jedoch aussagekräftige Beispiele der von ihm verübten Transgressionen gegeben werden. Das erste Beispiel ist zugleich auch Caesars erster Auftritt als handelnde Person und der Beginn der eigentlichen Erzählung: die Überschreitung des Rubikon. Zunächst zu einer Zusammenfassung der Szene18: Nachdem Caesar die Alpen überschritten und bereits den Entschluss zum Krieg gefasst hat, setzt die Handlung am Rubikon ein, wo ihm die zitternde Gestalt der patria erscheint und ihn drauf verweist: si iure venitis, si cives, huc usque licet.19 Der zunächst zögernde Caesar antwortet der Erscheinung mit einem Anruf verschiedener Götter, der mit der von ihm als Roma bezeichneten patria endet, gegen die er sich nie zu stellen vermögen würde.20 Er, der victor terraque marique, sei stets ihr Soldat gewesen, schuld am Bürgerkrieg hingegen hätten jene, die ihn zum Feind Roms machten.21 In der Folge setzt Caesar schnell über den Rubikon, wobei er vom Autor mit einem ­lybischen Löwen verglichen wird.22 In einem Zwischenstück hebt Lucan dann nochmals die Eigenschaft des Rubikon als Grenzfluss sowie den Grund für ­dessen 15Siehe

dazu z. B. Haltenhoff et al. 2005 und 2011 sowie Linke et al. 2000. I,67–182. 17Lucan. I,143–157. 18Lucan. I,183–227. 19Lucan. I,183–192. 20Lucan. I,192–200. 21Lucan. I,200–203. 22Lucan. I,203–212. 16Lucan.

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hohen Wasserstand hervor,23 um dann abermals die Überquerung des Flusses zu schildern, wobei die Pferde der Kavallerie als Wellenbrecher für die Infanterie wirken.24 Den Abschluss der Szene bildet eine kurze Ansprache Caesars, in der er ankündigt, von nun an Fortuna zu folgen.25 Auf einer deskriptiven Ebene ist hier zunächst die Überschreitung einer physischen Grenze zu sehen, der aufgrund ihrer normativen Aufladung eine symbolische Rolle als Startpunkt des Bürgerkrieges und damit auch eine herausgehobene Stellung innerhalb des Narrativs des Lucan zukommt. Bereits diese herausgehobene Stellung der Transgression erscheint ungewöhnlich, da Lucan der erste antike Autor ist, der diese in Extenso erwähnt.26 Zwar existierte das Bewusstsein um die Symbolik des Aktes,27 eine literarische Ausformung scheint sich jedoch erst bei Lucan gefunden zu haben, was es umso interessanter macht, nach der präsentierten Norm – und Wertewelt bzw. der Aussageabsicht des Autors zu fragen. Das erwähnte Bewusstsein um die Symbolik der Rubikonüberschreitung verortet die Szene zunächst in der republikanischen Wertewelt, in der die Überschreitung des besagten Flusses unter Waffen den in der Rede der patria aufgeworfenen Ausschluss aus der Bürgerschaft zur Folge hatte. Der Rubikon hatte nach der 41 v. Chr. erfolgten Eingliederung der Gallia Cisalpina in die Region Italia28 seine Funktion als Grenzfluss zwar verloren, blieb jedoch als Erinnerungsort der finalen Transgression republikanischer Normen durch Caesar im Gedächtnis.29 In diese Richtung weist auch die Gestalt der patria, die zur Zeit der Republik zusammen mit der res publica die prägende Personifikation der römischen Bevölkerung war.30 Die Ikonographie der patria jedoch entspricht nicht der

23Lucan.

I,212–219. I,220–222. Zu den verschiedenen Ansätzen zum Grund für die zweifache Schilderung siehe z. B. Rondholz 2009, 444. 25Lucan. I,223–227. 26Zur Geschichte der literarischen Erwähnungen der Rubikonüberschreitung siehe Tucker 1988. Weder Caesar selbst noch Cicero erwähnen die Überschreitung des Rubikon, lediglich Velleius Paterculus handelt sie in einem Satz ab. Tucker vermutet, dass Livius im nicht erhaltenen Teil seines Werks auf den Rubikon einging, jedoch finden sich in den Periochae ebenfalls keine Hinweise darauf. 27Dies zeigt die einzige vor Lucan existierende Beschreibung bei Vell. II,49,4, die sich jedoch auf den folgenden Satz beschränkt: […] ratus bellandum Caesar cum exercitu Rubiconem transiit. Siehe Tucker 1988, 246. 28Cass. Dio XLVIII,12,5. 29Gotter 2006, 243–244 verweist hier auf die interessante Begebenheit, dass der Rubikon physisch langsam in Vergessenheit geriet, als „virtueller“ Erinnerungsort der Transgression Caesars jedoch hoch aktuell blieb. 30Mellor 1981, 973; Ohne Frage ist dabei zweifelhaft, inwieweit den Zeitgenossen der Unterschied zwischen Roma und patria bewusst war. Interessant ist hier Mellors Verweis auf die Darstellung des Wiederaufbaus des Tempels des Jupiter Capitolinus 69 v. Chr. in den späteren Quellen: Während Cass. Dio XLV,2,3 die Statue in der Hand Jupiters in griechischer Manier als Roma bezeichnet, spricht Suet. Aug. 94,8 von der Personifikation der res publica (die synonym mit der patria verwandt wurde). 24Lucan.

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t­ypischen D ­ arstellung, sondern verweist über die Mauerkrone eher auf Kybele oder eine Stadttyche,31 also insgesamt vermutlich auf Roma, die erst in der Kaiserzeit zusehends die Rolle der patria übernahm.32 Als Roma spricht Caesar die Personifikation auch in seiner Gegenrede an, sodass hier bereits ein Wechsel der Normenwelt deutlich wird. Dieser Eindruck verstärkt sich bei einer Analyse der Aufzählung jener Götter, die Caesar an den Beginn seiner Rede stellt. Diese sind aus keinem republikanischen Kanon bekannt, tauchen dafür aber fast deckungsgleich in Ovids Metamorphosen auf,33 wo sie im Anschluss an die finale Metamorphose angerufen werden, um eine möglichst lange Herrschaft des Augustus und der mit ihm verbundenen Friedenszeit zu gewährleisten.34 Die starke Verbindung mit Herrschaftsideologemen der augusteischen Zeit wird über die intertextuelle Allusion hinaus durch die Verbindung der Einzelgötter mit dem ersten Kaiser deutlich.35 Auf diese Weise für augusteische Ideologeme sensibilisiert muss dem Leser die Verwendung des Ausdrucks victor terraque marique im Folgenden noch deutlicher ins Auge fallen. Diese Phrase symbolisierte ebenfalls in besonderer Weise die von Augustus geschaffene Friedenszeit,36 ein Zweck, dem auch die Einführung der in der Republik wenig genutzten Figur der Roma diente. Derart stark auf Augustus rekurrierend spricht Caesar schließlich den Zweck seiner Rede aus: Nicht er ist der Feind, sondern andere haben ihn dazu gemacht, von diesen werde er Roma schließlich befreien – oder pointierter ausgedrückt: wer Teil der römischen Gesellschaft ist und wer nicht wird von ihm bestimmt.37 Caesar rechtfertigt also seine Transgressionen mit einem Verweis in die augusteischen/ kaiserzeitlichen Werte – und Normenwelt, die hier gewissermaßen die republikanische ersetzt. Auf diese Art und Weise verknüpft Lucan die Lebenswelt der Leser mit dem Geschehen im Text und macht deutlich, dass die Normkonzeptionen der Kaiserzeit ebenfalls in der Bürgerkriegszeit begründet wurden und einer Vergangenheitskonstruktion unterliegen, die er scheinbar ablehnt.

31Siehe

dazu Peluzzi 1999, 141–154; Zur Verbindung dieser Darstellungen mit Roma siehe Mellor 1981. 32Mellor 1981, 1004–1005. 33Siehe dazu Ov. met. XV,861–867, siehe dazu z. B. Feeney 1991, 292–295; Maes 2005, 22, Anm. 56. 34Als problematisch erweist sich hier eine möglicherweise bereits von Ovid intendierte ambivalente Lesung des Textes, die zwischen ernster Panegyrik und übertriebener Ironie und Bloßstellung schwankt, für Ovid selbst jedoch eher zu Ersterem tendiert. Für eine Diskussion dazu siehe z. B. Bömer 1986, 451–454. 35So restaurierte Augustus 22 v. Chr. den Tempel des Jupiter Tonans, den er fortan dem des Jupiter Optimus Maximus vorzog, errichtete den Tempel des Quirinus neu und vereinnahmte auch den Kult der Vesta mehr und mehr. Jupiter Latiaris und die Penaten verdeutlichen die Geschichte der julischen Familie. Siehe dazu: Roche 2009, 211–213. 36Zur Bedeutung des terra marique unter Augustus siehe z. B. R. Gest. div. Aug. 4,13. 37Roller 2001, 38–39 sieht dies eher als Ausdruck des Widerstandes Caesars gegen den Eindruck selbst als Außenseiter der Gesellschaft zu gelten.

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Dieser Eindruck wird durch die Betrachtung des endgültigen Beschlusses zum Krieg in den Versen 225–226 weiter bestätigt. Hier fällt der Satz procul hinc iam foedera sunto. Laut Maes kommt dieser Imperativ der 3. Pers. Pl. außerhalb der Juristerei nur selten vor.38 Das prominenteste Beispiel aus der Epik ist dabei die Rede der Dido in Vergils Aeneis, die Rede Lucan hier vermutlich erinnern will und in der Dido die ewig andauernde Feindschaft zwischen Rom und Karthago ankündigt.39 Erinnert man sich unter dem Kontext des Lucanschen Werkes an diese Rede, so erscheint der letzte Satz litora litoribus contraria, fluctibus undas imprecor, arma armis: pugnent ipsique nepotesque weniger auf die punischen Kriege, sondern viel eher auf die Bürgerkriege zu verweisen.40 Die Pflichterfüllung/pietas des Aeneas, des Gründervaters der Julier, sollte also Rom an den Abgrund bringen. Ein weiteres Mal würde so ein augusteisches Ideologem oder zumindest die Deutung eines Textes im Sinne dieser Ideologeme untergraben. Dass Lucan tatsächlich darauf abzielt, wird dabei durch die Konstruktion Caesars als Transgressor im Stile Hannibals weiter gestützt. Diese zeigt sich zum einen in seiner schnellen Überschreitung der Alpen und zum anderen an der Szene der Überquerung des Rubikon, die analog zur Beschreibung der Überquerung des Po durch Hannibal bei Livius gestaltet wurde.41 Die Verwendung intertextueller Bezüge bei gleichzeitiger Inversion derselben zeigt sich auch an der Gesamtszene, die der in der Epik topisch verwendeten „divine messenger“ Szene ähnelt.42 Im Gegensatz zu den Szenen z. B. bei Vergil hält sich Caesar jedoch nicht an die Vorgaben der Gottheit und begeht dennoch Transgressionen. Die dafür zu erwartende Bestrafung bleibt jedoch, im Gegensatz zu allen anderen Protagonisten der Pharsalia, aus, wodurch die Transgression als unausweichlich, fast schon von den Göttern gewollt erscheint.43 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Szene nicht nur eine Demonstration der impietas Caesars gegen die Normen der Republik darstellt und diesen als Initiator des Bürgerkrieges brandmarkt, sondern indirekt auch und vielleicht sogar noch stärker gegen Augustus und die augusteischen Ideologeme bzw. Vergangenheitskonstruktionen gerichtet ist.

38Maes

2005, 21. Aen. IV,622–629. 40Diese ambivalente Deutung scheint bereits in der Antike geläufig gewesen zu sein, wie Maes 2005, 21, Anm. 54 mit Verweis auf den Kommentar des Servius (pugnent ipsique nepotes potest et ad civile bellum referri) herausstellt. 41Liv. XXI,47,4–5; Zum Hannibalbezug siehe: Radicke 2004, 175, Rondholz 2009, 443–444, Masters 1992, 1 Anm. 1. 42Maes 2005, 15. 43Dem könnte entgegengehalten werden, dass Caesar im Endeffekt ebenfalls ermordet und somit bestraft wurde, jedoch geschieht dies erst nach Erreichen aller Ziele, die er im Bürgerkrieg formuliert und wird zudem aller Voraussicht nach in den Pharsalia nicht mehr thematisiert worden sein. 39Verg.

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Die konstatierte Dekonstruktion augusteischer Symbole zeigt sich an späterer Stelle noch deutlicher. Nach der Einnahme Ariminums trifft der Volkstribun Curio auf Caesar und berichtet ihm, unter Verwendung des bereits aufgeworfenen Topos, andere würden ihn in den Krieg zwingen, von den Zuständen in Rom. Sein Ziel ist es, Caesar weiter zum Krieg anzustacheln.44 Dieser richtet sich daraufhin an die Truppen und stellt den Marsch auf die Stadt Rom als Vorgehen gegen einen Tyrannen und die Wiederherstellung der libertas dar.45 Die Truppen jedoch reagieren nur verhalten, weil die pietas patrique penates sie davon abhält für den Beginn des Bürgerkrieges zu jubeln.46 In dieser Situation ergreift der Offizier Laelius das Wort. Er trägt eine Auszeichnung für die Rettung eines Römischen Bürgers, also eine corona civica.47 In seiner Rede48 spricht er sich jedoch völlig für den Bürgerkrieg aus, wobei er das Bild des tyrannischen Senates aufgreift und angibt, Caesar überall hin folgen zu wollen und nur den als Bürger zu sehen, den Caesar als solchen bestimme. Ab v. 375 zählt er dann eine Reihe ultimativer, den Bürgerkrieg kennzeichnende Transgressionen auf: Er würde seine Familie, selbst seine schwangere Frau ermorden, die Tempel der Götter plündern und sogar Rom von Grund auf zerstören. In der Folge der Rede sind Caesars Soldaten schließlich bereit, alles zu tun. Im Rahmen der Reden loten Lucans Protagonisten einmal mehr das ambivalente Potential der Transgressionen aus, wobei er insbesondere mit dem Wert der pietas spielt. Curio betont zunächst, dass man alles im rechtlichen Rahmen Machbare getan habe und erst als die Gegenseite diesen Rahmen überschritt seinerseits zu Transgressionen wie dem Angriff auf Rom übergehen werde bzw. diese im Rahmen einer supererogatorischen Umdeutung auch nötig seien, um dem Recht wieder zur Geltung zu verhelfen. Caesar greift diesen Grundgedanken auf und konzipiert in seiner Rede gleich mit dem ersten Satz, der Anrede der Soldaten als socii, eine eigene, durch gemeinsame Erlebnisse geformte Wertegemeinschaft, die er im Folgenden von den Vorgängen und der Gesellschaft in Rom abgrenzt.49 All diese Maßnahmen reichen jedoch nicht aus, um die Soldaten zur Transgression bzw. Normdevianz gegenüber der pietas zu bewegen. Erst die Rede des Laelius vollbringt, wozu Caesar nicht in der Lage war und nimmt daher eine beherrschende Stellung im Rahmen des endgültigen Umschwungs zum Bürgerkrieg ein. Wie bereits Caesar bei der Rubikonüberschreitung gegenüber der Epiphanie der Roma deutlich gemacht hatte, läuft auch hier die Argumentation letztendlich darauf hinaus, dass Caesar definieren soll, wer Bürger ist und für wen welche Werte gelten. Laelius’ Beschreibung als Träger der corona civica macht die

44Lucan.

I,268–291. I,291–351. 46Lucan. I,352–356. 47Lucan. I,356–358. 48Lucan. I,359–386. 49Roller 1996 und 2001 bringt dies durch den Begriff alienating viewpoint auf den Punkt (wenngleich Caesar diesen Punkt seiner Meinung noch hier noch nicht überzeugend genug formulieren kann). 45Lucan.

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Situation dabei umso paradoxer, weil die Auszeichnung gerade die Werte pietas und virtus symbolisierte. Dabei fällt jedoch auf, dass die Reihe der vermeintlichen Transgressionen eine starke Ähnlichkeit zu den Schwur-Formeln in den Eiden auf den Kaiser seit Augustus aufweist.50 Dies dürfte abermals einen lebensweltlichen Bezug für den Leser ergeben haben, der einmal mehr die Verwurzelung der augusteischen Ideologeme in der Zeit des Bürgerkrieges hervorhob.51 Auf diese Weise sensibilisiert, dürfte auch die Charakterisierung des Laelius in einem anderen Licht gesehen worden sein. Hatte man in der Tradition der Doppelrede ohnehin jemanden erwartet, der vom Stand her ähnlich zu Caesar war, dürfte spätestens die Erwähnung der Bürgerkrone ein weiteres Mal auf Augustus verwiesen haben. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass Caesar als aktiver Transgressor eines breiten Normenspektrums charakterisiert wird, der ausschließlich aus eigenem Interesse handelt und zahlreiche Male versucht, seine Handlungen als Aristien bzw. supererogatorische Leistungen zu rahmen. Lucan verweist in seinen Beschreibungen aber auch stark auf Augustus, der als mindestens ebenso großer Transgressor wie Caesar dargestellt wird. Das Aufgreifen bekannter Formeln, Bilder und Topoi sorgt in Verbindung mit den intertextuellen Bezügen in die augusteische Literatur zudem für einen lebensweltlichen Bezug für den Leser, der erkennt, wie stark die zu seiner eigenen Zeit gängigen Werte und Normengerüste in der Zeit des Bürgerkrieges gründen.

3 Pompeius Die scheinbar generell republikfreundliche Ausrichtung des Lucanschen Werkes würde es erwarten lassen, dass Pompeius, der mehrfach direkt als der Anführer der republikanischen Kräfte bezeichnet wird, zum Helden des Werkes konstruiert wird. Genau dies geschieht allerdings nicht, wie die folgende Übersicht der Darstellung des Pompeius in den ersten drei Büchern zeigen wird. Bereits bei der ersten Erwähnung des Pompeius im Rahmen der erwähnten Charakterisierung der beiden Hauptprotagonisten des Werkes wird dessen ambitio hervorgehoben, die keinen Rivalen neben sich duldet.52 Ähnlich wie Caesar wird Pompeius also zunächst als potentiell transgressiv beschrieben, zugleich befähigt ihn dies jedoch theoretisch zu Aristien und Heldentaten. Im Gegensatz zu Caesar wird im F ­ olgenden jedoch darauf hingewiesen, dass die ambitio des Pompeius auf w ­ ortwörtlich „schwachen

50Siehe

dazu: Roller 2001, 59–62 mit Verweis auf CIL II,172 (Caligula) und ILS 8781 (Augustus). Insbesondere hebt er die folgenden drei Punkte hervor, dass erstens die Gegner des Kaisers auch die eigenen sind, dass diese zweitens mit militärischer Macht verfolgt werden müssen und dass drittens die Sicherheit des Kaisers wichtiger ist als die der eigenen Person oder Familie. 51So auch Roller 2001, 62. Die von ihm in 61–62 aufgeworfene Frage, inwieweit die Eide tatsächlich aus der Zeit der späten Republik stammten ist angesichts der Gesamtkonstruktion der Szene m. E. nicht entscheidend. 52Lucan. I,123–124.

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Füßen“ steht, indem er im Gegensatz zu Caesar mit einer alten, wurzellosen Eiche verglichen wird, die bald fallen wird, der aber dennoch Verehrung entgegengebracht wird.53 Dies ist zugleich eine intertextuelle Allusion zur Aeneis, in der Aeneas mit einer starken Eiche verglichen wird.54 Durch die direkte Inversion dieser Szene macht Lucan deutlich, dass er Pompeius als Antihelden konstruiert wissen möchte. Dies zeigt sich in der Folge insbesondere unter dem Blickwinkel der Transgressionen. So wird er bereits bei seiner ersten Erwähnung55 mit einer vom Erzähler stark als Transgression hervorgehobenen Tat in Verbindung gebracht: der Flucht aus Rom.56 Pompeius erscheint nicht nur als Antiheld, sondern verhält sich zugleich Normdeviant zu seiner Rolle: vom vorgeblichen Verteidiger der Republik wäre die Verteidigung Roms zu erwarten gewesen. Auch im zweiten Buch wird Pompeius als Transgressor republikanischer Normen charakterisiert. Dies geschieht zunächst indirekt im Rahmen der später zu behandelnden Rede des Cato, in der dieser darauf hinweist, dass auch Pompeius im Falle eines Sieges im Bürgerkrieg die Herrschaft über die gesamte Welt anstreben wird.57 In der nach der Szene mit Cato folgenden ersten Erwähnung von Pompeius als handelnder Person wird dieser wieder als auf der Flucht beschrieben,58 was ihn abermals als das Gegenteil Caesars erscheinen lässt. Der damit implizierte Normenverstoß wird jedoch zunächst dadurch abgemildert, dass sein Vorgehen als Strategie definiert und ein Angriff auf die Truppen Caesars geplant wird. Nach einem geographischen Einschub auf den der Bericht der Niederlagen einiger Legaten des Pompeius gegen die Truppen Caesars folgt, richtet sich der Fokus wieder auf den Feldherrn selbst, der nun ähnlich wie Caesar eine Rede an die Truppen hält.59 Anders als Caesar spricht er seine Soldaten jedoch nicht kollegial als socii an, sondern er hebt ihre Verbindung und Legitimierung über die Normen der Republik mit Bezeichnungen wie o vere romana manus, quibus arma senatus non privata dedit60 hervor. Die Betonung der eigenen Legitimität bei gleichzeitiger Delegitimierung Caesars nimmt insgesamt einen breiten Raum in der Rede ein, was in Verbindung mit dem Ausbleiben direkter Anweisungen an die Männer und der seltenen Nutzung des Imperatives den Eindruck aufkommen lässt, Pompeius

53Lucan.

I,129–143. Aen. IV,441–446. Siehe dazu z. B. Pyplacz 2014, 98–99; der Vergleich wird durch die Verwendung der gleichen Worte unterstrichen: quercus; validis radicibus; frondibus; robore (Lucan) – validam cum robore quercum; frondes; radice (Vergil). 55Ausgelassen wurde hier die Charakterisierung als Transgressor und Tyrann in der Rede Caesars (Erwähnung des Pompeius: Lucan. I,314; 323; 338), da diese aus der Sicht Caesars geschieht. 56Lucan. I,519–522: tu tantum audito bellorum nomine, Roma, desereris; nox una tuis non credita muris. danda tamen uenia est tantorum danda pauorum: Pompeio fugiente timent. 57Lucan. II,319–322. 58Lucan. II,392–393. 59Lucan. II,526–600. 60Lucan. II,532–533. 54Verg.

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müsse sich selbst überzeugen.61 Es erscheint daher nur folgerichtig, dass die Rede nicht fruchtet und der geplante Angriff auf Caesar ausfällt. Durch die Komposition der Szene, in der aus persönlicher Furcht und Verlust der Autorität schließlich die Flucht resultiert, revidiert Lucan zudem den zuvor erweckten Anschein, die Flucht vor Caesar sei als Strategie zu betrachten.62 Das persönliche Motiv überwiegt nun deutlich, die Flucht wird endgültig zur Normtransgression des Pompeius. Die starke Parallelisierung der Szene zu der Ansprache Caesars beinhaltet dabei jedoch auch eine implizit positive Deutung − es tritt niemand auf, der die Soldaten umstimmt, wodurch die Weigerung zur Transgression das Schlachten des Bürgerkrieges zumindest etwas aufschiebt. Die Soldaten sind zu mehr pietas fähig als der eigentliche Verteidiger der Republik, der sich noch dazu unfähig zu zielgerichteten Handlungen oder der Motivation seiner Untergebenen gezeigt hat.63 Die Flucht des Pompeius vor Caesar mündet am Ende des zweiten Buches schließlich in die letzte große Transgression des Pompeius im Untersuchungsspektrum: die endgültige Flucht aus Italien.64 Pompeius hat es bis nach Brundisium geschafft, wo er von den Truppen seines Gegners eingekesselt wird. In einer Nacht- und Nebelaktion gelingt es ihm jedoch einen Großteil seiner Truppen mit Schiffen über das offene Meer in Sicherheit zu bringen, wobei die Szene vom Ablegen bis zum Erreichen des offenen Meeres besonders ausführlich beschrieben wird und schließlich im dritten Buch mit einem Traum des Pompeius endet, in dem ihm seine verstorbene Ehefrau Julia erscheint.65 Der bereits aufgezeigte Grundtypus der Transgressionen des Pompeius zeigt sich auch hier. In Analogie zur ersten Transgression Caesars handelt es sich zunächst um die Überschreitung einer physischen Grenze, die der Caesars diametral entgegengesetzt ist (aus Italien hinaus statt nach Italien hinein) und zugleich eine Erwartungs- und Normendevianz beinhaltet (der angebliche Verteidiger der Republik überlässt Rom und Italien kampflos seinem Gegner). Auch hier ist Pompeius kein agierender Part, sondern er reagiert nur, d. h. die Transgression wird durch das Handeln Caesars erzwungen. Analog zur Rubikonszene finden sich Hinweise auf die kaiserzeitliche Lebenswelt, wie z. B. ein genauer Blick auf die Szene des Ablegens zeigt: Während die Männer des Pompeius die Taue der Schiffe lösen beschreibt Lucan den Sternenhimmel: iam coeperat ultima Virgo Phoebum laturas ortu praecedere Chelas, cum tacitas soluere rates.66 Die Position der Sonne in den chelae

61Fantham

1992, 181. dazu Radicke 2004, 221, der auch auf die tatsächlich überlieferte Furcht des Pompeius hinweist: z. B. Caes. civ. I,24,1. 63Radicke 2004, 221 verweist ebenso wie Lausberg 1985, 1575–1576 auf die Ähnlichkeit der Szene mit der Heeresprobe des Agamemnon in Hom. Il. II,109–368. Der Vergleich ist nicht völlig passend, da keine dem Odysseus ähnliche Figur auftritt, zugleich könnte darin jedoch auch eine besondere Betonung der Unfähigkeit zur Motivation zu finden sein. 64Lucan. II,650–736. 65Lucan. III,1–45. 66Lucan. II,691–693. 62Siehe

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datiert das Geschehen in den frühen Herbst, aus Parallelüberlieferungen ist jedoch bekannt, dass die Abfahrt des Pompeius am 26. Januar erfolgte.67 Ein Versehen Lucans aus astrologischer Unkenntnis ist hier auszuschließen, da er an anderer Stelle sehr präzise und korrekte Angaben macht.68 Daraus folgt, dass die Sternbilder eine besondere Bedeutung haben müssen, die sich einmal mehr in den intertextuellen Bezügen, in diesem Fall zu Verg. georg. 1,33–34, finden, wo eben diese Sternbilder als Ort des Katarismos des Oktavian aufgeworfen werden.69 Im übertragenen Sinne geht somit der Stern Oktavians in dem Moment auf, in dem der des Pompeius und der Republik sinkt.70 Wie schon bei der Rubikonüberschreitung Caesars wird so der Bruch zwischen Republik und Prinzipat ebenso ins Bewusstsein gehoben, wie die Fundierung der augusteischen Ideologeme in der Bürgerkriegszeit. Intertextuelle Bezüge finden sich darüber hinaus ein weiteres Mal in Anspielungen auf die Aeneis. So ist einerseits ein Verweis auf die Flucht des Aeneas aus Troja zu sehen (728–730; vgl. Verg. Aen. III,11–12), wobei Aeneas jedoch nach Italien floh und dieses nicht verließ.71 Andererseits verweisen die Tageszeit (lange Beschreibung des Sonnenaufgangs) und der Ort (Süditalien) auf die Szene, in der Aeneas und seine Männer zum ersten Mal Italien erblicken.72 Pompeius wird so zu einer Art „Anti-Aeneas“. Dem kurz zuvor implizierten Augustus, dessen Stern mit der Flucht aufgeht, wird indirekt die Rolle des Zerstörers von Rom zugewiesen. Lucan richtet sich auf diese Weise ein weiteres Mal gegen die augusteische Deutung Vergils und transgrediert die Grenzen der Epik, während Pompeius die physische Grenze Italiens überschreitet. Diese Bezüge zur Aeneis werden auch am Anfang des dritten Buches greifbar, in dem Pompeius seine verstorbene Gattin Julia erscheint.73 Sie nimmt eine bedrohliche Pose in Form einer Furie auf dem Scheiterhaufen ein und gibt hier ihre eigene Interpretation der Bürgerkriege: Sie prophezeit nicht nur die Leiden des Bürgerkrieges, sondern gibt Pompeius und seiner neuen Frau eine konkrete Mitschuld an diesen. Solange er mit ihr verheiratet gewesen sei, waren ihm die Götter zugeneigt, aber durch die Ehe mit einer anderen Frau unmittelbar nach ihrem Tod habe ihn die Fortuna verlassen. Julia akzeptiert die Neuverheiratung nicht und ist eifersüchtig, droht sogar ihren Mann bis an das Ende seiner Tage zu verfolgen. Julia wirft Pompeius also zunächst impietas im privaten Bereich vor, d. h. eine Transgression des Wertes bzw. der Norm der pietas, die jedoch letztendlich durch die Vermischung zwischen privatem und öffentlichem Bereich ein Mitauslöser des

67Barrenechea

2004, 312; Radicke 2004, 230; vgl. jedoch Grimal 1987, 125–127. dazu Barrenechea 2004, 313. 69Siehe dazu Radicke 2004, 230; Barrenechea 2004, 316. 70Die ultima virgo wird zudem als Zeichen des Rückzuges der iustitia gesehen: Barrenechea 2004, 315; Heilen 2006 (mit anderer Deutung des ultima), Radicke 2004, 230. 71Radicke 2004, 232. 72Fantham 1992, 220. 73Lucan. III,1–45. 68Siehe

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Bürgerkrieges wurde.74 Dieser Gedanke wird dabei wieder durch intertextuelle Bezüge zur Aeneis erweitert, für die der Leser aufgrund der vorhergehenden Bezüge sicherlich ohnehin sensibilisiert war. Insgesamt wurden in der Forschung verschiedene Szenen als Vorbild des Traumes erwähnt,75 am naheliegendsten erscheint es mir jedoch, diesen als Inversion des Traumes des Aeneas von seiner Frau Kreusa zu sehen.76 Dafür spricht die Ähnlichkeit der Szene in Anknüpfung an das Vorhergehende (Flucht aus Italien – Flucht aus Troja) und die generell umgekehrte Motivik. Während Kreusa Aeneas beruhigt, ihm zuspricht, ihm erlaubt sie zu vergessen und ihm von den großen Dingen, die auf ihn zukommen werden, berichtet, agiert Julia in all dem, wie gezeigt, exakt gegenteilig.77 In ihren Anschuldigungen und Drohungen ähnelt sie dabei Dido, nachdem Aeneas sie verlassen hat.78 Beide Szenen der Aeneis weisen dabei auf die außergewöhnliche pietas des Aeneas hin, der das Wohl des zukünftigen Staates Rom über sein privates Empfinden und seine privaten Beziehungen stellt. Pompeius jedoch wird durch sein Privatleben beeinflusst, das nicht nur als einer der Auslöser des Bürgerkrieges bezeichnet wird, sondern ihn zudem auch in seinen militärischen Entscheidungen behindert, sodass er auch hier als das genaue Gegenbild des Aeneas, und somit als Transgressor des Bildes der pietas auftritt. Der Einfluss des Privaten wird dabei durch die Verwendung elegischer Motive wie des uxor–palex Konfliktes noch weiter hervorgehoben.79 Die Strafe dafür ist letzten Endes der von Julia angedrohte Tod, der ihn in Buch 8 ereilen wird. Im Unterschied zu Caesar wird Pompeius also für seine Transgression, auch wenn sie erzwungen und nicht gewollt war, bestraft, der Ausgang der Ereignisse wiederum als unausweichlich dargestellt. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass die Transgressionen des Pompeius lediglich als passive Reaktion auf die Handlungen anderer gesehen werden müssen, und Pompeius selbst bei der Motivation anderer zur Transgression oder der supererogatorischen Umdeutung seiner Transgressionen scheitert. Das daraus resultierende Bild als Antiheld ohne wirkliche Chance zur Aristie wird wiederum durch Inversionen von Bezügen in die augusteische Literatur unterstützt.

4 Cato Das dritte exemplum ist Cato, der in der Forschung oft als die ideale Verkörperung stoischer Werte und mithin als der eigentliche Held der Pharsalia gehandelt wird.80 Wenngleich Cato in den ersten drei Büchern nur selten in Erscheinung tritt, scheint 74Lucan.

I,111–157. dazu Hunink 1992, 34–36. 76Verg. Aen. II,771–794. 77Siehe dazu z. B. Thompson 1984, 209–210. 78Siehe dazu: Finiello 2005, 170–172; Thompson 1984, 209–210. 79Siehe dazu z. B. Hübner 1984; Walde 2001, 394. 80Siehe z. B. Ahl 1976, 231–279; Narducci 2002. 75Siehe

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bereits seine erste Erwähnung diese Vermutung zu bestätigen81: Im Rahmen der Ursachen und Protagonistenbeschreibung im ersten Buch gibt der Erzähler an, nicht darüber entscheiden zu wollen qui iustius induit arma, da sowohl Caesar als auch Pompeius unter dem Schutz fähiger Richter ständen: victrix causa dies placuit sed victa Catoni. Diese Gleichsetzung der Urteilskraft Catos mit jener der Götter erhebt seine Figur über die der andern und macht sie zu einer moralischen Instanz. Das erste Mal als handelnde Person im eigentlichen Sinne taucht Cato dann im zweiten Buch auf.82 Der Erzähler gibt zunächst eine Rede des Brutus wieder, der den bereits exemplarischen Status des Cato betont und diesen zu stoischer apatheia und gegen die Teilnahme am Bürgerkrieg aufzufordern versucht.83 Cato hingegen antwortet ihm mit einer langen Begründung, warum er doch am Bürgerkrieg teilnehmen werde: Zunächst wirft er das Schicksal als maßgebliche Leitinstanz auf, dem zu folgen sei, dann betont er die Anteilnahme am Schicksal der Umwelt und wirft das Gleichnis eines Vaters auf, der um die Seelen seiner Kinder trauert. Zudem wünscht er sich den Tod im Rahmen einer devotio zu erleiden und entscheidet sich schließlich für die Seite des Pompeius, den er als das kleinere Übel ansieht.84 Wenngleich bereits die Entscheidung zur Teilnahme am Bürgerkrieg im Grunde genommen eine Transgression darstellt, wird Cato durch den Satz Hi mores, haec duri inmota Catonis/secta fuit, servare modum, finesque tenere85 als Transgressionshemmnis beschrieben. Er will in den Schlachten des Krieges in der Mitte stehen (Lucan. II,310–311), als Grenze zwischen Caesar und Pompeius, oder, falls dies nicht möglich ist, zumindest die Normtransgressionen des Pompeius bremsen (Lucan. II,322–323)86 oder sogar für die Freiheit sterben. Wie Caesar entscheidet Cato sich folglich bewusst für die Teilnahme am Bürgerkrieg, doch tut er dies nicht aus eigenem Interesse, sondern um den Staat zu schützen. Auf den ersten Blick wird Cato hier also als Wächter der Norm präsentiert, ein tragischer Held, der die Transgressionen anderer nicht verhindern kann. Doch ähnlich wie bei Caesar zeigt sich auch hier bei genauerem Hinsehen eine tiefere Bedeutung. So stellt sich die Frage, welche Norm genau Cato bewacht. Seine Repräsentation als ultimativer stoischer Weiser bricht allein dadurch, dass er das von Brutus an ihn herangetragene Motiv der stoischen apatheia zurückweist und sich für eine aktive Teilnahme am Krieg entscheidet.87 Dies wird besonders durch das aufgeworfene Bild des um seine Kinder trauernden Vaters deutlich. Im stoischen Umfeld wurde, wie z. B. anhand des exemplum des Anaxagoras zu sehen

81Lucan.

I,128. II,234–391. 83Lucan. II,234–284. 84Lucan. II,285–325. 85Lucan. II,380–381. 86Bartsch 1997, 32. 87Siehe dazu Seo 2011, 203; Mangelnde Apatheia bemerken auch Dreyling 1999, 129. 82Lucan.

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ist, erwartet, eben keine Trauer zu zeigen.88 Lucan kreiert durch die Anspielung auf ein solches exemplum eine Erwartung stoischer Profilierung, die jedoch ausbleibt und vielmehr als Ausschmückung der gänzlich unstoischen Gefühle des Cato dient.89 Der eigentliche Garant der Werte wird also als Transgressor stoischer Normen präsentiert. Die stoische sapientia ersetzt er durch virtus und pietas gegenüber den Normen der Republik. Diese Selbstdarstellung wird jedoch für den Leser durch die devotio – Szene, in der Cato sich opfern will, um den Römern Frieden zu bringen, bereits ironisch konterkariert. So endete mit dem Tod des Cato zwar mehr oder weniger der Bürgerkrieg unter Caesars Beteiligung und mit ihm die alte Republik. Bereits kurze Zeit später sollte der Bürgerkrieg, diesmal unter Beteiligung des Augustus, aber erneut aufflammen, was Lucan in seinem Werk, wie bereits an der Eingangsszene demonstriert, immer wieder betont. Die devotio Catos beendet also gerade jene Staatsform, die er schützen will, bringt aber nicht den ersehnten Frieden. Die Ziele Catos sind somit von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Interessant ist dies auch im Zusammenhang mit der folgenden Szene der Marcia, die komplett von Lucan konstruiert wurde.90 Marcia, die von Cato an Hortensius verheiratet wurde, kehrt zu ihm zurück und fordert eine erneute Heirat mit Cato. Sie habe mit ihrer Fruchtbarkeit seine Aufträge erfüllt und wolle nun wieder zu seiner Gattin werden und ihn auf den Feldzügen begleiten.91 Allein das Auftreten der Marcia muss den Leser dabei an zwei bei den Zeitgenossen kontrovers diskutierte Normtransgressionen erinnert haben: Zum einen die Weitergabe Marcias an einen anderen Mann und die erneute Heirat mit Cato,92 zum anderen die Anwesenheit von Frauen in den Feldlagern, die in der Kaiserzeit zwar üblich wurde, in der Republik aber undenkbar gewesen war.93 Trotz dieses Hintergrundwissens scheint Marcias Rede zunächst als Normbestätigung. Sie spiegelt das von Cato aufgeworfene Bild eines Trauermarsches für Roma und ruft eine stoische Idealwelt auf, innerhalb derer die genannten Transgressionen akzeptabel erscheinen. Doch auch hier bekommt die Darstellung weitere Risse.94 So erinnert die Beschreibung der Marcia in Verbindung mit dem Satz non aliter placitura uiro95 an eine Passage in den ars amatoria des Ovid,96 in der den Witwen geraten wird, ihre Trauergesten bewusst als Mittel bei der Suche nach einem neuen Gatten

88Seo

2011, 203; zeitgenössisch z. B. Sen. De ira 3,13. 2011, 203. 90So war Hortensius bereits einige Zeit Tod und Marcia wäre kaum als ihre eigene Heiratsvermittlerin aufgetreten – siehe Fantham 1992, 140. 91Lucan. II,326–391. 92Finiello 2005, 165–166 und n. 46 mit verschiedenen Beispielen wie Plut. Cat. min. 52,2–3. Sie weist zudem darauf hin, dass die Episode in der neueren Forschung oft eher als stoische Tat interpretiert wird. 93Fantham 1992, 144. 94Finiello 2005, 168. 95Lucan. II,337. 96Ov. ars III,153–168. 89Seo

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zu verwenden – was scheinbar genau das Ziel der Marcia ist und vermutlich einen weiteren Grund für die Konstruktion der Szene durch Lucan darstellt.97 Marcias Vorgehen wird so als überaus berechnend entlarvt, was sich auch auf ihre rhetorische Konstruktion einer stoischen Idealwelt beziehen lässt. Dies dient nicht dazu, Cato rühmend hervorzuheben, sondern wird letztendlich gegen ihn verwendet, um ihn argumentativ zur Genugtuung bzw. Heirat zu bewegen.98 Zudem kann auch Catos Vorgehen als berechnend erscheinen: So war Marcia eng mit dem julischen Haus verwandt,99 weshalb die Heirat auch als Weg der Absicherung der Familie Catos im Falle eines Sieges des Caesar gesehen werden kann.100 Dass Lucan die erneute Hochzeit unmittelbar auf die Erklärung der Bereitschaft zur devotio durch Cato folgen lässt, zieht diese ebenso in Zweifel. Es lässt sich also festhalten, dass auch Cato weit von der Darstellung als Held oder Normbewahrer entfernt ist.101 Er ist – ebenso wie die anderen Protagonisten – durch Transgressionen von Erwartungen und Normen betroffen, und sogar seine sich selbst gegebene Rolle als Transgressionshemmnis wird ironisch gebrochen.

5 Nicht personalisierte Normsysteme Bis hierher sind Transgressionen nahezu aller gängiger Normen nachzuweisen, die durch alle drei Hauptprotagonisten begangen werden, weshalb keiner von ihnen als moralischer Leitfaden bzw. exemplum dienen kann, um dem Leser eine normative Orientierung zu bieten. Normen werden grundsätzlich transgrediert, eine positive Konstruktion von diesen im Rahmen eines moralischen Leitbildes findet jedoch nicht statt. Es stellt sich daher die Frage, ob diese Rolle von anderen, nicht personalisierten Normsystemen etc. übernommen werden kann. In Frage kämen hier die generellen Normensysteme der Republik oder der Kaiserzeit, wobei diese weniger als Umsetzung in konkrete Werte und Normen,102 sondern eher als generalisierter Bezug zu einem in temporaler Perspektive gedachten positiven Spiegelbild der erzählten Zeit zu sehen sind. Zunächst zur Republik, die in der Forschung oft in der oben aufgeworfenen Rolle gesehen wird. Ein genauerer Blick auf den Text zeigt jedoch etwas anderes, was sich durch die Darstellung einer weiteren Transgression Caesars verdeutlichen lässt.103 Im dritten Buch lässt

97Finiello

2005, 168–169. dazu Finiello 2005, 169; sie weißt ebenso wie Fantham 1992, 143 auf das durchschimmernde Ideal der univira hin. 99Fantham 1992, 140: Marcias Vater, Philippus, war mit Caesars Nichte Atia, der Mutter des späteren Augustus, verheiratet. 100Fantham 1992, 140. 101Siehe dazu auch Johnson 1987, 35–66, der Cato unter dem Titel delusions of virtue fasst. 102So ist es aufgrund der engen ideologischen Verknüpfung zwischen Republik und Prinzipat nahezu unmöglich, bestimmte Normen und Wertkonzepte einer bestimmten Zeit zuzuordnen. 103Siehe dazu Schindler 2016, 46–49. 98Siehe

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er den Tempel des Saturn plündern, eine Transgression, die von Lucan als rapinae und spoliare bezeichnet wird.104 Um die Schwere dieses Frevels hervorzuheben, gibt Lucan eine Aufzählung der Triumphe und Siege wieder, durch die das Vermögen erworben wurde. Dabei wird Pompeius als einer der Protagonisten des Bürgerkrieges unkommentiert am Ende mitaufgeführt.105 Es wird jedoch nicht nur der ideelle Wert der Beute unterstrichen, sondern auch gezeigt, dass die Feldzüge der Republik die Grundlage für die Bürgerkriege legten, was sich gänzlich in den Dekadenzdiskurs am Beginn des Lucanschen Werkes einreiht,106 der den Verlust der paupertas zur Wurzel des Übels macht. Dieser Aspekt wird am Ende des Tempelraubes wieder aufgegriffen, wo es heißt: pauperiorque fuit tum primum Caesare Roma.107 Dies ist nicht nur ein Schuss gegen Caesar, sondern zeigt ironisch, dass Rom nun wieder in den eigentlichen Idealzustand der paupertas zurückgefallen ist. Armut ist jedoch im Bürgerkrieg sicherlich nicht gerade dienlich. Lucan zeigt somit, wie Schindler betont, dass die Entwicklungen aufgrund einer veränderten historischen Situation irreversibel sind, eine neue paupertas also niemals der unbescholtenen paupertas der Frühzeit entsprechen kann.108 Eine Funktion der Republik als positives Spiegelbild zur eigenen Zeit und Leitlinie der normativen Entwicklung lässt sich somit ebenfalls ausschließen. Doch wie steht es mit der Zeit des Prinzipates? Die generelle Klage um den Verlust der libertas, der sich nach der Niederlage der Republikaner einstellt, lässt zunächst ein prinzipatsfeindliches Bild des Autors vermuten und drückt, wie bereits angemerkt, den eindeutigen Bruch zwischen Prinzipat und Republik aus. Gleichzeitig stellt er die Entwicklungen jedoch, wie bei den Transgressionen Caesars gezeigt, als unausweichlich und fast schon von den Göttern gewollt dar. In Verbindung mit dem einleitenden Nerolob ergibt dies ein Bild der historischen Notwendigkeit des Prinzipates bei einer gleichzeitigen topischen Klage über den Verlust der libertas, wie sie z. B. auch bei Tacitus zu finden ist.109 Insgesamt lässt sich konstatieren, dass es im Werk Lucans keine eindeutig als moralisches Leitbild empfohlenen Normensysteme unpersonaler Natur gibt.

6 Schlussbetrachtungen Was bedeuten die Ergebnisse der Einzelstudien nun für die Ausgangsfrage? An erster Stelle kann festgehalten werden, dass Lucan verschiedene Transgressionsarten zum Einsatz bringt. Zunächst gibt es Transgressionen physischer Grenzen 104Lucan.

III,154–168, Schindler 2016, 48. 2016, 48. 106Lucan. I,158–182; siehe auch Schindler 2016, 44–46. 107Lucan. I,168. 108Schindler 2016, 48–49. 109Siehe z. B. Kimmerle 2015, 288–289; zum Begriff der libertas bei Lucan generell siehe Kimmerle 2015, 168–210. 105Schindler

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wie den Rubikon oder die Grenze Italiens, deren Bedeutung sich jedoch zumeist erst aus ihrer normativen Aufladung ergibt. Noch häufiger finden sich Überschreitungen metaphysischer/normativer Grenzen. Zusätzlich übertritt Lucan mittels intertextueller Anspielungen die Grenzen seines eigenen Epos während er so zugleich Erwartungen weckt, die intentionell gebrochen, d. h. transgrediert werden. Auf personaler Ebene zeigten sich dabei drei akteurspezifische Modi der Transgression: Erstens ist Caesar der Hauptransgressor des Werkes, dessen Grenzübertretungen etwas Unausweichliches haben und stets aus eigenem Antrieb heraus erfolgen. Zweitens gibt Pompeius als Antagonist Caesars ein genau gegenteiliges Bild, da er rein passiv handelt und seine Transgressionen durch andere erzwungen werden. Drittens versucht Cato schließlich als Transgressionshemmnis aufzutreten, überschreitet in dieser Rolle aber selbst Grenzen und bricht zahlreiche Erwartungen. Dies hat einen starken Einfluss darauf, ob diese Figuren als Helden/exempla bzw. moralische/normative Leitbilder rezipiert werden können. Der aus der moralischen Sicht des Autors als Held zu erwartende Pompeius ist nicht zu Aristien in der Lage. Caesar ist es hingegen formell schon, jedoch vertritt er das „falsche“ Werte- und Normensystem. Gleichwohl sieht Caesar sich jedoch selbst als Held und versucht, die Realität im Sinne einer supererogatorischen Leistung zu konstruieren. Der dabei genutzte Zusammenhang mit den augusteischen Klassikern veranlasst den Leser auch die augusteische Deutung der Vergangenheit zu hinterfragen und einen Bezug zwischen ihrer eigenen Lebenswelt und den Handlungen des Epos zu ziehen. Die Verwurzelung der eigenen Normenwelt in der Zeit der ultimativen Transgression wird deutlich und verinnerlichte Normen und Werte werden dadurch in Frage gestellt. Zugleich bietet Lucan jedoch keinerlei moralische Leitlinie, sondern dekonstruiert im Gegenteil alle potentiellen Vorbilder. Ohne eine Orientierungshilfe durch den Autor hat die durch die Transgressionen im Leser ausgelöste moralische Efferveszenz jedoch kein Ziel bzw. kein Normengerüst, das bestätigt werden kann, was einmal mehr einen Denkprozess über die Normen in Gang setzt. Auf diese Art und Weise öffnet Lucan ein Kommunikationsfenster, innerhalb dessen neue Werte und Normen eruiert werden können.110 Doch bedeutet all dies, dass Lucan ein competing-111 oder counter memory112 zur gängigen Sichtweise des Prinzipates aufbaut, also gewissermaßen gegen den Kaiser opponiert? Meines Erachtens lässt sich sein Vorgehen eher mit den ­Zielen und der generellen Herrschaftslegitimation Neros in Einklang bringen. So knüpfte dieser, wie schon die Kaiser vor ihm, zwar einerseits stark an ­Augustus an, andererseits grenzte er sich jedoch zugleich schon von Beginn seiner ­Herrschaft an

110Vgl.

jedoch Kimmerle 2015, 302, die die Dekonstruktion aller Werte und Normen in Anlehnung an Ihre Theorie des unzuverlässigen Erzählens als Ausdruck der „Desorientierung im senatorischen Werthorizont“ sieht. 111So Thorne 2011, 366 f. 112So Gowing 2005, 94–101.

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von dessen Bürgerkriegstätigkeit ab.113 Dieses Vorgehen brachte Seneca später in seinem Werk de clementia wie folgt auf den Punkt:114 nach der Beschreibung der Handlungen des Augustus in den Bürgerkriegen und einer Aufzählung bedeutender Schlachten schließt er mit den Worten: Ego vero clementiam non voco lassam crudelitatem; haec est, Caesar, clementia vera, quam tu praestas, quae non saevitiae paenitentia coepit, nullam habere maculam, numquam civilem sanguinem fudisse. War der Schutz vor den Bürgerkriegen als implizite Legitimation der Kaiserherrschaft stets vorhanden gewesen,115 so war Nero der erste Kaiser, der so eindeutig auf die negative Rolle Augustus im Bürgerkrieg verwies, was den entsprechenden Verweis bei Lucan erklärt. Zugleich strebte Nero eine Neuverhandlung der kaiserlichen Rolle an, wie insbesondere an seiner künstlerischen Tätigkeit abzulesen ist.116 Er startete den Versuch, den inneraristokratischen Konkurrenzkampf zunehmend auf hellenistisch beeinflusste Agone umzulenken, wobei dem Kaiser als „Meister“ in all diesen Agonen die oberste Rolle entgegenkam. Dies musste zugleich nicht nur in einem starken Konflikt mit den herkömmlichen Bildern und Vorstellungen kaiserlicher Repräsentation und Legitimation stehen, sondern auch zahlreiche Werte- und Normenkonzepte der aristokratischen Elite überschreiten. Ein völliges Scheitern eben dieses Standesethos stellt Lucan mit seinen Pharsalia ebenso dar wie die Verwurzelung des herkömmlichen Kaiserbildes in der Zeit der Bürgerkriege. Das daraus entstehende Kommunikationsfenster über die Normen und Wertewelt dürfte also durchaus in Neros Sinne gewesen sein. Insgesamt sind die Transgressionen folglich als ein „notwendiges Übel“ im doppelten Sinne zu sehen: Zum einen ermöglichten sie die Herrschaft Neros, zum anderen ermöglicht ihre ausführliche Beschreibung die Aushandlung eines neuen Normensystems im Sinne der Umgestaltung der kaiserlichen Rolle durch Nero.

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113Siehe

dazu z. B. Tac. ann. XIII,4,1. De clem. I,11,1–2. 115Dies ist zum Beispiel an der steten Ausprägung der Corona Civica mit der Legende OB CIVES SERVATOS in der Reichsmünzprägung abzulesen. 116Siehe dazu z. B. Pausch 2013. 114Sen.

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Dux femina Transgressive Frauen bei Tacitus Marie Joselin Düsenberg

Zusammenfassung

Im Zentrum dieses Beitrags stehen die literarischen Ausgestaltungen weiblicher Akteurinnen und den ihnen zugeschriebenen Grenzüberschreitungen in den Annalen von Cornelius Tacitus. Gerade die individuell – und nicht innerhalb von namenlosen Massen – dargestellten Frauen entpuppen sich als Brennpunkte der taciteischen Gesellschaftskritik. Neben römischen Frauen der aristokratischen Elite wie Messalina, Poppea und Agrippina die Jüngere werden auch nicht-römische Akteurinnen, die im Zuge des römischen Imperialismus zu Rom-relevanten Protagonistinnen werden, wie die Britanninen Cartimandua und Boudicca, als Opportunistinnen der geschlechterspezifischen Tugenden konnotiert. In diesem Beitrag sollen diese vor allem auf der Geschlechterebene stattfindenden Transgressionsprozesse der römischen Kaisermutter Agrippina der Jüngeren mit der ikenischen Aufstandsanführerin Boudicca verglichen werden. Sind die erwarteten Normen und Werte in beiden Fällen ähnlich oder unterliegen sie unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben? Dabei stehen im Zentrum des Erkenntnisinteresses vor allem die literarischen Werkzeuge und die damit verbundene Wertung des nicht-normativen Handelns. Abstract

This essay focuses on the literary portrayals of female protagonists and the transgression of boundaries attributed to them in the annals of Cornelius Tacitus. The women portrayed individually—and not as part of nameless masses—turn out to be focal points of Taciteian social criticism. In addition to Roman women of the aristocratic elite such as Messalina, Poppea and M. J. Düsenberg (*)  Edition Topoi, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Gilhaus et al. (Hrsg.), Transgression und Devianz in der antiken Welt, Schriften zur Alten Geschichte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05508-8_8

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Agrippina the Younger, non-Roman actors who become protagonists relevant to Rome in the course of Roman imperialism, such as Cartimandua and Boudicca, are also marked out as opportunists of gender-specific virtues. In this article, the transgression processes of Agrippina the Younger, which take place mainly on the gender level, will be compared with the leader of the British revolt, Boudicca. Are the expected norms and values similar in both cases or are they subject to different evaluation standards? The main focus of interest is on literary tools and the associated evaluation of non-normative actions.

1 Einleitung Im Jahr 2018 betrug der Frauenanteil in Führungspositionen in Deutschland insgesamt 22,6 %.1 Der Anteil der Frauen im deutschen Parlament war zum 1. Dezember 2018 mit 30,7 % zu verzeichnen.2 In Spitzenpositionen stellen Frauen also auch heute einen vergleichbar geringen Anteil der Führungskräfte. Ein Grund dafür kann in der den Geschlechtern zugeordneten traditionellen Rollenverteilung gesehen werden. Aspekte von Machtausübung, welche bis heute – das zeigen diese Zahlen – eigentlich der männlichen Sphäre zugeordnet werden, scheinen Frauen kaum zugestanden zu werden. Das Phänomen, dass Machtausübung durch Frauen als Übertretung ihrer Geschlechterrolle wahrgenommen wird und in der Folge mit Be- bzw. Verurteilung einhergeht, hat lange Tradition. Beispielhaft lässt es bereits vor zwei Jahrtausenden durch die Betrachtung der Frauenfiguren in den Werken des römischen Historiographen Cornelius Tacitus erkennen. Als Akteur der antiken römischen Gesellschaft sowie durch seine Funktion als Politiker und Geschichtsschreiber ist Tacitus Mitgestalter der damaligen Diskurse. Seine Annalen, verfasst Anfang des zweiten Jahrhunderts n. Chr., spiegeln stereotype Motive und Akteur*innen wider,3 die angesichts seiner senatorisch-elitären bias4 bestehen. Im Frauenbild des Historiographen im Kontext seines Zeitalters, in dem Frauen zwar durchaus informellen Einfluss auf beispielsweise politische Sachverhalte ausüben konnten, jedoch offiziell aus institutionellem Handeln ausgeschlossen waren, galten Frauen von „Natur aus“ als unfähig, jegliche Triebe zu kontrollieren (hier sind die Formulierungen sexus natura invalidus oder muliebris impotentia5 ein häufig wiederkehrendes Motiv). Zudem wurde von ihnen erwartet, 1h t t p s : / / d e . s t a t i s t a . c o m / s t a t i s t i k / d a t e n / s t u d i e / 1 8 2 4 5 7 / u m f r a g e / f r a u e n a n t e i l - i n fuehrungspositionen-nach-bundeslaendern/ (letzter Zugriff 10.10.19). 2https://de.statista.com/statistik/daten/studie/151106/umfrage/frauenanteil-in-ausgewaehltennationalen-parlamenten/ (letzter Zugriff 10.10.19). 3Vgl. Späth 2000, 118; Späth 2012, 449; Classen 1988. 4„This bias is a result of an era of increased anxiety that Roman society experienced during the rise of the Empire“, schreibt Hébert 2013, 10. 5Zu

finden beispielsweise in Bezug auf Agrippina die Jüngere: Tac. ann. XII,57,3: nec ille reticet, impotentiam muliebrem nimiasque spes eius arguens. Außerdem in Tac. ann. I,4,5; III,33,4; IV,57,3; V,1,3.

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dass sie, im Hintergrund agierend, den Mann an ihrer Seite möglichst mit wohlwollendem Zuspruch und gemäßigtem Verhalten unterstützen sollten, was in den taciteischen Annalen von 113 n. Chr. mehrfach thematisiert wird. Die Sichtbarkeit von Frauen in der Öffentlichkeit im Römischen Reich war grundsätzlich von der männlichen Bezugsperson (Vater, Ehemann oder auch Sohn) abhängig,6 die Identifizierung der Frauen geschah also überwiegend durch oder über ihre Verbindung zu Männern bzw. deren Status.7 Die Rollenangebote waren größtenteils auf die Rolle der Mutter (mater, matrona oder genetrix), Tochter oder Ehefrau beschränkt.8 Ausschließlich im kultischen Bereich konnten römische Frauen öffentlich agieren, ohne Geschlechter- oder Normgrenzen zu überschreiten.9 Dennoch durchziehen einige wenige Frauenfiguren, die diese tradierten Werte und Normen überschreiten und aus dem passiven, anonymen und in der Öffentlichkeit nicht sichtbaren Bereich heraustreten, die taciteischen Schilderungen. Die Historikerin Christiane Kunst stellt fest, dass „jede über weibliche Sinnesart hinausgehende selbstständige Aktivität […] als monströses, die Grundordnung bedrohendes Verhalten aufgefaßt“ wurde.10 Gekleidet in unterschiedliche literarische Mittel und Topoi, lassen sich dementsprechend auch in Tacitus’ Werk trotz seiner Maxime, sine ira et studio11 zu schreiben, wertende Botschaften erkennen, die der Historiograph den Lesenden vermittelt. So soll diesem Beitrag die Analyse seiner Darstellung zweier Frauenfiguren – Agrippina die Jüngere sowie Boudicca – als erkenntnisreiche Perspektive dienen. Der Autor nutzt beide Frauenfiguren, die nicht gänzlich der normgebenden Sichtweise entsprechen, oftmals weniger für wertende Aussagen über sie selbst als vielmehr über jene männlichen Akteure, die mit ihnen im Kontext stehen. Ergänzt wird der Vergleich beider Frauenfiguren bei Tacitus mit der Perspektive Cassius Dios auf Boudicca, um die Nuancen historiographischer Darstellungen der Machtausübung von Frauen aufzuzeigen. Ein Exkurs über die germanische Akteurin Veleda bei Tacitus zeigt auf, dass sie ungeachtet ihrer, für Frauen gültigen Rolle als Seherin vom Historiographen besondere Erwähnung und mehrdeutige Zuschreibungen erhält.

6Vgl. Dixon 2001, 16–17: „[A]ll such references [to women] amount to male-centred fantasies and moral statements of what women should or should not be, whether they are nominally attached to individuals, to fictitious characters or to groups of women. What has been labelled women’s history is largely history of male-female relations or of men’s musings about women, usually in terms of women’s sexual and reproductive roles and with more moralising than observation […].“ 7Foubert 2010, 345. 8Zum Bild der römischen und vor allem aristokratischen Frau siehe u. a. näher Kolb 2010; Alexandridis 2000; Kunst 2000. 9Vgl. Stepper 2000, 62. 10Kunst 2007, 253. 11Tac. ann. I,1,3.

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2 Agrippina die Jüngere Agrippina die Jüngere tritt als Ehefrau von Kaiser Claudius und Mutter des späteren Kaisers Nero auf der Bühne der römischen Politik auf. Die von Tacitus verwendeten Zuschreibungen für Agrippina fußen überwiegend auf geschlechterbezogener Sprache, bei der sich männlich wie auch weiblich konnotierte Aspekte ambivalent gegenüberstehen. Tacitus betont zunächst in einer von einem Verbündeten Agrippinas vorgetragenen Lobrede ihre adlige Abstammung, ihre Fruchtbarkeit sowie ihre Sittsamkeit,12 um im 12. Buch der Annalen diese normativ weiblichen Züge dann mit Agrippinas scheinbar wahrer Motivation zu kontrastieren: mit Hilfe ihrer weiblichen Reize (Agrippinae inlecebris) ihr Streben nach Macht zu verwirklichen.13 So verführt sie nicht nur vor der Hochzeit ihren zukünftigen Ehemann, sondern veranlasst auch Gesetzesänderungen, die ihr erlauben, ihren Onkel zu heiraten.14 Neben dem daraus resultierenden Vorwurf der Blutschande (amor illicitus) unterstellt Tacitus Agrippina auch ein Verhältnis mit einem ehemaligen Sklaven, der nun ihr Verbündeter ist. Diese Betonung der negativen weiblichen Züge (Verführung) konfligiert bei Tacitus mit der ihr zugeschriebenen männlich konnotierten Härte und Entschlossenheit: Straff und gleichsam männlich [quasi virile] zog sie die Zügel der Sklaverei an; in der Öffentlichkeit zeigte sie Strenge und in der Regel Hochmut; in ihrem Haus gab es keine Sittenlosigkeit, außer wenn es ihrer Herrschsucht dienen konnte.15

Keinesfalls charakterisiert Tacitus Agrippina minor hier als passiv oder sich Claudius’ Herrschaft unterordnend, sondern im Kontrast dazu dominierend in ihrer aktiven Machtausübung. Hier wird Agrippina mit Begriffen der Herrschaft beschrieben, die bei Tacitus durch die Betonung ihrer Verführungskünste, Umstrickungen oder Ränkespiele jedoch als illegitime Herrschaft zu identifizieren sind.16 Dementsprechend ist sie nur quasi virile,17 denn diese Attribute der Macht in den Händen einer Frau transformiert Tacitus in einen notorischen Vorwurf der weiblichen Machtgier. Dieser Vorwurf wird durch die Erwähnung ihrer Sittenlosigkeit als Instrument zur Erlangung von Macht auf der sexuellen, aber

12Tac.

ann. XII,1,1; XII,5,3. ann. XII,3,1. 14Erst 342 n. Chr. wurde die eheliche Verbindung zwischen Nichte und Onkel wieder verboten, jedoch wurde dieses Gesetz bis dahin seit Claudius nur zwei Mal den Quellen nach in Anspruch genommen. Vgl. Barrett 1999, 116; sowie Barrett 1996, 102. 15Tac. ann. XII,7,3: Adductum et quasi virile servitium; palam severitas ac saepius superbia; nihil domi inpudicum, nisi omination expediret; cupido auri inmensa obtentum habebat, quasi subsidium regno pararetur; Übersetzung nach Heller. 16Vgl. Ginsburg 2006, 19–20. 17Zu dieser Ambivalenz und weiteren scheinbaren Widersprüchen in den taciteischen Annalen siehe Späth 2000, 128–30. 13Tac.

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auch moralischen Ebene erweitert und als typisch weiblich bewertet. Der Historiograph agiert in seinen Diskreditierungsstrategien mit der Vorhaltung scheinbar typisch weiblicher Verhaltensweisen: er unterstellt Agrippina, mittels ihrer körperlichen Reize eine privilegierte Position erlangen zu wollen. Es wird deutlich, dass Tacitus sie als Frau konstruiert, die Körperlichkeit als Mittel zur Einflussnahme und Machtaneignung nutzt und gleichzeitig die Gesetze missbraucht. Durch diese Zuschreibungen unterstreicht der Autor Agrippinas angebliche Unsittlichkeit und fehlende Moralvorstellung. Somit kann festgestellt werden, dass sich Agrippina in diesen Kontexten innerhalb der geschlechterspezifischen Rollenzuschreibung bewegt, ihre Handlungen von Tacitus jedoch als negativ bewertet werden. Somit liegt zunächst zwar scheinbar keine Grenzverletzung im Sinne einer Überschreitung der weiblichen Rolle bei Agrippina vor, denn ihr Spiel mit ihren Reizen sieht er ja als typisch weiblich an. Eine Normverletzung scheint er in dem von ihm angenommenen Einflusstreben Agrippinas aber auf jeden Fall zu identifizieren.18 Der Autor schildert aber nicht nur Agrippinas scheinbar weiblichen Strategien zur Machterlangung, sondern wie erwähnt auch ihre vermeintlich ständigen Versuche der „Ursurpation“ von mit Macht besetzten und somit männlichen Räumen. So lässt Tacitus Agrippina vor dem britannischen Anführer Caratacus nach dessen Begnadigung durch das Kaiserpaar als Herrschafts- und Würdeträgerin in der Öffentlichkeit auftreten; der Autor legt dadurch eine Gleichstellung des Kaisers und seiner Frau nahe. Darüber hinaus hebt er hervor, wie ungewöhnlich Agrippinas Machtakkumulation und Befehlsgewalt sei: Dann der Fesseln ledig, bezeigten sie [die Britannier] auch Agrippina […] mit gleichem Lob und Dank wie dem Kaiser ihre Verehrung. Es war freilich etwas Neues und gegenüber den Sitten der Alten ungewöhnlich, daß eine Frau das Kommando über römische Truppen führte: aber sie selbst wollte als Mitinhaberin der von ihren Vorfahren geschaffenen Herrschaft auftreten.19

Dass eine Frau nun selbst als Herrschaftsinhaberin und öffentliche Vertreterin ihrer gens auftritt, statt – wie sonst üblich – ausschließlich über männliche Mitglieder des Herrschaftshauses assoziiert zu werden, stellt für den römischen Historiographen eine äußerste Verletzung des passiv-unterstützenden Idealbildes einer Kaiserfrau sowie den Bruch der traditionellen Sitten dar. In diesem Zitat deutlich zu erkennen ist der an Agrippina exemplifizierte und symptomatische Vorwurf an nach Macht strebenden Frauen: im Ausdruck praesedisse feminam kulminiert der von Tacitus programmatisch verwendete Topos der dux femina. Mit der Wahl dieses ursprünglich auf Vergil zurückgehenden Ausdrucks für eine anführende Frau deutet Tacitus auf die paradoxe Kombination eines die männliche – und

18Vgl.

Späth 2000, 120. ann. XII,37,5–6: Atque illi vinclis absoluti Agrippinam quoque […] isdem quibus principem laudibus gratibusque venerati sunt, novum sane et moribus veterum insolitum, feminam signis Romanis praesidere: ipsa semet parti a maioribus suis imperii sociam ferebat.

19Tac.

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somit legitime – Herrschaft bezeichnenden Wortes wie praesedisse, potestas, imperare, ducere etc. mit dem Weiblichen (femina) hin.20 Darüber hinaus verbinden sich nach L’Hoir in der Beschreibung eines öffentlichen Auftritts während einer Naumachie in ann. XII,56 gleich drei Topoi, die Agrippina häufig vorgeworfenen werden: Die dux femina-Rolle manifestiert sich in ihrer Selbstinszenierung beim Vorsitz an der Seite des Kaisers, aber auch an ihrem goldenen Gewand (chlamydem auratam), denn chlamys ist eine militärische Tracht von Feldherren;21 hier eignet sich eine Frau also offenbar gleich zwei eigentlich männliche Sphären an, was der Autor als illegitim anprangert. Sieht man dies in Verbindung mit der bei Tacitus wenig später aufkommenden Beschuldigung Agrippinas der „weiblichen Unfähigkeit“ (impotentiam muliebrem, Tac. ann. XII, 57,2) durch Narcissus, die sich in ihrem Falle u. a. durch „weibliche Leidenschaft/ weibliches Murren“ (muliebriter fremere; Tac. ann. XIII, 13,1), „Hochmut dieser Frau“ (superbia muliebris; Tac. ann. XIII, 14,1) oder „weibliche Verführungskünste“ (muliebres inlecebras; Tac. ann. XIV, 2,1) zeigt, so erschließt sich, dass der Historiograph das Paradoxon der Figur Agrippinas betont.22 Agrippinas vermeintlichen Machtanspruch auf die Spitze treibend, berichtet Tacitus nicht nur von ihrem Versuch, den Vorsitz bei einer Senatssitzung zu erlangen,23 sondern er betont auch ihre hochmütige Selbstdarstellung auf lebhafte Weise: Auch ihren eigenen Rang erhöhte Agrippina weiter: mit einer Karosse fuhr sie aufs Kapitol, eine Ehre, die nur Priestern und geheiligten Gegenständen von alters her zugestanden ist und daher die Ehrwürdigkeit einer Frau steigerte, die als Tochter eines Imperators, als Schwester, Gattin, Mutter eines regierenden Fürsten bis auf den heutigen Tag ein einzigartiges Beispiel darstellt.24

In dieser Passage wird Agrippinas aktive Ergreifung der gesellschaftlichen Bühne, um ihre Herrschaft bzw. den Anspruch ihrer Herrschaft zu präsentieren, besonders deutlich. Tacitus unterstreicht seine Auffassung, dass sich hier die ganze Absurdität einer machthabenden Frau bzw. Frau mit Befehlsgewalt zeige, indem er Agrippinas Zugehörigkeiten zu männlichen gens-Vertretern über die Erwähnung

20Vgl.

Santoro L’Hoir 2006, 112–113. Ausführlicher zum Ursprung und Gebrauch dieses Topos auch in Verbindung mit dem Stereotyp der muliebris impotentia siehe ebd., 112–157. 21Verg. Aen. I,364. Vgl. auch Santoro L’Hoir 2006, 132. 22Vgl. Späth 2000, 130: „Die Fähigkeit zur rationalen Beherrschung ihrer Maßlosigkeit beschränkt sich nach dieser Aussage auf ein gleichsam taktisches Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele; die impotenta an sich ist damit noch nicht aus der Welt geschaffen, denn sie gehört zum Wesen des sexus natura invalidus.“ 23Tac. ann. XIII,5. 24Tac. ann. XII,42,2: Suum quoque fastigium Agrippina extollere altius: carpento Capitolium ingredi, qui honos sacerdotibus et sacris antiquitus concessus venerationem augebat feminae, quam imperatore genitam, sororem eius, qui rerum potitus sit, et coniugem et matrem fuisse unicum ad hunc diem exemplum est.

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ihrer eigentlichen Funktion, nämlich die der Tochter, Schwester, Gattin und Mutter, betont. Im Hinblick auf literarische Stereotypenbildung der gierigen und habsüchtigen Frau ist anzunehmen, dass Tacitus an dieser Stelle den Hybris-Topos auf Agrippina anwendet, welcher traditionell mit (göttlicher) Bestrafung verknüpft ist. Jedenfalls komponiert der Autor hier für den Lesenden unübersehbar geschickt sogenannte prodigia (Wunderzeichen/Vorzeichen) im Anschluss an diese Szene. So bricht in der Stadt eine Hungersnot aus; und wo Agrippina zuvor mit dem Wagen fuhr, lassen sich nach Tacitus nun diris avibus (Unglücksvögel) nieder. Deutlicher findet sich nur an wenigen Stellen Tacitus’ Urteil über aktive politische Bestrebungen und Herrschaftsansprüche einer Frau. Insgesamt lässt Tacitus Agrippinas Anspruch auf direkte Teilhabe an politischen Räumen als unverhältnismäßig und lächerlich erscheinen; ihr Versuch, sich öffentlich als Machtinhaberin bzw. Entscheidungsträgerin zu präsentieren und damit ihre Herrschaft kundzutun, beschreibt Tacitus an mehreren Stellen als gescheitert. Er räumt dieser Möglichkeit jedoch durch seine Schilderung diskursiv Platz ein. Parallel zur Übertretung der Geschlechtergrenzen durch Agrippinas Aneignung männlicher Aspekte unterliegt ihr Ehemann Claudius in den Annalen einem entgegengesetzten Prozess: Auffällig diskreditiert Tacitus den römischen Kaiser, indem er dessen Abhängigkeit von Agrippina25 sowie dessen Unterlegenheit ihr gegenüber mehrmals betont. Dieses verkehrte Rollenverhältnis legt den Grundstein für Tacitus’ Verständnis und seine Wahrnehmung des Kaiserpaars, denn er offenbart schon im ersten Satz des XII. Buches, dass Claudius „ein eheloses Leben nicht gewöhnt und von den Weisungen seiner Gemahlinnen abhängig war.“26 Claudius zeigt in den Schilderungen ständig fehlende Selbstkontrolle und Willensstärke.27 Durch seine hohe Beeinflussbarkeit sowie Anfälligkeit für Agrippinas sexuellen Reize wird er als Inhaber der patria potestas seiner domus und der damit verbundenen Aufgabe, „die Frauen, die ihrer [sc. der Männer] Rechtsgewalt unterstellt sind, in die Bahnen der gesellschaftlichen Ordnung zu lenken“, nicht gerecht. Denn: „Als unmännlich gilt, wenn ein Mann seinen Leidenschaften nachgibt oder einer anderen Person gehorcht; das Muster der Transgression männlicher Normen ist es, wenn sich ein Mann von einer Frau verführen lässt.“28 Und weiter: „Sie [in Verbindung mit Agrippina stehende Männer] handeln

25So

macht beispielsweise Thomas Wiedemann deutlich, dass es Claudius an Legitimationsressourcen für seine Herrschaft mangelte, welche durch die Heirat mit Agrippina als Verwandte Augustus’ gesichert wäre. Wiedemann 2002, 51. 26Tac. ann. XII,1,1: Caelibis vitae intoleranti et coniugum imperiis obnoxio. 27Die fehlende Entschlossenheit Claudius’ findet sich an mehreren Stellen. Plakativ u. a. in Tac. ann. XII,25,1–2, in dem er sich nicht nur überreden lässt, seinen Stiefsohn über seinen leiblichen Sohn zu stellen, sondern für die Rechtfertigung dessen vor dem Senat die Worte des Agrippina unterstützenden Freigelassenen Pallas wiederholt. 28Späth 2000, 125.

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in der Darstellung der Annalen nicht männlich selbstständig, sondern lassen sich von einer weiblichen Figur instrumentalisieren.“29 In diesem Sinne handelt Agrippina nicht nur innerhalb der weiblichen Norm transgressiv, sondern es können auch Transgressionen auf der Ebene der Geschlechterrollen entdeckt werden, da Agrippina sich als Frau männliche Machträume aneignet. Es scheint jedoch, dass Agrippina in beiden Geschlechterrollen von Tacitus als inadäquat wahrgenommen wird:30 Zum einen wiederspricht sie dem von einer Frau erwarteten sittlichen Verhalten und zum anderen wandelt sich nach Tacitus Annahme die männlich konnotierte Macht in Händen einer Frau zu einem illegitimen Aspekt, wodurch sie in der männlichen Rolle automatisch unzulänglich erscheint.

3 Boudicca Dass Transgressionsvorwürfe wegen vermeintlicher Aneignungsversuche männlicher und mit Macht besetzter Räume nicht nur Frauen des julisch-claudischen Kaiserhauses anhaften, verdeutlicht die Beschäftigung mit der Figur der britannischen Aufstandsführerin Boudicca im XIV. Buch der taciteischen Annalen. Die ikenische Boudicca findet in den taciteischen Annalen im Kontext eines Exkurses über die Geschehnisse in der römischen Provinz Britannien Erwähnung: Vor seinem Tod um 60 n. Chr. überträgt der ikenische Klientelkönig Prasutagus in seinem Testament das Königreich der Ikener*innen zu gleichen Teilen seinen beiden Töchtern und dem regierenden Princeps Nero (Tac. ann. XIV,31,1–2), um – so schreibt Tacitus – die Unabhängigkeit seines Reiches bzw. seine Nachfolge zu sichern und seine Familie vor römischen Übergriffen zu schützen. Den letzten Willen des Ikenerkönigs ignorierend, verheeren römische Truppen jedoch das Land, misshandeln seine Frau Boudicca sowie Mitglieder der dortigen Oberschicht und vergewaltigen die Töchter des verstorbenen Königs. Die Geschlechterrollen sind in dieser taciteischen Schilderung zunächst recht eindeutig und spiegeln die normative Auffassung der Kaiserzeit wider: Frauen als passive Empfängerinnen von Gewalt werden von Männern (hier: die aktiven Akteure) misshandelt und vergewaltigt. Die binären Oppositionen, die sich in diesem Fall offenbaren, können folgendermaßen zusammengefasst werden: männlich/weiblich, Täter/Opfer, römisch/britannisch, aktiv/passiv, frei/unfrei, unversehrt/versehrt, Macht/Ohnmacht etc.31 Tacitus verweist in seinem Bericht über Boudicca auf die spezifische Typologie des Weiblichen, indem er Boudiccas Rolle als Mutter und Beschützerin ihrer Töchter markiert und sie als Frau von Prasutagus vorstellt. Zugleich vertritt Boudicca traditionelle Werte, die von einer

29Späth

2000, 127. Ginsburg 2006, 20. 31Vgl. Holmes 2010, 161. 30Vgl.

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Matrona, der Ehefrau eines römischen Bürgers, erwartet wurden. Kehne verdeutlicht, dass es zum tugendhaften Verhalten einer römischen Frau, einer uxor bona, gehöre, Standhaftigkeit und Treue zur Familie in politisch unsicheren oder gefährlichen Zeiten zu zeigen;32 beides ist bei Boudicca deutlich zu erkennen. Vor diesem Hintergrund ist Adlers Bezeichnung Boudiccas als „wronged Roman matron“ nachvollziehbar, auch wenn es ihre Töchter sind, denen der Missbrauch zustößt.33 Mit welchem Zweck vollzieht Tacitus jedoch diese Angleichung? In der Literatur wird das häufig dahingehend interpretiert, dass die positive Darstellung von nicht-römischen Frauen u. a. ein Instrument der Anklage an das Verhalten römischer Frauen sei, die demnach sexuelle Anzüglichkeit, Überheblichkeit, Machtgier etc. zeigten (wie beispielsweise Agrippina die Jüngere). Diese als „Sittenspiegel“ bekannte Theorie34 wird vor allem in der Deutung der Werke Tacitusʼ angewendet, da diese zweifellos nicht nur ethnographischen und historischen, sondern auch politischen Motiven unterliegt. Zernack konstatiert dementsprechend: „Dabei entsteht aus der Kritik an den sittenlosen römischen Verhältnissen ein Weiblichkeitsideal mit verklärten Zügen.“35 Diese Angleichung Boudiccas an eine römische Matrona verhilft Tacitus indirekt auch dazu, seine Kritik an der römischen Gesellschaft ausbauen und das römische Vorgehen in Provinzialangelegenheiten bemängeln zu können: Die Tatsache, dass vermutlich Soldaten, Zenturionen oder gar Sklav*innen, welche Tacitus in ann. XIV,31,1 erwähnt (quod contra vertit, adeo ut regnum per centuriones, domus per servos velut capta vastarentur), die ikenischen Prinzessinnen missbrauchen und Boudicca misshandeln, stellt Grenzübertretung und Missachtung der Hierarchie dar. Sie verweist auf eine klare Verletzung der sozialen Ordnung und des Status’ als freie, dem Aristokratenstand zugehörige Frauen, mithin also auf eine starke Entwürdigung der Ikenerinnen; ihre pudicitia36 wird von unehrenhaften Personen geraubt, die sich über ihre eigene Stellung wie auch über jene der Frauen erheben.37 Die Ikenerinnen werden trotz oder gerade wegen ihres hohen sozialen Status’ Opfer

32Vgl.

Kehne 2004, 26 und 34. 2011, 124–126, inkl. Anm. 30. 34Als „Reflexive Zivilisationskritik, an eine römische Öffentlichkeit gerichtet“ zu verstehen, Timpe 2006, 184. Vgl. auch Syme 1958, 126: „Idealization of the savage (like that of the peasant), nourished on the discontents of the urban existence, lent colour and conviction to fancy pictures of primitive virtue and primitive felicity, with inevitable censure, loud or subtle, directed against luxury, complexity, and corruption.“ 35Zernack 1997, 215. 36Elke Hartmann beschreibt pudicitia als eine der wichtigsten weiblichen Tugenden des römischen Reiches, welche Schamhaftigkeit, Zurückhaltung der Begierden und sexuelle Treue verlangte und vor allem von römischen Matronen eingehalten werden sollte, um das geordnete Gemeinwesen instand zu halten. Vgl. Hartmann 2007, 171. 37Vgl. Braund 1996, 135: „The physical abuse of slaves by those of high status usually lay within the bounds of toleration of Roman morality, depending upon cause and context, but the reverse was revolution, the destruction of society itself, and particularly where the high-status victims have behaved with complete propriety.“ 33Adler

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der Gewalt von römischen Soldaten,38 was wiederum auf die Unfähigkeit des Feldherren verweist, diese unter Kontrolle zu halten. Das Verhalten der römischen Okkupationsmacht in Britannien führt zu einem Aufstand betroffener britannischer Gruppen und ihrer Verbündeten. In Spannung gesetzt zur vorherigen Darstellung Boudiccas verheeren und plündern nun wiederum die Aufständischen „barbarentypisch“ mehrere, vor allem von römischen Veteranen bewohnte Städte, bevor es zum Kampf gegen das römische Heer unter Suetonius Paulinus kommt. Wenn Tacitus kurz zuvor im Zuge der Zerstörung Londiniums (heutiges London) durch die Ikener*innen vom „wehrlosen Geschlecht“ schreibt, imbellis sexus,39 so meint er in diesem Kontext Frauen, wenn auch dort angesiedelte römische. Dieser Ausdruck steht jedoch diametral seiner Darstellung Boudiccas entgegen, die nach Tacitus nun aus der Rolle der Matrona heraustritt und sogar als Anführerin der Revolte erscheint. Jetzt lässt der Autor Boudicca ihr transgressives Verhalten mit der erlittenen Ungerechts- und Gewalterfahrung einer „einfachen Frau“ begründen. So heißt es in den Annalen: Boudicca, die ihre Töchter vor sich auf dem Wagen mitführte, beteuerte jedesmal, wenn sie bei einem Stamm angelangt war, gewöhnt seien es die Britannier zwar, unter der Führung von Frauen in den Krieg zu ziehen, jetzt aber wolle sie nicht als Sproß so hoher Ahnen für die Wegnahme von Reich und Reichtum, sondern wie eine Frau aus dem Volk für den Verlust der Freiheit, die körperlichen Mißhandlungen, die Schändung ihrer Töchter Rache nehmen.40

Auch wenn die taciteischen Schilderungen offenlassen, ob die Ikenerin selber mitkämpft, legt dennoch die bei Boudicca vollzogene Verknüpfung von Weiblichkeit und Krieg keine Anzeichen für Wehrlosigkeit o. Ä. nahe. Tacitus unterbreitet den Lesenden vielmehr genau das Gegenteil der römischen Auffassung vom weiblichen Geschlecht: Boudicca ergibt sich nicht passiv der (weiblichen) Opferrolle, sondern agiert aktiv, indem sie für sich und ihre Töchter Rache sucht. Sie übt Selbstjustiz und besitzt vor allem die Befehlsgewalt über die aufständischen britannischen Gruppen, unter der geplündert und gemordet wird (Tac. ann. XIV,33–34). Doblhofer merkt an, dass in der Antike die Rache für die Vergewaltigung einer Frau im erwarteten Handlungsbereich der männlichen

38Hier

sind es die Soldaten, die sich wiederum fast mit muliebris impotentia zu verhalten scheinen. Vgl. Späth 2012, 444–445: „[…] a thirst for booty and a greed for money are topoi hardly ever absent from Tacitus’ references to soldiers. However, this lack of restraint, in contrast to muliebris impotentia, is nowhere accounted for in terms of a soldierly nature.“ 39Tac. ann. XIV,33,1–2: Si quos imbellis sexus aut fessa aetas vel loci dulcedo attinuerat, ab hoste oppressi sunt. So auch in Tac. ann. XIV,36,1. 40Tac. ann. XIV,35,1: Boudicca curru filias prae se vehens, ut quamque nationem accesserat, solitum quidem Britannis feminarum ductu bellare testabatur, sed tunc non ut tantis maioribus ortam regnum et opes, verum ut unam e vulgo libertatem amissam, confectum verberibus corpus, contrectatam filiarum pudicitiam ulcisci.

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Angehörigen liegt.41 So wird bei Tacitus zwar Boudiccas weibliche Rolle als Mutter hervorgehoben, doch mit der männlich konnotierten Aktivität in Form von Rache verknüpft42 und damit die Transgressionsebene wiederholt unterstrichen. Die Vielschichtigkeit der taciteischen Konstruktion beziehungsweise das Paradoxe dieses Transgressionsprozesses offenbaren sich weiter: Dass gerade Boudicca als Frau dazu entschlossen oder bestimmt ist (id mulieri destinatum, Tac. ann. XIV,35,2), gegen die römischen Mächte zu kämpfen, begründet sich jedoch gerade in ihrem Frau-Sein; denn es sind vor allem die Körper der Frauen, an denen sich eine Niederlage durch Verschleppung, Misshandlung oder gar Vergewaltigung leidvoll zeigt. Übergreifend lässt sich also beobachten, dass Boudicca zwar mit römischen Frauentugenden assoziiert wird und dadurch Mitgefühl und Sympathie generieren kann, jedoch zugleich fremd erscheint. Denn einerseits werden die zuvor stets als Britanni bezeichneten Akteur*innen in der Schilderung um die Brandschatzungen in Britannien zu barbari (Tac. ann. XIV,32,2), andererseits katapultieren weitere vom Autor verwendete barbarentypische Topoi (wie der Streitwagen) in Kombination mit der römisch-untypischen weiblichen Führung des Aufstandes die Ikenerin ins Andersartige. Festzustellen ist somit, dass Tacitus’ Boudicca einem textinternen Wandel unterliegt, indem sie von einer heroischen, sittlichen und teilweise römischen Mutter zu einer erbarmungslosen und männlichen „Anderen“ transformiert. Interessanterweise wird Boudicca wiederum erst zur erwähnenswerten und handelnden Protagonistin in den Annalen, wenn sie aktiv und somit männlich handelt. Dies lässt sich wohl damit erklären, dass öffentliche Orte und Ränge (wie die eines Heerführers) männlich besetzte Räume sind, in denen Männer gesellschaftliche Anerkennung erwerben können. So schlussfolgert Kunst: „Jede darüber [über den Raum der domus] hinausgehende selbstständige Aktivität wurde als monströses, die Grundordnung bedrohendes Verhalten aufgefaßt und gefährdete die weibliche Ehre […].“43 Boudicca stellt also eine Bedrohung für die Verhaltensnormen, getrennten Handlungsbereiche und gesellschaftliche Ordnung dar. Ihre Beschreibung als kriegstreibender „Barbar“ ist jedoch kein Einzelfall;44 sie zeigt auf, dass neben dem „Barbaren“-Topos der Frau als Opfer des Krieges auch jener der Frau als Kriegerin besteht. Boudicca vereint beide Topoi. Den letztgenannten Topos lässt Tacitus die Ikenerin in ihrer Rede vor ihren Truppen lancieren; er lässt sie sagen,

41Vgl.

Doblhofer 1994, 52. Santoro L’Hoir 2006, 141. Keegan merkt hingegen an, dass Rache ein typisches Frauenmotiv sei, welches sich bei Tacitus finde und u. a. bei Messalina erkennbar wäre. Vgl. Keegan 2004, 119. 43Kunst 2007, 253. 44Siehe für die anderen kriegerischen Frauen in der Historiographie: Bruder 1974, 129–135. Vgl. Parks 2008, 269: „Representing the involvement of women in combat is a commonplace in Graeco-Roman literature for describing „the Other“.“ 42Vgl.

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weibliche Führung von Truppen sei unter Britannier*innen keine Seltenheit. Nahezu ad absurdum führt Tacitus diese Boudicca in den Mund gelegte Aussage über die Gängigkeit der weiblichen Herrschaft bei den Britannier*innen, indem er an anderer Stelle einen Britannier, nämlich Calgacus, seinen Truppen die Außergewöhnlichkeit der Rolle Boudiccas vor Augen führen lässt.45 Es könnte der Eindruck gewonnen werden, dass trotz des topischen Charakters weibliche Führung lediglich aus römischer Sicht extraordinär und somit transgressiv erscheint, vermutlich jedoch nicht in Boudiccas eigener Lebenswelt.46 Wie andere weibliche Charaktere der Annalen, so trägt auch die Figur Boudiccas männliche und weibliche Konnotationen in sich. Ihre Motive für die Rebellion und auch teilweise ihre Argumente können der weiblichen (und römischen) Sphäre zugeordnet werden, da sie an die Mutterrolle geknüpft sind (Schutz ihrer Töchter etc.). Eher männlich (hier also barbarisch) erscheint ihre Aktivität vor allem im Kriegskontext, in ihrer Rolle als Anführerin der Revolte, in ihren Gedanken an Rache, in der Stärke, die ihre Ansprache enthält, sowie in ihrem taktischen/strategischen Denken. Diese Transgressionsprozesse, welche im hoch ambivalenten und vielschichtigen Bild der taciteischen Boudicca zu finden sind, kulminieren im Topos der dux femina, den der Historiograph in seinen Annalen XIV,35,1 aufführt: Boudicca curru filias prae se vehens, ut quamque nationem accesserat, solitum quidem Britannis feminarum ductu bellare testabatur […].47 Die Ambivalenz des dux femina-Begriffs aufnehmend, ruft Tacitus parallel zu diesem scheinbaren Vermännlichungsprozess Boudiccas durch mehrere rhetorische Mittel die Assoziation der gesamten britannischen Aufständischen mit dem Weiblichen hervor. So versieht er seine Schilderungen um die Britannier einerseits mit auffällig alliterativen und negativ konnotierten Adjektiven wie furiarum, ferali, faces, fundentes, fanaticum und setzt sie in Kombination mit feminis. Andererseits lässt er auf spöttische Weise den römischen Befehlshaber Suetonius Paulinius die Existenz von Frauen in den britannischen Kampfesreihen betonen, womit die weibliche Präsenz als Schwächung der Truppenstärke wahrgenommen werden soll.48 Folgt man Shumate, so würde die letztendliche Rückführung Boudiccas und der Ikener*innen ins Feminine als Legitimationsfaktor für die imperialistischen Handlungen dienen.49 Der Sieg der römischen Soldaten über die feminisierten „Barbaren“ lässt Tacitus dadurch als folgerichtiges Ergebnis der Schlacht dastehen, um das Männliche wiederholt über das Weibliche siegen zu

45Tac.

Agr. 31,4. Macdonald 1987, 43. 47Ähnlich auch in Tac. Agr. 16,1 zu finden: Boudicca generis regii femina duce (neque enim sexum in imperiis discernunt) sumpsere universi [Britanni] bellum. 48„Unkriegerisch und waffenlos, würden sie sofort weichen, sobald sie das Schwert und die Tapferkeit der Sieggewohnten […] wieder erkannt hätten“ Tac. ann. XIV,36,1: imbelles, inermes cessuros statim, ubi ferrum virtutemque vincentium totiens fusi agnovissent. 49Shumate 2012, 491. 46Vgl.

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lassen. Die Schande, von einer dux femina dominiert zu werden, kann scheinbar nur durch ihre Eroberung beziehungsweise ihren Tod getilgt werden.

3.1 Boudicca bei Cassius Dio Auch in der Römischen Geschichte von Cassius Dio wird der Aufstand – dort jedoch auf eine etwas andere Art – beschrieben und vor Boudiccas Ansprache vor allem fiskale Motive präsentiert, die zum Aufstand der Ikener*innen geführt haben sollen (Cass. Dio LXII,1–12). Im Gegensatz zu Tacitus, der uns keine äußerlichen Beschreibungen zu Boudicca liefert,50 widmet Dio ihrem Erscheinungsbild einen ganzen Abschnitt. Dabei zeichnet er ein Bild von ihr, das auf ein anderes Körperverständnis als bei Tacitus hindeutet. Wenn Tacitus Boudicca und ihre Töchter als geschändete Frauen aristokratischer Herkunft darstellt, deren Leiber durch externen Einfluss gezeichnet werden, so vermittelt Dio eine Vorstellung, die wesentlich bildhafter ist: Sie selbst war hochgewachsen, gar furchterweckend in ihrer Erscheinung, und ihr Auge blitzte. Dazu besaß sie eine raue Stimme. Dichtes hell-blondes Haar fiel ihr herab bis zu den Hüften, den Nackenumschlang eine große goldenen Kette, und der Leibrock, den sie trug, war buntfarbig und von einem dicken Mantel bedeckt, der durch eine Fibel zusammengehalten wurde. Damals nun ergriff sie eine Lanze, um auch auf diese Weise ihre sämtlichen Zuhörer in Schrecken zu versetzten, und hielt folgende Ansprache: […].51

Die von Dio benutzten Adjektive, von denen manche gar im Superlativ stehen (βλοσυρωτάτη, δριμυτάτη, ξανθοτάτην), vermitteln etwas Wildes, Drohendes und Angsteinflößendes – also Merkmale, die auf das erwartete Bild einer Frau in der griechisch-römischen Gesellschaft nicht passen würden. Dio greift hier auf das gängige literarische Mittel der antiken Geschichtsschreibung zurück, mit der Darstellung des Äußeren eines Feindes/einer Feindin, wenn es denn überhaupt Erwähnung findet, einen schreckenerregenden Eindruck zu erzeugen. Dabei spielen die Bewaffnung sowie die Betonung der Körpergröße in literarischen

50Es

soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Tacitus nicht selten das körperliche Erscheinungsbild von Akteur*innen darstellt und dabei durchaus auch physiognomische Elemente nutzt. Neben den typologischen Beschreibungen von German*innenwerden auch Protagonist*innen der römischen Gesellschaft mit Körper-/Seelenzuständen beschrieben. Vgl. Evans 1969, 48–49. 51Cass. Dio LXII,2,3–4: […] ἦν δὲ καὶ τὸ σῶμα μεγίστη καὶ τὸ εἶδος βλοσυρωτάτη τό τε βλέμμα δριμυτάτη, [4] καὶ τὸ ϕθέγμα τραχὺ εἶχε, τήν τε κόμην πλείστην τε καὶ ξανθοτάτην οὖσαν μέχρι τῶν γλουτῶν καθεῖτο, καὶ στρεπτὸν μέγαν χρυσοῦν ἐϕόρει, χιτῶνά τε παμποίκιλον ἐνεκεκόλπωτο, καὶ χλαμύδα ἐπ᾽ αὐτῷ παχεῖαν ἐνεπεπόρπητο. οὕτω μὲν ἀεὶ ἐνεσκευάζετο: τότε δὲ καὶ λόγχην λαβοῦσα, ὥστε καὶ ἐκ τούτου πάντας ἐκπλήττειν, ἔλεξεν ὧδε; Übersetzung nach Veh.

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­ arstellungen eine zentrale Rolle und können somit als topische BetrachtungsD weise entlarvt werden.52 Der Speer, den Dio in seiner Schilderung Boudicca in die Hand legt, könnte der Unterstreichung ihres kriegerischen und männlichen Auftretens dienen; in seiner Konstruktion der Ikenerin als männlich und außerhalb des normativ Weiblichen stehend kann deshalb ein deutlich transgressives Element erblickt werden. Durch die Betonung der Männlichkeit, der Kampfeslust und auch der Fremdheit und des Exotismus’ vermittelt sich der Eindruck Boudiccas als stereotyper „Barbar“ par excellence. Diesem Bild stellt Dio den Topos des „edlen Wilden“53 auf rhetorische Weise entgegen: Die dionische Boudicca präsentiert in ihrer Rede eindringlich die Freiheitsliebe und verbindet sie mit der Armut der Britannier*innen,54 während durch die Gegenüberstellung der geldlosen britannischen Gesellschaft und der monetären und luxusbedürftigen römischen Gesellschaft gleichzeitig das Motiv der Genügsamkeit betont wird.55 Parallel dazu charakterisiert Dio die Ikenerin bzw. die Britannier*innen als Opfer des römischen Profitgedankens.56 Boudiccas Rede bei Dio wie auch ihr darin präsentierter Mut könnten als Idealisierung der Ikenerin und auch der britannischen Gesellschaft aufgefasst werden; eine solche Idealisierung ließe sich wiederum als Vehikel der Kritik Dios am Verlust der traditionellen römischen Werte und Normen des neronischen Roms verstehen. Somit wäre die Verklärung der von Luxus- und Profitgedanken unberührten Landschaft und Personen mit Dios Beschwerde über die Dekadenz und die dadurch vollzogene Verweichlichung der römischen Gesellschaft verknüpft.57 Aber gerade diese anscheinende Überhöhung von Boudicca als Hüterin der Tugend erfährt durch die Geschehnisse nach ihrer Rede in Dios Darstellung eine Umkehrung – nun berichtet er von grausamen Verstümmelungen der Römerinnen während der Plünderung und Brandschatzung der römischen Kolonien in Britannien: Die entsetzlichste und bestialischste Grausamkeit aber bestand in dem Folgendem: sie hängten die vornehmsten und schönsten Frauen nackt auf, schnitten ihnen die Brüste ab und hefteten sie an ihren Mund, so daß es aussah, als verzehrten die Unglücklichen diese

52Vgl.

Günnewig 1998, hier im Kontext des antiken Germanenbildes bei Plutarch (32–34), der sich wiederum auf Poseidonius bezieht, sowie Caesar, Florus und Appian (45–46). 53Vgl. Shumate 2013, 86: „The savage is imagined to live in a state of perfect freedom, construed as freedom from any crippling social constraint that would distort his naturally good character. […] A basic common denominator unifying disparate Noble Savage narratives is the idea that civilization, by which is meant the writer’s civilization. Carries within itself the potential to be a debilitating and corrupt force, along with corresponding elevation of ‚nature‘ and the natural, whatever that might mean.“ 54Cass. Dio LXII,3,1; Cass. Dio LXII,3,4–5. 55Cass. Dio LXII,5,5. 56Cass. Dio LXII,4,3. 57Vgl. Adler 2011, 150.

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Körperteile; dann spießten die Briten sie an spitzen Pfählen auf, die sie der Länge nach durch den ganzen Körper trieben.58

Auch hier sind es wieder Superlative („entsetzlichste und bestialischste“ – δεινóτατον καì θηριωδέστατον), die die Handlungen der Ikener*innen unter Boudiccas angenommener Führung beschreiben und als besonders grausam, unmenschlich und abnormal kennzeichnen. Die von Boudicca zuvor geäußerte Kritik an der Brutalität römischer Herrschaft in Britannien wird mit der Rohheit der Aufständischen konterkariert, das lässt ihre Argumente als ungerechtfertigt und doppelmoralistisch erscheinen. Dio schreibt Boudicca Charakteristika zu, welche einerseits abnorm, unnatürlich, fremd und überwiegend negativ anmuten und somit den barbarischen Anteil Boudiccas konturieren, andererseits, vor allem in ihrer Rede, jedoch verklärt, erstrebenswert und positiv erscheinen. Diese Ambivalenz lässt sich also bei beiden Historiographen herausarbeiten. Nennenswerter Unterschied zwischen Tacitus’ und Dios Version von Boudicca ist hingegen, dass die Ikenerin bei Dio ihre mütterlichen Elemente verliert; es findet sich keinerlei Rede von ihren Töchtern und auch keine Erwähnung eines Missbrauchs oder Verbrechens an ikenischen Frauen.59 Somit verbleibt die in Dios Version geschilderte Weiblichkeit Boudiccas im Symbolischen und erscheint durch eine ironisch wirkende Ausführung sogar noch herabwürdigend: „[Boudicca], eine Britin aus königlichem Geschlecht und klüger, als Frauen gewöhnlich ist.“60 Seine Aussage könnte auch apologetisch für die temporäre Niederlage der Römer beziehungsweise die Zerstörung der im Text erwähnten Städte unter Boudiccas Führung stehen; denn gegen eine „normale“ Frau minderer Intelligenz zu siegen könnte in Dios Verständnis möglicherweise eine noch größere Schande darstellen als einer bemerkenswert intelligenten (und männlichen) Frau zu unterliegen. So oder so – die dionische Boudicca und ihre changierenden gender-Rollen dienen Dio zur Markierung von pervertierten Geschlechterverhältnissen, die er sie in ihrer Rede offenkundig thematisieren lässt. So heißt es zum Abschluss ihrer Rede: Ich herrsche weder über lastentragende Ägypter wie einstmals Nitocris noch über handeltreibende Assyrer wie Semiramis – denn davon haben wir schon durch die Römer erfahren –, viel weniger über die Römer selbst wie ehedem Messalina und später Agrippina und jetzt Nero, der zwar dem Namen nach ein Mann, tatsächlich aber ein Weib ist, wie er durch seinen Gesang, sein Leierspiel und seinen Putz bestätigt hat. […] sofern wir Menschen als Männer bezeichnen dürfen, die in warmen Wasser baden, künstlich zubereitete Leckerbissen verspeisen, ungemischten Wein trinken, sich mit Myrrhen einsalben, auf ­

Dio LXII,7,2: Δεινοτάτων ἔστιν ὅ τι οὐκ ἐγίνετο. καὶ ὃ δὴ δεινότατον καὶ θηριωδέστατον ἔπραξαν: τὰς γὰρ γυναῖκας τὰς εὐγενεστάτας καὶ εὐπρεπεστάτας γυμνὰς ἐκρέμασαν, καὶ τοὺς τε μαστοὺς αὐτῶν περιέτεμον καὶ τοῖς στόμασί σϕων προσέρραπτον, ὅπως ὡς καὶ ἐσθίουσαι αὐτοὺς ὁρῷντο, καὶ μετὰ τοῦτο πασσάλοις ὀξέσι διὰ παντὸς ποῦ σώματος. 59Vgl. Macdonald 1987, 45. 60Cass. Dio LXII,2,2: Βουδουῖκα ἦν, γυνὴ Βρεττανὶς γένους τοῦ βασιλείου, μεῖζον ἢ κατὰ γυναῖκα ϕρόνημα ἔχουσα. 58Cass.

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weichen Polstern mit Knaben […] als Bettgenossen schlafen und als Sklaven einem ­Leierspieler, und zwar einem schlechten, dienen. Daher möge diese Frau Domitia-Nero nicht mehr länger über mich oder über euch Männer gebieten; laßt nur das Weib singen und seine Römer beherrschen – verdienen sie es doch sicherlich, Sklaven solch einer Frau zu sein, nachdem sie sich so lange unter ihre Tyrannis gebeugt haben.61

Hier grenzt sich die dionische Boudicca nicht nur selbst von anderen – und im Falle der Akteurinnen der julisch-claudischen Dynastie (Agrippina und Messalina) – in der griechisch-römischen Historiographie negativ konnotierten Frauen ab, sondern erwähnt auch Nero als Mann in der Aufzählung explizit weiblicher Machtinhaber*innen. Daraus lassen sich mehrere Schlüsse ziehen: Zum einen reiht Dio Boudicca in die Liste machtbewusster Frauen der Geschichte ein und ordnet sie dadurch indirekt dem Weiblichen zu. Zum anderen ordnet er durch Boudicca Nero als effeminierten Mann direkt dem Weiblichen zu. Darüber hinaus wird durch die Andeutung von Neros Weiblichkeit gleichzeitig auch Boudiccas eigene Männlichkeit betont. Ihr Selbstverständnis erscheint in der dionischen Version nicht nur darauf abzuzielen, dass sie als Frau besser ist als römische Frauen, sondern auch besser als ein römischer Herrscher. Wir können also vermuten, dass Dios gleichzeitige Betonung von Boudiccas männlichen und Neros weiblichen Attributen die Umkehrung der heteronormativen Rollenverhältnisse, wie sie die römische Leserschaft des Autors kennt suggeriert, und zudem als explizite Kritik an der (unmännlichen) Regierungsweise Neros und seinen öffentlichen Auftritten verstanden werden soll. Die Effemination von Akteuren ist ein in der Antike gängiges Mittel zur Beanstandung politischer Verhältnisse und wird in der Kaiserzeit vor allem gegen jene Principes angewandt, die sich „in besonderer Weise feindselig gegenüber dem Senat und der von ihm gehüteten Tradition verhielt[en]“.62 Dabei kann die Markierung von Boudiccas Körper mit männlichen Attributen als symptomatisch für die politische Unordnung der römischen Gesellschaft und anscheinend verdrehte Geschlechterrollen gelesen werden.63 61Cass. Dio LXII,6,2–5: Καὶ προσεπικαλοῦμαί σε γυνὴ γυναῖκα, οὐκ Αἰγυπτίων ἀχθοϕόρων ἄρχουσα ὡς Νίτωκρις, οὐδ´ Ἀσσυρίων τῶν ἐμπόρων ὡς Σεμίραμις (καὶ γὰρ ταῦτ´ ἤδη παρὰ τῶν Ῥωμαίων μεμαθήκαμεν), οὐ μὴν οὐδὲ Ῥωμαίων αὐτῶν ὡς πρότερον μὲν Μεσσαλῖνα ἔπειτ´ Ἀγριππῖνα νῦν δὲ καὶ Νέρων (ὄνομα μὲν γὰρ ἀνδρὸς ἔχει, ἔργῳ δὲ γυνή ἐστι· σημεῖον δέ, ᾄδει καὶ κιθαρίζει καὶ καλλωπίζεται) […] εἴ γε καὶ ἄνδρας χρὴ καλεῖν ἀνθρώπους ὕδατι θερμῷ λουμένους, ὄψα σκευαστὰ ἐσθίοντας, οἶνον ἄκρατον πίνοντας, μύρῳ ἀλειϕομένους, μαλθακῶς κοιμωμένους, μετὰ μειρακίων, καὶ τούτων ἐξώρων, καθεύδοντας, κιθαρῳδῷ, καὶ τούτῳ κακῷ, δουλεύοντας. Μὴ γάρ τοι μήτ´ ἐμοῦ μήθ´ ὑμῶν ἔτι βασιλεύσειεν ἡ Νερωνὶς ἡ Δομιτία, ἀλλ´ ἐκείνη μὲν Ῥωμαίων ᾄδουσα δεσποζέτω (καὶ γὰρ ἄξιοι τοιαύτῃ γυναικὶ δουλεύειν, ἧς τοσοῦτον ἤδη χρόνον ἀνέχονται τυραννούσης), ἡμῶν δὲ σὺ ὦ δέσποινα ἀεὶ μόνη προστατοίης. 62Vgl. Stickler 2007, 277–293. 63So für die römische Gesellschaft vgl. Kunst 2007, 251–252: „Gesellschaftliche Unordnung wurde spätestens im 1. Jahrhundert v. Chr. neu chiffriert und nun vorrangig als Sittenverfall gedeutet, bei dem der geschlechtlichen Transgression von Frauen eine bedeutende Rolle zukam. […] Der Körper der Frauen wird geradezu zur Metapher für das intakte Gemeinwesen. […] Die

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Es ist jedoch auch denkbar, dass Dio Boudicca Anmerkungen zu den römischen Herrschaftsverhältnissen machen lässt, um ihren Hochmut anzuprangern; schließlich maßt sie sich bei Dio das Selbstverständnis an, als weiblicher „Barbar“ (und Feindin) über anderen zu stehen. Der spätere Sieg des römischen Heers über Boudicca könnte demzufolge nicht nur als Wiederherstellung des gewohnten Geschlechterverhätnisses, sondern auch als Vergeltung dieser Hybris gedeutet werden.

4 Exkurs: Veleda bei Tacitus Agrippina die Jüngere und Boudicca sind beide Protagonistinnen, die von Tacitus wie auch von Dio sehr explizit als duces feminae charakterisiert und somit subtil für ihr Verhalten verurteilt worden sind. Neben diesen zwei Frauenfiguren wurden noch einige andere für ihre (Intention zur) Ausübung bzw. Aneignung von männlich konnotierten und konstruierten Bereichen in der griechisch-römischen Historiographie mit negativen Konnotationen belegt. Als eine Art Sonderfall kann bei Tacitus im vierten und fünften Buch der ca. 110 n. Chr. veröffentlichten Historien die germanische Seherin Veleda betrachtet werden. Veleda gehörte zu den rechtsrheinischen Brukterern und erscheint in Verbindung mit dem 69 n. Chr. aufkommenden Bataverauftstand unter der Führung des Batavers Julius Civilis.64 In vielerlei Hinsicht entspricht Veleda der im ersten, allgemeinen Teil der Germania dargelegten Typisierung einer germanischen Frau: Sie ist Jungfrau (Tac. hist. IV,61,2), was scheinbar als Grundvoraussetzung für prophetische Fähigkeiten galt und sie dadurch zur taciteischen Konstruktion der Brigantenkönigin Cartimandua abgrenzt.65 Durch Veledas Betätigung im religiösen Feld bewegt sich die Prophetin im normativen Handlungsbereich der in der Germania präsentierten Germaninnen und unterstützt mit Hilfe ihrer Weissagung (Tac. hist. IV,61,2) militärische Überlegungen der Germanen im Vorfeld, anstatt wie Boudicca direkte militärische Handlungen zu initiieren. Sieht man auf Schilderungen Veledas in den Historien in Verbindung mit der Germania, so führt das jedoch zu einem differenzierteren Blick auf die sonst selten behandelte Protagonistin.

64Näheres

zum Bataveraufstand siehe u. a. Timpe 2005.

Virilität ihres [Agrippina maior] Verhaltens wird mit dem potenziellen Verlust an Männlichkeit des Tiberius und Germanicus kontrastiert.“ 65Tacitus kennzeichnet Cartimandua nämlich mit Wollust. Tac. hist. III,45,2: pro marito studia civitatis, pro adultero libido reginae et saevitia; Übersetzung nach Joseph Borst 2011.

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Bei der Betrachtung der ersten Hälfte des siebten Kapitels der Germania wird deutlich, dass die Stellung der sogenannten duces nicht – wie bei Königen (reges) – von aristokratischer Herkunft, sondern beispielsweise von militärischen Erfolgen und darauffolgender Anerkennung abhängt.66 Diese Stelle der Germania scheint für die Betrachtung Veledas zunächst irrelevant zu sein. Vergleicht man nun aber die Germania-Passage mit jenen Stellen aus den taciteischen Historien, in denen Veledas Wirken beschrieben wird, so werden Ähnlichkeiten sichtbar: Der Faktor der Anerkennung für gewisse, der Gesellschaft dienende Taten findet sich auch bei Veleda – wenn auch nur für Prophezeiungen im Hinblick auf militärische Sachverhalte und nicht für direkte militärische Verdienste. Tacitus betont ausdrücklich, dass Veleda hohe Bedeutung erlangte, da sie den Ausgang der Schlacht zwischen den Batavern unter Civilis und den Römern vorhersagte. Im vierten Buch der Historien stellt Tacitus sie folgendermaßen vor: Diese [Veleda] war eine Jungfrau aus dem Stamm der Brukterer, die weithin über die Geister herrschte, auf Grund der altgermanischen Sitte, wonach sehr viele Frauen für prophetisch, bei einer Steigerung des Aberglaubens für göttlich gehalten werden. Damals stieg Veledas Ansehen bedeutend; sie hatte nämlich den Germanen ihren Erfolg, d. h. die Vernichtung der Legionen, vorausgesagt.67

Auffällig sind hier die beiden Begriffe imperare und auctoritas. Sie deuten darauf hin, dass die Prophetin tatsächlich Befehlsgewalt besessen oder sogar geherrscht haben könnte, ähnlich den oben genannten duces, also nicht wie in der Übersetzung von Joseph Borst nur über „die Geister”, Sondern auf politischer Ebene.68 Wie bereits dargestellt beschreiben beide Begriffe nach Santoro L’Hoir ursprünglich legitime Formen der männlichen Herrschaft.69 Sie auf eine Frau zu verlagern, würde nach Tacitus’ Auffassung die illegitime Herrschaft einer Frau kennzeichnen. Die Annahme, dass der Historiograph somit auch Veledas Wirken als grenzüberschreitend ansah, lässt sich untermauern, wenn die taciteische Vorstellung der Brigantenkönigin Cartimandua mit einbezogen wird. Dort heißt es:

66Tac.

Germ. 7,1: Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt. nec regibus infinita ac libera potestas, et duces exemplo potius quam imperio, si prompti, si conspicui, si ante aciem agant, admiratione praesunt. 67Tac. hist. IV,61,2: ea virgo [sc. Veleda] nationis Bructerae late imperitabat, vetere apud Germanos more, quo plerasque feminarum fatidicas et augescente superstitione arbitrantur deas, tuncque Veledae auctoritas adolevit; nam prosperas Germanis res et excidium legionum praedixerat. 68Zu ähnlichem Schluss kommt auch Baltrusch 2012, 85. 69Vgl. Santoro L’Hoir 1994, 5. Neben auctoritas und imperium bzw. imperare sind dominatio und servitium weitere Bezeichnungen dieser Kategorie.

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Cartimandua herrschte über die Briganten, wo sie durch ihre vornehme Abstammung von großem Einfluß war; ihre Macht hatte sich noch erhöht, als sie durch die listige Gefangennahme des Königs Caratacus zum Triumphzug des Claudius Cäsar wesentlich beigetragen zu haben schien. So kam sie zu Reichtum und zur Möglichkeit, ihr Glück verschwenderisch zu genießen.70

Im Vergleich der beiden Frauenbeschreibungen sticht zunächst die Ähnlichkeit der Konstruktion des ersten Teilsatzes heraus: Veledae, ea virgo nationis Bructerae late imperitabat und Cartimandua Brigantibus imperitabat. Beide Akteurinnen, die jeweils mit dem Verb imperare versehen sind, werden in Beziehung zur Gruppe gesetzt (Brukterer bzw. Briganten), über die sie jeweils herrschen. Im weiteren Satzverlauf sind zwar keine erneuten formalen Gemeinsamkeiten auszumachen, inhaltlich sind in beiden Fällen jedoch eine Ansehenssteigerung (Veledae auctoritas adolevit und aut auxerat potentiam) und der Grund dafür erwähnt. Tacitus bewertet hier die unterschiedliche Art und Weise der Ansehenssteigerung beider Frauen: Cartimandua gelangt per dolum (List/Arglist) zu größerer Macht, Veleda durch einen der Frauenrolle zugedachten Handlungsbereich, der Weissagung. Bringt man nun diese Parallelen der Beschreibungen der Germanin und der Brigantin (und die werkimmanente Nähe beider Stellen) mit der eindeutig negativen Konnotation Cartimanduas71 in den taciteischen Werken zusammen, so kann nicht ausgeschlossen werden, dass ähnliche Assoziationen einer illegitimen Frauenherrschaft in Bezug auf Veleda vom antiken Autor beabsichtig sind. Darüber hinaus ist eindrucksvoll, dass Veleda gemeinsam mit Civilis als Vermittlerin beim Schiedsgericht zwischen den Tenkterern und Agrippinensern angefordert wird. Die Anerkennung ihrer Positionen über ihre Bezugsgesellschaft hinaus wird hier impliziert. Scheinbar nehmen beide gleichwertige Rollen dabei ein, was – nach beendeten Gesprächen und der Herstellung einer Bundesgenossenschaft – anhand der Gesandtschaft, die beide „mit allerlei Gaben“ beschenkt (missi cum donis cuncta, Tac. hist. IV,65,4), herauslesbar ist. Im allgemeinen Teil der Germania berichtet Tacitus von ähnlichen Umständen, in denen germanische principes von Gesandten Geschenke als Anerkennung ihrer Macht auch über ihre gentes hinaus erhalten.72 Kann also die Gegenüberstellung der Passagen aus der Germania und den Historien im Umkehrschluss aufdecken, dass Tacitus diese Germanin als Teil der germanischen Führungselite darstellt? Baltrusch statuiert jedenfalls, dass Veleda

70Tac.

hist. III,45,1: Cartimandua Brigantibus imperitabat, pollens nobilitate; et auxerat potentiam, postquam capto per dolum rege Carataco instruxisse triumphum Claudii Caesaris videbatur. inde opes et rerum secundarum luxus. 71Vgl. u. a. Kehne 2004, 23–24. 72Tac. Germ. 8,3: Nec solum in sua gente cuique, sed apud finitimas quoque civitates id nomen, ea gloria est, si numero ac virtute comitatus emineat; expetuntur enim legationibus et muneribus ornantur et ipsa plerumisque fama bella profligant; Übersetzung nach Fehrle.

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„vermittels der religiösen Fähigkeiten politisch eigenständig handelnd wie ein Heerführer oder König“ sei.73 Zumindest legen die Entsprechungen zwischen der Beschreibung Veledas und den männlichen Rangobersten die Annahme nahe, dass sich diese nicht unähnlich sind. Folgen wir dieser These im Wissen darum, dass Tacitus eine generelle Abneigung gegenüber weiblicher Befehlsgewalt hegt, Veleda aber mit machtbesetzten Begriffen belegt, so verwundert es weniger, dass die politische Führung der germanischen Gesellschaft in der Germania generell als schwach dargestellt wird.74 Anders gesagt: Dadurch, dass die Seherin anscheinend auctoritas über Teile der Germanen besitzt, charakterisiert Tacitus die Germanen selbst und auch deren Führungsebene als unzulänglich. Es lässt sich also schlussfolgern, dass Tacitus Veleda mit gängigen Merkmalen einer dux femina ausstattet, auch wenn er die Prophetin nicht explizit mit diesen Worten versieht. Möglicherweise entgeht Veleda dieser direkten anklagenden Bezeichnung des Historiographen aufgrund seiner theoretischen Verortung ihrer Handlungen im normativen Rollenbild.75 Jedoch sicherlich nicht ohne persönliche Agenda lässt der antike Autor den volgus der Bataver solch eine „Frauenherrschaft“ ablehnen: „Wenn man übrigens zwischen Herrschern die Wahl habe, so sei es doch ehrenvoller, römische Fürsten über sich zu haben als germanische Frauen.“76 Das bleibt nicht der einzige Kommentar zu mit Macht konnotierten Frauen, den Tacitus ausübt. So wird auch Cartimanduas „Frauenherrschaft“ (feminae imperio) als etwas Verachtenswertes (ignominia) bewertet: „Darüber waren die Feinde empört, wurden durch den Gedanken an die Schande der Herrschaft eines Weibes unterworfen zu werden, noch weiter erregt und dringen mit einer starken und ausgezeichnet bewaffneten Jungmannschaft in ihre Königsburg ein.“77 Und auch die Suithonen verurteilt der antike Autor stark, indem er eine Gesellschaft unter der Führung einer Frau schlimmer als Sklaverei einstuft.78 Diese Parallelisierung einer eindeutigen dux femina mit Veleda impliziert wiederholt Tacitus’ Verurteilung machthabender Frauen, wenn auch im Falle der Prophetin in subtilerer Form.

73Baltrusch

2012, 86, Fußnote 118. Germ. 7,1: nec regibus infinita ac libera potestas, sowie Germ. 11,5: mox rex vel princeps, prout aetas cuique, prout nobilitas, prout decus bellorum, prout facundia est, audiuntur auctoritate suadendi magis quam iubendi potestate. 75Ähnlich auch Schmal 2006, 224. 76Tac. hist. V,25,2: et si dominorum electio sit, honestius principes Romanorum quam Germanorum feminas tolerari. 77Tac. ann. XII,40,3: Inde accensi hostes, stimulante ignominia, ne feminae imperio subderentur, valida et lecta armis iuventus regiam eius invadunt. In Agr. 31,4 lässt Tacitus den Caledonier Calgacus berichten: Brigantes femina duce exurere coloniam […]. Zwar wird hier eine Brigantin, also Cartimandua, als dux femina bezeichnet, die Ereignisse, die Calgacus schildert, deuten aber eher darauf hin, dass Boudicca gemeint ist. 78Tac. Germ. 45: in tantum non modo a libertate sed etiam a servitute degenerant. 74Tac.

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5 Schlussbetrachtungen Unter der Prämisse, dass nur außergewöhnliche und Rom-relevante Ereignisse in den historiographischen Werken von Tacitus geschildert werden, verwundert es nicht, dass individuelle Nennungen von Frauen und die Beschreibung ihres Handelns meist dann geschehen, wenn diese Frauen Grenzen überschreiten und aus dem passiven, in der Öffentlichkeit unsichtbaren Bereich heraustreten. Der Historiograph macht es für die Lesenden offensichtlich, dass die Präsenz von machtvollen Frauen ernsthafte Gefahr für die Aristokratie und Gesellschaft Roms bedeuten. Die in diesem Artikel hauptsächlich behandelten Frauen werden in der taciteischen Schilderung überaus ambivalent gezeichnet. Tacitus lässt an manchen Stellen Agrippina wie auch Boudicca ihr Geschlecht und die damit verknüpften Rollenerwartungen reproduzieren, verweist mehrfach auf die explizit weiblichen Verhaltensweisen oder schreibt einem ganzen Kollektiv weibliche Züge zu. Thematiken wie Lust, Gier, Kontrollverlust und Devianz könnten als die taciteischen Werke durchziehende Grundkritik angesehen werden. Jedoch lässt er an anderer Stelle diese Rollenerwartungen aufbrechen und schreibt den Frauen männliche Charakteristika zu. Die ständige Referenz auf das weibliche Geschlecht, jedoch verknüpft mit deutlichen Hinweisen auf die Aneignung männlicher Sphären, offenbart das zentrale Motiv der dux femina, welches Tacitus transgressiven Frauen zuschreibt. Somit ist bei diesem Historiographen die Verknüpfung von femina mit einem machtbezeichnenden Attribut ein Element, das nicht-römische und römische Frauen verbindet. Dementsprechend ist die taciteische Kritik an der weiblichen Aneignung von männlichen, mit Macht besetzten und öffentlichen Räumen kontextunabhängig – die „Beschuldigung“ als dux femina ist Ethnizität übergreifend. Letztendlich sterben beide Frauen eines unnatürlichen Todes; Agrippina die Jüngere wird durch Neros Befehl umgebracht und Boudicca begeht Tacitus zufolge nach verlorener Schlacht Suizid (zu Veledas Tod ist nichts überliefert). Es scheint nahezu so, als könne nur durch den Tod der transgressiven Frauen die römische Normvorstellung – zumindest temporär/partiell – wiederhergestellt werden. Neben diesen Parallelen zwischen den Darstellungen von Agrippina der Jüngeren und Boudicca unterscheidet sich die Darstellung der beiden Akteurinnen darin, dass Agrippina als generell quasi virlile gezeichnet wird, Boudicca hingegen offenbar erst aus einer Not heraus männlich konnotierte Machträume einnimmt. Erst die Handlung der Okkupationsmacht zwingt die Britannierin nahezu zur Initiierung und Führung des Aufstandes; die zuvor von Tacitus als normativ weiblich konnotierte Figur kippt ins barbarische und gleichzeitig männliche um. Beiden Frauen wird vom Historiographen gewisse Befehlsgewalt zugeschrieben. Grundlegender Unterschied ist jedoch, dass es Tacitus zufolge in der britannischen Gesellschaft Boudiccas üblich ist, dass eine Frau eine Machtposition einnimmt und somit die Transgression nur aus normativ römischer Sicht erfolgt. Agrippina ist jedoch als Mitglied der römischen Gesellschaft und

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Führungselite wesentlich stärker den römischen und taciteischen Werten und Normen unterlegen, sodass ihre Grenzüberschreitungen dem Lesenden stärker ins Auge fallen. Während Boudiccas Verhalten trotz attestierter Transgression somit im Bereich des Erwartbaren liegt, wird die Transgression Agrippinas von Tacitus als wesentlich drastischer beschrieben und bewertet. Agrippina müsste als Kaisermutter und Kaiserin gemäß dem Tugendkatalog fecunditas, castitas, pulchritudo, pietas in der Öffentlichkeit ihrer Vorbildfunktion nachkommen,79 die sie jedoch nicht nur nicht erfüllt, sondern auch noch ins Negative verkehrt. Die von Tacitus angegebene Rechtfertigung Boudiccas, dass es für britannische Gruppen üblich sei, von Frauen beherrscht zu werden, kann also als Anklage an römische Frauen wie Agrippina gelesen werden, die in einer Gesellschaft mit klarer geschlechtsspezifischer Aufgabenverteilung Männern zugehörige potestas annektieren. Der Aufbruch der normativen Geschlechterordnung in beiden Versionen könnte jedoch vor allem als Appell an männliche Akteure des römischen Reiches verstanden werden, ihrer Aufgabe nachzukommen, Frauen als sexus natura invalidus zu kontrollieren.80 Denn Frauenherrschaft stellt nach Tacitus eine äußerste Form des „Barbarischen“ dar und kann auch als Anklage an „barbarische“ oder verdrehte Verhältnisse innerhalb der römischen Gesellschaftsstruktur gesehen werden. So kann angenommen werden, dass Weiblichkeit bzw. machtbewusste Frauen für Tacitus als Brennpunkt des „Barbarischen“ und „barbarischer“ Verhältnisse gelten,81 welchen Einhalt zu gebieten Männer nicht schaffen. Neben der Kritik an weiblicher Machterlangung ist also auch Kritik an fehlenden männlichen Herrschaftspraktiken zu vernehmen, die auf die Unfähigkeit männlicher Herrschaftsträger jener Zeit verweist. Denn die Tatsache, dass Agrippina als Frau diejenige ist, die die Stadt unter Kontrolle hat und dies auch noch gleichsam männlich tut, offenbart Tacitus’ Missbilligung des Prinzipats unter Claudius. Die fehlende Authentizität und Legitimität der Herrschaft sowie die Schwäche Claudius’ verdeutlicht der Historiograph durch die Andeutung der Gleichstellung der Ehepartner und die Machtakkumulation Agrippinas. Wenn nach Tacitus Männer also schwächlich sind, da sie sich von Frauen dominieren lassen, und Frauen männlich handeln, so steht die Welt für ihn Kopf. Was daraus resultiert, beschreibt der antike Autor multiperspektivisch in seinen Annalen: Chaos, Hungersnot, sogar Mord. Zudem macht Tacitus in seinen Annalen auch mehrfach deutlich, dass Neros Kaisertum grundsätzlich auf Agrippinas Verdienst entwächst.

79Vgl. Alexandridis

2000, 62. Späth: „Tacitus suggests that women, ‚because of their nature‘, are perceived as a threat to the prevailing order. In line with the conceptual appropriateness of this gender discourse, such femininity in turn affirms the importance of male self-control both as the guarantor of order and as a means of maintaining control over women (who are subordinate to male legal authority).“ Späth 2012, 442. 81Auch nach Schmal liegen „Weiblichkeit und Barbarentum für Tacitus ziemlich eng nebeneinander“. Schmal 2006, 254. 80Dazu

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Als ihre Macht zu groß war und Nero sich dessen mehr und mehr bewusst wurde, war Agrippinas Tod die einzige Lösung. In Boudiccas Fall sieht es ähnlich aus: Dass ein solcher Aufstand und noch dazu unter Führung einer Frau überhaupt aufkommen konnte, sollte möglicherweise zum einen das Unvermögen der römischen Provinzialherrschaft und der Soldaten offenbaren. Zum anderen steht der Boudicca-Aufstand im größeren Kontext der taciteischen Schilderungen um die Hinwendung Neros zum Volk und zum Spielwesen und um die gleichzeitig wachsende Exklusion des Senates aus Entscheidungsprozessen. Somit ist die subtile, aber dennoch unübersehbare Missbilligung gegenüber dem Prinzipat unter Nero in dem Zusammenspiel der Berichte in den Annalen über interne und externe Konflikte des Römischen Reiches sichtbar. Cassius Dio bringt in seiner Version seine Kritik am herrschenden Princeps offensichtlicher und harscher hervor, indem er dessen im Prinzipat durch Rationalität und Selbstbeherrschung abgeleiteten männlichen Vorherrschaftsanspruch als unzulänglich darstellt. Über Boudiccas hervorstechende Virilität und den eindeutig als effeminiert dargestellten Princeps Nero verurteilt er nicht nur den Herrscher selbst, sondern prangert auch das römische Volk an, sich dieser verkehrten „Frauenherrschaft“ zu beugen. Auch der Exkurs über Veleda stützt die These, dass die historiographischen Werke als Kommentarinstrument über römische Verhältnisse zu verstehen sind, betrachtet man die zeitliche Einordnung der Schilderungen um Veleda und den Bataveraufstand. So kontextualisiert sich Veledas Machtanreicherung 69/70 n. Chr. innerhalb einer für das römische Reich schwierigen Zeit des „Vierkaiserjahres“.82 Die Interdependenz der römischen und germanischen Geschehnisse herauskehrend, bezeichnet Tacitus schon im zweiten Buch der Historien den Umgang mit den Bataverkohorten als interno simul externoque bello.83 Es liegt nahe, dass Tacitus die römische Zwietracht und den Bürgerkrieg für die germanischen Erfolge verantwortlich sieht, in denen sogar eine Frau zu politischem Einfluss kommen kann. Als Folge kann die Kritik Tacitus’ auf mehreren Ebenen entdeckt werden: Einerseits beschreibt er die weibliche Unzulänglichkeit und verbindet damit aufgrund seines traditionellen Weltbildes die Kritik an Frauen, die politische Teilhabe anstreben und Geschlechter- sowie Moralvorstellungen missachten. Andererseits diffamiert er die männlichen Akteure des Prinzipats, die wiederum durch die männliche Charakterisierung der Frauen von Tacitus entmännlicht werden. Transgression und Aneignung von männlichen Attributen durch Frauen werden von Tacitus als Störung der gängigen geschlechtlichen Konstruktion und Ordnung der griechisch-römischen Gesellschaft eingeordnet. In diesem Sinne kann die These aufgestellt werden, dass machtbewusste und transgressive Frauen als

82Vgl.

Timpe 2006, 318. hist. II,69,1: Batavorum cohortes, ne quid truculentius auderent, in Germaniam remissae, principium interno simul externoque bello parantibus fatis. 83Tac.

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„Symptom“ julisch-claudischer Unfähigkeitsregierungen gedacht werden können. Agrippina und Boudicca als literarische Figuren sind ein Werkzeug dafür. Die Konstruktion der Figuren wird in den taciteischen Annalen als eine Projektionsfläche literarischer Topoi funktionalisiert.

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Ästhetische Transgressionen in der antiken Kunst am Beispiel bemalter Skulpturen Katharina Ute Mann

Zusammenfassung

Transgressionen in der Kunst sind ästhetische Grenzüberschreitungen, die im Zuge von Innovationen vertraute Strukturen aufbrechen können. Diese extremen Impulse können zu einer ästhetischen Normverschiebung in der Kunstgeschichte führen, wenn ein Kollektiv die künstlerischen Irritationen zu akzeptieren vermag. Antike Beispiele belegen, dass ästhetische Grenzüberschreitungen von unterschiedlicher Art sein können, wie etwa provokante Themen, moderne Maltechniken, neue Farben oder andersartige Darstellungsweisen. Die transgressiven Impulse treten dabei zumeist in Intervallen auf, sodass sich die Rezipienten daran gewöhnen können und so eine ästhetische Normverschiebung zulassen. Transgressive Intervalle werden vor allem an der Entwicklungsgeschichte der griechischen Malerei in der Antike ersichtlich, deren künstlerische Neuerungen mit einem politischen oder sozialen Wandel einhergehen. Die dargelegten Beispiele aus Ägypten und China belegen eindrücklich, dass nicht alle transgressiven Impulse zu einer Normverschiebung führen, wenn diese beispielsweise zu abrupt auftreten oder an eine bestimmte Person gebunden sind, deren historisches Andenken nach dem Tode nicht weiterlebt. Abstract

Transgressions in art are crossings of frontiers that can radically change the familiar as part of a process of innovation. If a collective is able to accept artistic irritatants, these extreme impulses can result in a shift of aesthetic norms. Examples from Antiquity demonstrate that such aesthetic transgressions can include various types, such as provocative themes, modern painting techniques,

K. U. Mann (*)  Universität zu Köln, Köln, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Gilhaus et al. (Hrsg.), Transgression und Devianz in der antiken Welt, Schriften zur Alten Geschichte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05508-8_9

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new colours or different ways of expression. Transgressive impulses occur mostly in intervals, allowing recipients to accept them and the resulting shift of aesthetic norms. Transgressive periods are especially evident in the development of Greek painting, whose artistic innovations are accompanied by political or social change. Illustrated exemplars from Egypt and China impressively show that transgressive impulses may lead into a shift of norms, for example, when they occur too abruptly or are connected to a certain person whose historical memory is fading after death.

1 Einleitung Transgressionen in der Kunst sind ästhetische Grenzüberschreitungen, die zusammen mit Innovationen bekannte Strukturen aufbrechen können. Diese extremen Impulse, die zu einer Normverschiebung führen können, gehen dabei mit einem politischen oder sozialen Wandel einher. Gesellschaftliche Normen, die sich in den Bildenden Künsten widerspiegeln, können so durch neue künstlerische Mittel verändert werden. Dies gilt insbesondere für antike Malerei,1 die nicht nur die Reflexion eines erneuerten Menschenbildes ist, sondern auch über die Grenzen ihrer eigenen Gattung hinaus agiert; beispielsweise als Fassmalerei. Aufgrund nur vereinzelter Originalfunde, was einem Zerfall der Farbmittel geschuldet ist, gestaltet sich eine Analyse von Transgressionen in der antiken Malerei und im Speziellen derjenigen auf Skulpturen als problematisch. Für solch eine Untersuchung ist daher ein Überblick unterschiedlicher Kunstgattungen derselben Epoche essentiell, um damit ein „Echo“2 des jeweiligen Zeitgeistes sowie Kunstgeschmacks herauszufiltern, um transgressive Impulse in der Kunstgeschichte deutlicher hervorzuheben. Frühere Forschungen zu antiker Malerei bedienen sich zumeist graphischer Vergleichsbeispiele, um eine Idee der verwendeten Themen, Gestaltungsmöglichkeiten und Farben zu erhalten. Beispielsweise erforscht der britische Archäologe Martin Robertson die Merkmale griechischer Malerei anhand antiker Keramik.3 Hierfür verwendet er vor allem Beispiele der sogenannten „Vasenmalerei“, die auch im Englischen mit der Bezeichnung „vase painting“ als Malerei definiert wird. Jedoch muss in Hinblick auf den unterschiedlichen Charakter dieser beiden Kunstgattungen darauf hingewiesen werden, dass dieser Begriff irreführend ist, da bei konturreichen Abbildungen von sich abgrenzenden Farben auf antiken Keramiken eher von „Vasengrafik“ und nicht von „Vasenmalerei“ gesprochen ­ werden sollte. Die ästhetische Wirkung der Vasengestaltung wird durch eine ­

1Lorenz

Dittmann definiert Malerei als „Synthesen von Farbe und Licht“. (Dittmann 2010, 9). 1959, 134. 3Vgl. Robertson 1959, 9. 2Robertson

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Reduktion auf konturgebende Linien und der Verwendung von Aspektive erzielt,4 die dem dekorativen und erzählerischen Zweck entsprechen. Für einen Rückschluss auf die ästhetische Bestimmung der antiken Malerei eignet sich demnach der Vergleich mit graphischen Fundstücken aus derselben Zeit nur bedingt, da durch die Dominanz der Umrissform eine gänzlich andere Wahrnehmung des künstlerischen Ausdrucks entsteht. Diese ungleiche Impression von Malerei und Grafik muss hier betont werden, da Plinius der Ältere die sogenannte „pictura linearis“ als Ursprung der griechischen Malerei definiert.5 Seine Idee einer künstlerischen Wende von konturgebenden Linien hin zur Modellierung mit Farbe ist essentiell, bedeutet dies doch, dass die griechische Malerei in der Antike einem transgressiven Impuls ausgesetzt war, der zu einer Normverschiebung geführt hat. Die enorme Herausforderung an den Rezipienten, der an eine künstlerische Norm von Umrisslinien und Aspektive gewöhnt gewesen ist, besteht darin, nicht nur den ästhetischen Anstoß zu überwinden, sondern ihn darüber hinaus zu akzeptieren und sogar als Maßstab anzuerkennen. Diese extreme Verschiebung der Kunstnorm konnte offenbar nur deshalb erfolgen, da die ästhetische Transgression in Intervallen vollzogen wurde. Damit die unterschiedlichen Impulse der ästhetischen Normverschiebung hier deutlicher werden, sollen folgende verallgemeinert dargelegten Eindrücke zu den jeweiligen Intervallen aufgezeigt werden.

2 Griechische Malerei – Der Wandel von einer ästhetischen Transgression hin zur künstlerischen Norm Neuerungen in der griechischen Kunst sind vornehmlich mit prägenden historischen Prozessen und den daraus resultierenden Veränderungen von Sozialsystemen verbunden, wie beispielsweise der Untergang der mykenischen Kultur. Dieser Niedergang mündet in die sogenannten „dunklen Jahrhunderte“, womit ein „kultureller Rückgang“6 bis etwa ins 8. Jahrhundert v. Chr. charakterisiert wird, welcher zur archaischen Epoche und der Entstehung der ersten griechischen Poleis reicht.7 Der soziale Wandel, den nun bürgerlich geprägte Stadtstaaten mit sich bringen,8 bewirkt eine neue Beurteilung der Gemeinschaft. Ein geschlechterspezifisches Ordnungsprinzip, das in der Archaik alle „Bereiche der griechischen Kultur“9 prägt, zeigt sich dabei durch die Unterscheidung von Schwarz

4Plin.

nat. XXV,15–16; vgl. Makowiecka 2007, 126. Lepik-Kopaczyńska 1963, 33. 6Deger-Jalkotzy 1991, 127. 7Vgl. Welwei 1998, 35. 8Giovannini 1986, 11. 9Scheer 2011, 2. 5Vgl.

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beziehungsweise Braun für männliche und Weiß für weibliche Figuren, was ein assoziatives und nicht naturnachahmendes Verständnis für Farbe voraussetzt. Der Gegensatz der Geschlechter wird so, ähnlich dem chinesischen Ying-Yang, durch den symbolhaften Farbkontrast dargestellt. Mit dem Aufkommen historischer und mythologischer Themen in der Spätarchaik, in der der Mensch immer dominanter zum übergeordneten Motiv der Kunst wird, geraten auch der menschliche Körper und die Darstellung von Emotionen mehr und mehr in den Fokus der Bildenden Künste. Das starke Bedürfnis nach Naturnachahmung des menschlichen Körpers durch die Kunst bewirkt, dass immer seltener eine symbolhafte Farbunterscheidung der Geschlechter vollzogen wird, die spätestens in der Frühklassik durch natürliche Nuancen fast gänzlich überbrückt wird. Gegen Ende des 6. Jahrhundert v. Chr. tauchen parallel dazu auch erstmalig individuelle Charakterzüge bei Skulpturen auf, die die Dargestellten als jung, alt oder übergewichtig kennzeichnen, wie dies Weihgeschenke aus Athen darlegen. Ein Bedürfnis nach merklicher Wiedererkennbarkeit porträtierter Personen muss dabei auch für die Malerei jener Zeit angenommen werden, so Kazimierz Michałowski.10 Erste individuelle Porträts können der frühen Klassik zugeordnet werden, wie beispielsweise das Bildnis des Themistokles, das um 460 v. Chr. entstand und heute nur in einer römischen Kopie überliefert ist. Mit dem Umbruch zur Klassik, der für Robertson mit einem „geistigen Wandel“11 einhergeht, welcher von der Entwicklung der attischen Demokratie im 5. Jahrhundert v. Chr. geformt ist,12 tauchen neue Themen und Ausdrucksformen auf, wobei die philosophischen Ideen von Sokrates (470‒399 v. Chr.), Platon (427‒347 v. Chr.) und Aristoteles (384‒322 v. Chr.) genauso prägend für die Kunstentwicklung jener Zeit sind, wie die neue Staatsstruktur. Die Bildenden Künste fokussieren sich bei der menschlichen Darstellung in der Folge immer mehr auf eine kraftvolle Körperlichkeit sowie auf eine „seelische Bewegung“,13 die mit Themen wie Tod und Melancholie im Zusammenhang stehen. Dies geht mit anatomischen Studien des menschlichen Körpers und des Bewegungsapparats einher, die sich in einer meisterhaften Modellierung der Figuren widerspiegeln.14 Parallel dazu entwickelt sich in der Kunst der Römischen Republik ein Bedürfnis nach mehr Individualität bei der Visualisierung von Menschen, die sogar eine „unidealisierte“15 Darstellung von Gesichtern erlaubt. Auch die hervorstechendste Eigenschaft der Malerei, welche wir heute als künstlerische Norm wahrnehmen, erhält erstmalig einen ästhetischen Impuls in

10Michałowski

1970, 92–93. 1959, 112. 12Vgl. Welwei 1998, 296. 13Robertson 1959, 146. 14Vgl. Michałowski 1970, 108. 15Michałowski 1970, 158. 11Robertson

Ästhetische Transgressionen in der antiken Kunst

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der Umbruchzeit von der Archaik zur Klassik: die Verwendung von Licht- und Schattenmalerei zur Imitation von Räumlichkeit. Aufgrund des transgressiven Charakters wird die Abkehr von Aspektive zugunsten einer dreidimensionalen Illusion von Ernst Gombrich (1909–2001) sogar als „griechische Revolution“16 definiert. Darüber hinaus kennzeichnet die Transgression einen künstlerischen „Wandel vom ‚am Tun interessiert sein‘ zum ‚am Sein interessiert sein‘“.17 Diese Unterscheidung von Tun und Sein ist dabei nicht nur für die vorherrschende Weltanschauung erheblich, sondern auch für die malerische Darstellung des neuen Menschen, der sich nicht mehr auf sein Tun reduzieren lässt, sondern ein Bewusstsein für das eigene Sein entwickelt und dies auch künstlerisch umsetzten will. Diese ideologische Transformation erlaubt den Künstlern ferner neue ästhetische Ausdrucksformen auszuprobieren. Dabei sind nicht mehr allein die vorgegebenen Themen maßgebend für die Darstellungsform, sondern auch markante Maltechniken sowie neue Farbkombinationen, die einen enormen Einfluss auf die künstlerische Gestaltung haben. Bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. wird dabei hauptsächlich mit einer Schichtenmalerei gearbeitet, da vermengte Farben als „schmutziger und missfarbiger“18 galten. Das Auftragen von mehreren Farben übereinander wurde angewendet, um reine Mischtöne zu erzeugen. Diese Sechs-Farben-Maltechnik wurde fernerhin schon von den alten Ägyptern gebraucht und ist sowohl von Platon als auch von Aristoteles überliefert worden.19 Mit der Klassik verändert sich jedoch die ästhetische Farbnorm aufgrund neuer Kombinationsmöglichkeiten durch Mischfarben, die die Farbpalette stark erweitern. Dieser Farbwandel bewirkt, dass sich in der Klassik wie später im Hellenismus Philosophen und Künstler eingehend mit dem Entstehen, der Wirkung sowie den ästhetischen Beziehungen von Farben auseinandersetzen.20 So erläutert beispielsweise Demokrit (460‒371 v. Chr.), dass Kupfer durch die Vermengung von Weiß und Rot, Purpur hingegen durch Weiß, Schwarz und Rot entstehe.21 Diese neue Farbmischtechnik erlaubt folglich nicht nur teure Pigmente wie Purpur zu imitieren, sondern auch neue Farben wie Kupfer darzustellen. Im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. wandelt sich ferner parallel mit der Farbästhetik auch die Maltechnik von einer flachen Tempera-Malerei hin zu einem virtuosen „antiken Impressionismus“ durch die Enkaustik, die die modellierende Struktur des Mediums hervorhebt. Mit der zunehmenden Unabhängigkeit von der Form steigt auch die Bedeutung der Malerei, die nun zur führenden Kunstgattung heranwächst.22 Damit geht der

16Gombrich

2010, 122. 1959, 6. 18Lepik-Kopaczyńska 1963, 69. 19Vgl. Robertson 1959, 46. und Lepik-Kopaczyńska 1963, 69. 20Vgl. Robertson 1959, 12‒14. 21Demokrits Farbenlehre wird in Theophr. sens. 73–78 dargestellt. 22Vgl. Michałowski 1970, 109‒110. 17Robertson

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Abb. 1  Hase mit Feigen, 1. Jahrhundert n. Chr., Archäologisches Nationalmuseum Neapel. (Foto: Katharina Ute Mann)

gesellschaftliche Aufstieg der Maler einher, die sich selbst nicht mehr als einfache Handwerker, sondern als Künstlerfürsten verstehen; beispielsweise kleidet sich der Maler Zeuxis im ausgehenden 5. Jahrhundert in königliches Purpur.23 Diese neue künstlerische Souveränität wird dabei besonders bei der Themenwahl aus der Übergangszeit zum Hellenismus ersichtlich. Mit der Popularisierung der „impressionistische[n] Behandlung“24 erhalten profane Motive wie beispielsweise Blumen eine neue Bedeutsamkeit. Neben Stillleben werden auch Genrebilder aus dem Alltag zu beliebten Bildthemen (Abb. 1).25 In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts werden folglich nicht nur heroische oder mythologische Inhalte dargestellt, sondern ebenfalls „verspielte Themen“ (lascivia Pausiaca tabella). Beispielsweise führen der Sikyone Pausias die Pornografie26 und der aus Alexandria stammende Maler Antiphilos die Karikatur in die griechische Malerei ein.27 Hierfür werden auch neue Mischtechniken der Enkaustik verwendet, wie beispielsweise die Pinselenkaustik, bei der das Bienenwachs mit Öl vermengt wird, um die Farben länger flüssig zu erhalten; daraus entwickeln sich später in der römischen Kaiserzeit die Wachsölmalerei und die Ölmalerei.28

23Michałowski

1970, 120. 1970, 180. 25Vgl. Pieszczek 1973, 449. 26Vgl. Michałowski 1970, 150. 27Vgl. Pieszczek 1973, 449. Karikaturen stammen ursprünglich aus Ägypten. 28Vgl. Pieszczek 1973, 445. 24Michałowski

Ästhetische Transgressionen in der antiken Kunst

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Abb. 2  a Perseus und Andromeda (Detail), röm. Kopie nach Nikias von Athen, 1. Jahrhundert n. Chr., Archäologisches Nationalmuseum Neapel. (Foto: Katharina Ute Mann), b Knidische Aphrodite, röm. Kopie, um 350 v. Chr., Glyptothek München. (Foto: Katharina Ute Mann)

Aus der Übergangszeit zum Hellenismus ist darüber hinaus eine Zusammenarbeit zwischen dem Maler Nikias (Abb. 2a) und dem Bildhauer Praxiteles überliefert. Eine Künstleranekdote bei Plinius dem Älteren vermittelt die besondere Wertschätzung des Bildhauers für den Maler. Auf die Frage, welche seiner Skulpturen er als die besten ansehe, erwidert Praxiteles, diejenigen, dessen circumlitio von der Hand des Nikias stamme.29 Die Anekdote verdeutlicht, dass der Bildhauer die Polychromie als Vollendung seines Werkes verstanden hat. Ein solches Gemeinschaftswerk ist vor allem für Aphrodite von Knidos (Abb. 2b) anzunehmen, da sowohl Praxiteles als auch Nikias ästhetische Neuerungen im Bereich des weiblichen Akts eingeführt haben, mit denen sie das Ideal einer schönen Frau in Form und Farbe schufen.30 Bei der heute nur noch in Kopien vorhandenen Statue handelt es sich um eine künstlerische Transgression, die zu einer Normverschiebung in der Darstellung weiblicher Figuren geführt hat. Die moralische wie ästhetische Grenzüberschreitung erfolgt hier in der Gestalt einer

29Plin. 30Vgl.

nat. XXXV,130; vgl. Primavesi 2011, 23. Michałowski 1970, 161.

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Tab. 1  Charakteristika griechischer Malerei nach Epochen Epoche

Besonderheit

Farben

Archaik

• Ägyptischer Einfluss • Erste räumliche Darstellungen

• Symbolhafte Verwendung von Farbe • Inkarnat aufgeteilt in Hell (weiblich) und Dunkel (männlich)

Spätarchaik/Frühklassik

• Anatomisches Verständnis

• Natürliche Nuancen des Inkarnats

Klassik

• Räumlichkeit • Emotionen • Individualität/Ideal

• Naturnachahmende Farbigkeit mit Übergängen und Schattierungen • Matte Farben

Spätklassik/Frühhellenismus

• Ausgeprägte Licht- und Schattenmalerei sowie impressionistische Malweise • Tempera-Enkaustik • Pinselenkaustik

• Changierende Farbena

aAuf

Grundlage von Robertson 1959

griechischen Göttin, deren entblößter Körper nach einem realen Modell geformt wurde.31 Die naturalistische Illusion der Staue ist dabei so herausragend gelungen, dass einige Besucher des Heiligtumes beim Anblick der Aphrodite von Knidos einem Liebeswahn verfallen sind, wie Apollonios von Tyana berichtet.32 Diese Wirkung ist von den Künstlern bewusst forciert worden, in dem die Skulptur beim Betrachter nicht mehr religiöse, sondern erotische Gefühle intensiviert. Diese Neuerung wird durch einen Wandel im gesellschaftlichen Verständnis der Religion ermöglicht. Zuvor ist das Religionsbedürfnis unlöslich mit der Idee der Poleis und ihrer Fürsorgepflicht gegenüber ihren Bürgern verbunden, nun ändert sich dies hin zu einer individuellen Kultpraxis. Dadurch entsteht eine Wende in der Resonanz von Götterbildnissen, die nicht mehr rituelle Objekte sind, sondern zu darstellerischen Figuren werden.33 Leider sind auch hier nur wenige Originalfunde mit Farbresten erhalten geblieben. Zumeist liegen schriftliche Überlieferungen oder römische Kopien vor, die einen Eindruck von den künstlerischen Fähigkeiten liefern. Doch können zumindest einige wichtige epochenbestimmende Charaktermerkmale aufgezeigt und pointiert aufgeführt werden, welche in Tab. 1 nach Epoche, Besonderheit und Farben gegliedert dargestellt sind: Aus dieser Tabelle ergibt sich, dass mit einem ägyptischen Impuls in der archaischen Epoche, der durch den Kulturaustausch aus der Großen ­Kolonisation

31Vgl.

Hartmann 2017, 60. Petzke 1970, 132. 33Vgl. Makowiecka 2007, 132. 32Vgl.

Ästhetische Transgressionen in der antiken Kunst

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im Nahen Osten und Kleinasien angeregt wird,34 das Bedürfnis einer Naturnachahmung durch die Kunst erfolgt, die die Geometrisierung des Körpers und die symbolhafte Verwendung von Farbe immer mehr ablöst. Dadurch gewinnt auch die Gattung Malerei mit ihrer nuancierten Farbgestaltung zunehmend an Bedeutung. Dieser Wandel im Zeitgeschmack von einer graphischen Reduktion in Form und Farbe hin zu einer naturnachahmenden Kunst bewirkt, dass in der Klassik nicht nur menschliche Gemütsbewegungen, sondern neben idealen auch individuelle Gesichtszüge dargestellt werden. Den künstlerischen Höhepunkt stellen dann die ausgeprägte Licht- und Schattenmalerei wie auch die impressionistische Malweise dar, die einen intensiveren Ausdruck durch Farbe bedeuten. Eine solche Normenverschiebung geht ferner mit einer maltechnischen Entwicklung einher, die die unterschiedlichen ästhetischen Ansprüche an diese Kunstgattung erfüllt, wie beispielsweise die Erfindung der enkaustischen Methode gegen Ende der Klassik.35 Die ästhetische Transgression in der Visualisierung der menschlichen Physiognomie lässt sich parallel in der Plastik beobachten, sodass angenommen werden muss, dass eine entsprechende Wechselwirkung bestand und auch die Fassmalerei dieser ästhetischen Idee entsprach. Der historische Abriss liefert folglich Erkenntnisse für heutige Farbrekonstruktionen antiker Skulpturen, die bis dato hauptsächlich auf chemischen Analysen von Farbresten beruhen und dabei die ästhetische Normverschiebung in der antiken Malerei kaum berücksichtigt hat. Eine solche historische Betrachtung der ästhetischen Bedürfnisse an die antike Malerei der unterschiedlichen Transgressionsintervalle kann dabei helfen, die Resultate einiger Rekonstruktionen zumindest zu hinterfragen. Vor allem der ästhetische Einfluss der Sechs-FarbenMaltechnik auf antike Skulpturen bis zur Klassik muss meines Erachtens deutlich in die Farbrekonstruktionen miteinfließen, damit kein befremdender Eindruck der antiken Fassmalerei entsteht. Eine solch ästhetische Verkennung kann etwa beim Betrachten der Farbrekonstruktion (Polychromy Research Project, ST.P709) des Kuros von Tenea (ca. 530 v. Chr.) aus der Glyptothek München (Abb. 3, Inv.-Nr.: 168) erfolgen, für den die Rekonstrukteure eine ornamentale blaue Körperbehaarung darstellen und dies als „ägyptische Tradition“ deklarieren.36 Das Blau ist allerdings im Zusammenhang mit der Sechs-Farben-Maltechnik als Unterfarbe für ein rötliches Ocker anzunehmen, dessen Eindruck durch die untere Farbebene dunkler, ferner kühler, wird und dementsprechend das Ocker als kaltes Braun erscheinen lässt. Die Farbimpression der Figur wirkt durch die Schichtentechnik natürlicher und korrespondiert mit der Kontur. Die antike Farbschichtung nimmt demgemäß einen entscheidenden Einfluss auf den ästhetischen Wahrnehmungsprozess der Skulptur.

34Vgl.

Michałowski 1970, 62. Michałowski 1970, 167. 36Brinkmann/Dreyfus/Koch-Brinkmann 2017, 120. 35Vgl.

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Abb. 3  Kuros von Tenea (Detail), um 560 v. Chr., Glyptothek München. (Foto: Katharina Ute Mann)

Die hier beschriebene Zwei-Farben-Schichtung stellt dabei die einfachste Variante der Sechs-Farben-Maltechnik dar. Bereits in Ägypten wurde diese Technik genutzt, um unterschiedliche Farbtöne zu erzeugen. Beispielsweise verwenden ägyptische Maler neben qualitativ hochwertigem Ockerbraun aus der Dachla Oase auch Farbschichtungen von rot auf schwarz beziehungsweise gelb auf Hämatit, um

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Tab. 2  27 Farben bei Zwei-Farben-Schichtung Weiß

Gelb

Rot

Grün

Blau

Schwarz

Weiß

Weiß

Weiß/gelb

Weiß/rot

Weiß/grün

Weiß/blau

Weiß/schwarz

Gelb

Gelb

Gelb

Gelb/rot

Gelb/grün

Gelb/blau

Gelb/schwarz

Rot

Rot

Rot/gelb

Rot

Rot/grün

Rot/blau

Rot/schwarz

Grün

Grün

Grün/gelb

Grün/rot

Grün

Grün/blau

Grün/schwarz

Blau

Blau

Blau/gelb

Blau/rot

Grün/blau

Blau

Blau/schwarz

Schwarz

Schwarz

Schwarz

Schwarz

Schwarz

Schwarz

Schwarz

bräunliche Farbeffekte zu erzielen.37 Diese Vorgehensweise ist daher für die griechische Fassmalerei anzunehmen. Mit der Sechs-Farben-Maltechnik können ferner komplexere Farbstrukturen erzielt werden, wie Peter Nagel aufzeigt. Laut historischer Quellen sollen mit dieser Technik sogar bis zu 72 Farben hergestellt werden können, was nach Nagels Ansicht jedoch nicht realisierbar erscheint, sodass er hier von einer „Symbolzahl“ ausgeht.38 Mit einer Zwei-Farben-Schichtung können nachweislich 27 Farben erzeugt werden (Tab. 2). Für die angegebenen 72 Farben sind aber weitaus mehr Schichten erforderlich, was eine sehr komplexe Farbenlehre voraussetzt. Eine solch vielschichtige Maltechnik ist allerdings nur durch einen irreversiblen Eingriff in Kunstwerke nachweisbar, sodass kaum wissenschaftliche Untersuchungen vorliegen. Die herausragende Qualität dieser Sechs-Farben-Maltechnik soll im Folgenden am ägyptischen Beispiel der Berliner Nofretete aufgezeigt werden. Zudem liegt das Hauptaugenmerk bei dieser Analyse auch auf der naturnachahmenden Kunst aus Amarna und den Gründen für die ästhetische Transgression gegenüber der ägyptischen Norm, die mit religiösen und gesellschaftlichen Grenzüberschreitungen des Pharaos Echnaton einhergehen.

3 Gesellschaftliche und künstlerische Transgressionen während der Regierungszeit von Pharao Echnaton (ca. 1353–1336 v. Chr.) Seit der 18. Dynastie ab ca. 1550 v. Chr. liegt bei anspruchsvollen Projekten in Ägypten die Sechs-Farben-Maltechnik vor,39 bei der weiß, gelb, rot, grün, blau und schwarz durch abwechselnde Schichtungen einen bestimmten Farbeffekt erzielen. Gegen Ende dieser Epoche ereignet sich eine einzigartige Transgression in der ägyptischen Kunst. Eingeleitet wird dieser Wandel durch die

37Vgl.

Warburton 2010, 177. 2007, 219–220. 39Vgl. Nagel 2007, 219. 38Nagel

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Thronbesteigung Echnatons, der um 1350 v. Chr. seine neue Reichshauptstadt Achet-Aton in Tell el-Amarna errichtet, wo er einen Kultort für den Sonnen- und Lichtgott Aton erbaut.40 Die neue Hauptstadt versinnbildlicht die Abkehr des Pharaos vom polytheistischen Religionsbild hin zum Monotheismus, dem die alten Götter und ihre Tempel bei einer Säuberungsaktion in den Städten Memphis und Theben zum Opfer fallen.41 Auch die visuelle Erscheinung des Sonnengottes, der nun nicht mehr als Allegorie „in zwei Barken über den Himmel und durch die Unterwelt fährt […] [sondern] nur noch als Sonne mit Strahlen dargestellt wird“,42 unterliegt einem drastischen Wandel. Aus dieser naturphilosophisch-aufklärerischen Betrachtung der neuen Weltordnung entwickelt sich ferner ein naturnachahmender Anspruch an die Kunst, der sich neben der Darstellung des Sonnengottes als „Sonne mit Strahlen“43 in naturalistischen Bildnissen offenbart. Erhaltene Porträts aus Amarna unterscheiden sich dabei deutlich in ihrem naturnachahmenden Anspruch von Großplastiken und Reliefs der vorherigen und späteren Epochen. Exemplarisch kann hier der Berliner Kopf (ÄM 21834, 1388‒1351 v. Chr.) der Königin Teje44 (Abb. 4) im Vergleich mit einer Kolossalstatue (JE 33906) im Ägyptischen Museum Kairo angeführt werden.45 Das dargestellte Alter der Königin divergiert stark. Außerdem zeichnet sich die Berliner Version durch einen herausragenden Naturalismus aus. Das Porträt trägt individuelle Gesichtszüge, welche durch die schmale Nase, die herausgearbeiteten Nasolabialfalten und die heraustretenden Augen dem Antlitz Tejes einen einzigartigen Charakter verleihen, was ihre „resolute Persönlichkeit“46 unterstreicht. Die Eigenständigkeit dieser Figur wird durch die Materialwahl hervorgehoben. Das dunkle Holz imitiert Tejes Inkarnatfarbe und hebt so ihre individuellen Züge hervor. Der mimetische Effekt wird zudem durch die Verwendung unterschiedlicher Materialien unterstützt.47 Die Hervorhebung eines individuellen Charakters zeigt sich ebenfalls an anderen Porträtköpfen aus Berlin, wie beispielsweise dem des Eje,48 dem Nachfolger Tutenchamuns.49 Hier ist zwar die Hautfarbe nur partiell angebracht, doch kann

40Vgl.

Wedel 2005, 31.

41Vgl. Assmann

2012, 79. 2012, 79. 43Assmann 2012, 79. 44Teje ist Echnatons Mutter. 45Die Kolossalstatue zeigt Teje mit ihrem Gemahl Amenophis III. 46Rattner/Danzer 2008, 277. 47Der polychrome Kopf besteht aus Eibenholz, Silber, Gold, Fayence und Stoff. Vgl. Seyfried 2012c, 202. 48Inventar Nr.: ÄM 21350. Im Ausstellungskatalog Im Licht von Amarna wird erläutert, dass der Porträtkopf nicht eindeutig Eje zugewiesen werden kann. Vgl. Seyfried 2012c, 312. 49Vgl. Wedel 2005, 39. Eje regiert zwischen 1323 und 1319 v. Chr. 42Assmann

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Abb. 4  Statuenkopf der Königin Teje mit Doppelfederkrone, um 1355 v. Chr., Neues Museum Berlin. (Foto: Katharina Ute Mann)

der naturnachahmende Anspruch an die Figur durch die Form erahnt werden. Vor allem die leicht gekrümmte Nase, die ausgeprägte Kinnpartie sowie die hohen Wangenknochen und die deutlich sichtbaren Stirnfalten stellen die charakteristischen Gesichtszüge des Porträtierten heraus. Diese sind dabei so prägnant vom Bildhauer dargestellt worden, dass Cyril Aldred ­(1914–1991) den Kopf aus Berlin

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K. U. Mann

für einen optischen Vergleich mit der Mumie des Juja anführt,50 um die Verwandtschaft der beiden Männer zu belegen.51 Auch das bekannteste Porträt aus der Amarna-Zeit, die sogenannte Nofretete-­ Büste (ÄM 21300), spiegelt diesen mimetischen Anspruch an die Kunst wider. Ludwig Borchardt (1863‒1938) entdeckt sie neben dreiundzwanzig weiteren Gipsköpfen im Jahre 1912 in den Überresten der Bildhauerwerkstatt von Thutmosis.52 Der naturnachahmende Effekt ist zwar in den Konturen der männlichen Porträts deutlicher hervorgehoben, beispielsweise durch eingeritzte Falten (ÄM 21342) oder rundliche Wangen (ÄM 21299), jedoch sind nur zwei Figuren komplett bemalt gewesen: Nofretete (ÄM 21300) und Echnaton (ÄM 21360). Aufgrund der „brutalen Zerschlagung“53 des Echnaton-Porträts nach dem Tode des Pharaos kann jedoch die mimetische Fassmalerei nur anhand des Nofretete-Bildnisses näher beleuchtet werden. Allerdings wird seit 2009 die Authentizität dieses Artefakts von Henri Stierlin (*1928) in Frage gestellt, sodass zunächst auf seine Theorie näher eingegangen werden muss, bevor eine Beschreibung der Skulptur erfolgen kann. Der Kunsthistoriker begründet seine Hypothese mit zwei Hauptargumenten: dem fehlenden Auge und der senkrecht abgeschnittenen Büstenform.54 Sein erstes Argument untermauert er damit, dass ein fehlendes Auge in der Amarna-Zeit einer Majestätsbeleidigung gleichgekommen wäre und der Bildhauer schlimme Konsequenzen hätte befürchten müssen. Daher würde es kein Künstler gewagt haben, einen solchen Fauxpas zu begehen. Bereits einhundert Jahre zuvor geht auch Borchardt in seiner Abhandlung auf den Umstand des fehlenden Auges ein und bezeichnet dies als eine bewusste Lücke, da er keine Anhaltspunkte dafür hat finden können, dass ein zweites Auge existiert hat. Er begründet die Fehlstelle damit, dass die Nofretete ein Modellkopf sei und daher das Auge nie eingefügt wurde.55 Der Nofretete-Kopf hat demgemäß zur Entstehungszeit weder eine finanzielle noch politische Bedeutung gehabt und sei aus diesem Grund auch bei der Aufgabe der Stadt zurückgelassen worden. Die Idee eines Modellkopfs würde meiner Meinung nach auch die vermeintliche Büstenform mit senkrecht abgeschnittenen Schultern erklären, die nach Stierlins Ansicht einer Tradition der Moderne zuzuschreiben sei.56 Sterlins Schlussfolgerungen beruhen im Endeffekt auf einer kunsthistorischen Irritation, da aus dieser Epoche keine weiteren senkrecht abgeschnittenen Schultern bei Büsten bekannt sind. Daher lässt Stierlin seine Ideen zur „unechten“ Nofretete auch als offene Hypothese stehen, was er durch den Fragecharakterseines Buchtitels „Le buste de Nefertiti. Une imposture de l’égyptologie?“ unterstreicht. 50Vater

von Königin Teje. Wedel 2005, 39. 52Vgl. Seyfried 2012b, 178a. 53Seyfried 2012c, 334. 54Stierlin 2009, 36. 55Vgl. Seyfried 2012a, 336. 56Stierlin 2009, 46. 51Vgl.

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Doch liegt hier nicht vielleicht ein Paradoxon vor, dass zeitgemäße Begriffe und Vorstellungen auf „Kunstwerke“ anderer Epochen übertragen werden, um sie angemessen beschreiben zu können? Eine Büste stellt eine bildhauerische Arbeit dar, bei der bewusst die Figur auf ihren Kopf mit Oberkörperanschnitt reduziert wird.57 Daher muss hier gefragt werden, ob die Berliner Nofretete überhaupt eine Büste ist. Wenn Borchardt tatsächlich die Nofretete neben weiteren unvollendeten Köpfen in einer ehemaligen Werkstatt gefunden hat und man darüber hinaus seiner Argumentation folgt, dass das Berliner Exponat „nur“ ein Musterkopf gewesen ist, kann dann die vermeintlich senkrecht abgeschnittene „Büstenform“ anstelle einer bewussten künstlerischen Darstellungsweise nicht einfach einen praktischen Grund gehabt haben? Angesichts der unvollständigen Halskette muss meines Erachtens bezweifelt werden, dass die senkrecht abgeschnittene Form der Schultern eine bewusste künstlerische Ausdrucksart darstellt. Stattdessen wird der Eindruck erweckt, der Schmuck sei hier nebensächlich. Diese Wahrnehmung wird ferner durch die malerischen Qualitätsunterschiede unterstrichen, da das Inkarnat sehr fein ausgearbeitet ist, während der Kopfschmuck und das Collier ungenau gemalt sind. Das unsaubere und skizzenhafte Kolorieren der Zierelemente der blauen Krone und der Halskette scheinen folglich Stierlins Annahme, die Berliner Nofretete sei eine moderne Büste, zu wiederlegen, da bei einer zu Beginn des 20. Jahrhundert gefertigten Plastik eine einheitliche Ausarbeitung eher zu erwarten gewesen wäre. Vielmehr erscheint mir Borchardts Theorie eines Werkstattmodells wahrscheinlicher. Die unsauber ausgearbeiteten Schmuckelemente verweisen meiner Meinung nach darauf, dass sie bei der endgültigen Version der Statue durch realen Schmuck ersetzt werden sollten. Die endgültige Farbwirkung wird so bei dem Modell nur skizziert. Diese Annahme wird durch einen unfertigen Nofretete-Kopf (Abb. 5, ÄM 21352) untermauert, der Gesicht mit Kronenreif und Hals zeigt, bei dem jedoch die restlichen Schmuckpartien ausgelassen sind. Die endgültige Ausführung sollte vielleicht später einer sogenannten „Kompositstatue“58 eingesetzt werden, wie dies hier in einer hypothetischen Rekonstruktion (Abb. 6) veranschaulicht wird. Diese zu jener Zeit neuartige Statuenvariante erlaubt, durch die Verwendung unterschiedlicher Materialien einen noch prägnanteren Naturalismus darzustellen.59 Die menschliche Haut wird dabei nicht nur durch die Farbe, sondern auch durch ihre optische Haptik von anderen Elementen wie beispielsweise Gewand und Schmuck unterscheidbar gemacht.

57Vgl.

Winter 1985, 15.

58Thompson

2012, 164. Statuen sind bereits aus der Regierungszeit Amenophis III., dem Vater Echnatons belegt, wobei einige Fundstücke sogar aus der Zeit Tutmosis IV., dem Großvater Echnatons, zu stammen scheinen. Die Methode wurde alsdann in der Amarna-Zeit weiter verfeinert, indem alle Körperteile separat angefertigt wurden. Vgl. Thompson 2012, 164. 59Zusammengefügte

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Abb. 5  Unvollendeter Statuenkopf der Nofretete mit Korrekturangaben, um 1340 v. Chr., Neues Museum Berlin. (Foto: Katharina Ute Mann)

Das fein ausgearbeitet Gesicht der Berliner Nofretete veranlasst mich allerdings zu der Hypothese, dass der Kopf in der Werkstatt nicht als Bildhauermodell verwendet wurde, sondern eher als Farbmuster für potenzielle Auftraggeber oder als Farbbeispiel für einen Maler gedient hat. Da der Nofretete-Kopf von mir als maltechnisches Modell verstanden wird, soll auch die Beschreibung des Berliner Exponats unter diesem Blickwinkel erfolgen. Das Königinnen-Porträt mit blauer Krone und polychromem Collier zeigt Nofretete mit feinen Gesichtskonturen und ebenmäßigem Inkarnat mit rötlichen Lippen sowie schwarz konturierten Augen und präzise geformten dunklen Augenbrauen. Die Schattenrisse der Wangenknochen und des Unterkiefers wie auch die mittlere Partie des Halses wurden mit malerischen Mitteln dunkler gestaltet, um einen naturnachahmenden Effekt zu erzielen, der die filigranen Umrisse ihres Antlitzes unterstreicht. Der hier vorherrschende Naturalismus wird alsdann durch das vorhandene rechte Auge betont, welches durch den Bergkristall und den schwarzgefärbten Wachs sowohl den Glanz als auch die optische Haptik eines realen Auges imitiert.60 Das Porträt verändert darüber hinaus bei entsprechender Belichtung sowie je nach Betrachterperspektive subtil den Ausdruck und demonstriert damit 60Vgl.

Seyfried 2012a, 336.

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Abb. 6  Hypothetische Rekonstruktion einer Nofretete-Kompositstatue in Farbe. (© Katharina Ute Mann)

sehr eindrücklich die Überlegenheit der Fassmalerei gegenüber den monochromen Gipsköpfen bei der mimetischen Wiedergabe von menschlichen Abbildern. Trotz der Ausführung eines Frauenbildnisses, das unserem heutigen Schönheitsideal entgegenkommt, handelt es sich bei der Berliner Nofretete nicht um eine gefällige Idealdarstellung, was die subtil wiedergegebenen Glabella- und Nasolabialfalten, ferner die Andeutung von Tränensäcken zeigen. Dies macht dem Betrachter deutlich, dass hier, ähnlich dem Berliner Kopf der Teje, eine ältere Nofretete-Version abgebildet wird. Die enorme Bedeutung dieser Faltendarstellung für eine charaktervolle Visualisierung belegt auch der unfertige Kalksteinkopf aus Berlin (ÄM 21352), bei dem schwarze Schattierungen einige Partien mehr oder weniger deutlich hervorheben. Zu den helleren Abstufungen gehören die vertikale Glabellafalte, der suggerierte linke Tränensack sowie eine Einkerbung des Nasenrückens. Dunklere Schraffuren sind hingegen um die Wangenknochenpartie, die Nasolabialfalten, den Unterkiefer sowie oberhalb des Kehlkopfs zu finden. Die Übereinstimmung der Schattierungen mit der fein nuancierten Licht- und Schattendarstellung der Berliner Nofretete lässt

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Abb. 7  Stand-Schreitfigur der Nofretete, um 1345 v. Chr., Neues Museum Berlin. (Foto: Katharina Ute Mann)

vermuten, dass es sich hierbei um Orientierungslinien für den Maler handelt. Die Mimikfalten sollen sowohl durch den bearbeiteten Stein als auch durch die Farbe sorgsam, aber nicht aufdringlich erkennbar gemacht werden. Diese subtile Visualisierung des Alters während der Entstehung des Porträts der Nofretete zeigt sich ferner bei einer Ganzkörperstatuette von 40 cm Höhe (Abb. 7, ÄM 21263), deren Gesicht ebenfalls deutliche Nasolabialfalten aufweist, die bei entsprechender Lichtführung sichtbar werden.

Ästhetische Transgressionen in der antiken Kunst Tab. 3  Farbwahrnehmung. (Nach Warburton 2010, 178–180)

187

Farbe

Assoziative Farbenwahrnehmung

Weiß

Hell/Silber/Sonnenlicht

Gelb

Sonne/Gold/Weiblich

Rot

Hell: Wüste Dunkel (bis Braun): Männlich Stärke

Grün

Vegetation

Blau

Hell: Himmel Dunkel: Wasser

Schwarz

Dunkel

Die malerische Verwendung von Farbe dient folglich dazu, die naturnachahmende Wahrnehmung bei Lichtverhältnissen in Innenräumen zu unterstreichen. Daher kann angenommen werden, dass der lebensgroße Nofretete-Kopf ähnlich der Statuette ein Modell für eine nahansichtige Figur sein sollte, die für einen Innenraum konzipiert gewesen ist. Die für diesen Effekt sehr aufwendige Maltechnik auf Stuck ist hier besonders hervorzuheben, die frappierend an Ernst Bergers (1857–1919) Beschreibung der griechischen Stuccotechnik mit Temperafarben erinnert.61 Die Sechs-Farben-Maltechnik ist dabei nicht nur für den mimetischen Effekt des Porträts, sondern auch für die Farbästhetik essentiell. Die nebeneinanderliegenden Farben folgen hier offenbar einer ästhetisch-assoziativen Farbwahrnehmung. David Warburton geht in seinem Essay ausführlich auf die unterschiedlichen Farbbedeutungen der alten Ägypter ein, (Tab. 3). Die assoziative Farbästhetik zeigt durch ihre symbolische Anwendungsmöglichkeit eine deutliche Analogie zur griechischen Archaik, sodass bei der farblichen Unterscheidung zwischen weiblich und männlich auch hier ein ägyptischer Einfluss auf die griechische Malerei angenommen werden muss. Darüber hinaus wird in Ägypten eine ästhetische Einteilung in hell und dunkel ersichtlich. Damit kann eine Farbe in einer hellen oder dunklen Variante eine andere Bedeutung erhalten; wie etwas Hellblau für den Himmel und Dunkelblau für Wasser. Demgemäß scheint eine weitere wichtige Farbunterscheidung bei der ästhetischen Wahrnehmung der Berliner Nofretete vorzuliegen: warm und kalt. Diese Farbgestaltung ist nuanciert angewendet, ebenso wie hell und dunkel. Daher wirkt die Inkarnatfarbe im Kontrast zum kühlen Blau der Krone wärmer und damit lebendiger. Diese zwei Gegensatzpaare spiegeln sich vor allem in der Krone wider, die die assoziative Farbästhetik am eindrücklichsten wiedergibt: kaltes Hellgrün und warmes Dunkelrot, sowie kaltes Dunkelblau und warmes Gelb wurden hier ­verwendet, wobei angenommen werden kann, dass das warme Gelb eigentlich ein

61Vgl.

Berger 1904, 79.

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Goldimitat darstellt.62 Die Dominanz der Farbkonstellation Blau mit Goldgelb in der Krone verweist wiederum auf eine symbolisch aufgeladene Vorliebe für diesen Farbkontrast. Dies zeigt sich generell im Kunstgewerbe der Amarna-Zeit, in der der Halbedelstein Lapislazuli mit seinem ultramarinen Blauton mit Gold abgesetzt wurde. Der ultramarine Farbton als natürlicher Farbstoff ist jedoch sehr teuer, sodass die Ägypter bereits im Alten Reich das künstliche Pigment „ägyptisch Blau“ herstellten, das vor allem in der Malerei angewendet worden ist.63 Durch das neue Pigment, das dem Lapislazuli im Farbton sehr nahe kommt, wurde es möglich, dieses spezielle Blau als dominante Farbe für Gebrauchsgegenstände zu verwenden und das warme Goldgelb dabei pointiert einzusetzen. Die ästhetische Wirkung von Farbgegensätzen ist auch für die Schichtenmalerei genutzt worden, in der eine kühle Unterfarbe (schwarz, blau, grün) die darüber liegende warme Farbe (rot, gelb, weiß) kälter wirken ließ, und umgekehrt. Anders als bei der Mischtechnik entstehen demgemäß keine neuen Farben wie beispielweise Violett (rot + blau), sondern neue Farbnuancen: entweder ein kühles Rot (rot auf blau) oder ein warmes Blau (blau auf rot). Bei einem bereits bräunlichen Rot wie Eisenoxidrot oder Ockerrot, kann so mit einer blauen Unterlage ein kühler Braunstich des Rots erzeugt werden, ohne die Farbe zu sehr zu verdunkeln. Somit stand den ägyptischen Malern der 18. Dynastie trotz der reduzierten Farbpalette ein sehr facettenreiches Farbsystem zur Verfügung, in dem neben einer assoziativen Bedeutung auch eine virtuose Kombinationsmöglichkeit kreiert werden konnte, deren einzelne Farben in Hinblick auf ihre Hell-Dunkel- wie auch Warm-Kalt-Kontraste verwendet worden sind. Entsprechend dem ästhetischen Bedürfnis an die Farbe wurde diese durch einen bestimmten Ton wiedergegeben, um so ein harmonisches Gesamtbild zu erzielen. Folglich spiegelt sich der kosmologisch-naturphilosophische Aton-Kult, den Jan Assmann als „Religion des Lichtes“64 betitelt, nicht nur in der naturnachahmenden Form der Skulpturen wider, sondern auch in der Farbästhetik. Die ausführliche Beschreibung der Berliner Nofretete und ihrer künstlerischen Besonderheiten, die die Komplexität der naturnachahmenden Fassmalerei der Amarna-Zeit widerspiegeln, dienen hier dazu, die ästhetische Transgression während der Regierungszeit von Pharao Echnaton gegenüber der ursprünglichen Kunstnorm hervorzuheben, in der zuvor bewusst auf solch eine ausgeprägte Mimesis verzichtet wurde. Heutzutage wird dieses Porträt der Königin Nofretete aufgrund der vorherrschenden Kunstnorm als eine „zeitlose, auf jedermann gleichermaßen wirkende Schönheit“65 wahrgenommen, in der 18. Dynastie muss

62Aufgrund

dessen soll im weiteren Verlauf anstatt der Bezeichnung warmes Gelb der Begriff Goldgelb verwendet werden.

63Vgl.

Riederer 1994, 143. 2012, 79. 65Wedel 2005, 11. 64Assmann

Ästhetische Transgressionen in der antiken Kunst

189

jedoch der neue naturnachahmende Anspruch an die Kunst auf die Zeitgenossen ähnlich transgressiv gewirkt haben, wie die ersten individuellen Porträts oder impressionistischen Gemälde auf die Menschen im klassischen Griechenland. Doch zwischen diesen beiden Transgressionsmodellen besteht ein wesentlicher Unterschied; nach dem Tod Echnatons erfolgt eine allmähliche „Rückwendung“66 zum Polytheismus und zur ursprünglichen Kunstnorm. Die mimetischen Gipsköpfe aus der Amarna-Zeit belegen damit, dass nicht jede künstlerische Transgression zwangsläufig zu einer ästhetischen Normverschiebung führen muss, vor allem dann nicht, wenn sie zu abrupt auftritt oder an eine bestimmte Person gebunden ist, deren historisches Andenken nach dem Tode nicht weiterlebt.

4 Die mimetischen Terrakottakrieger des ersten chinesischen Kaisers als Beispiele einer künstlerischen Transgression ohne ästhetische Normverschiebung Der Zusammenhang zwischen neuen philosophischen Ideen und einer künstlerischen Transgression lässt sich ebenfalls an hellenistischen Plastiken belegen. Der Hellenismus stellt dabei nicht nur die Blütezeit der naturalistischen Kunst in Form und Farbe in der griechisch-römischen Antike dar, sondern markiert mit den Lehren des Aristoteles einen Meilenstein in der naturphilosophischen Entwicklung. Der Beginn des Hellenismus ist dabei mit einem historischen Wandel verknüpft, der durch die Eroberungen Alexanders des Großen eine Expansion der griechischen Kunst bedeutete, die damit zur ersten globalen ästhetischen Norm wurde,67 was an einem chinesischen Beispiel (Abb. 8) dargelegt werden kann. Neuere kunsthistorische Untersuchungen belegen, dass die naturalistische Darstellungsart wie auch politische Funktion der Plastiken aus der Regentschaftszeit (247–210 v. Chr.) des Ersten Kaisers Qin Shi Huangdis68 (221–210 v. Chr.) von griechischen Skulpturen beeinflusst worden sind.69 Dieser spezifische Kulturaustausch wird durch die Eroberungen Alexanders des Großen forciert, die „[…] nicht nur eine logistische Verbindung zwischen Asien, Afrika und Europa [­ schufen]. Sie ebneten auch den Weg für eine einschneidende Umwälzung in Kultur und Kunst der Antike“,70 wie Lukas Nickel (*1964) erläutert. Dies wird vor allem anhand der

66Hanus

2012, 37.

67Vgl.

Michałowski 1970, 156. 68Qin Shi Huangdi gilt als Tyrann wie auch Reformer, der das chinesische Reich einte. Vgl. Larmer 2012, 64. 69Nickel 2013, 3 und 20. 70Nickel

2013, 13.

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Abb. 8  Hypothetische Farbrekonstruktion der chinesischen Terrakottakrieger angelehnt an zeitgenössische Erkenntnisse zur Fassmalerei. (© Katharina Ute Mann)

­ errakottakrieger aus dem Grabmal des Herrschers ersichtlich, da vor dem Ersten T Kaiser „Realistische Plastiken […] gänzlich unbekannt“71 waren. Darüber hinaus erläutert Lukas Nickel: Auffällig ist ausserdem, dass nach der kurzen Regierungszeit des Ersten Kaisers lebensnahe oder realistische Skulpturen wieder aus dem chinesischen Alltag verschwanden. […] Die Figuren im Grab des Ersten Kaisers stehen damit isoliert in der Entwicklung der chinesischen Kunst.72

Dieses Verlangen nach Naturalismus in der Kunst zeichnet sich bei der Terrakottaarmee neben der Kontur vor allem durch die Polychromie aus, die jeder einzelnen Plastik den Effekt eines „wirkliche[n] Menschen“73 verleiht. Dabei dominieren Farben wie Rot, Blau, Lila, Grün und Rosa.74 Den Farben aus Zinnober, Azurit oder Malachit liegt ferner ein spezieller schwarzbrauner Lack zu Grunde, der sich nach über 2000 Jahren gegenüber UV-Licht und Trockenheit als sehr empfindlich erweist und nach wenigen Minuten an der Luft abblättert.75

71Nickel

2013, 3. 2013, 11. 73Nickel 2013, 24. 74Vgl. Larmer 2012, 64. 75Vgl. Larmer 2012, 79. 72Nickel

Ästhetische Transgressionen in der antiken Kunst

191

Abb. 9  a Hypothetische Farbrekonstruktion der Venus von Milo angelehnt an zeitgenössische Erkenntnisse zur Fassmalerei. (© Katharina Ute Mann), b Venus de Milos (Detail), ca. 100 v. Chr., Musée du Louvre, Ma 399. (Foto: Katharina Ute Mann)

Aufgrund der Fragilität der antiken Polychromie erhielt die farbige Fassung der Terrakottaarmee erst nach konservatorischen Maßnahmen im Jahr 1999 eine öffentliche Resonanz, obwohl schon nach ihrer Entdeckung 1974 eine vielfarbige Bemalung der Figuren durch Farbreste belegt werden konnte.76 Die Farbrekonstruktionen eines chinesischen Generals (T20G10:97) und eines Schützen (02744) aus dem Museum für Abgüsse klassischer Bildwerke München zeigen ferner eine dem europäischen Hellenismus vergleichbare Farbästhetik, die ebenfalls auf Warm-Kalt- und Hell-Dunkel-Kontrasten beruht. Diese Farbpräferenz hellenistischer Polychromie zeichnet sich vor allem durch unterschiedliche Rot- und Gelbvarianten aus.77 Dabei herrschen weitere Farbvorlieben vor, wie beispielsweise unterschiedliche Rosa- und Blautöne (Abb. 9a und

76Vgl.

Blänsdorf 2008, 11.

77Vgl.

Blume 2015, 41.

192

K. U. Mann

b), die zusammen vor allem in der Version Rosa und Hellblau ein sehr beliebtes Farbpaar darstellen. Farben wie Grün und Dunkelviolett sind hingegen selten verwendet worden.78 Vor allem an Gewandimitationen lässt sich die vorherrschende Farbmode aufzeigen. Clarissa Blume erläutert, dass sie während ihrer Untersuchungen an hellenistischen Skulpturen neben dunklen Rot- und Gelbtönen auch intensive Leuchtfarben entdeckt hat.79 Eine solche Farbpräferenz lässt sich auch an den chinesischen Terrakottakriegern ausmachen. Die vorherrschenden kalten Farben wie Schwarz, Blau, violettes Purpur und Hellgrün werden hier durch warme Rottöne kontrastiert.80 Während die Farben Rot, Purpur und Blau ebenso von den alten Griechen verwendet werden, ist die großflächige Verwendung von Schwarz wie auch von hellem Malachitgrün und Chinesisch Violett offenbar ein lokales Phänomen, sodass hier die chinesische Farbästhetik auf eine griechische Formensprache trifft. Ferner scheint meiner Meinung nach noch ein ägyptischer Einfluss vorzuherrschen, da das im Katalog abgebildete helle Azurit (Abbildung 1.26, 18) im Farbton auffallend dem künstlich hergestellten Pigment Ägyptisch Blau ähnelt, dessen Überreste im Grab eines Freskomalers aus Hawara geborgen wurden und heute im British Museum (GR 1888.9-20.23-28) ausgestellt werden. Diese Transgression in der ästhetischen Farbwahrnehmung zur Zeit des Ersten Kaisers ist offenbar demselben hellenistischen Kulturtransfer geschuldet, wie die von Nickel angeführte Formensprache.81 Die Terrakottaarmee ermöglicht damit Rückschlüsse zur ästhetischen Wahrnehmung der griechischen Fassmalerei, die nicht dermaßen gut erhalten ist wie ihr asiatisches Pendant. Die chinesische Maltechnik ähnelt dabei so frappierend den Quellen zur hellenistischen Malerei, dass eine künstlerische Verwandtschaft deutlich wird: der Pinselduktus ist sichtbar, Einsatz von Ei als Bindemittel, analoge Wahl der Pigmente, Tiefenwirkung durch Schattierungen und changierende Farben.82 Von besonderem Interesse an den Untersuchungsergebnissen über die chinesische Fassmalerei ist hier vor allem die Schichtenmalerei beim Inkarnat und das zügige Auftragen der Farben an den Gewändern,83 was eine Hierarchie in der malerischen Bearbeitung der unterschiedlichen Skulpturenteile bedeutet. Der daraus resultierende naturnachahmende Effekt, der an den vorhandenen chinesischen Terrakottakriegern abgelesen werden kann, muss folglich auch für griechische Kunstwerke angenommen werden. Gleiches gilt für die Modellierung der dicken Farbschichten durch eine Hell- und Dunkel-Malerei, wobei der Pinselduktus bewusst erkennbar bleibt. Die Analogie zu römischen Wandmalereien, bei denen 78Vgl.

Blume 2015, 41. Blume 2015, 62. 80Vgl. Blänsdorf 2008, 15. 81Vgl. Nickel 2013, 20. 82Vgl. Blänsdorf 2008, 11–21. 79Vgl.

83Blänsdorf

2008, 11 und 21.

Ästhetische Transgressionen in der antiken Kunst

193

Gewänder gleichsam zügig gearbeitet sind, lässt darüber hinaus den Schluss zu, dass auch bei den Hellenen die künstlerische Aufmerksamkeit auf der malerischen Ausarbeitung des Gesichts gelegen hat. Die Analyse dieser künstlerischen Transgression erlaubt so, einen unikalen Einblick in eine bereits verlorene Kunstnorm zu erhalten.

5 Schlussbetrachtung Die prominenten Beispiele aus China und Ägypten belegen im Kontrast zur Entwicklungsgeschichte der griechischen Malerei auf Skulpturen, dass ästhetische Transgressionen der antiken Kunst nicht immer zu Normverschiebungen führen müssen. Jedoch können sie aufgrund moderner Kunstnormen neu bewertet werden. Dies lässt sich an der Berliner Nofretete und der Terrakottaarmee deutlich aufzeigen, da ihre künstlerische Qualität und Bedeutsamkeit heute anerkannt ist. Ästhetische Grenzüberschreitungen brauchen demnach ein Kollektiv, das transgressive Impulse akzeptiert und so eine Normverschiebung zulässt. Die künstlerischen Irritationen können dabei von unterschiedlicher Art sein, wie beispielsweise provokante Themen, moderne Maltechniken, neue Farben oder neuartige Darstellungsweisen. Der grenzüberschreitende Charakter wird dabei besonders in der Gegenüberstellung zur früheren Kunstnorm deutlich, wie etwa in der Übergangszeit von der Archaik zur Klassik, in der die ästhetische Norm bestehend aus Aspektive und Umrisslinien von Perspektive und Farbmodellierung abgelöst und zur neuen Kunstnorm wird. Diese herausragende Bedeutung für eine kunsthistorische Entwicklung wie auch die enorme ästhetische Herausforderung an den Betrachter bewirken, dass gerade transgressive Impulse der antiken Kunst immer noch eine erhebliche Faszination auf Rezipienten ausüben.

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Quellenregister

A Aischyl. Fr. 61, 13 Apollod. Bibl. I,4,1, 24 Aristoph. Lys. 637–647, 36 Nub. 412, 15 1071–1074, 14 Ran. 55–58, 14 882, 15 1327–1328, 13 Thesm. 13–22, 19 35, 18 58, 19 62, 19 97–98, 13 134–141, 11 136–137, 13 146, 19 153, 18 157–158, 18 173–174, 18 177–178, 17 187, 18 191, 13 191–192, 12, 18 200–201, 19 204–207, 8 218–219, 12 220, 18 235, 12 Aristot. Ath. pol. 34–40, 52 pol. II,1269b20–25, 88 II,1270a23–25, 86

II,1270a29–31, 86 IV,1294b22–24, 86 Asc. Mil. 1, 109 15, 109 27, 109 31, 109 41C, 110 C Caes. civ. I,24,1, 131 I,7,1, 117 I,7,5–7, 117 Gall. I,40, 103 II,3, 103 VII,42, 103 Cass. Dio XLV,2,3, 125 XLVIII,12,5, 125 LXII,1–12, 155 LXII,2,2, 157 LXII,2,3–4, 155 LXII,3,1, 156 LXII,3,4–5, 156 LXII,4,3, 156 LXII,5,5, 156 LXII,6,2–5, 158 LXII,7,2, 157 Cato agr. 5,4, 97 Char. 256,1–2, 113 Cic. ad Q. fr. I,1,37, 98

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197

198 I,2,12, 98 Arch. 18–19, 98 Att. IV,1,1, 98 Brut. 107, 111 Catil. 1,1, 101 1,2, 108 1,2–3, 113 1,3, 108 1,15, 101 1,22, 102 1,29, 95, 110, 112 2,1, 102 2,3, 113 2,19–21, 102 3,16, 102 4,11, 102 Cluent. 15, 97 177, 97 182, 97 191, 97 194, 97 div. I,36, 114 I,66, 98 I,80, 98 II,62, 114, 115 dom. 2–3, 107 44, 107 55, 107 63–69, 107 91, 111 92, 94 103, 107 113, 107 123, 105, 107 144, 94, 107 har. resp. 3, 98 39, 99, 100, 104, 105 41, 112, 116 42, 112 43, 112, 116 inv. II,148, 97 leg. III,26, 105 leg. agr. 2,6–10, 104 Mil. 8, 106, 109 80, 111 Mur.

Quellenregister 49, 102 83, 102 off. I,76, 111 II,80, 85, 87, 88 opt. gen. 4,10, 109 parad. 27, 102 Pis. 47, 101 Planc. 88, 111 Rab. perd. 11–15, 104 22, 106 24, 107 rep. I,4–6, 111 Sest. 99, 107 101, 106 117, 105 Sull. 26, 102 29, 102 67, 102 75, 102 76, 102 Tusc. III,11, 98 IV,51, 111 Verr. 2,1,7, 101 2,4,108, 113 2,5,139, 101 CIL II,172, 129 VI,1527, 97 D Dig. XXI,1,9–10, 97 Diod. XIV,2,1, 52 XIV,3–6, 52 XIV,5,7, 82 XIV,20, 54 XIV,80,1–8, 47 XIV,86, 61 XV,19,4–20,2, 55 XV,23,3–4, 54 Dion. Hal. XX,13,2, 83 E Eur. Iph. T. 1456–1467, 35

Quellenregister

199

F Flor. epit. II,2,3, 116

I,212–219, 125 I,220–222, 125 I,223–227, 125 I,225–226, 127 I,268–291, 128 I,291–351, 128 I,314, 130 I,323, 130 I,338, 130 I,352–356, 128 I,356–358, 128 I,359–386, 128 I,519–522, 130 II,234–284, 134 II,234–391, 134 II,285–325, 134 II,310–311, 134 II,319–322, 130 II,322–323, 134 II,326–391, 135 II,337, 135 II,380–381, 134 II,392–393, 130 II,526–600, 130 II,532–533, 130 II,650–736, 131 II,691–693, 131 II,728–730, 132 III,1–45, 131, 132 III,154–168, 137

G Gal. san. tu. II,12,16, 11 H Hdt. I,65,5, 79 VII,234, 86 Hippocr. hebd. 5,l. 16–22 Roscher, 11 Hom. Il. II,109–368, 131 I Ian. Nepot. I,1,1, 113 I,4,2, 113 ILS 8781, 129 L Lex XII tab. V 7a, 97 V 7b, 97 Liv. IV,13,14, 109 XXI,41,3, 97 XXI,47,4–5, 127 XXIV,6,9, 98 XXVIII,24,3–4, 98 XXXVI,34,3, 98 XXXVII,25,12, 98 per. LIX, 105 LVIII, 111, 113 Lucan. I,44, 122 I,67–182, 124 I,111–157, 133 I,123–124, 129 I,128, 134 I,129–143, 130 I,143–157, 124 I,158–182, 137 I,168, 137 I,183–192, 124 I,183–227, 124 I,192–200, 124 I,200–203, 124 I,203–212, 124

M Macr. Sat. I,11,13, 81 N Nep. Ages. 6,1–3, 80 Eum. 8,2–3, 77 Lys. 3,1, 84 Non. 78,28, 103 O Ov. ars III,153–168, 135 met. XV,861–867, 126 P Paus. III,5,8–9, 58

200 III,9,4, 63 III,9,7, 47, 63 IX,32,8, 82 Phil. opif. mund. 105, 11 Plat. apol. 19d, 15 20e, 15 leg. I,627b, 88 VI,762e, 78 Prot. 109d, 15 309a1–5, 11 312c–d, 15 315d6–e3, 10, 13 rep. 565e–566a, 88 symp. 174a9, 12 175c7–e4, 15 177d7–e1, 10 181a7–d5, 16 193b6–c2, 10 198a2, 11 208e2–209a5, 16 212e8, 12 213c5, 12 222c7–d3, 9 223a1, 11 Plin. nat. VII,122, 114 VII,143, 105 XXV,15–16, 171 XXXV,130, 175 Plut. Ages. 1,3, 78 5,3, 82 6,4–6, 63 9,1–10,3, 47 17,3, 59 19,1, 61 20,3, 78 21, 64, 65 22,1, 62 23,4, 85 23–24, 55 32,3, 80 32,4, 80 32,6, 80 58,4, 82 Agis 2,1, 82 3,1, 85

Quellenregister 4,1, 89 5,4, 86 6,2, 89 6,4, 86, 87 7,3, 86 7,4, 89 9,3, 86 11,1, 88 20,4–5, 89 20,5, 89 21,3, 87 Alex. 1,1–3, 77 Ant. 10.3, 88 Arat. 38,5, 90 C. Gracch. 1,6, 89 40,1, 114 Cam. 20,1, 78 Cat. min. 52,2–3, 135 Cat. mai. 5,1, 80 Cic. 31, 94 Cleom. 3,2, 87 7,4, 88 10,5, 87 11,2, 87 18,4, 88 22,6–7, 89 comp. Ag. Cleom. Gracch. 2,1, 89 2,2–3, 90 comp. Lyc. et Num. 1,1, 79 1,4–5, 79 2,1–2, 79 comp. Lys. et Sull. 1.1, 91 1,3, 84 2,1, 84 4,2, 82 comp. Nic. et Crass. 2,3, 79 Crass. 8,1, 81 8,2, 81 9,6, 81 27,4, 82 Demetr. 1,4, 80 Lyc. 1,1, 78 5,2, 79 5,4, 79 5,5, 78 16,5–6, 78 17,3, 83

Quellenregister 28,5, 83 28,6, 79, 80 29,5–6, 79 30,3, 76, 78 Lys. 1,1, 84 1,3, 84 2,1, 84 2,2, 82 2,4, 85 3,4, 84 7,1, 85 7,4, 85 8,3–4, 85 15,5, 82 17,1, 85 19,1–6, 85 20,6, 83 22,1–2, 85 22,2, 83 30,4, 83 mor. 202a, 78 208b, 78 215d, 78 239f, 85 802e, 80 806e, 78 815d–816a, 89 816f, 78 817f, 90 Num. 2,4, 78 20,5, 77 20,8, 77 Pomp. 20,3, 77 20,4, 81 Rom. 27,7, 78 Sert. 27,1, 78 Sull. 4,4, 82 10,4, 84 12,8–9, 85 Thes. 35,2, 78 Ti. Gracch. 1,2–3, 114 4,4–5,1, 89 8,2–7, 90 8,7, 89, 114 9,3, 89 10,7, 89

201 14,1, 89 14,4, 89 20,2, 89 21,3, 95, 110, 113 Pol. II,47,3, 88 II,56,16, 91 Ps.-Aristot. De virtutibus et vitiis 1250b 9–24, 49 Ps.-Sall. in Tull. 1, 98 2, 94 3, 94 R R. Gest. div. Aug. 4,13, 126 Rhet. Her. I,23, 97 IV,67, 113 IV,68, 110, 111 S Sall. Iug. 27, 116 31,7–10, 117 31,12–13, 117 Schol. in Aristoph. Ach. 118, 12 Equ. 1374a, 12 Lys. 645, 35 Thesm. 101a, 13 575, 12 Sen. De clem. I,11,1–2, 139 De ira 3,13, 135 Suet. Aug. 94,8, 125 T Tac. Agr. 16,1, 154 31,4, 154, 162 ann. I,1,3, 145 I,4,5, 144 III,33,4, 144 IV,57,3, 144 V,1,3, 144

202 XII,1,1, 146, 149 XII,3,1, 146 XII,5,3, 146 XII,7,3, 146 XII,25,1–2, 149 XII,37,5–6, 147 XII,40,3, 162 XII,42,2, 148 XII,56, 148 XII,57,2, 148 XII,57,3, 144 XIII,4,1, 139 XIII,5, 148 XIII,13,1, 148 XIII,14,1, 148 XIV,2,1, 148 XIV,31,1, 151 XIV,31,1–2, 150 XIV,32,2, 153 XIV,33,1–2, 152 XIV,33–34, 152 XIV,35,1, 152, 154 XIV,35,2, 153 XIV,36,1, 152, 154 Germ. 7,1, 160, 162 8,3, 161 11,5, 162 45, 162 hist. II,69,1, 165 III,45,1, 161 III,45,2, 159 IV,61,2, 159, 160 IV,65,4, 161 V,25,2, 162 Theop. Comicus Fr. 30, 12 Theophr. sens. 73–78, 173 Thuk. I,18, 76, 90 V Val. Max. I,1,1, 113 I,6,1, 76 IV,4 praef., 114 IV,6,1, 114 VII,2 ext.15, 80 Vell. II,49,4, 125 Verg. Aen. I,364, 148 II,771–794, 133

Quellenregister III,11–12, 132 IV,441–446, 130 IV,622–629, 127 georg. 1,33–34, 132 Vir. ill. 64,9, 113 65,5, 114 X Xen. Ages. 1,3, 78 1,10–17, 47 1,30–35, 47 7,4–5, 61 11,1, 62 15,4, 78 an. III,1,21–22, 46 hell. I,1,1–II,3,10, 71 I,1,4, 57 I,5,11–17, 53 I,4,12, 66 I,4,14, 50, 52, 64, 65, 70 I,4,20, 50, 52, 64, 65, 70 I,4,21–23, 52 I,5,11, 53 I,5,12, 53 I,6,36–37, 59 I,6,37, 57 I,7,1–33, 69 I,7,8, 66 I,7,19, 49, 50, 56 I,7,25, 49, 50, 56 I,7,35, 56 II,1,25, 53 II,1,27–29, 53 II,3, 51 II,3,23-49, 51 II,3,52–55, 60 II,3,53, 50, 51 II,3,55, 51 II,4,2–3, 51 II,4,14, 51 II,4,15, 51 II,4,17–18, 51 II,4,18, 57 II,4,19, 51, 52 II,4,20–22, 51 II,4,21, 50 II,4,21–22, 51, 70 II,4,22, 50

Quellenregister II,4,39, 57 II,4,42, 49, 54 II,4,43, 54 III,1,17–19, 57 III,1,21, 57 III,1,23, 57 III,2,10, 57 III,2,16, 57 III,2,17–19, 57 III,2,22–26, 63 III,2,24, 57 III,2,26, 57 III,2,30, 69 III,3,1, 57 III,3,4, 57 III,4,3, 48, 57 III,4,4, 57, 63 III,4,5–6, 46 III,4,5–26, 54 III,4,11, 46, 50 III,4,15, 47, 57, 58 III,4,16–24, 58 III,4,18, 47 III,4,23, 57 III,4,24–26, 46 III,5,5, 63 III,5,7, 57 III,5,22–24, 69 III,9,4, 63 III,9,7, 63 IV,1,22, 57 IV,1,33, 49, 50 IV,2,16, 60 IV,2,18, 57 IV,2,18–23, 59, 72 IV,2,20, 57 IV,3,2, 66 IV,3,10–14, 59 IV,3,14, 57 IV,3,20, 50, 61 IV,3,21, 57 IV,4,1–5, 61, 66 IV,4,2, 50, 66 IV,4,2–3, 70 IV,4,3, 50, 61 IV,4,5, 57, 58, 61 IV,4,5–6, 56, 61 IV,4,6, 61 IV,4,11–12, 61, 72 IV,5,1, 57 IV,5,1–2, 64, 65, 72 IV,5,2, 57 IV,5,4, 64

203 IV,5,5, 61 IV,5,7, 62 IV,5,10, 57 IV,5,11–18, 54, 62, 66, 70 IV,5,19, 54 IV,6,6, 57 IV,6,10, 57 IV,7,2, 49, 57 IV,7,2–3, 58, 60, 65 IV,7,3–7, 72 IV,7,4, 57 IV,7,5, 57 IV,7,7, 57, 58 IV,8,36, 57, 58 V,1,18, 57 V,1,29, 60 V,1,29–35, 54 V,1,33, 57 V,2,1–7, 54, 60, 72 V,2,8–10, 54, 60, 72 V,2,11–24, 54, 72 V,2,21–25, 54, 72 V,2,25, 54 V,2,25–30, 55 V,2,25–31, 54 V,2,26, 54 V,2,29, 65 V,2,31, 54 V,2,32, 55, 85 V,2,36, 54 V,2,37–43, 54, 72 V,3,3–6, 54 V,3,8, 54, 72 V,3,10–17, 60 V,3,14, 57 V,3,21–25, 54 V,3,26, 72 V,3,27, 54, 60 V,4,1, 48, 50, 54–56, 65, 70 V,4,4, 65 V,4,10–12, 55 V,4,11–12, 48 V,4,14–18, 55, 72 V,4,17, 55, 57 V,4,34–55, 55 V,4,37, 57 V,4,41, 57 V,4,47, 57 V,4,49, 57 VI,1,4, 18, 67 VI,4,1, 55, 67 VI,4,2, 50 VI,4,2–3, 50, 55

204

Quellenregister VI,4,3–15, 55 VI,4,7, 69 VI,4,19, 57, 67 VI,4,23, 67 VI,4,28, 31, 67 VI,4,29, 57 VI,4,29–32, 65 VI,4,30, 57 VI,4,30–31, 67 VI,4,30–32, 72 VI,5,1, 71 VI,5,6–9, 48, 56, 62 VI,5,8–10, 56 VI,5,10, 71 VI,5,10–21, 56, 72 VI,5,12, 57 VI,5,13–14, 56 VI,5,17, 57 VI,5,18, 57 VI,5,22–50, 56 VI,5,25, 80 VI,5,36, 62 VI,5,49, 57 VII,1,23–26, 70, 72 VII,1,27, 58 VII,1,31–32, 70, 72 VII,1,34, 63 VII,1,35, 64 VII,1,44, 67 VII,1,46, 67, 72 VII,2,1–4, 62 VII,2,6, 62 VII,2,16, 62 VII,2,20–21, 57, 62 VII,2,21, 71

VII,2,23, 57 VII,3,1–4, 67 VII,3,1–12, 72 VII,3,5–12, 70 VII,3,6, 50, 68 VII,3,7, 50, 56 VII,3,7–11, 68 VII,3,12, 68 VII,4,3, 70, 72 VII,4,6–11, 56 VII,4,11, 56 VII,4,13–14, 69 VII,4,19–27, 72 VII,4,28–32, 64, 65 VII,4,30, 57 VII,4,32, 72 VII,4,33–34, 68, 69 VII,4,33–36, 64 VII,4,34, 50 VII,4,35, 49, 50 VII,4,35–36, 69 VII,4,36, 56, 57 VII,4,36–40, 56, 65 VII,5,9–13, 72 VII,5,12–13, 72 VII,5,26, 72 VII,5,26–27, 72 Lak. pol. 14,7, 76, 90 2,10, 83 2,10–11, 86 mem. I,1,19, 49 II,1,28, 49 symp. 4,47–48, 49