Traditionswandel und Traditionsverhalten [Reprint 2010 ed.] 9783110949636, 9783484155053

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Traditionswandel und Traditionsverhalten [Reprint 2010 ed.]
 9783110949636, 9783484155053

Table of contents :
Musische und monastische Existenz: Petrarcas 1. Ekloge
Metamorphosen des Mythos. Petrarcas Kanzone ›Nel dolce tempo‹ (Rime XXIII)
Die lateinischen Zitate in ›Piers Plowman‹. Intertextualität und Traditionalität
»Quha wait gif all that Chauceir wrait was trew« – Auctor and auctoritas in 15th Century English Literature
Mythos und Herrschaft: Maximilian I. als Hercules Germanicus
Jörg Wickrams ›Ritter Galmy‹. Die Zähmung des Romans als Ur¬sprung seiner Möglichkeit
›Alt‹ und ›neu‹ in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zur kultur¬geschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten
Zwischen Ontologie und Rhetorik. Die Idee des movere animos und der Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit in der Musikge¬schichte
The disfigured self-portraits of Hans Baidung Grien

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FORTUNA VITREA Arbeiten zur literarischen Tradition zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert Herausgegeben von Walter Haug und Burghart Wachinger Band 5

Traditionswandel und Traditionsverhalten Herausgegeben von Walter Haug und Burghart Wachinger

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN

Gedruckt mit Mitteln aus dem Leibniz-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Traditionswandel und Traditionsverhalten / hrsg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. — Tübingen : Niemeyer, 1991 (Fortuna vitrea ; Bd. 5) NE: Haug, Walter [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-15505-1

ISSN 0938-9660

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort

Der vorliegende Band dokumentiert das dritte Reisensburger Gespräch im Rahmen unserer Bemühungen, Kategorien zu erproben, mit denen die kulturellen und insbesondere die literarischen Wandlungen vom späteren Mittelalter zur frühen Neuzeit besser als bislang aufgeschlossen werden könnten. Die Tagung, die vom 9. bis 11. Juni 1989 stattfand, galt der Kategorie der Tradition, deren Behandlung uns besonders vordringlich erschien, bilden sich doch in dem betreffenden Zeitraum auf zahlreichen Gebieten neue Formen des Verhaltens gegenüber dem Überkommenen heraus. Dabei zeigt jedoch jede eindringliche Analyse, daß es nicht darum gehen kann, schlicht Traditionsbrüche zu notieren, sondern daß die Aufgabe darin bestehen muß, die vielfältigen Möglichkeiten zu erkunden, nach denen sich Tradition und Innovation verschränken. Das Neue stellt sich immer wieder und auf mannigfache Weise im Alten dar, wobei es dieses bald mehr verwandelt und bald mehr unter wechselnden Aspekten darüber verfügt. Was sich bei diesen Prozessen als neu herausstellt, ist oft nichts anderes als der komplexe Kreuzungsort mehrschichtiger Perspektiven zum Vergangenen wie zum Künftigen hin. Die Beiträge zu diesem Band demonstrieren dies alle, doch jeder so sehr seiner spezifischen kulturhistorischen Situation gemäß, daß es unmöglich ist, die Ergebnisse auf einen Nenner zu bringen, es sei denn man sehe ihn darin, daß die Auseinandersetzung mit der Tradition eine neue Intensität gewinnt, daß sich ein verstärktes Wandlungsbewußtsein Geltung verschafft und daß die Lösungsversuche entsprechend vielfältiger und divergierender ausfallen. Die redaktionellen Arbeiten lagen in den Händen von Annette Gerok-Reiter, Anna Mühlherr, Heike Sahm und Brigitte Weiske. Wir danken ihnen sehr für ihre Sorgfalt. Walter Haug, Burghart Wachinger

V

Inhalt

Wilfried Barner Musische und monastische Existenz: Petrarcas 1. Ekloge

l

Karlheinz Stierle Metamorphosen des Mythos. Petrarcas Kanzone >Nel dolce tempo< (Rime XXIII)

24

Dieter Mehl Die lateinischen Zitate in >Piers PlowmanRitter GalmyAlt< und >neu< in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zur kulturgeschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten . .

121

Fritz Reckow Zwischen Ontologie und Rhetorik. Die Idee des tnovere animos und der Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit in der Musikgeschichte

145

Joseph Leo Koerner The disfigured self-portraits of Hans Baidung Grien

179

VII

WILFRIED BARNER Musische und monastische Existenz: Petrarcas 1. Ekloge

Unter dem Datum des 2. Dezember 13491 übersendet Francesco Petrarca von Padua aus, wo er seit kurzem ein Kanonikat an der Kathedrale versieht, seinem jüngeren Bruder Gherardo, der seit 1343 als Kartäusermönch im Kloster zu Montrieux bei Toulon lebt,2 ein eigentümliches poetisches Präsent. In 124 wohlgeformten daktylischen Hexametern unter dem Eklogentitel >Partheniasschweifenden< und des zurückgezogenem Hirtenlebens. Silvius, von Amor (vv. 11,24) getrieben, genauer: von amor Musae (v. 112), mag von der Faszination durch die Begegnung mit den großen epischen Sängern nicht lassen. Doch mit seinen eigenen Künsten zeigt er sich immer noch gänzlich unzufrieden (v. 36). Er ist >unglücklich< (v. 4). Monicus indes, von seiner >Höhle< aus (vv. l, 48), müht sich vergebens, den - hier so bezeichneten - Zwillingsbruder über seine >Schwelle< zu bewegen und die zum Himmel erhebenden Hirtengesänge zu preisen, die dort allnächtlich erklingen. Fast abrupt wendet sich Silvius schließlich zum Gehen (v. 110), seiner Berufung folgend: dem Inbild römischer Tugend, dem >afrikanischen< Helden, ein sacrum carmen zu >weben< (v. 122). 1

So die Angabe am Schluß des (lateinischen) Briefs: Francesco Petrarca, Le familiari 1/2. Introduzione, traduzione, note di Ugo Dotti, Urbino o. J. [1974], S. 1107. Nach dieser maßgeblichen Ausgabe (mit italienischer Übersetzung) wird im folgenden der Brief zitiert (der Text: S. 10911107). 2 Über diesen Lebensabschnitt Petrarcas, auch über den Bruder in diesen Jahren, zusammenfassend Ernest Hatch Wilkins, Life of Petrarch, Chicago, 111. 1961, S. 32-92. 3 Im folgenden zugrundegelegt: die wegen ihrer detaillierten überlieferungsgeschichtlichen Einleitung und wegen der beigedruckten humanistischen Kommentare immer noch unentbehrliche Ausgabe: Francesco Petrarca, II Bucolicum Carmen e i suoi commend inediti. Edizione curata ed illustrata da Antonio Avena, Padova 1906. Text der >PartheniasBucolicum Carmen< insgesamt — bisher nicht. Die vorliegenden knappen Kommentare schleppen zumeist das schon im 14. Jahrhundert bereitgestellte >Material< mit (dazu weiter unten), oft ungeprüft und lediglich um einzelnes Neuere erweitert. Zu einzelnen Stellen der Eklogen nützliche Angaben: Francesco Petrarca, Rime, trionfi e poesie latine a cura di F. Neri [e. a.], Milano/Napoli 1951 (Eklogen: E. Bianchi); Francesco Petrarca, II Bucolicum carmen. Introdotto, tradotto ed annotate da Tonino T. Mattucci, Pisa 1970; Petrach's Bucolicum Carmen. Translated and annotated by Thomas G. Bergin, New Haven/London 1974.

1

Wilfried Barner

Die allegorische Konstruktion präsentiert sich, beginnend bei den Namen der hirtlichen Sangesbrüder, so durchsichtig, daß sie des entschlüsselnden Kommentars scheinbar kaum bedarf. Von Verrätselung im Sinne esoterischer obscuritas jedenfalls kann vorderhand keine Rede sein.4 Silvius >ist< der umgetriebene Autor, der von den Wäldern seiner Jugend Geprägte, der dorthin, in sein Refugium Vaucluse (vallis clausa) bei Avignon, immer wieder zurückkehrt und von dort erneut in die Welt aufbricht.5 Monicus >ist< der Bruder Gherardo, der in der Strenge der cartusiensischen Frömmigkeit und Abgeschiedenheit Ruhe gefunden hat. Gerade dadurch verlockt er Francesco, und doch vermag er ihn nicht zu binden. Dieses Schwanken und Ungenügen, ja der tiefreichende Zwiespalt zwischen Ehrgeiz und Selbstzweifel, zwischen eingestandener Ruhmbegierde und Sehnsucht nach Einkehr, wird als Petrarcasches Lebensthema sogleich evident. Auch als neues, epochales Lebensproblem? Das carmen, zu dessen Ausarbeitung die Pflicht ruft, >ist< das Scipio-Epos >AfricaUntersinnBucolica< Vergils7 — desjenigen antiken Poeten, der wie kein anderer die Jahrhunderte hindurch lebendige auctoritas bewahrt hat.8 Gerade die 1. Ekloge des Augusteers, mit dem Wechselgesang zwischen Meliboeus und Tityrus (hinter dem sich der Dichter kaum >verbirgtBucolicum Carmen< — mit dem Theoriehintergrund seit der Antike — eingehend Konrad Krautter, Die Renaissance der Bukolik in der lateinischen Literatur des XIV. Jahrhunderts: von Dante bis Petrarca, München 1983, S. 128-155. 5 Alles auch für das »Bucolicum Carmen< Wichtige, auch aus der Frühzeit in Vaucluse, bei Wilkins (Anm. 2), S. 17ff., bes. S. 53ff. 6 Dazu zusammenfassend Vmcenzo Fera, La revisione petrarchesca dell'Africa, Messina 1984. 7 Vgl. Eberhard Bochat, Allegorese und Allegorie. Zu Petrarcas Vergildeutung (>Seniles< IV,5), in: Petrarca 1304—1374. Beiträge zu Werk und Wirkung, hg. v. August Bück, Frankfurt a. M. 1975, S. 198—208; zu Vergil im folgenden wiederholt herangezogen Ernst August Schmidt, Poetische Reflexion. Vergils Bukolik, München 1972 (mit Zurückweisung der Allegorese für Vergil selbst). 8 Die Tradition der an Vergil orientierten Bukolik vor Sannazaro ist lange Zeit vernachlässigt worden, vgl. noch den repräsentativen Kongreßband: Le genre pastoral en Europe du XVe au XVIP siecle (Actes du colloque international tenu ä Saint-Etienne du 28 septembre au 1er octobre 1978), Saint-Etienne 1980; Petrarca bleibt dort völlig am Rande. Entscheidende Fortschritte brachte die Konstanzer Habilitationsschrift von Krautter (Anm. 4). Aber noch bei Andrew V. Ettin, Literature and the pastoral, New Haven/London 1984 wird Petrarca lediglich kurz in der Einleitung erwähnt. 9 Zum Problem der >Sängerrolle< und des >Rollenwechsels< Schmidt (Anm. 7), S. 45—57.

Musische und monastische Existenz: Petrarcas t. Ekloge

Die Semiotik des >Partheniasersten Lesen hinaus gerichtet ist — nicht von ungefähr wurde auch diese anlaßgebundene Selbstinterpretation in die Sammlung der veröffentlichten >Familiares< aufgenommen 11 -, steckt in der persönlichen Konstellation einiges an Spannungspotential, das unmittelbar die Lebenssituation der beiden betrifft. Ein solches Poem nach heidnisch-antikem Muster, eindringend in die Kartäuserklausur — das mag, auch wenn man die brüderliche Verbundenheit bedenkt, eine leicht befremdliche Vorstellung sein. Mit dem 1307 geborenen Gherardo12 zusammen hat Francesco nicht nur einen Teil seiner Schulzeit bei bzw. in Avignon verbracht (an das gemeinsame stutzerhafte Flanieren in den Straßen der Stadt erinnert ein Brief vom 25. September 1349).13 Mit ihm zusammen hat er auch im glanzvoll-renommierten Bologna studiert. Und dann ist der Bruder im April 1343 plötzlich — es gibt unterschiedliche Deutungen des Vorgangs14 — in den Kartäuserorden eingetreten, der ja im 14. Jahrhundert seine erste eigentliche Blütezeit erlebte. In Montrieux blieb er bis ans Ende seines langen Lebens. Francesco hat ihn dort wenigstens einmal besucht, im Frühjahr 1347. Er war tief beeindruckt durch 10

Die konkreten Textänderungen, die sich während der anderthalb Jahrzehnte bis zur >Publikation< der Eklogensammlung ergeben haben mögen, sind uns für die >PartheniasPartheniasParthenias< erst sehr viel später, im größeren Zusammenhang des >Bucolicum CarmenveröfFentlichtDe otio religiosorumKommunikationsPublikationsSchmerz< des Niditverstehens befreie: dum non intelligo in quos fines sermo cultus sua venustate peroret (ebd.).

Musische und monastische Existenz: Petrarcas . Ekloge

Diese Tendenz äußert sich in dem eingangs erwähnten Brief vom 2. Dezember 1349 ganz unverhohlen, ja nachgerade aufdringlich.22 Der erste Teil (Abschnitt 1-9) bringt zunächst die Begleit- und Dedikationsgesten, mit der Voraussetzung, daß der Eklogentext beiliegt (annexum huic epistolae carmen), und spricht sogleich das möglicherweise Befremdliche des Gedichts an. Sehr grundsätzlich ist vom Verhältnis zwischen Theologie und Poesie die Rede, von der Würde der Poesie vor allem, von ihrem allegorischen Diskurs,23 von ihrer Verankerung in einer matürlichen Religion< (3),24 sowohl bei den heidnischen Römern als auch vor allem bei den Veteris Testamenti Patres (6), bei Christus selbst (8) und bei den christlichen Patres — was alles den Bruder doch wohl bewegen möge, dem ungewöhnlichen Geschenk gewogen zu sein. Es ist hier fast vollständig das apologetische Arsenal für die Poesie und die Poeten aufgerufen, wie es sich bekanntermaßen etwa seit Augustin herausgebildet hat und für den europäischen Renaissance-Humanismus weithin programmatisch werden wird.25 Ein kürzerer Teil (10-12) geht auf die Umstände der Entstehung des Gedichts ein — lokalisiert sie in Vaucluse — und vor allem auf die Gattung Ekloge (hier schon erscheint der Sammlungs-Titel >Bucolicum CarmenParthenias< eingeschlagen, dies in Abgrenzung gegen das altius der geistlichen Hymnik. Als Basis der beiden nachfolgenden, längeren Briefteile dient (gegen Ende von 12) die schon erwähnte, sehr entschiedene Behauptung, dieses genus könne nur verstanden werden (intelligi), wenn man dem zuhöre, der es geschrieben habe: kein Rekurs etwa auf das eingangs zur allegorischen Schreibart in den biblischen Schriften Gesagte, sondern autoritativer Anspruch dieses Poeten-Ich. Der dritte Teil (13—19) gibt eine Art Inhaltsangabe (quid dicam), die partienweise fast zur Paraphrase gerät.26 Der letzte und zugleich umfangreichste Teil (20-34) ist gegen Ende von Abschnitt 12 mit quid intendam bereits angekündigt und wird zu Beginn von Abschnitt 20 mit ausgeklügelter Formulierung als intentionis [. . .] meae sensus umschrieben.27 Er bietet nicht weniger als eine brei22

Abschnittszählung im folgenden nach Dotti (Anm. 1). Wörtlich: alieniloquium, quam aüegoriam usitatiori vocabulo nuncupamus (2); ex huiusce sermonis genere (3). 24 Von divinitatis studio ist die Rede, quod naturaliter inest homini, und von dem entstehenden Glauben, esse superiorem aliquant potestatem (3). 2D Petrarcas >Arsenal< wiederum wird, zum Teil über italienische Humanisten des 15. Jahrhunderts vermittelt, noch für Programmtexte des deutschen Frühhumanismus prägend; vgl. Wilfried Barner, »Studia toto amplectenda pectore«. Zu Peter Luders Programmrede vom Jahre 1456, in: Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung (FS Paul Raabe), hg. v. August Bück u. Martin Birchcr, Amsterdam 1987, S. 227-251. 26 Besonders etwa in Abschnitt 17. 27 Die Terminologie läßt sich einerseits auf Donats Kommentar der Vergilischen Eklogen zurückführen (schon auf dessen >EinführungX est YAfricaÜbrigesBucolicum Carmen< im humanistischen Unterricht hervorgegangen. Sie verfugen jeweils über >SondergutIliasPartheniasRealien< sei generell auf die in Anm. 3 genannten Kommentare verwiesen. 29

Musische und monastische Existenz: Petrarcas i. Ekloge

Ein sehr knappes, eng und präzis gebautes exordium (vv. 1-10), zu je fünf Zeilen pro Dialogpartner — also genau >ausgewogen< —, exponiert die solitudo und die tranquillitas des Monicus in seiner Höhle (antrum),^ das pererrare bzw. vagari und die infelidtas des Silvius. Das geschieht strikt antithetisch, und zwar so, daß in den Worten der Figuren jeweils die Befindlichkeit des anderen voransteht. Freilich strebt der dialogische Gang rasch auf den >problematischen< Teil zu, nämlich auf die >Klage< des >unglücklichen< Silvius — und auf den tieferen Grund. Das insistierende Fragen des Monicus, wer denn den Bruder zu jenem vagari durch Wälder, Wüsten und Berge antreibe, veranlaßt nun den ersten längeren Eklogenteil, den man als narratio bezeichnen kann (vv. 11-45). Die Vorausantwort des Silvius: Solus Amor (v. 11), führt, von Petrarca als leichte, witzige Irreleitung angesetzt, nicht zu dem erwartbaren bukolischen Liebesroman. Über zunächst exquisit-entlegene Namen (Pales, Parthenias) geht es zur Lebensgeschichte eines in die Poesie Verliebten. Eingeleitet durch das TemporalStichwort olim, wird eine poetische Konfession aufgerollt, Reflexion auf eine Karriere, die unter doppeltem Vorzeichen begann: mit dem gnädigen Blick (schön horazisch-vergilisch gefaßt) der Hirtengöttin Pales und mit Parthenias, dem jungfräulich-rechtschaffenen34 Vergil, der schon dem Knaben Silvius sang. Es geht also um eine Erweckungsgeschichte, eine Berufungsgeschichte, wie sie bei den Griechen Hesiod als Hirte prototypisch für viele andere antike Modelle gedichtet hat.35 Die Hirtensänger-Laufbahn mit ihren Wäldern, Bergen und Schluchten, ihren Vorbildern und Lehrern, ihren Begeisterungen und Enttäuschungen, bald mit Stolz berichtet, bald dem Bruder mehr gebeichtet, endet vorerst im Resümee des Unglücklichseins und der labores (v. 45) ,36 Die Aufforderung des Monicus, Silvius möge sich doch in die Höhle hineinwagen (durum hoc transcendere Urnen), eröffnet einen enger dialogisch geführten Mittelteil (vv. 46—71). Andeutungen des Monicus, seine Lebens weit stehe im Zeichen eines anderen, höheren Hirtengesangs, lassen den Bruder nun — verschlüsselt — eine pastorale Linie gewissermaßen herausfragen. Sie reicht von David und seinen Psalmen bis zu Christus, dem guten Hirten (beide Namen werden freilich nicht genannt, das >Arsenal· bleibt konsequent griechisch). Der 33

Dieser >Rahmen< bereits bei Vergil in den >Eklogen< V,6 und VI,13. Die Kombination conditus antro stammt aus Properz (IV,4,3) und wird vor Petrarca bereits von Giovanni del Virgilio im Dialog mit Dante übernommen (dazu weiter unten). 34 So Petrarca (Brief an den Bruder, 24: quasi omni vita probatus) unter Bezugnahme auf die vita eius (Vergils); die sonst seltene Form erscheint bei Donat wie bei Servius. 35 Grundlegend Athanasios Kambylis, Die Dichterweihe und ihre Symbolik. Untersuchungen zu Hesiodos, Kallimachos, Properz und Ennius, Heidelberg 1965. 36 Auf das >Unglücklichsein< als Movens großer Teile schon der antiken Bukolik und auf das partielle Überformtwerden durch das Thema >Melancholie< in der Neuzeit kann hier nur gerade hingewiesen werden.

Wilfried Barner

Mittelteil schließt in appellativer Wiederholung mit der Aufforderung an Silvius, es doch selbst zu versuchen, es selbst zu erfahren: licet experiare, iuvabit (v. 71). Doch Silvius gibt sich durchblickend (v. 72): dort, bei David, gehe es immer um das kleine Jerusalem, und immer jammernd, rauh, heiser (raucus, eine Zentralprädikation der ganzen Ekloge, als ästhetische Negativ-Antithese zum duke des eigenen Gesangs-ideals).37 Ab v. 75 schließt sich eine Art Ekphrasis des Silvius an, eine Präsentation seiner unerreichbaren Meister, Homers und Vergils: Hi Romam Troiamque canunt et prelia regum . . . Homer und Vergil werden präsentiert als Dichter der Götter, der Helden und des Kosmos, als Schöpfer des hohen >Weltgedichts< (v. 90).38 Und nun, höchst eigenartig, die Gegen-Ekphrasis des Monicus, diptychonhaft, genau die gleiche Verszahl umfassend (vv. 91-109): das Bild seines Gottes, den sein pastor besingt, das Bild des Schöpfers, ja des Wettergottes, des Beherrschers der Elemente. Jede explizit heilsgeschichtliche, gar christologische Perspektive fehlt. Desto auffälliger ist die triumphalistische Schluß Wendung: die Lieder dieses Hirtensängers erklängen schon nicht nur in Italien, am Po, am Tiber, am Arno, sondern auch an Rhein und Rhone (vv. 107—109). Und nun die dialogstrukturell markanteste Wende der ganzen Ekloge (v. 110): Silvius geht auf die Gcgen-Ekphrasis und auf die Schlußprovokation überhaupt nicht ein, sondern weicht aus. Fast schroff wendet er sich zum Gehen (v. 110; mit genauer Wiederaufnahme von v. 71): Experiar, si fata volent; nunc ire necesse est.

Überrascht fragt Monicus hinterher, und Silvius greift das scheinbar >blind< gebliebene amor-Motiv39 des Anfangs auf (v. 112; vgl. v. 11): Urget amor Muse. Der große italische Patriot, Scipio Africanus, fordert sein längst ihm zustehendes carmen sacrum (v. 120), der Held, dessen Ruhm über ganz Italien hin dringt. Hier bietet Silvius dem Auftrumpfenden des Monicus ein wenig Paroli. In einer abschließenden exhortatio sui ipsius macht er sich versuchend, zögernd40 37

Die ganzheitlich >einnchmende< dulcedo des Gesangs kommt in den Erörterungen zur »ästhetisch-moralischen Begründung der bukolischen Esoterik« bei Krautter (Anm. 4), S. 146-152 (vgl. auch S. 152-155) zu kurz. 38 Der Begriff hier verwendet im Sinne von Ernst Zinn, Die Dichter des alten Rom und die Anfänge des Weltgedichts, Antike und Abendland 5 (1956), S. 7-26. 39 Nach v. 11 erscheint es kurz noch einmal in v. 24: Paulatim crescebat amor', im folgenden spielt Petrarca wiederholt andeutend mit dem Motiv (vgl. etwa pulcra [. . .] amica, v. 28). 40 Der >Kleinheitsgroßchohe< Epos; vgl. v. 90 altisonis [. . .] versibus). Er

Musische und monastische Existenz: Petrarcas 1. Ekloge

an das große Werk, auf seiner kleinen Hirtenflöte (v. 123). Und einzeilig verabschiedet Monicus ihn, halb brüderlich bemüht, halb seelsorgerlich engagiert, vor den varii casus des Weges warnend. Es ist ein in der Tat merkwürdiges Poem, das Petrarca da seinem Bruder ins Kartäuserkloster schickt, mit der ausgesprochenen Befürchtung, er werde schockiert sein (horrere): zwar im lateinischen Medium und in einer Gattung, die durch Vergils 4. Ekloge gewissermaßen >geheiligt< ist, eine Gattung eigener Fiktionalität, eigenen Kunstcharakters.41 Es ist ein genus, das schon bei Vergil in aller bukolischen Verschlüsselung doch sehr unmißverständlich Zeitkritik, ja Politisches äußern kann: Man denke nur an dessen 1. Ekloge, die mit Meliboeus und Tityrus ja zugleich programmatisch — wie dann bei Petrarca — soziale Existenzformen zur Rede bringt, zentriert um das ofiwm-Motiv (Petrarca hat gerade zu dieser Ekloge in seinen Vergil-Codex detaillierte Notizen eingetragen, die über die spätantiken Kommentare deutlich hinausgehen).42 Knapp drei Jahrzehnte vor Petrarcas >PartheniasProtohumanist< Giovanni del Virgilio in einer Versepistel zur klassischen Latinität anzuhalten sucht und vor der Fragwürdigkeit des Volkssprachigen, des volgare, warnt.43 Auch Boccaccio hat solcherart Eklogen-Korrespondenz geführt.44 Petrarca ist dieses Wiederaufleben der Bukolik zweifellos bekannt gewesen, er setzt sie schweigend oder verschweigend voraus. Er geht diesen Weg nicht weiter, sondern setzt neue bukolische Typen: panegyrisch etwa mit der erwähnten >Arguslebensphilosophisch< und poesie-apologetisch mit der >PartheniasCanzoniere< — die um Laura zentrierten Eklogen (3., 10., 11.).

Wilfried Barner

Der Gattungs-Tradition und ihrer >ReiheReihe< gegenübergestellt, in deren Schnittpunkt ich einstweilen die >PartheniasSecretumDe secreto conflictu curarum mearumDiagnose< des Augustinus: das malum der Petrarcaschen Existenz sei pestis illa phantasmatum).51 Im Sommer 1346 hat Petrarca, in Vaucluse, sein großes Prosa werk >De vita solitaria< begonnen, worin er dem aus der Antike tradierten Gegensatzpaar von vita contemplativa und vita activa dasjenige von homo solitarius und homo occupatus (des von städtischer Aktivität Gelähmten) gegenüberstellt.52 Modellhaft wird die Antithese mit Vaucluse und mit Avignon verknüpft — wobei Petrarca mit besonderer Pointierung auf die schon heidnische Konzeption einer vita solitaria verweist, namentlich bei den Brahmanen. Von >De otio religioso< aus dem Anfang des Jahres 1347 war schon kurz die Rede: einer hommage an die Kartäusermönche von Montrieux, ihre tiefe Frömmigkeit, ihre menschliche Zuwendung, ihre Demut und Enthaltsamkeit, nicht zuletzt das eminent Musische ihres mitternächtlichen Gottesdienstes. Ebenso deutlich merkbar wie der hohe Respekt vor diesem otium religiosum wird dabei das Bewußtsein einer Unerreichbarkeit für ihn selbst, ja einer Fremdheit angesichts der eigenen Individualität. Für die sich abzeichnende zentrale These von der individuell-biographischen wie der epochalen Exemplarität der >PartheniasLasso me!< (Rime 70), wo ihre Anfangszeile als letzte Zeile das Gedicht abschließt. Jede der fünf Strophen dieser Kanzone endet mit der ersten Zeile einer zitierten Kanzone der Dichter Arnaut Daniel, Guido Cavalcanti, Dante, Cino da Pistoia und schließlich Petrarcas selbst. So enthält diese Kanzone in nuce eine exemplarische Gattungsgeschichte der Form, die sie selbst erfüllt und in deren Erfüllung sie über sich hinausweist auf das Paradigma, in dessen Horizont jede Kanzone Petrarcas steht. Daß eine solche exemplarische Geschichte der Kanzone in der Kanzone selbst möglich wird, hängt mit einer Besonderheit ihrer Bauform zusammen, die Petrarca freilegt. Es scheint, als sei es spätestens seit Arnaut Daniel üblich geworden, in der ersten Zeile der Kanzone ihre Thematik formelhaft zu verdichten. Zumindest deutet Petrarca in dem programmatischen Zitatarrangement von >Lasso me!< an, daß er selbst das Baugesetz der Kanzone so verstand und dementsprechend auch seine eigenen Kanzonen anlegte. Darüber hinaus aber scheint im Gesamtwerk der lyrischen Dichter jeweils eine Kanzone eine Leitfunktion zu übernehmen und mit ihrer ersten Zeile als poetischer Devise den unverwechselbar eigenen Akzent zu setzen, den das Werk sich im ganzen zu eigen zu machen sucht. Indem aber eine Eingangszeile eine solche programmatische Funktion übernimmt, situiert sie sich zugleich in einem vorgängigen 1

Der Text wird im folgenden zitiert nach Francesco Petrarca, Le Rime sparse e i Trionfi, hg. v. Ezio Chiorboli, Bari 1930 (Scrittori d'Italia 126), S. 15-20; s. Anhang. 2 Cod. Vat. lat. 3196, fol. ll v , zitiert nach Carl Appel, Zur Entwickelung italienischer Dichtungen Petrarcas, Halle 1891, S. 79. Die folgende Interpretation geht von Petrarcas endgültigem Text aus. Zur Deutung der Stufen seiner Entstehung vgl. Dennis Dutschke, Francesco Petrarca: Canzone XXIII from First to Final Version, Ravenna 1977. 3 Cod. Vat. lat. 3196, fol. 11': transscripta in ordine post multos et multos annos (10. Nov. 1356), zitiert nach Appel (Anm. 2), S. 71.

24

Metamorphosen des Mythos

Spielraum und eröffnet so eine intcrtextuelle Relation. Auch dies kommt in Petrarcas die Kanzone selbst zum Thema machender Kanzone unmittelbar zur Anschauung. Zwar ist jede der am Strophenende stehenden zitierten Eingangsstrophen zugleich Selbstaussage eines lyrischen Ich, das sich in die Vielfalt fremder Stimmen projiziert und so seine eigene lyrische Stimme zum Echo fremder Stimmen macht, wie es umgekehrt diese sich zur Vervielfältigung der eigenen Stimme aneignet. Dennoch gibt die Korrelation der zitierten Verse zugleich Auskunft über besondere Distanzen und Affinitäten. Die dritte Strophe endet mit Dantes Cost net mio parlar voglio esser aspro aus der vierten Kanzone der >Rime per la donna Pietra< (Rime CIII), einer lyrischen Ich-Aussage, wie in den vorangegangenen Zitaten von Arnaut und Cavalcanti. Die vierte Strophe beschließt der Anfang von Cino da Pistoias Kanzone >La dolce vista e bei guardo suaveDevise< enthaltenen poetischen Programm ist das Cinos prägnant entgegengesetzt. Der Dichtung im Zeichen des willentlichen aspro antwortet eine Dichtung, die hervorgeht aus der im Anblick der Geliebten erfahrenen Süße und Sanftheit ihres Blicks: La dolce vista e bei guardo suave.4 Das abschließende Selbstzitat der letzten Strophe: Nel dolce tempo de la prima etade folgt nicht nur chronologisch auf Cino, es stellt die Eingangszeile von Petrarcas exemplarischer Kanzone bewußt in den Horizont von Cinos poetischem Programm. Daß Petrarca seine Affinität zu Cino durch die Wiederkehr des programmatischen dolce bezeichnet, wird noch dadurch unterstrichen, daß Cino und Dante durch Entgegensetzung von aspro und dolce miteinander konfrontiert werden. Doch wird die semantische Rckurrenz, die einzige unter den zitierten Schlußzeilen, dadurch erst poetisch relevant, daß sich Petrarca beim Bau seiner Eingangsstrophc auch rhythmisch so eng an Cinos >La dolce vista e bei guardo suavc< gehalten hat, daß man von einer rhythmischen Kontrafaktur sprechen könnte. Diese wird ihrerseits noch durch die lautliche Entsprechung der Satzklausel mit dem Ausgang a-e (suave-etade) bestärkt. Daß Petrarca in solcher Weise seine exemplarische Kanzone mit Cinos exemplarischer Kanzone verknüpft, verweist auf eine von Petrarca gesehene besondere Affinität. Die Frage, worin diese begründet liegt, kann den Boden sichtbar machen, auf dem Petrarca mit seiner Kanzone steht, aber zugleich auch verdeutlichen, daß Petrarca ein zentrales Thema Cinos mit so neuen Mitteln instrumentiert, daß man von einem lyrischen Paradigmenwechsel sprechen könnte.

4

Rime di Cino da Pistoia XCI, in: Carlo Salinari (Hg.), La poesia lirica del Duecento, Torino 1968 ['1951 ] (Classici Italiani), S. 521. Nach dieser Ausgabe wird Cino weiterhin zitiert.

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Karlheinz Stierle

II. Cinos >La dolce vista e bei guardo suave< ist ein Gedicht der Trennung. Der aus Pistoia verbannte Dichter besingt die dort zurückgebliebene Dame und überläßt sich seinem Schmerz. Aber die Trennung ist zugleich eine Entzweiung, die das Ich in sich selbst entzweit. Der Körper spricht Amor an und bittet ihn um die Gewährung des Todes, damit die Seele, vom Körper befreit, der ihre Qualen empfindet, zum Ort der Geliebten zurückkehren kann. Die Auflösung des liebenden Ich in eine Vielfalt von Ich-Instanzen ist Cinos wesentliches Thema. Zwar ist auch schon in Dantes >Vita nuova< das Ich in sich selbst vielfältig, weil es zugleich erzählendes und erzähltes Ich ist und weil das Ich sich in ein körperliches und ein subtiles und bewegliches geistiges Ich zu teilen vermag. Aber erst Cino konzentriert sein lyrisches Interesse ganz auf die innere Komplexität des Ich und dessen vielfältige Stimmen. So spricht etwa in >Io scnto pianger l'anima nel core< (Rime LIV, S. 563f.) der Körper als persona, die nicht nur das Gespräch von anitna und Herz vernimmt, sondern auch, wie Amor zur anima über den Körper spricht: Chefai / dentro a questa persona ehe si more? Anima zeigt darauf der sprechenden persona ein Buch mit Abbildungen der Martern, die sie erwarten, und schließlich verbinden sich anima und persona in Erwartung ihres gemeinsamen Geschicks. In >Si mi stringe l'Amore< (Rime XXXIX, S. 550-553) wird erneut der Widerstreit von Herz und Körper lyrisch ausgetragen: Si mi stringc l'Amore mortalemente in ciascun membro, o lasso! ehe sospirar non lasso, ne altro gia non so dicer ne fare. II corpo piange il core, ch'e dipartito e dato gli ha consorte, in loco di se, morte (vv. 1-7, S. 550) Kein Lyriker vor Cino hat so sehr und so beharrlich den Innenraum des lyrischen Ich in der Dialektik seiner Ich-Instanzen ausgeleuchtet. Die Durchdringung der Liebesbetroffenheit im Ich selbst, die Erschütterung des Ich, spricht sich nicht mehr unmittelbar aus in der Hinwendung zur Dame, sie wird Gegenstand einer zergliedernden und analysierenden Reflexionslyrik, die sich dennoch nicht im Allgemeinen auflöst, sondern immer die Konkretheit der Selbsterfahrung in ihrer komplexen Struktur gegenwärtig hält. Zugleich ist Cino der erste, der, zumindest in Umrissen und ersten Schritten, der poetischen Erschließung des subjektiven Innenraums den Außenraum der Landschaft als Reflexionsmedium verfügbar macht. Die Einsamkeit der kommunikationslo-

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sen erblickten Landschaft ist für den in ihr sich Ergehenden ein kommunikativer Horizont des eigenen Fragens und Eingedenkens. Der Name der geliebten Dame, Selvaggia, ist bei Cino erstmals selbst von der Art, daß er Konnotationen des Landschaftlichen eröffnet. Cino, der in Dantes >De vulgari eloquentia< als einer der großen Kanzonendichter seiner Zeit gewürdigt wird,5 den Petrarca sich zum Lehrmeister nahm und der auch der Renaissance noch fraglos als einer der großen Lyriker am Ursprung der neuen italienischen Volksdichtung galt,6 ist heute von der Forschung aufgrund fragwürdiger lyrischer Geschmackskriterien kläglich vernachlässigt. Weder gibt es von seinem umfangreichen Werk eine zuverlässige Ausgabe, noch hat sich die Philologie schon wirklich der Aufgabe angenommen, über das Allgemeinste hinaus, die Bedeutung dieses Werks zu erschließen.

III. Petrarca stellt das Projekt seiner Dichtung, so wie es sich in >Nel dolce tempo< exemplarisch verwirklicht, in den Horizont von Cinos neuer Dichtung des sich absolut setzenden und in sich selbst zerfallenden Ich. Aber zugleich geht Petrarca in der von Cino gewiesenen Richtung weit über diesen hinaus. Erst Petrarca gelingt es, die Tiefe des poetischen Ich wirklich zur Anschauung zu bringen. >Nel dolce tempo< ist das Gedicht einer bis zu den Grenzen der Ich-Gefährdung und Ich-Zerstörung reichenden psychischen Spannung des durch die unerfüllt bleibende Liebe in Grenzsituationen der Erfahrung getriebenen Ich. Die Dy5

Wenn Dante dort von sich selbst als Kanzonendichter spricht, so nennt er sich häufig nur in Zusammenhang mit Cino als amicus eins (De vulgari eloquentia I,X 4; 11,11 9; II,V 4; II,VI 6). Cino erhält die Ehre, mit seiner Kanzone >Avegna ehe io aggia piu per tempo< in der Liste der für Dante herausragenden Werke in der Volkssprache zu erscheinen (II,VI 6). 6 In Bembos >Prose della volgar lingua< (1525) wird Dante, dem Dichter der cotnposizioni gravi, Cino als Dichter der cotnposizioni piacevoli entgegengesetzt. In Petrarca sieht Bembo die Vollendung des lyrischen Dichtens, sofern er beide Stile zu verschmelzen wußte (Prose II,IX, in: Prose e rime di Pietro Bembo, hg. v. Carlo Dionisotto, Torino 1966 ['I960] [Classici Italiani], S. 146f.). In den Sammelhandschriften volkssprachigcr Lyrik, die vom Trecento bis ins Cinquecento reichen, ist Cino neben Petrarca und Dante der dritte große Lyriker. In der aldinischen Ausgabe Petrarcas seit 1514 wird in einem Appendix der Musterkanzonen neben Cavalcantis >Donna mi prega< und Dantes >Cosi nel mio parlar< auch Cinos >La dolce vista< abgedruckt. (Damit wird der Kanon affirmiert, den schon Petrarca in >Lasso me!< aufgestellt hatte.) Zur Überlieferungsgeschichte von Cinos Lyrik vgl. Gianfranco Folcna, Überlieferungsgeschichte der altitalienischen Literatur, Kap. 10: »Die Überlieferung des Neuen Stils und der >realistischen< Dichter der Toscana«, in: Karl Langosch u. Alexander Micha (Hg.), Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur, Bd. II: Überlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Literatur, Zürich 1964, S. 396-415.

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namik des Erschreckens vor dem in der Hingabe drohenden Selbstverlust wird zur Bewegung der Metamorphose, die das Ich von Gestalt zu Gestalt in immer tiefere und fremdere Dimensionen der Selbsterfahrung treibt. Petrarca setzt eine Schwelle, indem er zur Artikulation dieser Erfahrung auf den antiken Mythos, genauer Ovids poetische Inszenierung der mythischen Anschauungsform der Metamorphose, zurückgreift. Ovids >Metamorphosen< sind der Referenztext, mit dessen Hilfe Petrarca die Tiefe einer Selbsterfahrung illuminiert. Deren Stationen sind Stationen der Selbstverwandlung, die sich spiegeln in Ovids Bildern der mythischen Metamorphose. Wie ein epischer Sänger kündigt das Ich der ersten Strophe den Gegenstand seines Gesanges an: Es will des dolce tempo de la prima etade gedenken und der Freiheit, die es unbehelligt von Amor genoß. Dann aber soll das Gedicht die Geschichte seiner unglücklichen Liebe verkünden. Doch die Erinnerung steht so sehr im Bann eines schreckensvollen Gedankens, daß sie sich dem Erinnernden verweigert und diesen gleichsam in die Identitätslosigkeit stößt. Die zweite Strophe vergegenwärtigt den Augenblick, wo es Amor gelingt, das sich ihm verweigernde Ich zu überwältigen und es so seiner selbst zu entfremden. Die Evokation dieses Augenblicks verdichtet sich erstmals im Bild einer Metamorphose, die den Ovidischen Mythos von Apoll und Daphne und der Verwandlung der sich Apoll entziehenden Nymphe in die rettende Gestalt eines Lorbeers zugleich zitiert und defiguriert:7 Ei duo mi trasformaro in quel ch'i sono, facendomi d'uom vivo un lauro verde ehe per fredda stagion foglia non perde. (vv. 38-40)

Der Liebende der Laura sieht sich selbst in den Lorbeer (lauro) verwandelt. Das sich entziehende Objekt des Begehrens scheint mit dem Begehrenden zu verschmelzen. Doch verwandelt das Objekt des Begehrens nunmehr seine Natur, denn dieses ist nun nicht mehr Laura selbst, sondern das Verlangen, dem Verlangen nach Laura eine dichterische Stimme zu geben und in der poetischen Figur die Erfüllung zu finden, die dem liebenden Begehren verweigert ist. Die Verwandlung ist in einem Entfremdung und Entdeckung der tieferen Bestimmung. Indem Laura sich entzieht, macht sie den Liebenden zum Dichter, dessen neue Identität sich im Lorbeer inkorporiert. Die dritte Strophe vergegenwärtigt im Vollzug der Metamorphose den Schrecken des Selbstentzugs. Der Überschuß an durch den Schrecken mobilisierter imaginativer Energie läßt sich aber an eine bildhafte Konkretisation nicht binden, sondern treibt zu einer neuen Gestalt der Verwandlung weiter. Aus dem Lorbeer wird der Schwan. Das Ich, entzweit in ein zu hoch sich 7

Met. I, 455-565. 28

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hinaufwagendes Hoffen, dem die Gestalt und das Schicksal des ins Meer stürzenden Phaeton zuwächst, und in ein Trauer-Ich, das die Gestalt des Cygnus gewinnt, wird so einer neuen Erfahrung des Schreckens preisgegeben.8 Das klagende Cygnus-Ich findet sich wieder als Schwan: e giä mai poi la mia lingua non tacque, tnentre poteo, del suo cader maligno;

ond'io presi col suon color d'un cigno. (vv. 58—60) Das Klagen des Schwans ist die reine Unmittclbarkeit der noch unartikulierten Stimme. Doch hält seine Erscheinung zugleich jene Bestimmung zur Dichtung fest, die die erste Verwandlung freilegte. Die Weiße des Schwans vermag ebenso die Weiße einer unbeschriebenen Seite zu konnotieren wie seine Federn jene penne, von denen der Dichter in der ersten Strophe sagt, daß er schon tausend abgenutzt habe, um seiner pen[n]osa vita dichterische Gestalt zu geben. In der vierten Strophe widerfährt dem zum Schwan gewordenen Ich eine neue Verwandlung. Die Geliebte verbietet dem Liebenden das Wort: Di cio non far parola. Als das Ich dennoch redet, wird es in Stein verwandelt: ed ella ne l'usata sua figura tosto tornando, fecemi, oime lasso!, d'un quasi vivo e sbigottito sasso. (vv. 78—80)

Die Bannung des Liebenden, dessen Schmerz nach Klage verlangt, in die sprach- und regungslose Erstarrung des Steins ist ein Paroxysmus des Schrekkens.9 Vor Schrecken starr vernimmt das Stein-Ich die Stimme der aus ihrer Fremdheit und Unnahbarkeit sprechenden Geliebten. Nur zu sich selbst in sein eigenes Inneres sprechend, vermag das Ich die Bitte um Befreiung und Erlösung auszusprechen. Die Lösung des Banns verwandelt das klagende in ein seine Klage zurückhaltendes Ich, das, noch immer im Bann des Redeverbots, seine unerhörte Erfahrung, die sich dem Stein-Ich gleichsam schon als eine Schrift eingeprägt hatte, nun in den stummen Schrei des geschriebenen Worts verwandelt. So wird die Metamorphose der Gestalt zugleich zur Metamorphose der Stimme in Schrift: le vive voci m'erano interditte; ond'io gridai con carta e con incostro: - Non son mio, no; s'io moro, il danno e vostro —. (vv. 98—100)

Dies stumme Befolgen und Brechen des Schweigegebots vermag die Geliebte nicht umzustimmen, ja sie entzieht sich nunmehr (Strophe 6) in eine absolute 8 9

Met. II, 150-328 und 358-380. Die Geliebte hat hier den versteinernden Blick der Medusa. Zur versteinernden Kraft des Medusenhaupts vgl. Met. IV, 655-662.

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Unzugänglichkeit, die im Bild des sich entziehenden Lichts und der undurchdringlichen Dunkelheit vergegenwärtigt wird. So erfährt das Ich einen neuen Kulminationspunkt seines Schmerzes, der ihn erneut in eine fremde Gestalt zwingt, die doch dem eigenen Inneren zugehört. Das seinem Schmerz in einsamer Landschaft sich hingebende Ich überläßt sich seinen Tränen, ja es wird mit ihnen ganz und gar eins, und diese verwandeln sich zur Quelle, wie bei Ovid die in inzestuöser Liebe sich verzehrende Byblis zur Quelle verwandelt wird:10 ne gia mai neve sotto al sol disparve, com'io sentf me tutto venir meno, e farmi una fontana a pie d'un faggio. Gran tempo umido tenni quel viaggio. Chi udi mai d'uom vero nascer fönte? E parlo cose manifeste e conte. (vv. 115—120)

Das Spiel von Verwandlung und Rückverwandlung scheint kein Ende finden zu können. Wieder erlöst die Dame den Liebenden (Strophe 7) und gibt ihm seine ursprüngliche Gestalt zurück. Und noch einmal wagt er es, um Erhörung zu bitten, und wird wiederum zu Stein verwandelt. Während aber der Körper, Stein-Ich geworden, regungslos verharrt, löst sich das Stimme gewordene Ich von ihm ab, und während bei Ovid die Nymphe Echo dem nach seinem eigenen Trugbild sich verzehrenden Narziß antwortet,11 ist es bei Petrarca das Stimme gewordene Ich des Liebenden, das das Verbot überschreitet und Laura und den Tod anruft: e cosi scossa voce rimasi de l'antiche some, chiamando Morte, e lei sola per nome. (vv. 138-140)

Als eine klagende Stimme lebt das körperlose Ich jahrelang in einsamen und dunklen Höhlen einherirrend und bereut sein sfrenato ardire, ehe ihm endlich (Strophe 8) die erneute Befreiung und Wiedervereinigung mit dem Körper zuteil wird. Aber auch jetzt ist das Ich vor seinen Verwandlungen nicht gerettet. Der Schrecken des Selbstverlusts, den die Liebe dem Liebenden bedeutet, findet noch einmal eine Figur der Verwandlung, in der die Erfahrung der Selbstzerrissenheit und Selbstentfremdung zu ihrer höchsten Steigerung kommt. Das sich selbst zurückgegebene Ich wird zur Gestalt eines neuen Actaeon, der, von der Leidenschaft der Jagd nach seinem schönen Wild getrieben, endlich die Geliebte aufspürt, wie sie sich in einer einsamen Quelle nackt dem Bad hingibt. Wie Diana bei Ovid Actaeon mit Wasser besprengt und dieser 10

Met. IX, 649-665. "Met. Ill, 37CM01.

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darauf in einen Hirsch verwandelt wird, auf den sich seine Hunde stürzen,12 so erfahrt nun auch das Ich, wie sich ihm seine Gestalt entzieht: Vero diro (forse e' parra menzogna) ch'i. send' trarmi de la propria imago (vv. 156—157)

Das Ich wird verwandelt in einen Hirsch, der fliehen muß vor seinen ihn verfolgenden Hunden und der noch jetzt, im Jetzt der Sprechsituation, auf der Flucht ist. Das Ich auf der Flucht vor seinen eigenen Begierden ist der Kulminationspunkt eines Imaginären der Selbstentfremdung und seines Schrekkens. Das Ich flieht und verfolgt sich selbst, ist Wild und Jäger in einem zeitverwandelnden und totalisierenden Präsens der permanenten Metamorphose. Aber der congedo, der die Figuren der Verwandlung noch um jene der Flamme und des Adlers vermehrt, in deren Gestalten das Ich sowohl seine Liebe erfährt, wie er durch ihre Verwandlung ins Gedicht die Geliebte adlergleich emporhebt, führt in den Ursprung des Verwandlungsgeschehens zurück, wo der Liebende der Laura sich selbst in der Metamorphose der Dichtung als lauro erfuhr. Wenn diese Verwandlung aber zuerst im Aspekt des Erschrekkenden erschien, so am Ende, mit der vollständigen Verwandlung und Objektivation des inneren Geschehens ins Gedicht, im Aspekt der dolce otnbra: ne per nova figura il primo alloro seppi lassar, ehe pur la sua dolce ombra ogni men bei piacer del cor mi sgombra. (vv. 167—169)

So antwortet der Erinnerung des dolce tempo de la prima etade am Ende die dolce ombra des vollendeten Gedichts, der glücklichen Zeit einer vollkommenen unentzweiten Selbstgenügsamkeit die ideale Gegenwart der im Gedicht aufgehobenen Liebe jenseits der Entzweiung und Entfremdung. Dennoch ist durch das Gedicht diese Erfahrung nicht getilgt. Das Gedicht hat sein eigenes Werden zum Thema und hebt es in sich auf. So setzt die Metamorphose des Lorbeers als Gestalt des Schreckens in den Lorbeer als dolce ombra die im Bild des gejagten Jägers Actaeon kulminierende Erfahrung des Schreckens nicht außer Kraft. Die Metamorphosen, in denen Erfahrungen des psychischen Schreckens aufeinander folgen, löschen sich nicht aus. Ihre Sukzessivität bedeutet keine narrative Gestalt der Durcharbeitung, sondern eine lyrische Gestalt der komplexen Kopräsenz als Artikulation einer Vielfalt von Kontexten, in denen ein vielfältiges Ich eine Stimme für seine Erfahrung findet.13 12 13

Met. III, 176-252. Vgl. Dutschke (Anm. 2), S. 196: »Each successive metamorphosis has deepened the poet's experience and awareness of his condition. The figure of the poet has evolved from a point of naivete in which the metamorphosis is met with a reaction of shock, to one in which the poet fully realizes what has and is happening [sic!] to him and intellectually ponders the fact.«

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Schon in den Petrarca-Kommentaren des Cinquecento sind die mythologischen Referenzen dieser >Canzone delle metamorfbsi< und insbesondere die dichte Folge der Verweisungen auf Ovids >Metamorphosen< im einzelnen aufgewiesen. Die modernen Kommentare und die sich daran anschließenden Untersuchungen zu Petrarcas >humanistischer< Wiederanknüpfung an antike Mythologie sind hier im wesentlichen nicht weitergekommen. Aber gerade im Blick auf Petrarca ist die Frage nach der Verwendung des antiken Mythos und deren Voraussetzungen unabweisbar.14 Damit aber wird es notwendig, den Raum des bloß konstatierenden Kommentars zu überschreiten und so erst das Textverständnis in eine hermeneutische Auslegungsperspektive zu bringen. Die Möglichkeit des Rückgriffs auf die antike Mythologie hat in Petrarcas volkssprachiger Dichtung programmatische Bedeutung. Er unterscheidet sich mit ihm wesentlich von der vorausliegcnden Dichtungstradition des dolce stil nuovo. Zweifellos verstand Petrarca auch seine Wiederanknüpfung an Traditionen antiker Dichtung als so etwas wie die Wiedergeburt einer Dichtung von höchstem Anspruch. Daß der Name der von ihm besungenen Laura zusammenfiel mit dem Lorbeer als Emblem des antiken Dichterruhms, ist für Petrarcas poetologisches Programm gewiß von hoher Bedeutung. Signifikant ist auch, daß das Metamorphosensonett 34, das zumindest auch als Programm einer Renaissance antiker Dichtung lesbar ist und wo der Dichter in seiner Liebe zu Laura sich als eine figura Apollos in seiner Liebe zu Daphne begreift, ursprünglich wohl als Eingangsgedicht den geplanten >Canzoniere< einleiten sollte.15 Umso mehr hat freilich auch Gewicht, daß Petrarca diese Absicht wieder zurücknahm und nun im Sinne einer neuen Programmatik das in seiner Bedeutung und inneren Widersprüchlichkeit oszillierende >Voi ch'ascoltate< zum endgültigen Eingangsgedicht machte. Wenn Petrarca somit wohl für einen Augenblick gedacht haben mochte, eine unmittelbare Wiederanknüpfung an antike Dichtung und Mythologie nach der Dunkelheit der Jahrhunderte, in denen die antike Dichtung vergessen worden war, sei ein Gebot der Stunde, so zeigt der Fortgang seiner Dichtung doch, daß der Rückgriff auf antike Mythologie, insbesondere auf die Ovidsche Anschauungsform der Metamorphosen, bei ihm unter unverwechselbar eigenen Voraussetzungen stand. Diese sind 14

Bodo Guthmüller geht in seinen Studien zur antiken Mythologie in der italienischen Renaissance, Weinheim 1986, auf die besondere Verarbeitung des Ovidschen Verwandlungsmythos bei Petrarca nicht ein. Doch können seine Studien zur Rezeption Ovids in der Renaissance ex negative eine Vorstellung von der Eigenständigkeit und Komplexität von Petrarcas OvidRezeption geben. 15 Zum Verhältnis von »Apollo s'ancor vive il bei desio< und dem Eingangssonett >Voi ch'ascoltate< vgl. Alfred Noyer-Weidner, II sonetto I, in: ders., Umgang mit Texten, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Renaissance, Stuttgart 1986 (Text und Kontext: Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft 3), S. 262-288 (zuerst in Lectura Petrarce IV, 1984). 32

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zu klären, wenn in Petrarcas exemplarischer Kanzonc seine exemplarische Bezugnahme auf Ovids >Metamorphosen< nicht in die falsche Perspektive eines naiven Humanismus gerückt werden soll. Ovids >Metamorphosen< sind zumeist Geschichten einer dramatisch sich verdichtenden Konfiguration, die eine höchste psychische Spannung aus sich heraustreibt. Wenn der Held einer Metamorphose jene höchste psychische Erregung erreicht hat, in der diese gleichsam die ganze physische Existenz in sich hineinzuziehen scheint, dann ist jener Augenblick erreicht, wo in rätselvollem Umschlag das Innere selbst objektive Gestalt wird und in ihr seine Beruhigung und seine Dauer findet. Umgekehrt kann jede Erscheinung der Natur als Metamorphose lesbar werden, hinter der sich ein mythisches Geschick entzieht, das die Ahnung des Dichters freizulegen vermag. Ovids Geschichten sind ein ganzer Kosmos der Metamorphosen. Jede Geschichte gilt der Verwandlung eines Helden. Mit ihrem Vollzug ist die Geschichte geschlossen, weil von der Verwandlung kein Weg zurückführt, und es ist die Kunst des Erzählers der Metamorphosen, von einem Metamorphosengedicht zum folgenden überzuleiten. Die Objektivation des Subjektiven ist bei Ovid zweifach gesichert: zum einen durch die Irreversibilität der in die Beschaffenheit der wirklichen Welt eingehenden Metamorphose, zum anderen durch die Objektivität der sich ganz dem Geschehen anheimgebenden Erzählerinstanz. Der Schauplatz der Ovidschen Metamorphosen ist die Welt. Der Schauplatz von Petrarcas Metamorphosen ist das Ich. Die Reichweite dieser Differenz markiert die Entfernung Petrarcas von Ovid und darüber hinaus die Ferne der Petrarcaschen Verwandlung antiker Mythen von ihrem antiken Gebrauch.16 Das lyrische Ich von >Nel dolce tempo< besingt, anders als der epische Sänger, dessen Rolle der Dichter zu Beginn der >Metamorphosen< einnimmt, sich 16

Noyer-Weidner unterstreicht in seinem Aufsatz >Zur Mythologieverwendung in Petrarcas Canzoniere (mit einem Ausblick auf die petrarkistische Lyrik)< (Umgang mit Texten, Bd. l [ Anm. 15), S. 202-223, zuerst in: Petrarca 1304-1374. Beiträge zu Werk und Wirkung, hg. v. Fritz Schalk, Frankfurt a. M. 1975) »die neue Verlebendigung einer von mittelalterlichen Denkmustern gelösten Mythologie bei Petrarca« und bemerkt im Blick auf die Gestalt Apolls: »sein menschlich liebender und leidender Apoll ist nur ein erster Fall der individuell freien Mythosdeutung.« (S. 218). Worin die Freiheit der Deutung aber besteht, bedarf freilich noch der genaueren Analyse. Petrarcas Musterkanzone, die Noyer-Weidner aus seiner Betrachtung ausgrenzt, kann hier wohl die tiefsten Einblicke geben. Einen neuen Zugang zur realen Komplexität der Mythenverwendung scheint mir die Analyse des Metamorphosengedichts bei Thomas Greene, The Light in Troy. Imitation and Discovery in Renaissance Poetry, New Haven/London 1982, zu eröffnen. Greene spricht von der »impression of an immense distancing of the Ovidian texts« (S. 131) und beschreibt subtil den Effekt der Entvisualisierung, den die Interiorisierung des Ovidschen Mythos mit sich bringt: »The imagery of the canzone of metamorphoses seems to designate psychic events that refuse to reveal themselves, remain in an opacity casting a semiotic shadow like that darkening the speaker [. . .]. The metaphoric shadows of the speaker's suffering seem to find a counterpart in his rhetorical expression« (S. 128).

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selbst. So ist auch der epische Gestus nur ein zitierter Gestus im Kontext der lyrischen Rede. Die Metamorphose wird zur Erfahrung des lyrischen Ich. Das bedeutet, daß eine Vielfalt von der Metamorphose verfallener Gestalten jetzt in einer sekundären Metamorphose sich in Gestalten der Identität des eigenen Ich verwandelt. Mit dieser Beziehung der Metamorphosensubjekte auf ein sie übergreifendes, sich selbst darstellendes Meta-Subjekt wird zugleich die Metamorphose aus ihrer Statik zurückgenommen, werden die einzelnen Metamorphosengeschichten zu Scheitelpunkten einer dynamischen permanenten Metamorphose gemacht, die in keiner Gestalt innezuhalten vermag, sondern sich beständig selbst verwandelt. Die Metamorphose wird so zur Figur des in sich entzweiten, sich selbst entzogenen und sich selbst suchenden Ich. Gibt Ovid der zur äußersten Intensität gesteigerten psychischen Erfahrung in der Metamorphose eine objektive, plastische Gestalt, so macht Petrarca, gleichsam in gegenläufiger Bewegung, die Objektivität der mythischen Figur zum Moment der Selbsterfahrung eines seine eigene Tiefe durchdringenden Ich. Schon Castelvetro hat in seinem Kommentar des >Canzoniere< darauf verwiesen, daß die Metamorphose des Ich zur Quelle in der 6. Strophe von >Nel dolce tempo< nicht nur auf die Geschichte der Byblis bei Ovid zurückverweist, sondern darüber hinaus in der sprachlichen Gestalt der dargestellten Metamorphose eine zentrale Stelle von Augustins >Confessiones< präsent hält. Ehe Augustin in höchster Verzweiflung die Stimme vernimmt, die ihm den rettenden Befehl gibt: tolle, lege, gibt er sich unter einem Feigenbaum seiner Verzweiflung und seinen Tränen hin: Ego sub quadam ßd arbore stravi me nescio quomodo et dimisi habenas lacrimis, et promperunt ßumina oculorum meorum (8, 12, 28). Daß an dieser Stelle im Text Petrarcas eine sich überlagernde Doppelreferenz sowohl auf Ovid wie auf Augustin aufscheint,17 ist ein Fingerzeig von wesentlicher Bedeutung, dem die Interpretation folgen kann. Noch an anderer, soweit ich sehe, bisher unbemerkt gebliebener Stelle tritt die für Petrarcas Kanzone wesentliche innere Gegenwärtigkeit Augustins zutage. Von der vom Körper gelösten Stimme heißt es zu Beginn von Strophe 8: Spirto doglioso errante (mi rimembra), per spelunche deserte e pellegrine, piansi molt'anni il mio sfrenato ardire. (vv. 141-143) In Augustins >Confessiones< ist die Höhle die bestimmende Metapher des Gedächtnisses. Das Gedächtnis, das seiner selbst und der Natur des im Gedächtnis Bewahrten innezusein sucht, erfährt sich in ihrem Bild: Ubi ergo aut quare, cum dicerentur, agnovi et dixi: »Ita est, verum est«, nisi quia iam erant in memoria, sed tarn remota et retrusa quasi in caveis abditioribus, ut, nisi admonente aliquo eruerentur, ea ' Vgl. auch Greene (Anm. 16), S. 129ff.

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fortasse cogitare non possem? (10,10,17). Augustin gibt in seiner Theorie der memoria, die er im 10. Buch der >Confessiones< entwickelt, dem platonischen Höhlcngleichnis eine antiplatonische Wende: Nicht im Draußen, im Licht, liegt die Wahrheit, sondern im Drinnen. Man muß die Höhle nicht verlassen, um zur Wahrheit zu gelangen, sondern tiefer in sie eindringen. So wird die Welt zum Weltinnenraum des Gedächtnisses, aus dessen tiefster Tiefe die erfahrene Präsenz Gottes spricht. Erst in dieser Umwendung wird die neue, christlich zentrierte Erfahrung des Ich von seiner eigenen unauslotbaren Tiefe denkbar und artikulierbar als abyssus humanae conscientiae (10,2,2). Augustins Lehre vom Weltinnenraum der memoria leitet die Aktualisierung der Anschauungsform der Metamorphose in >Nel dolcc tempomodernenDivina Commedia< artikuliert. Auch Dantes >Commedia< ist im übrigen das imaginäre Supplement der dem Weltenwanderer sich versagenden Erinnerung und somit zugleich ein Werk, dessen Ort der subjektive Raum der memoria ist. Als ein Indiz dieses Bewußtseins der Überlegenheit kann man es wohl auffassen, wenn Petrarcas Ich den Lorbeer, der es selbst wurde, nicht mehr am Penäus, sondern an einem >schöneren Fluß< wurzeln läßt: non di Peneo, ma d'un piu altero ßume. Das Ich findet in sich selbst Erfahrungen so außergewöhnlicher, wunderbarer Art, daß nur die Sprache des Mythos zureicht, sie zu benennen. Der Ursprung dieses Wunderbaren ist die Negation, die Versagung der Geliebten, die im Ich zur Quelle des Imaginären wird. Das Ich, dessen Sehnsucht nach der idealen Geliebten unerfüllt bleiben muß, erfährt in sich selbst den Schrecken des Selbstverlusts, dessen imaginäre Steigerung im Mythos der Metamorphose sein Äquivalent findet. Schon bei Ovid hat die Metamorphose ein zweifaches Gesicht. Sie kommt zur Ruhe in der Verwand19

Vgl. Karlheinz Stierle, Petrarcas Landschaften. Zur Geschichte ästhetischer Landschaftserfahrung, Krefeld 1979 (Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts Köln), S. 41f., S. 50ff., S. 83-91. 36

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lung psychischer Energie in Natur, auf der anderen Seite aber in ihrer Verwandlung in die in sich selbst ruhende Gestalt des dichterischen Werks. Natur und Kunst sind das zweifache Telos, das der Mythos der Metamorphose bei Ovid erfüllt. Auch bei Petrarca bleibt die mythische Anschauungsform der Metamorphose ambivalent: Ist sie einerseits eine Weise, die subjektive Erfahrung des Schreckens ins Absolute zu steigern, so andererseits ein Relais, ein Katalysator zwischen dem Schrecken und seiner Verwandlung ins Gedicht. Petrarcas >Nel dolce tempo< ist in erster Linie ein Mythos des Übergangs vom Bewußtsein zu einer Dichtung des Bewußtseins, in der das Bewußtsein sich selbst überschreitet. Wie Dantes >Divina Commedia< lesbar ist als ihre eigene Entstehungsgeschichte, so ist auch >Nel dolce tempo< lesbar als Gedicht seines eigenen Werdens.20 Ursprung des Gedichts ist die Erinnerung oder vielmehr der Schrecken, der die Erinnerung bindet, so daß die Imagination mythische Äquivalente der Erinnerung finden muß. So unterwirft das Gedicht sich dem Schrecken und behauptet sich gegen ihn. Dies wird manifest in der Weise, wie das zum Urheber des Gedichts werdende lyrische Ich sich seiner selbst entfremdet und sich jenseits der Entfremdung wiederfindet. Das Ich will zum Sänger seiner eigenen Erinnerung werden, um in der poetischen Durcharbeitung seiner leidvollen Geschichte sich von dieser zu befreien: perche cantando U duol si disacerba. Andererseits scheint ein solcher Versuch dichterischer Selbstbefreiung bisher immer wieder mißlungen zu sein, so oft das Ich ihn auch unternahm. Das Gedicht als schriftliches Werk scheiterte ebenso wie die unmittelbare, der Stimme anvertraute Klage: ben ehe mio duro scempio sia scritto altrove, si ehe millc penne ne son gia stanche, e quasi in ogni valle rimbombi il suon de' miei gravi sospiri (vv. 10-13)

Beide, Stimme und Schrift, hatten nicht Kraft, sich der penosa vita zu entheben, die zugleich eine pen[n]osa vita ist. Schrift und Stimme sollen sich jetzt so zum Gedicht vereinen, daß es gelingt, den Schmerz zu bannen. Doch gerade dabei versagt und versagt sich die entscheidende Instanz der memoria, die, selbst im Bann eines Schreckens stehend, dem Ich seine Identität entzieht. Im Zeichen der Selbstentfremdung steht die erste Metamorphose als Annäherung an die sich versagende Erinnerung. Amor und die Geliebte rauben

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Damit unterscheide ich mich von der Deutung von Sara Sturm-Maddox, die das lyrische Ich Petrarcas als persona auffaßt, die als »player of roles« agiert und im »reenactment of mythological story« eine »defense against temporality« sucht (dies., Petrarch's Metamorphoses. Text as Subtext in the Rime Sparse, Columbia, Miss. 1985, S. 129).

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dem Ich die Gestalt. Die neue Identität im Zeichen des Lorbeers und somit im Zeichen des dichterischen Auftrags ist, noch ehe sie positiv ergriffen werden kann, eine Erfahrung der Selbstentzogenheit und des Schreckens. Diese wird aber überboten durch die neue Verwandlung in den Schwan. Dem um sich selbst, seine gestürzte Hoffnung trauernden Schwan, dessen Stimme nicht zur Ruhe kommt, bleibt nur die reine, sprachlose Klage eines Singens, das sich nicht mehr in Worte fassen läßt: ehe volendo parlar, cantava sempre merce chiamando con estrania voce (vv. 62-63)

Hinter der Klage als sprachloser Stimme scheint aber schon in der Sprache der Konnotationen die Möglichkeit einer Klage als stimmloser Sprache der Schrift auf. Nicht nur verweisen die bianche piume des Schwanengefieders auf die mille penne der ersten Strophe (an die übrigens, wie fern auch immer, der Peneo erinnert), das Weiß des Schwans verweist auf das Weiß der Seite, impliziert aber zugleich, vorbereitet durch das agghiacäa, die Kälte winterlicher Erstarrung. Bereits Petrarca bringt hier alle jene Konnotationen ins Spiel, die Mallarme mit dem Schwan als Emblem einer winterlichen Dichtung der frigidite verbinden wird. Vom ambivalenten Bild des Schwans, der zugleich die Sprachlosigkeit der Stimme wie die Stimmlosigkeit der Sprache zu vergegenwärtigen vermag, führt die vierte Strophe weiter zum eigentlichen Zentrum des Gedichts, dem Redeverbot der Dame. Das Ich muß reden von seiner Dame, obwohl diese seinem Reden immer neu zuvorkommt: de la dolce ed acerba mia nemica e bisogno ch'io dica; ben ehe sia tal ch'ogni parlare avanzi. (vv. 69—71)

Die Rede des Ich wird zur fatalen Transgression des Schweigegebots der Dame: Di do non far parola. Als das Ich dagegen verstößt und der in fremder Gestalt erscheinenden Dame seine Liebe erneut offenbart, wird es in Stein verwandelt. Auch zurückverwandelt bleibt die Versteinerung der Angst. So ist ihm die Stimme genommen, und es bleibt ihm allein die Schrift. In seiner neuen Identität schreibt das Ich, statt zu sprechen oder zu klagen: Ma, perche tempo e corto, la penna al buon voler non po gir presso, onde piu cose ne la mente scritte vo trapassando, c sol d'alcune parlo, ehe meraviglia fanno a chi l'ascolta. (vv. 90-94)

Das Ich, dem die Sprache verboten ist, flüchtet sich in die stimmlose Schrift: 38

Metamorphosen des Mythos

Le vive voci m'erano interditte; ond'io gridai con carta e con incostro: - Non son mio, no; s'io moro, il danno e vostro. — (vv. 98—100)

Die Schrift ist die Sprache der Erstarrung, es ist gefrorene Rede, aber auch die Rede der Introversion. Die zurückgestautc Klage, die nicht Stimme werden kann, dringt in sich selbst und wird Schrift. Die Schrift im Gegensatz zur sich als Stimme verströmenden Klage ist das Medium der nach innen gerichteten, sich der Erstarrung anheimgebenden Melancholie. Es gibt wohl vor Petrarcas >Nel dolce tempo< kein anderes Werk, in dem die mediale Differenz von Stimme und Schrift so tiefsinnig bedacht ist. Die Schrift als introvertierte, dem Redeverbot entspringende stimmlose Sprache, zugleich Sprache der Erstarrung und der Melancholie, wie sie am Ende der fünften Strophe erscheint, entspricht genau jener Vorstellung der Schrift, die Rousseau in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache entwickeln wird. Der Begriff des Supplements, mit dem Rousseau die Differenz von Stimme und Schrift zu erfassen sucht und dessen Tragweite allererst durch Derridas Philosophie der Schrift erschlossen wurde, wird hier in geradezu frappanter Weise veranschaulicht.21 Wenn aber einerseits die Schrift des >versteinerten< Ich einen Kulminationspunkt der Selbstentfremdung bezeichnet, so andererseits dennoch zugleich einen verborgenen Zielpunkt der Identität. Petrarca, der den Namen des Vaters Petracco zu seinem eigenen Namen frei umformte, verstand diesen als das Emblem seiner dichterischen Bestimmung. Im Gedicht sah er die zeitüberdauernde Form, das Monument seiner Stimme, vergleichbar dem zeitüberdauernden Stein jener antiken Marmorsarkophagc, nach deren Vorbild die Bologneser Glossatoren ihre Sarkophage außerhalb der Kirche aufstellen ließen. Petrarcas marmorner Sarkophag, der »mit dem christlichen Grabkult des Trecento nichts zu tun hat«22 und den er selbst entworfen hatte, ist die Materialisierung seines Namens, dessen Medium, der Marmor, sich mit dem Anspruch seiner zeitüberdauernden Geltung verbindet, deren sachlicher Grund in der Schrift gewordenen Materialisierung seiner dichterischen Stimme liegt. Aber in der Erstarrung der Schrift hat das Gedicht in seinem Werden noch nicht seinen Zielpunkt gefunden. Das zurückverwandelte, im Banne des Schweigegebots stehende Ich, dem die Geliebte, als es dieses erneut bricht, sich gänzlich entzieht, löst sich auf in die strömende, aber sprachlos bleibende Gewalt seines Schmerzes. Wieder erhält das Ich seine Gestalt zurück, und wieder verstößt es gegen das Redeverbot und wird erneut zu Stein, um dann als körperloses Stimmen-Ich klagend die Einsamkeiten verlassener Höhlen zu durchziehen. Die letzte Verwandlung, die dem Ich widerfährt und die es in die 21

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Vgl. Anm. 18. Wolfgang Liebenwein, Petrarcas Grab, in: Petrarca-Preis 1980-1984, München 1984, S. 74-94. 39

Karlheinz Stierle

Doppelfigur von flüchtendem Wild und verfolgenden Hunden bannt, ist ein Bild des Schreckens in Permanenz, der klaglos, ohne Stimme und ohne Sprache bleibt. Aber die Präsenz der letzten noch andauernden Metamorphose löscht nicht die Präsenz der ersten Verwandlung in den Lorbeer. Erst im congedo erhält das Dichten des Gedichts seine ganze Rechtfertigung. Als uccel [ . . . ] / alzando lei ehe ne' miei detti onoro (vv. 165f.) verstößt das Ich gegen das Gebot der Dame Di do non far parola und behauptet sich so in seinem dichterischen Auftrag. In der dichterischen Verwandlung und Enthebung kann nun auch der dolce tempo de la prima etade im Zeichen des dolce lauro wiedergefunden werden. Der trotz aller Widerwärtigkeiten gelingende Gesang gibt der Trauer, dem Schrecken, der Versagung, die sich in den Bildern der Metamorphose spiegeln, eine neue Wirklichkeit, die sie in die Eigenständigkeit der dichterischen Figur enthebt, ohne sie gleichwohl zu negieren. Petrarca löst Ovids Anschauungsform der Metamorphose gleichsam von ihren Blockierungen. Wenn dort die Metamorphose jeweils einmalig und irreversibel ist, so dynamisiert sie Petrarca, indem er der Hinverwandlung die Rückverwandlung entsprechen läßt und indem er die einmalige Metamorphose in einen offenen Prozeß der Metamorphosen überfuhrt. Als Supplemente der Erinnerung sind diese zugleich in ihrer Dynamik Anschauungsformen einer Krise in Permanenz. Aber über alle Metamorphosenerzählungen im Stil Ovids hinaus macht Petrarca die Metamorphose zur bestimmenden poetischen Figur seines Gedichts. Das Gedicht wird zu einem Kontinuum der Metamorphosen, das alle seine Aspekte durchdringt. Erinnerung verwandelt sich in Metamorphosen, diese verwandeln sich ins Gedicht. Das Gedicht ist die Metamorphose seiner Metamorphosen, die ihrerseits Supplemente der versagenden und sich versagenden Erinnerung sind. Laura wird als Ursprung des Dichtens zum lauro, der lauro als Schreckbild der Verwandlung und Selbstentfremdung wird zum lauro der dolce ombra. Die Schrift ist eine Metamorphose der Stimme, aber die Feder ist auch als Schreibfeder eine Metamorphose der Feder des Schwans, wie die Weiße seines Gefieders sich zur Weiße der zu beschreibenden Seite verwandelt. Schließlich aber ist nicht nur die Schrift eine Metamorphose der Stimme, die Stimme als dichterische Stimme ist zugleich eine Metamorphose der Schrift. Petrarcas Metamorphose ist eine Kopräsenz der Gestalten. Die frühere wird durch die spätere nicht getilgt, sondern zu einer komplexen Form zusammengeführt. Die Anschauungsform der Metamorphose wird in der Konkretisation bildlicher Überlagerungen zur imaginären Synthese. Das Gedicht ist weder Schrift noch Stimme, es ist die imaginäre Vereinigung von Schrift und Stimme, von Erinnerung und mythischer Metamorphose, von Schrecken und Bannung des Schreckens, von Versagung der Rede und Wiedergewinnung. 40

Metamorphosen des Mythos

Schauen wir noch einmal zu Cino zurück. Indem Petrarca sich den antiken Mythenkreis der Ovidschen >Metamorphosen< aneignete, gewann er sich ein Instrument der poetischen Artikulation, das erst wahrhaft geeignet war, den von Cino eröffneten Innenraum des in sich selbst entzweiten Ich poetisch zu erschließen. Freilich beschränkt dieser Weg sich bei Petrarca auf wenige Beispiele, unter denen >Nel dolce tcmpo< das herausragcnde ist. Der zum Rcflexionsmedium gewordenen mythischen Metamorphose gewinnt Petrarca ein anderes Reflexionsmedium hinzu, das schon bei Cino in Ansätzen erscheint: die Landschaft. Mit der Landschaft als Projektionsraum des in seinem pensare befangenen Ich mehr noch als mit der Wiedergewinnung des antiken Mythos hat Petrarca damit der zukünftigen lyrischen Dichtung einen Weg gewiesen.23

Anhang Per Amore in varie guise trasformato. Nel dolce tempo de la prima etade, ehe nascer vide et ancor quasi in erba la fera voglia ehe per mio mal crebbe, perche cantando il duol si disacerba, cantero com'io vissi in libertade, mentre Amor nel mio albergo a sdegno s'ebbe; poi seguiro si come a lui ne'ncrebbe troppo altamente, e ehe di cio m'avenne, di ch'io son fatto a molta gente essempio; ben ehe mio duro scempio sia scritto altrove, si ehe millc penne ne son giä stanche, e quasi in ogni valle rimbombi il suon de' miei gravi sospiri, ch'aquistan fede a la penosa vita. E se qui la memoria non m'aita, come suol fare, iscusilla i martin, et un penser, ehe solo angoscia dalle, tal ch' ad ogni altro fa voltar le spalle e mi face obliar mc stesso a forza, ch' e' ten di me quel d'entro, et io la scorza. 23

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Vgl. Hugo Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt 1964, Kap. 4: »Francesco Petrarca«, bes. S. 210-214: »Lyrische Landschaften«, sowie Karlheinz Stierle, Petrarcas Landschaften (Anm. 19) und ders., Di pensier in pensier, di monte in monte. Landschaftserfahrung und Selbsterfahrung in Petrarcas Canzoniere, Italienisch 22 (Nov. 1989), S. 21-33. 41

Karlheinz Stierte

Γ dico ehe dal di che'l primo assalto mi diede Amor,molt'anni eran passati, si ch'io cangiava il giovenil aspetto; e d'intorno al mio cor pensier gelati fatto avean quasi adamantine smalto ch'allentar non lassava il duro affetto: lagrima ancor non mi bagnava il petto ne rompea il sonno, e quel ehe in me non era mi pareva un miracolo in altrui. Lasso, ehe son! ehe fui! La vita el fin, e Ί di loda la sera. Che, sentendo il crudel, di ch'io ragiono, in fin allor percossa di suo strale non essermi passato oltra la gonna, prese in sua scorta una possente donna, ver' cui poco gia mai mi valse ο vale ingegno o forza o dimandar perdono. Ei duo mi trasformaro in quel ch'i' sono, facendomi d'uom vivo un lauro verde, ehe per fredda stagion foglia non perde. Qual mi fec'io quando primer m'accorsi de la trasfigurata mia persona, e i capei vidi far di quella fronde di ehe sperato avea gia lor corona, e i piedi in ch'io mi stetti, e mossi, e corsi, (com'ogni membro a I'anima risponde) diventar due radici sovra 1'onde, non di Peneo, ma d'un piu altero fiume, e'n duo rami mutarsi ambe le braccia! Ne meno ancor m'agghiaccia 1'esser coverto poi di bianche piume, allor ehe folminato e morto giacque il mio sperar, ehe tropp'alto montava. Che, perch'io non sapea dove ne quando mel ritrovasse, solo, lagrimando, la 've tolto mi fu, di e notte andava, ricercando dallato e dentro a 1'acque, e gia mai poi la mia lingua non tacque, mentre poteo, del suo cader maligno; ond'io presi col suon color d'un cigno. 42

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Cosi lungo l'amate rive andai, ehe volendo parlar, cantava sempre, merce chiamando con estrania voce; ne mai in si dolci o in si soavi tempre risonar seppi gli amorosi guai, ehe Ί cor s'umiliasse, aspro e feroce. Qual fu a sentir, ehe Ί ricordar mi coce? Ma molto piu di quel ehe per inanzi de la dolce et acerba mia nemica e bisogno ch'io dica; ben ehe sia tal ch'ogni parlare avanzi. Questa, ehe col mirar gli animi fura, m'aperse il petto, e'l cor prese con mano, dicendo a me: — Di cio non far parola. — Poi la rividi in altro abito sola, tal ch'i' non la conobbi, o senso umano!, anzi le dissi Ί ver pien di paura; ed ella ne l'usata sua figura tosto tornando, fecemi, oime lasso!, d'un quasi vivo e sbigottito sasso. Ella parlava si turbata in vista, ehe tremar mi fea dentro a quella petra, udendo: - Γ non son forse chi tu credi. — E dicea meco: — Se costei mi spetra, nulla vita mi fia noiosa o trista: a farmi lagrimar, signor mio, riedi. — Come, non so; pur io mossi indi i piedi, non altrui incolpando ehe me stesso, mezzo, tutto quel di, tra vivo e morto. Ma, perche Ί tempo e corto, la penna al buon voler non po gir presso; onde piu cose ne la mente scritte vo trapassando, e sol d'alcune parlo, ehe meraviglia fanno a chi l'ascolta. Morte mi s'era intorno al cor avolta, ne tacendo potea di sua man trarlo, o dar soccorso a le vertuti afflitte: le vive voci m'erano interditte; ond'io gridai con carta e con incostro: — Non son mio, no; s'io moro, il danno c vostro. — 43

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Ben mi credea dinanzi a gli occhi suoi d'indegno far cosi di merce degno; e questa spene m'avea fatto ardito: ma talora umiltä spegne disdegno, talor l'enfiamma; e cio sepp'io da poi, lunga stagion di tenebre vestito; ch'a quei preghi il mio lume era sparito. Ed io non ritrovando intorno intorno ombra di lei, ne pur de' suoi piedi orma, come uom ehe tra via dorma, gittaimi stance sovra 1'erba un giorno. Ivi, accusando il fugitive raggio, a le lagrime triste allargai freno, e lasciaile cader come a lor parve; ne gia mai neve sotto al sol disparve, com'io send me tutto venir meno, e farmi una fontana a pie' d'un faggio. Gran tempo umido tenni quel viaggio. Chi udi mai d'uom vero nascer fonte? E parlo cose manifeste e conte. L'alma, ch'e sol da Dio fatta gentile, ehe giä d'altrui non po venir tal grazia, simile al suo fattor stato ritene; pero di perdonar mai non e sazia a chi col core e col sembiante umile, dopo quantunque offese, a merce vene. E se contra suo stile ella sostene d'esser molto pregata, in lui si specchia, e fal perche peccar piu si pavente; ehe non ben si ripente de Tun mal chi de l'altro s'apparecchia. Poi ehe madonna da pietä commossa degno mirarme, e ricognovve e vide gir di pari la pena col peccato, benigna mi redusse al primo stato. Ma nulla ha mondo in ch'uom saggio si fide; ch'ancor poi ripregando, i nervi e 1'ossa mi volse in dura selce; e cosi scossa voce rimasi de l'antiche some, chiamando Morte, e lei sola per nome.

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Spirto doglioso errante (mi rimembra) per spelunchc deserte e pellegrine piansi molt'anni il mio sfrenato ardire; et ancor poi trovai di quel mal fine, e ritornai ne le terrene membra, credo, per piu dolore ivi sentirc. Γ scgui' tanto avanti il mio desire ch'un di cacciando, si com'io solca, mi mossi; e quella fera bella e cruda in una fonte ignuda si stava, quando Ί sol piu forte ardea. Ιο, perche d'altra vista non m'appago, stetti a mirarla; ond'ella ebbe vergogna; c, per fame vendetta, o per celarse, 1'acqua ncl viso co le man mi sparse. Vcro diro (forsc e' parr mcnzogna) ch'i' send' trarmi de la propria imago, et in un cervo solitario e vago di selva in sclva ratto mi trasformo; ct ancor de' miei can fuggo lo stormo. Canzon, i' non fu' mai quel nuvol d'oro ehe poi discese in preziosa pioggia, si ehe Ί foco di Giovc in parte spensc; ma fui ben fiamma ch'un bei guardo accense, e fui l'uccel ehe piu per 1'aere poggia, alzando lei, ehe ne' miei detti onoro; ne per nova figura il primo alloro seppi lassar, ehe pur la sua dolce ombra ogni men bei piacer del cor mi sgombra.

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DIETER MEHL Die lateinischen Zitate in >Piers Plowman< Intertextualität und Traditionalität

Langlands Verwendung lateinischer Zitate in seinem geistlichen Traumgedicht >Piers Plowman< ist ein besonders aufschlußreiches Beispiel für den Umgang eines spätmittelalterlichen Autors mit traditionellen Texten wie auch für das originelle und kreative Nebeneinander zweier deutlich unterschiedlicher Diskursebenen in einem literarischen Text. Es handelt sich hier nicht um einen Autor, der Freude daran hat, eigene Lesefrüchte oder gar gelehrte Zettelkästen in seine Dichtung einzustreuen, wie dies, in ganz verschiedener Weise, Geoffrey Chaucer, Laurence Sterne, George Eliot und James Joyce tun. >Piers Plowmam ist vielmehr ein Sonderfall; denn die Zitate stammen fast alle aus derselben Quelle oder doch aus einer relativ beschränkten und eng umgrenzten Art von Quellen, und sie sind alle deutlich >markiert< durch ihre Sprache. Kein anderer mittelenglischer poetischer Text enthält so viele lateinische Zitate: Sie sind so häufig und so intensiv mit dem englischen Text verknüpft, daß das Gedicht ohne sie völlig anders wirken würde, ja eigentlich ohne sie kaum vorstellbar wäre. Es braucht nicht näher begründet zu werden, daß für den mittelalterlichen Hörer und Leser das Lateinische natürlich nicht den Charakter einer Fremdsprache hatte. Es war die Sprache des Gottesdienstes, der Liturgie wie der Bibellesungen, und es war weithin auch die Sprache theologischer Diskussion. Für viele, vor allem für die Geistlichkeit, war es mehr wie eine zweite Muttersprache, und Langlands Verwendung sowohl ihrer Vertrautheit als auch ihres exklusiven, jedenfalls spezialisierten Charakters scheint mir besonders aufschlußreich; sie verrät, so meine ich, einen hohen Grad von Bewußtheit und Reflexion über diesen Aspekt von traditioneller Schriftlichkeit. Jedes lateinische Zitat verweist den Leser auf eine andere Möglichkeit des Diskurses und auf einen klar definierten geistlichen Kontext. Es unterbricht die fiktive Erzählung und erzeugt einen intertextuellen Bezug. Die große Zahl lateinischer Zitate macht >Piers Plowman< zu einem besonders faszinierenden Paradigma von Intertextualität.1 Ausdrücklich und konti1

Vgl. Manfred Pfister, Konzepte der Intertextualität, in: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, hg. v. Ulrich Broich u. Manfred Pfister, Tübingen 1985, S. 1—30, und, im selben Band, Ulrich Broich, Formen der Markierung von Intertextualität, S. 31—47. Zum hier verwendeten Begriff des >Prätext< vgl. Wolf Schmid, Sinnpotentiale der diegetischen Allusion. Aleksandr Puskins Posthalternovelle und ihre Prätexte, in: Dialog der Texte. Hamburger

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Die lateinischen Zitate in >Piers Ploivman
eigentlichen< Text des Werkes ein. Der Leser wird angehalten, die wechselseitige Erhellung dieser beiden Diskurscbenen zur Kenntnis zu nehmen und kritisch zu prüfen. Eine ganze Reihe nützlicher Untersuchungen, denen jeder neuerliche Versuch sehr verpflichtet ist, hat sich mit der Herkunft und Funktion dieser lateinischen Zitate befaßt. Drei Fragestellungen haben dabei bisher im Mittelpunkt gestanden: 1. Verschiedene Forscher haben sich zunächst darum bemüht, die Zitate zusammenzustellen und sie nach Herkunft, Verteilung in den drei Texten und Langlands mutmaßlichen Quellen zu ordnen. Es existieren verschiedene Listen, mit deren Hilfe sich etwa auf den ersten Blick erkennen läßt, daß die große Mehrzahl der Zitate aus der Bibel stammt, insbesondere aus den Psalmen und den Evangelien, oder aber aus liturgischen Texten und Manualen, vor allem aus dem Missale und dem Breviarium.3 Freilich besteht noch keine Übereinstimmung darüber, ob Langland im wesentlichen auf die >Vulgata< zurückgriff oder ob er seine Zitate in erster Linie aus Anthologien und ZusammenstellunKolloquium zur Intertextualität, hg. v. Wolf Schmid u. Wolf-Dieter Stempel, Wien 1983 (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 11), S. 141-153, hier S. 143: »Der Begriff >Prätext< umfaßt, ohne der intertcxtuellen Relation schon eine bestimmte Qualität zuzusprechen, fremde Texte in allen möglichen Verwendungen, ist also der in Hinsicht auf die Inhalte der Relation indifferente Oberbegriff für solche Begriffe wie >ReferenztextSubtextPrototcxtGenotextQuellentextObjekttcxt< u. a..« 2 Für eine neue Sicht dieses traditionellen Problems plädiert überzeugend David Lawton in seinem anregenden Aufsatz, The Subject of Piers Plowman, The Yearbook of Langland Studies 1 (1987), S. 1-30. 3 Vgl. die Zusammenstellung des Materials in: Sister Carmeline Sullivan, The Latin Insertions and the Macaronic Verse in Piers Plowman, The Catholic University of America, Washington 1932, sowie die Listen bei Greta Hort, Piers Plowman and the Contemporary Religious Thought, London 1938, S. 161—170. Zur Kritik daran vgl. vor allem Robert Adams, Langland and the Liturgy Revisited, Studies in Philology 73 (1976), S. 266—284; ferner den älteren Aufsatz von M. Ray Adams, The Use of the Vulgate in Piers Plowman, Studies in Philology 24 (1927), S. 556-566. 47

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gen für den täglichen Gebrauch der Geistlichkeit bezog. Eine endgültige Antwort auf diese Frage scheint mir im Augenblick kaum möglich. 2. Eine andere Fragestellung, vor allem von John Alford in die Diskussion gebracht und verschiedentlich aufgegriffen, geht von der Funktion der Zitate im Kontext des ganzen Werkes aus und sieht in dem Prinzip der Konkordanz, wie es von Predigern und Kommentatoren, etwa John Bromyard und seiner >Summa PredicantiumPiers Plowman< sich aus dem Prinzip der Konkordanz erklären lasse. Mit anderen Worten: die Zitate waren zuerst da, und der englische Text war gleichsam nur der Kommentar dazu. In dieser extremen Form scheint mir dieser Ansatz irreführend. Er würde — dies allein spricht schon gegen ihn — nur für die B-Version gelten, da, wie auch Alford erkennt, die C-Version dieses Muster verwischt und deutlich nach anderen Prinzipien arbeitet.5 Vor allem aber sind der imaginative Reichtum und die unbekümmerte Experimentierfreudigkeit ein starkes Argument gegen diese Erklärung einer Priorität der lateinischen Zitate. Alfords These erklärt sicher einen Teil der Kompositionsweise Langlands, aber sie wird der provozierenden intertextuellen Wechselbeziehung zwischen Vision und Autorität nicht gerecht. 3. Ein dritter Ansatz beschäftigt sich vor allem mit den Formen der Integration der Zitate in das sprachliche, metrische und thematische Gefüge des Gedichts, und hier scheinen mir die Ergebnisse besonders bemerkenswert. In der m.E. besten Studie zu den lateinischen Zitaten hat Heien Barr gezeigt, wie die »disparity of word and deed«, eines der wichtigsten Themen des Gedichtes, durch den spezifischen Gebrauch von Bibelzitaten unterstrichen wird, und es scheint mir lohnend, diese Fragestellung im Hinblick auf Langlands intertextuelle Methode noch etwas weiterzuverfolgen.6 "John A. Alford, The Role of the Quotations in Piers Plowman, Speculum 52 (1977), S. 80-99. Vgl. auch Janet Coleman, 1350-1400. Medieval Readers and Writers, London [usw.] 1981 (English Literature in History), S. 22 et passim. Zur Kritik an Alford vgl. auch Judson Boyce Allen, Langland's Reading and Writing: Detractor and the Pardon Passus, Speculum 59 (1984), S. 342-362. Allen gibt eine andere Interpretation von Langlands Kompositionsweise, die zumindest für den Pardon Passus (B.vii) überzeugt. 5 Zu den Versionen und ihrer Datierung vgl. den vorzüglichen Überblick von George Kane, The Text, in: A Companion to Piers Plowman, hg. v. John A. Alford, Berkeley 1988, S. 175—200. 6 Helen Barr, The Use of Latin Quotations in Piers Plowman with Special Reference to Passus XVIII of the >B< Text, Notes and Queries, NS 33 (1986), S. 440-448. 48

Die lateinischen Zitate in >Piers Plou>man
Piers Plowman< läßt sich in einem zentralen Sinne als ein Gedicht über traditionelle Texte und ihre Autorität beschreiben. Es ist keine Homilie im üblichen Sinne, sondern ein Versuch, über die Mittel des Predigers hinaus die Grundlagen des Glaubens neu zu formulieren, dabei aber auch die Grenzen eines bloß verbalen oder konzeptuellen Diskurses zu überwinden und dem Zusammenhang von Wort und Tat nachzugehen.7 Gleichzeitig ist das Gedicht auch eine kommentierende Diskussion von Fragen und Problemen, die durch die Bibel und mehrere Jahrhunderte von Bibelkommentierung und theologischer Debatte aufgeworfen worden und kontrovers geblieben waren. Die lateinischen Zitate schaffen eine Art Subtext, cine zusätzliche Bedeutungsschicht hinter dem eigentlichen Text, als ständige Erinnerung an Wahrheiten, geäußert von Generationen von Glaubenden, Kirchenlehrern und letztlich Gott selbst, insofern die Heilige Schrift als Gottes Wort verstanden wird. Das Gedicht sucht die Kluft zwischen den traditionellen Manifestationen dieses Wortes und der offensichtlichen Unfähigkeit der menschlichen Gesellschaft, es aufzunehmen und danach zu handeln, zu überbrücken. Schon im Verlauf der ersten Passus wird deutlich, daß Predigt allein nicht genügt und daß andere sprachliche und literarische Formen gefunden werden müssen, um aus Hörern und Lesern aktive Gläubige zu machen. Zwar gibt es auch Stellen im Gedicht, wo Langland sich schlicht auf die Macht des Schriftwortes zu verlassen scheint, um einen strittigen Punkt zu entscheiden und fruchtlose Diskussionen zu beenden; aber weit häufiger finden wir den Träumer oder einen anderen Charakter in der Situation der Ratlosigkeit und Enttäuschung, da die Autorität des Textes nicht mehr als argumentative oder intellektuelle Hilfen bereitstellt. Immer wieder finden sich ungeduldige Proteste wie die von Conscience in das Ohr von Clergy geraunte Versicherung: Me were levere, by Oure Lord, and I lyve sholde, Have pacience parfitliche than half thi pak of bokcs! (B.xiii.200-201)8 >Mir wäre lieber, bei unserem Herrn, wenn ich am Leben bleiben sollte, vollkommene Geduld zu besitzen als den halben Stapel deiner Bücher.«

Es ist die Reaktion auf das Angebot von Clergy, mit Hilfe einer Bibel das Wesen der Patientia zu erklären, während Conscience nichts anderes will, als gemeinsam mit Patience in seiner Wallfahrt auf der Suche nach dem vollkommenen Leben fortzufahren. 7

Zu der oft diskutierten Frage nach dem Verhältnis des >Piers Plowman« zur mittelalterlichen Predigt vgl. Siegfried Wenzel, Medieval Sermons, in: A Companion to Piers Plowman (Anm. 5), S. 155—172. Wenzel betont mit Recht, daß es sich bei >Piers Plowman« um etwas grundsätzlich anderes als um eine Predigt handelt. 8 Alle Zitate aus dem B-Text nach: William Langland, The Vision of Piers Plowman. A Complete Edition of the B-Text, hg. v. Aubrey Vincent C. Schmidt, London 1978, New Edition 1987. 49

Dieter Mehl

So kann >Piers Plowman< auch beschrieben werden als ein Buch gegen eine primitive und vor allem theoretische Verwendung von Texten — oder als ein Buch über die Grenzen des traditionellen biblischen Diskurses. Natürlich kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Träumer (und der Autor) von einem tiefen Glauben an die Macht des Buches, vor allem des Buches der Bücher, erfüllt ist; aber wiederholt macht er die Erfahrung, daß die traditionellen Texte seine eigentlichen Fragen nicht beantworten. Als ausgebildetem Theologen ist ihm der geistliche Jargon geläufig, und er kennt die meisten der traditionellen Antworten im voraus, aber es handelt sich weithin um bloßes Buchwissen. Die Autorität der Schrift wird selbstverständlich nirgends in Frage gestellt; was mit großer Skepsis und oft mit ungebändigtem Zorn betrachtet wird, ist der Gebrauch, den die Christen, vor allem diejenigen, die es aufgrund ihres Wissens und ihres Berufes besser wissen sollten, von den traditionellen Aussagen machen. Schon in der Episode der Lady Meed, einer Personifikation verderblichen Reichtums und falschen Geldgcbrauchs, erweist sich diese Figur als eine Verdreherin der Schrift. Sie nimmt genug Lateinkenntnisse für sich in Anspruch, um die Bibel zitieren zu können, muß sich aber von Conscience einen unredlichen, philologisch und moralisch verwerflichen Umgang mit Halbzitaten vorwerfen lassen (B.iii.331-353). Das berühmteste Beispiel ist wohl das Zerreißen des Ablasses, den Truth den Pilgern sendet, die sich auf die Suche nach ihr begeben haben (Passus vii des B-Textes). Dieser Ablaß besteht aus nicht mehr als einem lateinischen Zitat, das dem athanasischen Glaubensbekenntnis entnommen ist und dessen Autorität unangefochten ist, für Langland offensichtlich ein Text, der allein durch die Praxis, nicht durch bloßes Zitieren zum Leben erweckt werden kann. Kontrovers ist nicht seine Gültigkeit, sondern die Definition des Zitats als eines Ablasses. Die Stelle hat zu einer intensiven und, wie mir scheint, weithin unnötigen Diskussion in der Forschung geführt.9 Ich sehe sie vor allem als Beispiel für Langlands experimentelles Bemühen, die Wirksamkeit von Worten auszuloten, nicht nur als Vermittler ewiger Wahrheiten, sondern als praktische Hilfe bei der Suche nach Do-well. Vom Zitieren der göttlichen Verheißung allein einen wirksamen Ablaß zu erwarten, ist ein gefährlicher Irrtum, und Piers' dramatische Geste ist eine unmißverständliche, non-verbale Demonstration dieser Erkenntnis. Nur eine völlige Änderung des Lebens — im Gedicht durch den Aufbruch vom Pflügen zur Wallfahrt verbildlicht — kann die angemessene Antwort auf das in dem Zitat enthaltene Versprechen sein. Es ist bemerkenswert, daß Piers im gleichen Augenblick, in dem er das geschrie' Vgl. dazu die besonders nützliche Interpretation von John A. Burrow, The Action of Langland's Second Vision, Essays in Criticism 15 (1965), S. 247—268, jetzt auch in: J. A. B., Essays on Medieval Literature, Oxford 1984, S. 79-101.

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Die lateinischen Zitate in >Piers Plowman
Sir Gawain and the Green KnightPiers Plowman&cUnd er brachte uns etwas von Beati quorum, gemacht aus Beatus vir. Und dann brachte er uns noch ein Gericht aus anderer Speise, aus Miserere me, Deus / Et quorum tecta sunt peccata in einer Schale aus verschwiegener Beichte, Dixi et conßtebor tibi.
Vulgata< als argumentative Waffe, sondern die lateinischen Worte werden zu Requisiten der Handlung; sie sind Speise und Trank, nicht nur Bedeutungsträger. Dies wird unterstrichen durch ihre syntaktische und metrische Integration im englischen Text, wie in der zitierten Zeile: And he broughte us of Beati quorum of Beatus vines makyng.

Helen Barr hat überzeugend aufgezeigt, wie diese Technik immer da konzentrierter verwendet wird, wo die Beziehung zwischen Wort und Tat besonders eng wird. Solch einfallsreicher Gebrauch von makaronischem Vers ist ein besonders interessanter Aspekt von Langlands intertextueller Methode. Dabei ist freilich anzumerken, daß in diesem Falle, wie auch an anderen Stellen, der Dichter diese originelle Einführung von Zitaten im C-Text stark vereinfacht 'Jill Mann, Eating and Drinking in >Piers PlowmanPiers Plowmaw

hat, vermutlich im Interesse einer klareren Aussage, aber doch auf Kosten der poetischen Suggestivkraft. Im C-Text sind an dieser Stelle fast alle lateinischen Redeteile nur im Sinne bekräftigender Zitate gebraucht, mit Ausnahme der pitaunce, die von Contrition zubereitet wird und aus einem Psalmwort besteht. Es scheint, als habe der Dichter in seiner Revision die beiden Diskursebenen viel strenger auseinanderhalten wollen; zumindest deutet die Mehrzahl der Änderungen auf eine konventionellere Form des Zitatgebrauchs und der makaronischen Elemente hin.11 Überhaupt scheint in dieser Episode im C-Text eine veränderte Einstellung zu den lateinischen Zitaten vorzuliegen. Im B-Text beschuldigt der Dichter die Prediger, sie würden die Warnung des Apostels Paulus vor falschen Brüdern überspringen — Periculum est in falsis fratribus! (B.xiii.69) —, doch er weigert sich in ironischer Höflichkeit, das lateinische Zitat zu übersetzen, denn es könne sonst zu oft wiederholt werden und gute Männer verletzen. Aber — so fügt er hinzu — die Gelehrten sollten es lesen, und er gibt dazu in lateinischer Sprache weitere Erläuterungen. Im C-Text dagegen liefert der Dichter eine englische Paraphrase des lateinischen Textes, und der ganze Ton ist weniger indirekt und mißverständlich (C.xv.69-80). In beiden Versionen geht es jedoch primär um die Praxis des Predigens und ihren Mißbrauch durch all die, die entweder ihre Texte tendenziös auswählen, sie durch spitzfindiges glosyng entstellen oder vor allem ihre Predigt durch gottloses Leben diskreditieren, wie dies der Theologe in der Mahlszene offensichtlich tut. Wiederum ist die B-Version hier wesentlich suggestiver, wenn auch weniger explizit und unmißverständlich. Die Figur des Theologen, der, unterbrochen durch einen kräftigen Schluck, das Wesen von Dowel erläutert, unterstreicht den beunruhigenden Kontrast zwischen theologischer Definition und den Bedürfnissen des Gläubigen. Er zitiert die Heilige Schrift, aber der narrative Kontext macht deutlich, daß die eigentliche Aussage des Prätextes durch die Art des Zitierens entstellt wird. Dies wird durch die Reaktion von Clergy bestätigt, die sich weigert, der Definition des Theologen zuzustimmen, und deutlich suggeriert, daß jede verbale Beschreibung von Dowel notwendigerweise versagen muß. Die so schwer greifbare, aber keineswegs obskure Figur des Piers Plowman wird an dieser Stelle wieder angerufen, um die Notwendigkeit der untrennbaren Verbindung von Wort und Handlung zu belegen. Auch hier, wie in der Pardon-Szene, wird mit Piers die Debatte auf ein schlichtes Bibelwort reduziert, das Handeln vor Argumentieren stellt, und es wird von Piers gesagt, daß er dies >in dedePiers Plowmaw

Passus relativ wenig Gebrauch von lateinischen Zitaten. Dagegen setzt er eine Methode fort, die höchst wirkungsvoll im vorausgehenden Passus verwendet wird, nämlich die fast unmerkliche Verschmelzung von biblischem Bericht mit der eigenständigen Vision des Dichters. Ein charakteristisches Beispiel ist die Einbeziehung des Träumers in das Pfmgstwunder: Thus Conscience of Crist and of the cros carpede, And counselled me to knele therto; and thanne cam, me thoughte, Oon Spiritus Paraditus to Piers and to hise felawes. In liknesse of a lightnynge he lighte on hem alle And made hem könne and knowe alle kyne langages. I wondred what that was, and waggede Conscience, And was afered of the light, for in fires liknesse Spiritus Paraditus overspradde hem alle. (B.xix.200-207) >Dann redete Conscience von Christus und vom Kreuz und ermahnte mich, dazu niederzuknien; und dann kam, so schien mir, einer (mit Namen) Spiritus Paraditus zu Piers und zu seinen Gefährten. Gleich einem Blitz stürzte er sich auf sie alle und machte, daß sie alle Arten von Sprachen kannten und verstanden. Ich wollte wissen, was das war und fragte Conscience und fürchtete mich vor dem Licht, denn gleich einem Feuer überdeckte Spiritus Paraditus sie alle.
Piers Plowman< dagegen ist das Prinzip des Redde quod debes eine zentrale Voraussetzung für aufrichtige Reue und Vergebung, wie noch deutlicher wird bei der zweiten Zitierung im Zusammenhang mit der Auferstehung Christi: Anoon after an heigh up into hevene He wente, and wonyeth there, and wol come at the laste, And rewarde hym right wel that reddit quod debit — Paieth parfitly, as pure truthe wolde. (192-195) >Und bald danach ging er hoch hinauf in den Himmel und wohnt dort und wird zuletzt wiederkommen und den sehr reichlich belohnen, der reddit quad debit — der vollständig bezahlt, wie es die reine Wahrhaftigkeit gebietet.
Piers Plowmaw

Die Worte waren vermutlich durch Brevier oder Liturgie bekannt genug, um unmittelbar verstanden zu werden; doch die biblische Sprache hebt sie aus dem Kontext heraus; durch den Kontrast erhalten Christi Worte einen vertrauteren, menschlicheren Tonfall, während andererseits dem Traum eine fast biblische Autorität zugewiesen wird, selbst wenn man nicht ganz dem Kommentar von Schmidt folgt, Langland stelle sich mit diesem >boldest claim< dem Apostel Paulus gleich.12 Vier Zeilen später unterbricht der Dichter nochmals mit einem lateinischen Zitat, und zwar einem Psalmengebet, das der Sprecher wiederum für sich übernimmt, als seine Antwort auf Christi Zusage der Vergebung: Non intres in indicium cum servo tuo. (400b)

In diesen Fällen sind biblischer oder liturgischer Diskurs klar von den Dichterworten selbst getrennt, obwohl gleichzeitig durch den Gegenstand eine weitgehende Integration bewirkt wird. Diese letztlich doch sehr unkonventionelle und im besten Sinne kreative Vielfalt der intertextuellen Technik scheint mir auch aufschlußreich im Hinblick auf Langlands Verhältnis zur literarischen Tradition im Zusammenhang mit seinem theologischen Anliegen. Ich habe zu zeigen versucht, daß der Dichter gegenüber dem, was er als bokes bezeichnet, eine ausgesprochen ambivalente Haltung einnimmt. Natürlich wird die Autorität der Bibel an keiner Stelle ernsthaft in Frage gestellt, aber er mißtraut zutiefst jedem Versuch, dem Text eigensüchtige und irreführende Interpretationen abzuzwingen, vor allem von denen, die berufen sind, die Unwissenden zu führen. Das Lateinische ist für Langland zugleich die Sprache des göttlichen Wortes und die Sprache der Privilegierten, die Sprache, in der Gottes Wort offenbart ist, und die Sprache derer, die seine Wahrheit manipulieren und den Unwissenden vorenthalten. Daher sind auch Bücher, und sei es die Bibel, nicht unverdächtig, wenn sie durch Predigt und Exegesis zur Verwirrung der Ungebildeten ausgenützt werden. Dem Träumer wird von Holy Church vorgeworfen, daß er in seiner Jugend zu wenig Latein gelernt habe; doch nach einer längeren, offensichtlich für steril gehaltenen Debatte über die Möglichkeit der Errettung von Heiden tritt unvermittelt Trajan selbst mit seinem berühmten >Ye, baw for bokes!< (B.xi.140) auf, das freilich wieder dadurch relativiert wird, daß der Autor selbst interveniert und auf die >Legenda Aurca< (>as clerkes fyndeth in bokesneck-verse< bewiesen, mit dem sich der Geistliche ausweisen und damit vom Galgen retten konnte: Wei may the barn blesse that hym to book sette, That lyvynge after lettrure saved hym lif and soule. Dominus pars hereditatis mee is a murye verset That hath take fro Tybourne twenty stronge theves, Ther lewed theves ben lolled up - (B.xii. 187-191) >Der Mann, dem sein Leben in Bildung Leib und Seele rettete, mag wohl den segnen, der ihn zum Lesen hinführte. Dominus pars hereditatis mee ist ein fröhlicher Vers, der schon zwanzig eingefleischte Diebe vor dem Galgen gerettet hat, da wo Ungebildete aufgeknüpft wurden.
Piers Plowman< sehr treffend als »eine Folge von Ausdrucksexperimenten« bezeichnet: der Dichter scheint eine konventionelle literarische Form nach der anderen daraufhin zu befragen, ob sie ihm bei der Übermittlung dessen, worum es ihm geht, von Nutzen sein kann, und sie wieder aufzugeben, wenn ihre Grenzen deutlich geworden sind.13 Traumvision, Personifikationsallegorie und Vertikaldebatte versagen, wenn es darum geht, wirklich hilfreiche Antworten auf die Frage nach dem christlichen Leben zu finden. Dies wird besonders in den ersten Passus deutlich, wo der Dichter zunächst, verwirrt durch die ungeordnete Vision des Prologs, von der Erscheinung der Holy Church autoritative Belehrung erhofft. Der erste Passus scheint wie ein Versuch des Dichters, die Fragen des Träumers in der traditionellen Manier der >Consolatio Philosophiae< zu behandeln; doch alle orthodoxe Instruktion, der Hinweis auf fundamentale Dogmen und zentrale Bibelzitate versetzen den Träumer am Ende nicht in die Lage, zwischen Wahrheit und Falschheit zu unterscheiden, und Holy Church (bzw. der Dichter) muß zu einer anderen Methode der Instruktion greifen. Doch auch der dramatische Auftritt der Lady Meed und die allegorische Handlung um ihre geplante Hochzeit mit Conscience lassen den Träumer ratlos zurück, und immer neue Traumvisionen, zugleich immer neue literarische Formexperimente, versuchen, dieser Ratlosigkeit zu begegnen, die sich vor allem aus der Konfrontation mit den unterschiedlichen Aktivitäten der Geistlichkeit und dem komplexen System einer verfeinerten theologischen Debatte einerseits und der offensichtlichen Not der menschlichen Gesellschaft andererseits ergibt. 13

Herbert Engels, Piers Plowman. Eine Untersuchung der Textstruktur mit einer Einleitung zur mittelalterlichen Allegorie, Diss. Köln 1968, S. 72.

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Die lateinischen Zitate in >Piers Plowman
Piers Plowman< fast ein Kompendium oder eine Anthologie literarischer Konventionen und homiletischer Methoden, von der einseitigen Instruktion durch die Vertikaldebatte bis zu komplexen Formen der Allegorie und der mehrstufigen Exegese. Die lateinischen Bibelzitate, woher immer Langland sie übernommen haben mag, stellen dabei eines der wirkungsvollsten einheitsstiftenden Elemente in dieser Vielfalt der Ausdrucksformen dar; denn der biblische Prätext schafft letztlich doch eine Autorität, die nicht im Verbalen bleibt, auch wenn sie uns durch das Medium der Sprache offenbart wird. Mit seiner vielfältigen, oft überraschenden Form des Zitierens, Anspielens und Sprachmischens versucht Langland letztlich, das Geheimnis der Inkarnation in Worte zu fassen, das für ihn gleichzeitig auch der Schlüssel zum wirklich christlichen Leben — Dowel, Dobet und Dobest — ist. Langlands Versuch, die überlieferten Worte in etwas sehr Reales und Greifbares zu übersetzen, läßt sich fast als Analogie zur Inkarnation beschreiben, eine Demonstration der Aussage, daß das Wort unter uns ist, am eindrucksvollsten in den Passagen, in denen der Evangelienbericht von Christi Leben und Leiden in das Leben des Träumers und die Erscheinung von Piers eingeblendet wird, so daß es völlig unmöglich ist, die verschiedenen Realitätsebenen und die Diskursformen klar voneinander zu trennen.14 Die geheimnisvolle Gestalt des Piers selbst ist ein Geschöpf, das durch Worte evoziert wird und zugleich bewegender Handlungsträger ist. Alle Versuche, es durch deskriptive Sprache zu definieren, müssen scheitern, weil das Gedicht selbst Piers nie in expliziten Begriffen präsentiert. Langlands vielleicht kühnster lateinischer Satz, Petrus, id est, Christus (B.xv.212), ist ja charakteristischerweise kein präzises Bibelzitat, sondern scheint erfunden, um die ungewöhnliche Stellung dieser Figur im Gedicht anzudeuten. Der Träumer selbst, in einer der eindrucksvollsten Passagen des Gedichts, ist unfähig, Piers von Christus zu unterscheiden (B.xix.10-11), so wie ja auch die Worte der >Vulgata< fast unmerklich in den persönlichen Diskurs des Dichters eingeblendet sind. Sein Text, Paraphrase, Kommentar und Applikation in einem, zeigt deutliche Verwandtschaft mit typologischen Denk- und Ausdrucksformen, wie auch mit den liturgischen Spielen des Spätmittelalters, die sich nicht selten der lateinischen Texte des Gottesdienstes bedienen. Der experimentelle, sprachlich ebenso wie darstellungstechnisch und theologisch innovative Umgang mit dem lateinischen Bibeltext scheint literarisch weithin folgenlos geblieben zu sein. Schon der C-Text nimmt, wie kurz ausgeführt wurde und im einzelnen nachzuweisen wäre, einige der kühnsten Zitierformen zurück, und was wir über die unmittelbare Wirkung des Werkes wis14

Dies gilt vor allem für Passus xviii. Vgl. dazu den oben, Anm. 6, zitierten Aufsatz von Heien Barr. 59

Dieter Mehl

sen, spricht nicht dafür, daß gerade die aus heutiger Sicht gewagtesten und unkonventionellsten intertextuellen Effekte Langlands von Zeitgenossen oder näheren Nachfahren besonders wahrgenommen worden wären.15 Überhaupt scheint die Rezeption des >Piers Plowmam, wie sie sich etwa aus der Zahl späterer Abschriften erschließen läßt, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bereits deutlich zurückgegangen zu sein, und als Robert Crowley das Werk 1550 in der ersten Druckausgabe vorlegte, war es für ihn ein geistliches Erbauungsbuch, das nicht zur Unterhaltung, schon gar nicht wegen etwaiger literarischer Experimente, sondern allein wegen seines religiösen Inhalts dargeboten wurde, wie in den Worten des Verlegers an den Leser ausgeführt wird: Loke not upon this boke therefore, to talke of wonders paste or to come, but to amende thyne owne misse, which thou shalt fynd here moste charitable rebuked.16 > Schau daher nicht auf dieses Buch, um Wunderdinge aus der Vergangenheit oder Zukunft zu hören, sondern bessere deine eigenen Fehler, die du hier in der liebevollsten Weise zurechtgewiesen findest.
Piers Plowmam bis in unser Jahrhundert hinein fast nur noch als Übungstext für Philologen angesehen: in einem frühen Drama von D.H. Lawrence tut ein geplagter Student, offensichtlich ein Selbstporträt des Dichters, das Gedicht als »piffle« und »sheer rot« ab.18 Dabei sind die Gemeinsamkeiten zwischen dem unerschöpflichen Zitierer Lawrence und Langland, gerade in der eigenwilligen und unkonventionellen Verwertung von Prätexten, größer als mit der Mehrzahl ihrer Zeitgenossen.

13

Zum Publikum des >Piers Plowman< vgl. vor allem John A. Burrow, The Audience of Piers Plowman, Anglia 75 (1957), S. 373-384, und Anne Middleton, The Audience and Public of Pie« Plowman, in: Middle English Alliterative Poetry and its Background, hg. v. David Lawton, Cambridge 1982, S. 101—123, 147—154. Zur Überlieferung und den Schlüssen, die sie zu dieser Frage zuläßt, vgl. A. I. Doyle, Remarks on Surviving Manuscripts of Piers Plowman, in: Medieval English Religious and Ethical Literature. Essays in Honour of G. H. Russell, hg. v. Gregory Kratzmann and James Simpson, Cambridge 1986, S. 35—48. 16 Zitiert nach der Ausgabe: The Vision of William Concerning Piers the Plowman in Three Parallel Texts, hg. v. Walter W. Skeat, Oxford 1886 u. o., Bd. 2, S. Ixxv. 17 Vgl. Arthur Sherbo, Samuel Pegge, Thomas Holt White, and Piers Plowman, The Yearbook of Langland Studies 1 (1987), S. 122-128, hier S. 124. 18 Vgl. David H. Lawrence, A Collier's Friday Night, in: D. H. L., Plays, London 1965, S. 477. 60

JOERG O. FICHTE

»Quha wait gif all that Chauceir wrait was trew« — Auctor and auctoritas in 15th Century English Literature

When Eustache Deschamps submitted his works together with a dedicatory poem to his English colleague, Geoffrey Chaucer, he initiated a tradition of Chaucer encomia which was to continue for centuries. Deschamps is of interest not only as the initiator of this tradition, for his eulogy also contains statements which shed some light on the concepts of poetry current in England and France at the end of the 14th century. In philosophy, says Deschamps, Chaucer equals Socrates, in virtue Seneca, in practical wisdom Aulus Gellius, and in poetry Ovid. Chaucer, the wise rhetorician, is said to have illuminated the kingdom of Aeneas by planting there the rose tree. In the second stanza Chaucer is called the god of earthly love in Albion, who translated the book of the rose. Deschamps continues: Et un vergier, ou du plant demandas / De ceuls qui font pour eulx auctorisier, / A ja long temps que tu edißas / Grand translateur, noble Geffroy Chauder.1 In the third and final stanza Deschamps admits that he too would like to drink from the waters of Helicon, which Chaucer has so completely in his possession. And in his final statement, Deschamps humbly asks the great poet to accept a few of his own plants for his poetic garden in England. Four points in Deschamps' eulogy deserve our consideration: First, by comparing Chaucer with four figures from antiquity Deschamps appears to place Chaucer on the same level with the auctores because Socrates, Seneca, and Aulus Gellius were traditionally regarded as authorities. Ovid belonged to this group at the latest from the 14th century, that is, after the publication of Giovanni del Virgilio's commentaries on the >MetamorphosesExpositio< and >Allegorie< (1322-1323), or of Pierre Bersuire's >Ovidius moralizatusReductorium morale< (before 1362). Second, Chaucer is accorded this honor because he has translated a vernacular poem, the >Romance of the RoseRomance of the Rose< which erupted fifteen years later (1401—04) Deschamps' clearly positive attitude towards the famous work is also remarkable. To him Guillaume de Lorris and especially 1

Eustache Deschamps, CEuvres Completes, ed. Saint-Hilaire and Gaston Raynaud, 11 vol., Paris 1878-1903, Vol. II, 1880, p. 139 (= Nr. 285).

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Jean de Meung, although writing in the vernacular, seem already to occupy the rank of auctores. Such an interpretation — my third point — appears to be substantiated by the passage quoted above in French, which after consultation with my esteemed colleague Hans H. Christmann I would like to translate as follows: >And it is long ago that you planted a garden, magnificent translator, noble Geoffrey Chaucer, for which you asked for plants from those who desired recognition for themselves.< The verb auctorisier is derived, of course, from auctor and auctoritas, that is to say that Chaucer's merits as translateur consist of 1) making the works of great French poets available to those who don't understand French and 2), what is even more important, of explaining their meaning in another language. Fourth and last, Deschamps' praise of Chaucer's rhetorical skills is striking. Poetry is seen here largely as the transmission of a received story and its presentation in a new rhetorical garment. Aside from the choice of suitable materials craft is important. Thus, Deschamps introduces criteria here for the evaluation of Chaucer's poetry which were to become generally accepted throughout the fifteenth century. The tradition of Chaucerian eulogy is continued by Thomas Usk in >The Testament of Love< (ca. 1387), by John Gower in the >Confessio Amantis< (1390) and finally by John Lydgate, who sings Chaucer's praise for almost half a century. From 1410 on (John Walton, Liber boeti de Consolatione philosophi de latino in Angliam) Gower himself is included in the eulogies. And in the period 1443—47 Lydgate joins the ranks of the illustrious poets (Osbern Bokenam, >The Leuys of SeyntysTroilusDe genealogia deorumDe casibus virorum illustriumDe claris mulieribusCanterbury Tales< Chaucer uses the same strategies of evasion. He presents the pilgrims as auctores and insists that he has to rehearse their tales truthfully. He thus pretends to be a mere reporter, not an author, or to express it in medieval poetological terminology, he introduces himself to his audience as a compilator, a writer who is described by St. Bonaventure in his commentary on Peter Lombard's >Sententiae< as >someone [who] writes the words of other men comprising the principal part [of his text] while his own [words] are annexed merely to make clear the argument [. . .]Treatise on the Astrolabes where he describes his activities as follows: / n'am but a lewd compilator of the labour of olde astrologiens, and have it translated in myn Englissh oonly 3

Quoted from Medieval Literary Theory and Criticism, c. 1100 - c. 1375. The Commentary Tradition, ed. Alastair J. Minnis and A. Brian Scott, Oxford 1988, p. 229. 63

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for the doctrine.4 In the case of the >Astrolabe< the term compilator is used literally because Chaucer does compile this scientific treatise from other sources. In the >Canterbury TalesMiller's Tale< comes to mind, where Chaucer outdoes his own game by making the reader responsible for the wrong choice: Blatneth nat me if that ye chese amys (1,3181), for the reader could have chosen something that toucheth gentillesse, / And eek moralitee and holynesse (1,3179—3180). The fiction of the compilator is maintained throughout the >Canterbury TalesRetraction< does Chaucer acknowlegde his whole oeuvre, his translations (X,1085) and his enditynges (X,1085), and revokes those that sownen into synne (X,1086). The game is over; the author takes full responsibility for his work, which he subjects to the norms of medieval literary orthodoxy. Whatever serves a moral purpose and contributes to the improvement of the reader or hearer is acknowledged; everything else is sinful and must be rejected.5 In view of the fact that Chaucer often treats the question of authorship in a playful manner, his lack of interest in becoming an auctor is not surprising. Thus, in the >House of Fame< he dismisses the question of the goddess and whether he had come to her to seek fame: Sufficeth me, as I were ded, / That no wight have me name in honde. / / wot myself best how y stände; (HF, 1876-1878). One could interpret this statement as an instance of Chaucer's use of the traditional topos of modesty, if it were not for the fact that it accords well with Chaucer's habitual presentation of himself. He normally depicts himself in a humorous, self-deprecating fashion; never, however, as an authority. In this he differs greatly from Gower who is much more self-assertive. As Alastair Minnis has shown,6 Gower presents himself as a prophet in the >Vox Clamantis< who like his namesake, St. John, (Cuius ego nomen gesto [Prologus libri primi,58]) claims to be divinely inspired.7 Even though Gower does not lay claim 4

All quotations from The Riverside Chaucer, ed. Larry D. Benson, Boston 1987. Even though Oliver Sayce, Chaucer's »Retractions«: The Conclusion of the Canterbury Tales and its Place in Literary Tradition, Medium Aevum 40 (1971), pp. 230—248, reminds us that retractions in medieval literature are a widely used topos, Chaucer's intention appears to be serious. The ontological status of both the Retraction and the preceding Parson's Tale as nonfiction suggests such a reading. 6 Alastair J. Minnis, »Moral Gower« and Medieval Literary Theory, in: Gower's Confessio Amantis. Responses and Reassessments, ed. A.J. Minnis, Cambridge 1983, pp. 50—78, also in: Medieval Theory of Authorship. Scholastic Literary Attitudes in the Later Middle Ages, London 1984, pp. 168-190. 7 All quotations from The Works of John Gower, ed. George C. Macaulay, London 1899-1902. 5

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to the auctoritas of the >ApocalypseConfessio Amantis< (at the beginning of Book I, pp. 35—36). At first, one is inclined to ask: What has the clerke Ovide (2274), Gower's auctor, to do with Solomon, the author of the wisdom books, for the beginning of the prologue features the same structure as commentaries on these scriptural texts? The common ground between both authors, Ovid and Solomon, can best be explained by the accessus ad auctores employed by 14th century commentators. Old Testament authors according to this accessus occupy the same position of authority in ethical matters as pagan philosophers or the poets of antiquity.9 The writings of both Solomon and Ovid belong to ethics (ethice supponitur). Commentators on Ovid emphasized repeatedly that he had intended to promote virtue and to castigate vice. And commentators on Solomon similarly maintained that he intended to illustrate political and moral virtues and vices.10 Both authors, therefore, were subject to the same accessus. Thus, Gower could draw on a well established tradition when he discussed love from an ethical perspective. He used the Seven Deadly Sins as organizational scheme for his frame tale collection, that is, the individual love stories exemplify these sins. Stories from the Bible, antiquity and Christian times are grouped together for exemplary purposes. This mixture of Old Testament, pagan and Christian auctoritates, which also appears in Book VII, a mirror of princes, is designed to instruct and entertain Gower's audience: It may be wisdom to the wise / So that somdel for good aprise / And eek somdelfor lust and game / I have it made . . . (VIII.3059-3062). In spite of the very conventional 8

Minnis, Medieval Theory of Authorship (note 6), p. 177. Ibid, p. 75. 10 AlastairJ. Minnis, John Gower, sapiens in ethics and politics, Medium Aevum 49 (1980), pp. 207-229. 9

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intention voiced here by the author, stressing the functions of prodesse et delectare, the moral purpose of his work is clearly his central concern, as the peculiar organizational scheme of the >Confessio Amantis< proves. By placing his work on love in the category of ethics, Gower implicitly claims for himself the same auctoritas which was accorded to Ovid by fourteenth-century commentators. In view of the moral utility which Gower postulates for his works, Chaucer's appelation moral Gower at the end of the >Troilus< (V,1856) seems to be more than appropriate. As the recurrent use of the epithet moral in reference to Gower proves, Chaucer's formulation was widely accepted during the fifteenth and early sixteeth centuries. We find it in the anonymous poem >How a Louer Prayseth hys Lady< (ca. 1450), in William Dunbar's >Golden Targe< (1503), and in Stephen Hawes' >Pastime of Pleasure< (1506)." John Walton (1410) praises Gower that so craftily doth trete / As in his book of moralitee12 and John Lydgate maintains in the epilogue to the >Fall of Princes< (1431—1439) that In moral mateer ful notable was Goweer (VIII,3410).13 In spite of Gower's attempts to acquire the status of an auctor and Chaucer's disavowal of his own auctoritas, the reaction of fifteenth-century writers to these two literary figures is exactly reversed. Gower's poetic efforts receive perfunctory praise, while Chaucer is recognized as the leading literary authority. The numerous tributes directed to the ßrste fyndere of our faire langage (4978), as Hoccleve calls hisfadir reuerent (1961), all collected by Spurgeon and Brewer, illustrate Chaucer's eminent position as the originator of English poetry.14 His works were immediately canonized, that is, they became authoritative. The establishment of a canonical literary figure at the beginning of the 15th century marks a decisive turning point in English literature because for the first time in English literary history authors writing in the urbane idiom created by Chaucer had to define themselves in reference to a vernacular literary authority. This fact accounts for the nature of much of fifteenth-century poetry. Chaucerian genres, themes and, most of all, style determine the shape, content and form of many fifteenth-century poems. Of Chaucer's successors, especially John Lydgate never ceases to pay tribute to his master throughout the entire fifty years of his literary career. For him Chaucer is what Vergil was for Dante or Petrarch for Boccaccio. From Chaucer he derives his style, his verse forms, his metrics, his genres and occassionally also the subject matter of his poems.15 He is a conscious adapter who models 11

Spurgeon (note 2), Vol. I, pp. 49, 66, 67. Ibid, Vol.1, p. 21. 13 All quotations from >The Fall of Princes< from Lydgate's >Fall of PrincesThe Regement of Princes< from Hoccleve's Works, ed. FrederickJ. Furnivall, London 1897 (Early English Text Society E. S. 72). 15 Cf. Derek Pearsall, John Lydgate, London 1970, pp. 49-82. 12

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himself on his great predecessor, even though he knows (and professes this knowledge in the numerous modesty topoi preceding his works) that he will never be able to rival the master. Lydgate admires two features of Chaucer's poetry: its rhetorical surface and its moral core. In his praise of Chaucer Lydgate uses eight terms (enlumyne, adourne, enbelisshe, aureate, goldyn, sugrid, rethorik, and elloquence) with considerable frequency which seem to have influenced the poetological vocabulary of the fifteenth century, as Lois Ebin has shown.16 Some of these, it should be pointed out, however, reach back much further, that is, they belong to the poetic terminology found in the artes poetriae of the 12th century and in Dante's >Dc vulgari eloquentiaMiller's TalesParisiana PoetriaDe vulgari eloquentia< which use the same terminology as Lydgate. Lydgate's Siege of Thebes, ed. Axel Erdmann, London 1911 (Early English Text Society E. S. 108).

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subject up to date. The substance, however, must be retained. In this way Guido delle Colonne is said to have treated his auctores, Dictys and Dares, whose writings he enlumyneth (>explicatesSicge of ThebesSiege of Thebes< is the only one which was not commissioned. One can, therefore, assume that it best reflects Lydgate's own interests and literary tastes. Since he uses two prose romances, the >Hystoire de Thebes< and the >Roman de EdipusDe genealogia deorum< he has used selectively.20 Boccaccio's name is cited six times, in order to suggest to the reader that he is Lydgate's real auctor. Yet the proper authority of Lydgate's story is not derived from its sources but from its intertextual relationship. Lydgatc uses the auctoritas of the >Canterbury Tales< in order to legitimize his work. Such a procedure is by no means novel — it had already been used by the author of the >Tale of Beryn< before Lydgate and was to be employed by the author of the >Plowman's Tale< after him. These two stories were eventually taken to be part of the Chaucer canon, the >Plowman's Tale< in the second printing of Thynne's edition of Chaucer's works and the >Tale of Beryn< in Urry's edition of them. Lydgate presents himself as a pilgrim who joins Chaucer's pilgrims after their arrival in Canterbury and tells the first tale on the way back to Southwark. The tale begins a bowshot away from Canterbury; 325 lines later, the pilgrims have travelled seven miles; and at the beginning of Part II there is a reference to Boughton under Blean. The time is nine o'clock. 19

John G. Marotta, John Lydgate and the Tradition of Medieval Rhetoric, Diss. City University of New York 1972, p. 65. Lydgate models himself on Geoffrey of Vinsauf, who in his >Poetria Nova< proposes a similar concept of poetry, according to which the poet's major duty consists of dressing up his sources in new rhetorical ornamentation as well as of amplifying or abbreviating them. Cf. Edmond Faral (ed.), Les Arts poetiques du XIP et du ΧΙΙΓ siecle, Paris 1924, pp. 199ff. 20 In spite of the fact that Lydgate insists on having taken his subject matter from Boccaccio's >De genealogia deorumCanterbury Tales< in both structure and style, that is, he presents himself as part of the Chaucer tradition before he closes the description of the >Canterbury Tales< with an assessment of Chaucer's poetic accomplishments: Ofeche thyng / keping in substaunce // The sentence hool / with-oute variance, II Voyding the Chaf / sothly for to seyn, // Enlumynyng j pe trewe greyn //Be crafty writing [. . .] (53—57). This passage contains a number of verbal echoes from the >Canterbury Talcs< (CT,VII,3443 and 11,48); unfortunately, however, Chaucer's statements appear in an entirely different context. Both in the >Nun's Priest's Tale< and in the Prologue to the >Man of Law's Talc< Chaucer ridicules this poetic concept. For Lydgate, however, it comprises the essence of true poetry and constitutes the poetic principle he is bound to follow. After the introduction Lydgate speaks in propria persona. He happens to have stayed at the same inn with the Canterbury pilgrims. Pressured by the bullying host to join them on their way back to London, he agrees to do so. What follows this is a self-portrayal in which Lydgate describes himself as the complete opposite of Chaucer's Monk: he is old, rather slender, pale and ill dressed, riding a horse with a rusty bridle. In contrast to this humble monk, the host is an imposing figure who cows the pilgrim Lydgate into submission.21 He demands to hear some tale / ofmyrth or ofgladnesse (168), a conscious change of the Chaucerian ideal of a tale of best sentence and moost solaas (1,798). Thus, the host in the >Siege of Thebes< becomes what the Chaucerian host pretends to be but cannot accomplish: the unchallenged leader of the pilgrimage. By having the monk Lydgate tell the first talc on their homeward journey, the author Lydgate corrects Chaucer's order. Originally, the Monk should have told his tale after the Knight, but was prevented from doing so by the drunken Miller. Now, on the way back, the correct order is reestablished: the highest representative of the clergy begins the storytelling contest on the journey back to Southwark with a tale which refers to the >Knight's TaleKnight's Tale< and concludes his own narrative with a bipartite ending modelled on Chaucer's >TroilusKnight's TaleSiege of Thebes< becomes an exemplary moral tale. This development, however, is not surprising, because Lydgate had also taken great pains to reduce the polyphonous structure and the polysemous meaning of the >Knight's Tale< to a straightforward one-strand narrative punctuated by repeated authorial moralizations. Of the 1500 lines added by Lydgate, most serve this purpose. History is seen not as a complex net of ideas, facts and movements, but as a series of events with exemplary universal significance. In contrast to Chaucer who avoids arranging history in the simplistic mould of casus — the lamentable sequence of the Monk's De-owifews-tragedies is rudely interrupted by the Knight —, the monk Lydgate conceives of history in terms of an unending chain of casus. Seen from this perspective, the incestuous relationship between Oedipus and Jocasta must necessarily result in the mutual hatred and fratricide of Eteocles and Polyneices, which in turn must lead to the destruction of Thebes, because sin, which in this case is much like original sin, must end in chaos. Everything appears to be predetermined. Chaucer, on the other hand, seems to have been intent on showing the opposite, because his tale illustrates how fate and destiny can be overcome. There is more to it than simply making a virtue of necessity as Theseus claims to be doing. Thebes is rebuilt; Palamon eventually marries Emelye; and an alliance between the once hostile cities of Athens and Thebes is concluded. All this happens in spite of the gods and the often blind determinism of the agents in the >Knight's TaleKnight's TaleThe Fall of PrincesTroilus and Cressida< [1603?] and Dryden, >Troilus and Cressida, or Truth Found too Late< [1679J), that is, a substitution of authoritative texts took place, for 17thcentury writers knew that the two works were written by different authors.24 Thus Sir Francis Kynaston states: This Mr. Henderson [sic] wittily observing, that Chaucer in his 5th booke had related the death of Troilus, but made no mention what became of Creseid, he learnedly takes uppon him in a fine poeticall way to expres the punishment & end due to a false unconstant whore, which commonly terminates in extreme misery.25 In view of the fact that 20th century literary criticism is deeply divided on the questions of Cresseid's guilt or innocence, of the justice of the punishment inflicted upon her by the gods, of the degree of her self-awareness, and of her reformation or expiation of her guilt, Kynaston's unequivocal judgment of her character is interesting.26 17th century writers obviously thought they knew what Henryson meant to express. To understand Henryson's recreation of Chaucer's work, one needs to look briefly at the introduction. Instead of using the traditional reverdie, Henryson describes a Scottish spring with frost and hailstorms because Ane doolie sessoun to ane cairfull dyte / Suld correspond and be equiualent (1—2).27 Although the narrator hopes that Venus will warm his old heart again, he rather resorts for comfort to the fireplace and some warming spirits from a bottle. In order to while away the night, he takes a book off the shelf Writtin be worthie Chaucer glorios I Of fair Cresseid and worthie Troylus (41-42). There is a brief summary of 22

Robert Henryson, Testament of Crcsseid, ed. Dcnton Fox, London, 1968, p. 16. Spurgeon (note 2), Vol. I, p. 155. 24 For Criseyde's reputation in England see Hyder E. Rollins, The Troilus-Cressida Story from Chaucer to Shakespeare, PMLA 32 (1917), pp. 383-429; Gretchen Mieszkowski, The Reputation of Criscyde 1155—1500, Transactions of the Connecticut Academy of Arts and Sciences 43 (1971), pp. 71-153; and C. David Benson, True Troilus and False Cresseid: The Descent from Tragedy, in: The European Tragedy of Troilus, ed. Piero Boitani, Oxford 1989, pp. 160—165. 25 The Poems and Fables of Robert Henryson, ed. H. Harvey Wood, Edinburgh 1933, p. xii. 26 During the last few years Henryson's >Testament of Cresseid< has been interpreted in a variety of ways. For a summary of recent approaches see Lee W. Patterson, Christian and Pagan in The Testament of Cresseid, Philological Quarterly 52 (1973), pp. 696-697. 27 All quotations from the >Testament of Cresseid< are taken from the edition by Denton Fox (note 22). 23

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Joerg O. Fichte

Book V emphasizing especially on Troilus' sorrows. The interested reader is referred to this book. The narrator, however, does not seem to be very pleased with his reading, because he takes down another book in which Cresseid's sorrowful history is recounted. Before he relates the content of this second book, he makes this comment: >Who knows if everything Chaucer wrote was true? I also don't know if this is an authoritative narrative, or if it has been newly invented by some poet and recounts the lamentation and the woeful ending of lovely Cresseid, and the distress she suffered and how she died according to his inventions (71—77). It is not unusual for a 15th-century author to question the truthfulness of his sources, even the conservative Lydgate had done so,28 but to challenge the authority of Chaucer is uncommon. The way Henryson accomplishes this task is also unusual. The second book the narrator takes off the shelf is obviously a fictitious account, the authority of which he instantly questions. And since Henryson's own account is presented as a mere reading of an admittedly fictive source, he immediately calls its truthfulness into question. The argument, therefore, begins with Chaucer's >TroilusFilostratoHeroidesTroilusTroilusTestament< has succeeded in making clear Henryson's indebtedness to the >TroilusApologie for PoesieNachfolger< bietet. Dieser Aspekt wird sehe Verfassungsgeschichte. Politische Strukturen und ihr Wandel, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des älteren deutschen Reiches 1806, München 1984; Winfried Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert. 1500-1618, Frankfurt a. M. 1987, bes. S. 204ff.; anregend auch ders., Einführung in die Neuere Geschichte, Stuttgart 1987, S. 142—166: Vom mittelalterlichen Personenverbandsstaat zum modernen Sozialstaat. 3 Das Folgende vor allem nach: Reinhardt Habel, Schiller und die Tradition des Herakles-Mythos, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hg. v. Manfred Fuhrmann, München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), S. 265-294, hier S. 267f.; vgl. auch Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Bd. II, Reinbek 1979 [zuerst engl. 1955], Nr. 118-146 (S. 80-203); Karl Kerenyi, Die Heroen der Griechen, Zürich 1958, Zweites Buch: Herakles, S. 135-223; Werner Eisenhut, Hercules, in: Der kleine Pauly, Bd. 2, Stuttgart 1967, Sp. 1054-1057; Walter Pötscher, Herakles, ebd., Sp. 1049-1052; schließlich: Ferdinand Haug, Hercules, in: Paulys RE, Bd. VIII/1 [15. Halbband], 1912, Sp. 550-612; Johannes Zwicker, Herakles, ebd., Sp. 516-528; Otto Gruppe, Paulys RE, Suppl. Bd. III, 1918, Sp. 910-1121; Friedrich Prinz, Paulys RE, Suppl. Bd. XIV, 1974, Sp. 137-196; instruktiv auch: Peter Gerlach, Herkules, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, 1970, Sp. 243-246. 6 Habel, Schiller und die Tradition des Herakles-Mythos (Anm. 5), S. 267f. - Allerdings ist der >HumanisierungsHerakles am Scheidewege< zu geben;11 und in der Literatur greift es nach Petrarca (in >De vita solitariaAllegoricarum Libri IV de laboribus HerculisSalutatis Hercules< streng allegorisiert. So wird etwa der Mord an Megara als der Triumph der Seele über das Fleisch verstanden.15 Auch Enea Silvio Piccolomini verwendet den Stoff in Briefen und Lobgedichten,16 worin vielleicht auch eine aus seiner persönlichen Situation begründete Affinität zu diesem Thema zum Ausdruck kommt. Für das spätere Mittelalter war die Deutung des Helden auf Christus hin eine ganz anders geartete Möglichkeit seiner Integration: Seit dem frühen 14. Jahrhundert wird Hercules als Präfiguration Christi verstanden, so im >Ovide MoraliseeFigurcn< Christi angenähert worden war, erscheint diese Qualifizierung beinahe schon als Aufwertung des Heroen. Signalisiert sie auch eine neue Einschätzung des >heidnischen< Mythos im ganzen? In illustrierten Handschriften des >Ovide Moralisee< werden jedenfalls Hercules und Christus klar als Typus und Antitypus einander gegenübergestellt.19 Und die Anknüpfungspunkte liegen auf der Hand: Es sind einerseits die labores, die Hercules als Heilsbringer, als Rettungstaten vollführenden, selbstlosen Kämpfer zeigen, zudem als Helden, der vorübergehend in die Unterwelt hinabsteigt. Andererseits bietet die Himmelfahrt mit Apotheose ein naheliegendes tertium comparationis. Das Schicksal20 des Hercules im Mittelalter verläuft in etwa wie das aller antiken Götter:21 Sie werden einerseits — in und seit der Patristik — als Dämonen 14

Vgl. hierzu auch G. Karl Galinsky, The Herakles Theme. The Adaptions of the Hero in Literature from Homer to the Twentieth Century, Oxford 1972, S. 196f. 15 Ebd., S. 197. 16 Wuttkc, Histori Herculis (Anm. 8), S. 120ff. 17 Galinsky, The Herakles Theme (Anm. 14), S. 202f. - Vgl. die schöne Holzschnitt-Abbildung aus dem französischen >Ovide moralise< von 1484 bei Panofsky, Hercules am Scheidewege (Anm. 8), S. 38, Textabb. 2, auf welcher ein Hercules in Ritterrüstung, aber auch mit Keule, Bogen und Löwenfell ausgestattet, mit verwegenem Blick um sich schaut. 18 Friedrich Ohly, Skizzen zur Typologie im späteren Mittelalter, in: Medium Aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters (FS Kurt Ruh), hg. v. Dietrich Huschenbett [u.a.], Tübingen 1979, S. 251-310, hier S. 266fF. 19 Ebd., S. 273, unter Verweis auf Marcel Simon, Hercule et le Christianisme, Paris 1955 (Publications de la Faculte des Lettres de l'Universite de Strasbourg. 2. ser. 19), S. 40. 20 Selbstverständlich ist mit dem Begriff >Schicksal< oder auch mit der in früheren Zeiten gerne verwendeten Metapher vom >Nachleben< nicht das Fortexistieren einer substantialistisch gedachten mythischen Instanz gemeint. Gerade am Beispiel >Hercules< zeigt sich, daß es nur um je verschiedene funktional-institutionell bedingte Akte der Rezeption gehen kann. — Vgl. die Polemik von Hans Robert Jauß, Allegorese, Remythisicrung und neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter, in: Terror und Spiel (Anm. 5), S. 187-209, hier S. 187. 21 Vgl. allg. Jean Seznec, The Survival of the Pagan Gods. The Mythological Tradition and its

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Mythos und Herrschaft: Maximilian I. als Hercules Germanicus

verteufelt, daneben (anknüpfend vor allem an Martianus Capella) behandelt man sie als Sammelgut gelehrter Bildung, wobei immer wieder auch allegorisierende Methoden zur Anwendung kommen. Das führt beim Mythographen III anfangs des 13. Jahrhunderts dann zu einer kompletten Allegorisierung der antiken Mythen, hinzu kommt eine >VerwissenschaftlichungGenealogie Deorum< (Ed. Vincenzo Romano, 2 Bde, Bari 1951; [Boccaccio, Opcrc X-XI; Scrittori d'Italia, N. 200-201]) zu den wichtigeren und verbreiteten mythographischcn Handbüchern des Mittelalters gehören, vgl. Wuttke, Histori Herculis (Anm. 8), S. 141-157 u. ö.; ebd., S. 141, heißt es über die genannten Werke: »Die mythologischen Handbücher dieser Autoren sind im Mittelalter und Spätmittelalter weit verbreitet gewesen; ihre Wirkungsgeschichte ist noch zu schreiben.« Daneben wären noch zu nennen: Der >Ovidc Moralise< (Ed. Grit, avcc Introduction par Cornells de Boer, Amsterdam 1954), der >Libcllus de imaginibus deorumFulgentius MetaforalisDc dcorum imaginibus libcllus< im Cod. Reginensis 1290. 22 Vgl. Guido Brück, Habsburger als »Herculier«, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 50 [NF 14] (1953), S. 191-198, hier S. 191f. 81

Georg Braungart

Die politische Interpretation des Hercules-Modells Auf dem Hoffest Philipps des Guten 1454 in Lilie wird der Bankettsaal von Hercules-Wandteppichen geschmückt. Sein Sohn Karl der Kühne, Maximilians Schwiegervater, läßt 1468 bei seiner Hochzeit mit Margarethe von York eine mythologische Schaustellung der Geschichte des Hercules und seiner zwölf großen Taten bieten:23 Hercules tritt da auf als der allzeit Siegreiche, der immer Unbesiegte (victoriosissimus, invictissimus), als »Triumphator über Riesen, Untiere, Ungeheuer und räuberische Gewalttäter«, als »Wohltäter einer leidenden Menschheit und Wiederhersteller des Rechts«.24 In ihm sah das burgundische Haus seinen Stammvater. Schon Philipp der Gute »wurde nicht nur mit Alexander, Scipio, Caesar und Augustus verglichen [. . .J, sondern auch als Nachkomme des Herkules angesehen, der auf seinem Weg nach Spanien sich die Zeit nahm, in Zusammenarbeit mit einem einheimischen Fräulein namens Alise die burgundische Dynastie zu begründen.«25 Das sind Beispiele aus Maximilians engerer Verwandtschaft. Doch bei Fürsten in ganz Europa wird Hercules etwa ab 1500 immer beliebter; in Italien auch als Namenspatron für Prinzen (u. a. in den Häusern d'Este und Ferarra). Mit dieser Wahlverwandtschaft folgen die mitteleuropäischen Herrscher der anbrechenden Neuzeit natürlich antiken Vorbildern. Bereits Alexander der Große und dann die römischen Kaiser von Trajan bis Konstantin hatten den Helden in ihre propagandistischen Dienste genommen.26 So lag es für Maximilian (und für die ihn feiernden Poeten und Historiographen) aus dynastischen wie >imperialen< Gründen nahe, sich der Herculesfigur als Modell der Selbstdeutung und -darstellung zu bedienen, und es wurde davon auf vielfältige Weise Gebrauch gemacht.27 1497 wird in Augsburg vor Maximilian eine von Joseph Grünpeck verfaßte comoedia mit dem Titel >Virtus et Fallacicaptrix< aufgeführt.28 Dort wird in der 23

Klaus Heitmann, Die Antike-Rezeption am burgundischen Hof: Olivier de la Marche und der Heroenkult Karls des Kühnen, in: August Bück (Hg.), Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance. Vorträge gehalten anläßlich des ersten Kongresses des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanccforschung in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 2. bis 5. September 1978, Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Renaissanceforschung 1), S. 97—118, hier S. lOlf. 24 Ebd., S. 102. 2 * Erwin Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst. Übers, v. Horst Günther, Frankfurt a. M. 21984. [dt. zuerst 1979; engl. Orig. 1960], S. 211. 26 Brück, Habsburger als »Herculier« (Anm. 22), S. 19lf. 27 Vgl. die Zusammenstellung des Materials bei William C. McDonald, Maximilian I of Habsburg and the veneration of Hercules: on the revival of myth and the German Renaissance, The Journal of Medieval and Renaissance Studies 6 (1976), S. 139-154; s. auch Jan-Dirk Müller, Gedechtnus (Anm. 1), S. 236ff. 28 McDonald, Maximilian I (Anm. 27), S. 141 f.; Wuttke, Histori Herculis (Anm. 8), S. 207ff. 82

Mythos und Herrschaft: Maximilian l. als Hercules Germanicus

Position des zwischen Tugend und Wollust wählenden Hercules Maximilian selbst dargestellt. Er soll, so bittet ihn Virtus, ihre Gegnerin verbannen, sie selbst dagegen sei ihm doch in so bedeutendem Maße bei all seinen Taten zu Diensten gewesen: in bellis, in campis, in vrbibus, et prorsus vbivis locorum.29 >Allerorten< also habe die Virtus den Helden begleitet. Daß es sich bei ihr keineswegs allein um streng christlich verstandene moralische Qualitäten handelt, deuten die angegebenen Stätten ihrer Bewährung an und beweist ex negative ihre von Grünpeck charakteristisch variierte Gegnerin, die Allegorie der hinterhältigen Intrige. Diese spielt von gar nicht allzu weiter Ferne auf den spektakulären und von Maximilian propagandistisch reichlich genutzten >Brautraub von der Bretagne< (1490/91) durch Karl VIII.30 an oder auch bereits auf den Anschlag von Brügge:31 Hier geht es durchaus um die in römischer Tradition stehende und ganz analog zu Machiavellis Leitbegriff32 verstandene Fähigkeit zur kämpferischen Selbstbehauptung, die im Deutungsspektrum der Herculesfigur viel eher dem arbeitendem und gewitzten »starken Mann< als dem entsagenden Tugendhelden zugeordnet werden müßte. Doch es wäre unangemessen, in diesem Bereich säuberlich sondern zu wollen. Gerade in der Interferenz der verschiedenen Dimensionen liegt, so ist zu vermuten, zu einem guten Teil die Leistungsfähigkeit des Modells >Hercules< beschlossen. Daß der Akzent auch auf den persönlich-moralischen Tugenden liegen konnte — gerade auch bei einer Herrscherfigur —, zeigt der Fall eines 1509 in Augsburg aufgeführten Spieles mit dem Titel >Virtus et voluptasVoluptatis cum virtute disceptatio< des Benedictus Chelidonius, das 1515 in Wien von jungen Adligen aufgeführt wurde,34 betont den christlich-moralischen Aspekt.35 Hier wird Hercules >verdoppeltAllerhöchste Kaiserhaus« existenzielle Dimensionen gewinnen konnte, zeigen Giehlows Kombinationen (ebd., S. 59): »ausdrücklich bringt Celtis die Melancholie mit dem Alter in Verbindung. In der Tat konstatierten die Ärzte bei Maximilian später das Walten des humor melancholicus; so diagnostizierte Tannsteter ihn als Ursache der Krankheit, die den Kaiser 1518 befiel, und sah ihren tödlichen Verlauf voraus, weil der die Melancholie beherrschende Saturn zur Zeit ihrer krankhaften Entartung sich an einer unheilbringenden Himmelsstelle befunden hatte.«

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WALTER HAUG Jörg Wickrams >Ritter Galmyx Die Zähmung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit

Es was ein Hertzog in Britannia / an desse hoff wonet ein Ritter j mit namen Galmy auß Schottenland geboren. Der selb gewan ein solche grosse liebe zu des Fürsten Hertzogin / also das er weder essen noch drincken mochte / auch seines natürlichen schlaffes gantz entraubt / das er in kurtzen tagen von allen seinen krafften und schony kummen thet. Das langwirig drauren in zu letst dahin bracht / das er im entlich fürnam zu sterben / und solche heymliche liebe / mit im under den grundt zu tragen. Dann er ye keinem menschen solche liebe zu wissen thun wolt j wer im auch leyd gewesen / das sollichs die Hertzogin selbs gewißt hatte. Dann er sorgt / so bald die Hertzogin seiner liebe gewar worden war / sye mochte in grosse ungnad gen im gefallen sein. Als aber der Ritter den flammen der lieb durch keynerley weg außloschen mocht j und sich aber seim kummer und leiden von tag zu tag zunam / unnd er sich yetz gantzlich alles drostes verwegen hat / legt er sich eines abends zu bett / im fürnam da nimmer auffzuston / biß in der todt von solchem leiden und trubsal nemen thet (S. 3f, TrT.).1 Daß dieser Beginn des >Ritter Galmyx kein Romananfang ist, sondern eher eine Novelleneinleitung, ist längst aufgefallen.2 Der traditionelle Roman beginnt bekanntlich entweder mit der Jugend des Helden, der noch eine Elterngeschichte vorausgehen kann, so der >TristanLanzeletParzival< usw., oder mit einer stereotypen gesellschaftlichen Situation, aus der heraus die Handlung angestoßen wird: das Pfingstfest etwa im Artusroman oder die Ratsversammlung im Brautwerbungsepos. Wickram hingegen setzt mit der Schilderung der höchst persönlichen Situation des Helden ein, wobei er diese zudem nicht allmählich entwickelt, sondern gleich in einer fortgeschrittenprekären Zuspitzung bietet — also ein charakteristischer Novellenauftakt. Dazu stellt sich der stoffgeschichtliche Befund: Wickram greift mit dem >Ritter Galmy< einen Stoff auf, der vor ihm und auch nach ihm durchwegs in sehr viel kürzerer Form gestaltet worden ist: als Marienmirakel um 1400, französisch, in 1410 Versen;3 englisch im >Erl of TolousRitter Galmy
Ritter Galmy< um einen zu einem Roman auserzählten kurzepischen Stoff? Jedenfalls scheint der novellistische Auftakt noch die Herkunft aus kurzepischer Tradition zu verraten, und er könnte zugleich auch schon signalisieren, daß in diesem neuen Roman auch anders als bisher, gewissermaßen in novellistischer Weise erzählt werden wird. Was das heißen könnte, ließe sich durch Beobachtungen konkretisieren, die verschiedentlich vorgetragen worden sind, etwa, wenn daraufhingewiesen wurde, daß die Technik und die Funktion der Dialoge, die im >Galmy< einen sehr breiten Raum einnehmen, von der Gesprächsführung in der Renaissancenovcllistik herzuleiten seien.8 Was immer man aber im >Ritter Galmy< als kurzepisch oder gar spezifisch novellistisch bezeichnen mag, richtig ist zweifellos, daß Wickram versucht, jene Welt in den Roman hereinzuholen, die inzwischen durch die narrative Kleinform aufgeschlossen worden ist: die Welt aus der Sicht spezifisch-persönlicher Konstellationen, die Problematik des individuellen Falles, der nicht mehr einen ganzen Gcsellschaftszusammenhang in Bewegung bringt, sondern nur für sich selbst steht und wobei das Gesellschaftliche höchstens noch die Rahmenbedingungen liefert. Was bedeutet dies aber nun in der Perspektive des Typus >Roman Tutte le opere di Matteo Bandello a cura di Francesco Flora, Verona 41974, Vol. II, Novella XLIV: Amore di don Giovanni di Mendozza e de la duchessa die Savoia, con varii e mirabili accidenti ehe vi intervengono; dt. in: Adelbert Keller, Italiänischer Novellenschatz 4, Leipzig 1851, S. 149—188; zu den Übersetzungen in andere europäische Sprachen vgl. Georg Wickram, Werke, hg. v. Johannes Bolte u. Willy Scheel, Bd. l, Tübingen 1901, S. VIHf. Anm. 1. 7 Wickrams Roman erscheint 1539 im Druck, Bandellos Sammlung 1554 — die Novellentradition nach Wickram ist vom >Ritter Galmy< unabhängig. - Materialien zur Stofftradition bei Bolte/ Scheel (Anm. 6), S. VI-XV; Lüdtke (Anm. 4), S. 167ff.; Francis J. Child (Hg.), The English and Scottish Popular Ballads, Bd. II, Boston 1886, S. 33ff.; Edwin A. Greenlaw, The Vows of Baldwin, PMLA 21 (1906), S. 575-636, hier S. 617ff. 8 v. Ertzdorff (Anm. 2), S. 109, mit Hinweis auf H. H. Gray, Renaissance Humanism: The Pursuit of Eloquence, in: Renaissance Essays, hg. v. P. O. Kristeller u. Ph. P. Wiener, New York 1968, S. 199-216, bes. S. 214. 97

Walter Haug

Galmy, in seine Schlafkammer eingeschlossen, will nichts als sterben, denn die Situation seiner Liebe erscheint ihm aussichtslos. Daß es dann aber — erwartungsgemäß — doch nicht dazu kommt, verdankt Galmy seinem feinfühlenden Freund Friderich, dem im weiteren nicht nur die Rolle des immer treuen Helfers zugewiesen ist, sondern der auch als der wichtigste Dialogpartner fungiert und es insbesondere ermöglicht, daß die innere Erfahrung sich im Gespräch spiegeln kann. Die Figur ist übrigens eine Erfindung Wickrams, sie fehlt in den verwandten Versionen.9 Als am nächsten Morgen Galmy nicht wie gewohnt zum Frühstück erscheint, beginnt Friderich sich Sorgen zu machen. Er beunruhigt sich so sehr, daß er das Ende des Essens kaum erwarten kann. Er eilt zu Galmys Schlafkammer, findet sie abgesperrt. Er legt den Kopf an die Türe und meint den Freund seufzen und klagen zu hören. Er kann aber nichts verstehen, traut sich auch nicht zu klopfen. Als er gedankengequält weggehen will, erscheint Galmys Reitbub, der die Tür aufschließt, und so kann Friderich mit eintreten. Er findet den Freund in trostlosem Zustand im Bett, er fleht ihn an, ihm den Grund seiner Krankheit zu entdecken. Und Galmy, nachdem er zunächst abgewehrt hat, enthüllt ihm schließlich die Ursache seines Leidens: er liebe eine Frau, von der er als einfacher Ritter keine Gegenliebe erhoffen könne. So gebe es für ihn keine Hilfe, es bleibe ihm nichts, als zu sterben. Friderich versucht ihn zunächst bei seinem Rittertum zu packen: er könne sich doch als tapferer Mann nicht in dieser Weise von einer Frau überwältigen lassen. Da zählt Galmy die Reihe der starken Männer auf, die trotzallem von der Liebe besiegt worden sind: es ist die traditionelle Minnesklavenliste von Adam, David und Samson über die antiken Opfer der Liebe bis zu Pontus und Tristrant. Das ist nicht nur Exempla-Rhetorik, sondern diese großen Liebesfälle öffnen zugleich die thematische Perspektive, in die sich der Roman stellt. Und diese gewinnt sofort eine noch schärfere Kontur, wenn Galmy dann auf Friderichs Drängen hin gesteht, daß er in Liebe zur Gattin seines Herrn entbrannt sei, und sich damit das Dreiecksdrama, das die Einleitung vorweg skizziert hat, nun in der Handlung zu entfalten beginnt. Friderich, obschon zutiefst erschrocken, will versuchen, die Herzogin herzubitten, damit sie ihn tröste. Er gehe dabei davon aus, daß er sye in allen züchten und eeren liebhaben wolle (S. 11,4). Galmy antwortet, daß dies für ihn die größte Freude wäre, die er sich auf Erden denken könnte, und er versichert, daß er keyn unordenliche liebe der Herzogin gegenüber im Sinne habe (S. 11,7). 9

Zur Rolle des Freundes vgl. die literarhistorischen Notizen bei von Ertzdorff (Anm. 2), S. 280f. Anm. 296; siehe auch die Beobachtungen zu dieser Figur bei Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman, Berlin 1932, Nachdr. Frankfurt a. M. 1976, S. 86ff.; ferner Jan-Dirk Müller, Frühbürgerliche Privatheit und altständische Gemeinschaft. Zu Jörg Wickrams Historic Von Guten und Bösen Nachbaurn, IASL 5 (1980), S. 1-32, hier S. llff.

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Jörg Wickrams >Ritter Galmy
Ach Gott was ursacht doch dißen jungen Ritter j also umb meinet willen inn ein solche kranckheyt zu kummen< / offt hin und her die sach erwegen ward. Zu letst ir Junckfrawen manet mit ir zu gon / sich schnell zu deß Ritters kamer fuget j mit züchten anklopffet / die thür bald auffgieng. Die Hertzogin / wie Friderich gesagt / den Ritter also onmechtig ligen fand (S. 15,6ff.).

Ich zitiere diese Stelle, weil sie charakteristisch ist für Wickrams Art des Erzählens. Er verweilt lange bei den Überlegungen der Personen, zeigt, wie sie die Situation bedenken, um dann zu knapper, schneller Aktion überzuwechseln. Eigentümlich sind dabei gar nicht so sehr die inneren Monologe, auch wenn von diesem traditionellen Mittel ausgiebig Gebrauch gemacht wird, das Besondere liegt vielmehr in den Pausen, die durch die Akte des Erwägens und Prüfens entstehen. Es ergeben sich Hiate nicht nur zwischen den Aktionen, sondern auch zwischen Wort und Antwort, so daß der Lauf des Geschehens durch das zögernde, schweigende Sich-Besinnen in der auffälligsten Weise skandiert wird. Es öffnen sich dadurch psychische Innenräume, deren Präsenz sich um so mehr aufdrängt, als sie gewissermaßen abstrakt bleiben. Typisch sind Formulierungen wie: er geht in Gedanken auf und ab, er überlegt lange hin und her, er erwägt dies und das, er denkt schweigend nach, dies bis hin zur Unmöglichkeit, sich äußern zu können. Die folgende Szene ist für das letztere besonders kennzeichnend: Die Herzogin tritt an Galmys Bett. Sie sagt, daß Friderich ihr von seiner Krankheit berichtet habe, für die es anscheinend keine Arznei gebe. Galmy bringt kein Wort heraus. Da schickt die Herzogin ihre Damen und den Buben weg. Und nun fragt sie dringlich, was ihn bedrücke. Doch Galmy seufzt nur, schlägt die Augen nieder und schweigt. Nochmals bittet die Herzogin freund99

Walter Haug

lieh und leise, er möge ihr doch den Grund für seine Krankheit nennen; sie sei bereit zu helfen; Friderich habe ihr auch zu verstehen gegeben, was ihn quäle, er möge sich doch getröstet und fröhlich erheben, denn sie wolle ihn von dißetn tag an / für [ihren] liebsten Ritter haben (S. 17,4f.). Nun endlich spricht der Kranke: Er wisse nicht, wie er ihr danken könne für ihren Trost, es sei ihm aber unmöglich, ihre Frage zu beantworten. Doch wenn sie in sein Herz sehen könnte, würde sie die Ursache seiner Krankheit erkennen. Die Herzogin begreift, daß er es nicht über sich bringt, sich ihr zu eröffnen. So sagt sie, sie kenne den Grund seiner Krankheit, und dann berichtet sie von der Begegnung im Garten mit Friderich und sagt schließlich, sie sei gekommen, um ihm zu helfen, da Friderich ihr versichert habe, daß Galmy sie nicht änderst / dann in züchten und eeren liebhaben wolle (S. 18,17f). So solle er denn aufstehen und seine Sorgen verscheuchen. Jetzt erst vermag Galmy ihr offen seine Liebe zu gestehen. Darauf bittet sie ihn, ihr doch zu sagen, wie es gekommen sei, daß er sich in sie verliebt habe, und nun berichtet Galmy von einer Episode, die sich vor zwei Monaten auf einer Jagdpartie des Herzogs zugetragen hat. Man sei dabei in eine unwegsam gebirgige Gegend geraten, so daß sie, die Herzogin, von ihrem Zelter habe absteigen müssen. Als er sie so zu Fuß den felsigen Weg mit ihrer Begleiterin habe gehen sehen, sei er ebenfalls abgestiegen, habe das Pferd seinem Knecht übergeben und sei mit ihr gegangen. Sie seien dann an eine sehr gefährliche Stelle gekommen, und da habe sie ihn gebeten, sie an der Hand hinüberzuführen. Und dann fährt er folgendermaßen! fort: so bald aber ewer schone weisse hand / inn die mein verschlossen ward / augenblicklich mich ein brinnenderßamm umb mein hertz entzünden thet (S. 19,33ff.), und von da an habe diese heimliche Liebe täglich zugenommen, bis sie ihn schließlich todkrank gemacht habe. Aber nun sei sie gekommen, habe ihn getröstet, und damit sei all sein Leid ausgelöscht. Und die Herzogin, bevor sie sich dann verabschiedet, versichert ihm nocheinmal: biß getrost / das ich dich von dem tag an liebhaben wil / in gleichem / wie du mich dann liebhast (S. 20,11 f.). Dieser Beginn der Liebe bricht mit allen diesbezüglichen Romankonventionen: der traditionsgemäße Liebesbeginn erfolgt bekanntlich über den Anblick der Frau, über ihr Bild oder über einen Bericht von ihrer Schönheit.10 Das zielt auf das Idealtypische der Partnerin, das in der Schönheit in Erscheinung tritt. Die sinnliche Seite ist das selbstverständliche Korrelat der Idealität. Galmys Liebe entzündet sich hingegen an der körperlichen Berührung. Um so auffälliger ist dann, daß die sinnliche Seite bei dieser Liebe gerade keine Rolle spielen soll. Die Liebenden verständigen sich auf eine rein innerliche Beziehung, eine 10

Siehe die Materialien bei Rüdiger Schnell, Causa amoris, Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern/München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), S. 241 ff.

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Jörg Wickrams >R.itter Galmy
Galmy< wird also nicht wie im >Tristan< oder im >Lancelot< die tödliche Auseinandersetzung im Rahmen einer Dreieckssituation sein, das neue Problem wird vielmehr darin bestehen, ob und wie die Liebe als reine Innerlichkeit sich gegen die von ihr abgelöste Körperlichkeit und überhaupt gegen alles Äußere, gegen alle Veräußerlichung und die Außenwelt insgesamt, zu bewahren vermag. Und das ist selbstverständlich ein Romanthema und kein Novellensujet. Darin liegt der Welt-Aspekt, der den >Galmy< von den verwandten kleinepischcn Gestaltungen des Themas abhebt, ein Welt-Aspekt — und das ist das Zukunftsträchtige -, über den sich erstmals in der deutschen Literatur der Innenraum der Seele als Roman-Problemraum öffnet. Es wird im >Ritter Galmy< also zwar das jahrhundertealte Thema der Ehcbruchsliebe aufgegriffen, es wird aber unter einem radikal neuen Aspekt, unter dem Aspekt der Dissoziation von Seelischem und Sinnlichem, gesehen und behandelt. Konkret stofflich stellt sich dies so dar, daß zwar mit den traditionellen Motiven des Ehebruchsromans gearbeitet wird, daß sie aber Punkt für Punkt in ihrer Funktion und in ihrem Sinn umgedreht werden. Dies ist nun im einzelnen nachzuzeichnen. Es folgt das, was man erwartet: die Gefährdung der heimlichen Liebe durch die Neidlinge und Bösewichter am Hofe, Verleumdungen, Bedrohungen, das bekannte gefährliche Spiel am Rande der Entdeckung — nur mit dem Unterschied, daß Galmy und die Herzogin sich nichts zuschulden kommen lassen — oder doch? Nachdem die Herzogin sich verabschiedet hat, steht Galmy fröhlich und gesund auf: er hat den Trost empfangen, den er sich wünschte. Friderich erscheint, und nach der Freude, nach dem Dank für die Hilfe und nachdem man sich gegenseitig eine unverbrüchliche Freundschaft zugesichert hat — diese innige Männerbeziehung gehört mit zur neuen Sentimentalität —, folgt die Vorbereitung auf das Kommende durch eine große Warnrede Fridcrichs. Er spricht von den Gefahren und Leiden, die die Liebe mit sich bringen kann, er erinnert an Euryalus und Lucrctia, an Guiskard und Sigismunda - wieder ein Rückbezug auf Renaissancenovellenstoffe —, und er mahnt zu äußerster Vorsicht. Galmy nimmt die Warnung ernst, und er bittet den Freund, ihm dabei zu helfen. Er sagt selbst, wenn man der Liebe nicht einen Zaum anlege wie einem 101

Walter Haug

munteren jungen Pferd, treibe der Wind sie hin und her und bringe sie in große Gefahr, es sei denn, man lasse das segel deß unbedachten getnuts herunter und senke den ancker deß fürsehenen Schadens in den Grund (S. 26,10£). Damit ist die Haltung Galmys klar formuliert: er hat den festen Willen, die Liebe geheim als rein innerliche Beziehung zu leben, also unter radikalem Verzicht auf jeden Außenaspekt, den körperlichen wie den öffentlich-gesellschaftlichen. — Doch dieses Konzept muß, wie sich zeigen wird, an elementare Grenzen stoßen. Mit Gesprächen verbringen Galmy und Friderich den Tag. Sie spielen Schach, und am Abend gehen sie in den Garten, in dem Friderich die Herzogin getroffen hat: Als sich nu die sonn mit irem klaren schein hinder die hohen gipffei der berg verbergen thet / und yetz die kulen lüfft all schonen grünen anger und beüm durchweheten / die zwen Edlen Jüngling durch verborgene weg inn den obgedachten schonen garten spacieren giengen / vil und mancherley zu red wurden / der Ritter der Hertzogin zu mermalen gedencken thett / also inn dem grünen Garten biß inn die finster nacht ir zeit vertriben (S. 26f., 29ff.). Es ist zu beachten, in welch neuer Weise hier die Natur mit der Innenwelt zusammenspielt: die Verborgenheit der seelischen Vorgänge erscheint wieder in den verborgenen Wegen, die die Freunde gehen; das Dunkel deckt das Geheimnis. Dabei ist dieser Garten der Ort, in dem Friderich der Herzogin die Liebe des Freundes eröffnet hat: der Außenraum verschmilzt mit dem Innenraum auch als Gegenwart der Erinnerung. Als Galmy dann schlafen gegangen ist, setzt sich das gedencken im Traum fort, und es baut sich auf diese Weise eine eigenmächtige seelische Wirklichkeit auf: die Herzogin erscheint, es kommt zu einem Traumgespräch, das jene Unterhaltung, die in der Schlafkammer stattgefunden hat, gewissermaßen weiterführt. Galmy dankt der Geliebten für den Trost, den sie ihm gebracht hat, und sie antwortet, daß er noch größeren Trost verdiene, und dann nimmt sie ihn, bevor sie sich verabschiedet, in die Arme. Galmy wacht auf und muß enttäuscht feststellen, daß die Herzogin nicht wirklich da ist. Die Enttäuschung offenbart erstmals den Zwiespalt, der in dieser Liebe steckt und der unvermeidbar aufbrechen wird. Galmy kann nicht mehr schlafen, er steht auf, weckt seinen Freund und erzählt ihm, was er geträumt hat. Die Warnungen Friderichs gehen nun in ein Abraten über, was auf Galmy aber natürlich ohne Wirkung bleibt. Die Gegenaktion: Das Mißtrauen am Hof beginnt schon damit, daß Galmy an diesem Morgen wieder völlig froh und gesund beim Frühstück erscheint. Es gibt Höflinge, die es dem Fremden, dem Schotten, nicht gönnen, daß er beim Herzog in besonderer Gunst steht, allen voran ein gewisser Wernhard, der Galmy zutiefst haßt. Galmy erfährt von der am Hof wachsenden Feindschaft, und er nimmt sich vor, die Züge seiner Gegner aufmerksam zu verfolgen. 102

Jörg Wickrams >Ritter Galmy
Ach< sprach er zu im selbs / >Mag mir das glück nit verdünnen / das mir doch einmal wachend solche freüd zu stund l die mich yetz so manig mol in meinem schlaff betrogen hat< / die übrig nacht also in trauren und klagen vertreiben mußt (S. 89,10ff.). Die Wiederholung des Traummotivs signalisiert, mit welcher Macht die Innenwelt ihre eigene Wirklichkeit durchzusetzen beginnt und dabei zugleich doch nach außen drängt. 103

Walter Haug

Demgegenüber hat die Herzogin ein Traumgesicht, das von ganz anderer Art ist: sie sieht sich als Einhorn, das von einem Wolf und einem Bären angegriffen wird. Der Wolf fängt sich zwar in einer Schlinge und kommt um, aber der Bär treibt das Einhorn gegen einen brennenden Wald. Im letzten Augenblick erscheint ein Löwe, der ein Lammfell trägt; er schlägt den Bären nieder und schleift ihn in den brennenden Wald. Dann verwandelt der Löwe sich in einen Ritter, der davonreitct, während sie, die Herzogin, indem auch sie wieder ihre menschliche Gestalt erhält, allein zurückbleibt. Dieser Angsttraum greift in die Zukunft aus: er nimmt die kommende Handlung vorweg, er ist eine Allegorie dessen, was im zweiten Teil geschehen wird.11 Es ist auffällig und festzuhalten, daß diese Vorwegnahme schon hier erfolgt, denn es gibt keinen direkten Motivationszusammenhang zwischen der Liebesgeschichte des ersten Teils und der späteren Gefährdung, die durch diese Traumallegorie angekündigt wird. Während sich die Liebenden darüber freuen, daß sie sich nun häufig in erlaubter Weise sehen können, ist Friderich alles andere als glücklich über diese Wendung der Dinge. Er fürchtet, daß das Glück trügerisch ist und Leid aus ihr erwachsen wird: die Gefahr, daß die Neider Verdacht schöpfen, werde dadurch größer. Galmy verspricht, äußerste Vorsicht walten zu lassen. Aber er verrät sich doch. Einmal, als er der Herzogin das Fleisch vorschneiden soll, versinkt er so sehr in ihren Anblick, daß er sich das Messer in den Daumen sticht. Das Blut springt der Herzogin auf die Hand und auf das Kleid, und sie sinkt ohnmächtig zu Boden. Friderich, als der davon hört, ist bestürzt, und tatsächlich denkt sich der neidische Wernhard seinen bösen Teil dazu. Aber es bedarf eines zweiten Vorfalls, damit die Lage wirklich gefährlich wird. Es ist soweit, als die Herzogin einmal unerwartet vor ihrem Mann aus der Kirche tritt, sich Galmy gegenübersieht und bleich wird und auch sein Gesicht alle Farbe verliert. Der mißtrauische Wernhard nimmt auch dies wahr, und er sagt darauf zu Friderich, das Verhalten Galmy s gebe ihm zu denken; wenn er ein drittes Zeichen, das in dieselbe Richtung weise, entdecke, werde er nicht zögern, es dem Herzog zu melden. Zornig und traurig geht Friderich zu seinem Freund. Er stellt ihm die wachsende Gefahr vor Augen und rät ihm, wenn ihm am Wohl der Herzogin liege, sich für einige Zeit vom Hof zu entfernen. Er schlägt vor, einen fingierten Brief zu verfassen, in dem sein Vater ihn nach Schottland zurückrufe. Betrübt berichtet Galmy der Herzogin, was der Freund geraten hat, und sie stimmt dem Vorschlag Friderichs zu. 11

Die Verwirklichung des Traums wird dann auch offenkundig machen, weshalb die Herzogin sich gerade als Einhorn sieht: das Tier fungiert hier unzweifelhaft als Sinnzeichen der Keuschheit. Diese emblcmatische Reduktion der Einhornfabel ist für das Spätmittelalter und die Renaissance charakteristisch. Die Belege zu dieser Bedeutung, die Jürgen W. Einhorn, Spiritalis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur^ und Kunst des Mittelalters, München 1976 (MMS 13), S. 182ff., gesammelt hat, sind also um dieses literarische Zeugnis zu ergänzen.

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Jörg Wickrams >Ritter Galmy
Princcsse de Clevcs< den >Beginn des modernen Romans< zu sehen pflegt, so - um nur ein Beispiel zu nennen - Klaus Friedrich, mit fragloser Selbstverständlichkeit, in seinem Forschungsbericht von 1966.17 17

Klaus Friedrich, Mme de Lafayette in der Forschung (1950-1965), Romanistischcs Jahrb. 17 (1966), S. 112-149, hier S. 112. Erich Köhler, Madame de Lafaycttes >La Princesse de ClevcsPrincesse de Clcves< geradezu paradigmatisch jene Bedingungen verwirklicht, die nach Hegel und Lukacs für den Typus des modernen Roman konstitutiv sind. — Während über die Originalität der >Princcssc de Clevcs< weitgehend Einigkeit zu bestehen scheint — vg]. Pierre Malandain, Madame de Lafayette, La Princesse de Cleves, Paris 1985, S. 48 —, hat das analoge Phänomen bei Wickram

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Wie beim >Ritter Galmy< beruht die Handlung der >Princesse de Cleves< auf der Dreieckssituation des klassischen Ehebruchsromans, doch auch hier wird jeder äußere Fehltritt vermieden, wobei wiederum der Gedanke eine Rolle spielt, daß die Beziehung in reiner Innerlichkeit ihr Ziel finden soll. Aber diese auffälligen Analogien zeigen ihre eigentliche Bedeutung erst im Blick auf die um so größeren Differenzen. Die Princesse de Cleves ist mit einem Mann verheiratet, der sie leidenschaftlich liebt, während sie ihm nur mit Achtung, wenn auch mit höchster Achtung, begegnet. Ihre Liebe aber, die sie zunächst kaum sich selbst zu gestehen wagt, gilt dem Herzog von Nemours, der sie, wie sie mit Bestürzung und Freude entdeckt, wiederliebt. Anders als im >Ritter Galmy< kommt es jedoch nicht schon zu Beginn der Handlung zum gegenseitigen Geständnis, vielmehr entwickelt sich nun ein subtiles Spiel des Entdeckens und Verbergens, des SichÄußerns und -Zurücknehmens, der aufkeimenden Hoffnung und des unterdrückten Begehrens. Was die Gesellschaft als Widerpart betrifft, so steht in der >Princesse de Cleves< an der Stelle neidischer Höflinge der französische Königshof insgesamt, an dem mit tausend Augen die zwischenmenschlichen Beziehungen der ihm Zugehörigen beobachtet werden. Das ganze Hofleben ist von einem raffiniert gesponnenen Intrigennctz überzogen, in dem jeder noch so feine Schachzug im Spiel von Macht und Leidenschaft registriert, kommentiert und den jeweiligen Interessen nutzbar gemacht wird. In diesem Milieu der gespannten, neugierig-bösen Aufmerksamkeit suchen nun die Princesse und der Herzog nach Zeichen der Zuneigung beim ändern, der Herzog gedrängt von dem Wunsch, sich zu offenbaren, ohne dem scharfsichtigen Hof dabei Anlaß zu einem Verdacht zu geben, die Princesse in der geheimen Hoffnung, eine Bestätigung dafür zu finden, daß sie wiedergeliebt wird, aber ohne sich ihrerseits preiszugeben; und je deutlicher sie erkennt, daß der Herzog ihr seine Liebe zuwendet und sie ihr zu gestehen versucht, um so mehr schreckt sie vor ihrer eigenen Leidenschaft zurück und tut sie alles, um ihrer Herr zu werden.18 kaum einmal die ihm gebührende Beachtung gefunden. Erich Kleinschmidt, Stadt und Literatur in der frühen Neuzeit. Voraussetzung und Entfaltung im südwestdeutschen, elsässischen und schweizerischen Städteraum, Köln/Wien 1982, spricht von »erzählerischem Konservatismus«, von »Bewahrung und Ausbau einer nach Motiv und Form vertrauten Ausdruckswelt« (S. 242). Wenn daneben immer wieder behauptet worden ist, Wickram sei der Vater des deutschen Prosaromans — oder gar sein erster Höhepunkt (Hans-Gert Roioff, Bemerkungen zu Wesen und Funktion des Romans im 16. Jahrhundert, Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975, Jahrb. f. Internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 2/3, Bern/Frankfurt a. M. 1976, S. 41-46, hier S. 44) -, so ist das im großen ganzen eine wenig qualifizierte These geblieben. Eindrucksvolle Analysen der semiotischen und diskurstechnischen Verfahrensweisen, die dabei angewendet werden, bieten Karlheinz Sticrle, Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil, in: Französische Klassik. Theorie — Literatur —

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Jörg Wickrams >Ritter Galmy
Galmy< — nicht aus Feigheit sondern in realistischer Einschätzung ihres Partners — nicht zu tun wagte: sie gesteht ihrem Mann ihre Liebe, aber ohne ihm zu sagen, um wen es sich handelt. Doch er ist der Situation nicht gewachsen. Er beginnt sich vor Eifersucht zu verzehren, er setzt alles daran herauszufinden, wem jenes Glück zuteil wird, das ihm selbst versagt geblieben ist. Er kommt, indem er kleine Fallen stellt, auch bald zum Ziel. Nun läßt er den Herzog von Nemours beobachten, ja schließlich verdächtigt er, aufgrund von zweideutigen Informationen, seine Frau des Ehebruchs. Obgleich sie ihm ihre Unschuld beteuert, stürzt er in Verzweiflung, er bricht seelisch und körperlich zusammen, er wird krank und stirbt. Nun wäre die Princesse frei, den Herzog zu heiraten. Und sie gesteht ihm jetzt auch offen ihre Liebe, zugleich aber weist sie ihn zurück. Als Argument schiebt sie vor, daß sie unmöglich denjenigen heiraten könne, der den Tod ihres Mannes verschuldet habe. Der eigentliche Grund aber liegt darin, daß sie furchtet, daß seine Liebe der Ehe nicht standhalten könnte. Sie wagt es also nicht, ihre Liebe, die sich unter dem Druck der gesellschaftlichen Zwänge ins Übermächtige gesteigert hat, der banalen Wirklichkeit des Alltags auszusetzen; so verzichtet sie lieber, als Gefahr zu laufen, sie sich zerstören zu lassen. Aber damit zerstört sie sich selbst, ihr Verzicht ist ein Rückzug in den Tod. Die Leidenschaft hat hier also so sehr jedes menschliche Maß zurückgelassen, daß nur die Flucht in die Verneinung als Lösung bleibt.19 Diese so elementar durchbrechende und dann sich so hart versagende Liebe ist in der Forschung sehr unterschiedlich interpretiert worden. Hugo Kühn hat darauf hingewiesen, daß ein entsprechendes erotisches Konzept schon in der höfischen Literatur des Mittelalters eine zentrale Rolle spiele. Insbesondere werde im hohen Minnesang die Idee der absoluten Liebe entsprechend diskutiert, so bei Reinmar, der sie in folgender Alternative präsentierte: entweder »ich wünsche, daß meine Dame von einer solchen moralischen Integrität ist, daß weder ich noch jemand anders sie je auch nur berühren kann« oder »ich muß mir wünschen, daß sie mein wird, damit aber auch die Möglichkeit offen lassen, daß sie auch ändern gehören könne«. Und Kühn fährt fort: »die Problemstellung ist genau die, die die Princesse auch anfuhrt [. . .]. Es ist ein Irrtum, wenn eine Forschungsrichtung diese hohe Minne, ßn'amors, abheben will von der Ehe, als ehebrecherische Liebe, oder die Ehe von der Liebe abheben will, als Institution, in der nicht geliebt werden kann. Vielmehr ist diese Malerei, hg. v. Fritz Nies u. Karlheinz Stierle, München 1985 (Romanistisches Kolloquium 3), S. 81-128, hier S. 114fF., bzw. Wolfgang Matzat, Affektpräsentation im klassischen Diskurs: La Princesse de Clevcs, ebd., S. 231-266, hier S. 242ff. 19 Malandain (Anm. 17), S. 87, 89.

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Rigorosität, die sowohl Madame de Lafayette in der >Princesse de Cleves< als auch im 12. Jahrhundert Reinmar definieren, nichts anderes als die Absolutheit des Liebens als solches.«20 Zudem ist daran zu erinnern, daß die Idee einer Liebe, die sich nur bewahren kann, wenn ihr die Erfüllung in der Wirklichkeit versagt bleibt, auch den tragischen Liebesroman des Mittelalters prägte.21 So hatte denn Marie-Therese Hipp schon 1965 gefragt, ob es zwischen der >Princesse de Cleves< und dem >Tristan< nicht eine literarhistorische Verbindung geben könnte. Zwar sei es nicht möglich nachzuweisen, daß Mme de Lafayette den >Tristan< kannte, aber die mittelalterlichen literarischen Traditionen wirken im 16. /l 7. Jahrhundert nach, und möglicherweise wußte sie davon zumindest aus zweiter Hand. Wie immer dem aber sei, die >Princesse de Cleves< müsse in der abendländischen Tradition der bedingungslosen, sich im Tod erfüllenden Liebe gesehen werden, und sie sei damit jedenfalls Ausdruck eines Archetyps. Und das hieße insbesondere, daß der Verzicht der Princesse vor dem Hintergrund der Ideologie des amour courtois zu verstehen und zu interpretieren sei.22 Es gibt eine vielzitierte Äußerung der Princesse in ihrem Schlußgespräch mit dem Herzog, mit der man diese Deutung stützen kann. Sie sagt, bevor sie sich auf immer verabschiedet: »croyez que les sentiments que j'ai pour vous seront eternels.«23 Aber man kann auch anders interpretieren, indem man diesen ersten psychologischen Roman als solchen ernst nimmt und ihn psychologisch und nicht idcengeschichtlich versteht. Dann aber ergeben sich Deutungen, die das Verhalten der Princesse mehr oder weniger kritisch beurteilen. Dieter Beyerle akzpetiert bei seiner Analyse des Verzichts das, was die Princesse selbst sagt, 20

Hugo Kühn, Liebe und Gesellschaft in der Literatur, in: H. K., Liebe und Gesellschaft. Kleine Schriften, Bd. 3, Stuttgart 1980, S. 60-68, hier S. 63 u. 64. 21 Ebd., S. 64 22 Marie-Therese Hipp, Le mythe de Tristan et Iseut et >La princessc de ClevesRitter Galmy
Princesse de Cleves< als den kühnen Versuch, die Idee der absoluten Liebe als psychologischen Roman zu gestalten, wobei die Überlegungen zur Unbeständigkeit der Gefühle nichts anderes wären als die psychologisierendc Umformung des Gedankens von der Bedingtheit, der die Liebe bei der Verwirklichung in diesem Leben unterworfen wird oder würde. Auf der ändern Seite jedoch hinterfragt man die sich absolut gebende Liebe psychologisch, d.h., man unternimmt es, sie aus charakterlichen Defizienzen, aus Lebensangst oder Egoismus, abzuleiten. Beide Interpretationen haben eine gewisse Plausibilität für sich, so daß es nicht ohne weiteres möglich ist, eine klare Entscheidung zu treffen. Und so scheint es denn von höherem Interesse zu sein, statt die eine oder die andere Position durch neue Argumente zu stärken, sich der Frage zuzuwenden, unter welchen literarhistorischen Bedingungen es überhaupt zu derart widersprüchlichen Deutungen kommen konnte. Ich möchte behaupten, der Widerspruch sei der unvermeidliche Preis für das Unterfangen, eine objektive Idee ohne Stütze durch entsprechende objektive Erzählstrukturen als eine rein psychologische Erfahrung darzustellen. Denn eine solche Wende zur völligen Innerlichkeit ist auf subjektive Motivationen angewiesen, doch subjektive Motivationen können niemals als Letztbegründung gelten: der Interpret sieht sich gedrängt, sie auf die unbewußten Muster hin zu hintcrfragcn, als deren Transformation er sie meint auffassen zu müssen. Der psychologische Roman kann nur dann in sich stimmig sein, wenn man ihm von vornherein solche Muster unterlegt. Wenn der Autor darauf verzichtet 24

Dieter Beyerle, >La Princesse de Cleves< als Roman des Verzichts, Diss. Hamburg 1967, S. 112ff. 25 Marie Madeleine de la Fayette, Die Prinzessin von Cleves, hg. v. Gerhard Hess, Wiesbaden 2 1949, Nachwort zur deutschen Übersetzung, S. 244. 26 Serge Doubrovsky, La Princesse de Cleves: unc interpretation cxistcntielle, La Table ronde 138 (juin 1959), S. 36—51. Auch Claude Vigee, La >Princesse de Cleves< et la tradition du refus, Critique 159—160 (aoüt — septembre 1960), S. 723—754, spricht vom egoistischen Charakter der Heldin. Ferner: Jean Fabre, Bienseance et sentiment chez Madame de Lafayette, in: ders., Idees sur le roman — De Madame de Lafayette au Marquis de Sade, Paris 1979, S. 54—80, hier S. 68fF.; Matzat (Anm. 18), S. 233, betont die widersprüchliche Offenheit der Begründung. Dadurch aber, daß das Hindernis nicht mehr faßbar sei, werde die Dialektik von passion und obstacle im Sinne der >TristanAlt< und meu< in der Epochenerfahrung um 1500

sehen oder im Gegenteil angesichts der Autorität der Tradition: das Alte bleibt Maßstab.

Neue Empirie und antiquitas Auch die Metaphorik von Licht und Finsternis, von Aufdecken des Verschütteten ist nicht auf die antiken litterae beschränkt, sondern bestimmt die Argumentation noch dort, wo die Antike überboten wird. So schreibt Konrad Gesner im 4. Buch seiner >Historia animalium< (1558), dem über die Wassertiere, es gelte nicht nur, die Schriften der Alten zu verstehen, sondern Neues aus der Verborgenheit heraufzuholen (multa noua, nullis in hunc usque diem literis prodita).30 Nicht eine verschüttete Tradition von Wissen ist (wieder-) zu entdecken, sondern sein Gegenstand allererst bekanntzumachen. Die Naturkunde fördert ihn zutage: quae adhuc in Oceano nostro latent animalium; sie bringt Licht in die Finsternis des Ozeans: depuhis ueluti Sol suo exortu, ignorantice tenebris [. . .] man detecto, apertisque gurgitibus et abyssis (Bl. a6v). Innerhalb dieser Metaphorik wird nicht >Fortschritt< gedacht, sondern Aufdeckung eines je schon Vorhandenen, freilich Verborgenen — nach dem gleichen Modell wie die Wiederentdeckung der verschütteten Schriften der Alten.31 Doch verändert sich mit der Übertragung auf naturkundliches Wissen das Verhältnis zur Tradition, denn mit der Überschreitung der Grenzen dessen, was sich von selbst der menschlichen Wahrnehmung darbietet, schiebt Gesner das jahrhundertelang geltende Verbot der curiositas beiseite.32 Die Aufdeckung des von der Natur Verborgenen ist unumkehrbar; das neu gewonnene Wissen kann dank der Druckkunst nicht mehr verloren gehen: dum mundus hie erit, dum ullct: literce uigebunt (ebd.). Das Neuentdeckte geht in den Thesaurus von Wissen ein, den die literae bewahren, und bleibt darin dann für alle Zeiten gültig, so wie es die Schriften der Alten für den Humanismus sind. So ist, trotz Einsicht in die dauernde Erweiterung von Wissen über die Alten hinaus, das Verhältnis zur Zukunft zwiespältig: von ihr ist nichts qualitativ Neues, sondern nur die Vervollständigung des Alten zu erwarten, und dies scheint typisch für die Zeiterfahrung im 16. Jahrhundert zu 30

Conradi Gesneri media Ttgurini Historia Animalium Liber IIII. qui est de Piscium et Aquatilium animantium natura, Zürich 1558, Bl. a6v [Widmung an Kaiser Ferdinand]. 31 Durch ihren Fortschritt in der Naturkunde können die Deutschen daher mit humanistischer Erneuerung in anderen Ländern wetteifern: Sie Galli et Itali non ampliüs gloriabuntur bonas literas suis proceribus magis esse cordi quam Germanis (Bl. a6v). 32 Damit wird das antike Konzept von Wahrheit als Unverborgenheit, aletheia, beiseitegeschoben zugunsten eines Erkenntnisstrebens, das die von Gott gezogenen Grenzen der Sichtbarkeit nicht respektiert, sondern >Licht< in die finsteren Abgründe der Natur bringen will; vgl. Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt a. M. 1973, bes. S. 166—183.

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Jan-Dirk Müller

sein, selbst dort, wo nicht nur ein Auf und Ab, sondern ein gerichtetes Fortschreiten diagnostiziert wird.33 Ein Bewußtsein vom dauernden Fortschreiten der Künste gewinnt seit dem 13. Jahrhundert zumal in naturkundlichen Schriften Raum: semper crevit sapientia, und zwar iuxta sui temporis opportunitatem (Roger Bacon).34 Das zuerst von Aulus Gellius (Noctes Atticae, XII,11,7) überlieferte Wort von der veritas temporis ßlia hat in der Naturkunde fraglose Evidenz.35 Otto Brunfels skizziert in seinem >Contrafayt Kreüterbuch< (1532)36 die Konsequenzen für die Geschichte botanischen Wissens. Die Summe aus bisher Bekanntem und neu hinzu Entdecktem ist ihrerseits überholbar, zu weiterem fürgang (Bl. aijv), wie ja schon die Alten sich bemüht hatten, in dieser Kunst täglich etwas news zuerfinden (Bl. aif). Brunfels' Skizze der Wissenschafts- und Zivilisationsgeschichte stellt dar, wie das botanische Wissen aus Einzelbeobachtungen, Zufallsfunden, Eingebungen (Träumen!) wuchs, zuerst mündlich von Generation zu Generation weitergegeben (hat ye ein geburt der anderen solichs anzeygt), dann an einem Ort zusammengetragen und aufgezeichnet wurde (Bl. avjr). Die Veröffentlichung im Druck ist letzte und wirksamste Stufe seiner Thesaurierung. Doch bleibt der Vorgang grundsätzlich unabschließbar, indem das Neuere stets Vorrang vor dem Älteren hat, zumal auch der Gegenstand selbst nicht derselbe bleibt: Am Anfang stehen allein warnemungen vnd vffmerckungen deren ding / was sye in den menschen geschafft. Welche / dieweil sye on vnderlaß verändert / vnd noch veranderen / haben sich zutragen so mancherley meynungen / das auch vff den heutigen tag nichts satts l noch bestendigs in der artzeney / vnd auch kaum ein kunst ist / die meer 33

Zur Bedeutung der Zukunftserwartung für das entstehende historische Bewußtsein der frühen Neuzeit: Koselleck (Anm. 9), S. 315, 324f. u. ö.; ders. (Anm. 12), S. 28-37. 34 Nach Schreiner (Anm. 7), S. 389: »Wissenschaft ist für Bacon gleichbedeutend mit Vermehrung des Wissens in der Zeit. Produktive Wissenschaft stütze sich auf Wissensbestände, welche >die alten Philosophen und Gelehrten« (philosophi et doctores antiqui) nach den Möglichkeiten ihrer Zeit (iuxta tempora sua) aufgebaut und der Nachwelt übereignet haben. Sache der >modernen< Gelehrten sei es, >durch Erfindung« (per invencionem) das überlieferte Wissen zu erweitern. Weil die >ersten Erfinder« (primi inventores) jedweder Hilfe entbehrten, die Nachfahren jedoch an die Erfindungen früherer Generationen anknüpfen konnten, sei die Weisheit ständig gewachsen (semper crevit sapiencia)« [nach Rogerus Bacon, Metaphisica de viciis contractis in studio theologie, hg. v. Robert Steele, in: Opera hactenus inedita Fase. I, Oxford 1905, S. 4f.]. Insofern ist das naturkundliche Fortschrittsdenken im 16. Jahrhundert nichts Neues. Neu ist die Gesamtansicht eines epochalen Fortschritts auf allen Gebieten. 35 Bück (Anm. 13), S. 110; ders., Aus der Vorgeschichte der »Querelle des anciens et des modernes« in Mittelalter und Renaissance, in: A. B., Die humanistische Tradition in der Romania, Homburg v. d. H./Berlin/Zürich 1968, S. 75-91, hier S. 85; v. Leyden (Anm. 17), S. 486. 36 Contrafayt Kreüterbuch Nach rechter vollkommener art / vnnd Beschreibungen der Alten j besstberumpten artzt j vormals in Teütscher sprach / der masßen nye gesehen / noch in Truck außgangen. [. . .] Durch Otho Brunnfelß Newlich beschriben, Straßburg 1532, Bl. aijr: dieweil dißes mein werck new / vormals nye dergleichen an tag kummen.

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>Alt< und >neu< in der Epochenerfahrung um 1500

warnemens vnd vffsehens bedorff (Bl. aiiijT.). Auch die Schriften der Alten sind daher nicht in allem vollkommen.37 Aber erst mit der Schrift wird Erfahrung insgesamt überschaubar, und erst dieser Überblick (das wir die Alten bucher doch leßen) erlaubt Fortschritt (das wir [. . .] über der Alten erfarung etwas weiters vnderston zu erßnden j vnnd vnseren nachkommen verlassen, Bl. avj r ). Daher bleibt die antike Überlieferung Autorität künftiger Empirie. Die Akkumulation botanischen Wissens ist insofern von der jeweiligen Epoche abhängig; sie wird in das bekannte triadische Geschichtsmodell der Humanisten eingebettet: Aufstieg - Niedergang - Wiederaufstieg. Die Erkenntnis wächst nicht linear, ihr abgang in der Vergangenheit ist erst wieder aufzuholen. Dabei wird der Zeitpunkt des Niedergangs nicht ganz eindeutig datiert. Einmal bringt — wissenschaftsintern — die Zeit des Königs Mithridates die Wende (Bl. bijr).38 Die wichtigere Zäsur ist jedoch der Niedergang der Schulen und der Griechisch- und Lateinkenntnisse, denn dadurch wurde das antike Wissen vergessen oder konnte durch die Araber verfälscht werden (Bl. biijr). Bedingung des Fortschritts ist die Rückkehr zu den Schriften der Alten. Brunfels versteigt sich, wo er seine Orientierung an antiken Autoren begründet, sogar zu der Behauptung, es gebe nichts, was nicht schon bei jenen Alten gefunden werden könne: So dann ye nichts newes ist j vnd alles das wir für new achten / alt gewest ist / wie auch Salomon spricht in seinen Prediger j ist es dann nit besser ich zeyge an wo har ichs genommen (Bl. cyf). Das Postulat dauernden Fortschreitens wird durch das der Wicdcrentdekkung des einstmals Gewußten überlagert. Der Prozeß unablässiger Beobachtung läßt sich dabei allerdings mit dem Modell der >Zwerge auf den Schultern von Riesen< nicht mehr fassen, weil es keine >Riesen< gibt, sondern nur die Kette grundsätzlich gleicher Informanten. 39 Es ist bezeichnend, daß zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Metapher kritisiert wird: neque nos sumus nani, nee illi homines gigantes, sed omnes eiusdem staturae (Juan Luis Vives, De causis corruptarum artium). An die Stelle der statischen Vorstellung des herausgehobenen Standortes, von dem aus man weiter sieht, tritt die prozcßhafte einer dauernden Anstrengung, durch die die >Neuen< mit den >Alten< wetteifern müssen um weiterzukommen, wie diese weitergekommen sind. Vivcs fährt nämlich fort: 37

Mag sein / das sye auch nicht alle ding gewisßt haben j gleicher weyß / wie wir dann sehen / das sich die anderen ding veränderen j vnd ye die geberung eynßen / ein Zerstörung des ändern (wie Aristoteles spricht) (Bl. biiif). Die Mängel der Alten rühren auch daher, daß sie z. B. nur das mittelmeerischc Klima kannten, daß sie ihnen allzu Geläufiges nicht näher beschrieben und daß manches damals Vorhandene inzwischen verschwunden ist (Bl. biiij'). 38 Weil nämlich damals zuerst sich eine falsche Tendenz in der Heilkunst durchzusetzen begann (Composita vs. Simplicia), die dann den plunder (Bl. bij") der arabischen Medizin hervorrief. 39 Walter Haug, Die Zwerge auf den Schultern der Riesen. Epochales und typologischcs Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen, in: Epochenschwelle (Anm. 2), S. 167-194.

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maneat modo in nobis, quod in illis Studium, attentio animi, uigilantia, et amor wen: quae ut absint, iam non nani sumus, nee in gigantium humeris sedemus, sed homines iustae magnitudinis humi prostrati.™ Die ethische aemulatio garantiert dauernden Wissensfortschritt. Wo sie aussetzt, herrscht Stillstand. Unter dieser Prämisse verträgt sich der Fortschritt mit der humanistischen Vorstellung einer zeitweiligen Verdunkelung des Wissens. Brunfels bemüht sich, die Spannung zwischen dem wissenschaftsinternen abgang und dem allgemeinen kulturellen Verfall abzubauen und dadurch unterschiedliche historische Prozesse zu synchronisieren. Dabei setzt sich das humanistische Wiedergeburtsdenken als Leitmodell durch. An ihm ist nicht nur beliebige Veränderung, sondern Epochenwandel ablesbar. Diese Synchronisation zivilisatorischer und disziplinenspezifischer Abläufe41 — Bedingung für den Erfolg des triadischen Geschichtsmodells — läßt sich auch in der Auseinandersetzung um den Rang mittelalterlicher Autoren beobachten. Der Straßburger Arzt Michael Herr setzt sich 1546 in seinem Buch über die vierfüßigen Tiere mit der Autorität des Albertus Magnus auseinander. Hintergrund ist die kurz zuvor erschienene Übersetzung der >Historia animalium< durch Walther Ryff, ein Konkurrenzunternehmen also.42 RyfF kann sich auf die lange unumstrittene Autorität des >Empirikers< Albertus berufen. Dagegen macht Herr geltend, es sei töricht, sich auff eynigen menschen zuuerlassen j als ob alles was er sage j eittel gwiß vnd angezweifelte warheyt sey / so doch keyner ye geschriben hat / dem nit etwas gemanglet hett (Bl. Aiijv). Wissen wird — wie schon bei Brunfels — sukzessive und von vielen akkumuliert. Insoweit dürfte es keine Überlegenheit der >Altem gegenüber den >Neuen< geben. In der Tat ist vnleügbar / das fal j mangel vnd irrthumb den vralten gelerten / ich sag / sinnreichen natürlicher ding erkündigern / als Aristotele j Plinio j vnd garnahe allen so ye geschriben haben / zugelegt wirt / damit sy jrer blodigkeyt vnd vnuolkummenheyt jres Verstands angetast werden j die doch zu glückseligen zeytten der erßndung allerhand künsten gewesen vnnd gelebt haben (ebd.). Die grundsätzliche Fehlbarkeit wirkt sich also je nach Epoche unterschiedlich aus: Ein Alexander konnte alle Kenntnisse über Tiere in seinem riesigen Reich sammeln lassen, um Aristoteles eine Grundlage für seine Naturgeschichte zu verschaffen, während solche erfarnis von vnzalbaren anzeygern 40

Nach Bück (Anm. 35), S. 84f.; der erste Teil des Zitats auch Haug (Anm. 39), S. 169. Es handelt sich um relativ einfache Geschichtsbilder. Daneben gibt es den für jede einzelne Disziplin geführten Vergleich zwischen >alt< und >neuAlt< und >neu< in der Epochenerfahrung um 1500

(Bl. Av r ) zur Zeit des Albertus unmöglich war. Daher komme es — mit Plinius — darauf an, zu welcher zeit der mensch / so eyns fürtrefflichen angebornen Verstands ist j geboren werde (Bl. Aiiijv). Die rauhe vnnd vnartige zeyt begrenzte die Wirkungsmöglichkeiten des Albertus (Bl. Aiiijr),43 eine Zeit allgemeinen kulturellen Niedergangs, an dem vor allem der Verfall der alten Sprachen schuld ist: da alle gutte künst in cym grossen abfall gwesen seind / grosser mangel der alten bucher / die obgemelten spraachen in eynen misßbrauch kummen / mit groben Barbarischen spraachen besudlet / vermischet / vnd jnen selbs vngleich gemacht / vnd am aller meysten die Latinisch spraach / darauß der gut Albertus Magnus sein gantz fundament aller seiner künst vnnd Schreibens hat. Deßgleichen auch alle andere handkünst / als Maler / Goldschmid / Steinmetz etc. gantz vnd gar geschändet / die Religion des rechten Christenlichen glaubens / mit allerley aberglauben / Secten vnnd greüweln in grund verderbt / vnd gantz vnd gar vmbkert / welches alles vmb der sünden willen geschehen ist. (Bl. Aiiij1)

Herr entwirft das Gesamtbild einer Epoche, in der alles zusammenhängt, auch die Fähigkeit zu entpßndtlicher erfarnis mit der sprachlichen Bildung.44 So ist die Naturkunde in das triadische Periodisierungsschema integrierbar, ohne auf antikes Wissen eingeschränkt zu werden: Günstige historische Umstände vorausgesetzt, kann neue erfarnis ergänzen, was etwa ein Aristoteles nit erfaren hat (Bl. Av r ). Erst die Gegenwart hat darin die Antike wieder erreicht: wenn die geburt Alberti biß zu disen vnsern zeytcn erstreckt worden wer / bey solchen gnadreichen gaaben vnsers alters / deren er gemanglet hat / solt er in zierlicheyt der red / beyder Griechischer vnd Latinischer sprachen / vnd erkündigung der künsten vnd weißheyt / den Alten sich wol verglichen haben / so er solche schwere ding der Griechen vnd Latincr so wol / doch in duncklem Latein / ergriffen hat. (Bl. Aiiif)

Es deutet sich eine Qucrcllc des anciens et des modernes an, in der auch dem Mittelalter seine relative Bedeutung zugestanden wird, indem der Gedanke eines dauernd fortschreitenden Wissens sich mit dem einer zyklischen Wiederkehr kultureller Blütezeiten verbindet.45 Das triadische Geschichtsmodell der Humanisten reduziert Komplexität. Das unterscheidet es von der diversitas temporum, die spätmittclalterliche Autoren 43

Unter dieser Voraussetzung kann Herr die wissenschaftlichen Leistungen des Albertus, etwa als Bearbeiter und Kommentator des Aristoteles, rühmen. 44 Der Grund für Blüte oder Niedergang wird daher in kosmischen Determinanten gesucht, so für die Antike eyn seer guter eynfiuss des himmels vnd der Sternen j welche ding zu satter vnnd warer erkantnis j grossen bescheyd j bericht vnd verstand geben (Bl. Aiif). 43 Vgl. Bück (Anm. 13), S. 113 zur Überlegenheit der mittelalterlichen Philosophie (Benedetto Accolti, um 1460); S. 117—119 zu Alessandro Tassonis >Paragone degl'ingegni antichi e moderniGermania< des Tacitus nahegelegt. Am Bild des Tacitus vom >alten Deutschland< ist der Epochenwandel ablesbar.49

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Schreiner (Anm. 7), S. 415—426; conditiones et status quotidie variantur (15. Jh., zitiert nach Schreiner, ebd., S. 415). 47 Gössmann (Anm. 7): Basis können z. B. sein der Gegensatz heidnisch-antik vs. christlich; Altes Testament vs. Neues Testament; patres (Kirchenväter) vs. spätere christliche Autoren; Zeitgeschichte vs. eine drei bis vier Generationen zurückliegende Vergangenheit; »verschiedene Stufen der Rezeption der aristotelischen Logik« bzw. »die spätmittelalterlichen Bezeichnungen »via antiquavia modernaAlt< und meu< in der Epochenerfahrung um 1500

Ein solcher Vergleich ist freilich auf zwei Ebenen möglich: einer kulturellen und einer moralischen. Kulturell ist der Fortschritt gegenüber der Antike unübersehbar;50 in moralischer Hinsicht läßt das taciteische Idealbild archaischer Sittenstrenge beim Vergleich mit der Gegenwart nur den Schluß zu, daß Geschichte als unaufhörlicher Verfall zu deuten ist.51 Doch taugt der Vergleich auch zu doppelter Polemik, mit der die deutschen Gelehrten den Vorwurf der Barbarei gegen seine italienischen Urheber kehren: der einstigen Größe Italiens tritt ein blühendes Deutschland heute entgegen, dem moralisch korrumpierten Stammland der litterae politiores eine tacitcisch tingicrte Rauheit der Sitten. Wichtiger als die Konfrontation moralischer Provinzen war für das zeitgenössische Epochenbewußtsein der Vergleich kultureller Errungenschaften einst und jetzt.52 Sebastian Münster stellt seiner >Cosmographia< (zuerst 1544) einen Abriß der zivilisatorischen Entwicklung voraus, denn die erkanlnuß des Erdrichs hat sich unablässig verändert. Geographie hat eine historische Dimension.53 Der Vergleich mit der Antike hat, wie bemerkt, einen moralischen und einen zivilisatorischen Aspekt. Dabei verschmilzt eine vorzivilisatorische Urzeit, stilisiert in der Tradition des Goldenen Zeitalters:54 eine Welt ohne Geld, Handel, Gewerbe, Privatbesitz, Krieg, mit einer älteren Zivilisation in historischer Zeit, gekennzeichnet durch Unordnung und Mangel: Dann da das Erdrich ohn baw vnd arbeit nicht mehr Nahrung bracht / darzu andere mehr mangel vnder den Menschen entstunden / vnd die wilden Thier vnd außlendigen Menschen begunten auff den Raub zu lauffen: da haben sich die Menschen zusammen gethan / vnd gemeine hulff zusammen getragen [. . .] vnd haben ange5

"Joachimsen (Anm. 49), S. 704f. Diese Vorstellung ist durchgängig die negative Folie des Wiedergeburtsmodells; ihr locus classicus ist ein Wort des Lucrez (De rerum natura II, 1150-52; V,826f.), daß sich die Natur durch viele Geburten erschöpft habe. Virulent wird sie im Dekadenzbewußtsein der Spätrenaissance (Bück [Anm. 13], S. 116, und vor allem Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982 [Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3], S. 67—112). Doch bestimmt sie auch die Endzeiterwartung der Reformation. 52 Vgl. Gerald Strauss, Sixteenth-Century Germany. Its Topography and Topographers, Madison 1959. 53 Daneben ist sie Hilfswissenschaft der Historic: ja die Historien gründen sich auch auff diese Kunst / vnnd ohn sie mag niemand ein History ordenlich beschreiben / oder auch recht verstehn (Sebastian Münster, Cosmographia, Das ist: Beschreibung der gantzen Welt [. . .], Basel 1628, Faksimile Meisenheim 1984, (Bl.):(iij v ). 54 Diese Vermischung kennzeichnet auch die deutsche Tacitus-Rezeption (vgl. Joachimsen [Anm. 49], S. 706). - Auch die Vorstellung einer Blütezeit, die die verlorene Kultur der Antike wiederherstellt, wird häufig von derjenigen des Goldenen Zeitalters überlagert: Fritz Schalk, Das goldene Zeitalter als Epoche, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 114 (1963), S. 85-98. 51

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fangen jhnen zuzueignen bestimpte orter vnd gemarckt des Erdtrichs / haben beyeinander jhre Hütten auffgericht / vnd Volcklich oder bürgerlich mit einander angefangen zu leben [. . .]. Vnd zu letst haben sie sich nicht allein mit dem Feld vnd Vieh / sonder auch mit mancherley erfundenen Handwercken vnd anderer Arbeit / ernehret. [. . .] Sie haben sich forthin gebraucht der Vernunfft vnd Leibskrefften: vnd haben das Erdrich so mit dicken Waiden vberzogen / mit schädlichen Thieren erfüllt / vnnd mit grossen Lachen oder Pfützen vngebawen vnd wüst lag / mit klugheit vnnd arbeit gesäubert von den Steinen / von den holtzenen Blochern vnd vberflussigen Wassern / haben es eben / fruchtbar vnd hübsch zugerichtet. [. . .] Also ist das Erdrich nach vnd nach so gar durchbawen worden / mit Stetten / Schlossern / Dörflern / Ackern / Wiesen / Weingarten / Obsgarten / vnd dergleichen dingen / daß es jetzund zu dieser zeit ein ander Erdrich mocht genennt werden / wann man es rechnen wolt gegen der wilden form vnnd gestalt / so es zu den ersten Zeiten gehabt hat. Es sind auch durch die Menschen mit der zeit erfunden viel sinnreicher Künsten / die sie in Geschafften jhren Nachkommnen haben verlassen: ettliche aber sind zu grund gangen. Vnd also siehst du / daß die Welt in ein gar hübsche Ordnung gebracht ist / weder sie vorhin gehabt hat. (Bl. ):(iiif) Die gegenwärtige Ordnung basiert auf der Überwindung eines durch Mangel gekennzeichneten Naturzustandes: Hießndest du j55 wie man zu vnsern Zeiten also scheinbarlich vnd Burgerlich vndereinander in den Gemeinden lebt j weder zu alten vnnd ersten Zeiten j da die Menschen auff der Erden schlecht / einfeltig / ja frech vnd roh lebten (Bl. ):(iij v ). Arbeit verwandelt die Welt in eine Kulturlandschaft: Ich sprich / nach jetziger Gelegenheit: nit daß das Erdreich durch andere Eynwohner verwandlet werde: (dann es bleiben für vnd für in einem wesen / eines jeden Landts grosse Berg vnnd Thaler / fliessende Wasser vnnd stillstehende See /) aber der baw des Erdtrichs verendert sich stats in Statt vnnd Flicken / darzu in fruchtbarkeit vnnd newen eynflussen des Himmels: ich geschweig der manigfaltigen Regierungen / Sitten vnd Gebrauchen der Eynwohnern. Nimm für dich vnser Teutschlandt: so wirst du finden / daß es zu vnsern Zeiten gar viel ein andere gestalt hat / weder es vor zwolff hundert jähren gehabt / da es Ptolomeus beschrieben hat / vnd vor jhm Strabo. (Bl. ):(iiij v ) Heute ist Deutschland nicht minder erbawen / dannjtalia / oder auch Gallia. Daher seien für jedes Land zweyerley Tafeln nötig, aber auch nur zwei: die alten / vnnd die neu>en.5(> Die dauernde Veränderung wird in zwei Epochen->Tafeln< gewissermaßen stillgestellt und dadurch der Abstand zwischen einst und jetzt ablesbar. Dabei muß die Erforschung der neuen Welt immer weitergehen, denn die 55 56

cj; Druck: ßndest du (. Die alten j so Ptolemeus j Strabo / vnd Cornelius Tacitus / beschrieben haben j zeigen an / was für Volcker vnd Wohnungen zujren Zeiten in einem jeden Land sind gewesen: vnd weil dieselbigen jetzund mehrer theils in ein abgang oder verenderung kommen sind / hat von nothen seyn wollen / durch newe Tafeln / die gelegenheit der Welt vnnd eines jeden Lands anzuzeigen / weil man damalen hat mögen beschreiben diefrembden Lander / die zu vnsern Zeiten nit wol mögen durch wandert werden (Bl.):( vr).

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antiken Geschafften bieten ja nur die Folie, von der sich das immer >Neue< abhebt.57 Die Vorstellung eines gerichteten Wandels wird allerdings wieder durchkreuzt von der älteren des Auf und Ab menschlicher Geschichte. Der Vorgang der Zivilisation ist zeitlich so wenig fixiert wie in den alten Kulturmythen, kann daher gar nicht als ein historischer Prozeß strukturiert werden. Auch ist seine Bewertung nicht eindeutig, denn von Anfang an begleiten ihn negative Entwicklungen: Der Feind des Menschengeschlechts habe gar bald seinen Samen dareyn geseet, habe Laster, ein Verlangen nach Wissen, das den Menschen nichts angeht, Orakel, Abgötterei, den Islam entstehen lassen (Bl.):(iiij r f). All dies sind weniger Elemente eines historischen Prozesses als Manifestationen einer dem zivilisatorischen Fortschritt eingeschriebenen, aus religiös-moralischer Perspektive negativ bewerteten Gegenbewegung. So bezieht Münster, vor allem in seiner Widmung an König Gustav von Schweden (1555), den Gesamtverlauf der Geschichte doch letztlich wieder zurück auf einen kosmischen Rhythmus, der sich zwar in der Zeit realisiert, doch grundsätzlich überzeitlich ist, denn sein Urheber ist Gott.58 Der Aufstieg des einen Landes vollzieht sich parallel zum Abstieg des anderen: Die Weltreiche sind ebenso untergegangen wie das von Milch und Honig fließende Heilige Land oder die Kultur Griechenlands (Bl. ):(ij r )· 59 Dauernder Wandel in der sublunaren Sphäre soll den Menschen mahnen, sein Hertz nicht auffs Zergdnglich l sondern auff das Ewig zu schlahen (Bl.):(ij v ). So bleibt die Erfahrung des epochalen Abstandes zwiespältig: einmal wird er erklärt durch die Vergänglichkeit alles Irdischen, ein andermal durch zielgerichtete Arbeit, die die Oberfläche der Erde verändert, gesellschaftliche Institutionen schafft, Künste und 37

Münster beschränkt sich nicht auf das Studium der Bücher, sondern sieht sich auch vnder den newen um und erkundigt sich bey Fürsten vnd Herren / grossen vnnd kleinen Statten j jtem bey fielen herrlichen vnd gelehrten Männer, denn bei der Kürze des Lebens kann niemand alles mehr selbst sehen, erst recht wo die politische und konfessionelle Zersplitterung Autopsie hindert. Sein Briefwechsel belegt, wie geographische Forschung als Gemeinschaftsunternehmen organisiert wird, zu dem Obrigkeiten und Gelehrte aus allen Gegenden etwas beitragen: ein prinzipiell unabschließbarer Prozeß, in dem >alt< und >neu< sich immer nur vom gerade erreichten Standpunkt aus definieren lassen (vgl. Briefe Sebastian Münsters. Lateinisch und Deutsch, hg. u. übers, v. Karl Heinz Burmeister, Frankfurt a. M. 1964, S. 167). 38 Dies kompt von der Handt Gottes: der gibt vnd nimmet nach seinem Gefallen [. . .] Daher kompt es j daß ein Königreich abgeht j vnnd das ander auffgeht: ein Landt reich wirdt j vnd das ander verdirbt: ein Statt zunimmet / vnd die andere abnimmet: ein Herrschafft außstirbt j vnd die andere aujfsteht: vnd in summa / vnder dem beweglichen Himmel nichts bestandig bleibt / alles der Wandelbarligkeit vnderworffen _ ist (Bl.):(ij"). 39 Vgl. jedoch auch die allgemeine Vorrede, in der im übrigen das Interesse an Deskription historischer Veränderungen sich gegenüber dem alten moralistischen Vorbehalt durchsetzt: Das widerspiel findest du im Heyligen Land: das zu vnsern Zeiten gar nahe oa vnd wüst ligt / aber vor Zeiten alle Lander der Erden in fruchtbarkeit vbertroffen (Bl.):( v r ).

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Wissenschaften zur Blüte bringt und deren Ergebnisse ablesbar sind im Vergleich zwischen antiker und gegenwärtiger Welt.60 Die Konkurrenz religiös-moralischer und zivilisatorischer Wertung verschärft sich bis zum offenen Widerspruch in Sebastian Francks >Germaniae Chronicon< (1538), wo Franck wieder das taciteische Deutschland mit der jetzigen Blüte vergleicht: Die Deutschen haben ihren kulturellen Rückstand aufgeholt, also das es jn ietz an leudseligkeyt / wolerbawen stetten j anschienen / künsten / redlichen thatten j weysen reden / Bewerben niemant vorthut / vnnd die leisten die ersten worden.61 Grund ist zwar auch das Wirken des Menschen, hauptsächlich aber Gott, der die Verachteten stets aus dem Staub hebt. Daher kann Franck in seinem Lob Deutschlands zivilisatorische Errungenschaften — Produkte menschlicher Tätigkeit — mit natürlichen Vorzügen — Gaben des Schöpfers — in einem Atemzug nennen: Vber das ist ietzt Germania also vonn Gott begnadet / begäbet vnnd erhocht / das sich keinn Nation icht rhumen mag / des sich nit alleyn teuschs landt / das alle landt besonders habenn / alles rhumen möge / langwiriges treyd / gutter gesunder wein / lufft / volck / fruchtpar / volckreich land vnnd leut / all künst auffs höchst / also das bede truckerey vnd buchssen giessen vnd noch vil mehr Germania erfunden hat / vnnd noch taglich new land / welt vnnd künst erfmdenn. (Bl. avj v )

Der Aufstieg, dank dem ietz Germania auch den Romern kaum weicht (Bl. aaif), ist freilich, aus religiöser Perspektive betrachtet, ebenso wie der Abstieg etwa der orientalischen Weltreiche nur Folge irdischer Hinfälligkeit: Es bleibt nichts bestendig auff erden / sonnder ein reich vnd volck gehet auff das ander ab / spricht Salomon (Bl. aaiiijv). Im Sturz irdischer Größe hat der Mensch die werck Gottes zu erkennen. In dieser Perspektive sind Wissenschaft und Künste bloße Anmaßung, Handel und Gewerbe Ausgeburten des Lasters, jene kulturelle Blüte nichts, die das jetzige Germanien vor dem der Alten auszeichnen. Vor Gott gilt, daß ein land 3. heller nit besser ist als das ander j also ein volck vor Gott. Nach eusserlicher bürgerlicher art / ein volck freuntlicher / sitsamer / leutseliger vnd hoflicher ist dann das ander / so ist es doch im gmut alles gleich verderbt vor Gott (Bl. aav r f.). Die verderbte Welt taumelt ihrem Untergang entgegen.62 Franck stellt also die 60

Schreiner (Anm. 7), S. 414, zitiert aus einem Brief Münsters an den polnischen König Sigismund (1550), in dem die Beständigkeit der Landschaft der Unbeständigkeit menschlicher Verhältnisse entgegengesetzt wird: at in moribus hominum totaque hominis vita et in conatu tantafacta est et continue fit mutatio, ut hodie collatione veteris aetatis novum plane saeculum in terris videatur natum, adeo mobilis et inconstans est homo ipse in omnibus operibus suis (Anm. 57, S. 167). Es wäre im einzelnen zu untersuchen, wo moralistisch-religiöse Kritik, wo ein Bewußtsein von >Modernität< die Oberhand behält. 61 Germaniae Chronicon: Von des gantzen Teutschlands aller Teutschen volcker herkommen / Namen / Handeln / Guten vnd bösen Thaten / Reden / Rathen / Kriegen / Sigen / Niderlagen [. . .]furgestelt. Durch Sebastian Francken j zu Word, Augsburg 1538, Bl. aaiijr. 62 ... dann ich sihe das es mit der weit auß ist j das dise alt aller ergest vngelasset letst zeit / so verrucht vnd

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Erfahrung zivilisatorischen Fortschritts in eine doppelte Perspektive, indem er eine Geschichtsbetrachtung im fleische und eine im geiste unterscheidet. Für die letztere — sie gehört in den Rahmen apokalyptischer Naherwartung der >linken< Reformation — ist alle Geschichte gottfernes Affenspiel; im Rahmen der ersten aber können säkulare Veränderungen aus den Klammern geschichtstheologischer Apokalyptik befreit und in ihrer Neuheit gewürdigt werden.

Dissoziation von Bewertungskriterien Gültig ist für Franck nur die erste Perspektive. Trotzdem ließe sich an seinen historischen Schriften zeigen, wie die Bewcrtungskriterien für >alt< und >neu< auseinanderzufallen beginnen. Ohne daß das Epochenproblem ausdrücklich angesprochen würde, tritt diese Dissoziation bei Georg Agricola (Vom Bergwerck, 1557) hervor. Er verteidigt nämlich die Kunst des Bergbaus gegen alte theologisch-moralische Argumente wie: was Gott in den Tiefen der Erde verborgen habe, dürfe der Mensch nicht heraufzuholen suchen; die Metalle seien zur Erhaltung des Daseins überflüssig; die Gier nach ihnen sei schuld an Lastern aller Arten, an Krieg, Mord; sie habe einen paradiesischen Urzustand zerstört usw. Agricola zitiert solche Argumente ausführlich — mit den Worten der Alten.63 Was er ihnen entgegensetzt, ist der zivilisatorische Fortschritt, den die Ausbeutung der Bodenschätze brachte, in der Landwirtschaft, der Baukunst, den Handwerken, der Geldwirtschaft, und den die Menschen in ihrem alltäglichen Leben als ganz selbstverständlich voraussetzen. So kann Agricola zeigen: sie würden das schnodest vnd arbeitsammest leben vnder den wilden thieren füren / wo nicht die metall waren: kämendt also widerumb zu den eichlen / holtzopjflen / vnd byren / auch kreuter vnd wurtzlen j die sie außgraben vnd essen mußtend (S. xj). Religiös-moralische Verdikte, für die antike Poeten und Philosophen stehen, gelten nichts gegenüber einer zivilisatorischen Überlegenheit, selbst im Vergleich mit einem moralisch möglicherweise besseren Zustand, etwa einer Tauschwirtschaft ohne Geld: die vorzeiten bey vnerfarnen leüten imm gebrauch gwesen ist j vnd nach heut bey tag j grobe vnd vnbarmhertzige volcker gebrauchen (S. xiüj).

verwegen worden ist: der Welt ist nicht zu helfen, sie ist schellig in lauff[. . .] biß sie an den Eckstein anldufft vnd zu trimmern geet (Chronica Zeitbuch vnnd Geschichtbibell [. . .] Durch Sebastianen Francken von Word, Straßburg 1536, 131. avj r f. 63 Georg Agricola, Vom Bergwerck xij. Bucher [. . .] erstlich in Lateinischer sprach [. . .] jetzund aber verteüscht durch [. . .) Philippum Bechium \. . .], Basel 1557, Faks. Essen 1985; vgl. zu Argumentationsstrukturcn und -zielen: Hartmut Böhme, Natur und Subjekt, Frankfurt a. M. 1988, S. 78-88. 141

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Im allgemeinen wird jedoch der moralische Maßstab nicht einfach beiseite geschoben, sondern bleibt — oft ganz unvermittelt - neben der Würdigung des Neuen stehen. So erzählt Johann Fischart im >GlückhafFt Schiff von Zürich< (1577) von einer Rekordfahrt von Zürich nach Straßburg. Die eidgenössischen Schützenbrüder überbieten durch sie die Taten mythischer Heroen. Der Vergleich zwischen Gegenwart und Mythos ist zugleich einer zwischen war geschieht und falsch gdicht der Poeten (v. 84). Mit dieser Differenz der Gattungen verbindet sich die Einsicht in die historische Differenz, denn das Gelingen der Fahrt ist die Frucht von Arbeit, verstanden nicht mehr nur als labores der mythischen Heroen, sondern als weltverändernde Kraft: Dann nichts ist also schwer vnd scharff, Das nicht die arbeit vnderwarff,

Nichts mag kaum sein so vngelegen Welchs nicht die Arbeit bring zuwegen Was die faulkeit halt für vnmüglich Das vberwind die arbeit fuglich: Die Arbeit hat die Berg durchgraben, Vnd das Thal in die höh erhaben, Hats Land mitt Statten wonhaft gmacht, Vnd die Strom zwischen Damm gebracht, Hat Schif gebaut, das Mer zuzwingen Das es die Leut muß vberbringen [. . .]. (vv. 41—50)64

Die Arbeit erschließt Neues. Weren dise [d. h. die Mannschaft des Zürcher Schiffs] am Meer gesessen j So lang wer vnersucht nicht gwesen / America die newe Welt (vv. 327-329). Von diesem positiven Urteil über eine durch Arbeit und die fortschreitende Erweiterung von Kenntnissen veränderte Welt setzt sich eine moralische Bewertung von >alt< und >neu< ab: Dann was staht baß? dann wann die Jugend Nachschlagt jrer Vorfaren tugend? Dann also grünen die Statt hie Wann Tugend bleybt bei alter pluh, Aber wo auß der art man schlagt Vnd täglich newe brauch erregt, Da kumpt gewis ain Newerung Die selten eim Land wol gelung. (vv. 153—160)65 "Johann Fischart, Das Glückhafte Schiff von Zürich (1577), hg. v. Georg Baesecke, Halle 1901 (Neudrucke deutscher Littcraturwerke des XVI. und XVII. Jh.s 182). Die alte Bedeutung >Mühsal, Gefahn erlaubt den Vergleich mit den Taten der Heroen: Arbeit vndßeis, das sind die ßügel l So füren vber Stram vnd hügel (vv. 81f.). 65 Vnd wiewol heut die junge weit Für schlecht der Alten thaten hallt

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Der durch Arbeit geschaffenen und zu bewältigenden Welt stehen die alten Sitten gegenüber, die zwar einfach und roh (schlecht) scheinen, doch gegenüber der new vnrichtigkeit weiter Richtschnur sein sollen: Ir sucht die alt Gerechtigkeit, / Die ewer Alten han bereit (vv. 293f). Eine solche Gegenüberstellung gewinnt zu Ende des 16. Jahrhunderts Boden. Der technische, wissenschaftliche und zivilisatorische Fortschritt wird mit moralischem Stillstand, wenn nicht Rückschritt konfrontiert. Wilhelm Kühlmann hat jüngst einen Dialog Johann Valentin Andreaes über die Nova reperta als Indikator des Bewußtseins von Modernität zu Anfang des 17. Jahrhunderts untersucht. Dort preist der eine Gesprächspartner die neuen Errungenschaften, während ihm der andere stereotyp entgegenhält: >aber die Religion, aber die Frömmigkeit, aber die Sitten. . ,^66 Der Aufbruch in die Moderne war unübersehbar geworden — und doch in christlich-moralischer Perspektive kaum ein Fortschritt. Das emphatische Epochenbewußtsein, das die unterschiedlichsten Lebensgebiete zu Jahrhundertanfang zusammengesehen und überall den Abschied vom Alten aufgespürt hatte, zerbricht um die Jahrhundertmitte. Grund dürfte die Stagnation sein, die religionsgeschichtlich mit der Verfestigung der Orthodoxie, sozialgeschichtlich mit der Erstarrung der Ständegesellschaft in den konsolidierten Territorien, ökonomisch mit dem Niedergang Mitteleuropas zusammenhängt. Die Frühphase der Reformation war als Vollendung eines sich über Jahrzehnte fortsetzenden Aufbruchs erschienen, dessen erster Höhepunkt im Reuchlinstreit erreicht wurde. Mit der Entfremdung zwischen der Reformation und einem Teil des Humanismus und der Indienstnahme von doctrina und eloquentia durch die pietas löst sich im Rückblick die Einheit der Bewegung auf.67 Luthers Bemerkungen über Erasmus, über die Präsumption Von schlecht richtiger vmbstand wegen So solte doch dieselb erwegen Das sie durch die schlecht Richtigkeit Jren solch macht hat zubercit, Da man durch new vnrichtigkeit Heut taglich sieht entstehn groß leyd. (vv. 161-168) Vgl. auch das heroisierte Bild der Urzeit, als die Heldvatter (v. 113) dem Elsaß (Heldsaß, v. 109) seinen Namen gaben. 66 Wilhelm Kühlmann, Technischer Fortschritt und kulturelles Bewußtsein. Zur Diagnose von Modernität in der frühneuzeitlichen Literatur, in: Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie, hg. v. Hanno Möbius u. Jochen Berns, Marburg 1990, S 31-43, hier S. 38f. Ich danke Herrn Kühlmann für die Überlassung des unveröffentlichten Textes; vgl. ders., Gclehrtenrepublik (Anm. 51), S. 182-184, vgl. S. 165-188. 67 Jan-Dirk Müller, Zum Verhältnis von Reformation und Renaissance in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts, in: Renaissance - Reformation. Gegensätze und Gemeinsamkeiten, Vorträge, hg. v. August Bück, Wiesbaden 1984 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 5), S. 227-253, hier S. 237.

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der Vernunft, die Tollheit des >Epikurismus< und Melanchthons Furcht vor der Vergreisung der Welt stimmen in ihrer Skepsis gegenüber dem Aufbruch der eigenen Zeit überein. Die Reformation erscheint nicht mehr als Vollendung dieses Aufbruchs, sondern als Vorzeichen des kommenden Weltendes. Schon Melanchthons Vorrede zu Johann Carions Chronik (1531) prägt diese Tendenz; keine optimistische Erwartung des Neuen, sondern: Welt bleibt weit / darumb bleiben auch gleiche hendel jnn der weit / ob schon die personen absterbend Der desaströse Weltlauf mündet im Niedergang des letzten, des Römischen Weltreichs als Vorboten völliger Anarchie (Anordnung): Gott gebe nur gnad j das als denn der Jüngste tag bald kome / dem vnrat zu steuren (Bl. Bijv). Mit der unter Melanchthons Einfluß in Deutschland wiederbelebten Geschichtstheologie wird die Veränderung der zivilisatorischen Umwelt zur Marginalie. Hinzu kommt, daß sich im 16. Jahrhundert eine Differenzierung innerhalb der Intelligenz durchzusetzen beginnt, in der sich die Einheit der auf tradierte Schriftgelehrsamkeit verpflichteten Wissenschaft auflöst. Die hier vorgestellten Beispiele stammen überwiegend nicht aus dem Kreis der Humanisten. Sie zeigen aber, wie die Wiederentdeckung antiker Traditionen in den Humanwissenschaften das Modell auch für Erkenntniszuwachs in technischen und naturkundlichen Disziplinen abgibt. Gerade >Empiriker< wie Gesner oder Brunfels orientieren ihre Arbeiten an der Leitwissenschaft Philologie, mit deren Hilfe man einen verschütteten Schatz antiken Wissens — z. B. Plinius d. Ä., Ptolemäus, Solin — als Grundlage der eigenen Forschungen wiederzugewinnen hoffte. In dem Maße nun, in dem die frühneuzeitliche Empirie über die Tradition hinausschreitet, wird etwa Plinius in derselben Weise obsolet (besser: nurmehr ein Informant unter vielen) wie zuvor Albertus Magnus. Schon Sebastian Franck zitiert Amerigo Vespucci für die Unzulänglichkeit geographisch-naturkundlichen Wissens der Antike: Jch glaub Plinius hab den tausenten theyl der Papagey nit beschriben j so vilerley seind allda mit so v ihr ley färben vnnd angesicht.69 Wo Literaten, Historiker und Philologen sich noch um den Vorrang der Alten oder der Neuen stritten, verbreitete sich in anderen Disziplinen das Bewußtsein, die Alten hinter sich gelassen zu haben. Zur Erweiterung des Wissens war nicht mehr, wie die Naturkundler des frühen 16. Jahrhunderts betonen, vor allem Kenntnis der alten Sprachen erforderlich. Die humanistisch gebildeten Meinungsführer, zumal im geistlichen Amt, zogen daraus die Konsequenz, den Nutzen des vielfältig neu Entdeckten in Zweifel zu ziehen. Blieb nicht alles schlimm wie zuvor? Mit dieser Skepsis gegenüber dem Neuen gehörte ihnen zunächst die Zukunft. 68

Chronica durch Magistrum Johan Canon / vleissig zusamen gezogen j meniglich nutzlich zu lesen, Wittenberg 1532 [zuerst 1531), Bl. Aiif. Zu dieser Stelle auch Koselleck (Anm. 9), S. 313. 69 Weltbuch (Anm. 29), Bl. 225V. 144

FRITZ RECKOW

Zwischen Ontologie und Rhetorik Die Idee des movere animos und der Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit in der Musikgeschichte Helmut Hucke zum 60. Geburtstag

Die Formel movere animos bzw. movere affectus verkörpert eine zentrale Idee — Zielsetzung und Legitimation — humanistischen Musikdcnkcns wie humanistischer Musikpraxis. In ihr manifestiert sich für Autoren wie für Komponisten der frühen Neuzeit der Gedanke — und der Wunsch —, die legendären ethischen Wirkungen der Musik wiederzubeleben, wie sie aus der Antike berichtet werden. Und dieser Wunsch ist — mit einer Formulierung von Daniel Pickering Walker — »die eigentlich treibende Kraft hinter [musikalischcrj Theorie und Praxis der begeisterten Gruppe von Humanisten«. Gemeint ist eine musikalische »Kunst, die die Leidenschaften erwecken und beherrschen, die Tugend einprägen und bewahren, sogar Krankheiten heilen und den Bestand des Staates sichern« soll.1 Als eine der wichtigsten Voraussetzungen solcher Wirksamkeit gilt, in erklärter Anlehnung an Platos >Politeia< (398c-d), die Unterordnung der Musik unter den Text: um auf animus bzw. auf affectus erfolgreich einzuwirken, hat der Komponist — grob zusammengefaßt — ebenso auf die Verständlichkeit wie auf die Wahrung der poetischen (metrischen und formalen) Gestalt des Gcsangstextes zu achten und darüber hinaus auf Interpretation und Intensivierung der Aussage mit musikalischen Mitteln hinzuarbeiten. Vornehmste Aufgabe des Musikers ist es, »to imitate human passions«, um diese eben dadurch auch beim Hörer selbst zu erregen.2 Das Modell hierfür ist folgerichtig die wirkungsorientierte Disziplin der Rhetorik, die Lehre vom affektbezogenen >Bewegen< und >HinreißenVersprachlichungRhetorisierungRhetorisierung< der Musik zugleich als wesentliches Kriterium für einen fundamentalen musikgeschichtlichen Wandel gilt, der im Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit lokalisiert wird. Die Expressivität des als prononciert rhetorisch und affekthaft< betrachteten >Stils< jener Zeit wurde geradezu als das entscheidende Symptom einer — im Vergleich mit dem Mittelalter angeblich neuartigen — >Vermenschlichung< der Musik hingestellt: als ein Symptom, das für die Musikgeschichtsschreibung denn auch weniger einen (unauffälligen) >Übergang< als vielmehr eine deutliche »Epochenzäsur«, einen regelrecht »epochalen musikalischen Umschwung«, ja »dramatic changes in music« markieren sollte.4 Solche Behauptung einer tiefgreifenden Epochenzäsur aufgrund einer angeblich neuartigen >VersprachlichungRhetorisierungVermenschlichung< der Musik hat zugleich das herkömmliche Bild vom musikalischen Mittelalter — das in mancherlei Hinsicht nur als konstruiertes Gegenbild zur historisch näheren und musikalisch vertrauteren Renaissance bezeichnet werden kann - weiter bestätigt und verfestigt: »In der Musik dieser Generation [sc. der um 1450 Geborenen] müßte sich [. . .] jener Wandel vollzogen haben, welcher die einstige Autonomie des Musikalischen gegenüber dem Text einschränkte, um schließlich eine Art von >Versprachlichung< der großen polyphonen Musik an einem Zeitpunkt herbeizuführen, der zugleich den Zenit des Humanismus bezeichnet.« Es sei vor allem Josquin Desprez gewesen, der die Musik »aus mittelalterlichem Befangensein« — an anderer Stelle ist gar von »abstrakt-musikalischem Scholastizismus« (was immer dies sein mag) die Rede — »in eine neue Epoche herüberleitete«.5 und Struktur in der Musik der Renaissance, Kassel [usw.] 1989; F. Alberto Gallo [u. a.], Italienische Musiktheorie im 16. und 17. Jahrhundert: Antikenrezeption und Satzlehre, Darmstadt 1989 (Geschichte der Musiktheorie 7). 4 Vgl. Hclmuth OsthofF, Der Durchbruch zum musikalischen Humanismus, in: International Musicological Society, Report of the Ninth Congress New York 1961, Kassel [usw.] 1962, Bd. II, S. 31-39; Buelow, Rhetoric (Anm. 2), S. 793. 3 OsthofF, Durchbruch (Anm. 4), S. 32, 36 und 39. Fast gleichzeitig bekräftigt Friedrich Blume an prominenter Stelle: »Zu den grundlegenden geschichtlichen Errungenschaften des Zeitalters gehört ferner das vollkommen neuartige Verhältnis, das die Musiker zur Sprache, zum Wort und zum Vers, zur Prosodie und zum Metrum, zum Vorstellungs- und Gefühlsinhalt ihrer Texte fanden. Die Musiker des Mittelalters hatten keine unmittelbare Beziehung zu ihren Texten gehabt: das Verhältnis zwischen Wort und Ton war indifferent geblieben. So ziemlich jeder Musik ließen sich so ziemlich alle beliebigen Worte unterlegen« (Renaissance, in: MGG, Bd. 11, 1963, Sp. 276). Das charakteristisch emphatische Vokabular findet sich auch bei Rolf Dammann: »Ein Abstand von der mittelalterlichen Vorstellungswelt zeigt sich in dem durchgreifenden Humanisicrungsvorgang, der die europäische Musik und Musikvorstellung bestimmt [. . .]. Eine die Musik durchherrschendc Vcrmenschlichung ihres Verlaufsgeschehens fuhrt zum Abbau

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Zugegeben: diese stark pointierenden und geradezu holzschnittartig vereinfachenden Sätze sind vor fast dreißig Jahren für einen programmatischen Kongreßvortrag geschrieben worden. Das darin manifeste Geschichtsbild freilich kehrt beispielsweise noch in einer Abhandlung von Klaus Hortschansky wieder, die erst vor wenigen Monaten publiziert worden ist. Mit entwaffnender Selbstverständlichkeit heißt es hier: »Allgemein ist man der Ansicht, daß im Zeitalter der Renaissance und des Humanismus die Frage der Darstellung der einem Text innewohnenden Affekte zu einer neuen Aufgabenstellung für den Komponisten geworden ist. Denn Tatsache ist, daß die Behandlung der affektmäßigen Wirkungen von Musik in der Musiktheorie des Mittelalters eine nur geringe Rolle spielte, nachdem Aristoteles, Thomas von Aquin und die christliche Askese für eine Mäßigung oder gar Unterdrückung der Affekte eingetreten waren.« Habe die Musik »ihre Legitimation« im Mittelalter doch »vor allem [erhalten], indem sie die Harmonie des Seienden, des Ewigen, des Universalen widerspiegelte«. Erst in der Renaissance habe sich mit der angeblich neuen »Bestimmung des Arfcktcharakters der Musik« ein Vorgang von grundsätzlicher historischer Bedeutung vollzogen, den auch Hortschansky noch ohne Zögern als »>Humanisierung< von Musik« preist.6 Frieder Rempp schließlich hat das vertraute Klischcebild des musikgeschichtlichen Übergangs vom Spätmittelaltcr zur frühen Neuzeit jüngst auf die griffige Antithese gebracht: »Die Musik wandelt sich im 15. und 16. Jahrhundert vom Widerklang einer vermeintlich ewigwährenden Harmonie zum Ausdruck menschlicher Affekte, von einer rational-objektiven Tonsprache zu einer emotional-subjektiven Gefuhlssprache.«7 Die folgenden Überlegungen greifen das Thema der musikgeschichtlichen >Epochenzäsur< zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit auf und wollen einmal mehr der Frage nach Angemessenhcit, Aussagefähigkeit und Gewicht der eingeführten Erklärungsmodelle und Abgrenzungskriterien im Spannungsfeld von Ontologie und Rhetorik nachgehen. Dabei soll zunächst exemplarisch dargelegt werden, daß (und wie) die Idee des movere animos und das Problem ihrer praktischen Realisierung schon seit dem frühen Mittelalter Autoren wie der transzendenten Vorstellungen des Mittelalters« (Der Musikbegriff im deutschen Barock, Köln 1967, S. 96). Wie wenig die etablierten Kriterien zur Epochenscheidung taugen, wird unfreiwillig in der Bezugnahme auf den (>GrcgorianischcnStimmstrom< (Besselcr) prägt diese Musik, deren Grundzug sich am Melos des Chorais orientiert« (ebd.): der stilistische Umbruch hin zur epochemachend humanistisch-neuzeitlichen >Vermenschlichung< der Musik soll u. a. darin zum Ausdruck kommen, daß sich der Komponist das Melos ausgerechnet des mittelalterlichen Chorais zum Vorbild nimmt. 6 Klaus Hortschansky, Musikwissenschaft und Bedeutungsforschung. Überlegungen zu einer Heuristik im Bereich der Musik der Renaissance, in: Zeichen und Struktur (Anm. 3), S. 78—80. 7 Frieder Rempp, Bemerkungen zum Selbstverständnis der italienischen Musiktheorie im 16. Jahrhundert, Musiktheorie 4 (1989), S. 107.

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Komponisten beschäftigt — beunruhigt, aber auch inspiriert — hat. Denn der Sache nach war das theoretische wie praktische Bemühen um wirksamen AfFektausdruck im 15./l6. Jahrhundert nichts weniger als neu: in der Komposition ist es seit dem frühen Mittelalter manifest, und auch die antiken Theorien und Berichte, auf die sich die Humanisten bezogen, waren vor allem dank der Vermittlung des Boethius im Mittelalter (zumindest in den Grundzügen) bekannt und bildeten bis ins Spätmittelalter zugleich eine permanente Herausforderung an theoretische Bewältigung wie praktische Verwirklichung.8 Diese Behauptung (die im folgenden näher zu belegen sein wird) enthält auch bereits eine partielle Antwort auf die Frage nach Traditionsbewußtsein und TraditionsverhaltenWahl< einer damals besonders prestigeträchtigen Tradition: einer Tradition, die im Sinne selbstbewußter aemulatio mit dem Ziel der »renaissance of the Standards of culture in music« schlechthin wiederbelebt werden sollte.9 Nicht ein Defizit theoretischer Überlieferung aus dem Mittelalter, sondern eher das verbreitete Pauschalverdikt über jenes >barbarische< Zeitalter dürfte dazu veranlaßt haben, die propagierenswürdigen Ideen über das movere animos nicht der unmittelbar vorangehenden Texttradition, sondern den Schriften der antiken Autoritäten zu entnehmen — obwohl diese mit konkreten Ratschlägen weit weniger aufwarten konnten als die Abhandlungen des Mittelaltcrs (ganz zu schweigen von nachvollziehbaren Beispielen praktischer Verwirklichung). Trotzdem wäre es im Rahmen einer historischen Interpretation jenes musikgeschichtlichen >Übergangs< unangemessen und unzureichend, sich mit der 8

Mit Blick auf den von GiosefFo Zarlino 1558 behaupteten »radikalen Gegensatz zwischen >hödistcr Erhabenheit (somma altezza) der antiken Musik und >tiefster Niedrigkeit (infima bassezza) der mittelalterlichen« hat soeben auch Klaus-Jürgen Sachs betont: »Für den Bereich der Musikanschauung ist es, trotz solcher Äußerungen, nicht möglich, von einem Anbruch >neuer< Ideen und einer vorangegangenen Periode der Dürftigkeit zu sprechen. Zu gewichtig und ungebrochen wirkten antike Lehren im Mittelalter, und zu direkt flössen sie ins 15./16. Jahrhundert ein, als daß eine Kontinuität zumindest in den tragenden Grundgedanken geleugnet werden könnte« (Theorie und Praxis, in: Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts [Anm. 3], Bd. 3/1, S. 129f.). — Boethius eröffnet seine >Institutio musica< programmatisch mit einem Kapitel (Proemium) über den Zusammenhang von musica und moralitas', die einschlägige antike Literatur wird hier ausführlich referiert (ed. Gottfried Friedlcin, Leipzig 1867, S. 178—189). 9 Vgl. Leo Schrade, Renaissance: The Historical Conception of an Epoch (1952), wieder in: L. S., De Scientia Musicae Studia atque Orationes, hg. v. Ernst Lichtenhahn, Bern/Stuttgart 1967, S. 324. Siehe auch Ludwig Pinschers zustimmende Auseinandersetzung mit Schrade in: Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts (Anm. 3), Bd. 3/1, S. 8f. 148

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Feststellung substantieller Gemeinsamkeiten zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit zu begnügen und auf die Behauptung weitreichender Kontinuität zurückzuziehen. Denn seit langem sind stilistische, ästhetische und methodische Veränderungen konstatiert worden, die - ungeachtet aller Kontinuitäten doch zugleich auf einen tiefgreifenden, ja prinzipiellen Wandel hinweisen, den Ludwig Pinscher denn auch ausdrücklich als >Paradigmenwechsel< versteht.10 Zwar läßt sich der >Übcrgang< — entgegen einem landläufigen Geschichtsbild — schwerlich im Sinne einer dezidierten Ablösung ontologischer durch rhetorische Konzeptionen begreifen: die Gegenüberstellung z. B. von »rational-objektiver Tonsprachc« (»Musik als Sinnbild einer höheren Ordnung«) und »emotional-subjektiver Gefühlssprachc« (Musik als »Sprache menschlicher Affekte und Ausdrucksweisen«)11 wird der sachlichen wie historischen Komplexität auch nicht annähernd gerecht. Denn zum einen kennt schon das frühe Mittelaltcr ein stimulierendes Wechselverhältnis zwischen ontologisch und rhetorisch orientiertem Musikdenken — die Dynamik mittelalterlicher Musikgeschichte ist nicht zuletzt auf die permanente Herausforderung zur theoretischen wie praktischen Bewältigung dieses Wechselverhältnisses zurückzuführen. 12 Und zum ändern sind Musikdcnken und Komposition auch noch in der Neuzeit durch ein — freilich kompliziertes und schwer durchschaubares — Spannungsverhältnis ontologisch und rhetorisch begründeter Ideale und Argumente geprägt. Konzeptuelle >Oppositionenprima prattica< nicht abgelöst, aber relativiert und zurückgedrängt wird — in einem Prozeß, der gleichsam unterschwellig schon um 1500 beginnt, als >Paradigmenwechsel< aber erst um 1600 ganz deutlich wird.« 11 Rempp, Bemerkungen (Anm. 7), S. 106-108. 12 Einige — sehr vorläufige — Hinweise bei Fritz Reckow, Zur Formung einer europäischen musikalischen Kultur im Mittelalter: Kriterien und Faktoren ihrer Geschichtlichkeit, in: Gesellschaft für Musikforschung, Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Bayreuth 1981, Kassel [usw.] 1984, bes. S. 18-29; ders., »Ratio potest esse, quia. . .« Über die Nachdenklichkeit mittelalterlicher Musiktheorie, Die Musikforschung 37 (1984), S. 281-288, bes. S. 285-288. 13 Leo Schrade, Monteverdi: Creator of Modern Music, London 1972, S. 38—47 (»A Change to Opposition«); Gary Tomlinson, Monteverdi and the End of the Renaissance, Berkeley/Los Angeles 1987, S. 3-30 (»Oppositions in Late-Renaissance Thought«).

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Wenn der Charakter des musikalischen Wandels vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit unter dem Gesichtspunkt von Traditionsbewußtsein und Traditionsverhalten< am Beispiel der Idee des movere anitnos eingekreist werden soll, liegt es deshalb nahe, weniger an eine Ablösung der leitenden Konzeptionen als vielmehr an eine nachhaltige Veränderung in deren Verhältnis untereinander — konkret: an eine Veränderung im Verhältnis von Ontologie und Rhetorik — zu denken. Die folgenden Überlegungen wollen zur Klärung dieses Verhältnisses und seiner Geschichte beitragen. Quomodo vero tantam cum animis nostris musica commutationem et societatem habeat, etsi scimus quadam nos similitudine cum ilia compactos, edicere ad liquidum non valemus. Diese Zeilen stehen in einem kurzen Text, der vielfach als letztes Kapitel (XIX), mitunter aber auch als Prolog der um 900 verfaßten >Musica Enchiriadis< überliefert ist.14 Der Autor setzt sich in mehreren Anläufen mit der Frage auseinander, inwieweit die ratio der quadrivialen Disziplin Musica in hac vita überhaupt penetrabilis sei, nachdem er bereits eingangs die prinzipielle Begrenztheit menschlicher Erkenntnis auf diesem Gebiet dargelegt hatte: so wie Orpheus seine Euridice just in dem Augenblick wieder verliert, in dem sie videri videtur, so sehen auch wir diese ratio einstweilen nur ex parte et in enigmate.15 Der eingangs zitierte Satz bezieht sich auf die pythagoreisch-platonische Vorstellung, derzufolge Kosmos, menschliche Seele und Musik nach den gleichen mathematischen Verhältnissen zusammengefügt seien und durch diese, im Sinne eines zahlhaft geordneten Ganzen, zugleich auch zusammengehalten würden (musica mundana, humana, Instrumentalis*6). Und die im Tonsystem ma14

Musica et Scolica Enchiriadis una cum aliquibus tractatulis adiunctis, hg. v. Hans Schmid, München 1981, S. 57-59, hier S. 58 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Veröffentlichungen der Musikhistorischen Kommission 3); zur Überlieferung dieses Textes vgl. auch Michel Huglo, Le developpement du vocabulaire de \Ars Musica a l'epoque carolingienne, Latomus 34 (1975), S. 131-151, hier S. 146. 15 Ed. Schmid (Anm. 14), S. 57; Anspielung auf I Cor 13,12: Vtdemus nunc per speculum in aenigmate; tune autem facie ad fadem. Nunc cognosce ex parte . . . 16 Musica Instrumentalis meint hier nicht Instrumentalmusik*, sondern ein harmonisches Verhältnis der Tonstufen untereinander, das an den so genannten regulierten* (Ton für Ton stimmbaren) Instrumenten, also an Saiten, Pfeifen, Grifflöchern usf., abgelesen und erst in zweiter Linie auch bei deren Spiel mit dem Gehör wahrgenommen werden kann. Boethius spricht deshalb auch präzise von einer musica, quae in quibusdam constituta est instruments, von einer >Harmonie, die in gewissen [nämlich regulierten*] Instrumenten fest eingerichtet ist* (Institutio musica 1/2, ed. Friedlein (Anm. 8), S. 187, s. auch S. 189). Zum theoriegeschichtlichen Zusammenhang vgl. Fritz Reckow, Organum-Begriff und frühe Mehrstimmigkeit. Zugleich ein Beitrag zur Bedeutung des instrumentalen* in der spätantiken und mittelalterlichen Musiktheorie, in: Basler Studien zur Musikgeschichte, mit Beiträgen von Wulf Arlt [u.a.], Bern 1975 (Forum Musicologicum 1), S. 31-167, hier bes. S. 56-66.

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thematisch-proportional aufeinander bezogenen Elemente der Musik wiederum konnten — ich stütze mich auf Werner Beicrwaltes — für Plato deshalb auch »ethisch relevant« sein, weil Musik und Tanz für ihn (und seine Anhänger bis hin zu Ficino) »äußere Anzeichen einer inneren Verfaßtheit des Menschen« sind und »zugleich auf diese bildend zurückwirken]. Innerlich schön wird deshalb der Mensch nur dann, wenn er sich selbst >rhythmisiert< oder in der Geordnetheit des Kosmos das Göttliche selbst nachahmt, um es in seiner eigenen Grundhaltung durch Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Einsicht analog darzustellen«.17 Die antiken und mittelalterlichen Tonarten sind denn auch dank ihrem je eigentümlichen intervallischen Aufbau unterschiedlichen Charakteren bzw. moralischen Verhaltensweisen zugeordnet, die sie beim Erklingen bestärken bzw. frisch erregen sollen. Der Autor von Kapitel XIX der >Musica Enchiriadis< greift in dem zitierten Satz gezielt auf die folgende berühmte Passage bei Boethius zurück und stellt sich damit unmißverständlich in den Traditionszusammenhang einer ontologischen Begründung der ethischen Wirksamkeit von Musik: Cum enim eo, quod in nobis est iunctum convenienterque coaptatum, illud excipimus, quod in sonis apte convenienterque coniunctum est, eoque delectamur, nos quoque ipsos eadem similitudine compactos esse cognoscimus. Amica est enim similitudo, dissimilitude odiosa atque contraria. Hinc etiam morum quoque maximac permutationes fmnt.18 Zugleich aber nimmt er eine signifikante Modifikation vor: aus eadem similitudine bei Boethius wird nun, abgeschwächt, quadam similitudine: nur noch von einer >gewissen< Übereinstimmung ist die skeptische Rede. Und auf die Frage, wie man sich die Gemeinsamkeiten und Wechselbeziehungen zwischen musica und animus denn eigentlich vorzustellen habe, folgt die zurückweichende Antwort: edicere ad liquidum non valemus. Anstatt sich mit einer >positiven< Standardformel zufriedenzugeben, hält es der Autor eher mit seinem Gewährsmann Fulgentius und dessen um 500 verfaßter >Fabula Orphei et Euridicis< (auf deren Vorbild der Anfang von Kapitel XIX zurückzuführen ist). Diese allegorisch als artis musicae designatio konzipierte >Fabula< endet bereits bei Fulgentius mit der enttäuschten Feststellung, daß Pythagoras (mitsamt seinen Nachfolgern) eine Erklärung für die moralische Wirkkraft der Musik schuldig geblieben sei: effectus uero rationem reddere non potuit.™ 17

Werner Beierwaltes, Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Platonismus, Heidelberg 1980 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philos.-hist. Kl. 1980, 11. Abh.), S. 18. 18 Proemium I/l, ed. Friedlein (Anm. 8), S. 180. 19 Fabii Planciadis Fulgcntii V. C. Opera, hg. v. Rudolf Helm, Leipzig 1970, S. 79. Zur Überlieferungs- und Interpretationsgeschichte dieser Orpheus-Allegorie vgl. Peter Dronke, The Beginnings of the Sequence (1965), wieder in: P. D., The Medieval Poet and His World, Rom 1984 (Storia e Letteratura 164), S. 141-144.

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Fritz Reckow Dennoch ist der Autor von Kapitel XIX weit davon entfernt, die traditionelle ontologische Begründung anzufechten oder gar preiszugeben: sie wird angesichts der schwer durchdringlichcn profunditas

huius artis schlicht hin-

genommen und, in der Hoffnung auf künftige Lösung, gelassen als >Rätsel< betrachtet. Daß der Autor die tradierte ontologische Begründung akzeptiert, heißt aber noch nicht, daß er sich auch damit bescheidet. Im Gegenteil: so wenig die Musik, und zwar vom frühen Mittelalter an, ihre Legitimation und Aufgabe allein darin findet, daß sie »die Harmonie des Seienden, des Ewigen, des Universalen widerspiegelt«,20 so wenig erschöpft sich ihre Wirkkraft —jeder Boethius-Leser weiß dies21 — im reinen Walten der numeri auf der Basis jener rätselhaften similitudo zwischen musica und animus. Musik, auch und gerade Musik im Gottesdienst, ist, wie Helmut Hucke betonte, »in katholischer Tradition [. . .] meist nicht mit dem Lob Gottes, sondern vom Menschen her begründet« (vom >Widerspiegeln des Universalem etwa ist hier überhaupt nicht die Rede).22 So begibt sich, konsequenterweise, auch der Autor von Kapitel XIX anschließend auf die Ebene einer pragmatisch-empirischen Erörterung, auf der nun ein seit alters bewährtes Mittel rhetorischer Beeinflussung, die affektbewegende imitatio, im Zentrum steht: Nee solum diiudicare melos possumus ex propria naturalitate sonorum, sed etiam rerum. Nam affectus rerurn, quae canuntur, oportet, ut imitetur cantionis effectus: ut in tranquillis rebus tranquillae sint neumae, laetisonae in iocundis, merentes in tristibus; quae dura sint dicta vel facta, duris neumis exprimi; subitis, clamosis, incitatis et ad ceteras qualitates affectuum et eventuum deformatis.23 20

Hortschansky, Musikwissenschaft und Bedeutungsforschung (Anm. 6), S. 78. Zu Überlieferung, Verbreitung und Kenntnis der >Institutio musica< im frühen Mittelalter vgl. Calvin M. Bower, The Role of Boethius' De Institutione Musica in the Speculative Tradition of Western Musical Thought, in: Boethius and the Liberal Arts, hg. v. Michael Masi, Bern/ Frankfurt a.M./Las Vegas 1981 (Utah Studies in Literature and Linguistics 18), S. 157-174. 22 Helmut Hucke, Geschichtlicher Überblick, in: Gestalt des Gottesdienstes. Sprachliche und nichtsprachliche Ausdrucksformen, hg. v. Rupert Berger [u. a.], Regensburg 1987 (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft 3), S. 147. Hucke fährt fort: »Gott braucht das Lob des Menschen nicht. >Das Lob der Stimme ist darum notwendig, daß die Affekte für Gott erregt wcrdcnnachahmtRätselhaftigkcit< des ontologischen Wirkkonzepts wird im Kapitel XIX der >Musica Enchiriadis< eigens darauf hingewiesen, daß diese — rhetorische — Dimension unserem Urteils- und Unterschcidungsvermögen durchaus zugänglich sei, während anderes (wie das komplizierte Wirken der Tonarten) sich kaum oder gar nicht ergründen ließe: In talibus cum iudicatio nostra esse possit, plura sunt tarnen, quae nos sub causis occultioribus lateant.2S Die 23

Ed. Schmid (Anm. 14), S. 58. Quintilianus, Institutio oratoria IX,2,58, hg. v. Ludwig Radermacher u. Vinzenz Buchheit, Leipzig 1959, Bd. II, S. 158. 25 Emporius orator, De ethopoeia, in: Rhetores Latini Minores, hg. v. Karl Halm, Leipzig 1868, S. 562. 26 Quintilianus IX,2,40 (Anm. 24), Bd. II, S. 153. 27 Franz Josef Worstbrock hat in der Diskussion des Beitrags zu Recht auf den im Vergleich zur Antike signifikant engeren Rhetorik-Begriff des Mittelalters hingewiesen (Brian Vickers beispielsweise beschreibt die Geschicke antiker Rhetorik im Mittelalter geradezu als fragmentation: In Defense of Rhetoric, Oxford 1988, S. 214ff.). Es geht mir in dieser Untersuchung jedoch (noch) nicht darum, die Beobachtungen an Musiktraktatcn auf spezielle Dokumente der mittelalterlichen Disziplin Rhetorica zu beziehen — dies muß künftigen Detailuntersuchungen vorbehalten bleiben. Hier und im folgenden ist zunächst ganz generell so etwas wie eine (affektbezogen-wirkungsorientierte) >rhetorische Denkform< in der Tradition der Antike gemeint, und zwar gleichgültig, ob die Autoren des Mittelalters auch selbst jede Einzelheit ihrem eigenen, engeren Konzept von rhetorica zugeordnet hätten. In Frage steht, mit einer prägnanten Formel von Hermann Schmilz, die »Verwaltung der Affekte unter dem Leitbild der Rhetorik«: eine Aufgabe bzw. ein Programm, das Schmilz von der Antike bis hin zur Ästhetik des Deutschen Idealismus von einer »rhetorischen Protoästhetik« wahrgenommen sieht (der er eine »idealistische Protoästhetik« zur Seite stellt): Herkunft und Schicksal der Ästhetik, in: Kulturwissenschaften (FS Wilhelm Pcrpcet), Bonn 1980, S. 388-413, hier S. 393ff. 28 Ed. Schmid (Anm. 14), S. 58. Mit dem Stichwort occultus spielt der Autor wohl auch auf die im Mittelalter prominente Stelle aus Augustins >Confessiones< (X,33=49f.) an: [. . .] omnes affectus Spiritus nostri pro sui diversitate habere proprios modos in voce atque cantu, quorum nescio qua occulta familiaritate excitentur. Zur Rezeption im frühen Mittclalter vgl. Anders Ekenberg, Cur cantatur? Die Funktionen des liturgischen Gesanges nach den Autoren der Karolingerzeit, Stockholm 1987 (Bibliotheca Theologiae Practicae. Kyrkovetcnskapliga studier 41), S. 131. 24

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imitatio gilt als eine Herausforderung an Beobachtungsvermögen, Phantasie und Gestaltungsfähigkeit mit konkreten musikalisch-kompositorischen Mitteln. Wie vom Lektor das docere, so wird vom Musiker das excitare, incitare, provocare (ad affectum Dei, ad devotionem, ad compunctionem) erwartet: »Das musikalische Gewand des liturgischen Textvortrages wird [. . .] im Grunde auf dieselbe Weise aufgefaßt wie die Anwendung rhetorischer Mittel, die die Sprache der Predigt angenehmer machen«.29 Die Präsenz der maßgeblichen antiken Traditionen im frühen Mittelalter ist ebenso evident wie die selbstbewußte, eigenständige und pragmatisch-kreative Auseinandersetzung der Musiktheorie mit diesen Traditionen. Bemerkenswert ist auch, daß gerade jene beiden Texte, in denen das Prinzip der imitatio richtungweisend beschrieben und empfohlen wird, außergewöhnlich weit und dauerhaft verbreitet worden sind. Das Kapitel XIX der >Musica Enchiriadis< ist noch heute in 33 Quellen greifbar, die überwiegend aus der Zeit vor 1100, sporadisch aber selbst noch aus dem 15./16. Jahrhundert stammen.30 Und von dem um 1025/26 verfaßten >Micrologus< des Guido von Arezzo - der sich beim Thema imitatio modifizierend auf das Kapitel XIX stützt — sind heute sogar noch rund 75 Handschriften bekannt. Der fragliche Passus lautet hier: Item ut rerum eventus sie cantionis imitetur effectus, ut in tristibus rebus graves sint neumae, in tranquillis iocundae, in prosperis exultantes et reliqua.31

Die Idee des movere animos mit Hilfe wirkungsorientierter imitatio war also allein schon dank diesen beiden Grundschriften im Mittelalter fast omnipräsent. Dies um so mehr, als zu den vollständigen Abschriften die vielen Exzerpte hinzutreten, die das ganze Mittelalter hindurch vor allem dem >Micrologus< entnommen und anderen Traktaten — wörtlich oder, wie in den folgenden Passagen, signifikant verändert — inkorporiert worden sind: Decet enim ecclesiasticos cantus materie, supra quam fundantur, non qualitercumque sed conuenienter aptari; ita uidelicct ut secundum Guidonem capitulo XV° (ubi supra) sic rerum euentus cantionis imitetur effectus, quod in rebus tristibus grauiores sint neume id est vocum modulationes seu emissiones earum, in tranquillis autem iocunde et in rebus prosperis exultantes.32 29

Ekenberg, Cur cantatur? (Anm. 28), S. 111-188, hier S. 124ff. und 160ff. Vgl. ed. Schmid (Anm. 14), S. VII-XII. 31 Guidonis Aretini Micrologus, hg. v. Joseph Smits van Waesberghe, Rom 1955 (Corpus Scriptorum de Musica 4), S. 174. Dazu kommt die (leider unkommentierte) Wiedergabe des Passus im anonymen >MetrologusMicrologusTertium principale< vermehrt das Arsenal der Wirkmittel seinerseits um die — gleichfalls affektabhängige — Tempomodifikation beim Vortrag (graves sint neupmae, tardae et prolongatae): die Parallele zur rhetorischen pronuntiatio liegt auf der Hand. Darüber hinaus versucht man beispielsweise, die ursprünglich eher nur toposartig in Katalogen festgelegten Charaktere der einzelnen Tonarten (modi, toni, tropi) nun auf deren individuelle Melodiefaktur sowie die Art ihrer Konkretisierung im aktuellen Choralgesang zurückzuführen. Hatte Guido von 33

Tertium principale (2. Hälfte 14. Jh.), hg. v. Charles Edmond Henri de Coussemaker, Scriptorum de Musica Mcdii Aevi Nova Series, Bd. IV, Paris 1876, S. 247b. 34 Ms. Harl. 281 (Anm. 32), fbl. 72v. - Bereits das Kapitel XIX der >Musica Enchiriadis< verbindet beides: das Eingeständnis der Schwierigkeiten mit dem prinzipiellen Ziel des investigate: Dicuntur ferae atque aves modis quibusdatn delectari magis quam aliis, sed quare et quomodo haec aliave sint, non facile investigator (ed. Schmid [Anm. 14], S. 59).

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Fritz Reckow Arezzo die unterschiedlichen Charaktere der modi nach einem generellen Hinweis auf die diversitas mentium und die natürliche menschliche Freude an der varietas sonorum einfach aufgezählt, so bemüht sich um 1300 Engelbert von Admont jeweils um eine empirisch nachvollziehbare Begründung (et ita, propter) der Charaktere - und dies unter ausdrücklicher Berufung auf Guido (Unde enim diät Guido): Guido: Atque ita diversitas troporum diversitati mentium coaptatur, ut [. . .] alius plagac triti [6. modus] eligat voluptatem, uni tetrardi autenti [7. modus] garrulitas magis placet [. . .].3S Engelbert: Sextus [tonus] vero habet saltus lenes, et ita est voluptuosus. Septimus vero est garrulus propter multas et breves reflcxiones, quas habet ille cantus.36 Folgerichtig verzichtet Engelbert darauf, jenen Passus mit zu übernehmen, in dem sich letztlich auch Guido (nach der Tonarten-Charakterisierung und dem Bericht über legendäre Wunderwirkungen der Musik) auf das schon vertraute Eingeständnis der >Rätselhaftigkeit< musikalischer vis zurückzieht: Quae tarnen vis solum divinae sapientiae ad plenum patet; nos vero quae in aenigmate ab inde percepimus.37 Weitere Details sind bereits andernorts zusammengefaßt und diskutiert worden.38 Deshalb braucht hier nicht mehr im einzelnen ausgeführt zu werden, in 35

Guidonis Aretini Micrologus (Anm. 31), S. 159. De musica, hg. v. Martin Gerbert, Scriptores Ecclesiastici de Musica Sacra Potissimum, Sankt Blasien 1784, Bd. II, S. 340. 37 Ed. Smits van Waesberghe (Anm. 31), S. 161. - Auf die teilweise recht eigenständigen und subtilen Überlegungen mittelalterlicher Autoren zu Charakter und ethischer Wirkkraft der modi kann in diesem Zusammenhang nicht weiter eingegangen werden; jedenfalls setzen sich die Autoren mit der ihnen vorliegenden Tradition häufig nicht nur energisch, sondern auch sehr scharfsinnig auseinander. Freilich dürfte allein schon der hier manifeste methodische Abstand zwischen Guido und Engelbert belegen, daß es sich Harold S. Powers zu einfach macht, wenn er pauschal erklärt: »For the most part, the general idea of modal ethos was accepted in medieval theory without question [. . .], and specific doctrines regarding one mode or another are ad hoc, and purely traditional« (Mode, in: The New Grove Dictionary [Anm. 2], Bd. 12, S. 398). 38 Fritz Reckow, rectituto - pulchritude — enormitas. Spätmittelalterliche Erwägungen zum Verhältnis von materia und cantus, in: Musik und Text in der Mehrstimmigkeit des 14. und 15. Jahrhunderts (Gastsymposion Wolfenbüttel 1980), hg. v. Ursula Günther u. Ludwig Pinscher, Kassel [usw.] 1984 (Göttinger Musikwissenschaftliche Arbeiten 10), S. 1-36. - Nachdrücklich hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auf die Basler Antrittsvorlesung von Max Haas (1980): Musik und Affekt im H.Jahrhundert: Zum Politik-Kommentar Walter Burleys, Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft NF l (1981), S. 9—22. In Burleys Kommentar zur >Politik< des Aristoteles (verfaßt zwischen 1338 und 1343) steht, wie bei Aristoteles selbst, das »Finden der rechten Mitte« — z. B. »zwischen den Affekten Furcht einerseits und Zuversicht andererseits« - im Mittelpunkt. Der »besondere Habitus, dem es eigentümlich ist, daß sich einer gegenüber den Affekten richtig verhält«, ist die Tugend als jener Habitus, der die »rechte Mitte« wählt: »das medium zwischen den Extremen superabundantia (excessus) und defectus (deficientia)« (S. 18f.). Dank seiner »Mittellage« im Tonartensystem kommt für Burley »dem Dorischen 36

156

Zwischen Ontologie und Rhetorik

welchem Maße rhetorisch-wirkungsorientiertes Denken — von den starken frühmittelalterlichen Impulsen her — die Musiktheorie des Mittelalters insgesamt geprägt hat. Immerhin aber möge noch einmal exemplarisch angedeutet werden, in welcher Intensität zumal seit dem 13./14. Jahrhundert Mittel und Maßnahmen zur Sprache gekommen sind, die im allgemeinen noch heute als Symptome, ja geradezu als Signale der >Rhetorisierung< erst der Musik des 16. Jahrhunderts angesehen werden. Im engen Anschluß an die oben wiedergegebenen Äußerungen zur imitatio — und zugleich unter Berufung auf Dichter wie Horaz - empfiehlt Johannes Affligemensis um 1100 dem Musiker, die Gesangsmelodic möglichst sorgfältig auf die Text-materia abzustimmen, ut quod verba sonant, cantus exprimere videatur. Er denkt dabei vor allem an die vis commovendi auditorum animos — den für ihn vornehmsten Legitimationsgrund kirchlichen Singens.39 Im späten 13. Jahrhundert lehnt sich Hieronymus de Moravia dann ausdrücklich an Johannes an und redet nun sogar einer bewußt >häßlichen< Gestaltung der Gesangsmelodie das Wort, sofern dies der Tcxt-materia entspricht und dem Ziel des movere animos dient. Dabei wird (in Anlehnung an die drei grammatischen Steigerungsstufen) pedantisch sogar zwischen drei gradus von turpitudo unterschieden. Nicht ein >abstraktes< Harmonie- oder Schönheitsideal also bestimmt (allein) über die Gestaltung, sondern der Komponist kann, darf und soll sich bewußt auch gegen pulchritudo entscheiden und auf eigene Faust selbst >häßlichc< Mittel ersinnen, wenn sich die materia musikalisch gerade dadurch besonders wirksam >imitieren< läßt.40 Noch weiter geht um 1380 Heinrich Egcr. Selbst Autor eines Lehrbuchs der Rhetorik, legt er eindringlich dar, quam artificialiter cantus illi [die Gesänge des überkommenen liturgischen Repertoires] mentium exprimant conceptiones, rerum habitudines et cantantium voluntates. Anhand zahlreicher Beispiele spürt er den reichen Möglichkeiten nach, einen cantus im konkreten Detail anschaulich >sprechen< zu lassen. Erwähnt werden z. B. aufdringliche Wiederholungen ad desigdie Dignität der Mitte zu« (S. 21f.). — Vor Burley hat übrigens schon Engelbert von Admont die aristotelische Kategorie des medium in die Erörterung des movere animos eingeführt, bezogen allerdings nicht auf eine >mittlere< Tonart, sondern, recht spekulativ, auf das >mittlere< Genus das genus chromaticum: Chromaticum vero, id estßexibüe vel diversicolor, dicitur medium sive mixtum [. . .]. Est enim chromaticum genus melodiae pulchrius et delectabilius: quia mediocriter et opportune nunc incitat animum fendendo ad acutas, nunc alleviat et lenit redeundo ad graves (Gerbert, Scriptores [Anm. 36], Bd. II, S. 340f.). 39 Johannes Affligemensis, De Musica cum Tonario, hg. v. Joseph Smits van Waesberghe, Rom 1950 (Corpus Scriptorum de Musical), S. 114-119; vgl. S. 115: Cum igitur in commovendis mentibus hominum tanta sit musicae potentia, merito usus eius acceptus est in sancta Ecclesia. 411 Tractatus de Musica, hg. v. Simon M. Cserba, Regensburg 1935 (Freiburger Studien zur Musikwissenschaft, 2. Reihe, Heft 2), S. 173—179; Einzelheiten hierzu und zum Folgenden bei Reckow, rectitude (Anm. 38).

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Fritz Reckow

nandum dolorem vel laetitiam, melodische Nachbildungen von involutiones, die ein Gesang multis notis super unam dictionem vel syllabam cohaerentibus zum Ausdruck bringen könne, oder das hartnäckige Verweilen der Deklamation auf ein und derselben Tonstufe, 5t [. . .] tristitia sit designanda specialis, so daß der Eindruck entstehe, als ob die Sänger außerstande seien, pro fletu observare cantuum mensuram. Darüber hinaus werden sogar regelrechte vitia akzeptiert, sofern sie durch die Intention der Textverdeutlichung oder Textintensivierung, also durch eine spezielle theologisch-pastorale Wirkensabsicht begründet sind: vitium [. . .] excusatur, si vox cum materia merito exaltandafuerit, sicut in responsorio >Sicut cedrus< de beata virgine illa dictio >monte< tangit septitnam; si devotio denotetur specialis, si exclamatio, si dolor, si laetitia vel aliquid simile. Der excessus über die reguläre (tonartlich festgelegte) obere Ambitusgrenze beim Wort >mons< z. B. wird dadurch gerechtfertigt, daß er als bewußtes Abbild der außerordentlichen Bergeshöhe verstanden werden kann.41 Wenige Jahrzehnte später, im Jahre 1417, räumt Gobelinus Person dann sogar ein, bei einer wohlbegründeten Wirkensabsicht des Komponisten könne ein geplanter Verstoß sehr wohl als color rhetoricus betrachtet und anerkannt werden: Sicut enim contingit in grammatica, quod aliqua oratio, quae apud communem usum simpliciter est incongrua, habito tarnen respectu ad intentionem auctoris non solum admittitur, sed etiam ut color rhetoricus tamquam pondus importans plerumque approbatur: sie accidit et in musica, quod aliquis cantus, qui simpliciter est irregularis, habito tarnen respectu ad rationabilem intentionem ipsius imponentis, admittitur et coloratur, sicut patet in multis.42

Die intentio components macht, zumal wenn es devotionis causa geschieht, auch in der Musik licitum quod alias esset illicitum.43 In solchem Zusammenhang werden auch Termini der rhetorischen Figurenlehre unmittelbar auf die Musik übertragen. Eine wohl im Jahre 1367 niedergeschriebene anonyme >Summula< in Versform ist die bislang früheste bekannte Quelle für solchen Terminusgebrauch: 41

Das Cantuagium des Heinrich Eger von Kaikar 1328—1408, eingel. u. hg. v. Heinrich Huschen, Köln/Krefeld 1952 (Beiträge zur Rheinischen Musikgeschichte 2), bes. S. 56-60. Zum aristotelischen Hintergrund der Kategorien excessus und defectus sowie der Idee der >rechten Mitte< siehe oben, An m. 38. 42 Hermann Müller, Der tractatus musicae scientiae des Gobelinus Person (1358-1421), Kirchenmusikalisches Jahrbuch 20 (1907), S. 177—196, hier S. 195. Zum Responsorium >Sicut cedrus< siehe S. 191 und 195. Zwei Quellen des späten 15. Jahrhunderts, die den Text als Kommentar zu dem anschließend zitierten Verstraktat von 1367 überliefern, lesen u. a. toleratur statt coloratur (Summula. Tractatus metricus de musica glossis commentarioque instructus, hg. v. Eddie Vetter, Buren 1988 [Divitiae Musicae Artis A. Villa], S. 87). 43 Anonymer Kartäuser (wohl Mitte 15. Jh.), Tractatus de natura et distinctione octo tonorum musicae, ed. Coussemaker, Scriptores (Anm. 33), Bd. H, S. 445.

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Zwischen Ontotogie und Rhetorik Antonomasia valet hie, cum vox simul et res Thematis eximii sublime volunt sociari. Aut exclamandi virtus aut causa dolendi Aut pia vota precum cogunt transcendere cantum. Amplius excedens aut principio vagus ipso Fineve distortus raro ratione iuvatur. 44

Der Kommentar zu den Versen lautet: His habitis sciendum quod cantus excusabilis tali habet ratione excusari, quae sit ydonea, utpote per antonomasiam, per exclamationem et per huiusmodi rationes in materia.43

Ausgehend von der tradierten ontologischen Begründung der ethischen Wirksamkeit von Musik hat sich die Musiktheorie also seit dem frühen Mittelalter darum bemüht, zur Intensivierung des Gesangs und seiner Wirkung auf animus bzw. affectus auch empirisch beizutragen. So hält sie um 1400 für den Musiker eine breite Palette pragmatischer Mittel und Maßnahmen bereit, die in der Idee der affektbewegenden imitatio begründet sind und auch expressis verbis als >rhetorisch< — genauer: als Analogiebildungen zur Rhetorik — verstanden werden. Sie gehen zurück auf generelle Anregungen, die bereits dem >Literaturbericht< im Proemium des Boethius zu entnehmen waren, sowie speziell auf die im Kapitel XIX der >Musica Enchiriadis< formulierte Idee - und Aufgabe —, die qualitates der im Gesangstext enthaltenen affectus und eventus musikalisch nachzuahmen und damit in ihrer Wirkkraft zu verstärken. An dieser Grundidee der affektbewegenden imitatio ist das ganze Mittelalter hindurch ebenso energisch wie gedankenreich — suchend, entfaltend und differenzierend — gearbeitet worden. So sind denn auch längst vor der frühen Neuzeit etwa der bewegende Nachvollzug affektbestimmten Redeverhaltens, die abbildhafte Vergegenwärtigung von Textinhalten, die Steigerung von Eindringlichkeit durch ungewohnte und deshalb auffällige Gestaltungsweisen bis hin zur Affekterregung durch bewußte Normverstöße mit spezifisch musikalischen Mitteln wohlvertraut und — bis hin zur Erwähnung rhetorischer Figuren — auch kategorial gefaßt und abgesichert.46 44

Summula (Anm. 42), S. 68; vgl. hier auch die Interlinearglossen (z. B. zu principio vagus: discordans in principio). Den gleichen Verstext überliefert übrigens auch Person (Anm. 42), S. 195. 45 Ebd., auch bei Person (Anm. 42), S. 195. 46 Auch Wilhelm Seidel hat dies in seiner Marburger Antrittsvorlesung zu eben diesem Thema (1984) nicht weiter beachtet: »Schon [!] im 16. Jahrhundert und vollends im 17. Jahrhundert ist die Kultur der musikalischen Bewegung, des Geschwinden und Langsamen, des Auf und Ab, des Starken und Schwachen, eine der wesentlichen Absichten der Komponisten. Dabei lassen sie sich von der Sprache leiten, die sie vertonen, ahmen mit musikalischen Mitteln, durch Melodie, Rhythmus und gelegentlich auch durch Satzfiguren, die äußeren und inneren Bewegungen nach, von denen der Text spricht«, und weiter: »Es ist wohl nicht genau auszumachen, ob sich

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Fritz Reckow

Die traditionelle ontologische Begründung der musikalischen vis commovendi animos wird hiervon nur insofern berührt, als sich das Interesse der Autoren und das Gewicht der Argumente immer stärker hin zur rhetorisch-empirischen Ebene verlagern. Man versucht einesteils, die tradierten rätselhaftem Vorstellungen auch empirisch zu bestätigen (vgl. z. B. die oben zitierte technisch-stilistische Begründung der modus-Charaktere durch Engelbert von Admont). Und man bemüht sich andernteils, komplementär zur ontologischen Basis neue, empirische Wirkmittel zu erarbeiten — die die tradierten Vorstellungen jedoch nicht ersetzen sollen, sondern allenfalls in den Hintergrund drängen. Mit Blick auf die Idee des movere animos kann das Verhältnis von Ontologie und Rhetorik bis zum Spätmittelalter demnach als stimulierende Koexistenz mit einer stetigen Gewichtsverlagerung hin zur empirischen Ebene charakterisiert werden. Ein unaufgeregt-unspektakulärer Wille zur Integration mag mit dazu beigetragen haben, daß die rhetorische Dimension mittelalterlichen Wirkungsdenkens bislang kaum hinreichend zur Kenntnis genommen worden ist — mit prekären Folgen für das musikwissenschaftliche Bild des >Übergangs< vom Spätmittclalter zur frühen Neuzeit.47 So evident es ist, daß sich Autoren der Musiklehre seit dem frühen Mittelalter um das Thema der afFektbewegenden imitatio bemüht haben, so schwer kann es im konkret-musikalischen Einzelfall doch sein, bewußte kompositorische Gestaltung aufgrund rhetorisch-wirkungsorientierter Erwägungen nachzuweisen. Dies mag zum einen daran liegen, daß es im Blick auf die vielen Jahrhunderte mittelalterlicher Musikgeschichte mit all ihren ästhetischen, technischen und das Interesse an der kompositorischen Imitation affektiver Bewegungen über der Lektüre antiker Mythen und Geschichten gebildet hat oder ob, was wahrscheinlicher ist, das neue [!] Kompositionsziel die Effektentheorie aktuell werden ließ« (Die Macht der Musik und das Tonkunstwerk, Archiv für Musikwissenschaft 42 [1985], S. 1-17, hier S. 7f.). Eine dritte Möglichkeit — daß nämlich das Thema »Imitation« seit dem frühen Mittelalter in Theorie wie Praxis (Näheres zur Praxis anschließend) kontinuierlich präsent gewesen ist — wird nicht in Betracht gezogen. 47 Nur erwähnt werden kann in diesem Zusammenhang, daß die mittelalterlichen Überlegungen zum movere animos sich durchaus nicht auf die liturgische Musik beschränken, sondern auch weltliche Musik einbeziehen. So nennt die um 1300 verfaßte >Summa musicae< den >planctus Didonis< (Carmen Buranum 100) als Beispiel für die Bevorzugung tiefer Stimmlage bei trauriger materia: wie in der Dichtung (nach Horazens >Ars poeticaLibera me DomineDoleo super teO decus, o Libyae regnum< [. . .]. Si autem materia laetafuerit, cantus etiam se conformet in acutis eidem [. . .]. Si vero materia fuerit laeta et iocosa, cantus cum saltu convenit (Gerbert, Scriptores [Anm. 36], Bd. III, S. 236). Neumiert überliefert ist der >planctus Didonis< in der Hs. München, Bayer. Staatsbibliothek, Clm 4598, fol. 61 r.

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Zwischen Ontologie und Rhetorik

stilistischen Veränderungen und regionalen Eigenheiten — und einer ganz überwiegend anonymen Überlieferung — an zuverlässigen Kriterien für eine jeweils sichere Unterscheidung zwischen unauffälliger Konvention (>Standardbewegendcn< empirischen Mittel und Maßnahmen der Ebene des ornatus zugehört, also ad libitum in eine Komposition eingebracht werden konnte — oder auch nicht: Hoc autem non adeo praecipimus, ut semper necesse sitßeri, sed quandoßt, ornatui esse dicimus.4* Es darf demnach nicht beunruhigen, wenn sich nicht an allen Musikstücken Symptome von imitatio entdecken lassen — dies bestätigt nur den undogmatischen Stilpluralismus und die Kriterienvielfalt mittelalterlichen Komponierens. Andererseits ist es vor allem seit den siebziger Jahren überzeugend gelungen, zumal im späten Mittelaltcr ein feinsinnig-bczichungsreiches und vielschichtiges kompositorisches Eingehen auf den Textinhalt aufzuweisen.49 Auch Carl Dahlhaus hat daraufhin in Zweifel gezogen, ob die »Herausbildung eines humanistisch geprägten Verhältnisses zwischen Sprache und Musik« in der Diskussion über den »Anfang der Neuzeit in der Musikgeschichte« als »tragfähiges« Kriterium überhaupt noch in Frage komme.3" Aber selbst im einstimmigen Choralrcpertoirc des frühen Mittelalters finden sich schon Gesänge, die sehr wohl als praktische Gegenstücke zu den theoretischen iwitaiio-Übcrlegungen jener Zeit betrachtet werden können. Hier mag der Hinweis auf einen einzigen Gesang genügen: das Offcrtorium >Vir crat in 48

Johannes Affligemensis, ed. Smits van Wacsberghe (Anm. 39), S. 118. Es können hier nur ausgewählte Untersuchungen genannt werden: Bernhard Meier, Die Handschrift Porto 714 als Quelle zur Tonartenlchre des 15. Jahrhunderts, Musica Discipline 7 (1953), S. 175—197; Wolfgang Dömling, Aspekte der Sprachvertonung in den Balladen Guillaume de Machauts, Die Musikforschung 25 (1972), S. 301-307; Wulf Arlt, Musik und Text im Liedsatz frankoflämischer Italienfahrer der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft, NF l (1981), S. 23-69; den., Musik und Text. Verstellte Perspektiven einer Grundlageneinheit, Musica 37 (1984), S. 497—503; ders., Musik und Text. Die Musikforschung 37 (1984), S. 272—280; Christian Berger, Tonsystem und Tcxtvortrag. Ein Vergleich zweier Balladen des 14. Jahrhunderts, in: Gesellschaft für Musikforschung, Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Stuttgart 1985, Kassel [usw.] 1987, S. 202-211; ders., Die melodische Floskel im Liedsatz des 14. Jahrhunderts: Magister Franciscüs' Ballade >Phitonhistorischen< Einleitung, dem Chorteil) hat der Redaktor Textpartien stark emotionalen Charakters ausgewählt und durch Wiederholungen unterschiedlichster Art (Halbsatz, Wortgruppe, Einzelwort) und Anzahl (zwei- bis siebenfach, in anderer Überlieferung sogar neunfach) zusätzlich intensiviert. Die direkte Rede lobs ist auf knappste Aussagen hin komprimiert (Vers l und 4) und noch zusätzlich >rhetorisiert< (vgl. die Umformung von Vers 3 zur rhetorischen Frage). 163

Fritz Reckow

Der Komponist seinerseits hat sich durch das >affektive< Angebot des Textredaktors allem Anschein nach zu einer au ergew hnlich eindringlichen - geradezu >theatralisch< anschaulichen - Melodiekonzeption anregen lassen. Einige Hinweise auf signifikante Details des reich gestalteten Gesangs m ssen hier zur Verdeutlichung gen gen:53

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Ich reproduziere die Fassung der gegen 1031 geschriebenen Hs. Montpellier, Bibliotheque Univcrsicaire, Section de Medecine, H 159, fol. 107v-108v, nach der Transkription von Finn Egeland Hansen: H 159 Montpellier. Tonary of St Benigne of Dijon, Kopenhagen 1974, S. 327-329 (Faksimile: Paleographie Musicale, Bd. VII, Solesmes 1901, S. 208-210). Die Quelle liegt auch der Ausgabe von Karl Ott zugrunde: Offertoriale sive Versus offertoriorum, Paris/Tournai/ Rom 1935, S. 122-125; vgl. auch die von Rupert Fischer nach Laon 239 und Einsiedeln 121 neumierte Ausgabe: Offcrtoircs ncumes, Solesmes 1978. 164

Zwischen Ontotogie und Rhetorik

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Die Melodie wird am Beginn von Vers l (Z. 8) nicht — wie zu Beginn des einleitenden Chorteils — von der tiefen Region der Finalis (e) her erst allm hlich zur H he hin entfaltet, sondern setzt unvermittelt auf der Sext c' ber der Finalis ein: dem emphatischen Ausruf Utinam appenderentur entspricht eine unvorbereitete, stimmlich gespannte musikalische exclamatio, die bei der Wiederholung sowohl durch die Silbendehnung als auch durch den Sprung zur ungew hnlichen Dezime g' ber der Finalis (utinam: Z. 10) noch wesentlich verst rkt wird (eine hnliche Dehnung erf hrt anschlie end zweimal das >Verbum 166

Zwischen Ontologie und Rhetorik

affectus< iram: Z. 12/13). Außerdem wird die Melodie bei der Wiederholung um eine in der hohen Lage insistierende Wendung verlängert (vgl. die letzte Silbe von appenderentur. Z. 10): der Komponist nutzt also gleich die erste Textwiederholung zu einer deutlichen musikalischen Steigerung. Im anschließenden Relativsatz hingegen wird nur das einleitende Pronomen musikalisch variiert (Z. 11/12). Eine neuerliche Steigerung bedeutet dann die dreimalige Deklamation von et calamitas: hier hebt der Komponist verhalten in tiefer Lage an (Z. 13), erreicht in der ersten Wiederholung den Intensitätshöhepunkt auf dem - im Wechsel mit dem tieferen c' mehrmals angeschlagenen — hohen f zur betonten (und gedehnten) Silbe calamitas (Z. 14) und nimmt die Intensität in der zweiten Wiederholung (die der ersten Phrase gleicht) wieder zurück (Z. 14/15). Eine vergleichbare Steigerung mit Rücknahme findet sich zu Beginn des 2. Verses — hier wird im mittleren Glied die Silbe quae ebenso wie zuvor die Silbe calamitas in ungewöhnlicher Höhe und Dehnung geradezu herausgeschrien (Z. 16/17). Anders dagegen das dreimalige Quoniam, das den 4. Vers einleitet (Z. 23/24): hier steigt die Melodie, nach jeweils gleichem Beginn, Glied für Glied intensivierend in die Höhe: wie bei der rhetorischen Figur der Anapher. Nochmals anders verfährt der Komponist am Ende des 4. Verses: der siebenmalige Vortrag von ut videat bona beginnt hier im regulären Bewegungsraum mit einem durchschnittlich melismatischen und intervallisch durchschnittlich markanten ersten Glied (Z. 25/26). Erst danach wird die Melodie für die folgenden drei Wiederholungen in Finalisnähe herabgeführt und auf geradezu psalmodisch schlichte, fast syllabisch verhaltene Deklamation zurückgenommen (Z. 26/27). Hierauf kann dann um so wirkungsvoller eine neuerliche, wohlgeplante Steigerung anheben: vom — wieder melismatischen — Ende der dritten Wiederholung an (Z. 27/28) steigt die Melodie Glied für Glied in die Höhe, um in der sechsten Wiederholung noch einmal den seltenen Spitzenton g' zu erreichen (Z. 28/29). Die hohe Intensität wird schließlich in einem intervallisch besonders prägnanten mehrgliedrigen Melisma Schritt für Schritt wieder abgebaut. Unwillkürlich drängt sich hier die Erinnerung an die berühmte Beschreibung eines anderen berühmten Musikstücks, ebenfalls eines >KlageliedesAnalyse< stammt aus dem um 1519—1539 verfaßten >Dodekachordon< des Heinrich Glarean und bezieht sich auf Josquins Motette >Planxit autem DavidVir erataffektbewegend< ins Gedächtnis zu rufen (ut affectanter nobis ad memoriam reduceret aegrotantem lob). Daß Amalar die Idee des movere animos auch mit musikalischen Mitteln keineswegs fremd ist, belegen zwei Zitate zur naturalis vis [musicae] adßectendum animum aus dem mehrfach erwähnten Procmium des Bocthius.56

54

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56

Heinrich Glarean, Dodckachordon, Basel 1547, S. 418f. Hierzu zuletzt Sachs, Theorie und Praxis (Anm. 8), S. 149f. Amalar von Metz, Liber officialis 111,38,1—2, hg. v. Johann Michael Hanssens, Rom 1948 (Amalarii Episcopi Opera Liturgica Omnia 2), S. 373. Amalar von Metz, Liber officialis 111,11,15-17, ed. Hanssens (Anm. 55), S. 296f. 168

Zwischen Ontologie und Rhetorik

Mit Amalars Kommentar sind freilich nicht alle Interpretationsprobleme der Wiederholungen in Offertorien gelöst. Peter Wagner rechtfertigte den Verstoß »gegen die liturgisch festgelegte Folge des Gesangstcxtcs« zwar in ausgewählten Fällen mit »künstlerischen Absichten«. Gewichtiger aber erschien ihm ein genuin »liturgischer Grund«: der enorme (und zugleich schwer kalkulierbare) Zeitbedarf bei der »Darbringung der Opfergaben auf dem Altäre«. Beim lobsOffertorium allerdings ließ er — nach eher skeptischen Erwägungen — Amalars Deutung als »bewußte Nachahmung des in seiner Krankheit die Worte hilflos stammelnden Job« gelten und klassifizierte den Gesang seinerseits als »realistisches Beispiel von alter Situationsmalerei«.37 Ähnlich erwog auch Willi Apel, die Ursache für die Wiederholung könne allein schon in der »necessity of prolonging the chant in conformity with the duration of the service« gelegen haben; doch führte er sie dann ebenfalls auf den Textinhalt zurück: »The numerous repeats are a graphic description of a man tormented by pain and anguish, and crying out again and again to >sec the good things< of his earlier days«.5K Helmut Hucke hingegen sprach noch 1970 vorsichtig von »merkwürdigen und bisher unerklärten Textwiederholungen«.59 Giacomo Bonifacio Baroffio und Ruth Steiner schließlich enthielten sich in ihrer >New GrovcGregorianische< Fassung das Resultat einer bewußten und geplanten Redaktion bzw. Neugestaltung ist, wenn (spätestens, d. h. nachweislich) seit dem frühen Mittelalter das Prinzip der imitatio gerade auch im Blick auf den Choralgesang gelehrt wurde und wenn darüber hinaus ein frühmittelalterlicher Liturgiker das Offcrtorium unter eben diesem Gesichtspunkt nachdrücklich beschrieben hat, dann liegt die Annahme zumindest nicht fern, daß der Gesang durch die Bearbeitung nicht nur flexibler, markanter und differenzierter, sondern — im Sinne einer morum ac vitae imitatio — auch musikalisch >sprechender< hat werden sollen. Und mit einer solchen Zielsetzung kann, wie exemplarisch gezeigt, auch im Blick auf ein- wie mehrstimmige Musik der folgenden Jahrhunderte gerechnet werden: allerdings mit dem Vorbehalt, daß im Mittelalter dergleichen imitatio nicht aus necessitas gestaltet, sondern — ad libitum — als ornatus gepflegt, wenn auch immer wieder empfohlen worden ist. Die Kriterien für das Aufspüren des nachahmend Bewegenden und affectanter Sprechenden müssen freilich weithin erst noch erarbeitet werden.63 62

Vgl. Helmut Hucke, Zur Aufzeichnung der altrömi*chen Offertorien, in: FS Eugene Cardine, St. Ottilien 1980, S. 296-313, hier S. 306f. 63 Was mögliche Beziehungen zwischen Text und Musik im mittelalterlichen Choral betrifft, so haben Karlheinz Schlager und Theodor Wohnhaas auf Beobachtungen vor allem an den neugeschaffenen Offizien aufmerksam gemacht: »Bei aller Vorsicht, die man in der Interpretation der Melodie walten lassen wird, erscheinen die Wahl der Tonlagen einschließlich der Über- oder Unterschreitung des Regelambitus des jeweiligen Kirchentons, die Auswahl von Haupt- und Nebentönen aus der als Lehrformel bekannten Struktur der einzelnen Kirchentöne, die Verteilung, die Gewichtung und die Gerichtetheit von Melismen als planvoll gesetzte Mittel, um innerhalb der Möglichkeiten der melodischen Tonalität einem Text mehr als nur formal zu entsprechen. [. . .] Wenn Texte und Melodien aus einer Vorstellung hervorgegangen sind, und wenn der Text jene sprachliche Verdichtung und visionäre Bildhaftigkeit erreicht, zu denen Hermannus Contractus fähig ist, dann wird auch das >singende Sagen« im Streben nach adäquatem Ausdruck die Grenzen der konventionellen Haltung überschreiten« (Zeugnisse der Afra-Verehrung im mittelalterlichen Choral, Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte e. V. 18 (1984), S. 199-226, hier S. 225). Zur spätmittelalterlichen Mehrstimmigkeit vgl. die oben (Anm. 49) genannten Untersuchungen.

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Necessitas und ornatus: mit Hilfe dieser beiden Kategorien kann, so scheint es, Symptomatisches auch am >Übergang< vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit erschlossen werden. Denn wenn die antiken Theorien und Legenden über die naturalis vis musicae ad ßectendum animum bereits seit dem frühen Mittelalter bedacht worden sind, wenn man ihrem impliziten Anspruch schon in der Karolingerzeit (auch) mit dem pragmatischen Konzept der affektbewegenden imitatio gerecht zu werden suchte, wenn also neben der ontologischen längst auch die empirisch-rhetorische Begründung der Wirkkraft von Musik erörtert und praktisch erprobt worden ist — wenn demnach weder die Idee des movere animos noch die hierfür entwickelten Mittel und Maßnahmen rhetorischen Charakters im 15./16. Jahrhundert prinzipiell neu gewesen sind, dann dürfte das — unleugbar — Neue der frühen Neuzeit wohl weniger in den Ideen selbst als vielmehr in einer veränderten Bewertung und Funktion der tradierten Ideen zu suchen sein, kurz (wie eingangs thesenhaft vorweggenommen): nicht in einer Ablösung, sondern in einem signifikant veränderten Verhältnis von Ontologie und Rhetorik. Gewandelt haben sich in der Tat die Vorstellungen von necessitas und ornatus, haben sich die Auffassungen darüber, ob und wie Musik zu begründen — genauer nun: zu legitimieren — sei. Der Vorwurf an die Musiktheorie des Mittelalters, sie habe sich, »sofern sie sich mit dem musikalischen Handwerk befaßte«, in der Regel auf dasjenige »beschränkt«, »was eben notwendig war, um Musik als Sinnbild einer höheren Ordnung verstehen zu können«64 — dieser treuherzige Vorwurf thematisiert immerhin eine Dimension, die zur mittelalterlichen Musiktheorie, ja zur Musikgeschichte des Mittelalters schlechthin, grundsätzlich dazugehört: eine Dimension, die zumal seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts denn auch deutlich an Charakter und Gewicht verliert. Es ist die gelassene Gewißheit der ontologischen Grundlagen und Begründungen von Musik, zumindest aber eine souveräne (weise und listige, wohl auch komfortable) Toleranz, die sich selbst dadurch nicht irritieren (sondern eher stimulieren) läßt, daß diese Grundlagen und Begründungen einstweilen nur ex parte zu erkennen sind, in ihrer ganzen profunditas jedoch dem Menschen unzugänglich und >rätselhaft< bleiben. Musik, die die similitude mit der >zahlhaften< Struktur des Kosmos nicht verläßt — oder verletzt —, Musik also, die sich in ihren Grundschichten (Tonsystem, Intervall-Hierarchie, Tonart) als klingend vergegenwärtigende imitatio mundana bewährt, kann für den mittelalterlichen Musiker in der Tat auch ohne weitere >Sinngebung< (z. B. >RhetorisierungOberfläche< jener ontologisch begründeten profunditas: nur eine superßcies quaedam artis musicae will z. B. der Autor der >Musica Enchiriadis< mit seiner Mchrstimmigkcitslehrc erfaßt haben, und zwar ausdrücklich pro ornatu ecclesiasticorum carminum.^6 Musik ist ein >Schmuck< der liturgischen Texte, Mehrstimmigkeit ein >Schmuck< der einstimmigen Gesänge, und nicht anders wird auch die affcktbcwcgende imitatio betrachtet. Die Kategorie des ornatus unterstreicht dabei den Sachvcrhalt, daß es sich aus theoretischer Sicht um »kontingente Geschehnisse« handelt, durch unterschiedlichste Motive bedingt und schon deshalb permanenter Veränderung ausgesetzt. Hierauf, so Max Haas, beruht der »einzigartige Freiraum«, der die praxisbezogene Musiklehre gegenüber allen anderen artes des Mittclalters auszeichnet.67 Das Faktum der Kontingenz bedeutet nicht, daß die >erfreuliche< Ebene des ornatus gering geachtet würde, im Gegenteil: delectatio ist auch aus theologischer Perspektive die notwendige Voraussetzung des libenter audire, denn, so Augustins rhetorische Frage: quis tenetur, ut audiat, si non delectatur?™ Wenn Autoren seit Guido von Arczzo immer wieder betonen, daß gewisse technische und ästhetische Aspekte des Komponierens melius colloquendo quam vix scribendo monstrantur,™ so verweist dies nicht allein auf Schwierigkeiten der adäquaten Formulierung; angedeutet ist auch die unberechenbare Freiheit und unsystematische Vielfalt der — prinzipiell kontingenten - Praxis, die sich einer gesetzgebenden Lehre entzieht (hierauf vor allem dürfte der Eindruck einer >Bcschränkung< der Musiklchre zurückzuführen sein). Es ist eine Freiheit und Vielfalt, die nicht etwa im Konflikt steht mit der necessitas der ontologischen >Basishierarchischen< Gliederung der Wirklichkeit im Mittelalter - und die Chance für ein fruchtbares Wechselverhältnis von Ontologie und Rhetorik: für eine undogmatisch reiche und gelassene Entfaltung der Musik. Der >Übergang< vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit wird, wie eingangs referiert, bevorzugt als Prozeß der >Vermenschlichung< gesehen, der einen »epochalen musikalischen Umschwung« herbeigeführt habe. Der >Vermenschlichung< der Musik ist erst kürzlich wieder eine »Grundtendenz in der Entwicklung der Musiktheorie« zur Seite gestellt worden, die »auf einen Wechsel des zu betrachtenden Gegenstandes« ziele: »weg von der ontologisch-spekulativen Betrachtung des Tonsystems, hin zur musikalischen Poiesis und zur tönenden Musik«. Während »das althergebrachte hierarchische System der >musikalischen Kunst< brüchig« werde, könne gleichzeitig eine »zunehmende Emanzipation der Musica practica« registriert werden.70 Auf die verkürzte und einseitige Sicht des Mittelalters soll nicht weiter eingegangen werden — die thesenhaften Bemerkungen zu necessitas und ornatus mögen in diesem Zusammenhang genügen. Und daß >Vermenschlichung< (sofern nicht in einem fragwürdig verengten Sinn gebraucht) kein Privileg der Neuzeit ist, muß wohl kaum näher erläutert werden. Hier jedenfalls steht ein anderes Problem zur Debatte. Denn was mit Blick vor allem auf das 16. Jahrhundert als >EmanzipationBefreiung< oder >Aufklärung< gefeiert wird, hat offenkundig seinen Preis. Die (unbestreitbare) Tendenz >weg von der Ontologie< bringt auch im Bereich der Musik — mit einer Formel von Hans Blumenberg - so etwas wie einen >Ordnungsschwund< mit sich und in dessen Folge dann die Last einer zumindest partiellen Neubegründung von Musik: als eine Facette der dem Menschen seit Ausgang des Mittelalters neu auferlegten »Last seiner Selbstbehauptung«.71 Dabei fällt der Rhetorik und der affektbewegenden itnitatio — bislang auf der Ebene des ornatus angesiedelt — zusehends die Funktion eines leitenden, fundierenden, legitimierenden Prinzips zu: eines Prinzips, das nun gelegentlich eine ganz unmittelalterliche Verbindlichkeit — Priorität, wenn nicht Ausschließlichkeit - beansprucht, auf die weit eher die Kategorie der necessitas zutrifft (Nicola Viccntino: la musicafatta sopra parole, non e fatta per altro [!] se non per esprimere il concetto et le passioni et gli effetti di quelle con l'armonia;72 Vincenzo Galilei: il ßne dell'uno et dell'altro [sc. ragionare und cantare] e solo [!] 70

Frieder Rempp, Elementar- und Satzlehre von Tinctoris bis Zarlino, in: Italienische Musiktheorie (Anm. 3), S. 47f. 71 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1966, bes. S. 90ff. 72 Nicola Vincentino, L'antica musica ridotta alia moderna prattica, Rom 1555, fol. 86r.

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l'espressione de concetti dell'animo [. . .]73). So gesehen ist die Behauptung einer >Rhetorisierung< der Musik in der frühen Neuzeit sehr wohl gerechtfertigt: im begrenzten Sinne allerdings einer veränderten Bewertung und Funktion von Rhetorik — nicht aber, wie dargelegt, im Sinne einer Neuerschließung. Von einer regelrechten >Ablösung< der Ontologie durch Rhetorik kann auch deshalb nicht die Rede sein, weil die Musiktheorie im 16. Jahrhundert sogar mit besonderem Nachdruck auf Momente der traditionellen ontologischen Begründung zurückgreift. Freilich steht dabei nicht mehr die Einbindung der Musik in eine universelle kosmische Ordnung, steht nicht mehr die >wirkendc< Zahl im Vordergrund. Parallel zur >Entsakralisierung< des »Kosmos zur Weltmaschine«74 ist nun in erster Linie die >mechanischMathematisierung< des Satzes die Vorstellung, daß der >strcnge< Satz zugleich eine »von Natur gegebene Grundstruktur der Musik« schlechthin verkörpere, zeitlos wie die als unveränderlich gedachte mathematisch-physikalische Natur selbst,78 so richtet sich die >Rhetorisierung< der Musik 73

Discorso di Vincentio Galilei intorno all'uso delle Dissonanze (1587/91), hg. v. Frieder Rempp, Die Kontrapunkttraktate Vincenzo Galileis, Köln 1980 (Veröffentlichungen des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 9), S. 184. 74 Vgl. Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986, S. 483. 73 Vgl. Michael Fend, Gioseffo Zarlino, Theorie des Tonsystems. Das erste und zweite Buch der Istitutioni harmoniche (1573), aus dem Italienischen übersetzt, mit Anmerkungen, Kommentaren und einem Nachwort versehen, Frankfurt a. M. 1989 (Europäische Hochschulschriften 36/43), Nachwort S. 450. 76 Vgl. Rempp, Elementar- und Satzlehre (Anm. 70), S. 181. 77 Vgl. Fend, Zarlino (Anm. 75), S. 454. 7tl Vgl. Carl Dahlhaus, Exemplum classicum und klassisches Werk, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. v. Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck, München 1987 (Poetik und Hermeneutik 12), S. 593.

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an die individuell-geschichtliche afFektivc Natur des Menschen und begründet von dorther — mit Blick auf >bewegende< Wirkung — gerade umgekehrt die Freiheit zur Lizenz, zum Verstoß, ja zum schlechthin >UnerhörtenNebcneinander< ontologischer und rhetorischer Momente, an die Stelle einstiger (>komplementäreralternatives< Verhältnis, das zumal seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zur Konkurrenz gesteigert, ja bis zum Konflikt zwischen apodiktisch vertretenen necessitates dramatisiert werden kann. »Die verschiedenen Richtungen des geistigen Lebens stehen jetzt nicht mehr in einem derartigen Verhältnis inhaltlicher Ergänzung, daß sie ihre Geltung auf verschiedene Bezirke des Seins verteilen: sondern jede von ihnen nimmt das Ganze der Wirklichkeit für sich in Anspruch«: Ernst Cassirers generelle Situations-Charaktcrisierung nach der Abwendung von mittelalterlich »hierarchischer Gliederung«79 trifft signifikante Tendenzen und Probleme auch im Selbstverständnis und in der Selbstbehauptung musikthcoretischcr >Richtungen< der frühen Neuzeit. Zwar kann das Verhältnis ontologischer und rhetorischer Momente aus poictischer Sicht (wie Carl Dahlhaus vorgeschlagen hat) auch im Sinne der russischen Formalisten als Verhältnis von >satztechnischer Tiefenstruktur und stilistischer Oberfläche< betrachtet werden (ein Verhältnis, das an die traditionell hierarchische Unterscheidung zwischen necessitas und ornatus erinnert). Und in der Tat ist »die >seconda prattica< Claudio Monteverdis [. . .] dadurch charakterisiert, daß sie die >prima prattica< - den >strengen Satz< — nicht allein als stilistische Alternative neben sich duldete, sondern darüber hinaus als Folie und Bezugssystem brauchte, um die Wirkungen zu erzielen, die sie erstrebte«.80 Das historische Verdienst Monteverdis liegt für Silke Leopold denn auch in einer entsprechenden Integrationsleistung, nämlich im »behutsamen Zurückfuhren der Florentiner Pioniertaten [Camerata] auf den Boden der Musik und ihrer Eigengesetzlichkeiten«.81 Aus der Sicht der Neubcgründung von Musik und Musiktheorie und der Selbstbehauptung ihrer >Richtungen< zeigt sich das Verhältnis allerdings weit weniger harmonisch: das Bild ist weniger durch Integrationsleistungen als vielmehr, wie eingangs erwähnt, durch >Oppositionen< und zunehmende Apodiktik gekennzeichnet. Und so wenig dieses Verhältnis von den Betroffenen in seinen methodischen Voraussetzungen und Implikationen selbst ausdrücklich erörtert worden ist, so eindringlich wird es in Symptomen deutlich — z. B. in der Art und Weise, wie man nun veritä, den >Besitz der WahrheitÜbergang< zur frühen Neuzeit zusehends bestimmt. Es ist das Entstehen programmatisch verschiedener >Richtungen< des Komponierens, die sich immer wieder neu um Begründung und Absicherung bemühen (müssen) und sich dabei wechselweise auf (ontologische, anthropologische, geschichtsphilosophische, >wissenschaftliche^ necessitas berufen - >RichtungenSprachenprima< und >seconda pratica< konstatiert hat)88 liegt wohl ebenso in der Ermöglichung radikaler Experimente und Innovationen dank radikaler Einseitigkeit wie in der permanenten Herausforderung zu neuer Selbstbegründung dank permanenter Beunruhigung durch Alternativen, die konkurrierende Prinzipien in Frage stellen. Die außerordentliche Dynamik europäischer Musikgeschichte gerade seit der frühen Neuzeit ist wohl nicht zuletzt der stetigen Veranlassung zu danken, zwischen den >Sprachen< zu vermitteln. Aber auch prekäre Konsequenzen jener >Spaltung< der Musik sind, weit über das 17. Jahrhundert hinaus, bis in die Gegenwart manifest. Die verbissenen Auseinandersetzungen beispielsweise um historische Priorität und ästhetischen Primat von (mathematisch-physikalisch begründeter) harmonic und (gefühlsgezeugter) melodie im 18. Jahrhundert lassen ebenso das Grundmuster des neuzeitlichen ontologisch-rhetorischcn Spannungsverhältnisses erkennen wie noch die Kontroversen um Tonalität und Atonalität im frühen 20. Jahrhundert: erbitterte, dogmatisch aufgeladene Kämpfe, in denen die Überzeugung von der Naturgegebenheit des tonalen Systems und die Berufung auf einen unberechenbaren menschlichen >Ausdruckszwang< einander unversöhnlich gegenüberstanden. Mag also die Kontinuität von Handwerk und Ideen auch stärker sein, als gemeinhin angenommen: die Verbindlichkeit der Gründe und die Art der Begründung von Musik - mit allen Konsequenzen für Komponieren und Kompositionsverständnis - haben sich so fundamental gewandelt, daß wohl tatsächlich von »dramatic changes in music«89 zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit gesprochen werden darf, ja vielleicht gesprochen werden muß.

88

Renate Groth, Italienische Musiktheorie im 17. Jahrhundert, in: Italienische Musiktheorie (Anm. 3), S. 323. 89 Buelow, Rhetoric (Anm. 2), S. 793.

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JOSEPH LEO KOERNER The disfigured self-portraits of Hans Baidung Grien

The Romantic allegorization of the Fall is powerful and seductive. Adam and Eve, originally one with the natural world, taste in the forbidden fruit a knowledge or consciousness which sets them apart from nature. Recognizing their own nakedness, they enter into a severed existence. They are now split between, on the one hand, a constant nostalgia for a prior belonging in the world, and, on the other, an entrapping consciousness of self which keeps them perpetually repeating their tragic exile. Fueling the Romantic dialectic of nature and consciousness, however, is a promise of return. As Heinrich von Kleist wrote in his essay >Übcr das Marionettentheatern »Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns [. . .]. Mithin [. . .] müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen«.1 This is Kleist's version of the last chapter of the history of the world, where innocence is recovered at the far side and by means of experience. As in most Romantic fables of fall and salvation, Kleist stages this drama in the privileged domain of art: it is in the work of art that the tragic consequences of self-consciousness are at once cxemplarily instantiated and apocalyptically overcome. Now the relation between the Fall and self-consciousness is not in itself new to the Romantics. Already in the fourteenth century, the anonymous author of the >Thcologia Deutsch< translates the historical events in Eden into an inner struggle of the self with itself: Mann spricht: darumb, das Adam den Apffel aß, wer er verloren oder gefallen. Ich sprich: es was umb seyn annemen und umb syn ich, meyn, myr, mich, und umb das gleich.2 For the fourteenth-century anonymous, as for Luther two hundred years later, >selfTheologiaTheologiacurvcd in on oneselfTheologia< and Luther, sec Steven E. Ozment, Mysticism and Dissent: Religious

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Joseph Leo Koerner

symptom of Original Sin, as well as agency of redemption. For what Luther generally calls the >Gcrman theology< is a faith of radical interiority, in which justification occurs only when a believer discovers, by grace of God, his true self or God's-I within. Romanticism, of course, revises this traditional theology of the self in two fundamental ways. First, no clear distinction is maintained between, on one hand, the >I< of disobedience and guilty self-consciousness, and, on the other, the >I< of redemption; and second, the struggle of self-consciousness gets staged in the secular but culturally binding space of art. In the essay >Uber das Marionettenthcaten, Kleist's examples of fallenness are not moral, but aesthetic: the actor who overdoes his gesture, so that »die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen«;4 the fencer whose deft feints keep him from ever hitting his mark; the beautiful, but vain young man who tries consciously to imitate the pose of an antique statue and loses in that moment his inborn bodily grace. Against such affectations (»Ziererei«), Kleist sets a curious vision of aesthetic perfection: »die Grazie [erscheint], zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten [. . .], der entweder gar kcins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedcrmann, oder in dem Gott [>Grace shall appear at its purest in a body which is entirely devoid of consciousness or which possesses it in an infinite degree; that is, in the marionette or in the godDeath and the Woman< from 1519, now in Basel (figure 3). I take this panel to be a macabre companion piece to the woodcut, in which the corpse has taken the place of Adam in the composition. Death, the true consequence of sexuality and the Fall, is visited upon man in the very moment of its sinful embrace. Elsewhere I have shown how the painting's true locus of desire and mortification is not Adam, or Death, but rather the viewer whose desire is at once aroused by the carefully displayed nude and repulsed by the corpse's erotic embrace.8 The word >cadaver< comes from cadere, which means to fall, which is exactly what happens to the viewer in his involuntary seduction by and abjection before the image. In this concatenation of the Fall and the macabre, as in so many of Baldung's images generally, the picture turns outward towards the self of the viewer, implicating it in its plot and interpreting it as the represented scene's true >subjectshall crush thy headEnchiridion Woman undauntingly grinds under her foot the venomous head. [. . .] and the tyranny of the flesh has been diminished.