Traditionelle und kritische Theorie 9783159618746, 9783150140192

Kritische Theorie soll die Gesellschaft emanzipieren, statt sie wie herkömmliche Forschung nur zu erfassen. Die Grundzüg

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Traditionelle und kritische Theorie
 9783159618746, 9783150140192

Table of contents :
Aufsatz "Traditionelle und kritische Theorie" von Max Horkheimer
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Literaturhinweise
Nachwort: Kritische Theorie: Die Idee einer emanzipatorischen Wissenschaft

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Max Horkheimer

Traditionelle und kritische Theorie Herausgegeben von Frieder Vogelmann

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen   Copyright für die Printausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2020 Copyright für die digitale Ausgabe: © Fondazione Max Horkheimer, Lugano   Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen Made in Germany 2021 RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart I S B N 978-3-15-961874-6 I S B N der Buchausgabe 978-3-15-014019-2 www.reclam.de

Inhalt Traditionelle und kritische Theorie Zu dieser Ausgabe Anmerkungen Literaturhinweise Kritische Theorie: Die Idee einer emanzipatorischen Wissenschaft 1 Max Horkheimer, das Institut für Sozialforschung und seine Zeitschrift 2 Was ist traditionelle Theorie? 3 Wissenschaft als Ideologie 4 »Es gibt nun ein menschliches Verhalten …« 5 Unmittelbare Reaktionen 6 Philosophie oder Sozialforschung? 7 Kritik der kritischen Theorie 8 Unabgegoltenes

Traditionelle und kritische Theorie [162]

Die Frage, was Theorie sei, scheint nach dem heutigen Stand

der Wissenschaft keine großen Schwierigkeiten zu bieten. Theorie gilt in der gebräuchlichen Forschung als ein Inbegriff von Sätzen über ein Sachgebiet, die so miteinander verbunden sind, daß aus einigen von ihnen die übrigen abgeleitet werden können. Je geringer die Zahl der höchsten Prinzipien im Verhältnis zu den Konsequenzen, desto vollkommener ist die Theorie. Ihre reale Gültigkeit besteht darin, daß die abgeleiteten Sätze mit tatsächlichen Ereignissen zusammenstimmen. Zeigen sich dagegen Widersprüche zwischen Erfahrung und Theorie, so wird man diese oder jene revidieren müssen. Entweder hat man schlecht beobachtet oder mit den theoretischen Prinzipien ist etwas nicht in Ordnung. Im Hinblick auf die Tatsachen bleibt die Theorie daher stets Hypothese. Man muß bereit sein, sie zu ändern, wenn sich beim Bewältigen des Materials Unzuträglichkeiten herausstellen. Theorie ist das aufgestapelte Wissen in einer Form, die es zur möglichst eingehenden Kennzeichnung von Tatsachen brauchbar macht. Poincaré

vergleicht die Wissenschaft mit einer Bibliothek, die

unaufhörlich wachsen soll. Die Experimentalphysik spielt die Rolle des Bibliothekars, der die Ankäufe besorgt, das heißt, sie bereichert das Wissen, indem sie Material herbeischafft. Die mathematische Physik, die Theorie der Naturwissenschaft im strengsten Sinn, hat die Aufgabe, den Katalog herzustellen. Ohne den Katalog könnte man sich der Bibliothek trotz aller Reichtümer nicht bedienen. »Das

ist also die Rolle der mathematischen Physik, sie muß die Verallgemeinerung in dem Sinne leiten, daß sie ... den Nutzeffekt erhöht.« 1 Als Ziel der Theorie überhaupt erscheint das universale System der Wissenschaft. Es [163] ist nicht mehr auf ein besonderes Gebiet beschränkt, sondern umfaßt alle möglichen Gegenstände. Die Trennung der Wissenschaften ist aufgehoben, indem die auf verschiedene Bereiche bezogenen Sätze auf dieselben Prämissen zurückgeführt werden. Derselbe begriffliche Apparat, der zur Bestimmung der toten Natur bereitsteht, dient auch zum Einordnen der lebendigen, und jeder, der seine Handhabung, das heißt die Regeln des Ableitens, das Zeichenmaterial, das Verfahren beim Vergleich von deduzierten Sätzen mit der Feststellung von Tatsachen und so fort einmal gelernt hat, kann sich seiner jederzeit bedienen. Von diesem Zustand sind wir noch entfernt. Das ist, freilich im groben, die heute verbreitete Vorstellung vom Wesen der Theorie. Sie pflegt sich aus den Anfängen der neueren Philosophie herzuleiten. Als die dritte Maxime seiner wissenschaftlichen Methode bezeichnet Descartes den Entschluß, »der Ordnung nach meine Gedanken zu leiten, also bei den einfachsten und am leichtesten zu erkennenden Gegenständen zu beginnen, um nach und nach sozusagen gradweise bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten aufzusteigen, wobei ich selbst unter denen Ordnung voraussetzte, die nicht in der natürlichen Weise aufeinander folgen«. Die Ableitung, wie sie in der Mathematik üblich ist, sei auf die gesamte Wissenschaft anzuwenden. Die Ordnung der Welt erschließt sich einem deduktiven gedanklichen

Zusammenhang. »Die langen Ketten von ganz einfachen und leicht einzusehenden Vernunftgründen, deren sich die Geometer zu bedienen pflegen, um zu ihren schwierigsten Beweisen zu gelangen, hatten mich darauf geführt, mir vorzustellen, daß alle Dinge, die unter die Erkenntnis der Menschen fallen können, untereinander in derselben Beziehung stehen und daß, wenn man nur darauf achtet, kein Ding für wahr zu halten, das es nicht ist, und stets die Ordnung beibehält, die erforderlich ist, um die einen von den andern abzuleiten, es keine so entfernten Erkenntnisse geben kann, zu denen man nicht gelangte, noch auch so verborgene, die man nicht entdeckte.« 2 Je nach der übrigen philosophischen Einstellung des Logikers werden die allgemeinsten Sätze, von denen die Deduktion ihren Ausgang nimmt, selbst noch [164] als Erfahrungsurteile, als Induktionen angesehen, wie bei John Stuart Mill, als evidente Einsichten, wie in rationalistischen und phänomenologischen Strömungen, oder als willkürliche Festsetzungen, wie in der modernen Axiomatik. In der fortgeschrittensten Logik der Gegenwart, wie sie in Husserls Logischen Untersuchungen repräsentativen Ausdruck gefunden hat, wird Theorie »als in sich geschlossenes Sätzesystem einer Wissenschaft überhaupt« bezeichnet. 3 Theorie im prägnanten Sinn ist »eine systematische Verknüpfung von Sätzen in der Form einer systematisch einheitlichen Deduktion« 4 . Wissenschaft heißt »ein gewisses Universum von Sätzen ..., wie immer aus theoretischer Arbeit erwachsen, in deren systematischer Ordnung ein gewisses Universum von Gegenständen zur Bestimmung kommt« 5 . Daß alle Teile durchgängig und

widerspruchslos miteinander verknüpft sind, ist die Grundforderung, die jedes theoretische System befriedigen muß. Einstimmigkeit, welche Widerspruchslosigkeit einschließt, sowie das Fehlen überflüssiger, rein dogmatischer Bestandteile, die ohne Einfluß auf die beobachtbaren Erscheinungen sind, bezeichnet Weyl als unerläßliche Bedingung. 6 Soweit dieser traditionelle Begriff von Theorie eine Tendenz aufweist, zielt sie auf ein rein mathematisches Zeichensystem ab. Als Elemente der Theorie, als Teile der Schlüsse und Sätze, fungieren immer weniger Namen für erfahrbare Gegenstände, sondern mathematische Symbole. Auch die logischen Operationen selbst sind bereits so weit rationalisiert, daß zumindest in großen Teilen der Naturwissenschaft die Theorienbildung zur mathematischen Konstruktion geworden ist. Die Wissenschaften von Mensch und Gesellschaft sind bestrebt, dem Vorbild der erfolgreichen Naturwissenschaften nachzufolgen. Der Unterschied zwischen den Schulen der Gesellschaftswissenschaft, die mehr auf Tatsachenforschung und denen, die mehr auf Prinzipien eingestellt sind, hat unmittelbar mit dem Begriff der Theorie als solcher nichts zu tun. Die emsige Sammelarbeit in allen [165] Fächern, die sich mit sozialem Leben befassen, das Zusammentragen gewaltiger Mengen von Einzelheiten über Probleme, die mittels sorgfältiger Enqueten oder anderer Hilfsmittel betriebenen empirischen Forschungen, wie sie seit Spencer besonders

in den angelsächsischen Universitäten einen

großen Teil der Aktivität ausmachen, bieten gewiß ein Bild, das dem

sonstigen Leben unter der industriellen Produktionsweise äußerlich verwandter erscheint als die Formulierung abstrakter Prinzipien, als die Erwägungen über Grundbegriffe am Schreibtisch, wie sie etwa für einen Teil der deutschen Soziologie kennzeichnend waren. Aber das bedeutet keinen strukturellen Unterschied des Denkens. In den späten Perioden der gegenwärtigen Gesellschaft haben die sogenannten Geisteswissenschaften ohnehin nur einen schwankenden Marktwert; sie müssen schlecht und recht versuchen, es den glücklicheren Naturwissenschaften gleichzutun, deren Verwendungsmöglichkeit jeder Frage enthoben ist. Über die Identität der Auffassung von Theorie in den verschiedenen Soziologenschulen untereinander und mit den Naturwissenschaften kann jedenfalls kein Zweifel herrschen. Die Empiriker haben keine andere Vorstellung von durchgebildeter Theorie als die Theoretiker. Sie sind bloß der selbstbewußten Überzeugung, daß angesichts der Kompliziertheit der gesellschaftlichen Probleme und des Standes der Wissenschaft die Arbeit an allgemeinen Prinzipien als bequeme und müßige Angelegenheit zu betrachten sei. Soweit theoretische Arbeit geleistet werden müsse, vollziehe sie sich in stetigem Umgang mit dem Material; an umfassende theoretische Darstellungen sei in absehbarer Zeit noch gar nicht zu denken. Die Methoden exakter Formulierung, besonders mathematische Verfahrensweisen, deren Sinn mit dem umrissenen Begriff von Theorie aufs engste zusammenhängt, sind bei diesen Gelehrten sehr beliebt. Es ist weniger die Theorie überhaupt als die von anderen und ohne eigenen Umgang mit den Problemen einer empirischen Fachwissenschaft von »oben her« entworfene Theorie, deren

Bedeutung von dieser Seite bestritten wird. Unterscheidungen wie die zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (Tönnies), zwischen der mechanischen und organischen Solidarität (Durkheim), zwischen Kultur und Zivilisation (A. Weber) als

Grundformen menschlicher

Vergesellschaftung enthüllten sogleich ihre Problematik, wenn man sie auf konkrete Probleme anzuwenden versuche. Der Weg, den die [166] Soziologie beim gegenwärtigen Stand der Forschung nehmen müsse, sei der mühsame Aufstieg von der Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene zum eingehenden Vergleichen und von da erst zur Bildung allgemeiner Begriffe. Der hier vorliegende Gegensatz läuft darauf hinaus, daß die Empiriker ihrer Tradition gemäß nur abgeschlossene Induktionen als die höchsten Sätze der Theorie gelten lassen wollen und glauben, man sei von solchen noch weit entfernt. Ihre Gegner halten für die Bildung der höchsten Kategorien und Einsichten auch andere, nicht so sehr vom Fortschreiten der Materialsammlung abhängige Verfahrensweisen für richtig. Mag zum Beispiel Durkheim selbst vielfach mit den Grundansichten der Empiristen übereinstimmen; soweit es ihm um Prinzipien zu tun ist, erklärt er den Induktionsprozeß für abkürzbar. Die Klassifikation gesellschaftlicher Vorgänge auf Grund bloß empirischer Bestandsaufnahmen ist nach ihm weder möglich noch könnte sie die Forschung derart erleichtern, wie man es von ihr erwartet. »Ihre Rolle ist es, uns Anhaltspunkte an die Hand zu geben, an die wir andere Beobachtungen anknüpfen können als die, durch welche wir diese Anhaltspunkte selbst erworben haben. Zu diesem Zweck jedoch

muß sie nicht nach einem vollständigen Inventar aller individuellen Züge entworfen sein, sondern nach einer kleinen, sorgfältig ausgewählten Anzahl von ihnen ... Sie kann dem Beobachter sehr viele Schritte ersparen, weil sie ihn führen wird ... Wir müssen also für unsere Klassifikation besonders wesentliche Züge heraussuchen.« 7 Ob nun aber die höchsten Prinzipien durch Auswahl, durch Wesensschau oder durch reine Festsetzung gewonnen werden, bedeutet hinsichtlich ihrer Funktion im idealen theoretischen System keinen Unterschied. Gewiß ist, daß der Wissenschaftler seine mehr oder minder allgemeinen Sätze an die neu auftretenden Tatsachen als Hypothesen heranbringt. Der phänomenologisch orientierte Soziologe wird freilich versichern, daß es nach Feststellung eines Wesensgesetzes unzweifelhaft sicher sei, daß sich jedes Exemplar ihm entsprechend verhalten müsse. Aber der hypothetische Charakter des Wesensgesetzes macht sich dann in dem Problem geltend, ob im Einzelfall ein Exemplar des [167] betreffenden oder eines verwandten Wesens vorliegt, ob es sich um ein schlechtes Exemplar des einen oder ein gutes der anderen Gattung handelt. Immer steht auf der einen Seite das gedanklich formulierte Wissen, auf der anderen ein Sachverhalt, der unter es befaßt werden soll, und dieses Subsumieren, dieses Herstellen der Beziehung zwischen der bloßen Wahrnehmung oder Konstatierung des Sachverhalts und der begrifflichen Struktur unseres Wissens heißt seine theoretische Erklärung. Von den verschiedenen Arten der Einordnung braucht hier im einzelnen nicht die Rede zu sein. Es sei nur kurz angedeutet, wie es

sich nach diesem traditionellen Begriff von Theorie mit dem Erklären geschichtlicher Ereignisse verhält. In der Kontroverse zwischen Eduard Meyer und Max Weber tritt

das deutlich hervor. Meyer hatte die

Frage, ob bei Ausbleiben gewisser Willensentschlüsse bestimmter historischer Personen die von ihnen entfesselten Kriege früher oder später doch zustande gekommen wären, unbeantwortbar und müßig genannt. Weber wollte im Gegensatz dazu erweisen, daß dann Geschichtserklärung überhaupt unmöglich sei. Er entwickelte im Anschluß an Theorien des Physiologen v. Kries und juristischer und nationalökonomischer Autoren wie Merkel, Liefmann und Radbruch die

»Theorie der objektiven Möglichkeit«. Die Erklärung des Historikers bestehe ebensowenig wie die des Strafrechtlers in einer möglichst vollständigen Aufzählung aller beteiligten Umstände, sondern im Hervorheben des Zusammenhangs zwischen bestimmten, für den geschichtlichen Fortgang interessanten Bestandteilen des Ereignisses und einzelnen, determinierenden Vorgängen. Dieser Zusammenhang, also etwa das Urteil, daß ein Krieg durch die Politik eines zielbewußten Staatsmanns entfesselt worden sei, setzt logisch voraus, daß im Fall des Unterbleibens dieser Politik nicht der durch sie erklärte Effekt, sondern ein anderer eingetreten wäre. Wird eine bestimmte historische Verursachung behauptet, so schließt das immer ein, daß bei ihrem Fehlen infolge der bekannten Erfahrungsregeln unter den vorhandenen Umständen eine bestimmte andere Wirkung sich geltend gemacht hätte. Die Erfahrungsregeln sind dabei nichts anderes als die Formulierungen unseres Wissens über die ökonomischen, gesellschaftlichen und

psychologischen Zusammenhänge. Mit ihrer Hilfe konstruieren wir den wahrscheinlichen Verlauf, wobei wir das Ereignis weglassen [168] und einsetzen, das zur Erklärung dienen soll. 8 Es ist ein Operieren mit Konditionalsätzen, angewandt auf eine gegebene Situation. Unter Voraussetzung der Umstände a b c d muß das Ergebnis q erwartet werden, fällt d weg, das Ereignis r, tritt g hinzu, das Ereignis s, und so fort. Solches Kalkulieren gehört zum logischen Gerüst der Historie wie der Naturwissenschaft. Es ist die Existenzweise von Theorie im traditionellen Sinn. Was die Wissenschaftler auf den verschiedensten Gebieten somit als das Wesen der Theorie ansehen, entspricht in der Tat ihrer unmittelbaren Aufgabe. Sowohl die Handhabung der physischen Natur wie auch diejenige bestimmter ökonomischer und sozialer Mechanismen erfordert eine Formung des Wissensmaterials, wie sie in einem Ordnungsgefüge von Hypothesen gegeben ist. Die technischen Fortschritte des bürgerlichen Zeitalters sind von dieser Funktion des Wissenschaftsbetriebs nicht abzulösen. Einerseits werden durch ihn die Tatsachen für das Wissen fruchtbar gemacht, das unter den gegebenen Verhältnissen verwertbar ist, andererseits das vorhandene Wissen auf die Tatsachen angewandt. Es besteht kein Zweifel, daß solche Arbeit ein Moment der fortwährenden Umwälzung und Entwicklung der materiellen Grundlagen dieser Gesellschaft darstellt. Soweit der Begriff der Theorie jedoch verselbständigt wird, als ob er etwa aus dem inneren Wesen der Erkenntnis oder sonstwie unhistorisch zu begründen sei, verwandelt er sich in eine verdinglichte, ideologische Kategorie.

Sowohl die Fruchtbarkeit neu entdeckter tatsächlicher Zusammenhänge für die Umgestaltung der vorhandenen Erkenntnis wie deren Anwendung auf Tatbestände sind Bestimmungen, die nicht auf rein logische oder methodologische Elemente zurückgehen, sondern jeweils nur im Zusammenhang mit realen gesellschaftlichen Prozessen zu verstehen sind. Daß eine Entdeckung die Umstrukturierung vorhandener Ansichten veranlaßt, ist nie ausschließlich durch logische Erwägungen, des näheren durch den Widerspruch zu bestimmten Teilen der herrschenden Vorstellungen begründbar. Es sind immer Hilfshypothesen ausdenkbar, durch die eine Änderung [169] der Theorie im ganzen vermieden werden könnte. Daß gleichwohl neue Ansichten sich durchsetzen, steht, auch wenn für die Wissenschaftler selbst nur immanente Motive bestimmend sind, in konkreten historischen Zusammenhängen. Das wird von den modernen Erkenntnistheoretikern nicht geleugnet, wenn sie auch bei den maßgebenden außerszientivischen Faktoren weniger an die gesellschaftlichen Verhältnisse als an Genie und Zufall denken. Daß man im siebzehnten Jahrhundert begann, die Schwierigkeiten, in welche die traditionelle astronomische Erkenntnisweise geraten war, nicht mehr durch zusätzliche Konstruktionen zu erledigen, sondern zum kopernikanischen System überging, lag nicht an seinen logischen Eigenschaften – etwa der größeren Einfachheit – allein. Daß diese als Vorzüge wirkten, führt selbst auf die Grundlagen der gesellschaftlichen Praxis jener Epoche. Wie das im sechzehnten Jahrhundert kaum erwähnte kopernikanische System dazu kam, zu einer revolutionären Macht

zu werden, bildet einen Teil des geschichtlichen Prozesses, in dem das mechanistische Denken zur Herrschaft gelangt. 9 Daß die Änderung wissenschaftlicher Strukturen von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation abhängt, gilt jedoch nicht allein für so umfassende Theorien wie das kopernikanische System, sondern auch für die speziellen Forschungsprobleme im Alltag. Ob das Auffinden neuer Varietäten auf einzelnen Gebieten der anorganischen oder organischen Natur, sei es im chemischen Laboratorium oder bei paläontologischen Forschungen, zur Änderung alter Klassifikationen oder zum Entstehen neuer den Anlaß bildet, läßt sich keineswegs nur aus der logischen Situation ableiten. Die Erkenntnistheoretiker pflegen sich hier mit einem nur scheinbar ihrer Wissenschaft immanenten Begriff der Zweckmäßigkeit zu helfen. Ob und wie neue Definitionen zweckmäßig aufgestellt werden, hängt in Wahrheit nicht bloß von der Einfachheit und Folgerichtigkeit des Systems, sondern unter anderem auch von Richtung und Zielen der Forschung ab, die aus ihr selbst weder zu erklären noch gar letztlich einsichtig zu machen sind. [170] Und

wie der Einfluß des Materials auf die Theorie so ist auch

die Anwendung der Theorie auf das Material nicht nur ein innerszientivischer,

sondern zugleich ein gesellschaftlicher Vorgang.

Die Beziehung von Hypothesen auf Tatsachen vollzieht sich schließlich nicht im Kopf der Gelehrten, sondern in der Industrie. Die Regeln, daß Steinkohlenteer, wenn er bestimmten Einwirkungen unterworfen wird, Farbqualitäten entwickelt oder daß Nitroglyzerin,

Salpeter und andere Stoffe eine hohe Sprengkraft haben, sind aufgestapeltes Wissen, das in den Fabriksälen der großen Industrien wirklich auf die Tatsachen angewendet wird. Unter den verschiedenen philosophischen Schulen scheinen besonders die Positivisten und Pragmatisten die Verflechtung der theoretischen Arbeit in den Lebensprozeß der Gesellschaft zu berücksichtigen. Sie bezeichnen die Voraussicht und Brauchbarkeit der Resultate als Aufgabe der Wissenschaft. In der Realität ist diese Zielbewußtheit, der Glaube an den sozialen Wert seines Berufs für den Gelehrten jedoch eine Privatangelegenheit. Er mag ebensowohl an ein unabhängiges, »suprasoziales«, freischwebendes Wissen glauben wie an die soziale Bedeutung seines Fachs: dieser Gegensatz der Interpretation beeinflußt sein faktisches Tun nicht im geringsten. Der Gelehrte und seine Wissenschaft sind in den gesellschaftlichen Apparat eingespannt, ihre Leistung ist ein Moment der Selbsterhaltung, der fortwährenden Reproduktion des Bestehenden, gleichviel, was sie sich selbst für einen Reim darauf machen. Sie müssen nur ihrem »Begriff« entsprechen, das heißt Theorie in dem Sinn herstellen, wie er oben beschrieben wurde. In der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hat der Gelehrte Tatsachen in begriffliche Ordnungen einzugliedern und diese so instand zu halten, daß er selbst und alle, die sich ihrer bedienen müssen, ein möglichst weites Tatsachengebiet beherrschen können. Das Experiment hat innerhalb der Wissenschaft den Sinn, die Tatsachen in einer Weise festzustellen, die der jeweiligen Situation der Theorie besonders angemessen ist. Das Tatsachenmaterial, der Stoff wird

von außen geliefert. Die Wissenschaft besorgt seine klare, übersichtliche Formulierung, so daß man die Kenntnisse handhaben kann, wie man will. Für den Gelehrten ist das Aufnehmen, Umformen, Durchrationalisieren des Tatsachenwissens, gleichviel, ob es sich um ein möglichst eingehendes Darlegen des Stoffes wie in der Historie und den beschreibenden [171] Zweigen anderer Einzelwissenschaften oder um die Zusammenfassung von Datenmassen und das Gewinnen allgemeiner Regeln wie in der Physik handelt, seine besondere Art der Spontaneität, die theoretische Betätigung. Der Dualismus von Denken und Sein, Verstand und Wahrnehmung ist ihm natürlich. Die traditionelle Vorstellung der Theorie ist aus dem wissenschaftlichen Betrieb abstrahiert, wie er sich innerhalb der Arbeitsteilung auf einer gegebenen Stufe vollzieht. Sie entspricht der Tätigkeit des Gelehrten, wie sie neben allen übrigen Tätigkeiten in der Gesellschaft verrichtet wird, ohne daß der Zusammenhang zwischen den einzelnen Tätigkeiten unmittelbar durchsichtig wird. In dieser Vorstellung erscheint daher nicht die reale gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft, nicht was Theorie in der menschlichen Existenz, sondern nur, was sie in der abgelösten Sphäre bedeutet, worin sie unter den historischen Bedingungen erzeugt wird. In Wahrheit resultiert jedoch das Leben der Gesellschaft aus der Gesamtarbeit der verschiedenen Produktionszweige, und wenn die Arbeitsteilung unter der kapitalistischen Produktionsweise auch nur schlecht funktioniert, so sind ihre Zweige, auch die Wissenschaft, doch nicht als selbständig und unabhängig anzusehen. Sie sind

Besonderungen der Art und Weise, wie sich die Gesellschaft mit der Natur auseinandersetzt und in ihrer gegebenen Form erhält. Sie sind Momente des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, mögen sie selbst auch wenig oder gar nicht produktiv im eigentlichen Sinne sein. Weder die Struktur der industriellen und agrarischen Produktion noch die Trennung von sogenannten leitenden und ausführenden Funktionen, Diensten und Arbeiten, geistigen und manuellen Verrichtungen sind ewige oder natürliche Verhältnisse; sie gehen vielmehr aus der Produktionsweise in bestimmten Gesellschaftsformen hervor. Der Schein der Selbständigkeit von Arbeitsprozessen, deren Verlauf sich aus einem inneren Wesen ihres Gegenstandes herleiten soll, entspricht der scheinhaften Freiheit der Wirtschaftssubjekte in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie glauben, nach individuellen Entschlüssen zu handeln, während sie noch in ihren kompliziertesten Kalkulationen Exponenten des unübersichtlichen gesellschaftlichen Mechanismus sind. Das falsche Selbstbewußtsein des bürgerlichen Gelehrten unter der liberalistischen Ära zeigt sich in den verschiedensten philoso[172]phischen

Systemen. Einen besonders prägnanten Ausdruck hat

es um die Jahrhundertwende im Neukantianismus Marburger Prägung gefunden. Einzelne Züge der theoretischen Tätigkeit des Fachgelehrten werden hier zu universalen Kategorien, gleichsam zu Momenten des Weltgeistes, des ewigen »Logos«, gemacht, oder vielmehr entscheidende Züge des gesellschaftlichen Lebens werden auf die theoretische Tätigkeit des Gelehrten reduziert. Die »Kraft der Erkenntnis« wird »die Kraft des Ursprungs« genannt. Unter

»Erzeugen« wird die »schöpferische Souveränität des Denkens« verstanden. Sofern etwas als gegeben erscheint, müsse es gelingen, alle Bestimmungen an ihm aus den theoretischen Systemen, in letzter Linie aus der Mathematik zu konstituieren; alle endlichen Größen lassen sich mittels der Infinitesimalrechnung aus dem Begriff des unendlich Kleinen herleiten, und eben dies sei ihre »Erzeugung«. Das einheitliche System der in diesem Sinn allmächtigen Wissenschaft ist das Ideal. Und weil am Gegenstand sich alles in gedankliche Bestimmung auflöst, ist als Resultat dieser Arbeit nichts Festes, Materielles vorzustellen; die bestimmende, einordnende, einheitstiftende Funktion ist das einzige, worin alles gründet, worauf alle menschliche Anstrengung abzielt. Die Erzeugung ist Erzeugung der Einheit, und die Erzeugung selbst ist das Erzeugnis. 10 Der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit besteht nach dieser Logik eigentlich darin, daß von dem armseligen Ausschnitt der Welt, den der Gelehrte zu Gesicht bekommt, immer mehr in der Form des Differentialquotienten ausdrückbar wird. Während in Wirklichkeit der wissenschaftliche Beruf ein unselbständiges Moment in der Arbeit, der geschichtlichen Aktivität der Menschen ist, wird er hier an ihre Stelle gesetzt. Sofern die Vernunft in einer künftigen Gesellschaft tatsächlich die Ereignisse bestimmen soll, ist diese Hypostasierung des Logos als der Wirklichkeit auch eine verkleidete Utopie. Die Selbsterkenntnis des Menschen in der Gegenwart ist jedoch nicht die mathematische Naturwissenschaft, die als ewiger Logos erscheint, sondern die vom

Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der bestehenden Gesellschaft. Die isolierende Betrachtung einzelner Tätigkeiten und Tätigkeits[173]zweige

mitsamt ihren Inhalten und Gegenständen bedarf, um

wahr zu sein, des konkreten Bewußtseins ihrer eigenen Beschränktheit. Es muß zu einer Konzeption übergegangen werden, in der die Einseitigkeit, welche durch die Abhebung intellektueller Teilvorgänge von der gesamtgesellschaftlichen Praxis notwendig entsteht, wieder aufgehoben wird. In der Vorstellung der Theorie, wie sie sich dem Gelehrten selbst von seinem eigenen Beruf her unausweichlich ergibt, bietet das Verhältnis von Tatsache und begrifflicher Ordnung einen wichtigen Ansatzpunkt zu einer solchen Überwindung. Auch die herrschende Erkenntnistheorie hat die Problematik dieses Verhältnisses erkannt. Es wird immer wieder hervorgehoben, daß dieselben Gegenstände in der einen Disziplin Probleme bilden, die in kaum absehbarer Zeit zu lösen sind, und in der anderen als schlichte Tatbestände hingenommen werden. Zusammenhänge, die in der Physik der Forschung als Thema aufgegeben sind, werden in der Biologie als selbstverständlich vorausgesetzt. In der Biologie selbst gilt das gleiche für die physiologischen im Verhältnis zu den psychologischen Abläufen. Die Sozialwissenschaften nehmen die gesamte menschliche und außermenschliche Natur als gegeben und interessieren sich für den Aufbau der Beziehungen zwischen Mensch und Natur und der Menschen untereinander. Aber nicht durch den Hinweis auf diese der bürgerlichen Wissenschaft immanente Relativität des

Verhältnisses von theoretischem Denken und Tatsachen ist der Begriff von Theorie weiter zu entwickeln, sondern durch eine Erwägung, die nicht allein den Wissenschaftler, sondern die erkennenden Individuen überhaupt betrifft. Die gesamte wahrnehmbare Welt, wie sie für das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft vorhanden ist und in der damit in Wechselwirkung stehenden traditionellen Weltauffassung interpretiert wird, gilt ihrem Subjekt als Inbegriff von Faktizitäten, sie ist da und muß hingenommen werden. Das ordnende Denken jedes Einzelnen gehört mit zu den gesellschaftlichen Reaktionen, die dahin tendieren, sich in einer den Bedürfnissen möglichst entsprechenden Weise anzupassen. Zwischen dem Individuum und der Gesellschaft besteht hier aber ein wesentlicher Unterschied. Dieselbe Welt, die für den Einzelnen etwas an sich Vorhandenes ist, das er aufnehmen muß und berücksichtigt, ist in der Gestalt, wie sie da ist und fortbesteht, ebensosehr Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis. Was [174] wir in der Umgebung wahrnehmen, die Städte, Dörfer, Felder und Wälder tragen den Stempel der Bearbeitung an sich. Die Menschen sind nicht nur in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Gefühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondern auch die Art, wie sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozeß, wie er in den Jahrtausenden sich entwickelt hat, nicht abzulösen. Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen

Charakter des wahrnehmenden Organs. Beide sind nicht nur natürlich, sondern durch menschliche Aktivität geformt; das Individuum jedoch erfährt sich selbst bei der Wahrnehmung als aufnehmend und passiv. Der Gegensatz von Passivität und Aktivität, der in der Erkenntnistheorie als Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand auftritt, gilt für die Gesellschaft nicht im gleichen Maß wie für das Individuum. Wo sich dieses als passiv und abhängig erfährt, ist jene, die sich doch aus Individuen zusammensetzt, ein wenn auch bewußtloses und insofern uneigentliches, jedoch tätiges Subjekt. Dieser Unterschied in der Existenz von Mensch und Gesellschaft ist ein Ausdruck der Zerspaltenheit, die den geschichtlichen Formen des gesellschaftlichen Lebens bisher eigen war. Die Existenz der Gesellschaft hat entweder auf unmittelbarer Unterdrückung beruht oder ist eine blinde Resultante widerstrebender Kräfte, jedenfalls nicht das Ergebnis bewußter Spontaneität der freien Individuen. Daher wechselt die Bedeutung der Begriffe von Passivität und Aktivität, je nachdem, ob sie auf die Gesellschaft oder das Individuum bezogen werden. In der bürgerlichen Wirtschaftsweise ist die Aktivität der Gesellschaft blind und konkret, die des Individuums abstrakt und bewußt. Die menschliche Produktion enthält stets auch Planmäßiges. Insofern, als die Tatsache, die für das Individuum äußerlich zur Theorie hinzukommt, gesellschaftlich produziert ist, muß daher, wenn auch in eingeschränktem Sinn, Vernunft in ihr zu finden sein. In der Tat steckt in der gesellschaftlichen Praxis immer auch das

vorhandene und angewandte Wissen; die wahrgenommene Tatsache ist daher schon vor ihrer bewußten, vom erkennenden Individuum vorgenommenen theoretischen Bearbeitung durch menschliche Vorstellungen und Begriffe mitbestimmt. Dabei ist nicht etwa nur an das [175] naturwissenschaftliche Experiment zu denken. Die sogenannte Reinheit des tatsächlichen Verlaufs, die durch die experimentelle Prozedur erreicht werden soll, ist gewiß an technische Bedingungen geknüpft, deren Zusammenhang mit dem materiellen Produktionsprozeß unmittelbar einleuchtet. Aber es wird hier leicht die Frage nach der Vermittlung des Tatsächlichen durch die gesellschaftliche Praxis als ganzer mit der Frage nach der Beeinflussung des beobachteten Gegenstands durch das Meßinstrument, also durch dieses besondere Verfahren, vermengt. Das letztere Problem, das die Physik selbst fortwährend verfolgt, hängt mit dem hier aufgeworfenen nicht enger zusammen als das der Wahrnehmung überhaupt, auch der alltäglichen. Der physiologische Sinnesapparat des Menschen arbeitet selbst schon längst weitgehend in der Richtung physikalischer Versuche. Die Art, wie im aufnehmenden Betrachten Stücke geschieden und zusammengefaßt werden, wie einzelnes nicht bemerkt, anderes hervorgehoben wird, ist ebensosehr Resultat der modernen Produktionsweise, wie die Wahrnehmung eines Mannes aus irgendeinem Stamm primitiver Jäger und Fischer Resultat seiner Existenzbedingungen und freilich auch des Gegenstandes ist. Bezogen darauf ließe sich der Satz, die Werkzeuge seien Verlängerungen der menschlichen Organe, so umdrehen, daß die

Organe auch Verlängerungen der Instrumente sind. Auf den höheren Stufen der Zivilisation bestimmt die bewußte menschliche Praxis unbewußt nicht bloß die subjektive Seite der Wahrnehmung, sondern in höherem Maß auch den Gegenstand. Was das Mitglied der industriellen Gesellschaft täglich um sich sieht, Mietskasernen, Fabriksäle, Baumwolle, Schlachtvieh, Menschen, und ferner nicht allein die Körper, sondern auch die Bewegung, in der sie wahrgenommen werden, von Untergrundbahnen, Förderkörben, Autos, Flugzeugen aus, diese sinnliche Welt trägt die Züge der bewußten Arbeit an sich, und die Scheidung, was davon der unbewußten Natur, was der gesellschaftlichen Praxis angehört, ist real nicht durchzuführen. Selbst dort, wo es sich um die Erfahrung natürlicher Gegenstände als solcher handelt, ist deren Natürlichkeit durch den Kontrast zur gesellschaftlichen Welt bestimmt und insoweit von ihr abhängig. Das Individuum nimmt jedoch die sinnliche Wirklichkeit als bloße Folge von Tatsachen in die begrifflichen Ordnungen auf. Auch diese haben sich, freilich in wechselndem Zusammenhang, mit dem Le-[176]bensprozeß der Gesellschaft entwickelt. Wenn daher das Einordnen in die Systeme des Verstandes, die Beurteilung der Gegenstände, in der Regel mit großer Selbstverständlichkeit und bemerkenswerter Übereinstimmung unter den Mitgliedern der gegebenen Gesellschaft vor sich geht, so ist diese Harmonie sowohl zwischen Wahrnehmung und traditionellem Denken wie zwischen den Monaden, das heißt den individuellen Erkenntnissubjekten, kein metaphysischer Zufall.

Die Macht des gesunden Menschenverstandes,

des common sense, für den es keine Geheimnisse gibt, ferner die allgemeine Geltung von Ansichten auf den Gebieten, die nicht unmittelbar mit den gesellschaftlichen Kämpfen zusammenhängen, wie etwa den Naturwissenschaften, ist dadurch bedingt, daß die zu beurteilende Gegenstandswelt in hohem Maß aus einer Tätigkeit hervorgeht, die von denselben Gedanken bestimmt ist, mittels deren sie im Individuum wiedererkannt und begriffen wird. In Kants Philosophie ist

dieser Sachverhalt in idealistischer Form ausgedrückt.

Die Lehre von der bloß passiven Sinnlichkeit und dem aktiven Verstand zeitigt bei ihm die Frage, woher der Verstand die sichere Voraussicht nehme, das Mannigfaltige, das in der Sinnlichkeit gegeben sei, in aller Zukunft unter seine Regeln zu befassen. Die These einer prästabilierten Harmonie, eines »Präformationssystems der reinen Vernunft«, daß dem Denken die Regeln als gewiß eingeboren seien, nach denen die Gegenstände sich dann auch richteten, wird von ihm ausdrücklich bekämpft. 11 Seine Erklärung lautet, daß die sinnlichen Erscheinungen vom transzendentalen Subjekt, also durch vernünftige Aktivität, schon geformt sind, wenn sie von der Wahrnehmung aufgenommen und mit Bewußtsein beurteilt werden. 12 Die »transzendentale Affinität«, die subjektive Bestimmtheit des sinnlichen Materials, von der das Individuum nichts weiß, hat er in den wichtigsten Kapiteln der Kritik der reinen Vernunft näher zu begründen versucht. Die Schwierigkeit und Dunkelheit, welche die hierauf bezüglichen Hauptstücke von der Deduktion und vom Schematismus der reinen [177] Verstandesbegriffe nach Kant selbst an

sich tragen, mag damit zusammenhängen, daß er sich die dem empirischen Subjekt unbewußte, überindividuelle Tätigkeit nur in der idealistischen Form eines Bewußtseins an sich, einer rein geistigen Instanz vorstellt. Er sieht, gemäß der in seiner Periode erreichbaren theoretischen Übersicht, die Realität nicht als Produkt der im ganzen freilich chaotischen, im einzelnen aber zielgerichteten gesellschaftlichen Arbeit an. Wo Hegel bereits die List einer immerhin weltgeschichtlichen objektiven Vernunft erblickt,

sieht Kant »eine

verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden« 13 . Jedenfalls hat er begriffen, daß hinter der Diskrepanz zwischen Tatsache und Theorie, die der Gelehrte in seinem fachlichen Geschäft erfährt, eine tiefere Einheit steckt, die allgemeine Subjektivität, von der das individuelle Erkennen abhängt. Die gesellschaftliche Aktivität erscheint als transzendentale Macht, das heißt als Inbegriff geistiger Faktoren. Kants Behauptung, daß ihre Wirksamkeit von einem Dunkel umgeben, das heißt trotz aller Rationalität irrational sei, entbehrt jedoch nicht eines wahren Kerns. Die bürgerliche Wirtschaftsweise ist bei allem Scharfsinn der konkurrierenden Individuen von keinem Plan beherrscht, nicht bewußt auf ein allgemeines Ziel gerichtet; das Leben des Ganzen geht aus ihr nur unter übermäßigen Reibungen in verkümmerter Gestalt und gleichsam als Zufall hervor. Die inneren Schwierigkeiten, mit denen die höchsten Begriffe der Kantischen Philosophie, vor allem das Ich der transzendentalen Subjektivität, die reine oder ursprüngliche Apperzeption, das Bewußtsein an sich

behaftet sind, zeugen von der Tiefe und Aufrichtigkeit seines Denkens. Der Doppelcharakter dieser Kantischen Begriffe, die einerseits die höchste Einheit und Zielrichtung, andererseits etwas Dunkles, Bewußtloses, Undurchsichtiges bezeichnen, trifft genau die widerspruchsvolle Form der menschlichen Aktivität in der neueren Zeit. Das Zusammenwirken der Menschen in der Gesellschaft ist die Existenzweise ihrer Vernunft, so wenden sie ihre Kräfte an und bestätigen ihr Wesen. Zugleich jedoch ist dieser Prozeß mitsamt seinen Resultaten ihnen selbst entfremdet, erscheint ihnen mit all seiner Verschwendung von [178] Arbeitskraft und Menschenleben, mit seinen Kriegszuständen und dem ganzen sinnlosen Elend als unabänderliche Naturgewalt, als übermenschliches Schicksal. In Kants theoretischer Philosophie, in seiner Analyse der Erkenntnis, ist dieser Widerspruch aufbewahrt. Die unaufgelöste Problematik des Verhältnisses von Aktivität und Passivität, Apriori und sinnlichem Datum, Philosophie und Psychologie, ist daher keine subjektive, sondern eine sachlich notwendige Unzulänglichkeit. Hegel hat diese Widersprüche aufgedeckt und entfaltet, aber am Ende im Medium einer höheren geistigen Sphäre versöhnt. Aus der Verlegenheit vor dem allgemeinen Subjekt, das Kant behauptet und doch nicht recht zu bezeichnen vermag, hat sich Hegel frei gemacht, indem er den absoluten Geist als das Allerrealste setzt. Das Allgemeine hat sich nach ihm bereits adäquat entfaltet und ist identisch mit dem, was sich vollzieht. Die Vernunft braucht nicht mehr bloß kritisch gegen sich zu sein; sie ist bei Hegel affirmativ geworden, bevor noch die Wirklichkeit als vernünftig zu bejahen ist. Angesichts der real

weiterbestehenden Widersprüche der menschlichen Existenz, angesichts der Ohnmacht der Individuen vor den von ihnen selbst erzeugten Verhältnissen erscheint diese Lösung als private Behauptung, als persönlicher Friedensschluß des Philosophen mit einer unmenschlichen Welt. Das Einordnen der Tatsachen in bereitliegende Begriffssysteme und deren Revision durch Vereinfachung oder Bereinigung von Widersprüchen ist, wie ausgeführt, ein Teil der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis. Bei der Gespaltenheit der Gesellschaft in Gruppen und Klassen versteht es sich, daß die theoretischen Gebilde je nach ihrer Zugehörigkeit zu einer von ihnen auch eine verschiedene Beziehung zu dieser allgemeinen Praxis haben. Solange unter einer feudalen Gesellschaft die bürgerliche Klasse sich erst formierte, hatte die mit ihr aufkommende rein wissenschaftliche Theorie eine jener Epoche gegenüber weitgehend auflösende, gegen die alte Form der Praxis aggressive Tendenz. Im Liberalismus kennzeichnete sie den herrschenden Menschentypus. Heute wird die Entwicklung weitaus weniger durch die mittleren Existenzen bestimmt, die in ihrer Konkurrenz untereinander darauf angewiesen sind, den materiellen Produktionsapparat und die Erzeugnisse zu [179] verbessern, als durch die nationalen und internationalen Gegensätze von Führercliquen auf den verschiedenen Kommandohöhen in Wirtschaft und Staat. Sofern das theoretische Denken nicht auf höchst spezielle, mit diesen Kämpfen zusammenhängende Zwecke, vor allem den Krieg und seine Industrie, bezogen ist, hat das Interesse an ihm abgenommen. Es

werden weniger Energien darauf verwendet, die Denkfähigkeit, unabhängig von der Anwendungsart, auszubilden und weiterzuführen. Diese Unterschiede, denen sich noch viele andere hinzufügen ließen, ändern jedoch nichts daran, daß die Theorie in der traditionellen Gestalt, die Beurteilung des Gegebenen anhand eines auch im einfachsten Bewußtsein noch wirksamen herkömmlichen Begriffs- und Urteilsapparats, ferner die Wechselwirkung, die zwischen den Tatsachen und den theoretischen Formen auf Grund der alltäglichen, beruflichen Aufgaben vor sich geht, eine positive gesellschaftliche Funktion ausübt. In dieses intellektuelle Tun sind die Notwendigkeiten und Zwecke, die Erfahrungen und Fertigkeiten, die Gewohnheiten und Tendenzen der gegenwärtigen Form des menschlichen Seins eingegangen. Wie ein materielles Produktionsinstrument stellt es der Möglichkeit nach ein Element nicht nur des gegenwärtigen, sondern auch eines gerechteren, differenzierteren und harmonischeren kulturellen Ganzen dar. Soweit sich dieses theoretische Denken nicht bewußt an äußere, dem Gegenstand fremde Interessen anpaßt, sondern wirklich an die Probleme hält, wie sie ihm infolge der fachlichen Entwicklung entgegentreten, im Zusammenhang damit auch neue Probleme aufwirft und alte Begriffe umbildet, wo es nötig erscheint, darf es mit Recht die Leistungen des bürgerlichen Zeitalters in Technik und Industrie als seine Legitimation ansehen und seiner selbst sicher sein. Freilich versteht es sich als Hypothese und nicht als Gewißheit. Aber dieser Hypothesencharakter wird auf manche Weise kompensiert. Die Unsicherheit ist nicht größer, als sie jeweils auf

Grund der vorhandenen intellektuellen und technischen Mittel sein muß, die ihre Brauchbarkeit im allgemeinen erwiesen haben, und die Aufstellung solcher Hypothesen, mag ihre Wahrscheinlichkeit auch nur gering sein, gilt selbst als eine gesellschaftlich notwendige und wertvolle Leistung, die an sich jedenfalls nicht hypothetisch ist. Die Hypothesenbildung, die theoretische Leistung überhaupt ist eine Arbeit, für die [180] unter den vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnissen grundsätzliche Verwendungsmöglichkeit, das heißt Nachfrage vorhanden ist. Sofern sie unter ihrem Wert bezahlt wird oder gar liegenbleibt, teilt sie nur das Schicksal anderer konkreter und möglicherweise nützlicher Arbeiten, die bei dieser Wirtschaft verloren sind. Sie setzen sie jedoch voraus und gehören zum ökonomischen Gesamtprozeß, wie er sich unter den bestimmten historischen Bedingungen vollzieht. Mit der Frage, ob die wissenschaftlichen Bestrebungen selbst im strengen Sinn produktiv sind, hat das gar nichts zu tun. Für eine Unmasse sogenannter wissenschaftlicher Erzeugnisse gibt es in dieser Ordnung der Dinge eine Nachfrage; sie werden in der verschiedensten Weise honoriert, ein Teil der Güter, die wirklich produktiver Arbeit entstammen, wird für sie ausgegeben, ohne daß damit im geringsten etwas über ihre eigene Produktivität ausgemacht wäre. Auch der Leerlauf gewisser Teile des Universitätsbetriebs sowie nichtssagender Scharfsinn, metaphysische und nicht-metaphysische Ideologienbildung haben ebenso wie andere, aus den gesellschaftlichen Gegensätzen hervorgehende Notwendigkeiten ihre soziale Bedeutung, ohne in der gegenwärtigen Periode den Interessen irgendeiner

nennenswerten Mehrheit der Gesellschaft wirklich gemäß zu sein. Eine Tätigkeit, die zur Existenz der Gesellschaft in ihren gegebenen Formen beiträgt, braucht durchaus nicht produktiv, das heißt wertbildend für ein Unternehmen zu sein. Trotzdem kann sie zu dieser Ordnung gehören und sie mit ermöglichen, wie dies bei der Fachwissenschaft wirklich der Fall ist. Es gibt nun ein menschliches Verhalten 14 , das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat. Es ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Mißstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft. Wenngleich es aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch weder seiner bewußten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, daß irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere. Die Kategorien des Besseren, Nütz-[181]lichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat. Während es zum Individuum in der Regel hinzu gehört, daß es die Grundbestimmungen seiner Existenz als vorgegeben hinnimmt und zu erfüllen strebt, während es seine Befriedigung und seine Ehre darin findet, die mit seinem Platz in der Gesellschaft verknüpften Aufgaben nach Kräften zu lösen und bei aller energischen Kritik, die etwa im einzelnen angebracht sein sollte, tüchtig das Seine zu tun, ermangelt jenes kritische Verhalten durchaus des Vertrauens in die Richtschnur, die das gesellschaftliche Leben, wie es sich nun einmal vollzieht, jedem an die Hand gibt. Die

Trennung von Individuum und Gesellschaft, kraft deren der Einzelne die vorgezeichneten Schranken seiner Aktivität als natürlich hinnimmt, ist in der kritischen Theorie relativiert. Sie begreift den vom blinden Zusammenwirken der Einzeltätigkeiten bedingten Rahmen, das heißt die gegebene Arbeitsteilung und die Klassenunterschiede, als eine Funktion, die, menschlichem Handeln entspringend, möglicherweise auch planmäßiger Entscheidung, vernünftiger Zielsetzung unterstehen kann. Der zwiespältige Charakter des gesellschaftlichen Ganzen in seiner aktuellen Gestalt entwickelt sich bei den Subjekten des kritischen Verhaltens zum bewußten Widerspruch. Indem sie die gegenwärtige Wirtschaftsweise und die gesamte auf ihr begründete Kultur als Produkt menschlicher Arbeit erkennen, als die Organisation, die sich die Menschheit in dieser Epoche gegeben hat und zu der sie fähig war, identifizieren sie sich selbst mit diesem Ganzen und begreifen es als Willen und Vernunft; es ist ihre eigene Welt. Zugleich erfahren sie, daß die Gesellschaft außermenschlichen Naturprozessen, bloßen Mechanismen zu vergleichen ist, weil die auf Kampf und Unterdrückung beruhenden Kulturformen keine Zeugnisse eines einheitlichen, selbstbewußten Willens sind; diese Welt ist nicht die ihre, sondern die des Kapitals. Die bisherige Geschichte kann nicht eigentlich verstanden werden, verständlich sind in ihr nur Individuen und einzelne Gruppen, und auch diese nicht ohne Rest, da sie kraft ihrer inneren Abhängigkeit von einer unmenschlichen Gesellschaft auch im bewußten Handeln noch weitgehend mechanische Funktionen sind. Jene Identifikation ist

daher wider-[182]spruchsvoll, ein Widerspruch, der alle Begriffe der kritischen Denkart kennzeichnet. So gelten ihr die ökonomischen Kategorien Arbeit, Wert und Produktivität genau als das, was sie in dieser Ordnung gelten, und sie betrachtet jede andere Ausdeutung als schlechten Idealismus. Zugleich erscheint es als die gröbste Unwahrheit, die Geltung einfach hinzunehmen: die kritische Anerkennung der das gesellschaftliche Leben beherrschenden Kategorien enthält zugleich seine Verurteilung. Dieser dialektische Charakter der Selbstinterpretation, des gegenwärtigen Menschen bedingt letzten Endes auch die Dunkelheit der Kantischen Vernunftkritik. Die Vernunft kann sich selbst nicht durchsichtig werden, solange die Menschen als Glieder eines vernunftlosen Organismus handeln. Der Organismus als natürlich wachsende und vergehende Einheit ist für die Gesellschaft nicht etwa ein Vorbild, sondern eine dumpfe Seinsform, aus der sie sich zu emanzipieren hat. Ein Verhalten, das, auf diese Emanzipation gerichtet, die Veränderung des Ganzen zum Ziel hat, mag sich wohl der theoretischen Arbeit bedienen, wie sie innerhalb der Ordnungen der bestehenden Wirklichkeit geschieht. Es entbehrt jedoch des pragmatischen Charakters, der sich aus dem traditionellen Denken als einer gesellschaftlich nützlichen Berufsarbeit ergibt. Dem herkömmlichen theoretischen Denken gelten, wie dargelegt, sowohl die Genesis der bestimmten Sachverhalte als auch die praktische Verwendung der Begriffssysteme, in die man sie befaßt, somit seine Rolle in der Praxis, als äußerlich. Diese Entfremdung, die in der philosophischen Terminologie als Trennung von Wert und

Forschung, Wissen und Handeln sowie anderen Gegensätzen sich ausdrückt, bewahrt den Gelehrten vor den angezeigten Widersprüchen und verleiht seiner Arbeit ihren festen Rahmen. Einem Denken, das ihn nicht anerkennt, scheint der Boden entzogen zu sein. Was könnte ein theoretisches Verfahren, das nicht zuletzt mit der Bestimmung von Tatsachen aus möglichst einfachen und differenzierten Begriffssystemen zusammenfällt, anderes darstellen als ein direktionsloses intellektuelles Spiel, halb begriffliche Dichtung, halb ohnmächtiger Ausdruck von Gemütszuständen? Die Untersuchung der sozialen Bedingtheit von Tatsachen sowie von Theorien [183] mag wohl ein Forschungsproblem, ja, ein ganzes Feld theoretischer Arbeit bilden, aber es ist nicht einzusehen, inwiefern sich derartige Studien von anderen fachlichen Bestrebungen grundsätzlich unterscheiden sollten. Ideologieforschung oder Wissenssoziologie, die man aus der kritischen Theorie der Gesellschaft herausgenommen und als besondere Disziplinen etabliert hat, stehen ja weder ihrem Wesen noch ihrem Ehrgeiz nach zum üblichen Betrieb der ordnenden Wissenschaft in Gegensatz. Die Selbsterkenntnis des Denkens wird dabei auf die Enthüllung von Beziehungen zwischen geistigen Positionen und sozialen Standorten reduziert. Die Struktur des kritischen Verhaltens, dessen Absichten über die der herrschenden gesellschaftlichen Praxis hinausgehen, ist solchen sozialen Disziplinen gewiß nicht verwandter als der Naturwissenschaft. Sein Gegensatz zum traditionellen Begriff von Theorie entspringt überhaupt nicht so sehr aus einer Verschiedenheit der Gegenstände als der Subjekte. Den Trägern dieses Verhaltens

sind die Tatsachen, wie sie aus der Arbeit in der Gesellschaft hervorgehen, nicht im gleichen Maße äußerlich wie dem Gelehrten oder den Mitgliedern sonstiger Berufe, die alle als kleine Gelehrte denken. Es kommt ihnen auf eine Neuorganisation der Arbeit an. Insofern aber die Sachverhalte, die in der Wahrnehmung gegeben sind, als Produkte begriffen werden, die grundsätzlich unter menschliche Kontrolle gehören und jedenfalls künftig unter sie kommen sollen, verlieren sie den Charakter bloßer Tatsächlichkeit. Während der Fachgelehrte »als« Wissenschaftler die gesellschaftliche Realität mitsamt ihren Produkten für äußerlich ansieht und Staatsbürger sein Interesse an ihr durch politische Artikel, Mitgliedschaft bei Parteien oder Wohltätigkeitsorganisationen und Beteiligung an den Wahlen wahrnimmt, ohne diese beiden und einige weitere Verhaltensweisen seiner Person anders als höchstens durch psychologische Interpretation zusammenzubringen, ist das kritische Denken heute durch den Versuch motiviert, über die Spannung real hinauszugelangen, den Gegensatz zwischen der im Individuum angelegten Zielbewußtheit, Spontaneität, Vernünftigkeit und der für die Gesellschaft grundlegenden Beziehungen des Arbeitsprozesses aufzuheben. Das kritische Denken enthält einen Begriff des Menschen, der sich selbst widerstreitet, solange diese Identität nicht hergestellt ist. Wenn von Vernunft bestimmtes Handeln zum [184] Menschen gehört, ist die gegebene gesellschaftliche Praxis, welche das Dasein bis in die Einzelheiten formt, unmenschlich, und diese Unmenschlichkeit wirkt auf alles zurück, was sich in der

Gesellschaft vollzieht. Der intellektuellen und materiellen Aktivität der Menschen wird immer etwas äußerlich bleiben, nämlich die Natur als Inbegriff der jeweils noch unbeherrschten Faktoren, mit denen die Gesellschaft es zu tun hat. Soweit aber dazu als weiteres Stück Natur die einzig von den Menschen selbst abhängenden Verhältnisse, ihre Beziehung bei der Arbeit, der Gang ihrer eigenen Geschichte gehören, ist diese Äußerlichkeit nicht nur keine überhistorische, ewige Kategorie – das ist auch bloße Natur im angegebenen Sinn nicht –, sondern das Zeichen einer erbärmlichen Ohnmacht, in die sich zu schicken widermenschlich und widervernünftig ist. Das bürgerliche Denken ist so beschaffen, daß es in der Reflexion auf sein eigenes Subjekt mit logischer Notwendigkeit das Ego erkennt, das sich autonom dünkt. Es ist seinem Wesen nach abstrakt, und die als Urgrund der Welt oder gar als Welt überhaupt sich aufblähende, vom Geschehen abgeschlossene Individualität ist sein Prinzip. Der unmittelbare Gegensatz dazu ist die Gesinnung, die sich für den unproblematischen Ausdruck einer schon bestehenden Gemeinschaft hält, wie etwa die völkische Ideologie. Das rhetorische Wir wird hier im Ernst gebraucht. Das Reden glaubt, das Organ der Allgemeinheit zu sein. In der zerrissenen Gesellschaft der Gegenwart ist dieses Denken, vor allem in gesellschaftlichen Fragen, harmonistisch und illusionär. Das kritische Denken und seine Theorie ist beiden Arten entgegengesetzt. Es ist weder die Funktion eines isolierten Individuums noch die einer Allgemeinheit von Individuen. Es hat vielmehr bewußt ein bestimmtes Individuum in seinen wirklichen Beziehungen mit anderen Individuen und

Gruppen, in seiner Auseinandersetzung mit einer bestimmten Klasse und schließlich in der so vermittelten Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Ganzen und der Natur zum Subjekt. Es ist kein Punkt wie das Ich der bürgerlichen Philosophie, seine Darstellung besteht in der Konstruktion der geschichtlichen Gegenwart. Auch das denkende Subjekt ist nicht der Ort, an dem Wissen und Gegenstand zusammenfallen, von dem aus daher ein absolutes Wissen zu gewin-[185]nen wäre. Dieser Schein, in dem seit Descartes der Idealismus lebt, ist Ideologie im strengen Sinn, die beschränkte Freiheit des bürgerlichen Individuums erscheint in der Gestalt vollendeter Freiheit und Autonomie. Aber das Ich, ob es sich nun bloß als denkendes oder auch in anderer Weise betätigt, ist in einer undurchsichtigen, bewußtlosen Gesellschaft auch seiner selbst nicht gewiß. Im Denken über den Menschen klaffen Subjekt und Objekt auseinander; ihre Identität liegt in der Zukunft und nicht in der Gegenwart. Die Methode, die dahin führt, mag nach dem cartesianischen Sprachgebrauch Klärung heißen, aber diese bedeutet im wirklich kritischen Denken nicht nur einen logischen, sondern ebenso sehr einen konkret-geschichtlichen Prozeß. In seinem Verlauf ändert sich sowohl die soziale Struktur im ganzen wie das Verhältnis des Theoretikers zur Gesellschaft überhaupt, das heißt, es ändert sich das Subjekt wie auch die Rolle des Denkens. Die Annahme der wesentlichen Unveränderlichkeit des Verhältnisses von Subjekt, Theorie und Gegenstand unterscheidet die cartesianische Auffassung von jeder Art dialektischer Logik.

Wie aber hängt das kritische Denken mit der Erfahrung zusammen? Wenn es nicht bloß ordnen, sondern auch die dem Ordnen transzendenten Zwecke, seine Richtung aus sich selbst nehmen soll, dann bleibt es immer nur bei sich, wie in der idealistischen Philosophie. Soweit es nicht zu utopistischen Phantasien seine Zuflucht nehme, versinke es in formalistische Spiegelfechterei. Der Versuch, auf legitime Weise praktische Ziele denkend zu bestimmen, müsse immer mißlingen. Bescheide sich das Denken nicht bei der Rolle, die ihm in der bestehenden Gesellschaft zugewiesen ist, treibe es nicht im traditionellen Sinn Theorie, so kehre es notwendig zu längst überwundenen Illusionen zurück. Diese Reflexion begeht den Fehler, daß in ihr das Denken in der abgelösten fachlichen und daher spiritualistischen Weise verstanden ist, wie es sich unter den Bedingungen der gegenwärtigen Arbeitsteilung vollzieht. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist die Vorstellungstätigkeit nie bei sich selbst geblieben, sondern hat seit je als unselbständiges Moment des Arbeitsprozesses fungiert, der eine eigene Tendenz hat. Durch die gegensätzliche Bewegung aufsteigender und rückschrittlicher Epochen und Kräfte erhält, steigert und entfaltet er das menschliche Leben. In den geschichtlichen Daseinsformen der Gesellschaft kam [185] die Fülle der produzierten Genußgüter auf der erreichten Stufe jeweils bloß einer kleinen Gruppe von Menschen unmittelbar zugute, und diese Lebensverfassung erschien auch im Denken, sie drückte der Philosophie und Religion ihren Stempel auf. In der Tiefe regte sich jedoch seit Anbeginn das Streben nach Ausbreitung des Genusses

auf die Mehrheit; bei aller materiellen Zweckmäßigkeit der Klassenorganisation hat jede ihrer Formen am Ende sich als unangemessen herausgestellt. Sklaven, Leibeigene und Bürger haben ihr Joch abgeschüttelt. Auch dieses Streben hat sich in den Kulturgebilden Gestalt verliehen. Indem nun in der neueren Geschichte von jedem Individuum gefordert ist, daß es die Zwecke des Ganzen zu den eigenen mache und diese im Ganzen wiedererkenne, besteht die Möglichkeit, daß die ohne bestimmte Theorie und als Resultante disparater Kräfte eingeschlagene Richtung des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, an deren Wendepunkten zuweilen die Verzweiflung der Massen ausschlaggebend war, ins Bewußtsein aufgenommen und zum Ziel gemacht wird. Das Denken spinnt dies nicht aus sich heraus, es wird vielmehr seiner eigenen Funktion inne. Die Menschen gelangen im geschichtlichen Gang zur Erkenntnis ihres Tuns und begreifen damit den Widerspruch in ihrer Existenz. Die bürgerliche Wirtschaft war darauf angelegt, daß die Individuen, indem sie für ihr eigenes Glück sorgen, das Leben der Gesellschaft erhalten. Dieser Struktur wohnt jedoch eine Dynamik ein, kraft deren schließlich in einem Ausmaß, das an die alten asiatischen Dynastien erinnert, phantastische Macht auf der einen, materielle und intellektuelle Ohnmacht auf der anderen Seite sich anhäuft. Die ursprüngliche Fruchtbarkeit dieser Organisation des Lebensprozesses verwandelt sich in Unfruchtbarkeit und Hemmung. Die Menschen erneuern durch ihre eigene Arbeit eine Realität, die sie in steigendem Maß versklavt. Und doch besteht im Hinblick auf die Rolle der Erfahrung ein Unterschied zwischen der traditionellen und der kritischen Theorie.

Die Gesichtspunkte, welche diese als Ziele menschlicher Aktivität der historischen Analyse entnimmt, vor allem die Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen [187] Organisation, sind der menschlichen Arbeit immanent, ohne den Individuen oder dem öffentlichen Geist in richtiger Form gegenwärtig zu sein. Es gehört ein bestimmtes Interesse dazu, diese Tendenzen zu erfahren und wahrzunehmen. Daß es im Proletariat notwendig erzeugt wird, ist die Lehre von Marx und Engels. Auf

Grund seiner Situation in der modernen Gesellschaft

erfährt das Proletariat den Zusammenhang zwischen einer Arbeit, welche den Menschen in ihrem Kampf mit der Natur immer mächtigere Hilfsmittel an die Hand gibt, und der fortwährenden Erneuerung einer veralteten gesellschaftlichen Organisation. Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen, Militarisierung, terroristische Regierungen, der ganze Zustand der Massen ist nicht etwa in den geringen technischen Möglichkeiten begründet, wie es in früheren Epochen der Fall sein mochte, sondern in den der Gegenwart nicht mehr angemessenen Verhältnissen, unter denen produziert wird. Die Anwendung der gesamten geistigen und physischen Mittel der Naturbeherrschung wird dadurch behindert, daß sie unter den herrschenden Verhältnissen partikularen, sich widerstreitenden Interessen anheimgegeben sind. Die Produktion ist nicht auf das Leben der Allgemeinheit abgestellt und besorgt auch die Ansprüche der Einzelnen, sondern auf den Machtanspruch von Einzelnen und besorgt auch zur Not das Leben der Allgemeinheit. Das hat sich aus dem fortschrittlichen Prinzip, daß es genügt, wenn die Individuen

für sich selber sorgen, unter der gegebenen Ordnung des Eigentums zwangsläufig ergeben. Aber auch die Situation des Proletariats bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis. Wie sehr es die Sinnlosigkeit als Fortbestehen und Vergrößerung der Not und des Unrechts an sich selbst erfährt, so verhindert doch die von oben noch geförderte Differenzierung seiner sozialen Struktur und die nur in ausgezeichneten Augenblicken durchbrochene Gegensätzlichkeit von [188] persönlichem und klassenmäßigem Interesse, daß dieses Bewußtsein sich unmittelbar Geltung verschaffe. An der Oberfläche sieht vielmehr die Welt auch für das Proletariat anders aus. Eine Haltung, welche seine wahren Interessen und damit auch die der Gesellschaft im ganzen nicht auch ihm selbst entgegenzusetzen imstande wäre, sondern ihre Richtschnur von Gedanken und Stimmungen der Massen bezöge, geriete selbst in sklavische Abhängigkeit vom Bestehenden. Der Intellektuelle, der nur in aufblickender Verehrung die Schöpferkraft des Proletariats verkündigt und sein Genüge darin findet, sich ihm anzupassen und es zu verklären, übersieht, daß jedes Ausweichen vor theoretischer Anstrengung, die er in der Passivität seines Denkens sich erspart, sowie vor einem zeitweiligen Gegensatz zu den Massen, in den eigenes Denken ihn bringen könnte, diese Massen blinder und schwächer macht, als sie sein müssen. Sein eigenes Denken gehört als kritisches, vorwärtstreibendes Element mit zu ihrer Entwicklung. Daß es sich völlig der jeweiligen psychologischen Lage der Klasse unterordnet, die an sich die Kraft zur Veränderung darstellt, führt

jenen Intellektuellen zum beglückenden Gefühl, mit einer ungeheuren Macht verbunden zu sein, und in einen professionellen Optimismus. Wird dieser in Perioden schwerster Niederlagen erschüttert, so gerät mancher Intellektuelle in Gefahr, in ebenso bodenlosen sozialen Pessimismus und in Nihilismus zu verfallen, wie sein Optimismus übertrieben war. Sie ertragen es nicht, daß gerade das aktuellste, die geschichtliche Situation am tiefsten erfassende, zukunftsreichste Denken in bestimmten Perioden es mit sich bringt, seine Träger zu isolieren und auf sich selbst zu stellen. Bestünde die kritische Theorie wesentlich im Formulieren der jeweiligen Gefühle und Vorstellungen einer Klasse, so zeigte sie keine strukturelle Differenz gegenüber der Fachwissenschaft; es handelte sich dabei um die Beschreibung psychischer Inhalte, die für bestimmte Gruppen der Gesellschaft typisch sind, um Sozialpsychologie. Das Verhältnis von Sein und Bewußtsein ist bei den verschiedenen Klassen der Gesellschaft verschieden. Die Ideen, mittels deren das Bürgertum seine eigene Ordnung erklärt, der gerechte [189] Tausch, die freie Konkurrenz, die Harmonie der Interessen und so fort erweisen, wenn man Ernst mit ihnen macht und sie wirklich als Prinzipien der Gesellschaft zu Ende denkt, ihren inneren Widerspruch und damit auch den Gegensatz zu dieser Ordnung. Die bloße Beschreibung des bürgerlichen Selbstbewußtseins gibt also nicht schon die Wahrheit über diese Klasse. Auch die Systematisierung der Bewußtseinsinhalte des Proletariats vermöchte kein wahres Bild seines Daseins und seiner Interessen zu liefern. Sie wäre eine traditionelle Theorie mit

besonderer Problemstellung, nicht die intellektuelle Seite des historischen Prozesses seiner Emanzipation. Dies gilt selbst dann, wenn man sich darauf beschränken wollte, zwar nicht die Vorstellungen des Proletariats im allgemeinen, aber die eines fortgeschrittenen Teils, einer Partei oder ihrer Leitung aufzunehmen und zu verkünden. Das Registrieren und Einordnen in einen den Tatsachen möglichst angepaßten Begriffsapparat bildete auch dabei die eigentliche Aufgabe, und das Vorhersehen künftiger sozialpsychologischer Daten erwiese sich als letztes Ziel des Theoretikers. Das Denken, der Aufbau der Theorie, bliebe eine Sache, und sein Gegenstand, das Proletariat, eine andere. Wird jedoch der Theoretiker und seine ihm spezifische Aktivität mit der beherrschten Klasse als dynamische Einheit gesehen, so daß seine Darstellung der gesellschaftlichen Widersprüche nicht allein als ein Ausdruck der konkreten historischen Situation, sondern ebensosehr als stimulierender, verändernder Faktor in ihr erscheint, dann tritt seine Funktion hervor. Der Gang der Auseinandersetzung zwischen den fortgeschrittenen Teilen der Klasse und den Individuen, welche die Wahrheit über sie aussprechen, ferner die Auseinandersetzung zwischen diesen fortgeschrittensten Teilen mitsamt ihren Theoretikern und der übrigen Klasse ist als ein Prozeß von Wechselwirkungen zu verstehen, bei dem das Bewußtsein mit seinen befreienden zugleich seine antreibenden, disziplinierenden, aggressiven Kräfte entfaltet. Seine Schärfe zeigt sich in der stets gegebenen Möglichkeit der Spannung zwischen dem Theoretiker und der Klasse, der sein Denken gilt. Die Einheit der sozialen Kräfte, von denen die Befreiung erwartet wird, ist – im Sinne Hegels –

zugleich ihr Unterschied, sie existiert nur als Konflikt, welcher ständig die in ihm begriffenen [190] Subjekte bedroht. In der Person des Theoretikers tritt das deutlich zutage; seine Kritik ist aggressiv nicht nur gegenüber den bewußten Apologeten des Bestehenden, sondern ebensosehr gegenüber ablenkenden, konformistischen oder utopistischen Tendenzen in den eigenen Reihen. Die traditionelle Gestalt der Theorie, von der die formale Logik eine Seite erfaßt, gehört zum arbeitsteiligen Produktionsprozeß in seiner gegenwärtigen Form. Da die Gesellschaft sich auch in künftigen Epochen mit der Natur auseinanderzusetzen hat, wird auch diese intellektuelle Technik nicht irrelevant werden, sondern im Gegenteil so weit wie möglich zu entwickeln sein. Die Theorie als Moment einer auf neue gesellschaftliche Formen abzielenden Praxis ist dagegen kein Rad eines Mechanismus, der sich in Gang befindet. Wenn auch Siege und Niederlagen eine vage Analogie zur Bewährung und zum Versagen von Hypothesen in der Wissenschaft bilden, so hat der oppositionelle Theoretiker nicht die Beruhigung, daß sie zu seinem Fach gehören. Er kann sich nicht das Loblied singen, das Poincaré auf die Bereicherung durch Hypothesen gesungen hat, die man verwerfen mußte. 15 Sein Beruf ist der Kampf, zu dem sein Denken gehört, nicht das Denken als etwas Selbständiges, davon zu Trennendes. Zwar gehen in sein Verhalten viele theoretische Elemente im gewohnten Sinn ein, die Kenntnis und Prognose relativ isolierter Tatsachen, wissenschaftliche Urteile, Problemstellungen, die wegen seiner spezifischen Interessen von den üblichen abweichen, jedoch dieselbe logische Form aufweisen.

Was die traditionelle Theorie ohne weiteres als vorhanden annehmen darf, ihre positive Rolle in einer funktionierenden Gesellschaft, die freilich vermittelte und undurchsichtige Beziehung zur Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse, die Teilnahme an dem sich erneuernden Lebensprozeß des Ganzen, alle diese Erfordernisse, um die sich die Wissenschaft selbst gar nicht zu kümmern pflegt, weil durch die soziale Position des Gelehrten ihre Erfüllung belohnt und bestätigt wird, stehen beim kritischen Denken in Frage. Das Ziel, das es erreichen will, der vernünftige Zustand, gründet zwar in der Not der Gegenwart. Mit dieser Not ist jedoch das Bild ihrer Beseitigung nicht schon gegeben. Die Theorie, die es entwirft, arbeitet nicht im Dienst einer schon vor-[191]handenen Realität; sie spricht nur ihr Geheimnis aus. Wie genau sich in jedem Augenblick Verkehrtheiten und Trübungen erweisen lassen, wie sehr sich jeder Fehler rächen kann, so hat doch die Gesamttendenz des Unternehmens, das intellektuelle Tun selbst, auch wenn es als erfolgversprechend gilt, keine Sanktion des gesunden Menschenverstands, keine Gewohnheit für sich. Theorien dagegen, die sich in Maschinenbauten, militärischen Organisationen, selbst erfolgreichen Kinostücken bewähren oder nicht bewähren können, laufen, auch wenn sie unabhängig von ihrer Anwendung betrieben werden, wie die theoretische Physik, auf irgendeinen deutlich zu umreißenden Konsum hinaus, und wenn er nur in der Freude am virtuosen Umgang mit mathematischen Zeichen bestünde, durch dessen Belohnung die gute Gesellschaft ihren Sinn für Humanität zu erkennen gibt.

Dafür jedoch, wie die Zukunft konsumiert wird, um die es dem kritischen Denken zu tun ist, gibt es keine solchen Beispiele. Trotzdem hat die Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist, einen Gehalt, dem bei allen Veränderungen die Treue zu wahren ist. Als die Einsicht, daß und wie die Zerrissenheit und Irrationalität jetzt beseitigt werden kann, wird diese Idee unter den herrschenden Verhältnissen stets reproduziert. Aber die in ihr beurteilte Tatsächlichkeit, die zu einer vernünftigen Gesellschaft hintreibenden Tendenzen werden nicht jenseits des Denkens durch ihm äußerliche Gewalten hervorgebracht, in deren Produkt es sich dann gleichsam durch einen Zufall wiederzuerkennen vermöchte, sondern dasselbe Subjekt, das die Tatsachen, die bessere Wirklichkeit, durchsetzen will, stellt sie auch vor. Aus der rätselhaften Übereinstimmung zwischen Denken und Sein, Verstand und Sinnlichkeit, menschlichen Bedürfnissen und ihrer Befriedigung in der heute chaotischen Wirtschaft, einer Übereinstimmung, die in der bürgerlichen Epoche als Zufall erscheint, soll in der zukünftigen das Verhältnis vernünftiger Absicht und Verwirklichung werden. Der Kampf um die Zukunft spiegelt dieses Verhältnis gebrochen wider, indem ein Wille, der sich auf die Gestaltung der Gesellschaft im ganzen bezieht, bewußt schon im Aufbau der Theorie und Praxis [192] wirksam ist, die dahin führen soll. In der Organisation und Gemeinschaft der Kämpfenden erscheint trotz aller Disziplin, die in der Notwendigkeit, sich durchzusetzen, begründet ist, etwas

von der Freiheit und Spontaneität der Zukunft. Wo die Einheit von Disziplin und Spontaneität verschwunden ist, verwandelt sich die Bewegung in eine Angelegenheit ihrer eigenen Bürokratie, ein Schauspiel, das schon zum Repertoire der neueren Geschichte gehört. Die Lebendigkeit der erstrebten Zukunft in der Gegenwart ist jedoch keine Bestätigung. Die Begriffssysteme des ordnenden Verstandes, die Kategorien, in die Totes und Lebendiges, gesellschaftliche, psychologische, physikalische Vorgänge gemeinhin aufgenommen werden, die Aufspaltung der Gegenstände und Urteile in die Fächer der einzelnen Wissensgebiete, all dies ist der gedankliche Apparat, wie er sich im Zusammenhang mit dem realen Arbeitsprozeß bewährt und eingeschliffen hat. Diese Begriffswelt macht das allgemeine Bewußtsein aus, sie hat eine Grundlage, auf die sich ihre Vertreter berufen können. Auch die Interessen des kritischen Denkens sind allgemein, aber nicht allgemein anerkannt. Die Begriffe, die unter ihrem Einfluß entstehen, kritisieren die Gegenwart. Die Marxschen Kategorien Klasse, Ausbeutung, Mehrwert, Profit, Verelendung, Zusammenbruch sind Momente eines begrifflichen Ganzen, dessen Sinn nicht in der Reproduktion der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern in ihrer Veränderung zum Richtigen zu suchen ist. Wenngleich die kritische Theorie nirgends willkürlich und zufällig verfährt, erscheint sie der herrschenden Urteilsweise daher subjektiv und spekulativ, einseitig und nutzlos. Da sie den herrschenden Denkgewohnheiten, die zum Fortbestehen der Vergangenheit beitragen und die Geschäfte der

überholten Ordnung besorgen, diesen Garanten einer parteiischen Welt zuwiderläuft, wirkt sie als parteiisch und ungerecht. Vor allem aber hat sie keine materielle Leistung aufzuweisen. Die Veränderung, welche die kritische Theorie zu bewirken sucht, setzt [193] sich nicht etwa allmählich durch, so daß ihr Erfolg, wenngleich langsam, so doch stetig wäre. Das Anschwellen der Zahl mehr oder minder klarer Anhänger, der Einfluß einzelner von ihnen auf Regierungen, die Machtstellung von Parteien, die der Theorie positiv gegenüberstehen oder sie wenigstens nicht verfemen, all dies gehört zu den Wechselfällen im Kampf um die höhere Stufe des menschlichen Zusammenlebens und ist nicht schon ihr Beginn. Solche Erfolge können sich nachträglich sogar als Scheinsiege und Fehler erweisen. Ein Düngeverfahren in der Agrikultur oder die Anwendung einer medizinischen Therapie kann noch sehr weit von der idealen Wirksamkeit entfernt sein und doch schon etwas leisten. Vielleicht müssen die Theorien, die solchen technischen Versuchen zugrunde liegen, im Zusammenhang mit der speziellen Praxis und mit Entdeckungen auf anderen Gebieten verfeinert, revidiert oder umgestoßen werden, ein Quantum Arbeit wurde im Verhältnis zum Erzeugnis wenigstens gespart, manche Krankheit geheilt oder gelindert. 16 Die Theorie dagegen, die zur Transformation des gesellschaftlichen Ganzen treibt, hat zunächst zur Folge, daß sich der Kampf verschärft, mit dem sie verknüpft ist. Auch soweit materielle Verbesserungen, die der erhöhten Resistenzkraft bestimmter Gruppen entspringen, mittelbar auf die Theorie zurückgehen, sind dies keine Sektoren der Gesellschaft, aus deren stetiger

Verbreiterung schließlich die neue hervorginge. Solche Vorstellungen mißverstehen die fundamentale Verschiedenheit eines zerspaltenen Gesellschaftsganzen, in dem die materielle und ideologische Macht zur Aufrechterhaltung von Privilegien funktioniert, gegenüber der Assoziation freier Menschen, bei der jeder die gleiche Möglichkeit hat, sich zu entfalten.

Von abstrakter Utopie unterscheidet sich diese Idee durch

den Nachweis ihrer realen Möglichkeit beim heutigen Stand der menschlichen Produktivkräfte. Wie viele Tendenzen jedoch zu ihr hintreiben mögen, wie viele Übergänge erreicht sind, wie wünschenswert und in sich wertvoll einzelne Vorstufen sein können – was sie geschichtlich für die Idee bedeuten, ist ausgemacht erst dann, wenn sie verwirklicht [194] ist. Das eine hat dieses Denken mit der Phantasie gemeinsam, daß ein freilich aus dem tiefsten Verständnis der Gegenwart entspringendes Bild der Zukunft auch in solchen Perioden Gedanken und Aktionen bestimmt, in denen der Gang der Dinge weit von ihr wegzuführen und jede Lehre eher zu begründen scheint als den Glauben an die Erfüllung. Zu diesem Denken gehört zwar nicht das Willkürliche und vermeintlich Unabhängige, aber der Eigensinn der Phantasie. Innerhalb der avanciertesten Gruppen ist es der Theoretiker, der diesen Eigensinn aufbringen muß. Harmonie waltet auch in diesen Verhältnissen nicht. Wird der Theoretiker der beherrschenden Klasse, vielleicht nach mühsamen Anfängen, in eine relativ sichere Position gebracht, so gilt auf der Gegenseite der Theoretiker zuweilen als Feind und Verbrecher, zuweilen als weltfremder Utopist, und endgültig ist der Streit darüber auch nach seinem Tod nicht entschieden. Die

historische Bedeutung seiner Leistung spricht nicht für sich selbst; sie hängt vielmehr davon ab, daß die Menschen für sie sprechen und handeln. Sie gehört nicht zu einer schon fertigen geschichtlichen Gestalt. Die Fähigkeit zu Denkakten, wie sie in der alltäglichen Praxis, sowohl im geschäftlichen Leben als auch in der Wissenschaft, erfordert werden, ist in den Menschen durch eine jahrhundertelange realistische Erziehung entwickelt worden; ein Versagen führt hier zu Schmerz, Mißerfolg und Strafe. Diese intellektuelle Verhaltensweise besteht wesentlich darin, daß die Bedingungen für den Eintritt eines Effekts, der bei gleichen Voraussetzungen immer schon eingetreten ist, erkannt und unter Umständen selbständig herbeigeführt werden. Es gibt einen Anschauungsunterricht durch die guten und schlechten Erfahrungen und das organisierte Experiment. Hier geht es um die unmittelbare individuelle Selbsterhaltung, und den Sinn für sie zu entwickeln, haben die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft Gelegenheit gehabt. Die Erkenntnis in diesem traditionellen Sinn einschließlich jeder Art von Erfahrung ist in der kritischen Theorie und Praxis enthalten. Aber im Hinblick auf die wesentliche Veränderung, auf die sie abzielt, fehlt so lange [195] die entsprechende konkrete Wahrnehmung, bis sie wirklich eintritt. Wenn das Essen die Probe auf den Pudding ist, so steht sie jedenfalls hier noch bevor. Der Vergleich mit ähnlichen geschichtlichen Ereignissen ist nur in sehr bedingter Weise anzustellen. Daher spielt das konstruktive Denken im Ganzen dieser Theorie gegenüber der Empirie eine bedeutendere Rolle als im Leben des gesunden

Menschenverstandes. Hier liegt einer der Gründe, warum in den Fragen, welche die Gesamtgesellschaft betreffen, Leute, die in einzelnen wissenschaftlichen Fächern oder sonstigen Berufszweigen äußerst Tüchtiges zu leisten vermögen, sich trotz guten Willens beschränkt und unfähig zeigen können. In allen Zeiten, in denen soziale Veränderungen auf der Tagesordnung standen, galten im Gegensatz dazu Leute, die »zuviel« dachten, als gefährlich. Dies führt auf das Problem der Intelligenz in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft überhaupt. Der Theoretiker, dessen Geschäft darin besteht, eine Entwicklung zu beschleunigen, die zur Gesellschaft ohne Unrecht führen soll, kann sich, wie dargelegt, im Gegensatz zu Ansichten befinden, die beim Proletariat gerade vorherrschen. Ohne die Möglichkeit dieses Konflikts bedürfte es keiner Theorie; denen, die sie brauchen, fiele sie unmittelbar zu. Mit der individuellen Klassenlage des Theoretikers hat der Konflikt nicht notwendig zu tun; sie hängt nicht von der Form seines Einkommens ab. Engels war ein businessman. In der Fachsoziologie, die ihren Klassenbegriff nicht aus der Kritik der Ökonomie, sondern aus eigenen Beobachtungen hernimmt, entscheidet über die soziale Zugehörigkeit des Theoretikers weder die Einkommensquelle noch der faktische Inhalt seiner Theorie, sondern das formale Element der Bildung. Die Möglichkeit des größeren Überblicks, nicht etwa desjenigen der Industriemagnaten, die den Weltmarkt kennen und hinter den Kulissen ganze Staaten dirigieren, sondern der Universitätsprofessoren und mittleren Staatsbeamten, Ärzte, Rechtsanwälte und so fort soll die »Intelligenz«, das heißt eine besondere soziale oder gar eine

suprasoziale Schicht konstituieren. Ist es Aufgabe des kritischen Theoretikers, die Spannung [196] zwischen seiner Einsicht und der unterdrückten Menschheit, für die er denkt, zu verringern, so wird in jenem soziologischen Begriff das Schweben über den Klassen zum Wesensmerkmal der Intelligenz, zu einer Art Vorzug, auf den sie stolz ist. Die Neutralität dieser Kategorie entspricht der abstrakten Selbsterkenntnis des Gelehrten. Wie das Wissen im bürgerlichen Konsum des Liberalismus erscheint, nämlich als unter Umständen brauchbare Kenntnis, ganz gleichgültig, worum es geht, wird es von dieser Soziologie auch theoretisch zusammengefaßt. Marx und Mises, Lenin und Liefmann, Jaures und Jevons,

das gehört soziologisch in eine

Rubrik, wenn man nicht gar die Politiker wegläßt und in der Rolle möglicher Schüler den politischen Wissenschaftlern, Soziologen und Philosophen als den Wissenden gegenüberstellt. Von diesen sollen die Politiker dann lernen, »die und die Mittel« anzuwenden, wenn sie »die und die Stellung« einnehmen; sie sollen lernen, ob ihre praktische Stellungnahme überhaupt »mit innerer Konsequenz« vertretbar ist. 17 Eine Arbeitsteilung tut sich auf zwischen den Menschen, die in den gesellschaftlichen Kämpfen auf den Gang der Geschichte einwirken und dem soziologischen Diagnostiker, der ihnen den Standort zuweist. Zum formalistischen Begriff des Geistes, der solcher Vorstellung von Intelligenz zugrunde liegt, steht die kritische Theorie in Widerspruch. Nach ihr existiert nur eine Wahrheit, und die positiven Prädikate der Ehrlichkeit und inneren Konsequenz, der Vernünftigkeit, des Strebens nach Frieden, Freiheit und Glück sind

nicht im gleichen Sinn irgendeiner anderen Theorie und Praxis zuzusprechen. Es gibt keine Theorie der Gesellschaft, auch nicht die des generalisierenden Soziologen, die nicht politische Interessen mit einschlösse, über deren Wahrheit anstatt in scheinbar neutraler Reflexion nicht selbst wieder handelnd und denkend, eben in konkreter geschichtlicher Aktivität, entschieden werden müßte. Daß der Intellektuelle sich so hinstellt, als bedürfe es zunächst einer nur von ihm zu leistenden schwierigen Denkarbeit, um zwischen revolutio-[197]nären, liberalistischen und faschistischen Zielen und Wegen die Wahl zu treffen, ist überhaupt verwirrend. Die Situation ist seit Jahrzehnten nicht mehr danach. Die Avantgarde bedarf der Klugheit im politischen Kampf, nicht der akademischen Belehrung über ihren sogenannten Standort. Zu einem Zeitpunkt vollends, wo die freiheitlichen Kräfte in Europa selbst desorientiert sind und sich neu zu formieren suchen, wo alles an Nuancen innerhalb ihrer eigenen Bewegung hängt, wo die aus Niederlage, Verzweiflung und korrupter Bürokratie entstehende Gleichgültigkeit gegen den bestimmten Inhalt alle Spontaneität, Erfahrung, Erkenntnis der Massen trotz des Heldenmuts Einzelner zu vernichten droht, bedeutet die überparteiliche und daher abstrakte Konzeption der Intelligenz eine Fassung der Probleme, welche die entscheidenden Fragen bloß verdeckt. Der Geist ist liberal. Er verträgt keinen äußeren Zwang, keine Anpassung seiner Ergebnisse an den Willen irgendeiner Macht. Von dem Leben der Gesellschaft ist er jedoch nicht losgelöst, er schwebt nicht über ihr. Soweit er auf Autonomie, auf die Herrschaft der Menschen über ihr eigenes Leben wie über

die Natur abzielt, vermag er diese Tendenz als wirkende Kraft in der Geschichte zu erkennen. Isoliert betrachtet, erscheint das Feststellen der Tendenz als neutral; aber wie der Geist sie ohne Interesse nicht zu erkennen vermag, so vermag er sie auch nicht ohne realen Kampf zum allgemeinen Bewußtsein zu machen. Insofern ist der Geist nicht liberal. Die gedanklichen Bemühungen, die ohne bewußten Zusammenhang mit einer bestimmten Praxis je nach den wechselnden akademischen oder sonstigen Aufgaben, die zu fördern Erfolg verspricht, hier und dort ansetzen und einmal dies, einmal jenes für ihre Sache halten, können für die eine oder andere historische Tendenz nützliche Dienste leisten, sie können jedoch selbst bei formaler Richtigkeit – welches zutiefst verkehrte theoretische Gebilde vermöchte nicht schließlich die Forderung formaler Richtigkeit zu erfüllen! – die geistige Entwicklung auch hemmen und ablenken. Der abstrakte, als soziologische Kategorie festgehaltene Begriff einer Intelligenz, die dazu noch missionarische Funktionen haben soll, gehört seiner Struktur nach zur Hypostasierung der Fachwissenschaft. Die kritische Theorie ist weder wie die totalitäre Propaganda noch wie die liberalistische Intelligenz. [198]

Aus der verschiedenen Funktion des traditionellen und des

kritischen Denkens ergeben sich die Unterschiede der logischen Struktur. Die obersten Sätze der traditionellen Theorie definieren Allgemeinbegriffe, unter die alle Tatsachen des Gebietes zu befassen sind, zum Beispiel den Begriff eines physikalischen Vorgangs in der Physik oder des organischen Geschehens in der Biologie.

Dazwischen gibt es die Hierarchie von Gattungen und Arten, zwischen denen überall entsprechende Verhältnisse der Unterordnung bestehen. Die Tatsachen sind Einzelfälle, Exemplare oder Verkörperung der Gattungen. Zeitliche Unterschiede zwischen den Einheiten des Systems gibt es nicht. Die Elektrizität existiert nicht vor einem elektrischen Feld, und umgekehrt das Feld nicht vor der Elektrizität, ebensowenig wie der Löwe als solcher vor oder nach den besonderen Löwen ist. Wenn im individuellen Erkennen die eine oder andere zeitliche Abfolge dieser Verhältnisse bestehen mag, so jedenfalls nicht auf der Seite der Gegenstände. Die Physik ist auch davon abgekommen, die allgemeineren Züge als verborgene Ursachen oder Kräfte in den konkreten Tatsachen aufzufassen und diese logischen Verhältnisse zu hypostasieren, nur in der Soziologie herrscht darüber noch Unklarheit. Werden einzelne Gattungen dem System hinzugefügt oder sonstige Veränderungen vorgenommen, so wird dies üblicherweise nicht etwa in dem Sinn aufgefaßt, daß die Bestimmungen notwendig zu starr sind, sich als inadäquat erweisen müssen, da entweder das Verhältnis zum Gegenstand oder derselbe Gegenstand sich ändert, ohne dabei seine Identität zu verlieren. Änderungen werden vielmehr als Mangel unserer früheren Erkenntnis oder als Ersetzung einzelner Stücke des Gegenstands durch andere betrachtet, wie etwa eine Landkarte veraltet, weil Wälder abgeholzt, neue Städte hinzugekommen, andere Grenzen entstanden sind. So wird in der diskursiven oder Verstandeslogik auch die lebendige Entwicklung begriffen. Dieser Mensch ist jetzt ein Kind, dann erwachsen, kann nach ihr nur heißen, es gibt einen festen Kern, der sich gleichbleibt: »dieser Mensch«; ihm werden

beide Eigenschaften, Kind- und Erwachsensein nacheinander angeheftet. Nach dem Positivismus bleibt überhaupt nichts identisch, sondern zuerst ist ein Kind da, später ein Erwachsener, beides sind zwei verschiedene Tatsachenkomplexe. Daß der Mensch sich ändert und doch mit sich identisch bleibt, vermag diese Logik nicht zu fassen. [199]

Die kritische Theorie der Gesellschaft beginnt ebenfalls mit

abstrakten Bestimmungen; soweit sie die gegenwärtige Epoche behandelt, mit der Kennzeichnung einer auf Tausch begründeten Ökonomie. 18 Die bei Marx auftretenden Begriffe wie Ware, Wert und Geld können als Gattungsbegriffe fungieren, zum Beispiel, wenn Beziehungen im konkreten gesellschaftlichen Leben als Tauschbeziehungen beurteilt werden und vom Warencharakter der Güter gesprochen wird. Aber die Theorie selbst erschöpft sich nicht darin, die Begriffe über Hypothesen auf die Realität zu beziehen. Der Anfang umreißt bereits den Mechanismus, kraft dessen die bürgerliche Gesellschaft nach Abschaffung der feudalistischen Regulierungen, des Zunftsystems und der Leibeigenschaft nicht sogleich an ihrem anarchischen Prinzip zugrunde ging, sondern sich am Leben erhielt. Es wird die regulierende Wirkung des Tauschs gezeigt, auf der die bürgerliche Wirtschaft beruht. Die Konzeption des Prozesses zwischen Gesellschaft und Natur, die hier schon mitspielt, die Idee einer einheitlichen Epoche der Gesellschaft, ihrer Selbsterhaltung und so fort entspringen bereits einer gründlichen, vom Interesse an der Zukunft geleiteten Analyse des geschichtlichen Verlaufs. Das Verhältnis der ersten begrifflichen Zusammenhänge

zur Faktenwelt ist nicht wesentlich das von Gattungen und Exemplaren. Das durch sie bezeichnete Tauschverhältnis beherrscht infolge seiner Dynamik die gesellschaftliche Wirklichkeit, wie etwa der Stoffwechsel den pflanzlichen und tierischen Organismus weitgehend beherrscht. Auch in der kritischen Theorie müssen spezifische Elemente eingefügt werden, um von dieser grundlegenden Struktur zur differenzierten Realität zu gelangen. Aber ein solches Einfügen von Bestimmungen, man denke etwa an das Vorhandensein aufgestapelter Goldmengen, die Ausbreitung in noch vorkapitalistische Räume der Gesellschaft, den Außenhandel, geschieht nicht durch einfache Deduktion wie in der fachlich abgekapselten Theorie. Vielmehr gehört zu jedem Schritt die Kenntnis über Mensch und Natur, die in [200] den Wissenschaften und in der geschichtlichen Erfahrung vorliegt. Im Hinblick auf die Lehre von der industriellen Technik versteht sich dies von selbst. Aber auch nach anderen Richtungen hin wird die differenzierte Kenntnis menschlicher Reaktionsweisen bei der hier erörterten gedanklichen Entwicklung angewandt. Der Satz etwa, daß die untersten Schichten der Gesellschaft unter bestimmten Bedingungen auch die meisten Kinder haben, spielt beim Nachweis, wie die bürgerliche Tauschgesellschaft notwendig zum Kapitalismus mit industrieller Reservearme und Krisen führt, eine wichtige Rolle. Ihn psychologisch zu begründen, bleibt den traditionellen Wissenschaften überlassen. Die kritische Theorie der Gesellschaft beginnt also mit einer durch relativ allgemeine Begriffe bestimmten Idee des einfachen Warentausches; unter Voraussetzung des

gesamten verfügbaren Wissens, der Aufnahme des aus fremden und eigenen Forschungen angeeigneten Stoffes wird dann gezeigt, wie die Tauschwirtschaft bei der gegebenen und sich freilich unter ihrem Einfluß verändernden Beschaffenheit von Menschen und Dingen, ohne daß ihre eigenen, von der fachlichen Nationalökonomie dargestellten Prinzipien durchbrochen würden, notwendig zur Verschärfung der gesellschaftlichen Gegensätze führen muß, die in der gegenwärtigen geschichtlichen Epoche zu Kriegen und Revolutionen treibt. Der Sinn der hier gemeinten Notwendigkeit ist wie derjenige der Abstraktheit der Begriffe den entsprechenden Zügen der traditionellen Theorie ähnlich und unähnlich zugleich. In beiden Arten von Theorie beruht die Strenge der Deduktion darauf, daß erhellt, wie die Behauptung vom Zutreffen allgemeiner Bestimmungen diejenige vom Zutreffen gewisser tatsächlicher Verhältnisse einschließt. Handelt es sich um einen elektrischen Vorgang, so muß sich, weil zum Begriff der Elektrizität diese und jene Merkmale gehören, dieser und jener Vorfall ereignen. Soweit die kritische Theorie der Gesellschaft die gegenwärtigen Zustände aus dem Begriff des einfachen Tauschs entwickelt, enthält sie in der Tat diese Art der Notwendigkeit, nur daß die generell hypothetische Form relativ gleichgültig ist. Der Nachdruck liegt nicht darauf, [201] daß sich unter bestimmten historischen Umständen einfache Warenwirtschaft jedesmal zum Kapitalismus entwickeln muß,

wenngleich dies wahr ist,

sondern auf der Ableitung dieser realen, von Europa aus die Erde umfassenden kapitalistischen Gesellschaft, für welche die Theorie

als gültig behauptet wird, aus dem Grundverhältnis des Tausches überhaupt. Während selbst die kategorischen Urteile der Fachwissenschaften im Grunde hypothetischen Charakter tragen und Existenzialurteile, wenn überhaupt, nur in eigenen Kapiteln, beschreibenden oder praktischen Teilen geduldet werden 19 , ist die kritische Gesellschaftstheorie als ganze ein einziges entfaltetes Existenzialurteil. Es besagt, grob formuliert, daß die Grundform der historisch gegebenen Warenwirtschaft, auf der die neuere Geschichte beruht, die inneren und äußeren Gegensätze der Epoche in sich schließt, in verschärfter Form stets aufs neue zeitigt und nach einer Periode des Aufstiegs, der Entfaltung menschlicher Kräfte, der Emanzipation des Individuums, nach einer ungeheuren Ausbreitung der menschlichen Macht über die Natur schließlich die weitere Entwicklung hemmt und die Menschheit einer neuen Barbarei zutreibt. Die einzelnen Denkschritte innerhalb dieser Theorie sind, wenigstens der Intention nach, von der gleichen Strenge wie die Deduktionen innerhalb einer fachwissenschaftlichen Theorie, jeder ist dabei ein Moment in der Konstitution jenes umfassenden Existenzialurteils. Einzelne Teile können in allgemeine oder besondere hypothetische Urteile verwandelt werden und im Sinne des traditionellen Theoriebegriffs verwandt werden, wie etwa, daß bei steigender Produktivität das Kapital sich regelmäßig entwertet. Bei manchen Partien der Theorie entstehen auf solche Weise Sätze, deren Beziehung zur Realität schwierig ist. Daraus, daß die Darstellung eines einheitlichen Gegenstands als ganze wahr ist, läßt sich nämlich nur unter speziellen Bedingungen folgern, inwiefern

einzelne von ihr losgelöste Teile in ihrer Isolierung auf isolierte Teile des Gegenstands zutreffen. Die [202] Problematik, die entsteht, sobald Teilsätze der kritischen Theorie auf einmalige oder wiederholbare Vorgänge in der gegenwärtigen Gesellschaft anzuwenden sind, betrifft die Eignung der kritischen Theorie zu traditionellen Denkleistungen mit fortschrittlichem Zweck, nicht ihre Wahrheit selbst. Die Unfähigkeit der Fachwissenschaften, besonders der zeitgenössischen Nationalökonomie, bei den von ihnen bearbeiteten stückhaften Fragestellungen Nutzen aus ihr zu ziehen, liegt weder an ihnen noch an der kritischen Theorie allein, sondern an ihrer spezifischen Rolle in der Wirklichkeit. Auch die kritische und oppositionelle Theorie leitet, wie soeben dargelegt, ihre Aussagen über die realen Verhältnisse aus allgemeinen Grundbegriffen her und läßt diese Verhältnisse eben dadurch als notwendig erscheinen. Wenn im Hinblick auf die Notwendigkeit im logischen Sinn beide Arten theoretischer Strukturen ähnlich sind, so besteht ein Gegensatz, sobald nicht mehr bloß von logischer, sondern von sachlicher Notwendigkeit, von derjenigen faktischer Abläufe die Rede ist. Die Aussage des Biologen, daß eine Pflanze auf Grund immanenter Prozesse verwelken muß oder daß gewisse zum menschlichen Organismus gehörige Vorgänge notwendig zu seinem Untergang führen, läßt es dahingestellt, ob irgendwelche Einwirkungen diese Verläufe in ihrem Charakter beeinflussen oder total verändern können. Auch wenn eine Krankheit als heilbar bezeichnet wird, gilt doch der Umstand, ob entsprechende Maßnahmen wirklich ergriffen werden,

als eine der Sache selbst äußerliche, zur Technik gehörige und daher in der Theorie als solcher unwesentliche Ereignisreihe. Die Notwendigkeit, von der die Gesellschaft beherrscht wird, könnte in diesem Sinn als biologisch angesehen und der besondere Charakter der kritischen Theorie deshalb bezweifelt werden, weil in der Biologie wie auch in anderen Naturwissenschaften in ähnlicher Weise einzelne Verläufe theoretisch konstruiert werden, wie es nach dem oben Dargelegten in der kritischen Theorie der Gesellschaft geschieht. Die Entwicklung der Gesellschaft gälte damit als eine bestimmte Ereignisreihe, zu deren Darstellung Resultate aus verschiedenen Gebieten herangezogen werden, wie etwa ein Mediziner bei einem Krankheitsverlauf oder ein Geologe bei der Vorgeschichte der Erde verschiedene Wissenszweige anzuwenden haben. Die Gesellschaft erscheint hier als Indi-[203]viduum, das auf Grund von fachwissenschaftlichen Theorien beurteilt wird. Wie viele Analogien zwischen diesen intellektuellen Bestrebungen auch obwalten mögen, so besteht doch hinsichtlich des Verhältnisses von Subjekt und Objekt und damit der Notwendigkeit des beurteilten Geschehens ein entscheidender Unterschied. Die Sache, mit der es der Fachwissenschaftler zu tun hat, wird von seiner eigenen Theorie überhaupt nicht berührt. Subjekt und Objekt sind streng getrennt, auch wenn es sich zeigen sollte, daß in einem späteren Zeitpunkt das objektive Geschehen durch menschlichen Zugriff beeinflußt wird; dieser ist in der Wissenschaft ebenso als Faktum zu betrachten. Das gegenständliche Geschehen ist der Theorie transzendent, und die Unabhängigkeit von

ihr gehört zu seiner Notwendigkeit: der Betrachter als solcher kann nichts daran ändern. Zur Entwicklung der Gesellschaft gehört aber das bewußt kritische Verhalten. Die Konstruktion des Geschichtsverlaufs als des notwendigen Produkts eines ökonomischen Mechanismus enthält zugleich den selbst aus ihm hervorgehenden Protest gegen diese Ordnung und die Idee der Selbstbestimmung des menschlichen Geschlechts, das heißt eines Zustands, in dem seine Taten nicht mehr aus einem Mechanismus, sondern aus seinen Entscheidungen fließen. Das Urteil über die Notwendigkeit des bisherigen Geschehens impliziert hier den Kampf um ihre Verwandlung aus einer blinden in eine sinnvolle Notwendigkeit. Den Gegenstand der Theorie von ihr getrennt zu denken, verfälscht das Bild und führt zum Quietismus oder Konformismus.

Jeder ihrer Teile setzt die Kritik und den Kampf gegen

das Bestehende in der von ihr selbst bestimmten Richtung voraus. Nicht ohne Gründe, wenn auch nicht mit vollem Recht, haben die von der Physik ausgehenden Erkenntnistheoretiker die Verwechslung der Ursachen mit dem Wirken von Kräften gebrandmarkt und zuletzt den Begriff der Ursache mit dem der Bedingung oder der Funktion vertauscht. Dem rein registrierenden Denken bieten sich nämlich immer nur Erscheinungsreihen, niemals Kräfte und Gegenkräfte dar, was freilich nicht in der Natur liegt, sondern im We-[204]sen jenes Denkens. Wird dieses Verfahren auf die Gesellschaft angewandt, so ergibt sich Statistik und beschreibende Soziologie, die für jeden Zweck, auch für die kritische Theorie, wichtig werden können. Notwendig ist für die traditionelle

Wissenschaft entweder alles oder gar nichts, je nachdem, ob man unter Notwendigkeit die Unabhängigkeit vom Beobachter oder die Möglichkeit absolut gewisser Prognosen verstehen will. Sofern jedoch das Subjekt sich auch als denkendes nicht radikal von den gesellschaftlichen Kämpfen isoliert, an denen es teilnimmt, sofern es nicht Erkennen und Handeln bloß als getrennte Begriffe sieht, hat Notwendigkeit einen anderen Sinn. Soweit sie, vom Menschen unbeherrscht, ihm entgegensteht, gilt sie einerseits als das Naturreich, das trotz der weitreichenden Eroberungen, die noch zu machen sind, nie ganz verschwinden wird, andererseits als die Ohnmacht der bisherigen Gesellschaft, den Kampf mit dieser Natur in einer bewußten und zweckmäßigen Organisation zu führen. Hier sind Kräfte und Gegenkräfte geeint. Beide Momente dieses Begriffs der Notwendigkeit, die miteinander zusammenhängen, Macht der Natur und Ohnmacht der Menschen, beruhen auf der selbst erlebten Anstrengung der Menschen, sich vom Zwang der Natur und den zur Fessel gewordenen Formen des gesellschaftlichen Lebens, der juristischen, politischen und kulturellen Ordnung zu befreien. Sie gehören zum wirklichen Streben nach einem Zustand, in welchem, was die Menschen wollen, auch notwendig ist, in welchem die Notwendigkeit der Sache zu der eines vernünftig beherrschten Geschehens wird. Die Anwendbarkeit, selbst das Verständnis dieser und anderer Begriffe der kritischen Denkart sind an die eigene Aktivität und Anstrengung, an einen Willen im erkennenden Subjekt geknüpft. Der Versuch, dem mangelnden Verständnis solcher Ideen und der Weise ihrer Verkettung dadurch abzuhelfen, daß bloß ihre logische Prägnanz gesteigert wird, daß scheinbar exaktere

Definitionen oder gar eine »Einheitssprache« zustande kommen, muß mißlingen. Es handelt sich nicht nur um ein Mißverständnis, sondern um den wirklichen Gegensatz verschiedener Verhaltensweisen. Der Begriff der Notwendigkeit ist in der kritischen Theorie selbst ein kritischer; er setzt den der Freiheit voraus, wenn auch nicht als einer existierenden. Die Vorstellung einer Freiheit als einer, die immer schon da ist, auch wenn die Menschen in Ketten liegen, [205] also einer bloß inneren Freiheit, gehört der idealistischen Denkweise an. Die Tendenz dieser nicht völlig unwahren, aber schiefen Idee hat am deutlichsten der junge Fichte gezeigt: »Ich bin jetzt gänzlich überzeugt, daß der menschliche Wille frei sei und daß Glückseligkeit nicht der Zweck unseres Daseins sei, sondern nur Glückwürdigkeit.« 20 Es zeigt sich hier die schlechte Identität radikaler metaphysischer Gegensätze und Schulen. Die Behauptung absoluter Notwendigkeit des Geschehens meint letzten Endes dasselbe wie diejenige der realen Freiheit in der Gegenwart: die Resignation in der Praxis. Die Unfähigkeit, die Einheit von Theorie und Praxis zu denken und die Beschränkung des Begriffs der Notwendigkeit auf ein fatalistisches Geschehen gründen erkenntnistheoretisch in der Hypostasierung des cartesianischen Dualismus von Denken und Sein. Dieser ist der Natur wie auch der bürgerlichen Gesellschaft angemessen, soweit sie selbst einem natürlichen Mechanismus gleicht. Die Theorie, die zur realen Macht wird, das Selbstbewußtsein der Subjekte einer großen geschichtlichen Umwälzung, geht über die Mentalität hinaus, für welche dieser

Dualismus kennzeichnend ist. Soweit die Gelehrten ihn nicht nur im Kopf haben, sondern mit ihm Ernst machen, können sie nicht selbständig handeln. Sie führen dann ihrem eigenen Denken gemäß praktisch nur aus, wozu der geschlossene Kausalzusammenhang der Realität sie bestimmt, oder sie kommen als individuelle Einheiten statistischer Größen in Betracht, in denen eben die individuelle Einheit keine Rolle spielt. Als Vernunftwesen sind sie ohnmächtig und isoliert. Die Erkenntnis dieses Tatbestandes bildete einen Schritt zu seiner Aufhebung, aber er geht nur in metaphysischer, unhistorischer Gestalt in das bürgerliche Bewußtsein ein. Als Glaube an die Unabänderlichkeit der Gesellschaftsform beherrscht er die Gegenwart. In ihrer Reflexion sehen sich die Menschen als bloße Zuschauer, passive Teilnehmer eines gewaltigen Geschehens, das man vielleicht vorhersehen, jedenfalls aber nicht beherrschen kann. Sie wissen von Notwendigkeit nicht im [206] Sinne von Ereignissen, die man selbst erzwingt, sondern bloß von solchen, die man mit Wahrscheinlichkeit voraus berechnet. Wo die Verflechtung von Wollen und Denken, Anschauen und Handeln zugestanden wird wie in manchen Teilen der neuesten Soziologie, gilt dies selbst nur unter dem Aspekt einer zu beachtenden Kompliziertheit des Objekts. Man muß alle Theorien, die vorkommen, den praktischen Stellungnahmen, den sozialen Schichten zuordnen, die damit zusammenhängen. Das Subjekt zieht sich aus der Affäre, es hat kein Interesse als – die Wissenschaft.

Die Feindschaft gegen das Theoretische überhaupt, die heute im öffentlichen Leben grassiert, richtet sich in Wahrheit gegen die

verändernde Aktivität, die mit dem kritischen Denken verbunden ist. Wo es nicht beim Feststellen und Ordnen in möglichst neutralen, das heißt für die Lebenspraxis in den gegebenen Formen unerläßlichen Kategorien bleibt, regt sich sogleich ein Widerstand. Bei der überwiegenden Mehrheit der Beherrschten steht die unbewußte Furcht im Weg, theoretisches Denken könnte die mühsam vollzogene Anpassung an die Realität als verkehrt und überflüssig erscheinen lassen; bei den Nutznießern erhebt sich der allgemeine Verdacht gegen jede intellektuelle Selbständigkeit. Die Tendenz, Theorie als Gegensatz zur Positivität aufzufassen, ist so stark, daß selbst die harmlose traditionelle Theorie zuweilen davon betroffen wird. Weil die fortgeschrittenste Gestalt des Denkens in der Gegenwart die kritische Theorie der Gesellschaft ist und jede konsequente intellektuelle Anstrengung, die sich um den Menschen kümmert, sinngemäß in sie einmündet, gerät Theorie überhaupt in Verruf. Auch jeder anderen wissenschaftlichen Aussage, die keine Angabe von Tatsachen in den gebräuchlichsten Kategorien und womöglich in der neutralsten Form, der Mathematik, darstellt, wird bereits vorgeworfen, sie sei zu theoretisch. Diese positivistische Haltung muß nicht bloß fortschrittsfeindlich sein. Wenn sich auch bei den verschärften Klassengegensätzen der letzten Jahrzehnte die Herrschaft zunehmend auf den realen Machtapparat verlassen muß, so bildet doch die Ideologie einen nicht zu unterschätzenden Kittfaktor des rissig gewordenen Gesellschaftsbaus. In der Losung, sich an die Tat-[207]sachen zu halten und jede Art von Illusion preiszugeben, steckt selbst heute noch etwas wie eine Reaktion

gegen den Bund von Unterdrückung und Metaphysik. Es wäre jedoch ein Fehler, den wesentlichen Unterschied zwischen der empiristischen Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert und in der Gegenwart zu verkennen. Damals hatte eine neue Gesellschaft sich bereits im Rahmen der alten entwickelt. Es galt, die schon vorhandene bürgerliche Wirtschaft aus den feudalen Hemmnissen zu befreien, sie einfach »gehen zu lassen«. Das ihr entsprechende fachwissenschaftliche Denken brauchte ebenfalls die alten dogmatischen Bindungen wesentlich nur abzuschütteln, um den schon erkannten Weg zu gehen. Im Übergang von der gegenwärtigen zu einer künftigen Gesellschaftsform soll die Menschheit sich jedoch erstmals zum bewußten Subjekt konstituieren und aktiv ihre eigenen Lebensformen bestimmen. Wenn auch die Elemente der zukünftigen Kultur schon vorhanden sind, so bedarf es doch einer bewußten Neukonstruktion der ökonomischen Verhältnisse. Die undifferenzierte Feindschaft gegen die Theorie bedeutet daher heute ein Hemmnis. Wird die theoretische Anstrengung, die im Interesse einer vernünftig organisierten zukünftigen Gesellschaft die gegenwärtige kritisch durchleuchtet und anhand der in den Fachwissenschaften ausgebildeten traditionellen Theorien konstruiert, nicht fortgesetzt, so ist der Hoffnung, die menschliche Existenz grundlegend zu verbessern, der Boden entzogen. Die Forderung nach Positivität und Unterordnung, die auch in den fortschrittlichen Gruppen der Gesellschaft den Sinn für die Theorie abzustumpfen droht, trifft

notwendig nicht allein die Theorie, sondern auch die Praxis der Befreiung. Die einzelnen Teile der Theorie, welche die komplizierten Verhältnisse des liberalistischen und schließlich des Kapitalismus der Konzerne aus dem Schema der einfachen Warenwirtschaft abzuleiten unternimmt, verhalten sich nicht so gleichgültig zur Zeit wie die Stufen eines deduktiven Ordnungsgefüges. Wie die auch für den Menschen wichtige Verdauungsfunktion in der Stufenreihe der Organismen sich in gleichsam nacktem Zustand in Gestalt der »Schlauchtiere« als Gattung vorfindet, so gibt es historische Formen der Gesellschaft, die der einfachen Warenwirtschaft wenigstens nahekommen. Die gedankliche Entwicklung steht, wie oben dargelegt, zur geschichtlichen, wenn auch nicht in Parallele, so doch in [208] feststellbarer Relation. Die wesentliche Bezogenheit der Theorie auf die Zeit liegt jedoch nicht in der Entsprechung einzelner Teile der Konstruktion zu geschichtlichen Abschnitten, eine Lehre, in der Hegels Phänomenologie des Geistes und seine Logik ebenso wie das Kapital von Marx als Zeugnisse der gleichen Methode übereinstimmen, sondern in der ständigen Veränderung des theoretischen Existenzialurteils über

die Gesellschaft, die durch seinen

bewußten Zusammenhang mit der geschichtlichen Praxis bedingt ist. Mit dem Prinzip, fortwährend jeden bestimmten theoretischen Inhalt »radikal in Frage zu stellen« und immer wieder von vorne anzufangen, durch das die moderne Metaphysik und Religionsphilosophie alle konsequente Theorienbildung bekämpft haben, hat das nichts zu tun. Die kritische Theorie hat nicht heute

den und morgen einen anderen Lehrgehalt. Ihre Änderungen bedingen keinen Umschlag in eine völlig neue Anschauung, solange die Epoche sich nicht ändert. Die Festigkeit der Theorie rührt daher, daß bei allem Wandel der Gesellschaft doch ihre ökonomisch grundlegende Struktur, das Klassenverhältnis in seiner einfachsten Gestalt, und damit auch die Idee seiner Aufhebung identisch bleibt. Die hierdurch bedingten entscheidenden Züge des Inhalts können sich vor dem geschichtlichen Umschlag nicht ändern. Andererseits steht aber die Geschichte auch bis dahin nicht still. Die historische Entwicklung der Gegensätze, in die das kritische Denken verflochten ist, verlagert die Wichtigkeit seiner einzelnen Momente, zwingt zu Differenzierungen und verschiebt die Bedeutung der fachwissenschaftlichen Erkenntnisse für die kritische Theorie und Praxis. Am Begriff der sozialen Klasse, die über die Mittel der Produktion verfügt, sei näher bezeichnet, was hier gemeint ist. In der liberalistischen Periode war die ökonomische Herrschaft weitgehend mit dem juristischen Eigentum an den Produktionsmitteln verknüpft. Die große Klasse der Privateigentümer war gesellschaftlich führend, und die gesamte Kultur jener Zeit ist durch dieses Verhältnis gekennzeichnet. Die Industrie war noch in eine große Anzahl von heute aus gesehen kleiner, selbständiger Unternehmen differenziert. Die dieser technischen Entwicklungsstufe angemessene Direktion der Fabrik war die durch einen oder mehrere Eigentümer oder ihren unmittelbaren Beauftragten. Mit der im letzten Jahrhundert durch

die Entfaltung der Technik vermittelten, rapide fortschreitenden [209] Konzentration und Zentralisation des Kapitals werden die juristischen Eigentümer großenteils von der Leitung der sich bildenden Riesenunternehmen, die ihre Fabriken aufsaugen, getrennt, wobei sich die Leitung gegenüber dem juristischen Eigentumstitel verselbständigt. Es entstehen die industriellen Magnaten, die Führer der Wirtschaft. In sehr vielen Fällen behalten sie zunächst noch den größeren Teil des Eigentums an ihren Konzernen. Heute ist dieser Umstand schon unwesentlich geworden, und es zeigen sich einzelne mächtige Manager, die ganze Sektoren der Industrie beherrschen und nur einen verschwindenden Teil der von ihnen dirigierten Werke zum juristischen Eigentum haben. Dieser ökonomische Prozeß bringt eine Wandlung der Funktionsweise des juristischen und politischen Apparats sowie der Ideologien mit sich. Ohne daß etwa die juristische Definition des Eigentums im geringsten geändert wird, werden die Eigentümer gegenüber den Leitern und ihrem Stab zunehmend ohnmächtig. Die direkte Verfügung über die Mittel des Riesenunternehmens gibt während eines Prozesses, den die Eigentümer bei Meinungsverschiedenheiten etwa anstrengen sollten, der Leitung ein solches Übergewicht, daß an einen Sieg ihrer Gegner in der Regel kaum zu denken ist. Der Einfluß der Leitung, der sich zunächst nur auf niedere juristische und administrative Instanzen beziehen mag, erstreckt sich schließlich auch auf die höheren, am Ende auf den Staat und seine Machtorganisation. Durch die Trennung von der wirklichen Produktion und durch ihren sinkenden Einfluß verengt

sich der Horizont der bloßen Inhaber von Besitztiteln; ihre Lebensbedingungen und ihr Auftreten werden immer ungeeigneter für sozial ausschlaggebende Positionen, und schließlich erscheint der Anteil, den sie aus dem Eigentum noch beziehen, ohne etwas zu seiner Vergrößerung wirklich leisten zu können, als gesellschaftlich nutzlos und moralisch zweifelhaft. Es entstehen die eng mit diesen und einigen anderen Veränderungen zusammenhängenden Ideologien von der großen Persönlichkeit und vom Unterschied der produktiven und parasitären Kapitalisten. Die Vorstellung eines der Allgemeinheit gegenüber selbständigen Rechts mit festem Inhalt verliert an Gewicht. Von der gleichen Seite, welche die private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, dieses Kern-[210]stück der herrschenden Gesellschaftsordnung, brutal aufrechterhält, gehen politische Lehren aus, daß unproduktives Eigentum und parasitäre Einkünfte verschwinden müßten. Indem sich der Kreis der wirklich Mächtigen verkleinert, wächst die Möglichkeit bewußter Ideologienbildung, der Etablierung einer doppelten Wahrheit, bei der das Wissen den Insidern und die Version dem Volk vorbehalten bleibt, und der Zynismus gegen Wahrheit und Denken überhaupt breitet sich aus. Am Ende des Prozesses steht eine nicht mehr von selbständigen Eigentümern, sondern von industriellen und politischen Führercliquen beherrschte Gesellschaft.

Diese Veränderungen lassen auch die Struktur der kritischen Theorie nicht unberührt. Dem Schein freilich, als ob Eigentum und Profit jetzt nicht mehr ihre entscheidende Rolle spielten, dieser in den Sozialwissenschaften sorglich geförderten Illusion, fällt sie nicht

anheim. Einerseits hat sie die juristischen Beziehungen auch früher nicht als Wesen, sondern als Oberfläche des gesellschaftlichen Sachverhalts angesehen und weiß, daß die Verfügung über Menschen und Dinge bei einer besonderen Gruppe der Gesellschaft bleibt, die zwar weniger im Inland, desto erbitterter aber im Weltmaßstab mit anderen ökonomischen Machtgruppen konkurriert. Der Gewinn stammt aus denselben sozialen Quellen, muß letzten Endes durch dieselben Methoden gesteigert werden wie seither. Andererseits scheint der Theorie mit der Beseitigung jedes inhaltlich bestimmten Rechts, die durch die ökonomische Machtkonzentration bedingt ist und in den Verhältnissen der autoritären Staaten vollendet wird, mit einer Ideologie zugleich ein Kulturfaktor zu verschwinden, der keineswegs nur eine negative, sondern auch eine positive Seite hat. Indem sie diese Veränderungen der inneren Struktur der Unternehmerklasse berücksichtigt, werden auch andere ihrer Begriffe differenziert. Die Abhängigkeit der Kultur von den sozialen Verhältnissen muß sich mit diesen selbst bis in die Einzelheiten wandeln, wenn anders die Gesellschaft ein Ganzes ist. Auch in der liberalistischen Periode konnten politische und moralische Auffassungen der Individuen aus ihrer ökonomischen Situation abgeleitet werden. Die Schätzung eines lauteren Charakters, das Stehen zum gegebenen Wort, die Selbständigkeit des Urteils und so fort ergeben sich aus einer Gesellschaft relativ unabhängiger Wirtschaftssubjekte, die durch Kontrakte miteinander in Verbindung treten. Aber diese [211] Abhängigkeit war psychologisch weitgehend vermittelt, und die Moral selbst gewann

infolge ihrer Funktion im Individuum eine Art von Festigkeit. (Die Wahrheit, daß die Abhängigkeit von der Ökonomie auch diese Moral durchherrschte, trat freilich hervor, als mit der Gefährdung der ökonomischen Positionen des liberalistischen Bürgertums, die in der jüngsten Gegenwart eintrat, auch die freiheitliche Gesinnung dahinschmolz.) Unter den monopolkapitalistischen Verhältnissen ist es jedoch auch mit solcher relativen Selbständigkeit des Individuums zu Ende. Es hat keinen eigenen Gedanken mehr. Der Inhalt des Massenglaubens, an den niemand recht glaubt, ist ein unmittelbares Produkt der herrschenden Bürokratien in Wirtschaft und Staat, und seine Anhänger folgen insgeheim nur ihren atomisierten und daher unwahren Interessen; sie handeln als reine Funktionen des ökonomischen Mechanismus. Der Begriff der Abhängigkeit des Kulturellen vom Ökonomischen hat sich daher verändert. Er ist mit der Vernichtung des typischen Individuums gleichsam vulgärmaterialistischer zu verstehen als früher. Die Erklärungen sozialer Phänomene werden einfacher und zugleich komplizierter. Einfacher, weil das Ökonomische unmittelbarer und bewußter die Menschen bestimmt und die relative Widerstandskraft und Substantialität der Kultursphären im Schwinden begriffen ist, komplizierter, weil die entfesselte ökonomische Dynamik, zu deren bloßen Medien die meisten Individuen erniedrigt sind, in raschem Tempo immer neue Gestalten und Verhängnisse zeitigt. Selbst fortgeschrittene Teile der Gesellschaft werden entmutigt, von der allgemeinen Ratlosigkeit ergriffen. Auch die Wahrheit ist in ihrem Bestand an Konstellationen der Realität geknüpft. Im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts hatte sie ein wirtschaftlich bereits

entwickeltes Bürgertum hinter sich. Unter den Verhältnissen des Spätkapitalismus und der Ohnmacht der Arbeiter gegenüber den Unterdrückungsapparaten der autoritären Staaten ist die Wahrheit zu bewunderungswürdigen kleinen Gruppen geflüchtet, die, unter dem Terror dezimiert, wenig Zeit haben, die Theorie zu schärfen. Die Scharlatane profitieren davon, und der allgemeine intellektuelle Zustand der großen Massen geht rapide zurück. [212]

Das Gesagte sollte verdeutlichen, daß die beständige

Umwälzung der sozialen Verhältnisse, die sich unmittelbar aus ökonomischen Entwicklungen ergibt und im Aufbau der herrschenden Schicht ihren nächsten Ausdruck findet, nicht bloß einzelne Zweige der Kultur, sondern auch den Sinn ihrer Abhängigkeit von der Ökonomie und damit die entscheidenden Begriffe der ganzen Konzeption betrifft. Dieser Einfluß der gesellschaftlichen Entwicklung auf die Struktur der Theorie gehört zu ihrem eigenen Lehrbestand. Die neuen Inhalte kommen daher nicht mechanisch zu schon gegebenen Teilen hinzu. Da die Theorie ein einheitliches Ganzes bildet, das nur in der Bezogenheit auf die gegenwärtige Situation seine eigentümliche Bedeutung hat, befindet sie sich in einer Evolution, die freilich ebensowenig ihre Grundlagen aufhebt, wie das Wesen des von ihr reflektierten Gegenstands, der gegenwärtigen Gesellschaft, etwa durch ihre neuesten Umbildungen ein anderes wird. Selbst die scheinbar entferntesten Begriffe sind jedoch in den Prozeß mit einbezogen. Die logischen Schwierigkeiten, die der Verstand in jedem Gedanken entdeckt, der ein lebendiges Ganzes spiegelt, gründen vornehmlich in dieser Eigenheit. Nimmt

man einzelne Begriffe und Urteile aus der Theorie heraus und vergleicht sie mit den aus einer früheren Auffassung isolierten Begriffen und Urteilen, so entstehen Widersprüche. Das gilt sowohl für die historischen Entwicklungsstufen der Theorie als ganzer zueinander wie auch für die logischen Stufen innerhalb ihrer selbst. Im Begriff der Unternehmung und des Unternehmers besteht bei aller Identität doch ein Unterschied, je nachdem, ob er aus der Darstellung der ersten Form bürgerlicher Wirtschaft oder der Lehre vom entfalteten Kapitalismus genommen ist und je nachdem, ob er der Kritik der politischen Ökonomie im neunzehnten Jahrhundert, die den liberalistischen Fabrikanten, oder derjenigen im zwanzigsten entstammt, die den Monopolisten vor sich hat. Die Vorstellung des Unternehmers macht wie er selbst eine Entwicklung durch. Die Widersprüche der für sich genommenen Teile der Theorie gehen also nicht etwa aus Irrtümern oder vernachlässigten Definitionen hervor, sondern daraus, daß die Theorie einen sich historisch verändernden Gegenstand hat, der bei aller Zerrissenheit doch einer ist. Sie speichert keine Hypothesen auf über den Gang einzelner Vorkommnisse in der Gesellschaft, sondern konstruiert das sich entfaltende Bild des Ganzen, das in die [213] Geschichte einbezogene Existenzialurteil. Was der Unternehmer, ja, der bürgerliche Mensch überhaupt gewesen ist, daß etwa in seinem Charakter mit dem rationalistischen ebensosehr der in den Massenbewegungen der Mittelklassen gegenwärtig dominierende irrationalistische Zug enthalten ist, geht auf die ursprüngliche ökonomische Situation des Bürgertums zurück und ist in den Grundbegriffen der Theorie

angelegt. Aber dieser Ursprung selbst enthüllt sich in dieser differenzierten Form erst in den Kämpfen der Gegenwart, und zwar nicht nur, weil in ihr das Bürgertum Veränderungen durchmacht, sondern weil im Zusammenhang damit Interesse und Aufmerksamkeit des theoretischen Subjekts andere Akzentuierungen bedingen. – Es mag nun einem systematischen Interesse entsprechen und auch nicht ganz ohne Nutzen sein, die verschiedenen Arten der Abhängigkeit, der Ware, der Klasse, des Unternehmers und so fort, wie sie in den logischen und historischen Phasen der Theorie vorkommen, zu klassifizieren und nebeneinanderzustellen. Da der Sinn in letzter Linie jedoch nur im Zusammenhang mit der gesamten gedanklichen Konstruktion klar wird, die sich immer neuen Situationen anzupassen hat, so pflegen solche Systeme von Arten und Unterarten, Definitionen und Spezifikationen von Begriffen, die aus der kritischen Theorie herausgenommen sind, nicht einmal den Wert der Begriffsinventare anderer Fachwissenschaften zu besitzen, die wenigstens in der relativ gleichförmigen Praxis des täglichen Lebens verwendet werden. Die kritische Theorie der Gesellschaft in Soziologie zu verwandeln, ist überhaupt ein problematisches Unternehmen. Die hier angedeutete Frage nach dem Verhältnis von Denken und Zeit ist freilich mit einer besonderen Schwierigkeit verknüpft. Es ist nämlich unmöglich, im eigentlichen Sinn von Wandlungen einer richtigen Theorie zu sprechen. Das Aussprechen solcher Wandlungen setzt vielmehr schon eine Theorie voraus, die mit dem gleichen Problem behaftet ist. Niemand kann sich zu einem anderen Subjekt machen als zu dem des geschichtlichen Augenblicks. Das

Reden über Konstanz oder Wandelbarkeit der Wahrheit ist streng genommen nur in polemischem Verstand sinnvoll. Es richtet sich gegen die Annahme eines absoluten, übergeschichtlichen Subjekts oder gegen die Auswechselbarkeit der Subjekte, als ob man sich aus dem gegenwärtigen historischen Augenblick hinaus und ganz im Ernst in jeden [214] beliebigen hineinversetzen könnte. Inwiefern es möglich und inwiefern es unmöglich ist, soll hier nicht verfolgt werden. Jedenfalls ist mit der kritischen Theorie der idealistische Glaube nicht vereinbar, daß sie selbst etwas die Menschen Übergreifendes darstelle und etwa gar ein Wachstum habe. Die Dokumente haben eine Geschichte, aber nicht die Theorie ein Schicksal. Die Aussage, daß bestimmte Momente zu ihr hinzugetreten seien, daß sie sich in Zukunft neuen Situationen anzupassen habe, ohne daß ihr wesentlicher Lehrgehalt verändert würde, all dies gehört mit zur Theorie, wie sie heute existiert und die Praxis zu bestimmen sucht. Die Menschen, die sie im Kopfe haben, haben sie als Ganzes im Kopf und handeln diesem Ganzen gemäß. Die stetige Zunahme einer den Subjekten gegenüber selbständigen Wahrheit, das Vertrauen in den Fortschritt der Wissenschaften kann sich in seiner beschränkten Gültigkeit nur auf jene Funktion des Wissens beziehen, die auch in einer künftigen Gesellschaft notwendig bleibt, die Beherrschung der Natur. Auch dieses Wissen gehört freilich zur vorhandenen gesellschaftlichen Totalität. Die Voraussetzung für Aussagen über seine Dauer oder Veränderung, nämlich der Fortgang der wirtschaftlichen Produktion und Reproduktion in bekannten Formen, ist hier jedoch tatsächlich in

gewissem Sinn mit der Auswechselbarkeit der Subjekte gleichbedeutend. Daß die Gesellschaft in Klassen gespalten ist, vereitelt hier nicht die Identifikation der menschlichen Subjekte. Das Wissen ist hier selbst ein Ding, das eine Generation der anderen weitergibt; sofern sie leben müssen, bedürfen sie seiner. Auch in dieser Hinsicht kann der traditionelle Wissenschaftler beruhigt sein. Die Konstruktion der Gesellschaft unter dem Bilde einer radikalen Umwandlung, das die Probe seiner realen Möglichkeit noch gar nicht bestanden hat, ermangelt hingegen des Vorzugs, vielen Subjekten gemeinsam zu sein. Das Streben nach einem Zustand ohne Ausbeutung und Unterdrückung, in dem tatsächlich ein umgreifendes Subjekt, das heißt die selbstbewußte Menschheit existiert und in dem von einheitlicher Theorienbildung, von einem die Individuen übergreifenden Denken gesprochen werden kann, ist noch nicht seine Verwirklichung. Die möglichst strenge Weitergabe der kritischen Theorie ist freilich eine Bedingung ihres geschichtlichen Erfolgs; aber sie vollzieht sich nicht auf dem festen Grund einer [215] eingeschliffenen Praxis und fixierter Verhaltensweisen, sondern vermittels des Interesses an der Umwandlung, das sich zwar mit der herrschenden Ungerechtigkeit notwendig reproduziert, aber durch die Theorie selbst geformt und gelenkt werden soll und gleichzeitig wieder auf sie zurückwirkt. Der Kreis der Träger dieser Tradition wird nicht durch organische oder soziologische Gesetzmäßigkeiten umgrenzt und erneuert. Er ist weder durch biologische noch durch testamentarische Vererbung konstituiert und zusammengehalten, sondern durch die

verbindende Erkenntnis, und diese garantiert nur ihre gegenwärtige, nicht ihre zukünftige Gemeinschaft. Mit dem Siegel aller logischen Kriterien versehen, entbehrt sie bis ans Ende der Epoche doch der Bestätigung durch den Sieg. Bis dahin währt auch der Kampf um ihre richtige Fassung und Anwendung. Die Version etwa, die den Apparat der Propaganda und die Mehrheit für sich hat, ist nicht schon deshalb auch die bessere. Vor dem allgemeinen historischen Umschlag kann die Wahrheit bei zahlenmäßig geringen Einheiten sein. Die Geschichte lehrt, daß solche selbst von den oppositionellen Teilen der Gesellschaft kaum beachtete, verfemte, aber unbeirrbare Gruppen auf Grund ihrer tieferen Einsicht im entscheidenden Augenblick zur Spitze werden können. Heute, da die ganze Macht des Bestehenden zur Preisgabe aller Kultur und zur finstersten Barbarei hindrängt, ist der Kreis wirklicher Solidarität ohnehin eng genug bemessen. Die Gegner freilich, die Herren dieser Periode des Niedergangs, haben selbst weder Treue noch Solidarität. Solche Begriffe bilden Momente der richtigen Theorie und Praxis. Von ihr losgelöst, verändern sie ihre Bedeutung wie alle Teile eines lebendigen Zusammenhangs. Daß etwa innerhalb einer Räuberbande positive Züge einer menschlichen Gemeinschaft sich entwickeln können, ist wahr, aber diese Möglichkeit zeigt stets einen Mangel der größeren Gesellschaft an, innerhalb deren die Bande existiert. In einer ungerechten Gesellschaft müssen die Kriminellen nicht notwendig auch menschlich minderwertig sein, in einer völlig gerechten wären sie zugleich unmenschlich. Den richtigen Sinn gewinnen Einzelurteile über Menschliches erst im Zusammenhang.

Allgemeine Kriterien für die kritische Theorie als Ganzes gibt es nicht; denn sie beruhen immer auf der Wiederholung von Ereignissen und somit auf einer sich selbst reproduzierenden Totalität. Ebensowenig existiert eine gesellschaftliche Klasse, an deren Zu-[216]stimmung man sich halten könnte. Das Bewußtsein jeder Schicht vermag unter den gegenwärtigen Verhältnissen ideologisch beengt und korrumpiert zu werden, wie sehr sie ihrer Lage nach auch zur Wahrheit bestimmt sei. Die kritische Theorie hat bei aller Einsichtigkeit der einzelnen Schritte und der Übereinstimmung ihrer Elemente mit den fortgeschrittensten traditionellen Theorien keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts. Diese negative Formulierung ist, auf einen abstrakten Ausdruck gebracht, der materialistische Inhalt des idealistischen Begriffs der Vernunft. In einer geschichtlichen Periode wie dieser ist die wahre Theorie nicht so sehr affirmativ als kritisch, wie auch das ihr gemäße Handeln nicht »produktiv« sein kann. An der Existenz des kritischen Verhaltens, das freilich Elemente der traditionellen Theorien und dieser vergehenden Kultur überhaupt in sich birgt, hängt heute die Zukunft der Humanität. Eine Wissenschaft, die in eingebildeter Selbständigkeit die Gestaltung der Praxis, der sie dient und angehört, bloß als ihr Jenseits betrachtet und sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet, hat auf die Humanität schon verzichtet. Selbst zu bestimmen, was sie leisten, wozu sie dienen soll, und zwar nicht nur in einzelnen Stücken, sondern in ihrer Totalität, ist das auszeichnende Merkmal

der denkerischen Tätigkeit. Ihre eigene Beschaffenheit verweist sie daher auf geschichtliche Veränderung, die Herstellung eines gerechten Zustands unter den Menschen. Unter dem lauten Ruf von »sozialem Geist« und »Volksgemeinschaft« vertieft sich heute der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft mit jedem Tag. Die Selbstbestimmung der Wissenschaft wird immer abstrakter. Der Konformismus des Denkens, das Beharren darauf, es sei ein fester Beruf, ein in sich abgeschlossenes Reich innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen, gibt das eigene Wesen des Denkens preis.

Zu dieser Ausgabe Der Abdruck des Textes folgt der Edition: Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie (1937). In: M. H.: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Schriften 1936–1941. Hrsg. von Alfred Schmidt. Frankfurt a. M.: S. Fischer 22009. S. 162–216. Die Originalpaginierung dieser Ausgabe wird in eckigen Klammern wiedergegeben. Typographische Besonderheiten, wie etwa zur Hervorhebung kursiv gesetzter Textteile, wurden beibehalten. Die Rechtschreibung und Zeichensetzung folgt der Vorlage buchstabenund zeichengenau. Die in Band 19 der Gesammelten Schriften angegebenen Berichtigungen wurden übernommen. Ausgelassen wurden allerdings die von Alfred Schmidt verzeichneten Abweichungen zwischen der Erstveröffentlichung von Horkheimers Aufsatz in der Zeitschrift für Sozialforschung VI (1937) Nr. 2, und der von Horkheimer nach langem Zögern zusammengestellten Neuausgabe in Kritische Theorie: Eine Dokumentation (Frankfurt a. M. 1968). Einerseits kennzeichnet Schmidt nur einige, aber nicht alle Änderungen (worauf er selbst im seinem Nachwort hinweist), andererseits ist es für heutige Leser*innen einfach, den Vergleich selbst vorzunehmen, da die Zeitschrift für Sozialforschung insgesamt als Reprint und als Digitalisat (https://de.wikisource.org/wiki/Zeitschrift_für_Sozialforschung)

vorliegt. Beibehalten wurden Schmidts Anmerkungen zur zitierten Literatur (in eckigen Klammern).

Anmerkungen Poincaré: Henri Poincaré (1854–1912) war Mathematiker und theoretischer Physiker. In der Wissenschaftstheorie begründete er den Konventionalismus, dem zufolge die fundamentalen Prinzipien der Wissenschaft nicht empirisch belegt werden können, sondern Festlegungen der Gemeinschaft der relevanten Wissenschaftler*innen sind. Insofern bleiben wissenschaftliche Theorien hypothetisch. Vgl. auch Horkheimer 2009a [1937], S. 120. deduzierten Sätzen: logisch abgeleiteten Sätzen. Descartes: René Descartes (1596–1650) gilt als Begründer der neuzeitlichen Philosophie. In seinem Discours de la méthode (Bericht über die Methode) stellt Descartes vier Regeln für das wissenschaftliche Denken vor: »Die erste Vorschrift besagte, niemals irgendeine Sache als wahr zu akzeptieren, die ich nicht evidentermaßen als solche erkenne; dies bedeutet, sorgfältig Übereilung und Voreingenommenheit zu vermeiden und in meinen Urteilen nicht mehr zu umfassen als das, was sich so klar und so deutlich meinem Geist vorstellt, dass ich keine Möglichkeit hätte, daran zu zweifeln. Die zweite besagte, jede der Schwierigkeiten, die ich untersuchen würde, in so viele Teile zu zerlegen, wie es möglich und wie es erforderlich ist, um sie leichter zu lösen. Die dritte besagte, meine Gedanken mit Ordnung zu führen, indem ich mit den am einfachsten und am

leichtesten zu erkennenden Dingen beginne, um nach und nach, gleichsam stufenweise, bis zu der Erkenntnis der am meisten zusammengesetzten aufzusteigen, und indem ich selbst dort Ordnung unterstelle, wo nicht natürlicherweise das eine dem anderen vorausgeht. Und die letzte besagte, überall so vollständige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten herzustellen, dass ich versichert wäre, nichts wegzulassen.« (Descartes 2019 [1637], S. 39, 41.) Mill: John Stuart Mill (1806–1873) ist heute vor allem für seine politische Philosophie und seine Moralphilosophie bekannt, wurde aber 1843 zunächst mit seiner Schrift A System of Logic, Ratiocinative and Inductive (System der deduktiven und induktiven Logik) berühmt. Induktive Schlüsse gehen nach Mill vom Besonderen (z. B. einer oder mehrerer Beobachtungen) auf das Allgemeine (etwa eine generelle Regel). Mill bestimmt vier Methoden, um solche induktiven Schlüsse richtig zu ziehen: 1. die Methode der Übereinstimmung, 2. die Methode der Unterschiede, 3. die vereinigte Methode der Übereinstimmung und des Unterschieds sowie 4. die Methode der begleitenden Veränderung. Zur Bedeutung für die Wissenschaftstheorie vgl. Carrier 2006, S. 27–35. Husserls Logischen Untersuchungen: Edmund Husserl (1859–1938) konzipiert in seinen Logischen Untersuchungen (der erste Teil erschien 1900, der zweite 1901) Logik als formale Wissenschaft, die entschieden mit dem Psychologismus bricht, der Logik (auch) als die Gesetze der realen, psychologischen Denkvorgänge versteht.

Enqueten: Untersuchungen. Spencer: Herbert Spencer (1820–1903), englischer Philosoph und Soziologe, den Horkheimer dem Positivismus (s. 16,8) zuordnet. Vgl. Horkheimer 2009a [1937], S. 114. Unterscheidungen … Weber: Alle drei von Horkheimer referierten Begriffspaare betreffen den Charakter des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Ferdinand Tönnies (1855–1936) unterscheidet in Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) die durch geteilte »Gesinnung« und enge Vertrautheit ausgezeichnete Gemeinschaft von der Gesellschaft, in der die Individuen meist nur formal aufeinander bezogen sind, z. B. durch Verträge. Ähnlich gelagert, wenn auch komplexer, ist Émile Durkheims (1858–1917) Differenzierung zwischen verschiedenen Gesellschaftstypen nach mechanischer und organischer Solidarität in Über soziale Arbeitsteilung (1893). In funktional differenzierten Gesellschaften herrscht demnach überwiegend organische Solidarität; in »segmentären« Gesellschaften ohne komplexe soziale Arbeitsteilung überwiegt mechanische Solidarität. Alfred Weber (1868–1958, Bruder von Max Weber) unterscheidet in Kulturgeschichte als Kultursoziologie (1935) den Gesellschaftsprozess, in dem es um die Herstellung staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung geht, vom Zivilisationsprozess, der vor allem den wissenschaftlichen und ökonomischen Fortschritt betrifft, und von der Kultur, in der die menschliche Kreativität in Kunst und Religion verwirklicht wird. abgeschlossene Induktionen: Horkheimer meint den erfolgreichen Schluss von einzelnen Beobachtungen auf das ihnen zugrunde

liegende Prinzip (s. 7,16). In der Kontroverse … Meyer … Weber: Max Weber (1864–1920), einer der Begründer der Soziologie in Deutschland, setzte sich intensiv mit der Forschung des Althistorikers Eduard Meyer (1855–1930) auseinander. Die von Horkheimer angesprochene Kontroverse betrifft die unterschiedliche Logik historischer Erklärungen; Weber (1982 [1922]) kritisiert vor allem Meyers Zur Theorie und Methodik der Geschichte (1902). v. Kries … Merkel, Liefmann und Radbruch: Horkheimer bezieht sich auf Webers (1982 [1922], bes. S. 269) Überlegungen zum Begriff der »objektiven Möglichkeiten« des Physiologen Johannes Adolf von Kries (1853–1928) und seinen Gebrauch durch die Juristen Adolf Merkel (1836–1896) und Gustav Radbruch (1878–1949) sowie den Ökonomen Robert Liefmann (1874–1941). außerszientivischen: außerhalb der Wissenschaft liegenden. innerszientivischer: innerhalb der Wissenschaft liegender. Positivisten: Der Positivismus ist eine Position in der Wissenschaftstheorie, die fordert, alles Wissen auf »positiv gegebene«, d. h. sinnlich wahrnehmbare Tatsachen zurückzuführen. Ursprünglich vertreten von Auguste Comte (1798–1857) und Herbert Spencer (s. 9,3), meint Horkheimer mit Positivisten insbesondere die Philosophen des Wiener Kreises wie Rudolf Carnap (1891–1970) oder Otto Neurath (1882–1945), zählt aber auch Bertrand Russell (1872–1970) oder Ludwig Wittgenstein (1889–1951) dazu. Die ausführlichste Auseinandersetzung findet sich in Horkheimer 2009a [1937]. Zur Gegnerschaft der Frankfurter Tradition der kritischen Theorie gegenüber dem

Positivismus und zum teilweise überdehnten Gebrauch dieser Bezeichnung vgl. Dahms 1998 [1994] und Wellmer 1969. Pragmatisten: Der Pragmatismus ist eine amerikanische Strömung der Philosophie, die die praktische Relevanz theoretischer Begriffe und Unterscheidungen betont. Die drei bekanntesten Pragmatisten sind Charles Sanders Peirce (1839–1914), William James (1842–1910) und John Dewey (1859–1952). Horkheimer setzt sich wiederholt mit ihnen auseinander, besonders in Horkheimer 1988 [1947], S. 60–72 und S. 88–102. Heute wird das Verhältnis von Frankfurter kritischer Theorie und Pragmatismus meist positiver gedeutet; vgl. dazu Särkelä 2021. suprasoziales: über dem Sozialen sich befindendes. Neukantianismus Marburger Prägung: Die Marburger Schule wurde vom Philosophen Hermann Cohen (1842–1918) begründet und vertrat eine auf Logik und die transzendentale Methode (d. h. die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit) zentrierte Auslegung der Philosophie von Immanuel Kant (1724–1804). Prominente Mitglieder waren Paul Natorp (1854–1924) und, jedenfalls bis etwa 1920, Ernst Cassirer (1874–1945). Vgl. dazu Friedman 2004 [2000], S. 37–49. Infinitesimalrechnung: die Differential- und Integralrechnung mit unendlich kleinen (infinitesimalen) bzw. unendlich großen (infiniten) Zahlen. Hypostasierung des Logos: Horkheimer wirft der Marburger Schule (s. 18,22) vor, die Vernunft (Logos) zugleich zu verdinglichen (hypostasieren) und als verwirklicht anzunehmen, obwohl die Gesellschaft alles andere als vernünftig ist. Bestenfalls sei dies

also eine Vorwegnahme, wie die Gesellschaft einzurichten wäre. Das jedoch kann für Horkheimer nicht von der Naturwissenschaft bestimmt werden, die für die Marburger Schule das Modell der Vernunft darstellt. Resultante: Ergebnis. Monaden … kein metaphysischer Zufall: In Gottfried Wilhelm Leibniz’ (1646–1716) Monadologie stellen Monaden die kleinsten (immateriellen) Einheiten der Welt dar. Sie sind in sich abgeschlossen und können nicht miteinander kommunizieren; die Ordnung der Welt muss daher auf eine durch ihre Einrichtung schon garantierte Harmonie zwischen den Monaden zurückgeführt werden (prästabilierte Harmonie). Kants Philosophie: Horkheimer interpretiert hier Kants Transzendentalphilosophie einerseits als einen Schritt in die richtige Richtung, weil Kant argumentiert, dass Erkennen nicht als rein passiver Vorgang zu verstehen ist. Vielmehr ist das Subjekt selbst aktiv an der Konstitution des Erkenntnisobjekts beteiligt. Andererseits verspiele Kant diese Einsicht, weil er diese Aktivität als Leistung eines transzendentalen Subjekts (s. 25,5) deutet, statt zu bemerken, dass sie in der sozialen Praxis wurzelt. prästabilierten Harmonie: s. 24,15 f. transzendentalen Subjekt: Kant bezeichnet als transzendentales Subjekt das »Ich« jener Tätigkeit der Vernunft, die jeder Erfahrung vorausgesetzt werden muss. Vgl. Kant 1966 [1781], B 132, S. 175 f.: »Das: I ch d en k e, muß alle meine Vorstellungen begleiten k ö n nen; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte […]. Diejenige Vorstellung, die

vor allem Denken gegeben sein kann, heißt A nsch au u ng. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: I ch d enk e, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird. Diese Vorstellung aber ist ein Actus der S p ontaneität, d. i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die rein e A p perzeption, um sie von der emp irischen zu unterscheiden, oder auch die u rsprü n g liche A pper zeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung I ch d en k e hervorbringt, die alle andere muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann.« Wo Hegel … erblickt: Horkheimer schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) die Einsicht zu, jene Leistung, die Kant (s. 24,25 und 25,5) dem transzendentalen Subjekt zurechnet, nicht mehr individualistisch zu deuten, sondern als überindividuelle, sich historisch entfaltende Vernunft (der sogenannte Weltgeist). Apperzeption: s. 25,5. Apriori: vor jeder Erfahrung, von jeder Erfahrung unabhängig. affirmativ: bestätigend, bejahend. Genesis: hier: die Entstehung. spiritualistischen: Horkheimer gebraucht den Begriff abwertend dafür, dass dem Denken eine eigenständige, von den konkreten sozialen Praktiken losgelöste geistige Existenz zugesprochen wird. Daß es … Engels: Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820– 1895) zufolge überwindet das Bürgertum (die Bourgeoisie) die

Feudalherrschaft, erzeugt jedoch zugleich die Arbeiterklasse (das Proletariat), die es selbst stürzen wird. Vgl. z. B. Marx/Engels 2014 [1848], S. 45: »Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier.« besorgt auch: gemeint ist: ›und besorgt auch nicht‹, parallel zur vorangehenden Wendung. psychologischen: hier und im Folgenden wohl als ›psychischen‹ zu lesen. Nihilismus: Horkheimer meint hier die Haltung, alle Werte als gleichermaßen ungültig zu verwerfen. Apologeten: Verteidigern. verfemen: ächten, verdammen. Assoziation freier Menschen … entfalten: Anspielung auf Marx’ und Engels’ Vorstellung vom Kommunismus, z. B. in Marx/Engels 2014 [1848], S. 66: »An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« Marx und Mises … Jevons: Horkheimer kritisiert mit dieser Aufzählung, in der kritische (marxistische) Theoretiker – Karl Marx, Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) und Jean Jaurès (1859– 1914) – mit traditionellen (bürgerlichen) Theoretikern – Ludwig von Mises (1881–1973), Robert Liefmann (s. 12,13 f.) und William Stanley Jevons (1835–1882) – vermischt sind, dass Karl

Mannheims (1893–1947) Wissenssoziologie über diese entscheidende Differenz einfach hinweggeht. daß sich unter bestimmten historischen Umständen … entwickeln muß: Hier ist die Berichtigung eingearbeitet, die Horkheimer auf Anregung von Karl August Wittvogel (Brief im November 1937, vgl. Horkheimer 1995b, S. 284 f.) aufnahm. Sie wird in der Zeitschrift für Sozialforschung VI, H. 3, S. 732, und in den Errata der Gesamtausgabe (Horkheimer 1996, S. 180) verzeichnet. Existenzialurteile: Urteile, die die Existenz von etwas behaupten. Horkheimer kontrastiert sie einerseits mit hypothetischen (»Es könnte sein, dass …«) und disjunktiven Urteilen (»Es ist … oder …«), die ohne Existenzbehauptung auskommen, andererseits mit Modalurteilen (z. B. dem kategorischen Urteil »Es muss so sein, dass …«), die etwas über die Möglichkeit oder Notwendigkeit eines Sachverhalts aussagen. der Theorie transzendent: gehört nicht zur Theorie dazu. Quietismus oder Konformismus: Mit Quietismus meint Horkheimer hier ein schweigendes Hinnehmen, mit Konformismus die Akzeptanz des Gegebenen. cartesianischen Dualismus von Denken und Sein: Descartes (s. 6,19) teilt die Welt ein in res cogitans (›denkende Dinge‹, d. h. alles Geistige) und res extensa (›ausgedehnte Dinge‹, d. h. alle materiellen Körper). Problematisch wird damit die Verbindung beider Bereiche: Wie kann ein Gedanke die materielle Welt beeinflussen? Wie kann etwa die Absicht zu einer Handlung diese Handlung auch bewirken?

Das Subjekt … die Wissenschaft: Damit kritisiert Horkheimer nochmals die Wissenschaftssoziologie von Mannheim 1995 [1929]. gehen zu lassen: Horkheimer spielt auf das Laissez-faire als Motto des Liberalismus an. theoretischen Existenzialurteils: Gemeint ist die kritische Theorie, deren Urteilsform Horkheimer als »ein einziges entfaltetes Existenzialurteil« (S. 57/[201]) bestimmt hatte. Zu den Schwierigkeiten, die das verursacht, siehe im Nachwort Abschn. 4.5 und 7. von industriellen und politischen Führercliquen beherrschte Gesellschaft: Horkheimer stützt sich in diesen Ausführungen auf die Theorie des Monopolkapitalismus, die Friedrich Pollock (1894–1970) zur Staatskapitalismusthese zuspitzte (vgl. Pollock 1941). Demnach überlagert – z. B. im Nationalsozialismus – der Staat die ökonomische Ordnung des Marktes vollständig mit seiner politischen Logik. Zu der heftigen Kontroverse um dieses Thema innerhalb der Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung siehe Brunkhorst 1983.

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Kritische Theorie: Die Idee einer emanzipatorischen Wissenschaft Gründungsdokumente wissenschaftlicher Traditionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einerseits Raum für weit über sie hinausgehende Debatten schaffen und andererseits Referenzpunkte bleiben, auf welche die beteiligten Wissenschaftler*innen immer wieder zurückkommen. 21 Ein solches Gründungsdokument ist Max Horkheimers Essay »Traditionelle und kritische Theorie«, der 1937 in der am Frankfurter Institut für Sozialforschung herausgegebenen Zeitschrift für Sozialforschung erschien. Zwar hatte Horkheimer bereits in den Jahren zuvor eine Reihe programmatischer Aufsätze und Vorträge zu Ziel und Vorgehensweise der Forschung am Institut verfasst, 22 doch der im New Yorker Exil geschriebene Aufsatz stellt »die umfassendste und umsichtigste Darlegung der theoretischen Zielsetzungen dar, die ursprünglich einmal mit der Idee einer kritischen Theorie verbunden waren«, so Axel Honneth. 23 Kein Wunder, dass er wie kein Zweiter zum Bezugspunkt jener Tradition geworden ist, die eben wegen Horkheimers Aufsatz »kritische Theorie« genannt wird. 24 Das bedeutet nicht, dass Horkheimers Text einfach zu verstehen ist oder eine eindeutige Definition »kritischer Theorie« liefert. Dafür sind seine 50 langen Absätze zu reichhaltig und seine Formulierungen zu gedrängt. Vor allem aber ist seine

Argumentationsstruktur zu verborgen. Nicht ohne Grund schrieb Friedrich Pollock (1894–1970), Horkheimers engster Freund seit Schulzeiten, Mitbegründer des Instituts und dessen administrativer Leiter, kurz nach Erscheinen des Aufsatzes am 16. August 1937 an Horkheimer: Ich habe jetzt endlich den »Theorie«-Aufsatz zu Ende lesen können (zum zweiten mal). Eigentlich sollte ich ihn auswendig lernen. Er ist der Inhalt eines dicken Buches und die XVII Abschnitte, in die ich ihn (ziemlich willkürlich, weil er doch einen Gedankenzug darstellt) aufgeteilt habe, um ihn bewältigen zu können, bilden jeder reichlich Stoff für ein Kapitel so lang wie der Aufsatz. 25 Das dicke Buch hat Horkheimer nie geschrieben. An Stelle dessen wurde sein Aufsatz rasch zur zentralen Referenz für jene heterogene Gruppe, die wir heute als »Frankfurter Schule« bezeichnen und mit der wir die »kritische Theorie« verbinden. 26 Die folgenden acht Abschnitte sollen das Verständnis des Texts erleichtern. Dazu stellen sie zunächst Max Horkheimer und sein Arbeitsumfeld im Institut für Sozialforschung vor (1). Da er »kritische Theorie« im Kontrast zur ebenfalls schon im Titel genannten »traditionellen Theorie« bestimmt, müssen wir anschließend nachvollziehen, was er darunter versteht (2). Horkheimer verwirft die »traditionelle Theorie« aus epistemischen und politischen Gründen (3) und setzt ihr die »kritische Theorie« Punkt für Punkt entgegen (4). Diese Konzeption ist äußerst

umstritten: sie hat be- und entgeisterte Reaktionen hervorgerufen (5), kritische Fortsetzungen gefunden (6) und strikte Ablehnung provoziert (7). Die folgenden Erläuterungen gehen in erster Linie vom argumentativen Gehalt des Essays selbst aus, anstatt seine theoriegeschichtlichen Bezüge oder die Entwicklung von Horkheimers Denken ins Zentrum zu stellen. Erst die genaue Rekonstruktion von Horkheimers Argumenten zeigt, warum sein Aufsatz nach wie vor zu den zentralen Texten der Frankfurter kritischen Theorie gehört, unbedingt lesenswert ist – und das Überschreiten der darin niedergelegten Konzeption erzwingt (8).

1 Max Horkheimer, das Institut für Sozialforschung und seine Zeitschrift Obwohl im Folgenden die Argumente des Aufsatzes im Zentrum stehen sollen, ist es hilfreich, ein paar grundlegende Eckdaten zu seinem Verfasser, dem von ihm geleiteten Institut und der Zeitschrift für Sozialforschung zu erwähnen. 27 Horkheimer wurde am 14. Februar 1895 in Zuffenhausen (gehört seit 1931 zu Stuttgart) geboren, wo sein Vater mit einer Kunstbaumwollfabrik reich geworden war. Ursprünglich als Nachfolger im Unternehmen vorgesehen, in dem er während des Ersten Weltkriegs als Geschäftsleiter arbeitete, holte Horkheimer 1919 gemeinsam mit Pollock das Abitur in München nach. Beide promovierten und habilitierten anschließend an der Universität Frankfurt (Horkheimer in Philosophie, Pollock in Ökonomie). Beide waren als Mitglieder der Gesellschaft für Sozialforschung auch an der Gründung des Instituts für Sozialforschung 1923 beteiligt, zusammen mit Felix Weil (1898–1975) und Kurt Albert Gerlach (1886–1922). Erster Direktor des Instituts wurde der marxistische Ökonom Carl Grünberg (1861–1940), der überwiegend empirische Soziologie aus materialistischer Perspektive betrieb. Da Grünberg nach einem Schlaganfall 1928 seine Arbeit aufgeben musste, übernahm Horkheimer nach kurzer Übergangszeit unter Pollock 1930 das Direktorium; zugleich wurde er auf den (extra für ihn geschaffenen) Lehrstuhl für Sozialphilosophie an der Universität

Frankfurt berufen. Er verlegte den Forschungsschwerpunkt des Instituts auf die »fortwährende dialektische Durchdringung und Entwicklung von philosophischer Theorie und einzelwissenschaftlicher Praxis« 28 , um eine umfassende Gesellschaftstheorie zu erarbeiten – eine erhebliche Ausweitung des inhaltlichen Spektrums in philosophisch-theoretischer, aber auch in interdisziplinärer Hinsicht, da Horkheimer beispielsweise mit Erich Fromm (1900–1980) die Psychoanalyse an das Institut holte. Dass ein marxistisches Forschungsinstitut mit mehrheitlich jüdischen Wissenschaftlern nicht in Deutschland bleiben konnte, nachdem Adolf Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler geworden war, stand außer Frage. Umsichtig hatten Horkheimer und Weil bereits lange vorher Vorkehrungen getroffen, um die Finanzierung des Instituts vor einem Zugriff der Nazis zu schützen. 29 Horkheimer und seine Ehefrau Rosa – deren gemeinsam mit Pollock bewohntes Haus in Korntal wohl noch am Tag von Hitlers Ernennung von der S A besetzt wurde 30  – sowie die meisten Mitarbeiter flohen zunächst nach Genf; 1934 zog das Institut nach New York an die Columbia University um, wo es im Exil bis 1941 seine intensivste gemeinsame Forschungstätigkeit entfaltete. Dabei bildete die Zeitschrift für Sozialforschung, die in neun Ausgaben 1932 bis 1941 erschien, das wesentliche Publikationsorgan des Instituts. In ihr sollte das von Horkheimer skizzierte Programm umgesetzt werden, interdisziplinär eine umfassende Theorie der Gesellschaft aufzustellen. Zu den Autoren (sic!) gehören neben Horkheimer, dessen gewichtige Aufsätze in den 1930er Jahren den Höhepunkt seines intellektuellen Schaffens bilden, unter anderem

Theodor W. Adorno (1903–1969), Walter Benjamin (1892–1940), Erich Fromm, Otto Kirchheimer (1905–1965), Leo Löwenthal (1900–1993), Herbert Marcuse (1898–1979) und Franz Neumann (1900–1954). Bemerkenswert ist auch die Vielzahl von Rezensionen aus Soziologie, Philosophie, Geschichte, Psychologie und Ökonomie, die Anspruch und geistigen Horizont der Diskussionen am Institut erahnen lassen. 31 Folgt man der verbreiteten Einteilung der frühen Arbeiten am Institut in die drei Phasen »interdisziplinärer Materialismus« (1932– 1937), »kritische Theorie« (1937–1940) und »Kritik der instrumentellen Vernunft« (1940–1945), 32 lässt sich »Traditionelle und kritische Theorie« genau im Umbruch zwischen der ersten und der zweiten Phase verorten. Zwar enthält Horkheimers Aufsatz noch das interdisziplinäre Programm einer umfassenden, materialistischen Gesellschaftstheorie, doch schon nicht mehr unter dem Titel einer offenen materialistischen Dialektik, 33 sondern als »kritische Theorie«. Zudem deuten sich bereits einige der späteren Hauptmotive von Horkheimers Denken an: Die empirische Sozialforschung verliert an Gewicht gegenüber einer negativen Geschichtsphilosophie, die er in der zusammen mit Adorno verfassten Dialektik der Aufklärung 34 vertiefen wird, und dem als Beispiel angeführtem Verlust der »relativen Selbständigkeit des Individuums« (S. 71/[211]) widmet Horkheimer in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1988 [1947]) ein ganzes Kapitel. Horkheimers Denken entwickelte sich allerdings nicht so geradlinig, wie diese Aufzählung nahelegt, fallen doch die von ihm in

Zusammenarbeit mit dem American Jewish Committee organisierten, wichtigen empirischen Studien zu antisemitischen Vorurteilen in die 1940er Jahre. Ihre 1949/50 erschienenen fünf Bände, vor allem The Authoritarian Personality 35 als erster Band, machen das Institut in Amerika gerade durch seine empirische Sozialforschung berühmt. Horkheimer und das Institut kehren nach dem Zweiten Weltkrieg, nach längerem Zögern, zurück nach Frankfurt, wo Horkheimer, Adorno und Pollock zugleich Professuren an der Goethe-Universität übernehmen; Horkheimer wird 1951/52 sogar ihr Rektor. 1957 zieht er nach Montagnola in der Schweiz, und Adorno übernimmt das Direktorium des Instituts für Sozialforschung. 36 Bereits seit Anfang der 1950er Jahre kann allerdings von einer theoretischen Arbeit Horkheimers kaum noch die Rede sein. Nur mühsam ringt er sich zur Neupublikation seiner frühen Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung durch, die dank des Interesses an der »kritischen Theorie« in den 1960er Jahren insbesondere in der Studierendenbewegung längst als Raubdrucke kursieren. Horkheimers späte Interviews hinterlassen gleichermaßen den Eindruck eines zutiefst resignierten und von den politischen und sozialen Ereignissen überholten Menschen. 37 Er stirbt am 7. Juli 1973. Sein bleibendes Vermächtnis stellt das Institut für Sozialforschung und die »kritische Theorie« selbst dar, die von Horkheimer vor allem zwischen 1930 und 1950 mit ins Leben gerufen und entscheidend geprägt wurde. In den letzten Jahren sind die frühen Schriften von Horkheimer wieder verstärkt in die Diskussion geraten 38  – aus

der freilich der Aufsatz über traditionelle und kritische Theorie nie verschwunden war.

2 Was ist traditionelle Theorie? Um zu verstehen, was kritische Theorie ist, hilft es, sich zunächst Horkheimers Bestimmung von traditioneller Theorie zuzuwenden (vgl. S. 5–8/[162–164]). Allgemein bezeichnet der Begriff der Theorie eine Menge von Sätzen, von denen einige zugrunde gelegt werden, um die anderen logisch ableiten zu können. Je mehr Sätze sich ableiten bzw. deduzieren lassen und je weniger vorausgesetzt werden müssen, desto erklärungskräftiger ist die Theorie. Ihr Vorbild ist die Mathematik, ihre kanonische Formulierung liefert René Descartes’ Discours de la Méthode 39 . Der klassische philosophische Streit darüber, wie die grundlegenden Sätze begründet werden – etwa durch Erfahrung (Empirismus), Einsicht (Rationalismus, Phänomenologie) oder Entscheidung (Logik) – darf laut Horkheimer nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Form der Theorie letztlich jeweils die gleiche ist. Traditionelle Theorie bezieht sich hypothetisch auf Tatsachen und zielt auf Vollständigkeit. Die aus ihr abgeleiteten Sätze sollen diese Tatsachen möglichst genau beschreiben; wenn sie fehlgehen oder neue Sachverhalte auftauchen, die nicht zur bisherigen Theorie passen, erweist diese sich als falsch und muss korrigiert werden. Ihr Ideal ist ein einziges Satzsystem, das alle Wissenschaften umfasst und vereinheitlicht. Deshalb kann es kaum verwundern, dass dieser Begriff der Theorie den verschiedenen Wissenschaften gemeinsam ist. Horkheimer argumentiert, dass auch die Sozial- und

Geisteswissenschaften, ungeachtet der in ihnen vorhandenen methodologischen und theoretischen Differenzen, keinen anderen Theoriebegriff ins Spiel bringen: Immer steht auf der einen Seite das gedanklich formulierte Wissen, auf der anderen ein Sachverhalt, der unter es befaßt werden soll, und dieses Subsumieren, dieses Herstellen der Beziehung zwischen der bloßen Wahrnehmung oder Konstatierung des Sachverhalts und der begrifflichen Struktur unseres Wissens heißt seine theoretische Erklärung. (S. 11/[167]) Traditionelle Theorie ist also hypothetisch, dekontextualisiert und ahistorisch: Sie begreift Tatsachen als Testfälle für ihre Sätze, die so allgemein wie möglich formuliert werden, um generelle Gültigkeit zu erhalten, und die zwar historische Entwicklungen betreffen mögen, selbst aber überzeitlich sind. Gesellschaft und Geschichte liegen jenseits von Theorie, deren Wahrheit entweder ewig oder gar nicht ist. Horkheimer beschreibt damit ein Theorieverständnis, dessen Wurzeln bis in die Antike zurückreichen. Schon Platon nimmt die Mathematik als Vorbild für echte Erkenntnis, die allerdings das mathematische Wissen nochmal übersteigt, weil sie nicht das flüchtige Werden, sondern das ewige Sein erfasst und daher überzeitlich gilt. 40 Die Erfolge der in mathematisch formalisierter Sprache arbeitenden Naturwissenschaften beflügeln diesen

traditionellen Begriff von Theorie; ihnen ist es zu verdanken, dass er vorherrschend wird. Aber ist der traditionelle Begriff wirklich so einheitlich, wie Horkheimer ihn darstellt? Gegenteiliger Meinung sind etwa HansJoachim Dahms, der in Horkheimers »traditioneller Theorie« normative und empirische Begriffe von Theorie vermengt sieht, und Michael Theunissen, der die Theologie als Beispiel für einen nichttraditionellen Theoriebegriff anführt. 41 Doch bevor wir diese Kritik würdigen können, müssen wir erst verstehen, wie Horkheimers Alternative aussieht – und warum sie überhaupt nötig wird.

3 Wissenschaft als Ideologie Horkheimer will zeigen, dass traditionelle Theorie epistemisch und politisch problematisch, kurz: dass sie ideologisch ist (vgl. vor allem S. 13–29/[168–180]). Unter ›Ideologie‹ versteht er ein falsches Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit, das erstens kein bloßer Irrtum des Subjekts ist, sondern diesem durch die sozialen Praktiken aufgezwungen wird, und das zweitens diese sozialen Praktiken und die darin ausgeübte Herrschaft reproduzieren hilft. Dieser Ideologiebegriff geht auf Marx und Engels zurück, die Ideologie zunächst als notwendig falsches Bewusstsein bestimmen: Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozess hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen. 42 Zudem sind Ideologien, so Marx und Engels weiter, funktional für Herrschaftsverhältnisse: Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende

materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. 43 Ideologie ist also weder auf Irrtümer reduzierbar noch auf die »Seinsgebundenheit allen Denkens«, wie beispielsweise in der Wissenssoziologie von Karl Mannheim, dessen Umdeutung des Ideologiebegriffs Horkheimer wiederholt scharf kritisiert. 44 Ideologie bezeichnet aus den sozialen Praktiken notwendig hervorgehende falsche Vorstellungen, die aufgrund ihrer Falschheit Herrschaftsverhältnisse stabilisieren. Wieso sollte der traditionelle Theoriebegriff in diesem Sinne ideologisch sein? Horkheimers Begründung beginnt mit der Feststellung, dass wissenschaftliche Praktiken nicht unabhängig von anderen gesellschaftlichen Praktiken sind; insbesondere wird wissenschaftliche Arbeit in einer kapitalistischen Gesellschaft durch ihre Rolle in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und in der kapitalistischen Verwertungslogik mitbestimmt. Dennoch begreift sich traditionelle Theorie als unabhängig von der Gesellschaft, so Horkheimer, indem sie von ihrer historischen wie sozialen Situiertheit abstrahiert und allgemeine Gültigkeit beansprucht. Damit blendet sie die real bestehenden sozialen Beziehungen aus. Sie ist also epistemisch falsch, weil sie ihre soziale Situiertheit ignoriert und daher verzerrte Erkenntnisse liefert. Sie ist zudem epistemologisch falsch, weil sie Erkenntnis überhaupt von ihrer sozialen Situiertheit abtrennt und damit einer falschen Erkenntnistheorie anhängt. Außerdem führt sie politisch zur Affirmation des Status Quo. Horkheimer urteilt daher:

Soweit der Begriff der Theorie […] verselbständigt wird, als ob er etwa aus dem inneren Wesen der Erkenntnis oder sonstwie unhistorisch zu begründen sei, verwandelt er sich in eine verdinglichte, ideologische Kategorie. (S. 13 f./[168]) Die Verknüpfung von Wissenschaft und Gesellschaft lässt sich daran erweisen, so Horkheimer, dass die vermeintlich rein hypothetische Beziehung, die traditionelle Theorie zwischen sich und den Tatsachen annimmt, doppelt sozial bedingt ist. In Bezug auf den Einfluss von Tatsachen auf die Theoriebildung zeigt sich, dass der Wandel wissenschaftlicher Theorien nicht allein durch Unstimmigkeiten zwischen neu (oder wieder) entdeckten Tatsachen und Theorien zu erklären ist, wie die traditionelle Theorie annimmt. Jeder Widerspruch mit den Tatsachen, auf den eine Theorie stößt, kann durch »Hilfshypothesen« (S. 14/[168]) ausgeräumt werden; rein innerwissenschaftlich lässt sich daher der Prozess nicht erklären, in dem Theorien verbessert oder verworfen werden. Dazu muss man die sozialen Einflüsse auf die Theoriewahl berücksichtigen. 45 Umgekehrt ist auch der Einfluss von Theorien auf Tatsachen gesellschaftlich bedingt und eben kein bloß mentaler oder wissenschaftlicher Akt: »Die Beziehung von Hypothesen auf Tatsachen vollzieht sich schließlich nicht im Kopf der Gelehrten, sondern in der Industrie« (S. 15 f./[170]). Damit zieht Horkheimer polemisch die wissenschaftstheoretische Konsequenz aus dem historischen Materialismus: Die Anwendung, ja sogar schon die Überprüfung theoretischer Erkenntnisse erfolgt nicht allein im

Geiste oder in unabhängigen wissenschaftlichen Praktiken und kann nicht nur aus diesen heraus erklärt werden, sondern muss die gesellschaftliche Bedingtheit von Wissenschaft einbeziehen. Bis hierher lautet Horkheimers Argument, dass der Begriff traditioneller Theorie einen epistemischen Fehler begeht, weil er leugnet, von der Gesellschaft abhängig zu sein. 46 Um den Vorwurf zu untermauern, traditionelle Theorie sei Ideologie, braucht es allerdings mehr: Horkheimer muss zeigen, dass die Entwicklung dieses epistemisch mangelhaften Theoriebegriffs kein Zufall ist, sondern aus der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft entspringt. Zudem muss er die politisch bewahrende bzw. affirmative Rolle traditioneller Theorie aufgrund ihrer epistemischen Verzerrung belegen. Für den ersten Schritt bringt Horkheimer abermals die gesellschaftliche Arbeitsteilung ins Spiel. Sie isoliere die wissenschaftliche Tätigkeit von anderen Arbeiten und erzeuge auf diese Weise die Illusion einer autonomen wissenschaftlichen Praxis. Dieser falsche Eindruck sei analog dem falschen Eindruck individueller Freiheit im Kapitalismus: In dieser Vorstellung erscheint daher nicht die reale gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft, nicht was Theorie in der menschlichen Existenz, sondern nur, was sie in der abgelösten Sphäre bedeutet, worin sie unter den historischen Bedingungen erzeugt wird. […] Der Schein der Selbständigkeit von Arbeitsprozessen, deren Verlauf sich aus einem inneren Wesen ihres Gegenstandes herleiten soll, entspricht der scheinhaften

Freiheit der Wirtschaftssubjekte in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie glauben, nach individuellen Entschlüssen zu handeln, während sie noch in ihren kompliziertesten Kalkulationen Exponenten des unübersichtlichen gesellschaftlichen Mechanismus sind. (S. 17 f./[171]) Um zweitens die politisch affirmative Rolle traditioneller Theorie zu belegen, weitet Horkheimer seine Argumentation aus: Ihm zufolge ist nicht nur die Beziehung von Theorie und Tatsachen doppelt sozial bedingt, sondern schon die sinnliche Wahrnehmung jedes erkennenden Individuums. Sowohl diese Individuen und ihre Sinne als auch das von ihnen Wahrgenommene sind gesellschaftlich geformt. Wie wir Musik hören, Landschaften betrachten oder Speisen schmecken, wird ebenso durch die Gesellschaft geprägt wie Handymelodien imitierende Vogelstimmen, eine (zumal in Europa) nur als Kulturlandschaft erfahrbare Natur oder die Zuchtpflanzen und -tiere der Landwirtschaft. Diese sozialen Präformierungen zu ignorieren, verführt dazu, das Begegnende passiv hinzunehmen, anstatt Fakten als Resultat der gesellschaftlichen Praxis zu begreifen (im Wortsinn als Gemachtes: facere). Die Philosophie des deutschen Idealismus habe diese falsche Passivität erkannt, aber die Aktivität der Gesellschaft zur Leistung einer »transzendentale[n] Macht« (S. 26/[177]) vergeistigt und auf neue Weise unserem Einfluss entzogen – genau so, wie die traditionelle Theorie ihre Isolation im gesellschaftlichen Arbeitsprozess zur Unabhängigkeit und daher Allgemeingültigkeit

verkläre. Zwar könne sich die traditionelle Wissenschaft mit den »Leistungen des bürgerlichen Zeitalters in Technik und Industrie« (S. 29/[179]) schmücken, legitimiere dann aber diese ungerechte, in Klassen gespaltene und blind agierende bürgerliche Gesellschaft, anstatt auf ihre Emanzipation hinzuarbeiten. Die vermeintlich apolitischen Wissenschaftspraktiken und ihren Theoriebegriff entlarvt Horkheimer demnach als politisch affirmativ, also als die kapitalistische Klassengesellschaft reproduzierend – auch deshalb, weil sie den epistemischen Fehler begeht, ihre soziale Bedingtheit zu leugnen. Traditionelle Theorie hat also eine politische Funktion: Sie stützt bestehende Herrschaftsverhältnisse, ja arbeitet aktiv daran, diese zu intensivieren und auszuweiten. Damit hat Horkheimer eine Rechtfertigung seines Ideologievorwurfs geliefert. Doch wie haltbar ist sie? Die Einschätzung seiner Argumente hängt wesentlich davon ab, wie man zwei dafür wichtige, aber umstrittene Voraussetzungen bewertet. Erstens geht Horkheimer von einer einheitlichen gesellschaftlichen Praxis aus, die im Kapitalismus notwendig »blind« und planlos ist, in einer emanzipierten Gesellschaft dagegen rational wäre (vgl. z. B. S. 22/[174], 26/[177]). Darin ist einerseits die problematische Deutung der Gesellschaft als ›einheitliches Großsubjekt‹ enthalten, die z. B. Seyla Benhabib und Thomas McCarthy kritisiert haben. 47 Andererseits greift Horkheimer damit auf ein emphatisches Verständnis von Rationalität und auf eine Vorstellung der befreiten als einer vollständig rationalen Gesellschaft zurück. Diese von jedem Zufall und jeder

Eigenwilligkeit »befreite« Gesellschaft drohe totalitäre Züge anzunehmen, so kritisiert Theunissen. 48 Horkheimer hat ein solch ungebrochenes Vertrauen in die Vernunft nur wenige Jahre später selbst verloren und bewertet Rationalität in Die Kritik der instrumentellen Vernunft 49 deutlich ambivalenter. Zweitens tobt um die Bedeutung der sozialen Bedingtheit von Wissenschaft nach wie vor ein Dauerstreit, den Horkheimers Argumente sicherlich nicht entscheiden können. 50 Die zentrale Frage lautet, inwiefern die Wahrheit von Theorien – und nicht nur ihre Genese oder praktische Verwendung – sozial und historisch bedingt ist. Wer dies annimmt, sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, Wahrheit zur bloßen ›Wahrheit für uns‹ zu relativieren und damit objektive Erkenntnis als Ziel der Wissenschaften preiszugeben. Hier hilft Horkheimers vages Beispiel der Entstehung des mechanistischen Denkens im 17. Jahrhundert ebenso wenig wie der Artikel von Henryk Großmann, auf den er verweist (S. 14 f./[169]), da dieser keine klare Aussage über die Gültigkeit des mechanischen Denkens und deren Beziehung zu den sozialen Bedingungen seiner Entstehung trifft. Auf das Problem, wie die Zeitlichkeit von Wahrheit gedacht werden kann, ohne in Relativismus abzugleiten, gehe ich im Abschnitt über Horkheimers Erläuterung der kritischen Theorie noch näher ein.

4 »Es gibt nun ein menschliches Verhalten …« Kritische Theorie wird im Gegensatz zur traditionellen ihre soziale Bedingtheit nicht leugnen, so können wir bereits schließen, und sich (deshalb?) auch nicht affirmativ gegenüber der bestehenden Gesellschaft verhalten. Allerdings beginnt Horkheimer seine Erläuterungen bemerkenswerterweise mit dem »kritischen Verhalten«, das sich dadurch auszeichnet, dass es »die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat« (S. 30/[180]). Die gegenwärtige Klassengesellschaft soll insgesamt überwunden werden, anstatt Einzelnes in ihr zu verbessern. Kritik wird also nicht im Sinne Kants als Selbstbegrenzung der Vernunft auf jenen Bereich verstanden, in dem allein sie vernünftig sein kann. Vielmehr schließt Horkheimer an Marx’ »dialektische […] Kritik der politischen Ökonomie« (S. 30/[180], Anm. 14) an. Marx konzipiert Kritik dort als Darstellung von Widersprüchen zwischen der Gesellschaft und den von ihr (notwendig) hervorgebrachten Theorien, die auf Widersprüche innerhalb der gesellschaftlichen Praxis selbst zurückgehen. Diese Widersprüche lassen sich folglich nicht in der Theorie auflösen, ihre Darstellung soll stattdessen den Anstoß zur Veränderung der gesellschaftlichen Praxis liefern, ja zur Revolution anstiften. Die Erläuterung kritischer Theorie mit Verweis auf das kritische Verhalten zu starten, markiert bereits einen ersten entscheidenden Unterschied zur traditionellen Theorie: Kritische Theorie reflektiert nicht nur die doppelt sozial bedingte Beziehung von Theorie und

Tatsachen, die traditionelle Theorie leugnet, sie postuliert zudem eine notwendige Beziehung zwischen Theorie und Praxis. Wie diese aussieht, hängt allerdings stark von fünf anderen Aspekten ab, die Horkheimer im Rest seines Aufsatzes bespricht: erstens dem Ziel kritischer Theorie, zweitens ihrem Gegenstand, drittens ihrem Subjekt, viertens ihrer logischen Struktur und fünftens ihrem epistemischen Status. Horkheimers Diskussion springt zwar immer wieder zwischen den Aspekten kritischer Theorie hin und her, weil diese nur analytisch getrennt werden können. Doch genau solch eine Trennung hilft, um anschließend das Verhältnis von Theorie und Praxis als sechsten Aspekt zu erläutern.

4.1 Ziel Traditionelle Theorie zielt laut Horkheimer auf eine vollständige Erfassung und Erklärung der Welt ab, um sich diese untertan zu machen. Kritische Theorie will dagegen durch ihr Wissen diese Welt emanzipieren. Dabei ist sie weder reformistisch noch utopisch. Einerseits schlägt sie keine Verbesserung einzelner Elemente innerhalb der Gesellschaft vor: Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm [dem kritischen Verhalten; F. V.] vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat. (S. 31/[180 f.])

Weil sich kritische Theorie ihrer sozialen Bedingtheit bewusst ist, muss sie den von der Gesellschaft hervorgebrachten Urteilsmaßstäben misstrauen; ihre Übernahme würde die Irrationalität dieser Gesellschaft stillschweigend reproduzieren. Andererseits darf kritische Theorie keine bloße Utopie werden, denn als ›ortloses‹ Denken müsste sie wiederum ihre soziale Bedingtheit verleugnen. Stattdessen zielt sie auf eine vernünftige Einrichtung der Gesellschaft, die Horkheimer (mit Marx) vage beschreibt als »Gemeinschaft freier Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist« (S. 44/[191]). Ihr Gehalt wird nicht von den kritischen Theoretiker*innen am Schreibtisch erdacht, sondern konkretisiert sich in den sozialen Kämpfen, in denen die Möglichkeit aufscheint, dass die in der bürgerlichen Gesellschaft bloß zufälligen Übereinstimmungen von »Denken und Sein, Verstand und Sinnlichkeit, menschlichen Bedürfnissen und ihrer Befriedigung« (S. 45/[191]) auf vernünftige Weise zustande kommen. Horkheimer warnt mit Blick auf die Russische Revolution und ihre Resultate davor, dass auch die notwendige Disziplin in den sozialen Kämpfen das Aufblitzen jener »Freiheit und Spontaneität« (S. 45/[192]) nicht verhindern darf, die sie verwirklichen wollen. Ansonsten hätten die Kämpfenden ihr Ziel bereits verfehlt. 51 Da die emanzipierte Gesellschaft weder ausgemalt werden darf noch sich an den Maßstäben der gegenwärtigen Gesellschaft orientieren kann, bleibt Horkheimers Zielbestimmung notwendigerweise unklar. Das wurde vielfach kritisiert. Man kann

darin jedoch auch eine Stärke sehen, wenn man den Emanzipationsbegriff negativistisch deutet, so dass er »die Minimierung von Herrschaftsbeziehungen und nicht eine soziale Welt ohne oder jenseits von Machtbeziehungen bezeichnet« 52 . In dieser Lesart zielt kritische Theorie nicht auf eine fixe Gesellschaftsordnung und wäre ›fertig‹, sobald diese erreicht ist, sondern bezeichnet die unendliche Aufgabe, jeweils von Neuem scharfe Herrschaftskritik zu üben.

4.2 Gegenstand Sowohl die Definition des kritischen Verhaltens als auch die darauf aufbauende Bestimmung des Ziels kritischer Theorie macht klar, dass ihr Gegenstand die Gesellschaft ist – und zwar »im Ganzen«, wie Horkheimer mehrfach betont (vgl. z. B. S. 33/[182], 45/[191], 47/[193], 72 f./[212]). Doch nicht schon der Gegenstand ›Gesellschaft als Ganze‹, sondern erst die Konsequenz, die kritische Theorie daraus zieht, unterscheidet sie von traditioneller Theorie: Da die Gesellschaft als Ganze auch die kritischen Theoretiker*innen und ihre Wissensproduktion enthält, muss kritische Theorie strukturell selbstreflexiv verfasst sein. Abermals ist es die Prämisse der sozialen Bedingtheit von Theorie, die zur Differenz zwischen den Theoriebegriffen führt. Außerdem erzwingt sie, dass kritische Theorie materialistische Gesellschaftstheorie betreibt, um die eigene Situiertheit angemessen zu erfassen.

Bringt die erwähnte Kritik an Horkheimers Vereinheitlichung der Gesellschaft zu einem Großsubjekt dieses Argument zu Fall? Nicht, wenn man es hinreichend abstrakt formuliert. Aus der Prämisse der sozialen Bedingtheit von Theorie folgt, dass jede Theorie, die sich die Gesellschaft zum Gegenstand wählt, dann auch ihre eigenen Existenzbedingungen theoretisch fassen können muss. Die Selbstreflexivität ergibt sich also bereits aus der Annahme einer historischen und sozialen Situiertheit von Theorie und der diese Bedingtheit konstituierenden Gesellschaft als Gegenstand der Theorie. Sie hängt nicht von einer bestimmten (z. B. subjektphilosophischen) Fassung des Gesellschaftsbegriffs ab, sondern davon, dass man wissenschaftliche Praktiken nicht jenseits der Gesellschaft verortet. Deshalb erfordert die selbstreflexive Struktur kritischer Theorie, eine materialistische – und das heißt für Horkheimer: eine marxistische – Theorie der Gesellschaft zu entwickeln. Horkheimer deutet allerdings die Grundzüge einer solchen materialistische Gesellschaftstheorie im vorliegenden Aufsatz bestenfalls an, weil er sich auf die Theorieform konzentriert, die kritische von traditioneller Theorie unterscheidet. 53

4.3 Subjekt Horkheimer behauptet allerdings, der Unterschied zwischen kritischer und traditioneller Theorie »entspringt überhaupt nicht so sehr aus einer Verschiedenheit der Gegenstände als der Subjekte« (S. 34/[183]). Die Selbstreflexivität kritischer Theorie führt ihn im

Hinblick auf die Subjekte kritischer Theorie zu zwei Folgerungen, die mit zwei Bedeutungen des Ausdrucks »Subjekt der kritischen Theorie« korrespondieren: Erstens müssen kritische Theoretiker*innen die Rolle ihrer eigenen Subjektivität in der wissenschaftlichen Praxis reflektieren. Während traditionelle Theorie ihre soziale und historische Bedingtheit leugnet und daher auch die Interessen der theorieproduzierenden Subjekte als unwissenschaftlich abspalten muss, bekennt sich kritische Theorie ausdrücklich dazu, eine an (negativistischer) Emanzipation interessierte Theorie zu sein. Da allerdings traditionelle Theorie ebenfalls eine politische Agenda hat, insofern sie auf Herrschaft über Dinge und Menschen zielt, besteht der relevante Unterschied nicht darin, dass kritische Theorie politisch ist, sondern dass sie ein emanzipatorisches Interesse bewusst reflektiert und offen vertritt (vgl. S. 50–53/[196 f.]). Die zweite Folgerung betrifft die Adressat*innen kritischer Theorie. Dass kritische Theorie selbstbewusst interessierte Theorie ist, darf nicht dazu führen, so Horkheimer, sie als bloße Reflexion eines vorab bestehenden kollektiven Subjekts und seines sozialen Standpunkts zu verstehen, als ob sie »wesentlich im Formulieren der jeweiligen Gefühle und Vorstellungen einer Klasse« (S. 41/[188]) bestünde. Das Subjekt der kritischen Theorie im Sinne ihrer Adressat*innen, d. h. derjenigen, die Interesse an der Emanzipation der Gesellschaft haben (könnten), ist insofern nicht identisch mit dem Proletariat. 54 Vielmehr muss kritische Theorie »aggressiv nicht nur gegenüber den bewußten Apologeten des Bestehenden

[sein], sondern ebensosehr gegenüber ablenkenden, konformistischen oder utopistischen Tendenzen in den eigenen Reihen« (S. 42 f./[190]). Aus diesem Grund ist kritische Theorie nicht einfach das Wissen derjenigen Subjekte, die Träger*innen des kritischen Verhaltens sind. Kritische Theorie beginnt erst dann, wenn das kritische Verhalten diese Subjekte nicht nur in Widerspruch mit der Gesellschaft bringt, die sie im Ganzen revolutionieren wollen, sondern auch zu einer Reflexion dieses Widerspruchs und einer kritischen Haltung gegenüber der eigenen sozialen Rolle führt. Ohne feste Adressat*innen und ohne eine stabile Tradition, der sie vorbehaltlos die Reproduktion der eigenen wissenschaftlichen Praxis überantworten können, muten die Subjekte der kritischen Theorie einsam an. Aber diese Einsamkeit sollte nicht maskulinistisch-heroisch glorifiziert werden, indem kritische Theoretiker*innen sich in die Pose der letzten Gerechten in einer verkommenen Welt werfen. Zwar ist das Fortbestehen kritischer Theorie nie gesichert, da es an der beständigen Reproduktion des Interesses an Emanzipation und dessen zureichender Reflexion hängt. Doch darf sich kritische Theorie auf die traurige Gewissheit verlassen, dass die Gesellschaft durch ihren katastrophalen Zustand zuverlässig für ein Verlangen nach ihrer Überwindung sorgt. Insofern muss sie ›nur‹ das Bewusstsein der herrschenden Ungerechtigkeiten immer neu zur Selbstreflexion anhalten: Die möglichst strenge Weitergabe der kritischen Theorie ist freilich eine Bedingung ihres geschichtlichen Erfolgs; aber sie

vollzieht sich nicht auf dem festen Grund einer eingeschliffenen Praxis und fixierter Verhaltensweisen, sondern vermittels des Interesses an der Umwandlung, das sich zwar mit der herrschenden Ungerechtigkeit notwendig reproduziert, aber durch die Theorie selbst geformt und gelenkt werden soll und gleichzeitig wieder auf sie zurückwirkt. (S. 76/[214 f.])

4.4 Logische Struktur Die Selbstreflexivität kritischer Theorie hat nicht nur Konsequenzen für ihre Subjekte, sie wirkt sich auch auf die logische Struktur ihres Wissens aus. Horkheimer hebt vor allem die besondere Urteilsform kritischer Theorie und den ihr eigenen Begriff von Notwendigkeit hervor. Typisch für traditionelle Theorie ist, wie wir bereits gesehen haben, dass ihr Wissen als System hypothetischer Sätze vorliegt, da ihr Bezug auf die als unabhängig vermeinte Wirklichkeit hypothetischen Charakter hat. Kritische Theorie dagegen sei »ein einziges entfaltetes Existenzialurteil« (S. 57/[201]): Nicht dem abstrakten hypothetischen Urteil gelte ihr Interesse – beispielsweise: Dort, wo Tauschwirtschaft herrscht, wird sich Kapitalismus entwickeln –, sondern dem Existenzialurteil, dass sich die heute existierende Gesellschaft aus dem Tauschverhältnis ableiten lasse. Horkheimer stellt sich ein solches »entfaltetes Existenzialurteil« so vor:

Es besagt, grob formuliert, daß die Grundform der historisch gegebenen Warenwirtschaft, auf der die neuere Geschichte beruht, die inneren und äußeren Gegensätze der Epoche in sich schließt, in verschärfter Form stets aufs neue zeitigt und nach einer Periode des Aufstiegs, der Entfaltung menschlicher Kräfte, der Emanzipation des Individuums, nach einer ungeheuren Ausbreitung der menschlichen Macht über die Natur schließlich die weitere Entwicklung hemmt und die Menschheit einer neuen Barbarei zutreibt. (S. 57 f./[201]) In einer Fußnote treibt Horkheimer seine Behauptung auf die Spitze und ordnet nicht nur den verschiedenen Theoriebegriffen, sondern auch den verschiedenen historischen Epochen eine jeweils für sie charakteristische Urteilsform zu: Demnach sei der Feudalismus durch kategorische Urteile (»So ist es!«) und die bürgerliche Gesellschaft durch hypothetische Urteile (»Unter diesen und jenen Bedingungen könnte es so werden.«) gekennzeichnet. Die kritische Theorie erkläre dagegen: »es muß nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden« (S. 57/[201], Anm. 19). Damit nehme sie bereits die Urteilsform einer zukünftigen emanzipierten Gesellschaft vorweg. Ein Argument für diese starren Zuordnungen sucht man allerdings vergebens; dass Horkheimer sie in einer Fußnote verbirgt, zeigt vielleicht schon an, dass er seinem historischen Schema nicht ganz traut und die unmäßige Begründungslast erkennt, die er kritischen Theoretiker*innen damit aufbürdet. Doch selbst die Behauptung

einer besonderen Urteilsform der kritischen Theorie ist sehr vage gehalten und wird nicht nur kontrovers diskutiert, sondern gilt den meisten als unhaltbar. 55 Relevant für kritische Theorie ist jedoch die darin enthaltene Betonung historischer Kontingenz 56 , die auch hinter Horkheimers Beschreibung des kritischen Notwendigkeitsbegriffs steckt. Traditionelle Theorie verstehe Notwendigkeit entweder nach dem Modell der mathematischen Deduktion oder nach dem Modell von Naturgesetzen (vgl. S. 59–62/[202–204]). Der Notwendigkeitsbegriff der kritischen Theorie setze dagegen Freiheit voraus, weil sie Notwendigkeit als Teil eines Spiels von Kräften und Gegenkräften begreife. Diese angenommene Freiheit mag noch nicht real bestehen, doch Notwendigkeit bedeute für die kritische Theorie stets die Ohnmacht spezifischer Subjekte gegenüber bestimmten Kräften, die bereits auf die Möglichkeit verweise, diese Hindernisse und entgegenstehenden Kräfte überwinden zu können (vgl. S. 61 f./[204]). Urteile, in denen Notwendigkeit festgestellt wird, seien insofern immer als Hinweis darauf zu verstehen, dass hier Kämpfe erforderlich sind. Kritische Theorie bemüht, so könnten wir sagen, einen kämpferischen bzw. agonalen Notwendigkeitsbegriff. Die logische Struktur kritischer Theorie besteht Horkheimer zufolge also aus in diesem Sinne notwendigen Existenzialurteilen, die bereits emanzipatorische Kämpfe vorzeichnen oder sogar anstiften und so garantieren, dass kritische Theorie nicht zur bloßen Beschreibung der verwalteten Welt verkommt.

4.5 Epistemischer Status Auch der epistemische Status von Theorie wandelt sich, wenn diese reflexiv ihre eigenen Existenzbedingungen berücksichtigt. Einleuchten dürfte Horkheimers Schlussfolgerung, dass veränderte Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens eine Transformation kritischer Theorie bedeuten – und zwar nicht nur inhaltlich (weil ihr Gegenstand, die Gesellschaft, sich verändert hat), sondern auch strukturell (weil die Existenzbedingungen wissenschaftlicher Praktiken dem daraus entspringenden Begriff von Theorie nicht äußerlich sind). Deshalb können sich ältere und neuere Formen kritischer Theorie widersprechen, ohne dass die älteren dadurch automatisch entwertet oder unwahr würden (vgl. S. 66 f./[207 f.], 72/[212]). Darin steckt der Gedanke, dass kritische Theorie »der Wahrheit einen Zeitkern zuspricht«, wie Horkheimer und Adorno es später, mit Rückgriff auf Walter Benjamin, in der Dialektik der Aufklärung formulieren. 57 Doch entwickelt Horkheimer keinen ausgearbeiteten Wahrheitsbegriff, der zugleich historisierbar und nicht relativistisch wäre. In seinem Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« bemerkt er nur, dass das »Reden über Konstanz oder Wandelbarkeit der Wahrheit […] streng genommen nur in polemischem Verstand sinnvoll [ist]« (S. 74/[213]), nämlich um den idealistische Subjektbegriff traditioneller Theorie zu entlarven. Selbst in seinem zwei Jahre zuvor publizierten Essay »Zum Problem der Wahrheit« erfahren wir wenig mehr darüber, wie die kritische

Theorie (die dort als die unabgeschlossene Dialektik des Materialismus 58 bezeichnet wird) die Historizität von Wahrheit konzipieren kann, ohne in Relativismus zurückzufallen. 59 Horkheimer hält es für aussichtsreich, eine solche Konzeption ausgehend vom Begriff der Bewährung zu gewinnen, den er gegen pragmatistische und formalistische Reduktionen als historisierbar verteidigt: »Die Wahrheit ist ein Moment der richtigen Praxis; wer sie jedoch unmittelbar mit dem Erfolg identifiziert, überspringt die Geschichte und macht sich zum Apologeten der je herrschenden Wirklichkeit […].« 60 Neben der kritischen Infragestellung historisch nur scheinbar erfolgreicher Theorien (wie der liberalen politischen Ökonomie) brauche es also zugleich ein hartnäckiges Festhalten an den Wahrheiten, deren Bewährung allein an der verkehrten Welt scheitern. Doch die Frage, welche Wahrheiten »[u]nbeirrbare Treue« 61 und welche Korrekturen verlangen, beantwortet Horkheimer nicht, sondern begnügt sich mit dem bereits bekannten Hinweis darauf, dass selbst die Kategorien und die logische Struktur der kritischen Theorie noch historischem Wandel unterliegen. Deshalb müsse eine historisch informierte materialistische Gesellschaftstheorie noch die erkenntnistheoretischen Begriffe auf ihre Angemessenheit in Bezug auf die gegenwärtige Gesellschaft überprüfen können. Die programmatische Forderung nach einem historisierbaren Wahrheitsbegriff löst Horkheimer in keinem seiner Aufsätze ein. 62

4.6 Theorie und Praxis Kritische Theorie, so können wir zusammenfassen, richtet sich auf die Gesellschaft im Ganzen, deren Emanzipation sie bezweckt. Weil sie ihre eigenen Existenzbedingungen als Teil dieser Gesellschaft begreift, hat sie eine selbstreflexive Struktur. Diese erzwingt nicht nur die ständige selbstkritische Auseinandersetzung mit der Subjektivität kritischer Theoretiker*innen und ihrer Adressat*innen. Vielmehr modifiziert diese Selbstreflexivität auch die logische Struktur kritischer Theorie, die als entfaltetes Existentialurteil einen agonalen Notwendigkeitsbegriff vertritt und ihre eigenen Wahrheiten wie alle anderen als historisch begrenzt verstehen muss. Zentral für Horkheimers Bestimmung kritischer Theorie ist also die selbstreflexive Struktur, die sich aus der Anerkennung der historischen und sozialen Situiertheit von Theorie ergibt; ihre größte Schwierigkeit besteht in der Aufgabe, einen Wahrheitsbegriff ausarbeiten zu müssen, der zugleich historisierbar ist und nicht in Relativismus abgleitet. Ausgegangen aber waren wir von der veränderten Beziehung zwischen Theorie und Praxis, die wir nun in ihrem epistemischpolitischen Doppelcharakter bestimmen können. Epistemisch bedeutsam ist diese Beziehung aufgrund der dargestellten Konsequenzen für eine Theorie, die ihre eigenen Existenzbedingungen mitdenkt, d. h. ihre eigene Praxis nicht als zufälligen Umstand in ihr Außen verlegt. Politisch bedeutsam wird diese Selbstreflexivität sowohl als Kritik der traditionellen Theorie

als auch als Sozialkritik der Gesellschaft insgesamt, die jene ideologische Form von Wissenschaft hervorbringt. Der kritischen Theorie ist es allerdings eigentümlich, diesen Doppelcharakter des von ihr angenommenen Theorie-PraxisVerhältnisses nicht eindeutig in eine Richtung aufzulösen: Weder fordert sie ein Primat der Theorie noch eines der Praxis. Gegen das Primat der Theorie sprechen die beiden Einsichten, dass kritische Theorie erstens im »kritischen Verhalten« (S. 30/[180]) und damit in einer Praxis wurzelt, die kritische Theorie gerade nicht als äußerliches Phänomen abtun kann. Zweitens weist ihr Ziel konstitutiv über die Theorie hinaus und ist nicht allein in ihr bzw. durch sie zu erreichen. Die Widersprüche der gegenwärtigen Gesellschaft in der Theorie aufzulösen, wäre reine Ideologie, darin ist Horkheimer sich mit Marx einig. Es kommt vielmehr darauf an, diese Gesellschaft zu verändern. Das bedeutet allerdings nicht, dass Horkheimer kritische Theorie in Politik überführen will. Gegen den Primat der Praxis wendet er sich einerseits dort, wo er kritische Theorie von der Identifikation mit einer bloßen Übersetzung des proletarischen Klassenstandpunkts in die Wissenschaft scharf abgrenzt (vgl. S. 40/[187 f.], 48/[194]). Andererseits sieht er in der Unterordnung der Theorie unter die Praxis einen Teil jener Theoriefeindlichkeit, die in der bürgerlichen Gesellschaft zuweilen so stark ausgeprägt sei, dass selbst traditionelle Theorie in Opposition zu ihr gerate (vgl. S. 64 f./[206 f.]).

Die »Einheit von Theorie und Praxis« (S. 63/[205]), die zu denken traditioneller Theorie Horkheimer zufolge aufgrund ihrer Verleugnung der historischen und sozialen Bedingungen von Theorie unmöglich ist, stellt auch kritische Theorie nicht einfach her, denn dann würde sie sich abermals fälschlicherweise über die ungerechte, ja inhumane Praxis hinwegsetzen. In der Gegenwart von 1937 – d. h. angesichts des Faschismus (nicht nur) in Europa – könne kritische Theorie nur negativ formuliert werden, gegen traditionelle Theorie. Wie wir gesehen haben, folgt Horkheimer mit der Struktur seines Essays eben dieser Erkenntnis und verschärft seine Kritik traditioneller Theorie über den Ideologievorwurf hinaus im letzten Absatz nochmals: Eine Wissenschaft, die in eingebildeter Selbständigkeit die Gestaltung der Praxis, der sie dient und angehört, bloß als ihr Jenseits betrachtet und sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet, hat auf die Humanität schon verzichtet. (S. 78/[216])

5 Unmittelbare Reaktionen Eine erste Reaktion auf Horkheimers Aufsatz aus dem Institut für Sozialforschung erschien direkt im nächsten Heft der Zeitschrift für Sozialforschung. Herbert Marcuse, damals Horkheimers enger Mitarbeiter, verteidigt darin eine stärkere Rolle der Philosophie für die kritische Theorie. Der Vernunftbegriff, diese »Grundkategorie philosophischen Denkens« 63 , verleihe der Philosophie eine janusköpfige Gestalt: Einerseits werde mit der unter »Vernunft« vorgestellten und angestrebten Einheit von Denken und Sein die Philosophie als idealistisch gesetzt. Andererseits sei durch die damit unausweichlich verknüpfte Erkenntnis, dass die Welt (noch) nicht vernünftig sei, die Vernunft »als kritische Instanz aufgerichtet«. 64 Deshalb dürfe kritische Theorie die Philosophie weder aufgeben noch sich mit ihr identifizieren. Sie müsse also am Vernunft- und damit auch am Wahrheitsbegriff festhalten, ohne Wahrheit soziologisch aufzulösen (wie Karl Mannheim) oder ökonomistisch zu reduzieren (wie in orthodoxen Spielarten des Marxismus). Dennoch dürfe kritische Theorie deshalb nicht zur verbürgerlichten Vernunftphilosophie werden, die unkritisch weite Teile der Wirklichkeit zur vernünftigen Notwendigkeit verklärt (wie Hegel) oder Vernunft bürokratisch auf das Registrieren von elementaren Tatsachen verkürzt (wie der Positivismus). Kritische Theorie braucht daher materialistische Strenge und philosophische Phantasie, so Marcuses Plädoyer, um sich weder mit der vermeintlichen

gegebenen Wirklichkeit noch mit der idealistischen Utopie zu begnügen: »Ohne sie [die Phantasie; F. V.] bleibt alle philosophische Erkenntnis immer nur der Gegenwart oder der Vergangenheit verhaftet, abgeschnitten von der Zukunft, die allein die Philosophie mit der wirklichen Geschichte der Menschheit verbindet.« 65 Horkheimer gesteht in seiner Antwort zu, dass die Bedeutung der Philosophie für die kritische Theorie größer sei, als aus seinem Aufsatz hervorgehe. Genauer: Kritische Theorie wende sich nicht von der Philosophie ab, sondern transformiere sie. So wenig beispielsweise kritische Theorie in Ökonomie aufgehe, so wenig entkomme sie dem Ökonomismus durch Ignoranz wirtschaftlicher Begriffe und Sachverhalte. Wie Marx müsse kritische Theorie vielmehr ökonomische Begriffe zu gleichzeitig philosophischen schmieden, indem sie sie jeweils mit der »Tendenz der gesamten Gesellschaft« 66 in Zusammenhang bringe. Diese Tendenz sei wie die Gesellschaft weder von den ökonomischen Grundlagen ablösbar noch auf sie reduzierbar – schon gar nicht im Blick auf die emanzipierte Gesellschaft: Es wäre »mechanistisches, nicht dialektisches Denken, auch die Formen der zukünftigen Gesellschaft einzig nach ihrer Wirtschaft zu beurteilen«. 67 Beiläufig zeigt sich an diesem Satz, wie ernst es Horkheimer mit der historischen und sozialen Bedingtheit kritischer Theorie ist: Dass die heutige Gesellschaft allein von der Ökonomie her zu verstehen ist, kann nicht ungeprüft auch für die nächste Gesellschaftsform gelten. Für die Philosophie bedeutet das in Horkheimers Augen, dass sie von dem ihr äußerlichen, nicht-philosophischen Material her und durch es hindurch zu denken hat. Bei ihren eigenen Begriffen zu

verharren – und seien es »Vernunft« und »Wahrheit« –, verkenne deren historische und soziale Bedingtheit, d. h. ihre Einbettung in soziale Kämpfe: »Die Philosophie, die bei sich selbst, bei irgendeiner Wahrheit, Ruhe zu finden meint, hat daher mit kritischer Theorie nichts zu tun.« 68 Horkheimers Aufsatz sowie die weiteren Diskussionsbeiträge von ihm und Marcuse wurden unter den Mitgliedern des Instituts und den Leser*innen der Zeitschrift wohlwollend, aber nicht unkritisch diskutiert. Widerspruch ernteten besonders Horkheimers Thesen zur Beziehung zwischen kritischer Theorie und der künftigen, emanzipierten Gesellschaft: Andries Sternheim (1840– 1944) und Hans Mayer (1907–2001) befürchteten, kritische Theorie gerate utopisch oder gar idealistisch, Adolph Lowe (1893–1995) sah die politische Verfasstheit einer befreiten Gesellschaft unzureichend berücksichtigt. 69 Horkheimers Rede von einer »Assoziation freier Menschen« mute anarchistisch an, beschränke die »Verantwortung« des Individuums auf sich selbst und lasse jede Vorstellung rationaler Planung vermissen. Wo Horkheimer solche Planung doch einmal erwähne, bleibe völlig unklar, wie mit Konflikten in der emanzipierten Gesellschaft umzugehen sei: »Und dann stehen wir vor der Alternative: Diktatur oder Konformismus.« 70 Eine schärfere, jedoch nie publizierte Erwiderung auf Horkheimers Positivismuskritik schrieb der logische Empirist Otto Neurath (1882–1945). Er stand schon vorher brieflich in Kontakt mit Horkheimer, dessen heftiger Angriff auf den logischen Empirismus 71 Anlass zu einem Symposium am Rande des neunten internationalen Philosophenkongresses (31. Juli bis 6. August 1937)

in Paris gab. Zwar konnte Horkheimer nicht teilnehmen, aber Adorno, Benjamin und Paul Felix Lazarsfeld (1901–1976) sowie Neurath, Rudolf Carnap (1891–1970), Carl Gustav Hempel (1905– 1997) und Philipp Frank (1884–1966) diskutierten über seine Aufsätze. 72 Neuraths Replik, die sich größtenteils auf Horkheimers Aufsatz »Der neueste Angriff auf die Metaphysik« bezieht, aber auch »Traditionelle und kritische Theorie« erwähnt, wirft Horkheimer vor, in traditionelle Metaphysik zurückzufallen, unwissenschaftlich zu schreiben und keine Begründungen für seine Behauptungen zu liefern. 73 Eine Reihe von Kommentator*innen betont, dass Neuraths Ton gegenüber Horkheimers Polemik moderat ausfällt, und die Replik insofern als Gesprächsangebot gedeutet werden kann. 74 Allerdings gehen weder sie noch Neurath auf das systematische Argument Horkheimers ein, demzufolge die Erkenntnis, dass die gesellschaftlichen Existenzbedingungen der theoretischen Praxis nicht extern sind, diese Praxis verändern müsse. Dabei ist es dieses grundlegende Argument, das aus dem von Jean Améry (1912–1978) konstatierten Dilemma einer »weitgehend irrationale[n] Wahl« 75 zwischen dialektischer und positivistischer Vernunft begründet herausführen könnte.

6 Philosophie oder Sozialforschung? Der Verzicht darauf, Horkheimers Argumentation von ihrem Kern her aufzurollen und systematisch zu prüfen, zu widerlegen oder zu verbessern, ist allerdings auch in der Frankfurter Schule verbreitet. Obwohl Horkheimers Aufsatz schnell zum Referenzpunkt für ihr Selbstverständnis wurde, gibt es relativ wenig argumentative Auseinandersetzungen mit dem Text. Wo nicht nur summarisch auf einige Zitate verwiesen wird, um zu bestimmen, was unter kritischer Theorie zu verstehen sei, treten häufig theoriegeschichtliche Fragen in den Vordergrund: Wie weit rückt Horkheimer von Marx ab? Wie sind historisch-politische Erfahrung und theoretische Reflexion miteinander verknüpft? Wie ordnet sich der Aufsatz in die vorhergehende und nachfolgende Entwicklung von Horkheimers Denken bzw. der Frankfurter Schule insgesamt ein? 76 So wichtig diese Arbeiten für all diejenigen sind, die sich intensiver mit Horkheimers Denken und der Frankfurter Tradition der kritischen Theorie insgesamt befassen wollen, so unerlässlich ist es, die Argumente selbst und ihre weiteren Verwendungen und Umwandlungen zu betrachten. Von besonderem Interesse sind zwei für die Frankfurter Schule zentrale Weisen, Horkheimers Argumentation in »Traditionelle und kritische Theorie« aufzugreifen. Die erste, eher philosophische Fortsetzung zielt auf die transzendentalanthropologische Begründung eines emanzipatorischen Interesses, also dessen Rechtfertigung aus a

priori erkennbaren Eigenschaften in der Natur des Menschen. Die zweite, eher sozialwissenschaftliche Fortsetzung bezieht sich dagegen auf die Ausbildung einer kritischen empirischen Sozialforschung.

6.1 Transzendentalanthropologie Eine freie, aber enorm einflussreiche Interpretation von Horkheimers Aufsatz stammt von Jürgen Habermas. In seiner 1965 gehaltenen Frankfurter Antrittsvorlesung »Erkenntnis und Interesse« kontrastiert er Horkheimers Positivismuskritik mit der annährend zeitgleichen von Edmund Husserl (1859–1938): Horkheimer wolle das »positivistische Selbstverständnis der Wissenschaften« 77 mit dem Übergang zum kritischen Theoriebegriff überwinden, Husserl dagegen die »Krisis der Wissenschaften« durch eine strenge Rückbesinnung auf den traditionellen Theoriebegriff lösen, weil der Positivismus nur ein halbierter »Restbegriff« davon sei. 78 Habermas hält zwar Husserls Kritik für zutreffend, dass die sich selbst positivistisch (miss)verstehenden Wissenschaften die leistende Subjektivität und ihre Lebenswelt verschleiern, auf deren Boden sie gleichwohl stehen. Doch Husserls Zuflucht zur »reinen« Theorie, die erst die Autonomie der Wissenschaften als »Entbindung der Erkenntnis von Interesse« garantiere, führe in die Irre. 79 Mit Horkheimer beharrt Habermas darauf, dass Theorie stattdessen die stets mit ihr verknüpften Interessen reflektieren, also die für kritische Theorie charakteristische Selbstreflexivität ausbilden muss.

Allerdings baut Habermas den Dualismus von traditioneller und kritischer Theorie zu einer Trias aus. Dazu greift er zunächst zwei von Horkheimers bereits erläuterten Überlegungen auf, nämlich dass sowohl Individuen als auch die ihnen begegnenden Sachverhalte in der Welt gesellschaftlich geformt sind und dass der Idealismus sich auf einem Holzweg befindet, wenn er diese Konstitution durch die gesellschaftliche Praxis einer transzendentalen Subjektivität zuschreibt. Zwar kritisiere Husserl gemäß dem ersten Argument zu Recht die objektivistische Haltung, theoretische Aussagen naiv auf scheinbar empirisch einfach gegebene Tatsachen zu beziehen. Doch setze er ähnlich wie der deutsche Idealismus erneut eine transzendentale Subjektivität an die Stelle der gesellschaftlichen Praxis. Folgt Habermas so weit Horkheimers zentralen Argumenten, löst er sich von diesen in seiner Erläuterung der selbstreflexiven Struktur, die anzunehmen uns die Einsicht in die Untrennbarkeit von Erkenntnis und Interesse nötigt, indem er deren Zusammenhang transzendentalanthropologisch deutet. Horkheimer habe wegen seiner Orientierung an Marx die gesellschaftliche Praxis auf Arbeit (instrumentelles Handeln) verkürzt, 80 statt zu sehen, dass mit Interaktion (kommunikatives Handeln) und »Herrschaft« (antagonistisches Handeln) zwei weitere, irreduzible Handlungstypen existieren. In den drei Handlungstypen Arbeit, Sprache und Herrschaft, die transzendentalanthropologischen Status besitzen, weil sie unhintergehbare Medien für die Entwicklung des Gattungswesens Mensch sind, bilden sich drei erkenntnisleitende

Interessen, so Habermas’ zentrale These. Sie leiten die verschiedenen Formen von Wissenschaft an: In den Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaften geht ein technisches, in den Ansatz der historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein praktisches und in den Ansatz kritisch orientierter Wissenschaften jenes emanzipatorische Erkenntnisinteresse ein, das schon den traditionellen Theorien uneingestanden, wie wir sahen, zugrunde lag. 81 In der auf Naturbeherrschung zielenden technischen und der auf Verständigung orientierten praktischen Reflexion könne die transzendentalanthropologische Struktur jedoch noch nicht bewusst werden. Erst in der auf Mündigkeit gerichteten emanzipatorischen Reflexion werde sie erkennbar, da nur diese als Selbstreflexion die Einheit von Interesse und Erkenntnis verbürgen könne. 82 Mit Horkheimer geht es Habermas also um die Gewinnung eines selbstreflexiven Theoriebegriffs, der den Zusammenhang von Erkenntnis und Interessen einsichtig machen kann; gegen Horkheimer dürfe man aber nicht Arbeit als alleinigen Handlungstyp berücksichtigen, weil so Vernunft auf instrumentelle Vernunft verkürzt werde. Diese Ausführungen erzwingen umfangreiche Umbauten im argumentativen Fundament der Begründung und der Struktur kritischer Theorie. Horkheimer reicht es aus, die fehlende historische und soziale Situierung traditioneller Theorie als bürgerliche Ideologie zu entlarven, um aus der Berücksichtigung ihrer eigenen

gesellschaftlichen Verortung seinen alternativen Theoriebegriff zu entwickeln. Habermas dagegen fundiert diesen Theoriebegriff in einer anderen Tätigkeitsform, die zudem als gattungsnotwendig ausgewiesen werden muss, nämlich als einer von drei transzendentalanthropologisch fundierten Handlungstypen. Dieses ambitionierte Programm ist nach seiner Ausarbeitung im Buch Erkenntnis und Interesse schnell in sich zusammengebrochen. 83 Habermas selbst hat daraus die Konsequenz gezogen, die transzendentalanthropologische Argumentation ganz aufzugeben und ein neues Fundament für die kommunikative Vernunft in der quasitranszendentalen Grammatik des Sprechhandelns zu suchen. 84 Für Axel Honneth scheitert Habermas dagegen nicht an der transzendentalanthropologischen Begründungsstrategie, sondern an der daraus erwachsenden Aufgabe, neben Arbeit und Interaktion eine dritte fundamentale Praxis ausfindig zu machen, in der »soziale Reproduktion und praktische Kritik so zusammengedacht werden können, dass verständlich wird, warum Gesellschaften nur auf dem Weg des sozialen Konflikts und Kampfes aufrechtzuerhalten sind«. 85 Darüber hinaus muss Habermas zeigen, so Honneth, dass aus dieser Praxis notwendig ein von den anderen beiden verschiedenes Erkenntnisinteresse hervorgeht, das eine von den traditionellen Geistes- und Naturwissenschaften kritische unterschiedene Wissenschaftspraxis erfordert. Schon die erste Aufgabe erfülle der eigentümlich unterbestimmte Handlungstypus »Herrschaft« nicht, weil Habermas darin Konflikt individualistisch am Modell der Psychoanalyse konzipiere, so dass

es um den Kampf des Subjekts mit sich selbst gegen innere und äußere Fremdherrschaft gehe. Die Übertragung dieses Konfliktverständnisses auf die Gesellschaft führe dazu, die Praxis des sozialen Kampfes als Ringen um kognitive Selbstverständigung der Gattung zu begreifen, nicht als »praktische[n] Streit zwischen sich entgegenstehenden Parteien«. 86 Diese Bestimmung des Handlungstypus als Bewusstseinskonflikt hindere Habermas auch daran, ein von einer praktischen Auffassung von Konflikt verschiedenes, aus diesem erwachsendes Erkenntnisinteresse zu bestimmen. Allenfalls helfe die Orientierung an der Psychoanalyse dabei, die Eigenständigkeit der kritischen Wissenschaftspraxis darzulegen, weil sie zeige, wie ein spezifisches Wissen über die eigenen Blockaden zur befreienden Kraft für das Individuum werden kann. Ungeachtet dieses Misserfolgs ist die Frage nach der Verankerung des Interesses an Emanzipation in der sozialen Praxis in Honneths Augen richtig und wichtig, ja laut Untertitel seines Aufsatzes sogar die »Schlüsselfrage kritischer Theorie«. Um sie zu beantworten, begründet Honneth soziale Konflikte als notwendiges Element von Gesellschaften, da deren integrative Normen konstitutiv umstritten bleiben müssten: [J]ederzeit können nämlich von einer Seite Gründe vorgebracht werden, die es fragwürdig erscheinen lassen, dass eine bestimmte Norm die Interpretation erfahren hat, die mit den vorgängig bestehenden Anerkennungserwartungen in Übereinstimmung steht. 87

An diese relativ unstrittige sozialontologische These schließt Honneth die ambitionierte Behauptung an, dass sich benachteiligt fühlende Gruppen soziale Kämpfe tatsächlich führen (und geführt haben), indem sie die einseitige Auslegung sozialer Normen skandalisieren und Neuinterpretationen durchzusetzen versuchen. Praktische Kritik wird damit auf ein Modell verengt, in dem jeder Versagung von Anerkennung und der daraus resultierenden Empörung eine als ungerecht erlebte Normauslegung zugrunde liegt, die durch Umdeutung der fraglichen Norm behoben werden soll. Das Problem rundweg falscher, nicht zu verbessernder Normen, das für Horkheimer noch das Paradigma abgab (vgl. S. 30 f./[180 f.]), muss dann durch Abstraktion auf höherstufige Normen zu einem Grenzfall erklärt werden. 88 Allerdings gelingt es Honneth auf diese Weise, ein kognitives Moment in sozialen Kämpfen ausfindig zu machen, denn unabhängig davon, welche materielle Form solche Konflikte auch annehmen, müssen die daran Beteiligten sich und ihre Mitstreiter*innen von ihren Zielen und den deretwegen ergriffenen Handlungen überzeugen können, was die Form einer »Praxis des kooperativen Umdeutens gegebener Normen« 89 annimmt. Das besondere Erkenntnisinteresse sozialer Kämpfe, das nicht im technischen oder praktischen Erkenntnisinteresse von Arbeit und Interaktion aufgeht, kommt demnach aufgrund der besonderen Situation unterdrückter Gruppen zustande, die deshalb lernen (müssen), dass soziale Normen interpretationsbedürftig sind und ihre herrschende Auslegung nicht alternativlos ist. Hinzu kommt die

Einsicht, dass Erkenntnis selbst durch die soziale Position (hier: als Unterdrückte) begünstigt werden kann; aus der Position der vom herrschenden Normverständnis profitierenden Gruppen heraus besteht keinerlei Notwendigkeit, diese Normen als hinterfragbar zu erkennen. Honneth greift damit einen Grundgedanken der Standpunkttheorie auf, der für Horkheimer leitend ist – allerdings auf ganz andere Weise. Er übernimmt die von Habermas eingeleitete Konzentration auf ein emanzipatorisches Interesse, das allein die Eigenständigkeit kritischer Theorie soll tragen können. 90 Doch diese Deutung von Horkheimers Aufsatz ist, so haben wir gesehen, alles andere als selbstverständlich. Die standpunktepistemologische Einsicht in die Situiertheit von Theorie bildet in der Tat Horkheimers zentrales Argument, doch sie muss keineswegs transzendentalanthropologisch auf ein einzigartiges Erkenntnisinteresse zurückgeführt, sondern kann als erkenntnistheoretisches Defizit traditioneller Theorie erkannt werden, dessen Konsequenzen uns zwingen, es als funktional für den Erhalt einer nichtemanzipierten Gesellschaft zu begreifen. Die Probleme dieser ideologiekritischen Argumentation erzwingen keineswegs ihre Überführung in eine transzendentalanthropologische Argumentation: Sinnvoller und weniger voraussetzungsreich ist es, sie als starke Gründe dafür aufzufassen, die in der Frankfurter Tradition der kritischen Theorie angelegte, aber nie entfaltete politische Epistemologie 91 auszuarbeiten.

Horkheimer erläutert das »kritische Verhalten« also deswegen nicht weiter, so meine These, weil er ihm nicht den Stellenwert verleiht, die ihm die transzendentalanthropologische Lesart aufbürdet. Die philosophische Alternative zur transzendentalanthropologischen Interpretation nimmt nicht die Fragen nach der revolutionären Praxis und der daraus erwachsenden Reflexionsform, sondern die politische Epistemologie zum Leitfaden einer anderen – emanzipatorischen – Wissenschaft. Dazu muss sie keineswegs leugnen, dass die Fragen nach dem Subjekt der kritischen Theorie und seiner Praxis einen wichtigen Platz in Horkheimers Aufsatz einnehmen; sie sieht diese aber eingebettet in eine politische Erkenntnistheorie, die nicht auf einem vorgängigen Subjekt- oder Praxisbegriff gründet. So gelesen, muss Horkheimer seiner kritischen Theorie keine unabhängige anthropologische Fundierung verschaffen – mehr noch, er dürfte es konsequenterweise gar nicht, und hat in der Tat die philosophische Anthropologie und insbesondere ihren Anspruch auf überzeitliche Bestimmungen eines Wesens »des Menschen« scharf kritisiert. 92

6.2 Kritische empirische Sozialforschung In Kritik der Macht attestiert Honneth aus der erläuterten transzendentalanthropologischen Perspektive auf Horkheimers Forschungsprogramm diesem ein »soziologisches Defizit«: Aufgrund seines reduktionistischen Verständnisses gesellschaftlicher Praxis blende er sowohl das Handeln im Alltag als auch in sozialen

Kämpfen aus, obgleich sein Programm einer dialektischen Verklammerung von empirischen Einzelwissenschaften und Sozialphilosophie zwingend darauf angewiesen wäre. 93 Die diametral entgegengesetzte These vertritt Hauke Brunkhorst: Die grundsätzliche Ablehnung jeder Form von Metaphysik, die stets nur die »Not der Gegenwart« (S.  44/[190]) mit Sinn vergolde, treibe Horkheimer zur »materialistische[n] Destruktion der Philosophie«, die in Sozialwissenschaft aufgelöst werde. 94 Der »AntiPhilosoph« Horkheimer zeige sich besonders deutlich in »Traditionelle und kritische Theorie«, weil er dort explizit nicht versuche, die in seinem Programm aufbrechenden Widersprüche philosophisch aufzulösen, sondern sie als Motivation zur Ablösung von Philosophie durch empirische Sozialforschung begreife. Brunkhorst hat vor allem Horkheimers eigentümliche Behauptung vor Augen, die Form kritischer Theorie sei das Existenzialurteil. Diese Behauptung sei philosophisch gesehen unhaltbar, so Brunkhorst, da sie zwei Bedeutungen von »Existenz« vermische. Einerseits meine Horkheimer damit im Sinne des Existenzialismus die Notwendigkeit, uns als Menschen entscheiden zu können und zu müssen, ob wir unser Leben authentisch oder unauthentisch leben, d. h. die Entscheidung für oder gegen das »kritische Verhalten«. 95 Andererseits sei mit »Existenz« die nicht metaphysisch verkleidete faktische Not der gegenwärtigen Gesellschaft bezeichnet, in der zugleich die objektiven Möglichkeiten zu ihrer Überwindung bereitstünden. 96 Daraus folgt, so Brunkhorst, dass nur die empirischen Einzelwissenschaften, nicht

aber die Philosophie die objektiven Möglichkeiten für ein authentisches, d. h. kritisches Leben zugänglich machen können. Das resultierende philosophische Dilemma sei in Horkheimers Aufsatz ungeschminkt zu besichtigen: Im Begriff der kritischen Theorie reproduziert der Programmtext von 1937 die von ihr später immer wieder kritisierte undialektische Arbeitsteilung von praktischem Existenzialismus und wissenschaftlichem Positivismus: nur in ihrer explanativtheoretischen, nicht in ihrer praktisch kritischen Gestalt schließt Horkheimers kritische Theorie intern an die Logik der traditionellen an. Das hat vor allem für das Verhältnis von kritischer Theorie und Fachwissenschaft fatale Konsequenzen: von den empirischen Wissenschaften führt kein Weg zurück zum Begriff der Kritik. 97 Das Ziel von Marcuses oben dargestellter Kritik sei diese Preisgabe der Philosophie gewesen, auf die Horkheimer weder in seinem »Nachtrag« noch sonst wo eine überzeugende Antwort gefunden hat – was allerdings auch gar nicht mehr in seinem Interesse lag, so Brunkhorst. Horkheimers Größe bestehe darin, eingesehen zu haben, dass die Philosophie das Problem nur stellen, aber nicht lösen kann: Um zu verhindern, dass sie darüber mit dem falschen Schein der Metaphysik hinwegtäuscht, muss man sie in Sozialwissenschaft auflösen:

Erst die Anti-Philosophie des radikal diesseitigen Materialisten Horkheimer konnte den Weg frei räumen für die philosophische Idee einer fallibel gewordenen Vernunft: für eine sozialwissenschaftliche Transformation der Philosophie. 98 Diese Deutung ist ebenso grandios-einseitig wie die transzendentalanthropologischen Interpretationen. Zwar hat Brunkhorst Recht damit, dass man das Programm kritischer Theorie verfehlt, wenn man seine empirisch-sozialwissenschaftliche Dimension zurück in Philosophie verwandelt oder diese Dimension gänzlich abschneidet. 99 Doch einerseits zeigt schon sein Schwanken in Bezug auf die Frage, ob Horkheimer Philosophie nun liquidiert oder transformiert, dass selbst radikale Metaphysikkritik keineswegs notwendig den Ausgang aus der Philosophie bedeuten muss. 100 Andererseits gibt es gute Gründe dafür, das empirische Forschungsprogramm der kritischen Theorie ernst zu nehmen, ohne es derart hochzustilisieren. Das zeigt exemplarisch Wolfgang Bonß, der die Bezeichnung »interdisziplinärer Materialismus« für das Programm des Instituts für Sozialforschung 1932 bis 1937 prägte. 101 Er versteht den Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« als Eingeständnis dafür, dass dieses empirische Forschungsprogramm, das auf einer komplexen Krisendiagnose beruhe, an grundsätzlichen Problemen gescheitert sei. Die doppelte Krise der bürgerlichen und der marxistischen Wissenschaft, die Horkheimer diagnostiziert, betreffe jeweils ihre soziale und epistemische Funktion. Laut Bonß korrespondiert für

Horkheimer einerseits das Theorie-Praxis-Dilemma der materialistischen Wissenschaft mit der problematisch scharfen Trennung zwischen positivistisch registrierten Tatsachen und der Begründungslogik ihrer Zusammenhänge. Andererseits entsprechen die Theorielücken im Marxismus, die dem Dogmatismus geschuldet sind, der Zersplitterung der bürgerlichen Einzelwissenschaften. Der interdisziplinäre Materialismus soll die Probleme beider Wissenschaften überwinden, indem er einen dialektischen Zusammenhang zwischen verschiedenen empirischen Wissenschaften und der Sozialphilosophie herstellt, deren Einsichten wiederum in die Forschung eingehen. Allerdings kann Horkheimer Bonß zufolge nicht zeigen, wie genau das die diagnostizierten Probleme überwindet, weil sowohl der Interdisziplinaritäts- als auch der Philosophiebegriff vage ist und nicht bis in die Methodologie der Einzelwissenschaften hineinreicht, die zudem nur äußerst selektiv herangezogen werden. »Traditionelle und kritische Theorie« sei damit nicht als Übergang von der Philosophie zur Sozialforschung zu verstehen, sondern demonstriere stattdessen das »›Umkippen‹ des interdisziplinären Materialismus« 102 in die negative Geschichtsphilosophie von Horkheimers späteren Schriften. Bonß zieht daraus den Schluss, dass eine Wiederbelebung des ursprünglichen interdisziplinären Materialismus kaum sinnvoll ist. Doch eine kritische Sozialforschung, die aus den Fehlern dieses Programms lernt und sich nicht auf eine Kritik der instrumentellen Vernunft zurückzieht, sei sehr wohl möglich und den Bedürfnissen der Gegenwart angemessen.

7 Kritik der kritischen Theorie Die mit Brunkhorst und Bonß sowie Habermas und Honneth skizzierten Aufnahmen von Horkheimers Überlegungen bleiben diesen trotz teilweise scharfer Einwände gewogen, ja stellen sich selbst in die Tradition kritischer Theorie. Zwei wichtige, grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit kritischer Theorie und an ihrer sozialwissenschaftlichen Durchführung sollen hier aber nicht unterschlagen werden. Rüdiger Bubner nimmt 1969 die Neuveröffentlichung von Horkheimers Aufsätzen (im Vorjahr) sowie Habermas’ dargestellte Wiederaufnahme in Erkenntnis und Interesse zum Anlass, die kritische Theorie an ihren eigenen Maßstäben zu messen. Dabei offenbare Horkheimers Ansatz drei zentrale Mängel: Erstens behaupte er die Interessenabhängigkeit jeglicher Erkenntnis, unterlasse jedoch eine eingehende Untersuchung der Erkenntnisabhängigkeit dieser Interessen. Daher verschleiere Horkheimer, dass er Wissen darüber benötigt, wie emanzipatorische Interessen zu identifizieren sind, und fülle diese Lücke mit unklarem Rückbezug auf Marx’ »ökonomische Geschichtstheorie«. 103 Ähnlich vage bleibe zweitens der emphatisch gebrauchte Wahrheitsbegriff, den Horkheimer allein als »praktischgeschichtliche Bewährung« erläutere, und so abermals ein besonderes Wissen darüber reklamiere, »welche Praxis richtig und welche falsch ist, welche eintretenden Ereignisse als Bewährung

gelten und wo die Theorie trotz historischen Mißerfolgs unwiderlegt bleibt und Recht behält«. 104 Beide Punkte wurzeln in einer »eigentümlichen Theoriescheu«, so Bubners dritter Vorwurf, weil kritische Theorie grundsätzlich die »ideologische Natur aller philosophischen Theorie« voraussetze. 105 Die Peinlichkeit, aus diesem Grunde selbst nicht mit Wahrheitsanspruch auftreten zu können, verberge die kritische Theorie, indem sie sich darauf beschränke, die Unwahrheit aller anderen Theorien darzulegen. Damit immunisiere sie sich gegen Kritik und erhebe zugleich wieder jenen Totalitätsanspruch, den zu bekämpfen sie eigentlich angetreten sei. Letztlich kranke die kritische Theorie daran, die Einheit von Theorie und Praxis zwar überall anzumahnen, jedoch selbst überall zu verfehlen, weil sie sich weder zutraue, echte Theorie zu betreiben, noch den Schritt in die Praxis wage. 106 Bubners Kritik läuft auf die Verteidigung einer »reinen« Philosophie hinaus: Das zwangsläufige Scheitern des generalisierten Ideologieverdachts gegen Metaphysik begründe deren Notwendigkeit. Aus entgegengesetzter Richtung verurteilt Hans-Joachim Dahms die kritische Theorie, indem er die positivistische Position gegen Horkheimer in Anschlag bringt. Seine umfangreiche Rekonstruktion dieser Auseinandersetzung soll die Hintergründe des sogenannten Positivismusstreits in der Soziologie in den 1960er Jahren klären. Die für uns interessante Kritik an Horkheimers Aufsatz besteht in vier Punkten: Erstens sei Horkheimers Begriff traditioneller Theorie ungenau, weil er einen deskriptiven und einen normativen Begriff von Theorie

miteinander vermenge. Doch folge empirisch betrachtet die Theoriearbeit in den wenigsten Fällen dem normativen Ideal: Axiomatisch aufgebaut sei bestenfalls die Mathematik. Zudem vertreten Dahms zufolge die logischen Positivisten selbst verschiedene Theoriebegriffe, die sich vor allem durch ihre Bewertung von induktiven Verfahren unterscheiden und unterschiedliche Zielbestimmungen der Wissenschaft ergeben: Skepsis gegenüber Induktion führe dazu, Theorie am Ideal der reinen Beschreibung zu messen, größeres Vertrauen dagegen zur Betonung von Prognosen. 107 Horkheimers Auffassung traditioneller Theorie ignoriere jedoch alle diese Differenzen. Zweitens sei die Form der kritischen Theorie als »Existenzialurteil« unverständlich. Horkheimer meine offenbar nicht die logische Form des Existenzurteils, da sein Beispiel – »Die kritische Theorie erklärt: es muß nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden.« (S. 57/[201], Anm. 19) – kein Existenz-, sondern ein Modalurteil (also ein Urteil über die Möglichkeit oder Notwendigkeit von Sachverhalten) ist. Wäre dagegen gemeint, dass es von der »existenziellen Entscheidung der Menschen« 108 abhängt, ob vorhandene Möglichkeiten ergriffen werden, kann das Existenzialurteil die logische Struktur der kritischen Theorie nicht erläutern, weil es keine Urteilform angibt und damit die logische Struktur gar nicht betrifft. 109 Wie Bubner kritisiert auch Dahms drittens Horkheimers Wahrheitsbegriff, dessen Unklarheit freilich nicht verwundern

könne, da es ihm nicht einmal gelänge, die logische Struktur kritischer Theorie präzise zu bestimmen. Wie sollte dann ihre Überprüfung vorgezeichnet werden? Zumal Horkheimer ja explizit einräumt, so Dahn, dass es keine allgemeinen Kriterien geben kann (vgl. S. 77/[215]), um kritische Theorie als richtig oder falsch zu erweisen – was Dahms als Immunisierungsstrategie versteht. 110 Viertens moniert Dahms, dass Horkheimer nicht erklärt, wie eine – bestehende oder zukünftige – Gesellschaft als emanzipiert erkannt werden kann. Deshalb helfe auch die Zielsetzung kritischer Theorie, die als letzter Grund für ihre Unterscheidung von traditioneller Theorie verbleibe, nicht weiter. Dahms zieht das Fazit, dass angesichts dieser Probleme Horkheimers Programm nur postulatorische Erfolge beanspruchen [kann]. Gerade dann nämlich, wenn man ein gegenüber dem traditionellen Wissenschaftsbegriff überlegenen »kritischen« verficht, wäre man verpflichtet, diese Vorstellungen wenigstens so weit zu präzisieren, daß man sich darunter an den entscheidenden Stellen auch etwas vorstellen kann. 111 Beide Kritiker haben sicherlich recht mit ihrem Vorwurf, dass Horkheimer weder den Wahrheitsbegriff seiner kritischen Theorie noch deren logische Struktur oder philosophischen Status hinreichend bestimmt. Aber beide ignorieren die für Horkheimer zentrale These, dass kritische Theorie sich dadurch auszeichnet, dass sie ihre eigenen sozialen Existenzbedingungen nicht als etwas der

Theorie Äußerliches versteht. Diese materialistische Einsicht in die Situierung von Theorie sowie die daraus erwachsende Selbstreflexion, die eine Veränderung der Theorieform erzwingt, hatten schon die transzendentalanthropologischen Deutungen nur halbherzig wahrgenommen. Bubner und Dahms blenden sie vollständig aus – der eine, weil er Philosophie nur als Metaphysik oder gar nicht begreifen kann, der andere, weil er die positivistische Trennung von Geltung und Genesis voraussetzt, die in der Diskussion mit der kritischen Theorie gerade in Frage steht.

8 Unabgegoltenes So dringend es ist, Horkheimers »ökonomische Geschichtstheorie« zu kritisieren, seinen homogenisierenden Begriff gesellschaftlicher Praxis aufzubrechen und sein emanzipatorisches Interesses zu erläutern, so wenig eignen sich diese Probleme als Ausgangspunkt für eine notwendig kreative Fortsetzung seiner Gedanken. Stattdessen sollte man seine zentrale systematische These ernst nehmen, dass Wissenschafts- und Erkenntnistheorie nicht von Sozialforschung getrennt werden kann. Horkheimers kritische Theorie gewinnt ihre eigenständige Form aus der Einsicht in die Notwendigkeit einer politischen Epistemologie, selbst wenn er deren Gestalt bestenfalls schemenhaft andeutet. Mindestens zwei Gründe sprechen dafür, sie auszuarbeiten: Erstens ermöglicht die angedeutete Lektüre von Horkheimers Aufsatz, kritische Theorie epistemologisch an die Diskussionen feministischer und antirassistischer Standpunkttheorien anzuschließen; 112 von ihnen zu lernen könnte helfen, die Zähmung kritischer Theorie durch Verwandlung in traditionelle Philosophie zu vermeiden. Zweitens kann nur eine kritische Theorie, die sich ihrer Grundlagen als politische Erkenntnistheorie sicher ist, die gegenwärtig anstehende, wichtige Aufgabe meistern, sowohl gegen die grassierende Wissenschaftsfeindlichkeit in (Teilen) der Politik Einspruch zu erheben als auch die kategorische Immunisierung von

positivistisch verkürzten Wissenschaften gegen berechtigte Kritik zu problematisieren. 113 Horkheimers Aufsatz liefert dafür keine schlüsselfertige Lösung, aber einen wirkmächtigen Ansporn, um alternative Theorieformen zu suchen, die ihre eigenen gesellschaftlichen Existenzbedingungen nicht verleugnen müssen, um einen Blick von Nirgendwo vorzugaukeln. Kritische Theorie erschöpft sich eben nicht im Aufstapeln von Wissen, sie ist die kontinuierliche Arbeit an unserer Befreiung, der sich jede Zeit von Neuem stellen muss. 114

Fußnoten 1 Henri Poincaré, Wissenschaft und Hypothese, deutsche Ausgabe von F. und L. Lindemann, Leipzig 1914, S. 146. 2 Descartes, Discours de la méthode, 11, Übersetzung von A. Buchenau, Leipzig 1911, S. 15. 3 Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik, Halle 1929, S. 89. 4 Ibid., S. 79. 5 Ibid., S. 91. 6 Hermann Weyl, ›Philosophie der Naturwissenschaft‹, in: Handbuch der Philosophie, Abteilung 2, München und Berlin 1927, S. 118 ff. 7 Emile Durkheim, Les règles de la méthode sociologique, Paris 1927, S. 99 [Übersetzung von M. H.]. 8 Max Weber, ›Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik‹, in: Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1922, S. 266 ff. 9 Eine Darlegung dieses Prozesses findet sich in der Zeitschrift für Sozialforschung, IV, 1935, S. 161 ff., in dem Aufsatz von Henryk Großmann, ›Die gesellschaftlichen Grundlagen der mechanistischen Philosophie und die Manufaktur‹. 10 Cf. Hermann Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1914,

S. 23 ff. 11 Cf. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, § 27, B 167. 12 Ibid., Der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe zweiter Abschnitt, 4. Vorläufige Erklärung der Möglichkeit der Kategorien als Erkenntnisse a priori, A 110. 13 Ibid., Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, B 181. 14 Dieses Verhalten wird im folgenden als das »kritische« bezeichnet. Das Wort wird hier weniger im Sinn der idealistischen Kritik der reinen Vernunft als in dem der dialektischen Kritik der politischen Ökonomie verstanden. Es bezeichnet eine wesentliche Eigenschaft der dialektischen Theorie der Gesellschaft. 15 Cf. Henri Poincaré, ibid., S. 152. 16 Ähnlich verhält es sich mit nationalökonomischen und finanztechnischen Einsichten und ihrer Auswertung in der Wirtschaftspolitik. 17 Max Weber, ›Wissenschaft als Beruf‹ in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 549 f. 18 Zur logischen Struktur der Kritik der politischen Ökonomie cf. ›Zum Problem der Wahrheit‹ [in: Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 3, S. 311 f. und 316 f.]. 19 Zwischen den Urteilsformen und den geschichtlichen Epochen bestehen Zusammenhänge, über die eine kurze

Andeutung gestattet sei. Das kategorische Urteil ist typisch für die vorbürgerliche Gesellschaft: so ist es, der Mensch kann nichts daran ändern. Die hypothetische wie die disjunktive Urteilsform gehören im besonderen zur bürgerlichen Welt: unter gewissen Umständen kann dieser Effekt eintreten, entweder ist es so oder anders. Die kritische Theorie erklärt: es muß nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden. 20 Johann Gottlieb Fichte, Briefwechsel, herausgegeben von H. Schulz, Band I, Leipzig 1925, S. 127. 21 Das paraphrasiert einen Gedanken von Foucault 2001 [1969], S. 1022–1028. 22 Dazu gehört insbesondere die Antrittsvorlesung von Horkheimer als Direktor des Instituts mit dem Titel »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung« (Horkheimer 1988 [1931]). Den neuen Theoriebegriff bereiten Aufsätze zum Wahrheitsproblem (Horkheimer 1988b [1935]) und gegen den Positivismus (Horkheimer 2009b [1937]) vor. 23 Honneth 2006, S. 229. Die Gegenthese formuliert Brunkhorst 1985, S. 353: »Wer hier [in »Traditionelle und kritische Theorie«, F. V.] den philosophischen Grundgedanken der Kritischen Theorie vermutet, dürfte ihn verfehlen.« Siehe dazu Abschn. 6. 24 Horkheimer schreibt »kritische Theorie« konsequent mit kleinem k. Erst später hat es sich eingebürgert, die Tradition der

Frankfurter Schule als »Kritische Theorie« mit großem K zu bezeichnen. In diesem Nachwort folge ich Horkheimers Schreibweise; wo die Tradition gemeint ist, sage ich dies explizit. 25 Pollock, in: Horkheimer 1995b, S. 218. 26 Der Ausdruck »Frankfurter Schule« kam erst in den 1960er Jahren auf. Zur Geschichte der Gruppe und der Benennung vgl. die grundlegenden Darstellungen von Jay 1976, Wiggershaus 1991 [1986] und Demirović 1999. 27 Zu Horkheimers Biografie vgl. Wiggershaus 2013, zur Geschichte des Instituts siehe die in Anm. 6 zitierte Literatur. 28 Horkheimer 1988 [1931], S. 29. 29 Zur Wirtschaftsgeschichte des Instituts anhand der Biografie von Felix Weil vgl. Erazo Heufelder 2017. 30 Vgl. Wiggershaus 2013, S. 77. 31 Zur Zeitschrift vgl. Schmidt 1974. Seit 2004 wird am Institut wieder eine interdisziplinär ausgerichtete Zeitschrift herausgegeben: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung. 32 Vgl. etwa Dubiel 1978, Teil A, oder Benhabib 1992 [1986], Kap. 3. 33 So noch in Horkheimer 2009b [1937], S. 137–142, und vor allem in Horkheimer 1988b [1935], S. 291 f. 34 Horkheimer/Adorno 2012 [1947]. 35 Adorno [u. a.] 1950.

36 Nach Adornos überraschendem Tod 1969 wurde das Institut 1973–1997 kollektiv von einem Institutsrat geleitet, ehe Ludwig von Friedeburg bis 2001 und danach Axel Honneth bis 2019 Direktoren wurden. 37 Vgl. Wiggershaus 2013, Kap. XV und XVI, bes. S. 224. 38 Vgl. z. B. Abromeit 2011, Benhabib/Bonß/McCole 1993. 39 Descartes 2019 [1637]. 40 Beispielsweise in den berühmten drei Gleichnissen der Politeia: dem Sonnen-, dem Linien- und dem Höhlengleichnis. Vgl. Platon 2017, Buch VI und VII. 41 Siehe Abschn. 7; vgl. Theunissen 1981 [1969], S. 4–12. Theunissen glaubt, dass »kritische Theorie« insgesamt viel näher an traditioneller Theorie liegt, als Horkheimer dies lieb sein kann, weil sie bloß eine Radikalisierung von Aristoteles’ Theoriekonzeption sei. 42 Marx/Engels 2018 [1846], S. 21. 43 Ebd., S. 43. 44 Vgl. Mannheim 1995 [1929], bes. Kap. 2, und dagegen Horkheimer 1988 [1930] sowie im vorliegenden Text S. 50 ff./[196 ff.]. 45 Horkheimer greift damit ein berühmtes Argument von Pierre Duhem (1978 [1906], S. 243–249) auf, ohne ihn zu nennen. Ob Horkheimer mit Duhems Ansichten wirklich vertraut war, ist schwer zu sagen, doch kannte er das Argument vermittelt über

Rudolf Carnaps Logische Syntax der Sprache (1968 [1935]), wie sein Zitat in Horkheimer 2009b [1937], S. 120, zeigt. Ähnlich verwendet Thomas S. Kuhn (1991 [1962], S. 157 f.) das Argument wirkmächtig als Einwand gegen die (von Karl Popper vertretene) Vorstellung von Falsifizierung als Motor der Wissenschaftsentwicklung. 46 Ich betone hier und im Folgenden den damit verbundenen epistemologischen Fehler nicht eigens nochmals, da er mit dem epistemischen Fehler einhergeht. 47 Vgl. Benhabib 1992 [1986], S. 85 f.; McCarthy 1993, S. 138– 143. 48 Vgl. Theunissen 1981 [1969], S. 14–16. 49 Horkheimer 1988 [1947]. 50 Dieser Streit wird besonders in den Diskussionen über und in den Science and Technology Studies (Bauer/Heinemann/Lemke 2017) sowie in der anhaltenden Debatte über Werte in den Wissenschaften (Adorno [u. a.] 1969, Schurz/Carrier 2013) ausgetragen. 51 Soziale Kämpfe müssen insofern ein präfiguratives Moment aufweisen, so könnte man den Gedanken weiterführen. Vgl. dazu, mit Rückgriff auf Foucault, Vogelmann 2017. 52 Allen 2019 [2016], S. 21, ausführlicher diskutiert in Allen 2015. Zur Kritik an Horkheimers Emanzipationsvorstellung siehe Abschn. 5 und 7.

53 Dass manche dieser Andeutungen und Beispiele erstaunlich orthodox marxistisch anmuten, könnte daran liegen, dass die Ausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung ursprünglich als Jubiläumsheft zum 70. Jahrestag der Publikation von Marx’ erstem Band des Kapital geplant war. Zwar wurde daraus nichts, Horkheimer aber bezeichnete seinen Aufsatz kurz nach Fertigstellung in einem Brief an Henryk Großmann immer noch als »in Wahrheit […] ein Jubiläumsaufsatz« (Horkheimer 1995a, S. 699, Anm. 1). Vgl dazu ausführlich Wiggershaus 2013, S. 129– 135. 54 In dieser Unterscheidung schlagen sich deutlich sichtbar die historische Enttäuschung Horkheimers und der anderen Mitglieder des Instituts für Sozialforschung nieder, die sie noch Anfang der 1930er Jahre hegten. Vgl. dazu Jay 1976, S. 68; Benhabib 1992 [1986], S. 79 f. Tatsächlich ersetzt Horkheimer das Proletariat mit der kritischen Theorie, wenn er schreibt, sie spreche nur das Geheimnis der »vorhandenen Realität« (S. 44/[190 f.]) aus, weil er damit Marx’ berühmten Satz variiert: »Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eignen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung.« (Marx 1962 [1844], S. 391.) 55 Siehe Abschn. 7. 56 Historische Kontingenz ist für die kritische Theorie nicht mit Zufälligkeit identisch, weil es ja durchaus historische Bedingung für das Eintreten von Ereignissen gibt, ohne dass diese deshalb

schon als notwendig zu bezeichnen wären. Insofern ist hier nicht der logische Begriff von Kontingenz gemeint. 57 Horkheimer/Adorno 2012 [1947], S. I X. Vgl. Benjamin 1991 [1982], S. 578. 58 Vgl. Horkheimer 1988b [1935], S. 291 ff. 59 Theunissens diesbezügliche Kritik bleibt leider rein philosophiehistorisch, statt sich dem sachlichen Problem zu widmen. Vgl. Theunissen 1981 [1969], S. 28–35. 60 Horkheimer 1988b [1935], S. 305. 61 Ebd., S. 304. 62 Auf Otto Neuraths Frage, wie man wahre und falsche Ansichten unterscheiden kann, antwortet Horkheimer sogar, er versuche »seit einer Reihe von Jahren darzulegen, inwiefern gerade bei den entscheidendsten Problemen das geforderte Kriterium nicht namhaft zu machen ist.« (Horkheimer 1995b, S. 345.) Wenig überraschend hat diese Antwort scharfe Kritik hervorgerufen (s. Abschn. 7). 63 Marcuse 1965 [1937], S. 103. 64 Ebd., S. 104. 65 Ebd., S. 123. 66 Horkheimer 2009a [1937], S. 220. 67 Ebd., S. 222. 68 Ebd., S. 225.

69 Vgl. die Briefe vom 30. November sowie vom 14. und 15. Dezember 1937 in Horkheimer 1995b, Nr. 357, 364 und 365. 70 Lowe, in: Horkheimer 1995b, S. 331. Mit »Konformismus« meint Lowe eine spontane Bereitschaft zur individuellen Zurückhaltung, die er zur gesellschaftlichen Voraussetzung für die Freiheit der Einzelnen erklärt. Diese Kombination zeichne die englische Gesellschaft aus (Lowe 1948 [1937]). 71 In Horkheimer 2009b [1937]. 72 Darüber berichtet Adorno (in: Adorno/Horkheimer 2003, S. 560–579), wenn auch unvollständig. Vgl. ausführlich Dahms 1998 [1994], S. 144–153. 73 Ich danke Herrn Daniel Wilhelm für seine freundliche Unterstützung, dank derer ich Einsicht in das Typoskript im Philosophischen Archiv der Universität Konstanz nehmen konnte. 74 Vgl. neben Dahms 1998 [1994] vor allem O’Neill/Uebel 2004, Albrecht/Prager 2019. 75 Améry 1969. 76 Zu Marx vgl. den Überblick von Demirović 2019 oder Kautzer 2017, zur wissenssoziologischen Perspektive Dubiel 1978, zur Entwicklung von Horkheimers eigenem Denken Abromeit 2011 und Benhabib 1992 [1986], Kap. 3. – Stärker auf die Argumente in Horkheimers Aufsatz beziehen sich neben den diskutierten Anknüpfungen Asbach 1997, S. 158–212, und Küsters

1980, S. 24–89. 77 Habermas 1969a, S. 148. 78 Vgl. Husserl 2012, § 3. 79 Habermas 1969a, S. 152. 80 Zu dieser Marx-Interpretation, die seither allen Arbeiten von Habermas zugrunde liegt, vgl. Habermas 1969b, bes. S. 45 f., sowie Habermas 1973 [1968], Kap. 3. 81 Habermas 1969a, S. 155. 82 Das ist eine – stark komprimierte – Zusammenfassung von ebd., S. 159–164. 83 Vgl. Habermas 1973 [1968]; zu den Gründen, das darin entfaltete Programm als gescheitert anzusehen, Habermas 2000. 84 Vgl. Habermas 1992 [1981]. 85 Honneth 2020, S. 294. 86 Ebd., S. 295. 87 Ebd., S. 308. 88 Vgl. ebd., S. 308–310. Zum Streit um dieses Deutungsmodell sozialer Konflikte vgl. Schaub 2015, Honneth 2015. 89 Honneth 2020, S. 311. 90 Schon in Honneth 1985, Kap. 1, mit dem Vorwurf, Horkheimer reduziere kommunikatives Handeln und soziale Konflikte auf den Handlungstyp Arbeit.

91 Politische Epistemologie bezeichnet eine Erkenntnistheorie, die Wissen nicht von den sozialen Praktiken trennt, in denen es produziert und weitergegeben wird, und insofern Erkenntnis nicht jenseits von sozialen, ökonomischen usw. Machtbeziehungen ansiedelt. Sie wendet sich damit gegen epistemologische Theorien, die Wissen von einem isolierten Subjekt ausgehend konzipieren, ohne die soziale Einbettung und die Konstitution des Subjekts zu berücksichtigen. Vom Großteil der sozialen Epistemologie trennt sie das konflikttheoretische Verständnis sozialer Praktiken. 92 Vgl. Horkheimer 1988a [1935]. 93 Vgl. Honneth 1985, Kap. 1. 94 Vgl. Brunkhorst 1985. 95 Brunkhorsts Montage der Zitate aus Horkheimers Text, die eine solche »existenzialistische« Lesart nachweisen soll, wirkt allerdings einigermaßen bemüht. 96 Vgl. Brunkhorst 1985, S. 370–373. 97 Ebd., S. 373. 98 Ebd., S. 379. »Fallibel gewordene Vernunft« meint hier eine Konzeption von Vernunft, die ihre eigene Fehlbarkeit und Korrekturbedürftigkeit berücksichtigen kann. 99 Wie jüngst mal wieder Hindrichs 2020. 100 Brunkhorst muss überdies einen harten Bruch zwischen Horkheimers Überlegungen 1937 und 1944 annehmen, der jedoch

angesichts der Verteidigung der Philosophie in den Vorträgen The Eclipse of Reason ziemlich unplausibel ist. Vgl. Horkheimer 1988 [1947], bes. Kap. 5. 101 Vgl. Bonß/Schindler 1982 sowie Bonß 1982, Kap. 5. 102 Bonß/Schindler 1982, S. 60. 103 Bubner 1969, S. 218, zitiert hier Horkheimer 1988 [1934], S. 196. 104 Bubner 1969, S. 223. 105 Ebd., S. 227. 106 Ebd., S. 249. 107 Vgl. Dahms 1998 [1994], S. 160 f. 108 Ebd., S. 162. 109 Seltsamerweise geht Dahms nicht auf Horkheimers Beispiel im Haupttext (vgl. S. 57 f./[201]) ein, dass man durchaus als Existenzurteil – zusammengefasst: »Es gibt Klassenkämpfe, solange es Kapitalismus gibt.« – rekonstruieren könnte. 110 Vgl. Dahms 1998 [1994], S. 163 f. 111 Ebd., S. 166. 112 Vgl. die Aufsätze in Harding 2004 [1996]. 113 Vgl. Vogelmann 2019. 114 Für hilfreiche Kritik und Kommentare danke ich Katharina Hoppe, Helena Waldvogel, Jonas Heller und Helena Esther Grass.

Sehr geholfen hat mir zudem die Diskussion des Textes im Forschungskolloquium am Institut für Sozialforschung, dessen Teilnehmer*innen herzlich gedankt sei. Alle verbleibenden Fehler und Ungenauigkeiten sind allein mir anzulasten.

Über dieses Buch Kritische Theorie soll die Gesellschaft emanzipieren, statt sie wie herkömmliche Forschung nur zu erfassen. Die Grundzüge dieser engagierten Wissenschaft skizzierte Max Horkheimer erstmals in seinem berühmten Aufsatz von 1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung.  Das Nachwort hilft, die schwierigen Konsequenzen dieser einfachen Idee nachzuvollziehen. Außerdem wird die wichtigste Kritik an Horkheimers Argumenten sowie deren Weiterentwicklung in der Frankfurter Schule aufgezeigt und das Fortleben des so wichtigen, epochemachenden Textes bis heute nachgezeichnet.

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