Topos Tier: Neue Gestaltungen des Tier-Mensch-Verhältnisses [1. Aufl.] 9783839428603

With the challenges of inter- and transdisciplinary thought, the old anthropocentric way of looking at animals has becom

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Topos Tier: Neue Gestaltungen des Tier-Mensch-Verhältnisses [1. Aufl.]
 9783839428603

Table of contents :
Inhalt
Topos Tier – Einleitung
Experimentalobjekte. Tiere Als Figuren Anthropologischen Wissens
Die Würde Der Tiere. Zu Den Theologischen Wurzeln Und Dem Ethischen Ort Eines Topos Der Modernen Tierethik
Menschenaffen Im Wandel Der Zeit. Berichte Und Illustrationen Vom 17. Bis Zum 20. Jahrhundert
Das Tier In Mir. Eine Problematische Anthropologische Fiktion Des Liberalismus
Dem Auge Auf Die Sprünge Helfen. Jagdbare Tiere Und Jagden Bei Johann Elias Ridinger (1698-1767)
Tropische Regenwälder – Zentren Der Artenvielfalt
Zoos Und Politik In Westafrika
Tiere Und Tiermetaphern Im Postkolonialen Frankophonen Roman
An Der Schwelle Zum Irdischen Paradies. Der Hund Als Gestalt Gewordene Verheißung Im Spätwerk Von Monika Maron
Endzeitliches Schweifwedeln. Der Hund Als Begleiter Des Letzten Menschen
Das, Was Herr Duchamp Vergessen Hat
Zu Den Autorinnen

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Annette Bühler-Dietrich, Michael Weingarten (Hg.) Topos Tier

Human-Animal Studies

Annette Bühler-Dietrich, Michael Weingarten (Hg.)

Topos Tier Neue Gestaltungen des Tier-Mensch-Verhältnisses

Gedruckt mit Unterstützung der Universität Stuttgart.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Topos Tier – Einleitung

Annette Bühler-Dietrich & Michael Weingarten | 7 Experimentalobjekte. Tiere als Figuren anthropologischen Wissens

Benjamin Bühler | 19 Die Würde der Tiere. Zu den theologischen Wurzeln und dem ethischen Ort eines Topos der modernen Tierethik

Heike Baranzke | 41 Menschenaffen im Wandel der Zeit. Berichte und Illustrationen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert

Hans Werner Ingensiep | 65 Das Tier in mir. Eine problematische anthropologische Fiktion des Liberalismus

Michael Weingarten | 87 Dem Auge auf die Sprünge helfen. Jagdbare Tiere und Jagden bei Johann Elias Ridinger (1698-1767)

Ellen Spickernagel | 103 Tropische Regenwälder – Zentren der Artenvielfalt

Andreas Schlüter | 125 Zoos und Politik in Westafrika

Julien Bondaz | 141 Tiere und Tiermetaphern im postkolonialen frankophonen Roman

Annette Bühler-Dietrich | 167

An der Schwelle zum irdischen Paradies. Der Hund als Gestalt gewordene Verheißung im Spätwerk von Monika Maron

Dorothee Römhild | 189 Endzeitliches Schweifwedeln. Der Hund als Begleiter des letzten Menschen

Manfred Schneider | 209 Das, was Herr Duchamp vergessen hat

Hamed Taheri | 229 Zu den Autor_innen | 245

Topos Tier – Einleitung A NNETTE B ÜHLER -D IETRICH & M ICHAEL W EINGARTEN

Mit der Herausforderung eines interdisziplinären und erst recht transdisziplinären, bisherige disziplinäre Grenzen aufsprengenden und überwindenden Denkens hat sich auch der alte anthropozentrische Blick auf das Tier verschoben. Der Titel Topos Tier spielt auf eine neue Wahrnehmung des Tiers als Ort und Produkt menschlicher Imagination und menschlichen Wissens an; eines Wissens, das Tiere nicht nur als Objekte menschlichen Tuns und wissenschaftlichen Wissens versteht, sondern dem es um die Tiere selbst, das Tier-Sein der Tiere geht. So wird aus der Tierkunde politische Zoologie, lassen sich neue, den kruden Naturalismus der klassischen Ethologie überwindende, soziale Verhaltens- und Klugheitslehren entwickeln, ergeben sich aus der Mechanik der Tierbewegungen Poetiken der Phantasie und des Tanzes, aus dem Klang der Tierlaute Formen des Gesangs. Als Agent menschlichen Wissens betrachtet lenken Tiere die Aufmerksamkeit dann auch auf diejenigen Probleme im Spannungsfeld von Wissen, Technik und Kultur, die sonst und üblicherweise im Dunkeln bleiben: die Verbrechen an Tieren im Dienst einer nur auf den Menschen und dessen Wohlergehen gerichteten Ökonomie sowie einer vermeintlichen Überlegenheit zweckrationaler, technisch-instrumenteller Vernunft. Als Gegenstand philosophischer und kulturwissenschaftlicher Forschung hat das Tier seit einigen Jahren Konjunktur. Dies gilt für die Germanistik, wo die Universität Würzburg im Forschungsprojekt Tiere. Theriotopien. Poetik und Politik der Tiere sowie in dem Nachwuchsforschernetzwerk Cultural and Literary Animal Studies (CLAS) zu Tieren arbeitet, wie auch für die zahlreichen diskursanalytischen und wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten von Julia Bodenberg, Benjamin Bühler, Stefan Rieger und vielen anderen. Das Sonderheft der Zeit-

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schrift für deutsche Philologie (Bd. 126) zum Thema Tiere, Texte, Spuren 2007 hat hier Signalwert.1 Jacques Derridas 1997 in Cerisy la Salle gehaltene Vortragsreihe L’animal donc je suis und das darauf folgende Buch2 gehören zu den schon kanonischen Tier-Texten, die die internationale Diskussion wesentlich mitgeprägt haben. 2006 veröffentlicht so Notre Librairie ein Themenheft zu Tieren in der frankophonen Literatur.3 Auch für die Anglistik spielen nach frühen Publikationen der 1980er Jahre Tiere in jüngster Zeit eine wesentliche Rolle, wie der Schwerpunkt „Animal Studies“ der PMLA 124.2 (2009) zeigt.4 Während die Germanistik stärker wissens- und wissenschaftsgeschichtliche Themen im Fokus hat, wie z.B. der Sammelband Tier – Experiment – Literatur 1880 – 2010,5 spielen Tiere u.a. im Feld postkolonialer Fragestellungen eine wichtige Rolle in der englischsprachigen Forschung. Graham Huggan und Helen Tiffin, beides renommierte postkoloniale Wissenschaftler, beschäftigen sich in Postcolonial Ecocriticism: Literature, Animals, Environment mit der Art der Darstellung von Tier-MenschBeziehungen in der englischsprachigen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Den Appell, das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt neu zu denken, formulieren Huggan und Tiffin so: […] postcolonial writers like Atwood and Smith […] perfectly understand the ecological dictum that human liberation will never be fully achieved without radically challenging the historical conditions under which human societies have constructed themselves in relation to other societies, both human and non-human […].6

Ein wesentlicher Text nicht nur für die englischsprachige Literaturwissenschaft sind die unter dem Titel The Lives of Animals 1997-98 an der Princeton Univer-

1

Eke, Norbert Otto/Geulen, Eva (Hg.), Tiere, Texte, Spuren. Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007).

2

Derrida, Jacques, L’animal donc je suis, Paris: Gallimard 2006.

3

Notre librarie, Revue des littératures du Sud 163 (Sept.-Dez. 2006) : Indispensables animaux. Daneben gibt es eine breite Forschung zu Völkerschauen und zur Entstehung des Zoos. Vgl. dazu den Beitrag von Julien Bondaz in diesem Buch.

4

PMLA 124.2 (2009). Die PMLA-Ausgabe widmet die Rubrik „Theories and Methodologies“ in dieser Ausgabe den „Animal Studies“.

5

Bongards, Roland/Pethes, Nicolas (Hg.), Tier – Experiment – Literatur 1880 – 2010, Würzburg: Königshausen und Neumann 2013.

6

Huggan, Graham/Tiffin, Helen, Postcolonial Ecocriticism. Literature, Animals, Environment, London: Routledge 2010, S. 214.

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sity gehaltenen Vorlesungen des südafrikanischen Autors und Nobelpreisträgers J.M. Coetzee. Die 1999 unter demselben Titel veröffentlichten Vorlesungen und deren Kommentierung durch Wissenschaftler aus Anthropologie, Literaturwissenschaft, Philosophie und Religionswissenschaft gehören zu den vielzitierten Beiträgen zur Diskussion. Coetzee lässt seine Hauptfigur, die Autorin Elizabeth Costello, am Appleton College in den USA einen öffentlichen Vortrag, ein Seminar und eine Debatte bestreiten, in denen sie sich den Fragen der Tierethik und der imaginativen Einfühlung in das einzelne Tier widmet. Die öffentlichen Auftritte Costellos werden durch eine Rahmenhandlung situiert, welche die Aussagen der Figur in ihrer Sprechsituation verankert. Die Handlung um Costello gliedert Coetzee in Princeton in zwei Vorlesungen. Die mit Fußnoten edierten Vorlesungen zeigen die wissenschaftliche Provenienz der diskutierten Positionen und weisen nach, dass sich Coetzee wie seine fiktive Autorin mit Tierethik befasst hat. So zitiert Coetzee/Costello Tom Regans und Peter Singers Animal Rights and Human Obligations (1976), das Great Ape Project (1993), Thomas Nagels Mortal Questions (1979) und Michael P.T. Leahys Against Liberation (1991).7 Coetzee lässt derart seine Figur Stellung nehmen zum Diskurs über das Tier. Doch ihre Position, die auf der Eigenwertigkeit des Tiers insistiert, wird von den anderen Figuren kritisiert. Innerhalb des 2003 veröffentlichten Romans Elizabeth Costello wird deutlich, dass Costellos Aussagen nicht von ihrer eigenen Situation als alternder Mensch, gebrechlich und schutzbedürftig, zu trennen sind. Wenn ihr die in Philosophie promovierte Schwiegertochter mangelnde Kohärenz der Argumentation vorwirft, geht dieser Vorwurf ins Leere. Costellos Sensibilität ist derart gesteigert, dass für sie die konventionelle Trennlinie zwischen Tier und Mensch verloren geht: It’s that I no longer know where I am. I seem to move around perfectly easily among people, to have perfectly normal relations with them. Is it possible, I ask myself, that all of them are participants in a crime of stupefying proportions? Am I fantasizing it all? I must be mad! Yet every day I see the evidences. The very people I suspect produce the evidence, exhibit it, offer it to me. Corpses. Fragments of corpses that they have bought for money.8

In der Überblendung von Literatur und Wissenschaft hinterfragt Coetzee derart sowohl das Verhältnis beider Disziplinen wie auch das Verhältnis von Aussa-

7

J.M. Coetzee, The Lives of Animals, hg. und eingeleitet von Amy Gutmann, Princeton, NJ: Princeton University Press 1999.

8

Coetzee, J.M., Elizabeth Costello, New York: Viking 2003, S. 114.

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gesituation und Ausgesagtem. Diese wechselseitige Reflexion der Diskurse macht Coetzees Text zum ergiebigen Forschungsgegenstand.9 Costellos mitleidendes Neudenken der Beziehung von Tier und Mensch setzt schließlich an die Stelle des rhetorischen Arguments, des Topos „Tier“, das den Menschen im Ausschluss definiert, die Relation des für sich ernstgenommenen Tieres zum Menschen. Es ist im Auge zu behalten, dass der Ausdruck Topos Tier in vielfältiger Weise problematisch, uneindeutig, gar widersprüchlich ist. Denn das Tier gibt es ebenso wenig wie die Pflanze und den Menschen. Wenn wir so reden, dann beziehen wir uns nicht nur auf eine typologisierende Tradition, die schon lange, genauer: seit Darwin und seiner Evolutionstheorie keine wissenschaftliche Grundlage mehr hat; sondern wir Menschen ziehen auch unüberwindliche ontologische Grenzen zwischen den so als absolut verschieden unterstellten Naturreichen; die klassischen philosophischen Anthropologien von Helmuth Plessner, Arnold Gehlen und Max Scheler sind in der deutschsprachigen Tradition immer noch prägend. Aber nicht nur das: So hat Hannah Arendt immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass der Gebrauch des Kollektiv-Singulars der Mensch nicht nur das Politische zerstört, sondern in und mit dieser Zerstörung des Politischen all die Totalitarismen mit ermöglicht hat, deren katastrophale Folgen wir im 20. Jahrhundert erleben mussten. Erst die Anerkennung der Pluralität und damit zunächst der Verschiedenheit der Menschen ermöglicht die Aushandlung gleicher Rechte zwischen den Menschen und die (nicht-essentialistische) Einführung der Rechte des Menschen. Ein solches von der Pluralität ausgehendes Denken muss auch im tierphilosophischen Kontext fruchtbar gemacht werden. Das Ausgehen von der Verschiedenheit und Pluralität zunächst der Menschen ermöglicht auch ein anderes Grenz-Regime zwischen Menschen und Tieren. Diese sind eben nicht mehr essentialistisch, von ihrem Wesen her voneinander getrennt, sondern beziehen sich abgrenzend aufeinander. Insofern fungiert der Ausdruck Topos Tier in unserem Reden immer doppeldeutig: Zum einen ist damit gemeint der Ort oder die Orte, die wir Menschen dem Tier oder den Tieren zuweisen, indem wir Lebendiges als Tiere bestimmen und von uns unterscheiden; zum zweiten ist gemeint der Ort des Tieres selbst, der Ort, den es besitzt (genitivus possessivus), den es einnimmt und für seine Lebensvollzüge braucht. Topos Tier also zunächst verstanden als Ort und Orte, die wir dem Tier und den Tieren zuweisen, wie wir sie mit solchen Zuweisungen als Reflexionsmittel

9

Jüngst erschienen ist Wright, Laura/Poyner, Jane/Boehmer, Elleke (Hg.), Approaches to Teaching Coetzee’s Disgrace and Other Works, New York, NY: Modern Language Association of America 2014.

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gebrauchen. Von dem Tier sprechen wir in aller Regel dann, wenn es um Grenzziehungen der Exklusion geht, um die Ausschließung von Lebewesen aus dem Bereich des Menschlichen; oder anders: hier geht es uns eben gar nicht um Tiere selbst, sondern um die Grenzziehung zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen. Dabei ist das Nicht-Menschliche häufig negativ konnotiert und dies wird deutlich in einer Inkonsistenz unserer Sprachpraktiken: Denn gleichsam selbstverständlich sprechen wir adjektivisch von menschlich (und pflanzlich), aber dann eben nicht von tierlich, sondern von tierisch. In dieser Hinsicht bringen wir von der Bewertung her Verschiedenes zum Ausdruck, je nachdem ob wir das Verhalten eines Menschen als tierisch oder tierlich bezeichnen. Sprechen wir von Tieren, dann wird in diesen Reden ein bestimmtes Tier als Allegorie oder Symbol für bestimmte positiv oder negativ bewertete menschliche Eigenschaften verwendet: Der Fuchs als Verkörperung der Schlauheit, der Löwe als Verkörperung des Mutes und der Stärke, die Schlange als Verkörperung der Heimtücke. Oder Ratten fungieren als Verkörperung der „Bedrohung der Gesundheit und Reinheit des Volkskörpers“, wobei in dem nazistischen Propaganda-Film Der ewige Jude (1940) durch die Überblendungen deutlich gemacht werden soll, dass Juden und Ratten in dieser Hinsicht der Bedrohung gleich zu setzen seien. Von (bestimmten) Tieren sprechen wir aber auch dann, wenn es um veränderte oder zu verändernde Grenzziehungen der Inklusion geht. So fragt die Tierrechtsdebatte ja danach, ob und inwiefern es möglich ist, Tiere als Inhaber von Rechten, gar als Inhaber von Menschenrechten zu verstehen. Genau genommen geht es dabei um die Klärung des Verhältnisses nicht zwischen Menschen und Tieren, sondern um die Klärung des Verhältnisses tierlicher Menschen (die Spezies des homo sapiens, der „dritte Schimpanse“) zu menschlichen Tieren (den Hominiden, den „Menschenaffen“). Aber jede (neue) Inklusion impliziert veränderte und neue Exklusionen, womit wiederum viele Anschlussprobleme verbunden sind. Wenn tierliche Menschen und menschliche Tiere Rechtssubjekte werden, dann werden oder bleiben nicht-menschliche Tiere weiterhin aus rechtlichen Regulativen ausgeschlossen. Und ist die neue Inklusionsgruppe der tierlichen Menschen (der dritte Schimpanse) und der menschlichen Tiere (Schimpanse und Bonobo) nicht nur plausibel dann, wenn man die Inklusion versteht in Hinsicht der Menschen-Ähnlichkeit von Schimpansen und Bonobos? Also als einen bloß modifizierten Anthropozentrismus? Schließlich: Erlaubt diese Inklusion nicht wiederum eine exkludierende Unterscheidung zwischen menschlichen Menschen (Menschen, die dem biologisch bestimmten Typus angehören und Personen sind bzw. werden können) und tierlichen Menschen (Menschen, die

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bloß Exemplare des biologischen bestimmten Typus angehören. Das ist ja die zentrale Unterscheidung in Peter Singers Konzeption)? Womit nicht wirklich etwas gewonnen wäre für eine Neubestimmung der Verhältnisse zwischen Menschen und Tieren. In allen diesen Fällen sind es Menschen, die über Inklusion und Exklusion Grenzen ziehen und Grenzregime ausbilden; viele ethische und moralphilosophische Entwürfe scheitern dann an dem nicht bewältigten Paternalismus, der mit dieser radikal asymmetrischen Praxis der Grenzbestimmung verbunden ist. Können wir daher den Ausdruck Topos Tier auch so rekonstruieren, dass er vom Tier aus verstanden wird? Also nicht wir den Tieren einen – vielleicht sogar nur irgendeinen – Ort zuweisen, sondern den Ort des Tieres oder die Orte der Tiere erkennen und um diese Orte wissen? Genau dies versuchten über die Jahrhunderte Ordnungssysteme wie die „große Kette alles Seienden“, in denen allem Seienden ein invarianter, nur diesem bestimmten Seienden zukommender „natürlicher“ Ort zugesprochen wurde: Unter der Prämisse, dass es keine leeren Orte geben könne und dürfe, soll alles Seiende in Form einer Kette oder einer Stufenleiter miteinander kontinuierlich verknüpft sein. Wenn wir von den schöpfungstheologischen Begründungen dieser Ordnungssysteme einmal absehen, dann bleiben immer noch mindestens drei gravierende Mängel: • Der Mensch wird als das höchste Lebewesen oder die Krone der Schöpfung

verstanden, zumindest was die irdische Ordnung betrifft. Dies hält sich durch bis in die Stammbaum-Vorstellungen in der Tradition eines Ernst Haeckel. • Diese Ordnungssysteme schließen Evolution aus: Weder kann Seiendes ver-

schwinden (aussterben), noch sich ändern, noch neues Seiendes natürlich entstehen. • Schließlich haben die von Menschen gezüchteten Tiere (und Pflanzen) keinen

Platz in diesen Ordnungssystemen. Haustiere haben – ebenso wie Nutz- und Zierpflanzen – keinen natürlichen Ort und sie müssen durch die Menschen reproduziert (im Sinne der Erhaltung) werden. Von einem Ort, den das Tier oder die Tiere an sich (reine Eigentlichkeit) haben, können wir offensichtlich nicht begrifflich konsistent reden. Aber auch die rein uneigentliche Rede, in der wir nur aus unserer Perspektive über Tieren sprechen, ihnen nur in unseren, von uns Menschen ausgehenden und auf uns Menschen bezogenen Ordnungssystemen einen Platz zuweisen, ist und bleibt unbefriedigend. Terminologisch bleibt aber eine Orientierung „mittlerer Eigentlichkeit“, die die

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Vielfalt der Verhältnisse zwischen Menschen und Tieren in den Blick nimmt.10 Walter Benjamin hat dazu, wenn auch in einem etwas anderen Problemzusammenhang, einen hilfreichen Vorschlag gemacht: Naturbeherrschung, so lehren die Imperialisten, ist Sinn aller Technik. Wer möchte aber einem Prügelmeister trauen, der Beherrschung der Kinder durch die Erwachsenen für den Sinn der Erziehung erklären würde? Ist nicht Erziehung vor allem die unerläßliche Ordnung des Verhältnisses zwischen den Generationen und also, wenn man von Beherrschung reden will, Beherrschung der Generationsverhältnisse und nicht der Kinder? Und so auch Technik nicht Naturbeherrschung: Beherrschung vom Verhältnis von Natur und Menschheit. Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrtausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang. Ihr organisiert in der Technik sich eine Physis, in welcher ihr Kontakt mit dem Kosmos sich neu und anders bildet als in Völkern und Familien.11

Dabei ist der Ausdruck „Verhältnis“ präzise zu verstehen als „gegenständliches Verhältnis“. Dadurch wird deutlich, dass „Natur“, in unserem Zusammenhang „Tiere“, nicht einfach passive und dingliche Objekte sind, über die wir beliebig verfügen (herrschen) könnten. Sondern sie stehen unserem Tun an ihnen entgegen, spiegeln unsere Wirkung auf sie als Wirkung auf uns zurück. In dieser von den Tieren ausgehenden Wirkung auf uns erfahren wir nicht nur etwas über uns selbst, sondern es ist nun sinnvoll möglich zu sagen, dass vermittelst dieser

10 Vgl. hierzu König, Josef, Der logische Unterschied theoretischer und praktischer Sätze und seine philosophische Bedeutung, Freiburg/München: Alber 1994. Die begrifflichen Möglichkeiten einer anderen Rede von „Tier“ und „Tieren“, die König hier wie auch in vielen seiner anderen Schriften in kritischer Auseinandersetzung mit Plessners philosophischer Anthropologie entwickelt, sind noch kaum ausgeschöpft. Vgl. weiter Misch, Georg, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, Freiburg-München: Alber 1994. Sowohl König als auch Misch kritisieren bloß erkenntnistheoretische Ansätze in der Philosophie und reformulieren die der Erkenntnistheorie zu Grunde liegenden Probleme als wissenstheoretische. Dabei unterscheiden sie nicht nur ein Wissen, dass... von einem Wissen wie…, sondern diese Unterscheidung ist eingebettet in ein Wissen, um…, bspw. ein Wissen um uns als immer schon in Verhältnissen Stehende. 11 Benjamin, Walter, Einbahnstrasse, Werke und Nachlass Bd. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 76.

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(Rück-)Wirkung wir etwas über die Tiere selbst (aber nicht: über Tiere an sich) erfahren.12 Zugleich aber wird noch etwas anderes deutlich. Das seit einigen Jahren stark zunehmende Interesse an Tier-Studien verweist auf die andere Seite, von der Menschen sich abgegrenzt haben und heute wiederum verstärkt abgrenzen, weil auch von dieser Seite herkömmliche Selbstverständnisse der Menschen unter Druck geraten sind. Gemeint ist die durch Gentechnik einerseits und Robotik andererseits möglich gewordene und als Bedrohung wahrgenommene Perspektive der technischen Herstellung menschenähnlicher und vielleicht vom Menschen irgendwann nicht mehr unterscheidbarer Entitäten – nicht nur im HollywoodKino wird dies seit dem Film Blade Runner (1982) oder den vielen Variationen des Frankenstein-Motivs immer wieder thematisiert, sondern auch in den Ideologien des Post- und Transhumanismus. Nun hat sich fast schon eingebürgert, von der „gesellschaftlichen Natur von Tier-Mensch-Verhältnissen“ zu sprechen,13 durchaus vergleichbar der Entwicklung im Problemzusammenhang der Umweltforschung, in dem von „gesellschaftlichen Naturverhältnissen“ als dem Forschungsgegenstand gesprochen wird. Trotzdem aber stehen von moralphilosophischen und ethischen Fragen ausgehende Studien noch weitgehend unverbunden neben Untersuchungen, die von politischen, sozialen oder kulturellen Problemen ausgehen. Was könnte also der Focus sein, in dem alle diese Untersuchungen zusammenlaufen, ohne dabei die Vielfalt von Tier-Mensch-Verhältnissen zu reduzieren? Vielleicht – zumindest möchten wir dies hier als Vorschlag unterbreiten – könnten perspektivisch die vielen Detailstudien zusammengeführt werden in dem Versuch der Bestimmung einer Lebensform, die nicht mehr auf Dualismen wie Natur – Kultur, Mensch – Tier usw. aufbaut, sondern Natürliches, sowohl menschlich Natürliches (die Natur, die wir selbst sind) als auch tierlich und pflanzlich Natürliches, als notwendiges Bestimmungsmoment einer guten und gerechten Lebensform begreift. Zumindest bietet die gegenwärtig in der Philosophie stattfindende Le-

12 Vgl. zur der Rekonstruktion der Spiegelmetapher einführend Holz, Hans Heinz, Widerspiegelung, Bielefeld: transcript Verlag 2003; Weingarten, Michael, Die ausnehmende Besonderheit des Spiegelbildes. Bemerkungen zu einer Metapher im Anschluss an König und Leibniz, in: Blasche, Siegfried/ Gutmann, Mathias/Weingarten, Michael (Hg.), Repräsentatio Mundi, Bielefeld: transcript 2004, S. 97-108; sowie ders., Wahrnehmen, Bielefeld: transcript 2003. 13 Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.), Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld: transcript 2011.

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bensform-Debatte hierzu eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten.14 Mit der Entwicklung einer solchen modernen Konzeption von Lebensform(en) wird es dann möglich sein, die Dominanz von Moralphilosophien und Ethiken, insbesondere der sogenannten „angewandten Ethiken“, zu brechen und die Frage nach der Ausgestaltung der gesellschaftlichen Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht zu entwickeln.15 Und das bedeutet die Frage nach den Mensch-Tier-Verhältnissen als politische Fragen zu begreifen.16 Aber um diesen (möglichen) Zielpunkt wirklich ins Auge fassen zu können, bedarf es sicherlich noch vieler Detail-Studien. Und solche bietet auch das vorliegende Buch. Nahezu alles, was wir heute als alltägliches Wissen von Tieren haben, ist geprägt durch wissenschaftliches Wissen. Und dieses wissenschaftliche Wissen ist im Experiment, im Labor erzeugtes Wissen. Dabei fungieren Tiere sowohl als Objekte, an denen Menschen experimentieren (dürfen), als auch als Substitute für den Menschen. Das so über das Experimentalobjekt Tier erzeugte Wissen – dies die historisch reichhaltig belegte These von Benjamin Bühler – soll das Wissen über den Menschen, auch und gerade bezüglich seiner Verschiedenheit vom Tier, bereichern, nicht aber ein Wissen über Tiere selbst ermöglichen. Tiere werden im Experiment nicht einfach nur gebraucht, sondern in aller Regel verbraucht. Dagegen wurde von theologischer Seite immer schon die These der Mitgeschöpflichkeit der Tiere gesetzt. Insofern Menschen und Tiere Kreaturen, Schöpfungen Gottes, sind, kann nicht nur dem Menschen Würde zukommen, sondern auch den Tieren. Christlich-theologische Begründungen17 für die Würde der Tiere arbeitet Heike Barantzke ausgehend von Formulierungen im Alten Testament bis hin zu Karl Barth und Albert Schweitzer aus. Innerhalb des mit dem Topos Tier umfassten Bereiches kommt den Affen, insbesondere den Menschenaffen, eine herausgehobene Bedeutung zu. Zum einen wurden sie als monströs erfahren eben wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem

14 Vgl. Jaeggi, Rahel, Kritik von Lebensformen, Berlin: Suhrkamp 2014. 15 Vgl. Nussbaum, Martha C., Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2006; Donaldson, Sue & Kymlicka, Will, Zoopolis. A Political Theory of Animal Rights, Oxford: Oxford University Press 2011. 16 Zu einer grundsätzlichen Kritik an Ethiken vgl. Badiou, Alain, Ethik: Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien: Turia + Kant 2003. 17 Die Bedeutung von Tieren innerhalb der jüdischen Religion herauszuarbeiten erfordert eine eigene Untersuchung. Es sei hier nur verwiesen auf das Buch von Michael Landmann, Das Tier in der jüdischen Weisung, Heidelberg: Lambert Schneider 1959.

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Menschen. Diese Ähnlichkeit führt zugleich ein erschreckendes Zerrbild des Menschen vor auf Grund der unterstellten Aggressivität und überhaupt ungezügelten Affektualität der Menschenaffen. Hans Werner Ingensiep rekonstruiert die Darstellungsgeschichte der Menschenaffen und führt zugleich den Wandel dieses Bildes vor, hin zu einem Verständnis von Menschenaffen als Personen. Aber die unterstellte ungezügelte Affektualität und Triebhaftigkeit der Menschenaffen hat auch eine immense politische Bedeutung. So postuliert der liberale Diskurs die Notwendigkeit der Unterdrückung der Körperlichkeit, somit der Affektualität der Menschen, damit ein Zusammenleben von Menschen ermöglicht wird. Ausgehend von Robert Louis Stevensons Erzählung Dr. Jekyll und Mr. Hyde problematisiert Michael Weingarten dieses den Liberalismus mitkonstituierende Modell, um diesem als Alternative das tugendethische Modell der klugen Affektregulation mit seinen ganz anderen politischen Implikationen entgegenzusetzen. Die Jagd auf Tiere löst gerade heute immer wieder heftige Kontroversen aus. An dem historischen Beispiel von Johann Elias Ridinger und dessen Kupferstichen arbeitet Ellen Spickernagel das komplexe und widersprüchliche Verhältnis von Jagdlust und Darstellungsfreude der göttlichen Schöpfung, Gewaltausbruch und dessen Disziplinierung aus. Dabei skizziert sie auch den Blick- und Einstellungswandel bezüglich des Ideals der Natürlichkeit von der feudalen zur bürgerlichen Kultur. Ein ganz anderes, aber heute im Zentrum vielfältiger Forschungen stehendes Ideal von Natürlichkeit thematisiert Andreas Schlüter: die tropischen Regenwälder als Zentren der Artenvielfalt. Dabei hebt er nicht nur die ökologische und klimatische Bedeutung der Regenwälder hervor, sondern verweist auch darauf, dass diese Wälder von den dort lebenden Menschen genutzt werden, ohne sie zu zerstören; dies zumindest, solange nicht ökonomische Interessen absolut gesetzt werden. Zoos beanspruchen traditionellerweise Tiere in ihren typischen Umwelten zu präsentieren bzw. umgekehrt typische Tiere in bestimmten Umwelten. In diesen Präsentationsformen ist die ganze Kolonialgeschichte enthalten. Dies gilt nicht nur für die Zoos der (ehemaligen) Kolonialmächte, sondern ebenso für Zoos in beispielsweise Afrika. Wie kann dieser koloniale Blick mit seinen politischen Bedeutungen überwunden werden? Dieser Frage widmet sich Julien Bondaz. Eine Möglichkeit, zu einer postkolonialen Perspektive zu kommen, besteht in der Auflösung und Neuorganisation eines wesentlichen Symbol-Komplexes: nämlich der Verknüpfung von der Macht der Tiere und der Macht der Menschen. Das bedeutet, Tiere wie den Löwen nicht mehr nur als Metapher für die Macht des Herrschers zu präsentieren, sondern nach der Rolle zu fragen, die Tiere in menschlichen Kollektiven spielen können. Annette Bühler-Dietrich greift diese symbol- und metapherntheoretische Problematik auf und untersucht, wie Tiere

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und Tiermetaphern in postkolonialen frankophonen Romanen fungieren. Dabei müssen zunächst Zuschreibungen wie jemand sei ein Hund als Metaphern mit ihrem jeweiligen semantischen Horizont (wie etwa sexuellen Konnotationen) bewusst gemacht werden, um sie dann umcodieren zu können. Auf die Frage nach einem Tier als Begleiter des Menschen wird wohl in aller Regel als erstes geantwortet werden: Dies sei der Hund. Und in genau dieser Hinsicht fungiert der Hund in der Literatur und im Film. Am Beispiel Monika Marons zeigt Dorothee Römhild zunächst, in wie vielfältiger Weise Tiere als Topoi von Maron verwendet werden; sei es, dass erzählte Personen sich als Tiere imaginieren oder sei es, dass Tiere helfen Krisensituationen zu bewältigen. Dabei vermischen sich autobiographische und erzählerische Aspekte so, dass die Motivkette des Animalischen, und hier insbesondere des Hundes, zum Medium menschlicher Selbstvergewisserung wird. Aber auch in den apokalyptischen Erzählungen und Filmen des Untergangs der Menschheit ist es in der Regel ein Hund, der den „letzten Menschen“ begleitet. Diesem Motiv spürt Manfred Schneider ausgehend von Mary Shelleys Roman The last man bis zum Blockbuster-Kino nach. Woher aber kommt diese Bedeutung und Wertschätzung des Hundes? Anhand von Abbildungstraditionen, die bis in das 14. Jahrhundert zurückreichen, kann er belegen, dass Hunden ikonographisch nicht nur die Bedeutung der Treue zugesprochen wurde, sondern sie auch als Zeugen, Beglaubigungsinstanz, Schreiber und Verkörperungen des unbestechlichen Scharfsinns und der Logik fungieren. In einem Parforce-Ritt durch fast alle ästhetischen Medien greift Hamed Taheri die den anthropologischen Diskurs lange Zeit beherrschende Formel an, der Mensch sei ein Tier mit zusätzlichen umstrittenen Eigenschaften. Der Doppelbewegung der „Humanisierung des Tieres“ und der „Animalisierung des Menschen“ als dem Funktionsprinzip des biopolitischen Apparates, in dem wir leben, setzt er die Stimme entgegen. Im Nachdenken über die Stimme, das die Mauern zwischen Mensch, Sprache und Tier zum Einsturz bringen könnte, sind wir noch im Anfang. Und mehr als einen solchen Anfang zu markieren beanspruchen die Fallstudien dieses Bandes auch nicht.

ZU

DEM VORLIEGENDEN

B UCH

Alle Beiträge zu diesem Band – mit Ausnahme der Texte von Dorothee Römhild, Ellen Spickernagel und Michael Weingarten – gehen zurück auf eine von Annette Bühler-Dietrich und Barbara Potthast konzipierte und organisierte Ringvorlesung des Instituts für Literaturwissenschaft und des Internationalen

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Zentrums für Kultur- und Technikforschung (IZKT), beide an der Universität Stuttgart, im Wintersemester 2010/2011; kooperativ beteiligt waren die Akademie Schloss Solitude, das Staatliche Museum für Naturkunde sowie die Wilhelma, alle in Stuttgart. Unterstützt und finanziert wurde die Ringvorlesung durch das IZKT und die Abteilung Neuere Deutsche Literatur, durch die Akademie Schloss Solitude, die DVA-Stiftung, das Institut Français de Stuttgart, die Sparkassen Finanzgruppe und die Firma DUNGS Combustion Controls. Die Firma KerlerKommunikation brachte das Design von Plakat und Flyer in das Projekt ein. Ihnen allen danken wir für dieses Engagement. Barbara Potthast hat die Ringvorlesung mitkonzipiert und mitgestaltet und die ersten Schritte der Publikation begleitet, auch ihr sei dafür gedankt. Unser ganz besonderer Dank gilt schließlich Ruwen Stricker für die technische Unterstützung sowie für die Bildbearbeitung.

Experimentalobjekte. Tiere als Figuren anthropologischen Wissens B ENJAMIN B ÜHLER

Wegen der konstitutiven und keineswegs komplikationslosen Unterscheidung von Tier und Mensch lässt sich die Geschichte des Menschen auch als eine Geschichte des Tieres lesen, das heißt: als Geschichte der Operationen, die die Unterscheidung von Tier und Mensch herstellen und in denen gleichwohl das Tier als das ausgeschlossene Element auf der Seite des Menschen wiederkehrt. Die Grenze zwischen Tier und Mensch ist dabei nicht eine einfache singuläre Linie, weshalb es nicht ausreicht, alleine die Kriterien aufzulisten, durch welche der Mensch vom Tier unterschieden wird und welche möglicherweise im Laufe der Geschichte ihre Gültigkeit verlieren – weil Tiere eben doch über Sprachen verfügen, doch denken, lügen und täuschen. Zu untersuchen ist vielmehr der durch den Unterschied von Tier und Mensch aufgespannte Grenzraum, innerhalb dessen die Unterscheidung Tier/Mensch mit all ihren Grenzfiguren allererst hergestellt wird, wie es Jacques Derrida mit seinem Begriff „limitrophy“ vorgeschlagen hat.1

1

„Limitrophy is therefore my subject. Not just because it will concern what sprouts or grows at the limit, around the limit, by maintaining the limit, but also what feeds the limit, generates it, raises it, and complicates it. Whatever I will say is designed, certainly not to efface the limit, but to multiply its figures, to complicate, thicken, delinearize, fold, and divide the line precisely by making it increase and multiply.“ Derrida, Jacques, „The Animal That Therefore I Am (More to Follow)“, in: Critical Inquiry 28, Winter (2002), S. 369-418, Zitat: S. 397f. (zuerst erschienen unter dem Titel: „L’animal que donc je suis (à suivre)“, in Mallet, Marie-Louise (Hg.), L’Animal autobiographique. Autour de Jacques Derrida, Paris: éditions Galilée 1999, S. 251-301).

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Die Wiederkehr des Tiers auf der privilegierten Seite der Unterscheidung erfolgt dabei zunächst auf einer technischen Ebene, wenn etwa Praktiken aus dem Tierbereich auf den menschlichen Bereich übertragen werden. Und auf der epistemischen Ebene kehrt das Tier insofern wieder, als dass ein bestimmtes Wissen vom Menschen alleine über den Umweg über das Tier gewonnen werden kann. So werden Tiere in Experimentalsystemen zu Objekten des Wissens und fungieren dabei als Substitute des Menschen, wie im Folgenden zunächst an der Geschichte von Tieren als Experimentalobjekten2 und dann am Beispiel der Experimentalisierung des Verhaltens um 1900 aufgezeigt werden soll.

S UBSTITUTE

IN DER

A NATOMIE

Wer etwas über den Menschen, seine Anatomie, seine Physiologie oder Pathologie erfahren will, muss den Menschen selbst zum Objekt der Untersuchung machen, und zwar am besten den lebenden Menschen. Ganz in diesem Sinne handelten die beiden griechischen Ärzte Herophilus und Erasistratus im 3. Jh v. Z. Von beiden sind zwar keine vollständigen Schriften erhalten, dennoch wurden sie bis in das 20. Jahrhundert zitiert als Autoritäten in Sachen Vivisektion. Über ihr Vorgehen schreibt der römische Gelehrte Aulus Cornelius Celsus, die Position von Vertretern einer theoretischen Medizin wiedergebend: Wenn […] in den inneren Teilen des Körpers Schmerzen und verschiedene Arten von Krankheiten entständen, so könne (ihrer Meinung nach) niemand auf Teile, die ihm selbst unbekannt sind, die richtigen Mittel anwenden; deshalb sei es notwendig, tote Körper zu öffnen und deren Inneres zu untersuchen. Ganz vorzüglich hatten daher H e r o p h i l u s und E r a s i s t r a t u s gehandelt, indem sie Verbrecher, welche sie von den Königen aus den Gefängnissen empfingen, l e b e n d öffneten und so, während sogar das Atmen noch fortbestand, die Teile betrachteten, welche die Natur vorher dem Auge entzogen hatte […].3

2

Einen historischen Überblick hierzu bieten z.B. Guerrini, Anita, Experimenting with Humans and Animals. From Galen to Animal Rights, Baltimore: John Hopkins University Press 2003; Maehle, Andreas-Holger, Kritik und Verteidigung des Tierversuchs. Die Anfänge der Diskussion im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1992; Bongards, Roland/Pethes, Nicolas (Hg.), Tier – Experiment – Literatur 1880-2010, Würzburg: Königshausen und Neumann 2013.

3

Celsus, Aulus Cornelius, Über die Arzneiwissenschaft in acht Büchern, Hildesheim: Olms 1967, S. 24.

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Moral spielt hier keine Rolle. Nach Celsus sei es nicht, wie viele meinten, grausam, wenn man durch Aufopferung von noch dazu wenigen Verbrechern für die rechtschaffenden Menschen aller Jahrhunderte Heilmittel zu erforschen strebe. Allerdings führt Celsus auch die Gegenposition an: So würden Ärzte die Sektionen bei lebendigem Leib ausdrücklich als überflüssig und grausam verdammen. Auch diese Ärzte führen kein moralisches, sondern ein wissenschaftliches Argument an. Denn wenn ein Körper aufgeschnitten werde, würden durch Furcht und Schmerz der aufgeschnittenen Menschen sowie durch das Schneiden und die zugefügten Wunden die inneren Teile derartig geschädigt, dass die Erkenntnisse nur falsch sein könnten. Nichts seit törichter, so beschreibt Celsus diese Position, als der Wahn, im lebenden Körper seien die Teile ebenso beschaffen wie im sterbenden oder gar toten Körper. Ist daher schon die Sektion des lebenden und/oder toten menschlichen Körpers problematisch, weil jeder Eingriff das verändert, was beobachtet werden soll, steigern sich die Schwierigkeiten dann, wenn Menschen weder bei lebendigem noch bei totem Leib aufgeschnitten werden dürfen, womit der römische Arzt Galen konfrontiert war. Die Sektion menschlicher Körper war generell in Rom zur Lebenszeit Galens verboten. Anschaulich beschreibt der Anatom Rufus von Ephesus aus dem 2. Jh. diese Situation, der während einer Sektion seinen Zuschauern zugerufen haben soll: Listen then, and look at this slave, and you shall commit to memory first what is superficially visible. Next I will try to teach you what the interior parts are to be called by dissecting some animal which is most like a human being. For, even if they are not alike in every respect, still there is nothing to prevent one from demonstrating at least the essentials of every part. In the old days these matters were demonstrated in a more noble fashion, on the human subject.4

Da man nicht mehr wie Herophilus und Erasistratos Menschen bei lebendigem Leib aufschneiden durfte, sondern Menschen (bzw. Sklaven) nur als Beobachtungsobjekte zur Verfügung standen, ging der Anatom zu den Tieren über. Dieses Vorgehen hat Galen auch theoretisch gefasst, indem er die für die Sektion verwendeten Tiere nach dem Kriterium ihrer Ähnlichkeit mit dem Menschen betrachtete: An erster Stelle stehen die Affen, allen voran die dem Menschen ähnlichsten Affen, danach folgen alle die, denen man den Namen „Tier“ geben kön-

4

Zit nach: May, Margaret T., „Introduction“, in: Galen, On the Usefulness of the Parts of the body [De usu partium], hg. und übers. von Margaret T. May, Ithaca/New York: Cornell University Press 1968, S. 24.

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ne: „Of these first all that form the ape-like class, and after these bears, and then next the carnivores, then mice and theirs kind, and then the so-called ‚wholehooved‘ animals, and sixthly, the ruminants.“5 Galen selbst sezierte vor allem Affen, aber durchaus auch Schweine und mindestens einen Elefanten. Zwar durfte er keine Menschen sezieren, doch menschliche Skelette standen ihm zur Verfügung, beispielsweise aufgefundene, von Aasfressern bis auf die Knochen abgenagte Leichen. Galen schrieb also durchaus, dass er hauptsächlich durch Affen sein Wissen über Anatomie gewann, der Übertragungsproblematik widmete er sich in seinem Werk De Anatomicis Administrationibus. Dagegen war in seinem großen Werk über die Anatomie und Physiologie des Menschen De usu partium diese Genealogie nicht mehr sichtbar. Dieses Buch aber wurde zu einer der zentralen Quellen der frühneuzeitlichen Medizin. Dass Galen die menschliche Anatomie aus der Übertragung von Sektionen an Tieren entwickelte, blieb unter anderem deshalb weitgehend verborgen, weil die Forscher ihr Wissen vor allem aus der Lektüre seiner (und anderer) Werke gewannen, selbst aber keine oder zumindest keine systematischen Sektionen vornahmen. Dies sollte sich erst im 16. Jahrhundert ändern, wegweisend für die neue, auf Erfahrung gegründete Anatomie wurde das Werk De humani corporis fabrica aus dem Jahr 1543 des italienischen Anatomen Andreas Vesalius. So zeigt das Titelbild des Buches nicht nur, wie Vesalius vor Publikum eine menschliche Leiche seziert, sondern auch, dass bereits ein Hund und ein Affe für ihre Sektion bereitstehen (Abb. 1). Sämtliche Schriften, die er gelesen habe, so Vesalius in der Vorrede zu seinem Werk, bezögen ihr Wissen über die Anatomie des Menschen aus Galens Werken, welche sie für völlig fehlerfrei hielten. Nun wisse man aber, dass Galen niemals selbst einen menschlichen Körper seziert habe, sondern, bis auf wenige Ausnahmen, den Bau des menschlichen Körpers aus der Sektion von Affen abgeleitet habe und dabei die Differenz zwischen den Organen von Affen und Mensch mehrmals missachtet habe. Der Wandel der frühneuzeitlichen Anatomie resultiert damit aus einer doppelten Wendung: Erstens sollen die Forscher nicht mehr nur Bücher lesen, sondern selbst Körper aufschneiden. Und zweitens müsse man Menschen sezieren, denn Übertragungen vom Tier auf den Menschen führten zu falschen Schlüssen. Dabei war auch im 16. Jahrhundert der Bezug von Leichen nicht einfach: Vesalius bezog seine Leichen von Hinrichtungen, und angeblich soll er seine Studenten angewiesen haben, des Nachts Leichen aus Gräbern zu stehlen. Zum Teil

5

Galen, On Anatomical Procedures [De Anatomicis Administrationibus], hg. und übers. von Charles Singer, London u.a. 1956, S. 153.

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zeigt sich die Herkunft der Untersuchungsobjekte noch in den Abbildungen (Abb. 2).

Abb. 1: Andreas Vesalius, Suorum de humani corporis fabrica librorum epitome, Basileae 1543. Quelle: Andreas Vesalius, Suorum de humani corporis fabrica librorum epitome, Basileae 1543: Wellcome Library, Lon-

Abb. 2: An einem Galgenstrick hängendes Skelett nach Andreas Vesalius, Suorum de humani corporis fabrica librorum epitome, Basileae 1543, S. 190. Quelle: Wie Abb. 1

don, L0046304, http://wellcomeimages.org/ (Datum des letzten Zugriffs: 05.06.2014).

S UBSTITUTE

IN DER FRÜHNEUZEITLICHEN

P HYSIOLOGIE

Der Frage nach dem Untersuchungsobjekt kam somit eine zentrale Bedeutung zu. Dabei verschärfte sich die Situation für die Forscher dadurch, dass zwar die Anatomie auf Leichen rekurrieren konnte, sobald sich aber das Interesse auf die

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Funktionen von Körperteilen, zum Beispiel die Funktion der Blutgefäße richtete, stand man wieder vor demselben Problem. Denn auch wenn man menschliche Leichen aufschneiden konnte, Experimente am lebenden Menschen unterlagen einem Tabu. So verurteilte etwa der zu Beginn des 17. Jahrhunderts berühmte französische Anatom Jean Riolan ausdrücklich die Menschenvivisektionen von Herophilus und Erasistratos und verdächtigte sogar Vesalius, solche Versuche vorgenommen zu haben. Tierversuche jedoch akzeptierte Riolan. In seinem Werk Schola anatomica (1608) schrieb er: „Es ist besser, nach dem Beispiel Galens die Vivisektion an Tieren durchzuführen, an denen man dasselbe wie am lebenden Menschen feststellen und beobachten kann.“6 Die Möglichkeit, Tiere bei lebendigem Leib aufzuschneiden und dann auch Experimente an ihnen durchzuführen, wurde solchermaßen zum Forschungsprogramm der Lebenswissenschaften: Francis Bacon erkannte in seiner Wissenschaftsutopie Nova Atlantis (1627) in den Tieren bedeutende Versuchsobjekte: In dem als Paradigma einer zukünftigen Wissenschaft stehenden Haus Salomons‘ führt man an Tieren Sektionen und chirurgische Verfahren durch, um Aufklärung über den menschlichen Körper zu erhalten, Versuche mit Giften sollen den menschlichen Körper widerstandsfähiger machen, und die Kreuzung verschiedener Tiere solle vollkommen neue Arten hervorbringen. In Bacons Vision wird das Tier zum allzeit verfügbaren Versuchsobjekt, als welches es nicht zuletzt die Erkenntnis des Menschen selbst ermöglicht. Praktisch umgesetzt findet sich dieses Programm dann bei William Harvey, der mit seinen Untersuchungen über den Blutkreislauf der Physiologie als Experimentalwissenschaft den Weg wies: When I first gave my mind to vivisections, as a means of discovering the motions and uses of the heart, and sought to discover these from actual inspection, and not from the writings of others, I found the task so truly arduous, so full of difficulties, that I was almost tempted to think […] that the motion of the heart was only to be comprehended by God. 7

Wie Harvey dann aber zeigt, kann der Forscher durch Ausdauer und eine möglichst große Anzahl von Vivisektionen und Beobachtungen an einer möglichst großen Vielfalt von Tieren die Perspektive Gottes einnehmen und die Bewegungen des Blutes und des Herzens beschreiben: Harveys streng experimentelles

6

Zit. nach: Maehle, Kritik und Verteidigung des Tierversuchs, (Anm. 2), S. 72.

7

Harvey, William, „An anatomical disquisition on the motion of the heart and blood in animals”, in: The Works of William Harvey, übers. von Robert Willis, mit einer Einl. von Arthur C. Guyton, Philadelphia 1989, S. 1-86, Zitat: S. 19.

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Vorgehen sollte zum Paradigma der experimentalwissenschaftlichen Ausrichtung der Lebenswissenschaften werden.8 Dabei blieb die Antike als Argumentationsfolie auch weiterhin erhalten, wie Robert Boyles Ausführungen zu Tieren als Experimentalobjekten, in denen die Namen der beiden griechischen Ärzte einmal mehr eine nicht zu überschreitende Linie markieren, zeigen: […] the experience of our own age may suffice to manifest, what light the anatomical doctrine of man’s body may receive from experiments made on other subjects. For since it were too barbarous, and too great a violation of the laws, not only of divinity but humanity, to dissect human bodies alive, as did Herophilus and Erasistratus, who […] obtained of kings the bodies of malefactors for that purpose, and scrupled not to destroy man to know him; and since nevertheless, divers things in anatomy, as particular the motion of the blood and chyle cannot be discovered in a dead dissected body […] that may be seen in one opened alive; it must be very advantageous to a physician’s anatomical knowledge, to see the dissections of dogs, swine, and other living creatures, made by an inquisitive naturalist.9

Boyles Beispiele lesen sich wie ein Katalog der zeitgenössischen Forschungen und beleuchten die Frage, wie gerade die Beobachtungen an Tieren gängige Positionen zur Revision zwingen oder in Frage stellen. So überlebten Hühner oder Schildkröten die Entfernung des Kopfes, woraus folge, dass die Doktrin der Notwendigkeit eines unaufhörlichen Einflusses des Gehirns auf den Körper überdacht werden müsse. Die Regeneration von Körpergliedern nach deren gewaltsamer Entfernung bei Eidechsen oder Krebsen stelle die Lehrmeinung in Frage, dass der Verlust solcher Glieder irreparabel sei. Experimente könnten aber auch Lehrmeinungen bestätigen. So stellte Boyle selbst Versuche zur Ver-

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Harvey vergleicht die Embryonen verschiedener Tiere mit denen des Menschen und stellt fest, dass die Abläufe bei gewissen tierischen und menschlichen Embryonen gleich seien. Überhaupt führen ihn seine Vivisektionen durch das gesamte Tierreich, Schritt für Schritt, von den Zoophyten, die kein Herz haben bzw. deren ganzer Körper als solches fungiert, über Insekten, blutlose und kalte Tiere, wie Fische, Frösche oder Schlangen, und blutführende warme Tiere, vorzugsweise Hunde und Schweine, gelangt Harvey zum Menschen, womit sich der Kreis schließt: Um den Blutkreislauf des Menschen zu erforschen, muss ein Umweg gegangen werden, der selbst über Tiere ohne Blut und Tiere ohne Lungen reicht.

9

Boyle, Robert, „Of the Usefulness of Natural Philosophy, Part. II. Sect. I: Of its Usefulness to Physick“, in: Ders., The Works, Bd. 2, hg. von Thomas Birch, Hildesheim: Olms 1966, S. 67.

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dauung an, um die allgemein verbreitete Ansicht zu bestätigen, Fleisch werde im Magen durch eine Art Säure aufgelöst. Da Menschenversuche aus moralischen und rechtlichen Gründen nicht annehmbar sind, schaffen die Tiere Abhilfe, wie Bacons Wissenschaftsutopie, Harveys Entdeckung des Blutkreislaufes oder Boyles Rechtfertigung von Vivisektionen vorführen. Wenn Tiere zu Experimentalobjekten gemacht werden, um Wissen über den Menschen zu generieren, so ist anthropologisches Wissen in einem zwischen Tier und Mensch eröffneten Raum zu verorten. Die Experimentalwissenschaften erzeugen eine Figur des Menschen, die das Resultat von Übertragungen ist.

L EBENDE K ÖRPER In seinem Buch Introduction à l'étude de la médicine experimentale (1865) schreibt Claude Bernard, einer der Begründer der Physiologie als Experimentalwissenschaft, die Leiche sei der seiner „vitalen Bewegungen beraubte Organismus“, weshalb sich die Physiologie mit dem lebenden Körper beschäftigen müsse. Nur über das Tierexperiment sei die Frage, was der Mensch für ein Lebewesen ist, zu beantworten. Zugleich bestimmt aber das Versuchsobjekt Tier die Grenzen der experimentellen Methode,10 denn der Physiologe und der Arzt dürften nie vergessen, dass „ein Lebewesen einen Organismus und ein Individuum darstellt.“11 Bernard kennt die Grenzen der Übertragung von Tieren auf Menschen: In Experimenten gewonnene Erkenntnisse könnten aufgrund der biologischen Unterschiede nicht ohne Vorbehalt von einer Tierart auf eine andere, vom Tier auf den Menschen verallgemeinert werden. Auch der Zustand des Versuchstiers, sein Entwicklungsstand, das Geschlecht oder die Jahreszeit würden sich auf die Versuche und ihre Ergebnisse auswirken. Aber trotz all dieser Einschränkungen hält Bernard daran fest, dass für den, der gut zu experimentieren versteht, alles, was man an Tieren findet, aufschlussreich für den Menschen sein könne:

10 Ausführlich zum Tierexperiment bei Bernard: Canguilhem, Georges, La connaissance de la vie, 2. erw. Aufl., Paris: Librairie Philosophique Vrin 1975, S. 17–39. Eine Übersetzung dieses Kapitels von Henning Schmidgen findet sich im Internet: Georges Canguilhem, „Das Experimentieren in der Tierbiologie“, unter: http://www.mpiwgberlin.mpg.de/Pre-prints/P189.PDF (letzter Zugriff: 05.10.2011). 11 Bernard, Claude, Einführung in das Studium der experimentellen Medizin (Paris 1865), Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1961, S. 129.

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Die Befunde an Tieren, sei es an den Gehirn- und Rückenmarksnerven, sei es an den vasomotorischen und sekretorischen des sympathischen Systems, ebenso die Befunde am Kreislauf sind in jeder Hinsicht auf die Physiologie und Pathologie des Menschen übertragbar. Die Tierversuche mit tödlichen Stoffen oder unter schädlichen Bedingungen sind sehr nützlich und durchaus schlüssig für die Toxikologie und Hygiene des Menschen.12

Die Übertragung von einer Art auf eine andere, sogar vom Frosch, Hund oder Affen auf den Menschen, ist dann „in jeder Hinsicht“ möglich, wenn man sie als Organismen, als lebende Körper ansieht. Denn, so Bernard, die „Grundeigenschaften der Lebenselemente“ sind allgemeingültig.13 Aus dem Tier als Substitut des Menschen wird solchermaßen ein lebender Körper erzeugt, den sich Tier und Mensch teilen. So lässt sich die Physiologie des 19. Jahrhunderts dort verorten, wo Michel Foucault das Überschreiten der biologischen Modernitätsschwelle festgemacht hat: Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist das Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.14

In der Biopolitik ist der Mensch nicht mehr ein „Ja-aber-Tier“,15 sondern ein lebender Körper, an dem politische Regulierungs-Techniken ansetzen, also etwa

12 Ebd., S. 179. 13 Ebd., S. 177. 14 Foucault, Michel, Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen, übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 170f. 15 Wie Thomas Macho („Tier“, in: Wulf, Christoph, Vom Menschen. Handbuch der Historischen Anthropologie, Weinheim/Basel: Beltz 1997, S. 62-85, Zitate: S. 62f.) ausführt, ist es seit Aristoteles’ Bestimmung des Menschen als einziges Tier, das sowohl zur Sprache als auch zur Staatenbildung fähig sei, üblich geworden, den Menschen als das Ja-aber-Tier zu charakterisieren: „als kluges Tier, das arbeiten, sprechen, lernen, spielen, weinen und lachen, morden und Krieg führen kann: als geselliges und einsames Tier; als zeitliches Tier, das – losgerissen vom ‚Pflock des Augenblicks ‘– als sorgendes und rächendes, planendes und trauerndes Tier aufzutreten vermag.“ Indem der Mensch durch eine differentia specifica zu allen anderen Lebewesen bestimmt wird, ergibt sich sowohl der Blick auf die Gemeinsamkeiten und damit die biologische Beschaffenheit des Menschen als auch auf die Differenz und damit die anthropologische Spezifität des Menschen. Allerdings könnten die Perspektiven von Zoologie und Anthropologie nicht auseinandergehalten werden: Metaphern und Geschichten bezeu-

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die Steuerung der Geburtenrate oder die Einführung sozialhygienischer Maßnahmen. Die Tiere, an denen die Experimente vorgenommen und an denen das Wissen gewonnen wird, das auf den Menschen übertragen wird, sind reale Tiere, die reale Schmerzen erleiden – Bernard nannte den Frosch den „Hiob der Physiologie“ – aber, und das ist hier der entscheidende Punkt, eingerückt in Experimentalsysteme transformieren sich diese Tiere in Objekte des Wissens. Der Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem sprach von der „Rückwirkung des Objekts des Wissens auf die Konstitution des Wissens, welches auf das Wesen dieses Objekts abzielt.“16 Das Versuchsobjekt organisiert das an ihm gewonnene Wissen, durch welches es seinerseits transformiert wird: Die Tiere gehen den Menschen als „Übertiere“ voran.17

E XPERIMENTALISIERUNG

DES

V ERHALTENS

Einsatz der Verhaltensforscher zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Abwendung von der Tierpsychologie, welche sich noch in recht simplen Anthropomorphismen erging. Etwa führte Auguste Forel in dem Aufsatz Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen (1901) aus, dass die Ameisen ein Gedächtnis besäßen, individuelle Pläne schmiedeten, Entschlüsse fassten und Gefühle zeigten. Der anthropomorphen Betrachtung der Tiere folgte die theriomorphe Betrachtung des Menschen, denn die Ameise besitze, so Forel, die sozialen Instinkte, die beim Menschen degeneriert seien und daher durch rationelle Zuchtwahl analog zur Haustierzüchtung ausgebildet werden müssten. Dagegen suchten Wissenschaftler zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue, objektive Perspektive auf das Verhalten von Tier und Mensch. Zum einen wollte man die Beschreibung des Verhaltens der Tiere auf wissenschaftliche Grundlagen stellen, zum anderen eine anthropomorphe Betrachtung des Tieres vermei-

gen, wie Tiere immer wieder neu im Rahmen eines „kulturellen Alphabets“, eines „historisch spezifischen Wahrnehmungshorizonts“ mit Bedeutung aufgeladen werden, ob in antiken Fabeln oder in den Trickfilmen Walt Disneys, ob als Jagd-, Zucht-, Opfer-, Kriegs- oder Arbeitstiere. 16 Canguilhem, La connaissance de la vie, (Anm. 10), S. 39, zit. nach der Übersetzung von Schmidgen, (Anm. 10), S. 22. 17 Vgl. dazu. Bühler, Benjamin/Rieger, Stefan, Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.

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den.18 Und auch die Technik der Vivisektion stand abermals auf dem Prüfstand. So rekapitulierte der russische Physiologe und Begründer der Reflexlehre Ivan Pawlow in dem Aufsatz „Vivisektion“ diese Technik von Herophilus bis Bernard. Auch Pawlow hebt die Notwendigkeit hervor, den lebenden Organismus zu untersuchen, die bisherigen Verfahren der Vivisektion aber erscheinen ihm ungenügend. Denn jeder Eingriff in das Tier, jede Operation könne zur Ursache von Entstellungen oder Herabsetzungen physiologischer Funktionen werden, die Schädigung eines Organs könne sich unberechenbar auf andere Organe auswirken. Insbesondere aber trage die Vivisektion zwar zur Klärung der Funktion bestimmter Teile bei, aber „wann und wie sich die Funktionen der einzelnen Teile bei normalem Gang der lebenden Maschine verketten und in welchem Ausmaß“ lasse sich damit nicht herausfinden, denn schon die Versuchsanordnung sei „unvermeidlich mit bestimmten Störungen des normalen Ablaufs der Vorgänge im Organismus verbunden“.19 Um zu „besseren“ Ergebnissen zu kommen, entwickelte Pawlow neue Techniken zur Untersuchung physiologischer Vorgänge, genannt seien hier die sogenannten chronischen Versuche mit operativem Eingriff: Damit diese Versuche zu echten Erkenntnissen führten, sollte erstens auf sterile Bedingungen geachtet werden, was in dieser Zeit nicht nur bei Tierexperimenten ein Neuheit war und die Einrichtung neuer Laborräume zur Folge hatte. Zweitens sollten die Versuche mit den Tieren erst erfolgen, wenn sie sich von dem operativen Eingriff erholt hätten, zum Beispiel der Zerstörung verschiedener Teile des Zentralen Nervensystems oder der Durchschneidung peripherer Nerven. Und nicht zuletzt erfolgte die Wahl des Versuchstieres nicht zufällig: Der Hund eignete sich nach Pawlow aus einer Reihe von Gründen, er schreibt: Mit Bitterkeit muß man zugeben, daß das beste Haustier des Menschen, der Hund, gerade dank seiner hohen intellektuellen und moralischen Entwicklung am häufigsten ein Opfer des biologischen Experiments wird. Nur im Notfall macht man Versuche an Katzen, ungeduldigen, schreisüchtigen und böswilligen Tieren. Für chronische Versuche, bei denen das operierte Tier, nachdem es sich von der Operation erholt hat, zu langdauernden Beobachtungen dient, ist der Hund unersetzlich, ja mehr noch – im höchsten Grad rührend. Es hat den Anschein als sei er ein Teilhaber des Versuchs, der an ihm durchgeführt wird,

18 Exemplarisch sei hier genannt: Beer, Theodor/Bethe, Albrecht/Uexküll, Jakob von, „Vorschläge zu einer objektivierenden Nomenklatur in der Physiologie des Nervensystems“, in: Zoologischer Anzeiger 22 (1899), S. 275-280. 19 Pawlow, Iwan P., „Vivisektion“, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, Berlin: Akademie Verlag 1954, S. 3-17, S. 11.

30 | B ENJAMIN B ÜHLER da er durch seine Verständigkeit und Bereitwilligkeit das Gelingen der Untersuchung außerordentlich fördert. Nur ein grausamer Mensch könnte ein solches Tier später für einen anderen Versuch verwenden, der mit Leiden und Tod verbunden ist.20

Diese anthropomorphe Betrachtung des Hundes scheint im Widerspruch zu den Versuchen zu stehen, für die Pawlow sprichwörtlich geworden ist. Doch der Eindruck täuscht. Denn es ist gerade die Treue des Hundes, die ihn, im Gegensatz zur Individualität der Katze, zum geeigneten Versuchs-Objekt macht. Er ist das Tier, das den Experimentator nicht enttäuschen wird, das sich seinen Wünschen fügt, das ihm weder widerspricht noch eigene Wege geht. An den geduldigen Hunden führte Pawlow zuerst seine Versuche zu Verdauungsvorgängen durch, bald aber richtete sich sein Interesse auf die physiologischen Grundlagen der psychischen Tätigkeit, er schrieb: Ich bin fest davon überzeugt, daß jetzt das rein physiologische Verständnis für vieles, was früher als psychische Tätigkeit bezeichnet wurde, festen Boden bekommen hat, und bei der Analyse des Verhaltens eines höheren Tieres einschließlich des Menschen ist es durchaus gerechtfertigt, sich in jeder Weise zu bemühen, die Erscheinungen rein physiologisch zu verstehen und zwar auf Grund der festgestellten physiologischen Prozesse.21

Für die Rückführung psychischer Erscheinungen auf physiologische Prozesse war nun eine Erscheinung zu finden, die nicht allzu komplex war und sich mit objektiven Methoden untersuchen ließ. Pawlow kam auf die sogenannte „psychische Speichelabsonderung“, bei der ein Hund durch äußere Gegenstände gereizt wird, die für die Funktion der Speicheldrüse unwesentlich oder nur zufällig sind, also die klassische bedingte Konditionierung. (Abb. 3 und 4) Die beiden Bilder, welche nicht zuletzt die Evidenzerzeugung qua Schematisierung vorführen, zeigen die Experimentalsituation: Der Experimentator hält sich in einem anderen Raum auf, um sich selbst als Reizquelle auszuschließen, der Hund ist in ein Gestell eingespannt, die Speichelproduktion wird gemessen, indem der Ausführgang der Speicheldrüse durch einen operativen Eingriff nach außen verlegt wurde. Diese Grundanordnung ließ sich vielfach variieren, die Hunde sondern Speichel ab bei Erklingen einer Glocke oder bei bestimmten Lichtsignalen. Für Pawlow war diese Ausbildung bedingter Reflexe die Grundlage für eine Be-

20 Ebd., S. 14. 21 Pawlow, Iwan, „Antwort eines Physiologen an die Psychologen“ (1932), in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. III, 2, Berlin: Akademie Verlag 1953, S. 404-430, S. 427.

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schreibung auch des Menschen, d.h. die menschliche Psyche ließ sich nun in den Termini der Verhaltensphysiologie fassen.

Abb. 3: Experimentalanordnung nach Pawlow 1928. Quelle: Iwan Pawlow, „Vorlesungen über konditionierte Reflexe (1928)“, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. IV, Berlin 1953, S. 373.

Pawlows Reflextheorie ist die Basis einer der wichtigsten Lerntheorien des 20. Jahrhunderts, zugleich, oder gerade deshalb, aber auch Gegenstand heftiger Kritik. Dabei spielte insbesondere das Experimentalobjekt und die Schlüsse vom Hund auf den Menschen eine zentrale Rolle. So bestreiten die Philosophischen Anthropologen Helmuth Plessner und Frederik Buytendijk in einem Aufsatz aus dem Jahr 1935 keineswegs die experimentellen Befunde Pawlows, wenden sich aber gegen die Art und Weise, mit der Pawlow aus experimentellen Daten wissenschaftliche Tatsachen macht. Pawlows Theorie sei nichts anderes als die „Übersetzung von wirklichen Be-

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obachtungen in eine imaginäre Bildersprache.“22 Begriffe wie Kettenreflex oder Reflexmosaik seien Metaphern. Das Verhalten von Tieren und Menschen reduziere er auf einen Vorgang, nämlich die Speichelabsonderung bei Hunden. Ganz in diesem Sinne argumentierte auch der Psychologe Erwin Straus, der sich in seinem Buch Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie (1956) an Pawlow abarbeitete: Auch Straus bestreitet nicht die experimentellen Befunde Pawlows, wendet sich aber gegen dessen Transformation des Hundes in einen biologischen Apparat: Pawlow rede ständig von Hunden, beschreibe sie anschaulich, nenne sie mit Namen, stelle sie als Individuen dar, sie erscheinen ängstlich und scheu, angriffslustig und zutraulich. Doch wenn Pawlow von einem Hund, der hört, spreche, meine er ein Cortisches Organ, das durch Schallwellen erregt werde. Mit einem Hund, der sieht, meine er eine durch Lichtwellen erregte Netzhaut, das Essen des Hundes sei ihm keine Aktion, sondern eine Summe von Reflexbewegungen, ausgelöst durch chemische und mechanische Berührung der Mundschleimhaut.23 An der Kritik der Pawlowschen Theorie entwickeln somit Anthropologen und Psychologen eine Theorie des Experimentalobjekts, die sonst vor allem Gegenstand der historischen Epistemologie ist, die sich mit Hans Jörg Rheinberger bestimmen lässt als „Reflexion auf die historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt und in Gang gehalten wird.“24 Die Objekte des Wissens sind dabei immer auch als Agenten des Wissens zu verstehen, das an ihnen gewonnen wird, wie Bruno Latour vorgeführt hat. Wird das Tier zum Gegenstand der Erfahrung, so formiert der Forscher es durch seine Operationen: Er wählt bestimmte Merkmale aus, zeichnet diese nach seinen medialen und technischen Möglichkeiten auf und kategorisiert es auf dieser Grundlage. Als Ergebnis dieser Operationen, die aus dem Tier ein Wissenschaftsobjekt machen, entsteht eine, mit Latour gesagt: unmögliche Antinomie. Denn Fakten sind einerseits durch bestimmte Operationen gemacht, andererseits taucht bei diesen Fakten etwas vom Menschen nicht Ge-

22 Buytendijk, Frederik J.J./Plessner, Helmuth, „Die physiologische Erklärung des Verhaltens. Eine Kritik an der Theorie Pawlows“, in: Plessner, Helmuth, Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 7-32, S. 24. 23 Straus, Erwin, Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Reprint der 2. Aufl. von 1955, Berlin u.a.: Julius Springer 1978, S. 40. 24 Rheinberger, Hans-Jörg, Historische Epistemologie. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2007, S. 11.

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machtes auf.25 Wenn in Experimentalsystemen Tiere somit zu Wissenschaftsobjekten und schließlich zu Akteuren werden, die Wissen vom Menschen erzeugen, so folgt daraus auch, dass Tier und Mensch die Plätze tauschen können.

Abb. 4: Photographie aus Pawlows Labor nach Physiological Society Papers 1921/3. Quelle: Physiological Society Papers: Photographien aus I. P. Pawlows Labor (1921/3): Wellcome Library, London, L0023485, http://wellcomeimages.org/ (Datum des letzten Zugriffs: 05.06.2014).

S EITENWECHSEL Besonders deutlich wird die Möglichkeit des Positionentauschs von Tier und Mensch in der amerikanischen Variante der Verhaltenstheorie, dem Behaviorismus. Das Paradeobjekt der amerikanischen Verhaltensforscher war die Ratte. Ob

25 Latour, Bruno, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 151. Pointiert schreiben Belliger, Andrea und Krieger, David „Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie“, in: Dies. (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 13-50, S. 33: „Etwas ist entstanden, was vorher nicht da war, und das, was vorher da war, hat sich verändert.“

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Ratten durch Labyrinthe laufen, auf Knöpfe drücken müssen, um Futter zu erhalten, oder ob sie beim Drücken auf falsche Knöpfe Stromschläge erhalten – Ratten sind (neben Tauben) für die Behavioristen die bevorzugten Experimentalobjekte für das Studium von Lernvorgängen und Verhaltensweisen. Während es in der Genetik naturgemäß um die Vererbbarkeit von Eigenschaften geht, ist für den Behavioristen das Verhalten des Menschen völlig unabhängig von den genetischen Grundlagen. In einem Gedankenexperiment hat das der Begründer des Behaviorismus, John B. Watson, auf den Punkt gebracht: Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantiere, daß ich jedes nach dem Zufall auswähle und es zu einem Spezialisten in irgendeinem Beruf erziehe: zum Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder zum Bettler und Dieb, ohne Rücksicht auf seine Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren.26

Das Feld, auf dem Watson diese Theorie nicht nur behaupten, sondern experimentell auch beweisen wollte, waren die Emotionen Furcht, Wut und Liebe. Gegen den damaligen Stand der Psychologie versuchte er zu zeigen, dass auch Gefühlsreaktionen erworben sind. Den Weg zur Klärung dieser Frage wies das zitierte Gedankenexperiment, d.h. Versuche mit Kleinkindern. Das größte Problem, das in der Kontrolle der experimentellen Bedingungen bestand, konnte gelöst werden, indem die Versuche an Kindern vorgenommen wurden, die in Heimen unter der Aufsicht der Experimentatoren aufgezogen worden waren. Einige dieser Kinder standen fast von der Geburt bis zur Vollendung des ersten Lebensjahres unter Beobachtung. In einem der berühmtesten Versuche untersuchte Watson zusammen mit Rosalie Rayner die Furchtreaktion an einem 11 Monate alten Baby, dem „kleinen Albert“. Albert hatte sein bisheriges Leben ausschließlich im Heim verbracht und war, wie Watson feststellte, ein ausgesprochen artiges Baby, das die beiden Forscher in den Monaten der gemeinsamen Arbeit nie weinen sahen, zumindest „bevor wir nicht unsere Experimente gemacht hatten.“27 Die Experimentalanordnung bestand in einer klassischen Konditionierung:28 Man löste bei dem kleinen Albert eine Fluchtreaktion durch laute Geräu-

26 Watson, John B., Behaviorismus. Ergänzt durch den Aufsatz „Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht“, hg. von Carl F. Graumann, Frankfurt, a.M.: Fachbuchhandlung für Psychologie 1976, S. 123. 27 Ebd., S. 170. 28 Watson, John B./Rayner, Rosalie, „Studies in Infant Psychology“, in: The Scientific Monthly 13. 6, Dec. (1921), S. 493-515.

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sche aus, verknüpfte dann diese Reize mit einem neuen Reiz, bis am Ende allein der neue Reiz die Fluchtreaktion auslöste. Dieser neue Reiz bestand in nichts anderem als einer Ratte: Rayner und Watson nahmen eine weiße Ratte, mit der Albert schon seit Wochen gespielt und vor der er keinerlei Angst gehabt hatte, aus dem Korb heraus und hielten sie vor ihn hin. Genau dann, wenn die Hand des Jungen das Tier berührte, wurde hinter seinem Kopf auf eine Eisenstange geschlagen. Da das Kind daraufhin in einen verwirrten Zustand geriet, konnte eine Woche lang kein weiteres Experiment mit ihm durchgeführt werden. Am Ende fing der Junge bereits bei dem Anblick der Ratte zu schreien an, begab sich auf alle viere und krabbelte schnell davon. Damit war der Anfang gemacht für Versuche, die zeigen sollten, dass für die Erklärung emotionaler Reaktionen nicht auf die Vererbung als Erklärungsmuster zurückgegriffen werden musste. Der kleine Albert aber blieb vor weiteren Versuchen verschont, da er adoptiert wurde, weshalb Watson und Rayner allerdings auch nicht diese Furchtreaktion löschen konnten wie sie angeblich wollten. Wie auch immer man die Versuche mit dem kleinen Albert beurteilen mag, sie zeigen, dass für den Behavioristen Tier und Mensch austauschbar sind, der Wechsel der Position der weißen Ratte, vom Wissenschaftsobjekt zum bedingten Reiz, führt genau diese Austauschbarkeit vor: Die Versuche am kleinen Albert sind nichts anderes als die Versuche, die zuvor mit Ratten durchgeführt worden waren, Albert wird buchstäblich zur Laborratte.

L ITERATUR

ALS

M EDIUM

DES

E XPERIMENTIERENS

Während Watson später die behavioristischen Prinzipien in der Werbebranche anwendete, entwickelte der Psychologe Burrhus Skinner einen regelrechten behavioristischen Weltplan. Berühmt wurde Skinner durch seine Theorie der operationalen Konditionierung (da er nämlich im Gegensatz zu Pawlow und Watson meinte, dass die klassische Konditionierung nur sehr wenig Verhalten des Menschen erklären konnte), also das Lernen durch Belohnung, und die sogenannten Skinner-Boxen, in denen Ratten auf bestimmte Knöpfe drücken oder einen bestimmten Weg im Labyrinth zurücklegen müssen, um an Futter zu gelangen. Auch für Skinner stand die beliebige Manipulierbarkeit von Tieren und Menschen fest. So schilderte er in dem Aufsatz How to Teach Animals (1951), wie er Tauben auf Pingpong Spielen dressieren konnte, aber auch darauf, dass sie auf friedliche Artgenossen einhackten. Was Skinner an Ratten und Tauben vorführte, sollte das Vorbild für die Organisation der menschlichen Gesellschaft bilden, Skinner entwickelte ein univer-

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sales Programm der sozialtechnischen Modellierung von Menschen. Denn nach Skinner „kontrollieren und steuern wir alle, und alle werden wir kontrolliert und gesteuert“.29 Nun ließen sich zwar die Experimente an einzelnen Tieren auf Lernvorgänge beim Menschen übertragen,30 doch Skinner ging es um die gesamte Gesellschaft. Da man aber mit dieser nicht experimentieren konnte und hier das Tierreich nur unzulängliche Modelle, wie den Bienen- oder Ameisenstaat, bereitstellt, griff Skinner auf ein anderes Medium zurück, nämlich die Literatur. Im Jahr 1948 veröffentlichte er den Roman Walden II, der Erstauflage folgte 1976 eine erweiterte Fassung mit Aufsätzen unter dem Titel Walden Two Revisited. Der Übergang in die Literatur ist konsequent. Denn wie Tiere als Substitute eingesetzt werden, da Versuche am Menschen nicht erlaubt sind, so fungiert nun die Fiktion als Substitut. Was man nicht in der Realität beobachten und durchführen kann, lässt sich in Form der Erzählung sehr wohl entwerfen und bis ins Detail durchexerzieren. An die Stelle des Tierexperimentes tritt somit das Gedankenexperiment. Wie die Kulturwissenschaftler Thomas Macho und Annette Wunschel schreiben, kämen Gedankenexperimente dann ins Spiel, wenn gar keine andere Möglichkeit bestehe, als die Konsequenzen eines Experiments in irgendeiner Art von Erzählung zu dokumentieren und überprüfbar zu machen, anders gesagt: Wissenschaft und Literatur verbinden sich an der Stelle, an der ein Experiment nicht tatsächlich durchgeführt werden könne oder dürfe.31 Genau in diesem Sinn ist das bereits zitierte Gedankenexperiment Watsons zu verstehen, in dem er imaginierte, die soziale Umwelt der Kinder festlegen zu können, um aus ihnen dann zu machen, was er wolle. Watson setzt darüber hinaus sein

29 Skinner, Burrhus F., Wissenschaft und menschliches Verhalten, München: Kindler 1973, S. 400. 30 „Wir untersuchen tierisches Verhalten, weil es einfacher ist. Grundlegende Prozesse können auf diese Weise leichter sichtbar gemacht und auch über größere Zeitabschnitte aufgezeichnet werden. Unsere Beobachtungen werden nicht kompliziert durch die soziale Beziehung zwischen dem Forschungsgegenstand und dem Experimentator. Bedingungen lassen sich besser kontrollieren. Wir können genetische Vorgeschichten arrangieren, um gewisse Variablen zu kontrollieren, und, um wieder andere Variablen zu kontrollieren, können wir spezielle Lebensläufe arrangieren – interessieren wir uns zum Beispiel dafür, wie ein Organismus sehen lernt, so können wir ein Tier in der Dunkelheit großziehen, bis das Experiment beginnt.“ Ebd., S. 44. 31 Wunschel, Annette/Macho, Thomas, „Mentale Versuchsanordnungen“, in: Dies. (Hg.), Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 9-14, S. 11.

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Gedankenexperiment als eine regulative Fiktion ein: Es bildet den Rahmen für die Versuche mit dem kleinen Albert sowie an anderen Kleinkindern des Heimes. Im Gegensatz zu Watsons kurzgefasstem Gedankenexperiment lieferte Skinner eine umfangreiche Utopie. Den Titel des Romans, Walden II, entlehnte er dem 1854 erschienenen Buch von Henry David Thoreau, der mit Walden das Buch schrieb, das für die Umweltbewegung der 1970er Jahre wegweisend sein sollte. Thoreau ging es um ein naturgemäßes Leben, der Mensch solle sich mit der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse begnügen, d.h. Nahrung, Obdach, Kleidung und Heizung. In einem Selbstversuch verbrachte Thoreau zwei Jahre alleine in einer Hütte am Walden-See. Mit dem Ausdruck Walden II betreibt Skinner nun eine doppelte Erweiterung: Erstens greift er Thoreaus Ansatz auf, aktualisiert ihn aber für das 20. Jahrhundert und erweitert ihn zweitens um das Element des Sozialen: Skinners Walden ist nicht für eine Person gedacht, sondern für eine „experimental community“.32 Dabei hat er durchaus das Verhältnis von Mensch und Natur im Blick, auch wenn er in seinem Vorwort schreibt, sein Buch sei kein Handbuch für Hippies. Doch angesichts der Vergrößerung der Städte, der Ausbeutung der Ressourcen und der Umweltverschmutzung bräuchte es einen neuen way of life: The choice is clear: either we do nothing and allow a miserable and probably catastrophic future to overtake us, or we use our knowledge about human behavior to create a social environment in which we shall live productive and creative lives and do so without jeopardizing the chances that those who follow us will be able to do the same.33

Auch Skinner geht es also darum, auf der Grundlage der Verhaltenstechnik eine soziale Umwelt zu erschaffen, in der Menschen sich entfalten können – und zwar tatsächlich alle Menschen. Skinner glaubte, mit der Anwendung seiner Forschungen die Zukunft der Menschheit retten zu können. Die Herkunft der dafür in Ansatz gebrachten Verhaltenstechniken verbirgt er keineswegs: Zu der Zeit, als ich das Buch schrieb, hatten einige dramatische Fortschritte in experimentellen Methoden die Möglichkeit geschaffen, komplexe Verhaltensweisen […] vorauszusagen und zu kontrollieren. Das aber betraf nur Verhaltensweisen von Ratten und Tauben. Ich vermutete zwar, daß die gleichen Methoden sich auch auf Menschen anwenden ließen,

32 Skinner, Burrhus F., „Walden II revisited“, in: Ders., Walden Two. With a new introduction by the author, Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall 1976, S. x. 33 Ebd., S. xvi.

38 | B ENJAMIN B ÜHLER war mir dessen aber nicht sicher. Ich hatte ja noch keinerlei praktische Anwendung dieser Methoden auf den Menschen miterlebt. Die Verhaltenstechnik von Walden Two war noch ein Traum, aber der Traum sollte verwirklicht werden. Man hat inzwischen eine Technologie der Verhaltenssteuerung entwickelt, besonders für die Gebiete „Erziehung“ und „Psychotherapie“, und das hat direkten Bezug auf Walden Two.34

Die Übertragung der Verhaltenstechnik von Ratten und Tauben auf Menschen kann Skinner nur in einem literarischen Gedankenexperiment durchführen, dem dann die Umsetzung in die Realität folgen sollte: Auch wenn Skinner die Wirkung seines Romans übertreiben mag, wurden tatsächlich nach dem Vorbild von Walden II experimentelle Gemeinschaften gebildet. Zum Beispiel gründeten 1973 sieben Personen, darunter einige behavioristische Psychologen, die bis heute bestehende Einrichtung Los Horcones in Mexiko mit dem Ziel, einen alternativen Lebensstil auf der Grundlage von Kooperation, Pazifismus, Gleichheit und ökologischer Nachhaltigkeit zu entwickeln, und zwar durch die Anwendung der Verhaltensforschung im Sinne Skinners.35

S CHLUSS Tiere sind nicht bloße passive Objekte wissenschaftlicher Beobachtungen und Versuche, sondern immer auch Akteure. Als Experimentalobjekte sind sie reale Lebewesen, sie erleiden reale Schmerzen, und kein Konstruktivismus wird das leugnen. Indem sie jedoch eingespannt werden in wissenschaftliche Verfahrensformen, transformieren sie sich in etwas, was vorher noch nicht da war – sie werden zu Wissensfiguren. Als solche sind Tiere, ob Affe, Hund oder Ratte, ob Ameise, Fruchtfliege oder Virus, Substitute des Menschen. Und auch wenn in wissenschaftlichen Diskursen die Differenz von Tier und Mensch benannt, reflektiert und methodisch gefasst wird, wird diese Grenze doch immer wieder aufgehoben, ob die Herkunft des anthropologischen Wissens aus dem Tier ver-

34 Skinner, Burrhus, Futurum II. „Walden Two“. Die Vision einer aggressionsfreien Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1974, S. 6. Dieses Vorwort hat Skinner für die deutsche Ausgabe verfasst, für die der Psychologe Werner Correll eine Einleitung schrieb. Correll war Direktor des Instituts für Programmiertes Lernen in Gießen und Verfasser des Buches Denken und Lernen. Beiträge der Lernforschung zur Methodik des Unterrichts, Braunschweig: Westermann 1971, das Skinners Aufsatz „Verhaltenspsychologische Analyse des Denkprozesses“ enthielt. 35 Vgl. dazu die Homepage http://www.loshorcones.org.

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leugnet oder verdrängt wird, oder ob ein Tier und Mensch gemeinsamer lebender Körper konstruiert wird. Die derzeitige Konjunktur der Tiere, wie etwa die Etablierung von animal studies nun auch in Deutschland zeigt, lässt sich nicht zuletzt zurückführen auf die aktuell stattfindenden Verunsicherungen des Grenzverlaufs zwischen Tier, Mensch und Maschine – durch cyborgs, die Implantierung technischer Objekte in den Körper, die Herstellung transgener Tiere als Bioreaktoren oder die synthetische Biologie. Weil mit Tieren somit stets die Frage nach Grenzen, ihren Verläufen und Überschreitungen, ihren paradoxen Ein- und Ausschlussmechanismen und ihren Zwischenräumen aufkommt, sind sie der genuine Gegenstand einer Kulturwissenschaft, die sich in ihren Selbstbeschreibungen in einem Grenzoder Zwischenbereich verortet – ob die Kulturwissenschaft in einem „offenen Prozess“ Fachgrenzen auflöst,36 Kulturforschung eine „interdisziplinäre Arbeit an Übergängen“ darstellt37 oder die Metaebene der kulturwissenschaftlichen Reflexion in einen Zwischenraum wandert, in einen „unmarked space in between“, der „für das Herstellen bedeutsamer Beziehungen offen ist“.38 Die Geschichte der Tiere (sowie die der technischen Dinge) erweist sich solchermaßen als Paradigma einer gegenwärtige Problemlagen stets mitreflektierenden Kulturwissenschaft.

36 Gerbel, Christian/Musner, Lutz, „Kulturwissenschaften: Ein offener Prozess“, in: Musner, Lutz/Wunberg, Gotthart (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien: WUV Universitätsverlag 2002, S. 9-23, S. 12. 37 Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Berlin), Europäische Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Forschungsprogramm 2008-2013, S. 3, http://www.zfl.gwzberlin.de/fileadmin/forschung/organisation/zfl_forschungsprogramm_2008_13.pdf, S. 3 (letzter Zugriff: 05.10.2011). 38 Wirth, Uwe, „Vorüberlegungen zu einer Logik der Kulturforschung“, in: Ders. (Hg)., Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte, Frankfurt a.M., 2008, S. 967, S. 66.

Die Würde der Tiere. Zu den theologischen Wurzeln und dem ethischen Ort eines Topos der modernen Tierethik H EIKE B ARANZKE

1. E INLEITUNG Im Rahmen der anhaltenden Debatte über die Würde des Menschen mehren sich die Stimmen, die davon reden, der Natur oder doch zumindest den Tieren eine solche nicht vorzuenthalten. So wächst mit der wieder ansteigenden Popularität der Menschenwürde auch die Rede von einer Würde der Tiere. Unter dem Oberbegriff der „Würde der Kreatur“ hat die Tierwürde sogar Eingang in die Schweizerische Bundesverfassung (SBV) genommen. Die neue Koexistenz von auch im anglophonen Sprachraum sich verdichtender Rede von „human dignity“ und „animal dignity“ oder auch „dignity of creatures“ wirft nicht nur in der SBV Fragen nach der systematischen Verhältnisbestimmung der Wendungen zueinander auf – semantisch und moralphilosophisch. Verfolgt man aber die Spuren der animalischen oder kreatürlichen Würde einmal zurück, dann zeigt sich schnell: So neu sind diese Vorstellungen gar nicht. Ideengeschichtlich betrachtet entpuppen sich aber menschliche und tierische Würde als höchst ungleiche Geschwister, nämlich als Dignitas-Würde moralischer Verpflichtungsfähigkeit und als Bonitas-Würde wertgeschätzter, aber fragiler körperlicher Existenz. Nach Freilegung der unterschiedlichen ideengeschichtlichen Fundamente ergeben sich für eine aktuelle systematisch-ethische Verhältnisbestimmung von Menschenund Tierwürde ganz neue Optionen. Dieser Beitrag beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die weniger bekannten biblisch-theologischen Wurzeln der beiden unterschiedlichen Würdevorstellungen exemplarisch vorzustellen. Die ausführlichere Würdigung der philoso-

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phischen Hintergründe findet sich an anderem Ort.1 Das lässt ahnen, wie viel der westliche Tier- und Naturschutzgedanke biblischen und christlichen, insbesondere reformatorischen Impulsen verdankt, wenngleich ein völlig dekontextualisiertes „Macht euch die Erde untertan!“ auch theologisches Denken oft dominierte. Exemplarisch wird am Beispiel der Kreaturwürde in einer für religiöse Ideen wieder neu empfänglichen Zeit die Chancen einer historisch aufgeklärten, selbstkritischen, dialogfähigen und vernünftig verantworteten Theologie für eine konstruktive Stimulierung und Sinnstiftung in der Gesellschaft deutlich.

2. E IN

AKTUELLER I MPULS : T IERWÜRDE IM K ONTEXT DER „W ÜRDE DER K REATUR “ IN DER S CHWEIZERISCHEN B UNDESVERFASSUNG (SBV)

Der Bund erlässt Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen. Er trägt dabei der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten.2

Mit diesem Passus verlieh der schweizerische Gesetzgeber implizit auch der Tierwürde 1992 erstmals in der Rechtsgeschichte verfassungsrechtliche Relevanz auf nationaler Ebene. Den allerersten Schritt hatte 1980 schon die Aargauer Kantonalverfassung § 14 getan, in dem gefordert wird, dass Lehre und Forschung „die Würde der Kreatur zu achten“ haben.3 Die Bandbreite der Reaktionen auf den Einzug der kreatürlichen Würde in die Schweizerische Bundesverfassung erstreckte sich vom Jubel der Tierschützer bis zur Fassungslosigkeit der Verfassungsrechtler. Letztere sprachen von einem GAU in der Verfassungsrechtsgeschichte. Auslöser für die Aufnahme dieses neuen Rechtsbegriffs war das Ansinnen einer schweizerischen Volksinitiative, die Menschenwürde in den sich dynamisch entwickelnden Bereichen von Gentechnologie und Fortpflan-

1

Vgl. dazu ausführlich Baranzke, Heike, Würde der Kreatur? Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik, Würzburg: Königshausen und Neumann 2002.

2

Art. 120 Abs. 2 SBV. Zur Veränderung der verfassungsrechtlichen Positionierung der „Würde der Kreatur“ durch die Revision der Schweizerischen Bundesverfassung im Jahr 1999 vgl. Baranzke, Würde der Kreatur? (Anm. 1), 34-36.

3

Vgl. Teutsch, Gotthard M., Die „Würde der Kreatur“. Erläuterungen zu einem neuen Verfassungsbegriff am Beispiel des Tieres, Bern/Stuttgart/Wien: Paul Haupt 1995, S. VII.

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zungsmedizin zu schützen. Dabei entdeckte die daraufhin eingesetzte Rechtskommission die biologische Natur des Menschen und befand, dass die Menschenwürde gegen biotechnische Gefährdungen wirksam nur zu schützen sei, wenn die biowissenschaftliche Grundlagenforschung auch schon im Außerhumanbereich gesetzlich kontrolliert würde. Denn schließlich werden Biotechnologien an Pflanzen und vor allem an Tieren entwickelt und erprobt, bevor sie eventuell auf den Menschen übertragen werden. – Soweit zur sachlichen Motivation für eine Ausweitung des Menschenwürdeschutzes über die menschliche Natur hinaus! Aber wie soll einer allumfassenden „Würde der Kreatur“ ‚Rechnung getragen’ werden, wenn man nicht weiß, worin diese besteht? Weder findet sich der Begriff in der Rechtsgeschichte noch bietet die Bundesverfassung eine Legaldefinition kreatürlicher Würde „von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen“. Wie ist außerdem das Verhältnis zwischen kreatürlicher und menschlicher Würde zu denken und schließlich, was hat ein so theologisch klingender Begriff in einer säkularen Verfassung zu suchen?4 Vor allem die beiden letztgenannten Fragen zeugen von dem Potential der „Würde der Kreatur“, die rechtsethischen Fundamente unserer Gesellschaft kurzschlüssig in Frage zu stellen. Dadurch ist eine historische Vergewisserung über die Idee der Menschenwürde und der „Würde der Kreatur“ bzw. einer „Würde der Tiere“ angezeigt. Beginnen wir mit der jüngeren Zeitgeschichte.

3. Z EITGESCHICHTLICHE E INORDNUNG : W ESTLICHE U MWELTBEWEGUNG UND K ONZILIARER P ROZESS IN DER ZWEITEN H ÄLFTE DES 20. J AHRHUNDERTS Die Beratungen über die schweizerische Gesetzesnovelle fanden in einer Zeit statt, in der die Öffentlichkeit der westlichen Gesellschaften in einem hohen Maße für die Ambivalenz des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und ihrer negativen Auswirkungen auf den Menschen und die nichtmenschliche Natur sensibilisiert waren. Angestoßen durch Rachel Carsons (1907-1964) „Silent Spring“ (1962) und Ruth Harrisons (1920-2000) „Animal Machines“ (1964) und aufgeschreckt u. a. durch den ersten Bericht des Club of Rome an den USPräsidenten über die „Grenzen des Wachstums“ (1972) entwickelte sich in den

4

Daher kam es nicht von ungefähr, dass sich insbesondere Theologen von dem neuen Rechtsbegriff besonders stimuliert führten und auch von den Rechtsgelehrten um Rat für eine konstruktive Begriffsbestimmung gefragt wurden. Zum Hintergrund vgl. das erste Kapitel in Baranzke, Würde der Kreatur? (Anm. 1).

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westlichen Industrienationen in den 1970er und 80er Jahren eine sehr lebendige, aber auch apokalyptisch gestimmte Umwelt- und Tierrechtsbewegung, von der sich auch die christlichen Kirchen anstecken ließen. Ein wirkmächtiger Stimulator für das christliche Engagement war nicht zuletzt der einflussreiche, in der Zeitschrift „Science“ abgedruckte, am 2. Dezember 1966 in Washington D. C. gehaltene Vortrag auf der Versammlung der American Association for the Advancement of Science des US-amerikanischen Mediävisten Lynn Townsend White Jr. (1907-1987) über „The historical roots of our environmental crises“ (1967). Darin beschuldigte White die christliche Religion, durch ihre schöpfungstheologischen Glaubenssätze und vor allem auf der Basis des biblischen „Macht euch die Erde untertan!“ (Gen 1,27) die westliche Umweltzerstörung nicht nur legitimiert, sondern sogar verursacht zu haben. Whites Thesen wurden in Deutschland von dem katholischen Schriftsteller und Umweltaktivisten Carl Amery (1922-2005) in „Die gnadenlosen Folgen des Christentums“ (1972) und dem katholischen Psychoanalytiker und Theologen Eugen Drewermann (geb. 1940) in „Der tödliche Fortschritt. Von der Zerstörung des Menschen und der Erde im Erbe des Christentums“ (1981; 6. erw. Aufl. 1990) aufgegriffen und weitergeführt. Theologie und Kirchen reagierten auf diese heftigen Vorwürfe mit einer Relecture der schöpfungstheologischen Texte und Traditionen unter dem Aspekt der Schöpfungsverantwortung des Menschen, ein Gedanke, der über lange Zeit durch den Glauben an den Fortschritt in Wissenschaft und Technik verdrängt worden war.5 Infolge dieses Weckrufs rief der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) auf der Vollversammlung in Vancouver im Jahr 1983 alle Mitgliedskirchen zu einem weltumspannenden „Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ auf, der in den darauf folgenden Jahren durch Kirchenversammlungen auf allen, vorwiegend protestantischen, kirchlichen Hierarchieebenen gesellschaftlich sichtbar wurde. In den deutschsprachigen Ländern6 war die kirchliche und öffentliche Resonanz groß und die

5

Zur theologischen Wirkungsgeschichte von Lynn White Jr. vgl. Baranzke, Heike/Lamberty-Zilienski, Hedwig, „Lynn White und das dominium terrae (Gen 1,28b). Ein Beitrag zu einer doppelten Wirkungsgeschichte“, in: Biblische Notizen, H. 76, 1995, S. 32-61.

6

Auch in der damals noch existierenden DDR fand der Konziliare Prozess großen Zuspruch durch die regierungskritische Umweltbewegung, die sich unter dem Dach der evangelischen Kirche seit Jahren formiert hatte. Vgl. Baranzke, Heike, „Die MenschTier-Beziehung in Kirche und Umweltbewegung der DDR. Hintergründe zu einem vernachlässigten Thema“, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 39. Jg., 1995, S. 6574.

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Rede von der „Bewahrung der Schöpfung“ fand breiten Eingang auch in die Reden hoher politischer Vertreter, z.B. des damaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker,7 dessen Bruder Carl Friedrich von Weizsäcker8 ebenfalls im Konziliaren Prozess engagiert war. Dass der Boden für die politische Rezeption schöpfungstheologischen Vokabulars bereitet war, zeigt auch die Erweiterung von § 1 des deutschen Tierschutzgesetzes durch die Qualifizierung des Tiers „als Mitgeschöpf“ im Jahr 1986,9 die sich in dem damals viel konsultierten „Lexikon der Tierschutzethik“ (1987) des Soziologen Gotthard Martin Teutsch (1918-2009) in einem Eintrag des Stichwort „Geschöpfliche Würde“ sogleich manifestierte. Allerdings hatte schon 1979 Albert Lorz in seinem Kommentar zum Tierschutzgesetz auf die „geschöpfliche Würde“ als Begründung für den Tierschutz Bezug genommen.10 Im Mai 1989 tagte in Basel die Europäische Ökumenische Versammlung „Frieden in Gerechtigkeit“ und unterstützte in der Schweiz eine öffentliche Atmosphäre, die dazu führte, die Rede von einer kreatürlichen Würde in Materialien hineinzutragen, die in den Sitzungen der schweizerischen Kommissionen über die Formulierung der Gesetzesnovelle zu Rate gezogen wurden. So wurde die „Würde der Kreatur“ auch auf nationaler Ebene rezipiert.11 Dieser schöpfungstheologisch aufgeladene zeitge-

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von Weizsäcker, Richard, „Unsere Verantwortung für die Umwelt, Rede vor der Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen am 7. Oktober 1986 in Bonn“, in: Das Umweltgespräch. Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen e. V. Nr. 31, 1986, S. 7: „Das grundlegende Ziel ist es, die Schöpfung zu bewahren. Nur wenn wir die Natur um ihrer selbst willen schützen, wird sie uns Menschen erlauben zu leben.“ Von der „Schöpfung“ ist noch mehrfach die Rede.

8

von Weizsäcker, Carl Friedrich, Die Zeit drängt. Eine Weltversammlung der Christen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, München/Wien: Hanser, 6. Aufl. 1987.

9

§ 1 TierSchG (1986): „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden und Schäden zufügen.“

10 „Ein Schutz der Tiere ist jedenfalls denkbar mit Bezug auf Leben, Freiheit, Gesundheit, Wohlbefinden, Unversehrtheit und geschöpfliche Würde.“ Lorz, Albert, Tierschutzgesetz. Kommentar. München: C.H. Beck 2. Aufl. 1979, S. 33, vgl. auch ebd., S. 66, zit. n. Teutsch, Gotthard M., Mensch und Tier. Lexikon der Tierschutzethik, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1987, S. 69. 11 Vgl. dazu Krepper, Peter, Zur Würde der Kreatur in Gentechnik und Recht, Basel/Frankfurt a. M., 1998, S. 352 bzw. S. 42.

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schichtliche Hintergrund einer umwelt- und tierethisch bewegten Epoche plausibilisiert das Unterfangen, die Wurzeln der Tierwürde zumindest auch in der christlichen Theologie zu verfolgen.

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DER T IERE – BIBLISCHE G RUNDLAGEN UND REFORMATORISCHE A KTUALISIERUNGEN

Die theologische Spur der „geschöpflichen Würde“ verweist zunächst zurück in eine „Ethik der Mitgeschöpflichkeit“, die in der frühen Neuzeit im Protestantismus grundgelegt wurde. Gotthard M. Teutsch und Eberhard Röhrig durchforsteten deutschsprachige historische Quellentexte nach dem Motiv der Mitgeschöpflichkeit und legten die Grundlagen einer protestantischen Tier- und Naturschutzethik frei, die in den umweltkrisenbewegten Jahren der Nachkriegszeit als theologische Ethik einer Schöpfungsverantwortung des Menschen wiedererinnert wurde.12 Es folgten vertiefende sozialgeschichtliche und kirchenhistorische Studien, die die subversive Kontinuität der vielfach von Angehörigen protestantischer Dissidentengruppen getragenen Naturethik aufweisen konnten.13 Schon der Biologe und Naturschutzhistoriker Alfred Barthelmeß wunderte sich darüber, „daß unter den Pionieren der wissenschaftlichen Ornithologie und des Vogelschutzes so viele, und wieder nur […] protestantische Geistliche hervorgetreten sind“.14 Martin Luther setzte nicht nur mit seinem 1529 formuliertem Bekenntnis

12 Teutsch, Gotthard M., Die „Würde der Kreatur“; Röhrig, Eberhard, Mitgeschöpflichkeit. Die Mensch-Tier-Beziehung als ethische Herausforderung im biblischen Zeugnis, in der Theologiegeschichte seit der Reformation und in schöpfungstheologischen Aussagen der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2000. 13 Z. B. Krolzik, Udo, Säkularisierung der Natur. Providentia-Dei-Lehre und Naturverständnis der Frühaufklärung, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1988; ders., „Vorläufer ökologischer Theologie“, in Altner, Günter (Hg.), Ökologische Theologie. Perspektiven zur Orientierung, Stuttgart: Kreuz 1989, S. 14-29; Jung, Martin H., „Die Anfänge der deutschen Tierschutzbewegung im 19. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, 56 Jg., 1997, S. 205-239; Wiedenmann, Rainer E., „Protestantische Sekten, höfische Gesellschaft und Tierschutz. Eine vergleichende Untersuchung zu tierethischen Aspekten des Zivilisationsprozesses“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48. Jg., 1996, S. 35-65. 14 Barthelmeß, Alfred, Vögel – Lebendige Umwelt, Freiburg/München: Karl Alber 1981, S. 25 Anm. 3. Dazu gehören u.a. auch „Tiervater“ Alfred Edmund Brehm und sein Vater, der „Vogelpastor“ Christian Ludwig Brehm, der in seiner Pfarrei im thüringi-

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DER

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im Kleinen Katechismus, „Ich gläube, daß mich Gott geschaffen hat sampt allen Kreaturen“, einen schöpfungstheologischen Impuls, der in den darauf folgenden Jahrhunderten wesentlich durch protestantische Theologen wie Lauritz Smith (18. Jh.), Christian Adam Dann (19. Jh.), Albert Schweitzer und Karl Barth (20. Jh.) – um wenigstens einige bekanntere der mittlerweile wiederentdeckten Positionen zu nennen – weiter getragen wurde, und zwar bis zu den Protagonisten des wesentlich protestantisch geführten „Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ der 1980er Jahre und den daher inspirierten protestantischen Stichwortgebern und Befürwortern einer „Würde der Kreatur“ bzw. „Würde der Tiere“ wie neben den schon genannten Teutsch und Röhrig der durch die Einführung der „Kemptener Tierweihnacht“ bekannt gewordene Ebermuth Rudolph, der Theologe und Biologe Günter Altner, der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker, sein Schüler Klaus-Michael Meyer-Abich, der das Umweltprogramm der SPD in den 1970er mit entwickelt hat und für einen „Frieden mit der Natur“ warb, und viele andere überwiegend protestantische Zeitgenossen mehr.15 Ich will im Folgenden exemplarisch an einigen der genannten evangelischtheologischen Protagonisten Akzentsetzungen und Varianten einer theologischen Ethik der Mitgeschöpflichkeit in der Neuzeit skizzieren, die bis heute die tierethische Diskussion beeinflussen (4.2 bis 4.5). Zuvor sollen die schöpfungstheologischen Grundlagen in den biblischen Texten erinnert werden, um deren spätere Aneignungen verfolgen zu können (4.1). Abschließend wird aufgezeigt, wie deren historisch-kritische Rekonstruktion noch die heutige Tierethikdebatte zu orientieren vermögen (5.). 4.1 Bonitas und Dignitas: Biblische und philosophische Grundlagen „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.” (Gen 1,1) So beginnt der Teil der Heiligen Schrift, den die christliche mit der jüdischen Glaubensgemein-

schen Renthendorf eine erste Vogelsammlung anlegte. Vgl. Brehm-Gedenkstätte http://museen.de/brehm-gedenkstaette-renthendorf.html (26.08.2014). 15 Einen ausführlichen Überblick über die Geschichte bietet Baranzke, Würde der Kreatur (Anm. 1), S. 223-308 und jüngst insbes. für die jüngeren tierethischen Aktivitäten in der EKD Schleißing, Stefan/Grimm, Herwig, „Tierethik als Thema der Theologie und des kirchlichen Handelns“, in: Hauschildt, Friedrich/Kaiser, Klaus-Dieter/Lepp, Claudia/Oelke, Harry (Hg.), Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland, Jg. 137, Gütersloh 2010, S. 45-86.

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schaft teilt. Der biblische Hymnendichter des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts differenziert diesen allumfassenden Merismus im weiteren Verlauf seines priesterlichen Lehrgedichts durch die Aufzählung der von Gott ins Dasein gerufenen Einzeldinge: Licht und Finsternis, das Firmament, die Gestirne, das Pflanzenkleid der Erde und alle Tiere sowie den Menschen. Den Lebewesen erteilt er den Segen der Fortpflanzung (Gen 1,22.28), damit sie ihre Gattung aus den jeweils geschaffenen Urpaaren in der nun anbrechenden Geschichte selbst erhalten und vermehren können. Dann teilt er Menschen wie Tieren je unterschiedliche rein pflanzliche (!) Nahrung zu (Gen 1,29f.), um abschließend sein gesamtes Schöpfungswerk zu betrachten und als „sehr gut“ zu würdigen. „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.“, lautet die biblische Ursprungsstelle (Gen 1,31), von der aus die schöpfungstheologische Lehre von der „Güte der Schöpfung“ oder der geschöpflichen Würde alles Seienden ihren Ausgang genommen hat. Wie die Bibel alles in einem paradiesischen Gottesgarten in der vermutlich älteren jahwistischen Erzählvariante der Bibel (Gen 2/3) bzw. in einem „sehr gut“ geordneten unblutigen Friedensreich beginnen lässt, so erzählt die griechische Mythologie von einem Goldenen Zeitalter eines ewigen Frühlings und ohne blutige Opfer.16 Die „Güte der Schöpfung“ ist neben der griechischen Überzeugung von der Güte des Seienden im Kosmos, aufgrund der die Seinsordnung zugleich immer eine Wertordnung ist, die theologische Wurzel der abendländischen BonitasTradition. Das dogmatische Theologem von der Güte der Schöpfung wurde von den frühen Kirchenvätern auf der Basis der göttlichen Abkunft der Schöpfung17 und ihrer Billigung als sehr gute Schöpfung durch den Schöpfer im Kampf gegen die gnostische Abwertung der materiellen Welt entwickelt. Entscheidend an dem Gedanken ist die bleibende Verwiesenheit verletzlicher Lebewesen im Einzelnen und einer fragilen Lebensordnung im Ganzen auf einen guten Schöpfer-

16 Wovon uns z. B. Empedokles, Hesiod, Theophrast, Ovid u. a. m. erzählen, vgl. Texte in Baranzke, Heike/Gottwald, Franz-Theo/Ingensiep, Hans Werner (Hg.), Leben Töten Essen. Anthropologische Dimensionen, Stuttgart: Hirzel 2000; und Linnemann, Manuela (Hg.), Brüder Bestien Automaten. Das Tier im abendländischen Denken, Erlangen: Harald Fischer 2000; vgl. zum Hintergrund Landmann, Michael, Ursprungsbild und Schöpfertat. Zum platonisch-biblischen Gespräch, München: Nymphenburger Verlagshandlung 1966, S. 265-282. 17 die in der römischen Antike unter dem Theologem der „creatio ex nihilo“ auch gegen philosophische Lehren von der Ewigkeit der Materie verteidigt wurde. Vgl. May, Gerhard, Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, Berlin/New York: de Gruyter 1978.

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gott, der auch nach dem primären Schöpfungsakt (creatio prima) allen seinen Kreaturen fürsorglich zugewandt bleibt (creatio continua). Von der platonischneuplatonischen Lehre von der Teilhabe allen Seienden an der Güte des Seins unterscheidet sich die theologische Schöpfungsgüte durch ihren Bezug zu einem personalen Gottesbild. Diese Differenz wirkt systematisch letztlich noch in dem aktuellen begründungstheoretischen Streit darüber nach, ob eine Entität einen so genannten „intrinsischen“, auf ihren Eigenschaften basierenden Wert besitzt oder ob der Wertcharakter letztlich subjektphilosophisch fundiert werden muss, sich also einem wertschätzenden personalen Willensakt verdankt. Jedenfalls appelliert die Bonitas-Würde an den wertschätzenden Umgang mit Wesen angesichts ihrer gefährdeten leiblichen Integrität und physischen Zerstörbarkeit. Es ist wohl kaum zufällig, dass der Ideenkomplex der Bonitas-Würde in einer Zeit gestiegenen Bewusstseins für die Gefährdungen der Lebensgrundlagen wie der menschlichen Physis wachsende Aufmerksamkeit erfährt. Ist Gen 1,31 die biblische Kernstelle für das Axiom von der grundsätzlichen Seins- bzw. Schöpfungsgüte alles Seienden sowie der Schöpfung als Ganzes, so sind die Verse Gen 1,26-28 die prominente biblische Berufungsinstanz für die besondere Stellung des Menschen in der Schöpfung aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit oder besser seines „Gottesstatue“ sein. Auf diesen Ausdruck rekurriert der Tübinger Exeget Walter Groß, um die ideengeschichtliche Verbindung des hebräischen Bibeltextes mit der altorientalischen Königsideologie zu unterstreichen und von der mittelplatonischen Abbildtheorie als dem SeptuagintaInterpretament aus hellenistischer Zeit zu unterscheiden. Der hebräische Text lautet in der Übersetzung von Groß: Und Gott sagte: Wir wollen Menschen machen als unsere Statue unseresgleichen, damit sie herrschen über die Fische des Meeres und über das Fluggetier des Himmels und über das Vieh und über alles Getier der Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. Und Gott schuf den Menschen als seine Statue; als Statue Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie. Und Gott segnete sie, und Gott sagte zu ihnen: Seid fruchtbar und werdet zahlreich und füllt die Erde und nehmt sie in Anspruch und herrscht über die Fische des Meeres und über das Fluggetier des Himmels und über alle Getier, das auf der Erde kriecht.18

18 Groß, Walter, „Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes? Aufgabe und Würde des Menschen nach dem hebräischen und dem griechischen Wortlaut“, in: Jahrbuch für Biblische Theologie (JBTH), Bd. 15 (2000), Menschenwürde. Hg. von Baldermann, Inge et al., Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2001, S. 11-38.

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Die Gottesstatuenhaftigkeit ist das biblische Anthropinum schlechthin und unterscheidet die Menschen von den Tieren und von allen anderen Schöpfungen Gottes. Während in Ägypten nur der Pharao als Bild/Statue Gottes galt, wird die Gottesstatuenhaftigkeit in der Bibel universalisiert und zu einer Bestimmung aller Menschen, männlich und weiblich. Doch obgleich die Gottesstatuenhaftigkeit den Menschen aus dem Kreis der übrigen Geschöpfe hervorhebt, wird er dadurch nicht vergöttlicht, wie die hebräischen Schriftsteller durch die Verwendung unterschiedlicher Bildbegriffe für die Gottesstatuenhaftigkeit des Menschen und für das Verbot der bildlichen Darstellung Gottes unterstreichen. Die Gottesstatuenhaftigkeit des Menschen verändert nicht das kreatürliche Wesen des Menschen, seine Bonitas-Qualität, aber sie qualifiziert die Menschen als jene Geschöpfe, die in der Lage sind, sich in der Welt zu dem normativen Anspruch des Schöpfers zu verhalten. Die Ausstattung mit der Dignitas-Qualität der Gottesstatuenhaftigkeit resultiert in dem Auftrag, nach dem Vorbild des fürsorgenden Schöpfers die Schöpfung zu nutzen und zu verwalten. Die antike Philosophie formulierte ähnliche Gedanken hingegen in dem vernunftethischen Paradigma tugendethischer Selbstverpflichtung, zu der der Mensch aufgrund seiner seelischen Vernunftvermögen als befähigt betrachtet wurde. Sie bestimmt die Stellung des Menschen im Kosmos. Im Vergleich mit allen anderen Entitäten, insbesondere im Vergleich mit den Tieren, findet der Mensch dieser frühen philosophischen Konzeption zufolge seinen natürlichen, ihm gemäßen Ort im Kosmos durch eine vernunftgeleitete Lebensführung. Die stoische Ethik bündelt die tugendethischen Impulse früherer Philosophenschulen und entwickelt in hellenistischer, poliskritischer Zeit die Idee vom Menschen als Kosmopoliten, der aufgefordert ist, sich allein der Ordnung seiner universalen Vernunft zu unterstellen und sich nicht wie die unvernünftigen Tiere den wechselvollen Impulsen seiner Triebe und Lüste auszuliefern. Dabei wird die reine, von Begierden ungetrübte Vernunft als irrtumsfreies, mit der kosmischen Ordnung in Einklang stehendes Gut betrachtet. Dieser vernünftigen kosmischen Ordnung frei folgen zu können und zu sollen, darin besteht für die philosophische Antike die besondere Würde des Menschen – seine von Cicero so genannte dignitas. – Die Kirchenväter glaubten in dieser ciceronischen dignitas die biblische und durch Septuaginta und Vulgata platonisierte Gottesbildlichkeit wieder zu erkennen und vermittelten das Ideensyndrom der spezifisch menschlichen Dignitas-Würde ins christliche Abendland. Wiederum zeigt sich ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Traditionssträngen der Menschenwürde, und zwar hinsichtlich der Art und Weise der Begründung der Pflicht zu einer dem Menschen entsprechenden Lebensführung: Die philosophische universale menschliche dignitas leitet die Forderung tugendethischer Selbstverpflichtung

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von einer kosmologisch-naturgesetzlich verankerten Menschennatur ab; die biblische Gottesbildlichkeit des Menschen hingegen von einem interpersonalen Verantwortungsverhältnis zu einem personalen Schöpfergott als Ursprung, Kriterium und Verantwortungsinstanz für ein menschenwürdiges Leben. In konfessionsvergleichender Perspektive ist für die Entwicklung des Naturverhältnisses das Verhältnis der beiden biblischen Ideen, der Bonitas-Würde und der Dignitas-Würde, zum einen relevant, welcher theologisch epistemische Wert ihnen zuerkannt wurde, und zum anderen theologisch anthropologisch, welchen Einfluss die Lehre vom Sündenfall hatte. Wenige Bemerkungen zu zwei wichtigen Weichenstellern müssen hier genügen. Der Kirchenvater Augustinus ist mit seinem gewaltigen Synthesewerk eine Schlüsselfigur in unserem Zusammenhang, da er die biblische Schöpfungstheologie gegen die gnostische Weltverteufelung mobilisiert hat. Von der göttlichen Herkunft der Welt zeugten nach Augustinus auch die „unvernünftigen“ materiellen Kreaturen. Sie galten ihm als vestigia Dei, als Spuren Gottes in der Schöpfung, die er aber scharf und wirkmächtig vom geistbeseelten Menschen als der einzigen imago Dei unterschied. Das Erbe Augustins für das christliche Naturverhältnis ist somit ambivalent. Einerseits kann er selbst noch in das Loblied auf den Mist als einer guten Kreatur einstimmen19 und legt unter dem Einfluss der neuplatonischen gestuften Teilhabelehre das Fundament für eine christliche Naturmystik; andererseits vermag die Güte nichtmenschlicher Kreaturen kaum mehr aus dem Schatten einer alles überstrahlenden, vernünftigen Geistbeseeltheit des imago-Dei herauszutreten.20 Mit diesen Weichenstellungen prägt Augustinus vor allem die anthropozentrische Grundhaltung der römisch-katholischen Tradition bis ins 20. Jahrhundert.21 Ausgerechnet der Augustinermönch Martin Luther setzt mit seiner Rechtfertigungslehre einen anderen anthropologischen Impuls. Für ihn ist das ImagoSein des Menschen wesentlich durch die Sünde verdunkelt. Schon bald malen nachfolgende Reformatoren aus, wie die Folgen des menschlichen Sündenfalls im Leiden aller Kreaturen spürbar sind und entwickeln daraus die Lehre von der besonderen Weltverantwortung des homo peccator, die Folgen des von ihm ver-

19 Vgl. Augustinus, „De vera religione XLI“, in: Augustinus, Theologische Frühschriften. Vom freien Willen. Von der wahren Religion, übersetzt und erläutert von Wilhelm Thimme, Zürich/Stuttgart: Artemis 1962, S. 497. 20 Vgl. Baranzke, Heike, Würde der Kreatur? (Anm. 1), S. 85ff. 21 Vgl. dazu auch Münk, Hans J., „Die Würde des Menschen und die Würde der Natur. Theologisch-ethische Überlegungen zur Grundkonzeption einer ökologischen Ethik“, in: Stimmen der Zeit, Bd. 215, H. 1, 1997, S. 17-29.

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ursachten Leids durch tätige Fürsorge zu mildern. Dieser reformatorische Anstoß wird im 19. Jahrhundert schließlich in eine Welle protestantischer Gründungen von Tierschutzvereinen münden. Darauf wird noch zurückzukommen sein.22 Nach diesen holzschnittartigen Unterscheidungen zwischen Bonitas- und Dignitas-Traditionen der Würde, zwischen dem alles Zerstör- und Verletzbare betreffende moralischen Gut körperlicher Integrität einerseits und dem spezifisch menschlichen moralischen Gut moralischer Integrität andererseits soll die Fortwirkung der Ideen exemplarisch an ausgewählten Reformatoren weiterverfolgt werden. 4.2 Lauritz Smith und die Lehre von der doppelten Würde der Tiere Das aktuelle Erscheinen mehrer Reprint-Ausgaben lässt darauf schließen, dass die Lehre von der Tierwürde des dänischen Theologen Lauritz Smith (17541794) gerade im Kontext der „Animal Studies“ eine Renaissance erlebt.23 1789, im Jahr der französischen Revolution, publiziert Smith zunächst in dänischer Sprache, dann 1790 in eigenhändig angefertigter deutscher Übersetzung sein Werk „Ueber die Natur und Bestimmung der Thiere wie auch von den Pflichten der Menschen gegen die Thiere“. Darin spricht der lutherische Pfarrer recht unspektakulär „Von der Würde der Thiere, und der Absicht ihres Daseins hier auf Erden”.24 Im Zeichen der reformatorischen Rechtfertigungslehre und Anthropozentrikkritik sowie im Gefolge der protoökologischen Physikotheologien Carl von Linnés und Hermann Samuel Reimarus’ macht Smith geltend, dass die Tiere in der oeconomia divinae nicht nur um des menschlichen Nutzens willen existieren, sondern alle Kreaturen ihre je eigene Rolle in der „Haushaltung“ Gottes, wie die Schöpfung in ihrer Gesamtheit im 18. Jahrhundert oft genannt wird, spielen. „Die Würde der Thiere ist demnach diese, daß sie als mitwürkende Substanzen

22 Zum protestantischen Hintergrund der deutschen Tierschutzbewegung sowie der vielfältigen Forschungsliteratur vgl. Baranzke, Heike, Würde der Kreatur? (Anm. 1), S. 223-237. 23 Die zweite vermehrte Auflage von Smiths Werk Versuch eines vollständigen Lehrgebäudes der Natur und Bestimmung der Thiere und der Pflichten des Menschen gegen die Thiere, Kopenhagen: Proft 2. verm. Aufl. 1793, die die Lehre von der doppelten Würde der Thiere enthält, ist kürzlich in mehreren Reprints erschienen z. B. bei Bremen: Dogma 2013 und Norderstedt: Vero 2014. 24 Smith, Lauritz, Ueber die Natur und Bestimmung der Thiere wie auch von den Pflichten der Menschen gegen die Thiere, Kopenhagen: Proft 1790, S. 45.

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zu dem großen Ziel der Vollkommenheit, geachtet werden können, welches der Schöpfer für alle seine Geschöpfe bestimte.“25 Der Würdebegriff fällt hier eher beiläufig und wird nicht näher erklärt. Er tritt in der Funktion einer besonderen, aber selbstverständlichen Wertbekundung einer vom Schöpfer verliehenen Güte auf dem geschichtlichen Weg der Weltordnung zu ihrer Vollkommenheit auf. Als vom Schöpfer eingerichtete Instrumente göttlichen Heilswirkens verdienen auch die Tiere, vom Menschen geachtet zu werden. In der zweiten, stark erweiterten Auflage seines Buches, nun unter dem Titel „Versuch eines vollständigen Lehrgebäudes der Natur und Bestimmung der Thiere und der Pflichten des Menschen gegen die Thiere“26 baut Smith seine ursprünglich beiläufige Rede von der Würde der Tiere zu einer Lehre von einer doppelten Würde der Tiere aus: Die absolute Würde der Thiere besteht darin, daß sie lebendige, empfindende, intellektuelle Wesen sind, deren jedes für sich bestimmt ist, glücklich zu seyn, weil sie Fähigkeiten und Anlagen haben, Glückseligkeit zu genießen, und durch ihr Daseyn in Besitz von Freude und Glück gesetzt wurden. Diese Freude und dies Glück sind nun freylich größer oder geringer, je nachdem der Würkungskreis des Thiers von größerm oder geringerm Umfange ist, aber jedes lebendige Wesen erhielt mit dem Leben auch zugleich die Freuden, die nothwendig damit verbunden sind, aus der Hand des Schöpfers; jedes lebendige Wesen hat seinen Grad von Intelligenz, und seine Würde als intellektuelles Wesen unter den andern Intelligenzen. Die relative Würde der Thiere ist die, daß sie als mitwürkende, und sogar auf mancherley Weise willkührlich mitwürkende Substanzen zu dem großen Ziel der Vollkommenheit angesehen werden können, welches der Unendliche für alle seine Geschöpfe bestimmte; und hievon wird eine aufmerksame Betrachtung der Natur uns die vollkommenste Ueberzeugung gewähren.27

Nun wird die ‚ökotheologische‘ Rolle der Tiere im Ganzen der oeconomiae divinae als „relative Würde“ der „absoluten Würde“ des animalischen Empfindungsglücks nachgeordnet. Je nach ihrem „Würkungskreis“ ist allen empfindungsfähigen Lebewesen „aus der Hand des Schöpfers“ ihr Recht auf Daseins-

25 Ebd. S. 49. 26 Smith, Lauritz, Versuch eines vollständigen Lehrgebäudes der Natur und Bestimmung der Thiere und der Pflichten des Menschen gegen die Thiere, Kopenhagen: Proft, dän. 1791; dt. 1793. Eine ausführliche Darstellung und Interpretation des umfangreichen Werkes findet sich in Baranzke, Heike, Würde der Kreatur? (Anm. 1), S. 245-276. 27 Smith, Lauritz, Versuch eines vollständigen Lehrgebäudes (Anm. 26), S. 331f.

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glück und Lebensgenuss gewährt. In der Epoche der Menschenrechtserklärungen reklamiert Smith auch jetzt für die animalischen Individuen ein Recht auf Streben nach individuellem Glücksgenuss. Das Leben erfüllt sich nun im Empfindungsglück und nicht mehr, wie noch in stoischer Tradition, im Glück vernünftiger Lebensführung. Die alte vernunftorientierte eudaimonia wird sentientistisch herunterdefiniert. Der individuelle „pursuit of happiness“ wird von dem Pfarrer Lauritz Smith – wie in der politischen Philosophie John Lockes oder in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung – gottesrechtlich begründet, d.h. vom Schöpfer selbst durch die Schöpfungsordnung deklariert. Mit seiner Lehre von einer individuellen Tierwürde wird Smith zu einem Vertreter religiös begründeter Tierrechte, auf deren Beachtung die Menschen verpflichtet werden. – Dem gegenwärtigen Interesse an Smiths Tierwürdeposition stellt sich die Frage, ob man seiner religiösen Primärbegründung noch folgen will oder welches säkulare Begründungsangebot in einer pluralistischen Gesellschaft an diese Stelle rückt. Naturrechtliche Begründungen und objektive Werttheorien sind mit einer starken Metaphysik behaftet; evolutionäre oder andere szientifische, auf empirischen Eigenschaften und Fähigkeiten basierende, Begründungen intrinsischer oder inhärenter Werte stehen vor dem Sein-Sollens-Problem, dem Humeschen Verdikt. Nichtsdestotrotz ist Smith ein wichtiger Zeuge für die vielgestaltige Wirkungsgeschichte der Bonitas-Idee. 4.3 Christian Adam Dann – „der geistige Vater der Tierschutzbewegung in Deutschland“28 Es ist das Verdienst des Kirchenhistorikers Martin Jung, die Rolle des Stuttgarter Stadtpfarrers Christian Adam Dann und des württembergischen Pietismus für die deutsche Tierschutzgeschichte erforscht und erinnert und nicht zuletzt eine kritische und kommentierte Neuedition von Danns schwer zugänglichen Programmschriften in der Reihe „Kleine Texte des Pietismus“ unternommen zu haben.29 Als der gebürtige Tübinger Christian Adam Dann (1758-1837) im Jahr 1822 seine erste Tierschutzwerbeschrift herausgab, war er Pfarrer in Mössingen im Dekanat Tübingen. Länger schon hatte er sich mit dem Gedanken getragen, „eine Fürsprache für die Thiere, die unter uns leben“, bei seinen „Mitmenschen einzulegen und gleichsam der Mund dieser stummen und doch empfindenden Ge-

28 Jung, Martin H., „Die Anfänge der deutschen Tierschutzbewegung“ (Anm. 13). 29 Jung, Martin H. (Hg.), Christian Adam Dann – Albert Knapp. Wider die Tierquälerei. Frühe Aufrufe zum Tierschutz aus dem württembergischen Pietismus. Kleine Texte des Pietismus Bd. 7, Leipzig 2002.

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schöpfe zu seyn, durch den ihre gerechte Klagen an alle diejenigen gebracht werden könnten, unter deren Gedankenlosigkeit und Unwissenheit, oder Leichtsinn und Bosheit sie so unaussprechlich viel und so unschuldig zu leiden haben.“30 Als im Frühsommer 1821 ein Storch, durch einen Schuss tödlich verwundet, in Mössingen aufgefunden wird und der andere auf dem Kirchturm nistende Storchenelternteil mit drei Jungen verwaist zurückbleibt, ist das für den leidenschaftlichen Spaziergänger und Naturbeobachter Dann der letzte Anstoß dazu, seine „Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn, die Menschen“ (1822) zu verfassen. Nach der Schilderung des Falls wendet er sich mit einer Gewissensrede an den anonymen Missetäter, die Ende des Jahrhunderts noch Albert Schweitzer, der ebenfalls in Kindertagen einmal einen Vogel mit einer Steinschleuder erlegt hatte, schuldbewusst ins Herz trifft. Für Dann ist ein solcher „Bubenstreich“ Ausdruck eines von Grund auf gottvergessenen Menschen. Wer gedankenverloren Geschöpfe Gottes quält, der lebt nicht im Bewusstsein des angebrochenen Gottesreiches und trägt vermutlich noch mehr „unerkannte Sünden“ mit sich herum. Eine einzige, wenn auch nur gedankenlose tierquälerische Handlung ist für Dann Indikator und Ausdruck eines gottfernen Menschen. Daher zeigt sich am Verhalten zu den Tieren der wahrhaft Bekehrte. „Der das Schreien der jungen Raben“ (vgl. Ps 147,9; Hiob 39,3) hört, der hört auch das Winseln und Klagen der verwaisten Störche. Die gequälten Tiere werden zum Ankläger des Menschen vor Gott. Die seufzende Kreatur aus Röm 8 durchzieht Danns Bitte wie ein Leitmotiv und lässt ihn wiederholt über die Unterscheidung zwischen „den vielen unnöthigen Plagen unserer armen wehrlosen Mitgeschöpfe“ und dem Eindruck des „unvermeidlichen Leidens der Creatur“31 sinnieren, vor allem angesichts der Schlachtung und der „zum Wohl der Menschheit“ unternommenen Vivisektionen, für die er – wie noch heute § 1 des deutschen Tierschutzgesetzes – nur ‚vernünftige‘ Rechtfertigungsgründe zulässt. Nach mancherlei Schilderungen alltäglicher Tierquälereien leiht Dann den Tieren schließlich „auf eine Weile Vernunft und Sprache“, um sie ihre „Bitte gleichsam selbst anbringen“ zu lassen:

30 Dann, Christian Adam, Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn, die Menschen. Tübingen 1822 (2. Aufl. 1838; 3. Aufl. 1865), zit. n. Jung, Martin H. (Hg.), Christian Adam Dann – Albert Knapp, S. 4. Vgl. zum Hintergrund insbesondere Jung, Martin H., „Die Anfänge der deutschen Tierschutzbewegung“ (Anm. 13). 31 Dann 1822 zit. n. Jung, Martin H. (Hg.), Christian Adam Dann – Albert Knapp (Anm. 29), S. 9.

56 | H EIKE B ARANZKE Vernünftige Beherrscher! gern stehen wir unter euch. Denn von euch haben wir nichts zu befürchten. Ihr erkennet, daß wir nicht nur eurer Herrschaft, sondern auch eurem Schutz, eurer Pflege, eurer Versorgung anvertraut sind. Ihr werdet niemals, Tirannen gleich, nach bloßer blinder ungestümmer Willkühr mit uns verfahren, uns nie auch nur das geringste unnöthige Leiden verursachen. […] Ihr erkennet es daher auch an, daß ihr eurem und unserm Schöpfer für den Gebrauch und die Anwendung desselben verantwortlich seyd. […] Ist doch der Dienst, den uns der Schöpfer auferlegt hat, ein schwerer Dienst. Wir wollen uns aber demselben gern unterwerfen; – wir dienen euch mit unseren Kräften, mit unserer Wolle, Fellen und Häuten; und viele unter uns dienen euch mit unserm Tode, und geben euch gesunde, wohlschmeckende, stärkende Nahrung. – […] Macht uns unser meist kurzes, mühevolles Leben erträglich und unsern Tod so kurz und so leicht wie möglich.32

Diese den Tieren in den Mund gelegte Rede Danns führt gewissermaßen in Reinform eine biblisch begründete Ethik der Mitgeschöpflichkeit vor, in der der Mensch die gottesbildlich begründete Sonderstellung eines verantwortlichen Nutznießers in der nach dem Sündenfall nur noch zur „guten“ geminderten, nicht mehr „sehr guten“ Schöpfung innehat. Die Bonitas-Würde der Tiere kommt hier vor allem durch ihre Verletzlichkeit und Leidensfähigkeit zum Ausdruck, die den Menschen in seine Verantwortung für die Mitgeschöpfe vor dem Schöpfer ruft. Zehn Jahre später, Dann ist mittlerweile Stadtpfarrer an der Stuttgarter St. Leonhard-Kirche, setzt er sich noch einmal in Sachen Tierschutz an den Schreibtisch und verfasst einen „Nothgedrungenen Aufruf an alle Menschen von Nachdenken und Gefühl, zu gemeinschaftlicher Beherzigung und Linderung der unsäglichen Leiden der in unserer Umgebung lebenden Thiere“ (1832).33 Am 19. März 1837 stirbt Dann in Stuttgart. Zwei Strophen seines 22strophigen „Nachruf(s) an den Vollendeten“ widmet der pietistische Pfarrer, Kirchenliedautor und langjährige Weggenosse Danns, Albert Knapp (1798-1864)34, Danns Tierschutzbemühen, in dem auch das Motiv von den Tieren als „Spuren Gottes“ in der Schöpfung des Augustinus nachklingt:

32 Dann 1822 zit. n. Jung, Martin H. (Hg.), Christian Adam Dann – Albert Knapp (Anm. 29), S. 24f. 33 Dann 1832; 2. Aufl. 1838; 3. Aufl. 1871; Die erste Auflage von Danns „Nothgedrungenem Aufruf“ findet sich gleichfalls bei Jung, Martin H. (Hg.), Christian Adam Dann – Albert Knapp (Anm. 29), S. 40-64. 34 Zu dem bedeutenden Kirchenliederdichter Albert Knapp vgl. Röhrig, Eberhard, Mitgeschöpflichkeit, (Anm. 12), S. 216-220.

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[…] Durch Gassen auch, wo er so oft geklaget, Wenn seufzend Pferd und Stier vorbeigekeucht, Und unter seiner Dränger Hand gezaget, Der Thierqual nur ein Zeitvertreib gedäucht! O Kreatur, die du mit bangem Haupt Umschaust nach unsrer Freiheit, und geheim Uns opfern mußt den besten Lebenskeim: Dein Freiseyn auch hat er erfleht, geglaubt! Ja, von dem Menschen, der im Elend wimmert, Bis zu dem Wurme, der im Staube kriecht, Rief er Dich, HErr, der unsern Tod zertrümmert, Zu Allem, was auf Erden seufzt und siecht. Dein Leben, – o wie klar und mannigfach, – Dein Lieben, o wie geistvoll, hehr und mild Faßt’ er zusammen in Ein Freudenbild, Und ging all’ Deinen Gottesspuren nach! …35

Ein dreiviertel Jahr später verwirklicht Knapp eine lang gehegte Idee seines väterlichen Freundes Dann und gründet den ersten deutschen Tierschutzverein in Stuttgart als Ausdruck einer Weltverantwortung des sündigen Menschen, der mit solcher einer die Tiere einschließenden, tätigen Nächstenliebe der Wiederkunft des Herrn den Weg zu bereiten sucht. Martin Jung hat gezeigt, wie insbesondere im württembergischen Pietismus dieses spezielle reformatorische Sündenbewusstseins zur Gründung von Suppenküchen und Tierschutzvereinen gleichermaßen führt. 1839 werden in Württemberg wichtige Tierschutzgesetze erlassen. Der Verein löst sich nach einigen Jahren aus unbekannten Gründen auf und wird am 17. Juni 1862 von 80 Gründungsmitgliedern in Stuttgart wieder gegründet. Beide Stuttgarter Tierschutzvereine gaben Danns zwei Tierschutzschriften je neu heraus und bewahrten damit die Erinnerung an Christian Adam Dann und seine Ethik der Mitgeschöpflichkeit,36 deren Geist insbesondere in Albert Schweitzers „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“ weitergetragen wurde.

35 Knapp, Albert in: Dann’s Denkmal. Denkmal der Liebe für den vollendeten M.C.A. Dann, Stadtpfarrer bei St. Leonhardt in Stuttgart. Stuttgart: J.F. Steinkopf ’schen Schriften o. J., S. 38. 36 Vgl. Teutsch, Gotthard M., „Pietismus“, in: Ders., Mensch und Tier, S. 167f. und Jung, „Die Anfänge“ (Anm. 13), 205-239.

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4.4 Albert Schweitzers Ansatz einer Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben Auch der elsässische evangelische Theologe, Philosoph und Arzt Albert Schweitzer (1875-1965) ist von Danns Schriften und der württembergischen Tierschutztradition beeinflusst. Seine zur tätigen Weltverantwortung treibende Ethik der Ehrfurcht vor allem Leben ist aber von anderen geistigen Strömungen stark mitgeprägt. Neben der Moralphilosophie Kants und dem Werk Goethes haben die Willensphilosophien von Schopenhauer und Nietzsche, der Sozialdarwinismus sowie die Erfahrung des ersten Weltkriegs ihre Spuren im Denken Schweitzers hinterlassen.37 So lässt Schweitzer seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben in der Selbsterfahrung des ‚Ich will leben‘ oder ‚In mir drängt ein Wille zum Leben‘ wurzeln.38 Der unmittelbare Drang eines sich ausleben wollenden Bonitas-Lebens wird in allem Lebendigen wiedererkannt und kann in vernünftigen Lebewesen zur Erkenntnis eines „Willens zum Leben in mir“ kommen. Diese Erkenntnis führt dann nach Schweitzer zu der „Nötigung“ der Anerkenntnis eines jeden Willen zum Leben um mich herum, ob er sich mir gegenüber äußern kann oder ob er stumm bleibt. Ethik besteht also darin, daß ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben. Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen.39

Die naturhafte Selbsterfahrung „blinder Lebensbejahung“40 universalisiert Schweitzer zur Entdeckung auch anderer existierender Lebenswillen in anderen Wesen dieser Welt und gelangt so zu einer Anerkennungspflicht ‚sehender Lebensbejahung‘, die er „Ehrfurcht vor dem Leben“ nennt. Auf diese Weise erhebt sich ein vernunftfähiges Lebewesen zu einem moralischen Dignitas-Träger, d. h. zu einem moralischen Lebewesen, das zur prima-facie-Anerkenntnis anderer

37 Vgl. Baranzke, Heike, „Was bedeutet Ehrfurcht in Albert Schweitzers Verantwortungsethik? Eine Begriffsanalyse im Vergleich mit Schwantje, Kant, Goethe und Nietzsche“, in: Synthesis Philosophica 53, vol. 27, fasc. 1, 2012, S. 7-29. 38 Vgl. Altner, Günter, Naturvergessenheit. Grundlagen einer umfassenden Bioethik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, S. 46ff. 39 Schweitzer, Albert, Kultur und Ethik. Kulturphilosophie, 2. Teil, München: Beck 1923, S. 239. 40 Ebd. S. 219.

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Lebenswillen als prinzipiell gleichberechtiger Lebenswillen genötigt ist. Dabei formuliert Schweitzer keineswegs – wie oft unterstellt – eine naturalistische Ableitung der Ethik aus einer Naturordnung. Das ist für den kantianisch geschulten Schweitzer gar nicht möglich, denn: Die Natur kennt keine Ehrfurcht vor dem Leben. Sie bringt tausendfältig Leben hervor in der sinnvollsten Weise und zerstört es tausendfältig in der sinnlosesten Weise. […] Der große Wille zum Leben, der die Natur erhält, ist in rätselhafter Selbstentzweiung mit sich selbst. Die Wesen leben auf Kosten des Lebens anderer Wesen.41

Mit diesem selbstwidersprüchlichen Treiben der Natur ist dem Menschen gar keine Möglichkeit gegeben, sein ‚Sollen‘ aus ihrem ‚Sein‘ abzulesen. Die menschliche Erkenntnisfähigkeit „resigniert“ vielmehr vor dem Versuch, aus einer Naturordnung – Schweitzer nennt dies „Weltanschauung“ – eine moralische Ordnung für den Umgang mit allem Lebendigen, bei Schweitzer „Lebensanschauung“, ablesen zu wollen. Da der zur Verwirklichung drängende „Wille zum Leben“ untrennbar verwoben ist mit der Zerstörung anderen Lebens, kann erst der Dignitas-Standpunkt der Ethik einer Ehrfurcht vor dem Leben dem Treiben der Natur Bonitas-Qualität verleihen. Die Naturordnung ist für Schweitzer nicht einmal mehr diaphan auf die menschliche Ursünde hin. Vielmehr steht Schweitzer einerseits der pessimistischen Leidensmetaphysik Schopenhauers nahe, die ihn aber mit Kant zum Standpunkt eines Primats der praktischen Vernunft führt. Gegen Schopenhauer lässt er die Ethik aus „Welt- und Lebensbejahung“ entstehen und verbindet sie mit einem „optimistischen Wollen“,42 das sich als ethische Verpflichtung angesichts des Leidens in der Welt darstellt. 4.5 Karl Barths Differenzierungen kreatürlicher Würde In Auseinandersetzung mit Albert Schweitzers Lehre von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ stellt Barth die Frage, ob christliche Theologen aufgefordert sind, „von einem Zusammenhang oder gar von einer Einheit des menschlichen Lebens mit dem der Tiere und Pflanzen und – in unbestimmter Erweiterung dieses Krei-

41 Schweitzer, Albert, Was sollen wir tun? 12 Predigten über ethische Probleme (1919). Aus dem Nachlass hg. v. Strege, Martin/Stiehm, Lothar, Heidelberg: Lambert Schneider 1986, S. 30f.; vgl. auch Schweitzer, Albert, Kultur und Ethik (Anm. 39), S. 247ff. 42 Schweitzer, Albert, Kultur und Ethik (Anm. 39), S. 236.

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ses – mit dem Leben überhaupt zu reden?“.43 Barth fragt also, ob das BonitasLeben überhaupt Gegenstand theologisch-ethischer Reflexion ist. Schon in der zweiten Auflage seines Römerbriefkommentars hatte Barth in unüberhörbarer Anspielung auf Schweitzer geschrieben: „Verlieren müssen wir die Ehrfurcht vor dem Pseudo-Leben, das wir zu begreifen vermögen, diese Ehrfurcht, mit der wir dem göttlichen Geheimnis des Kosmos gerade nicht gerecht werden.“44 Barth beschränkt theologische Ethik auf das „den Menschen […] in seinem Leben“ anredende Wort Gottes. Der Mensch ist nicht auf das Leben der Tiere und Pflanzen, er ist nicht auf ein Leben überhaupt, sondern auf sein, das menschliche Leben, angeredet: auch in dem, was er mit dem von Tieren und Pflanzen gemeinsam hat, als auf Elemente seines, des menschlichen Lebens und gerade nicht als auf Elemente eines mehr oder weniger allgemeinen Lebens, an dem er nur Anteil hätte. Und wir fragen ja nach dem Leben als nach einem Bereich, in welchem Gottes Gebot in einer besonderen Dimension und Gestalt gültig ist.45

Mit Blick auf die lebensphilosophischen und utilitaristisch-naturalistischen Ethikdiskussionen seiner Zeit macht Barth – hierin uneingeholt aktuell – auf die Äquivokationen im Lebensbegriff aufmerksam. Gott redet den Menschen nicht auf sein psycho-physisches Leben – das Bonitas-Leben – an, das er mit den Tieren und Pflanzen teilt; das ist bereits gnadenhaft mitgeteilte kreatürliche Voraussetzung, das „Substrat“ für die Bundesgeschichte Gottes mit dem Menschen. Vielmehr ist das spezifisch menschliche Dignitas-Leben unter dem Anspruch des göttlichen Gebotes der genuine Gegenstand der theologischen Ethik. Barth verzichtet auf eine naturphilosophische oder kosmologische Einbettung oder Deduktion seiner Dignitas-Anthropologie und nimmt damit eine grundsätzlich von der empirisch gegebenen Welt unterschiedene und von dieser auch nicht kritisierbare Position ein. Während der Arzt und Theologe Albert Schweitzer mit der „Selbstentzweiung des Willens zum Leben in der Natur“ ringt, steht Barths theologische Ethik immer schon jenseits eines im Lichte des darwinistischen Daseinskampfes gedeuteten Naturgeschehens, ja ist für eine solche Deutung gar nicht empfänglich. Für ihn als Theologen ist „Natur an sich“ keine existente Größe. Vielmehr qualifiziert „der Bund als innerer Grund der Schöpfung“ die

43 Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III, Teil 4, Zollikon/Zürich: Evangelischer Verlag 1957, S. 376. 44 Barth, Karl, Der Römerbrief. Zehnter Abdruck der neuen Bearbeitung von 1922, Zürich: EVZ 1967, S. 292. 45 Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III, Teil 4 (Anm. 43), S. 377.

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Natur immer schon „als äußeren Grund des Bundes“, als „Weg und Mittel zum Bunde“46. Daher gibt es für Barth auch kein ‚natürliches‘ Leben – erst recht nicht als eine absolute Wertvorgabe. Leben ist immer schon qualifiziert als „geschöpfliches Leben“47, eingespannt zwischen zwei Grenzen, die „Kreaturgrenze“ und die „eschatologische Grenze“, die „die gebotene Ehrfurcht vor dem Leben nicht mindern, geschweige denn aufheben, […] sie aber modifizieren und charakterisieren“48. Nicht ein grenzen- und maßloser „Wille zum Leben“, wie Schweitzer in Anlehnung an Schopenhauer und Nietzsche zur Sprache bringt, macht für Barth das Leben zu einem „Gut“ und „Wert“,49 sondern die Tatsache, dass es als geschöpfliches, zeitliches, beschränktes Leben eine Leihgabe Gottes ist und „als solche in Ehren gehalten sein“ will. Im gleichen Atemzug erinnert Barth an die Verpflichtungsdimension geschöpflichen Lebens, nach der auch das Leben des Menschen „nicht Selbstzweck und also nicht in der Selbstverfügung des Menschen“ ist, „sondern – jetzt im umfassendsten Sinn gemeint – zum Dienste Gottes bestimmt“50 ist, um sich des ‚ewigen Lebens‘ als „Geschenk“ Gottes würdig zu machen und von diesem Standpunkt aus „dieses verwesliche und sterbliche Leben“51 erst aufzuwerten. Das geschöpfliche geliehene Leben kann „nur gelebt, aber nicht festgehalten, nicht besessen werden, es kann nur auf Grund der freien Aktion des lebendig machenden göttlichen Geistes immer wieder wirklich sein.“52 So wird bei Barth der „Wille zum Leben“, wenn das Leben erst einmal als geschöpfliches, d. h. begrenztes, verdanktes und auf Gott ausgerichtetes, Leben qualifiziert ist, zur theologischen Antwort auf die rechte „Ehrfurcht vor dem Leben“, während Schweitzer die „Ehrfurcht vor dem Leben“ als moralphilosophische Antwort auf einen blinden naturwüchsigen Willen zu einem durch Leid und Tod bestimmten Leben einfordert. Barth bestimmt das psychophysische Leben zum religiösen Gehorsam in Freiheit, zum Mittel für einen höheren Zweck. Nach Klärung der Gedanken von einer rechten Ehrfurcht vor und Willen zu dem Leben wendet sich Barth noch einmal neu Schweitzers Anfrage zu. Klar erfasst Barth, dass wir hinsichtlich der Bonitas-Ansprüche von Lebewesen „jedenfalls in der Richtung auf das Tier (aber so, daß wir doch auch die Pflanze im

46 Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III, Teil 1, Zollikon/Zürich: Evangelischer Verlag 1957, S. 259. 47 Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III, Teil 4 (Anm. 43), S. 370. 48 Ebd. S. 388. 49 Ebd. S. 385. 50 Ebd. S. 371. 51 Ebd. S. 383. 52 Ebd. S. 373.

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Blickfeld behalten) uns mindestens vor das Problem der Ethik unseres Verhältnisses zu seinem Leben stellen […] lassen“53 müssen. Barth anerkennt einander entsprechende psycho-physische Bonitas-Lebensansprüche alles Lebendigen, die der Mensch als einziger lebender Dignitas-Träger für sich zu vereinnahmen kein Recht hat, wenngleich diese Ansprüche nach Barth „nur analogisch unter den Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben“ zu bringen sind, und es daher nicht um eine „gleiche Verantwortlichkeit“,54 sondern nur um eine gestufte gegenüber dem eigenen, dem fremden menschlichen und dem fremden nichtmenschlichen Leben gehen kann. Jenseits des leicht kritisierbaren Problems der Operationalisierbarkeit der Schweitzerschen Ethik kommentiert Barth daher Schweitzers Ethikdefinition: „Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen Alles, was lebt“,55 durch die Gegenfrage: „Wie rechtfertigt man sich eigentlich, wenn man es anders hält, als Schweitzer es hier von einem haben will?“56 Barth nimmt also sehr wohl Schweitzers Impuls zu einer über den binnenmenschlichen Verantwortungsbereich hinaus erweiterten Ethik auf und bringt das Verhältnis des Menschen zu Pflanzen und Tieren unter „eine ernste sekundäre Verantwortlichkeit“57, die er schöpfungstheologisch begründet. Tiere und Pflanzen sind nicht Eigentum des Menschen, sondern Gottes Eigentum, der diese dem Menschen als „Lebensmittel“ übergeben hat.

5. T IERWÜRDE ? – Z UR N OTWENDIGKEIT DER U NTERSCHEIDUNG VON B ONITAS -W ÜRDE D IGNITAS -W ÜRDE IN DER AKTUELLEN T IERETHIKDEBATTE

UND

Mit Blick auf die schweizerische „Würde der Kreatur“ – und damit schließt sich der Kreis – ist hervorzuheben, dass Barth in seiner Schöpfungstheologie tatsächlich ganz unbefangen von der Würde des Tiers, ja sogar der Pflanze spricht. Eine der Textstellen aus Karl Barths „Kirchlicher Dogmatik“, auf die immer wieder als eine wesentliche Quelle der „Würde der Kreatur“ in der Aargauer Kantonalsowie in der Schweizer Bundesverfassung Bezug genommen wird, lautet:

53 Ebd. S. 396. 54 Ebd. S. 398. 55 Schweitzer, Albert, Kultur und Ethik (Anm. 39), S. 241. 56 Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III, Teil 4 (Anm. 43), S. 397. 57 Ebd. S. 399.

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Wenn es wahr ist, daß der Mensch, mit den Tieren durch Gottes Willen und Wort geschaffen, diesem Wort in Freiheit Gehör und Gehorsam schenken darf, so ist es auch wahr, daß er gerade in der ihn unmittelbar umgebenden Tierwelt beständig das Schauspiel einer zwar nicht freien, aber faktisch stattfindenden und in ihrer Weise vollkommenen Unterwerfung unter dieses Wort vor Augen haben wird. Das Tier geht dem Menschen voran in selbstverständlichem Lobpreis seines Schöpfers, in der natürlichen Erfüllung seiner ihm mit seiner Schöpfung gegebenen Bestimmung, in der tatsächlichen demütigen Anerkennung und Betätigung seiner Geschöpflichkeit. Es geht ihm auch darin voran, daß es seine tierische Art, ihre Würde, aber auch ihre Grenze nicht vergißt, sondern bewahrt und den Menschen damit fragt, ob und inwiefern von ihm dasselbe zu sagen sein möchte. Es ist ihm damit, daß es mit ihm auf dieselben objektiven Sicherungen seines Lebensraumes und mit ihm auf das Leuchten derselben Lichter des Tages und der Nacht angewiesen und mit ihm an denselben von Gott gedeckten Tisch verwiesen ist, lebendige Erinnerung an seine eigene Bedürftigkeit. Es ist ihm auch damit, daß es seiner Herrschaft unterstellt wird, lebendige Erinnerung an die Verantwortlichkeit, die ihm mit seiner eigenen Würde auferlegt ist.58

Zweierlei zeigt dieser Text: Unübersehbar redet Barth von der Würde des Tiers, das in seinem instinktgeleiteten Lebensverlauf dem Menschen ein Analogon einer Gott gehorsamen Lebensführung abgibt. Wie in Bezug auf das Leben so differenziert Barth auch in Bezug auf die Würde zwischen Mensch und Tier. Leben und Würde entpuppen sich bei Mensch und Tier als äquivoke Begriffe, die auf Seiten des zur freien Antwort dialogfähigen Menschen immer durch den theologisch-ethischen Anspruch Gottes überformt sind. Daher fungiert das Tier bei Barth als doppeltes Erinnerungszeichen für den Menschen: Das Tier als Mitgeschöpf erinnert den Menschen zum einen „an seine eigene Bedürftigkeit“ und Verwiesenheit auf Gottes Fürsorge – die geteilte Bonitas-Würde – und zum anderen „an die Verantwortlichkeit, die ihm mit seiner eigenen [!] Würde auferlegt ist“ – der spezifisch menschlichen, gottesbildlichen Dignitas-Würde der Verantwortungsfähigkeit. Verantwortungsfähigkeit aber – sei diese nun religiös durch ein personales Gottesverhältnis oder säkular als ethisches Selbst- oder als interpersonales moralisches Anerkennungsverhältnis59 begründet – ist Voraussetzung und notwendige Bedingung für das Unternehmen des Tierschutzes, deren Appelle sonst ins Leere laufen, weil sie keinen Adressaten finden. Die Würde des Tie-

58 Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III, Teil 1 (Anm. 46), S. 198. 59 Vgl. dazu Pinsdorf, Christina, „Von Sinn und Un-Sinn einer ‚Würde der Kreatur‘ und moralischen Anerkennungsverhältnissen“, in: Baranzke, Heike/Duttge, Gunnar (Hg.), Autonomie und Würde. Leitprinzipien in Bioethik und Medizinrecht. Würzburg: Königshausen und Neumann 2013, S. 481-506.

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res lässt sich also nicht als „Derivat der Menschenwürde“, sondern nur als „Form der ‚Würde der Kreatur’“60 verstehen. Diese ethische Differenz zwischen Bonitas-Würde und Dignitas-Würde unter Berufung auf eine szientifisch-biologischnaturgesetzliche, d. h. naturalistische Basis zu verleugnen mündet letztlich in eine naturalistische Zerstörung von Verantwortungsfähigkeit überhaupt. Erst die Dignitas-Würde spezifisch menschlicher Verantwortungsfähigkeit vermag die Voraussetzungen für die Anerkennung der Bonitas-Würde natürlicher Entitäten, der vernünftig gerechtfertigten Ansprüche auf die fürsorgliche Befriedigung von Bedürfnissen überhaupt, zu schaffen.

60 Vgl. Kunzmann, Peter, „Derivat der Menschenwürde oder eine Form der ‚Würde der Kreatur‘?“, in Baranzke, Heike/Duttge, Gunnar (Hg.), Autonomie und Würde. Leitprinzipien in Bioethik und Medizinrecht. Würzburg: Königshausen und Neumann 2013, S. 529-550.

Menschenaffen im Wandel der Zeit. Berichte und Illustrationen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert H ANS WERNER I NGENSIEP

1. E INFÜHRUNG Die Vorstellungen zu Menschenaffen und das Verhältnis des Menschen zum Affen haben sich seit ihrer Entdeckung in der frühen Neuzeit grundlegend gewandelt. Die einstigen ‚Monster‘ gelten manchen Philosophen und Bürgern heute als ‚Person‘. Der facettenreiche Wandel lässt sich in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte sowohl in Texten als auch in Illustrationen verfolgen. Schon die ersten Reiseberichte und Untersuchungen zu Orang Utans und Schimpansen inspirierten Äußerungen von führenden Philosophen des 18. Jahrhunderts wie Rousseau und Herder oder von bedeutenden Naturforschern der Aufklärungszeit. In Darwins Zeiten beflügelten Kenntnisse zu Menschenaffen und vor allem die Entdeckung und Erforschung von Gorillas die Phantasie der Öffentlichkeit. Die Existenz von Menschenaffen und ihre Menschenähnlichkeit forderte gerade im Zeichen der Evolutionstheorie zum neuen Nachdenken über die Differenz zum Menschen heraus. Im 20. Jahrhundert schließlich wenden sich Denker und Forscher einer Vielzahl von empirischen Einzelfragen zur Intelligenz, Kreativität und Kommunikation von und mit Menschenaffen zu. Heute ergeben sich vielfältige theoretische und methodische sowie praktische und ethische Probleme zu Menschenaffen – von anthropomorphen Fehldeutungen ihres Verhaltens bis hin zur Frage, ob sie ‚Personen‘ mit einem Selbstbewusstsein sind. Der folgende Beitrag skizziert wichtige Stationen und Hintergründe zum Verhältnis von Mensch und Menschenaffen anhand exemplarischer Schriften, Positionen und Illustrationen.

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2. S ATYR UND T EUFEL – „S IMIA “ IM M ITTELALTER

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Der ionische Philosoph Heraklit brachte schon im 5. Jahrhundert v. Chr. eine bis heute inspirierende Vorstellung zum Verhältnis zwischen Mensch und Affe auf den Punkt, wobei Gott als Vergleichspunkt hinzugenommen wird: „Der schönste Affe ist scheußlich im Vergleich zum Menschen. Der weiseste Mensch erscheint neben Gott wie ein Affe an Weisheit, Schönheit und in allem sonst“.1 Die Positionierung des Menschen als ein besonderes Mittelwesen zwischen Affe (pithekos) und Gott sowie der dem Menschen und Affen wenig schmeichelnde Vergleich ist bis heute ein ästhetisches, naturphilosophisches und ethisches Paradigma geblieben. Zu beachten ist aber, dass mit der Rede von „Affen“ lange Zeit nicht eigentliche Menschenaffen wie Orangs, Schimpansen oder Gorillas gemeint waren. Der Grieche Heraklit sowie die gesamte Antike kannten aus unmittelbarer Anschauung vor Ort gar keine Menschenaffen, sondern nur wesentlich kleinere Affen wie Makaken, die z. B. von Wohlhabenden zur Unterhaltung gehalten wurden. Aber es gibt den Hinweis in einem außergewöhnlichen Reisebericht des Karthagers Hanno, der um 525 v. Chr. mit seiner Schiffsexpedition bis an die Küsten Äquatorialafrikas gelangt und dort vielleicht auf Schimpansen und Gorillas getroffen sein soll. Aber selbst Aristoteles, der Begründer der Biologie in der Antike, hatte nur Kenntnis von Meerkatzen und Pavianen. Aufgrund ihrer Menschenähnlichkeit ordnete er diese kleineren Affen in seiner biologischen Klassifikation als Mittelwesen zwischen Mensch und Vierfüßer ein, wobei er Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Menschen aufzählte. Kleinere Affen wurden in der Antike von manchen Ärzten seziert, um anatomische und physiologische Studien zu betreiben. In frühchristlichen Naturgeschichten wie dem Physiologus und in den späteren Bestiarien und Naturkunden des Mittelalters wurden Affen registriert, aber symbolisch oft mit dem Teufel, der Lust oder dem Luxus verbunden, darüber hinaus auch mit der antiken Vorstellung des Satyrs, eines geilen Wesens, halb Ziegenbock, halb Mensch. Affenartige Wesen wurden ferner in Verbindung mit missgebildeten oder wilden Menschen gebracht und in den berühmten Tierkunden der Frühen Neuzeit aufgeführt, wiederum auch als Mischwesen, wie in der Historia animalium des Schweizer Universalgelehrten und Humanisten Conrad Gesner in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Im Kontext mit Affen mobilisiert diese Naturgeschichte antikes oder späteres Legendenwissen zu „Geißmännlein“, „Waldmännlein“ oder „Forstteufeln“, doch eigentliche Menschenaffen sind sei-

1

Heraklit, Fragmente, übertragen von Bruno Snell, München: Heimeran 1926, S. 11.

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nerzeit noch unbekannt und gelangen erst in spätere Ausgaben von Gesners Thierbuch als kurze Nachricht vom „Ourangoutang“.2

Abb.1: „Simia“ – Affe aus Gesners Tierkunde bei Matthäus Merian um 1700 Vor diesem christlich-religiösen und antik-humanistischen Hintergrund sind unterschiedliche Metaphern, Legenden und Symbolkontexte zu Affen herausgebildet und in die Neuzeit übermittelt worden, welche auch Vorstellungen zu Menschenaffen der Folgezeit nachhaltig prägten, z. B. die „figura diaboli“ oder das Konzept des „simia naturae“, welches den kunstfertigen Menschen als Nachahmer der Natur mit dem Affen darstellt.3 Bereits im lateinischen Terminus ‚Simia‘ für Affe wird die große Ähnlichkeit mit dem Menschen festgehalten (lat. similis

2 3

Gesner, Conrad, Allgemeines Thier-Buch (1669), Hannover: Schlüter 1980, S. 19. Janson, Horst Woldemar, Apes and Ape Lore in the Middle Ages and the Renaissance, London: Warburg Institute, University of London 1952.

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= ähnlich). Diese besondere Menschenähnlichkeit wird auch – unter ‚Simia‘ – in Illustrationen zu kleineren Affen über Gesner u. a. in die Frühe Neuzeit hinein vermittelt und durch berühmte Stecher wie Matthäus Merian weit verbreitet als Vorlage (Abb. 1).4

3. N EUE E NTDECKUNGEN IM 17. J AHRHUNDERT

UND

B EOBACHTUNGEN

Mit der imperialen Ausbreitung der europäischen Nationen gelangen erste Reiseberichte aus Afrika oder Asien nach Europa, in denen von „Monstern“ oder „Waldmenschen“ die Rede ist und deren Größe und menschenähnliches Verhalten bald große Aufmerksamkeit erregen. In den mehrfach aufgelegten Reiseberichten des Kompilators Samuel Purchas berichtet ein Engländer namens Andrew Battell von Begegnungen und Eingeborenenansichten zu diesen „Monstern“, wobei von zwei Arten mit den Namen Pongo und Engeco die Rede ist – vielleicht Schimpansen und/oder Gorillas.5 In der ersten holländischen Übersetzung von Purchas Bericht über Battell aus dem Jahre 1706 ist zusätzlich eine narrative Illustration eingefügt worden, d. h. in sehr kleinräumigen Bilderzählungen sollen besondere Eigenschaften und Eigenarten dieser merkwürdigen Wesen vor Augen geführt werden, von denen im Text berichtet wird (siehe Abb. 2).6

4

Merian, Matthäus, Bildvorlagenatlas Welt der Tiere. 2859 historische Vorlagen von Vierfüssern, Vögeln, Fischen, niederen Tieren, Insekten, Schlangen und Drachen, Augsburg: Augustus Verlag 1990, Tafel LIX.

5

Ravenstein, Ernest George (Hg.), The strange adventures of Andrew Battell of Leigh, in Angola and the adjoining regions, London: Hakluyt Society 1901 (Reprint Nendeln: Kraus 1967).

6

Diese Abbildung stammt aus: Battell, Andrew, De gedenkwaardige voyagie van Andries Battel van Leigh in Essex, na Brasilien, en desselfs wonderlijke avontuuren, zijnde gevangen gebragt van de Portugijsen na Angola, alwaar en waar ontrent hy by na 18 jaren gewoond heeft. A. 1589 en verfolgens, Leiden: Pieter vander Aa 1706, Tafel zwischen S. 36 und 37.

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Abb.2: Illustration zu Erzählungen von Andrew Battell über „Monster“ in Afrika (1706) Die Erzählszenen folgen eng der Textregie im Bericht über Battell: Aussehen und Verhalten dieser Großaffen sind von Menschen, die hier als jagende oder arbeitende Eingeborene mit Waffen oder Werkzeugen dargestellt werden, kaum zu unterscheiden. Rein äußerlich sollen diese „Monster“ sich nur durch den Mangel an Waden vom Menschen unterscheiden. Ihre Haltung und ihr Gang seien aufrecht, wobei sie allerdings ihre Hände im Nacken halten würden. Nicht in die Bilderzählung hineinkomponiert wurde der Hinweis auf ihr Essverhalten – sie äßen kein Fleisch, so der Text. Nach Ansicht der Eingeborenen sprächen diese Wesen nicht, um nicht arbeiten zu müssen. Noch ein Verstandesdefizit wird episodisch bebildert, denn verließen die Eingeborenen morgens ein Nachtfeuer im Walde, setzten sich diese Wesen zwar an die Feuerstelle, seien aber nicht klug genug, um es nun mit Holz weiter zu unterhalten. Diese hier inszenierte Verstandesunfähigkeit wird der Aufklärer Rousseau später klar zurückweisen, um seine These, es handele sich hier nicht um Tiere, sondern um echte menschliche „Wilde“, zu stärken. Noch eine weitere Erzählung zum Waffengebrauch wird illustriert, denn diese „Monster“ griffen angeblich Eingeborene und sogar Elefanten mit Stöcken an. Die Stärke der „Monster“ wird im Text gerühmt: Zehn Menschen könnten eines dieser Wesen nicht lebendig fangen und die Mütter müssten mit vergifteten Pfeilen getötet werden, um der Jungtiere an ihren Brüsten habhaft zu werden. Der Text gibt noch den Hinweis, dass sie ihre Toten mit Zweigen

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und Blättern bedeckten.7 In diesen ersten Verhaltensbeschreibungen vermischen sich also menschliche und tierische Komponenten. Weitere Berichte und eine größere Untersuchung spielen seit dem 17. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Ein holländischer Arzt namens Bontius berichtet aus dem fernen Borneo von einem Orang Utan. Schließlich gelangt auch ein lebender Menschenaffe aus Angola nach Holland, vermutlich ein Schimpanse. Dieser wird in einem Bericht aus dem Jahr 1641 und in weiteren Auflagen von dem berühmten Doktor Tulpius aus Amsterdam als „indischer Satyr“ oder „Orang-Outang“ beschrieben; eine entsprechende Abbildung findet sich beigefügt. Vom diesem weiblichen Tier wird u. a. berichtet, es verhalte sich beim Essen und Schlafen kultiviert und sei in Anwesenheit von Männern schamhaft. Diese Figur aus dem Werk von Tulpius gelangt bis Mitte des 18. Jahrhunderts als Illustration in diverse Naturkunden oder Reiseberichte, z. B. von Prévost (siehe unten zu Abb. 4).8 Von großer wissenschaftlicher Bedeutung war ferner die erste sorgfältig durchgeführte anatomische Vergleichsstudie durch den Engländer und Mediziner Edward Tyson. Diese erste vergleichende Analyse aus dem Jahr 1699 hält im Detail zahlreiche Ähnlichkeiten und Unterschiede fest, die dann über Buffon u. a. ins 18. Jahrhundert hinein vermittelt werden. Tyson nahm an, der Menschenaffe sei zum aufrechten Gang und vielleicht auch zur Sprache befähigt und diskutierte ihn vor dem Hintergrund von antiken Berichten zu „Pygmies“.9

4. A UFGEKLÄRTE M ENSCHENAFFEN IM 18. J AHRHUNDERT Diese Berichte und Studien sind zwar Philosophen und Naturkundigen in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts bekannt, doch virulent für die Geis-

7

Ravenstein, The strange adventures (Anm. 5), S. 398 f.

8

Prévost D’Exiles, Antoine François, Histoire générale des voyages, 15 Bde., Paris: Didot u. a. 1746–1759.

9

Der englische Mediziner Edward Tyson verfasste das Werk Orang-outang, sive homo sylvestris or, the anatomy of a pygmie compared with that of a monkey, an ape and a man (London: Bennet and Brown 1699), das in der 2. Auflage unter dem Titel The anatomy of a pygmy compared with that of a monkey, an ape, and a man nochmals ein halbes Jahrhundert später erschien (London: Osborne 1751). Vgl. Tyson, Edward, A philological essay concerning the pygmies of the ancient, London: Nutt 1699 (Nachdruck 1894).

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teskultur der Aufklärung werden sie erst im zweiten Drittel des Jahrhunderts.10 Der Schweizer Universalgelehrte und Mitbegründer der Paläontologie Johann Jacob Scheuchzer integrierte den schon bei Tulpius abgebildeten Menschenaffen spektakulär in seine Physica sacra (Augsburg/Ulm 1731–1735), wo er versucht, auf prächtigen Kupfertafeln zur Menschheitsgeschichte biblische Ereignisse wie den Sündenfall oder die Sintflut mit damals bekannten naturkundlichen Kenntnissen visuell zu verbinden (Abb. 3). Daher stellt Scheuchzer das behaarte Affenweib des Tulpius dem rothaarigen ungestümen Erstgeborenen und Jäger Esau aus dem Alten Testament an die Seite; beide werden in eine geologisch und paläontologisch interessante alpine Bergkulisse eingefügt. Auf diese Weise wird erstmals ein neu entdeckter Menschenaffe in eine natürliche und zugleich biblische Geschichte der Natur und der Menschheit eingebettet, was sicherlich Gelehrte der Zeit inspirierte.

Abb. 3: Menschenaffenweib nach Tulpius neben dem roothaarigen Esau vor alpiner Bergkulisse aus Scheuchzers Physica sacra (I 1731, Tafel LXXXXIV)

10 Vgl. Ingensiep, Hans Werner, Der aufgeklärte Affe, in: Garber, Jörn/Thoma, Heinz (Hg.), Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 2004, S. 31-57.

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Wie unterschiedlichste Aspekte und Intentionen verschmelzen, lässt sich gerade anhand dieser Illustration aus Scheuchzers Geheiligter Natur-Wissenschaft derer in Heil. Schrift vorkommenden Natürlichen Sachen verdeutlichen. Vorne rechts steht vor imposanter alpiner Gebirgs- und Waldkulisse „Der rauch-haarichte Esau“, links dagegen kauert schamhaft eine Variante des „Satyr indicus“ nach Tulpius, nämlich ein weiblicher Menschenaffe, der die Hände vor den Geschlechtsorganen verschränkt und den Kopf anmutig neigt. Esau, mit Köcher, Bogen und Pfeilen in der rechten Hand gerüstet, ist nach 1 Mose Genesis 25 der erstgeborene Zwillingsbruder des Jakob, beide sind Söhne von Isaak und Rebekka. „Der erst, der heraus kam, war roth, gantz rauhe, wie ein Fell, und sie nenneten ihn Esau.“11 Esau, seit der Geburt am ganzen Körper mit rötlichen Haaren bedeckt, wird herumstreifender Jäger, während sein Bruder Jakob mehr dem Häuslichen zuneigt. Diesen Stammvätern zweier Völker wird schon im Mutterleib Streit prophezeit. Der hungrige Esau verkauft bekanntlich nach anstrengender Jagd sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht an seinen Bruder. Doch war er der Lieblingssohn des Isaak, der gerne Wild aß. Durch eine List der Mutter Rebekka erlangt deren Lieblingssohn Jakob vom sterbenden blinden Isaak den Segen. Der blinde, die Hände des Sohnes tastende Vater wird durch ein um die Handgelenke gelegtes Böckchenfell getäuscht und hält Jakob für Esau. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, der klagende Esau wird zum Schwert und ins Gebirge verstoßen. Doch eine Versöhnung gelingt dennoch am Ende. Welche Rolle spielen der Menschenaffe oder ein Weib, von dem in der Bibel keine Rede war? Esau wird von Scheuchzer nicht direkt zum antiken Satyr erklärt, was auch eine Irreführung des Universalgelehrten gewesen wäre, dem der Ursprung des Satyr in der griechischen Mythologie wohl bekannt ist. Scheuchzer kennt auch das Originalwerk des Tulpius und er weiß, dass im Thierbuch seines Landesgenossen Conrad Gesner, wie erwähnt, später auch ein „Ourangoutang“ nach Tulpius abgedruckt ist. Doch Esau, der Stammvater der Edomiter, wird nicht kurzerhand zum Affen erklärt, was den Zeitgenossen abwegig erscheinen würde. Scheuchzer will in dieser Illustration auch nicht nahelegen, dass diese Tiere von Esau abstammen – quasi als menschliche Degenerationsprodukte. Aber dennoch stellt sich Scheuchzer Esau als „Halbe Mißgeburth“ vor, „welche von der natürlichen Ordnung abweichet“.12 Die auffällige Rauheit und Rotheit der Haare gaben wohl den ersten Anstoß zum Vergleich mit einem Orang. Die rötliche Körperbehaarung und das derbe Leben in der Wildnis des leichtfertigen

11 Scheuchzer, Johann Jacob, Physica Sacra, 4 Bde., Augsburg/Ulm: Wagner 17311735, Bd. 1, S. 102, Text zu Tafel LXXXXIV. 12 Ebd., S. 103.

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Jägers, der ja sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkauft hatte, sind äußere Zeichen von Fehlverhalten. Für Scheuchzer bietet diese biblische Erzählung keinen Rahmen für eine natürliche Abstammungsgeschichte des Menschen, auch wenn dies seine geologischen und paläontologischen Eingaben nahe legen, sondern eher ein Indiz für eine symbolische Verfehlungsgeschichte. Die scheue Affenfrau mit dem wilden Satyr-Image erscheint ihm daher als plausible Partnerin des rauen Esau. So gelangt auf symbolischen Umwegen erstmals ein neu entdeckter und den Gebildeten bald gut bekannter Menschenaffe in die biblische Geschichte. Sie fordert den naturwissenschaftlich ‚aufgeklärten‘ Betrachter zu einer Interpretation heraus, eingeleitet mit dem Vers: „Nach Art der Satyren kommt Esau an das Licht, Roth, haaricht, rauch und wild, mit frechem Angesicht.“13 Der abschließende Vers deutet die tiefere moralische Botschaft an: „Was ist wol mancher Mensch? Ein ungezähmtes Wild, Ein Mißwachs der Natur, ein ungestaltnes Bild; Und wenn das Unthier sich geberdet wunderlich, Auch wol gezeichnet ist: Mein Mensch so hüte dich!“14 Der Physikotheologe und Calvinist Scheuchzer liest in die natürliche Hässlichkeit menschlicher Gestalt letztlich wohl auch die gottgewollte Moral hinein und macht insofern aus einem vermeintlichen geschichtlichen Naturbild doch noch ein Sinnbild. Bald interessieren sich bedeutende Philosophen und Naturforscher der Aufklärungszeit für die neu entdeckten menschenähnlichen Affen, vor allem nachdem im Jahr 1738 erneut ein lebendiges Exemplar nach London gelangte und eine aufwendige Illustration vorlag. Tysons aufrecht stehender alter „Pygmy“ von 1699 war zwar bekannt, aber den entscheidenden Anstoß gab der neue, durch den englischen Kapitän Hower im August 1738 von Angola nach London gelangte lebende Schimpanse. Dieses Individuum wurde durch den seit 1733 dort tätigen Franzosen Gérard Jean Baptiste Scotin II aufwendig in Kupfer gestochen, der entsprechende Druck befindet sich im British Museum. In räumlicher Verbindung mit einer Affendarstellung nach dem alten Tulpius-Typus gelangte eine Variante dieses neuen Schimpansen aus Angola nach Scotin in eine bekannte Reisekollektion, die auch Rousseau vorlag.15 Entscheidend im Hinblick auf die Vorstellungswelt der Aufklärer war, dass dieser Menschenaffe als großes, aufrecht gehendes und menschenähnliches Wesen illustriert wurde. Weitere Variationen dieses Typs bringen Illustrationen der Folgezeit hervor. Rousseau lag ne-

13 Ebd., S. 102. 14 Ebd., S. 103. 15 Prévost D’Exiles, Histoire générale (Anm. 8) Tafeln mit Menschenaffen im 14. Bd. zwischen S. 94 und 96 bezeichnet als „Sup. T. IV. N. III.“ und „Sup. T. IV. N. V.“

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ben den Berichten von Battell etc. diese Illustration eines neuen, aufrecht gehenden Menschenaffen aus der mehrfach übersetzten Reisekollektion Voyages and Travels von Thomas Astley (London 1746) in der französischen Bearbeitung von Antoine-François Prévost (Paris 1748) vor. Diese Variante des aufrecht gehenden und mit Wanderstab gerüsteten „Chimpaneze“ aus Angola von 1738 ist gleich hinter die traditionelle Darstellung des schamhaft sitzenden Orangweibchens nach Tulpius von 1641 gebunden worden.

Abb. 4: „Chimpaneze“ von 1738 aus Angola in holländischer Ausgabe der Reisekollektion von Prévost (Vol. 6 Amsterdam 1748). Man kann als einprägsames typologisches Fazit zu den Darstellungsmodi bis Mitte des 17. Jahrhunderts festhalten: Zwei verschiedene Typen, ein schamhaftweiblicher und sitzender Menschenaffe als ‚Madonna-Typus‘ gemäß Tulpius und ein neuer, aufrecht gehender nach dem ‚Wilder-Typus‘ gemäß der Darstellung von 1738 durch Scotin stehen Rousseau und den anderen Aufklärern in

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Reisekollektionen vor Augen. Als Leittypus der Aufklärer setzt sich bald die aufrechte Haltung des vermeintlichen ‚Wilden‘ durch, der nun als Prototyp eines Menschenaffen in diese Aufklärungsphase einwandert (Abb. 4). Philosophen und Naturkundige spekulieren nun über diverse Schlüsselfragen: Sind es wirklich Affen oder wilde Menschen? Können sie wie ein Mensch erzogen werden? Können sie sprechen? Stammt der Mensch von ihnen ab? Der Kulturphilosoph Rousseau glaubt, es handele sich um wilde Menschen, und sieht in ihnen den ‚guten Wilden‘ in einem noch unverdorbenen Naturzustand. Der französische Materialist La Mettrie glaubt, sie seien letztlich zu kultivierten Bürger erziehbar. Inspiriert durch Rousseau meint der Schotte Monboddo, der Mensch stamme vom sprachlosen Orang ab. Der Systematiker Linné betont die Nähe zum Menschen, aber der berühmte Naturforscher Buffon spricht sich für eine große innere Differenz zum Menschen aus. Linné stellt Menschenaffen zusammen mit dem Menschen als „Anthropomorpha“, später als „Primates“ (1758), „Herrentiere“, an die Spitze des Tierreichs. Doch noch lange Zeit herrscht in der Klassifikation eine sehr große Verwirrung über die diversen Namen der Menschenaffen, die als „Jocko“, „Pongo“, „Chimpaneze“, als „Baviaan“ oder mit verschiedenen Namensvarianten des Orang-Utan bezeichnet werden. Die großen Affen marschieren ab Mitte des 18. Jahrhunderts in die Aufklärung ein und sind nicht mehr aus Naturgeschichten, Enzyklopädien und Reiseberichten wegzudenken. In Illustrationen und Erzählungen über ihre Menschenähnlichkeit präsentierten sie sich dem aufgeklärten Leser, der sich nun Fragen nach ihrem Ort in der Natur stellt. Für den Naturforscher und Naturphilosophen Charles Bonnet stehen sie in der Stufenleiter der Wesen – scala naturae – gleich unterhalb des Menschen und für viele Zeitgenossen nicht weit entfernt von den Hottentotten, die als niederste Menschenform angesehen werden. Wissenschaft, Philosophie und Kunst interessieren sich nun dafür und schließlich gelangt nach einer leidvollen Seereise erneut ein lebender „Orang outan“ nach Holland, wo er einige Monate von dem Menageriedirektor Arnout Vosmaer beobachtet wird. Vosmaers Beschreibungen berichten von einem lernfähigen, kultivierten und recht friedfertigen Wesen. Im Jahr 1777 wird dieser lebende junge Orang von dem holländischen Künstler Tethart Philipp Christian Haag programmatisch porträtiert. In dem Gemälde steht vor der Mauer der Menagerie ein großer und freundlicher Orang, der an einem Baum zu einem Apfel hinaufblickt. Gemäß der traditionellen Ikonografie könnte es sich um einen Apfel vom Paradiesbaum der Erkenntnis handeln, vielleicht eine Andeutung, dass der Menschenaffe dem Menschen immer ähnlicher werde. Aber in dieser Zeit findet der holländische Anatom Peter Camper schon 1778 in seiner wirkmächti-

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gen Studie heraus, dass der Orang allein in anatomischer Hinsicht weder zum aufrechten Gang befähigt sei noch über die rechten Organe zur Sprache verfüge. Aus derartigen Gründen trennt der Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach gegen Ende des 18. Jahrhunderts diese Menschenaffen in seiner Klassifikation als „Quadrumana“, also Vierhänder, wieder deutlich vom einzigen „Zweihänder“, dem Menschen, ab. Der deutsche Sprach-, Natur- und Geschichtsphilosoph Johann Gottfried Herder erkennt anfangs zwar die große äußere Nähe der Menschenaffen zum Menschen an, warnt aber später in seinen berühmten Ideen (2. Teil 1785, 7. Buch I) davor, die innere Nähe zu diesen Wesen zu übertreiben: „Du aber, Mensch, ehre dich selbst. Weder der Pongo, noch der Longimanus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger. Ihn also sollst du nicht unterdrücken, nicht morden, nicht bestehlen: denn er ist ein Mensch, wie du bist: mit dem Affen darfst du keine Brüderschaft eingehen“.16 Der „Pongo“, ein Schimpanse oder Orang, und der „Longimanus“, der Gibbon, und damit die der Aufklärung bekannten Menschenaffen, können die exklusive Stellung des Menschen nicht gefährden. Wirkliche Bruderschaft mit ihnen oder gar eine moralische Gleichstellung kann nicht bestehen.

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Kant, Fichte, Schelling, Hegel, selbst Schopenhauer17 – die führenden Philosophen des Deutschen Idealismus – widmen den Menschenaffen wenig Aufmerksamkeit, dafür sind sie umso mehr in den Naturkunden, Reiseberichten, Schulbüchern und der allgemeinen Bildungsliteratur gegenwärtig. Nach und nach manifestieren sich Vorstellungen von ihrem Verhalten und ihrer Lebensweise auch in den Illustrationen. Während im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Menschenaffen in diesen Darstellungen meist noch aufrecht stehen oder in kleinen Gruppen vereint gehen (Orang, Schimpanse, Gibbon), erobern sie bald auch die Bäume und ihren besonderen tropischen Lebensraum. So findet man in Ausgaben von Buffons Tierkunde Exemplare des „Jocko“ oder Orang auch übereinander-

16 Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Geschichte der Menschheit. Hg. durch Johann von Müller, Zweiter Theil 1785, Cotta Tübingen 1806, S. 73 (7. Buch I). 17 Schopenhauer integriert allerdings Befunde zu Menschenaffen in seine Willensmetaphysik und begegnet 1856 einem lebenden jungen Orang in Frankfurt. (Hübscher, Arthur (Hg.): Arthur Schopenhauer Gespräche. Stuttgart: Frommann 1971, S. 390)

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stehend – ein Individuum vorne mit Stab vor einem Baum, darüber ein anderes Individuum auf einem Ast und mit einer Frucht in der Hand. Ein anderer „Jocko“ mit Frucht ist gerade auf dem Weg zum Baum, auf dem bereits ein „Pongo“ mit allen Vieren halt sucht. Im historischen Blick auf solche Darstellungen von Menschenaffen lässt sich festhalten, dass die einst sitzende ‚Madonna‘ des Tulpius, dann die vorwiegend stehenden oder gehenden ‚Wilden‘ nach Tyson und Rousseau nun allmählich die Bäume erklimmen.

Abb. 5: „Orang-Outang“ Gruppe (D’Orbigny 1839ff) Dieser langsame Aufstieg der Affen auf die Bäume und ihre Integration in Lebensräume kulminiert in Darstellungen auf Tafeln der Zoologen Georges Cuvier und Alcide Dessalines D’Orbigny mit exzellenten Abbildungen von Orangs und Schimpansen, deren besondere Lebensräume und Verhaltensweisen gleich ins Auge springen. Solche Darstellungen setzen spezifische Fachkenntnisse zu Men-

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schenaffen voraus. In einer Ausgabe des Règne Animal, herausgegeben vom Naturforscher Étienne Geoffroy Saint-Hilaire und Cuviers Bruder Frédéric, der schon um 1800 eigene Studien zum Orang vorlegte, hängt ein solcher „OrangOutang“ mit seiner linken Hand und seinem linken Fuß lässig an einer Liane am Baum, wobei er in der rechten Hand eine Frucht hält und mit dem rechten Fuß frei im Raum schwebt.18 Dieser locker hangelnde Orang im geschilderten lebensnahen Gestus ist auch Mitglied in einer ansprechend kolorierten Gruppendarstellung des „Orang-Outang“ um 1840 (Abb. 519). Das Wildleben von drei Orangs wird veranschaulicht: Während sich ein kletternder Orang oberhalb im Geäst an Früchten zu schaffen macht, geht im Vordergrund links ein wohl männliches Individuum auf allen Vieren umher – gebückt auf seine Handfingerknöchel gestützt, aber nicht aufrecht gehend oder stehend. Rechts daneben sitzt ein wohl weibliches Individuum an den Baum gelehnt und hantiert konzentriert mit Früchten. Diese dynamische und „natürliche“ Familienidylle steht in einem krassen Gegensatz zu den gängigen statischen und eher verkrampft inszenierten, auf dem Boden oder in Bäumen herumstehenden Menschenaffen. Sowohl technische Sorgfalt als auch genauere Wiedergabe von anatomischen Beobachtungen zu natürlichen Haltungen und Lebensräumen von Menschenaffen schlagen sich hier nieder. Im Meisterwerk des Naturhistorikers D’Orbigny Dictionnaire universel d`Histoire naturelle (Paris 1839 - 1849) schwingt sich behende ein Schimpanse (Pan troglodytes) ins Auge des Betrachters, der mit seiner linken Hand lässig am Ast hangelt.20 Diese dynamische Inszenierung eines hängenden Schimpansen wurde unter dem Namen Der Orangoutang auch in eine deutsche Ausgabe übernommen (Abb. 621). Solche Illustrationen belegen, welch‘ weiter Weg seit den

18 Diese Tafel befindet sich als »Mammiferes Pl. 10« abgedruckt in: Huxley, Robert (Hg.), Die großen Naturforscher. Von Aristoteles bis Darwin, München: Frederking & Thaler 2007, S. 207. Das bedeutende Werk zum Tierreich erschien in Paris 1819– 1835, dann in 3. Auflage in Paris 1836–1849. 19 Die hier abgebildete, im Original altkolorierte Tafel „Pl. 428“ stammt aus Privatbesitz. 20 Die Tafel ist bezeichnet mit „Mammifères Pl. 5“ und ist abgedruckt in Aramata, Hiroshi/Thauer, Brunhilde (Hg.), Die Galerie der Säugetiere. Ein Bilder-Album mit über 600 Darstellungen von Künstlern des 18. und 19. Jahrhunderts, München: SüdwestVerlag 1991, S. 18. 21 Die hier abgebildete, im Original altkolorierte Tafel „Mammifères Pl. 5“ stammt aus D’Orbigny, Charles D.V., Dictionnaire Universel d’Histoire Naturelle, Paris 18391849.

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ersten Darstellungen von Menschenaffen im 17. Jahrhundert zurückgelegt wurde. Sie verdeutlichen zudem, welche Wende sich in Vorstellungen und Darstellungen von bestimmten Menschenaffen nach Darwin vollzog. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts kann also bei den bis dahin dominierenden Menschenaffen – Orangs und Schimpansen – in Text und Bild ein friedfertiges und familiäres Individual- und Gruppenverhalten in quasinatürlichen Lebensräumen konstatiert werden, kurz eine Naturalisierung. Dies ändert sich zumindest bei den friedfertigen Orangs im Zeichen von Darwins Evolutionstheorie bzw. von deren Popularisierung als ‚Kampf ums Dasein‘. Dazu wurde auch ein geeigneter Kandidat unter den Menschenaffen gefunden. Denn kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts, erst recht nach Darwin (1859), erregen Menschenaffen erneut das Interesse der Öffentlichkeit als Vorläufer oder nahe Verwandte des Menschen, und sie geraten zunehmend in einen ganz besonderen Kampf der Weltanschauungen, den Wissenschaftler, Philosophen und Gelehrte austragen.

Abb. 6: „Troglodyte Chimpanzé“, ein Schimpanse (D’Orbigny 1839ff) Dieser besondere Menschenaffe wurde im Jahr 1847 neu- bzw. wiederentdeckt – der Gorilla – und er beflügelte nun die Vorstellungen, denn im wahrsten Sinne

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des Wortes kursierten bald ‚wilde‘ Gerüchte zu diesem neuen ‚Monster‘ bei Eingeborenen, Abenteurern und Gelehrten. Berühmt wurden die ausführlichen Reiseberichte und Abenteuerschilderungen des Afrikareisenden Paul Du Chaillu, der bald in Jugendbüchern seine gefährlichen Begegnungen mit Gorillas illustrierte. Nach einer vierjährigen Expedition breitet der Schriftsteller Du Chaillu vielfältige ethologische, naturgeschichtliche und geografische Reisebeobachtungen aus und publiziert sie mit zahlreichen Illustrationen im umfangreichen Werk Explorations and Adventures in Equatorial Africa in London und in New York (1861). Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägen Du Chaillus Vorstellungen und Darstellungen das populäre Image des Gorillas, der nun zu einem aggressiven Fleischfresser wird, Jägern Gewehre zerbricht oder Eingeborene anfällt. Gorillas werden seitdem in der Literatur und Kunst zum Schrecken des Urwaldes gemacht (Abb. 7). Durch derartige Inszenierungen wird der alte Monstermythos wieder belebt, von dem auch der spätere King-Kong-Mythos profitiert.

Abb. 7: Gorilla als Ein Schrecken des Urwaldes (Familienzeitschrift um 1900 nach einer Originalzeichnung von Wilhelm Kuhnert 1896)

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Um 1900 wird in der illustrierten Familienzeitschrift Für alle Welt (Heft 1, S. 13) Ein Schrecken des Urwaldes nach einer Originalzeichnung von Wilhelm Kuhnert, Der Schrecken, verbreitet. Das Periodikum erschein seit den 1880er Jahren bei Bong in Berlin. Der Berliner Wilhelm Kuhnert war wohl der bedeutendste Tiermaler seiner Zeit, trug Illustrationen zu Brehms Tierleben bei und war auch in Ostafrika, um Tiere in freier Wildbahn zu jagen und zu malen. Was wird dargestellt? Ein aggressiver, die Zähne fletschender Gorilla, der mit einem Eingeborenen auf Leben und Tod kämpft. Jener hält zwar einen Dolch in Händen, doch die Chancen, den höllischen Kampf mit dem ‚Monster‘ zu überleben, erscheinen dem Betrachter gering. Dieser „Schrecken des Urwaldes“ wird jedenfalls kein Mitleid erregen, und eine Identifizierung mit diesem Monster scheint einem Menschen kaum möglich, wohl aber mit dem Opfer, das ein Mensch ist.

Abb. 8: „Orang Utan attacked by Dyaks“ (Wallace 1869, neben Titelblatt). Im evolutionären Weltanschauungskampf zwischen Wissenschaft und Religion steht der Gorilla an vorderster Front der Tierwelt. Als erster Menschenaffe auf einer Tafel der Skelette gleich hinter dem Menschen, gefolgt von Schimpanse, Orang und Gibbon, wird er beim englischen Zoologen Thomas Huxley arrangiert, der als erster nach Darwin Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der

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Natur22 vorlegt und als so genannte ‚Bulldogge‘ Darwins Thesen verteidigt. Die mächtigen Gorillas scheinen den ‚Kampf ums Dasein‘ in idealer Weise zu verkörpern und fungieren daher als plausibles Logo für die darwinsche Selektionstheorie der Evolution. Selbst die bislang als friedfertige Wesen beschriebenen Orangs geraten in den Sog des Darwinismus. Darwins Kollege und Mitentdecker der Selektionstheorie, Alfred Russel Wallace, lässt in seinen Reiseschilderungen aus dem fernen Borneo The Malay Archipelago. The Land of the Orang-Utan and the Bird of Paradise (London 1869), gleich neben dem Titelbild einen Orang Utan mit einem angreifenden Eingeborenen kämpfen (Abb. 8). Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gelangen zunehmend lebende Menschenaffen nach Europa und Amerika, die vor allem als öffentliche Attraktionen im Zoo von Interesse sind. Darin sind nun Schimpansen, Orangs und anfangs sehr selten auch Gorillas zu bestaunen, deren Wesen und Verhalten die Betrachter zunehmend differenzierter beschreiben und abbilden können. Portraits von jungen Zoogorillas und neue Verhaltensbeobachtungen tragen schon früh zu einer Verfriedlichung und Humanisierung der Gorillavorstellungen bei, zumindest bei aufmerksamen Kennern, aber auch schon in frühen Ausgaben von Brehms Tierleben.23 Ein solches eindrucksvolles Portrait eines jungen Gorillas namens „M’Pungu“, der 1876 bis ins Aquarium von Berlin gelangte und dort ein gutes Jahr beobachtet und untersucht werden konnte, lässt der Gorillaforscher Robert Hartmann im Jahr 1880 in seiner Monografie abdrucken.24 Sein friedliches, majestätisches Wesen wird gerühmt und erobert das Herz der Zuschauer. Trotz solcher Tendenzen gegen den Monstermythos in der Wissenschaft – das King-Kong-Klischee wird in der breiten Öffentlichkeit seit dem ersten großen Film 1933 auch durch die Alltagslektüre im 20. Jahrhundert medial noch weiter befeuert. Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts verändert sich in der Öffentlichkeit das Gorillabild durch neue Studien in der Wildbahn und im Zoo (z. B. von Friedrich Schaller, Ernst M. Lang) und durch deren Verbreitung in TVNaturfilmen (z. B. von Bernhard Grzimek). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts –

22 Huxley, Thomas Henry, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur, Braunschweig: Vieweg 1863, Tafel neben dem Titelblatt. 23 Vgl. Ingensiep, Hans Werner, „Kultur- und Zoogeschichte des Gorillas“, in: Dittrich, Lothar (Hg.), Die Kulturgeschichte des Zoos, Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung 2001, S. 151–170. 24 Hartmann, Robert, Der Gorilla. Zoologisch-zootomische Untersuchungen, Leipzig: Veit, Giesecke & Devrient 1880, Tafel II.

 

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ein gutes halbes Jahrhundert nach Darwin – werden auch die ersten gründlicheren und systematischen Verhaltensstudien zur Intelligenz von Menschenaffen vorgelegt. Sie dokumentieren ein neues wissenschaftliches Interesse an Menschenaffen und produzieren neue Vorstellungsbilder.

Abb. 9: Der junge Gorilla „M’Pungu“ nach einer Fotografie von Halwas (Hartmann 1880 Tafel II)

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6. D AS 20. J AHRHUNDERT – I NTELLIGENZ , K REATIVITÄT , K OMMUNIKATION Berühmt geworden sind seit der zweiten Dekade die Intelligenzprüfungen an Anthropoiden (Berlin 1917) durch den Psychologen Wolfgang Köhler, der durch seine Hindernis-Experimente und Beobachtungen von Schimpansen auf einer Primatenstation in Teneriffa deren technische Intelligenz als empirisch bestätigt ansah. Damit stand ein Privileg des Menschen – Werkzeuggebrauch – bzw. das Konzept des homo faber in Frage. Allerdings fanden seit den 20ern philosophische Anthropologen wie Max Scheler, Helmuth Plessner und auch Arnold Gehlen – aus je unterschiedlicher Perspektive – dennoch neue essentielle Unterschiede zwischen Mensch und Menschenaffe heraus wie Weltoffenheit oder Exzentrizität. Überhaupt sollte nach Gehlens Werk Der Mensch (Berlin 1940) nicht die Intelligenz zum entscheidenden Kriterium gemacht werden, da Menschenaffen in ihrer ganzen biologischen Anatomie und Handlungsfigur, durch ihre Triebgebundenheit etc. an besondere Umwelten angepasst seien. Für Gehlen war der Mensch biologisch betrachtet ein unspezialisiertes Mängelwesen, das erst durch seine Handlungen und Institutionen zur Kultur gelangt. Seit der Jahrhundertmitte gab es fortlaufend neue primatologische Studien und Beobachtungen, z. B. zur Kreativität, zur Kommunikation, zum Sexual- und Sozialverhalten von Menschenaffen. In den 50ern waren es die Malereien des Schimpansen Congo, die der naiven Kunst mit Konkurrenz drohte. Die Studien zu wilden Schimpansen durch Jane Goodall in den 60ern und schließlich die Untersuchungen zur Kommunikation mit Hilfe der Zeichensprache für Taubstumme durch das Ehepaar Gardner und andere Psychologen und Primatologen erregten große öffentliche Aufmerksamkeit. Schimpanse Washoe sollte nach dem Psychologen Roger Fouts der erste Menschenaffe gewesen sein, der mit Menschen wirklich kommunizierte bzw. eine ‚Sprache‘ teilte. Doch Linguisten, Philosophen und Psychologen kritisierten diese Befunde z. B. als ‚Kluger-HansEffekt‘, d. h. als aus Auswirkung einer unbewussten Dressur der Menschenaffen durch die Experimentatoren, ferner als Anekdoten oder einfach als exotische Artefakte. Generell wurde methodische Sorgfalt angemahnt und, dass Vorsicht bei der kognitiven oder emotionalen Interpretation geboten sei, da eine anthropomorphe Fehldeutung sehr nahe liege.

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7. D ES M ENSCHEN LIEBSTER S PIEGEL – Z UR A NTHROPOMORPHOLOGIE Die Leitfrage in der Wahrnehmungsgeschichte der Menschenaffen lautet bis heute: Wer ist so wie wir? Bis heute müssen sich daher Forscher, Philosophen und Öffentlichkeit vor dem in dieser Frage vorprogrammierten Anthropomorphismus hüten. Außer vor einer vorschnellen Vermenschlichung ist auch vor einem überheblichen Anthropozentrismus, der den Menschen vorschnell als die Mitte der Schöpfung betrachtet, gewarnt worden. Klar ist, unser Menschenaffenbild orientiert sich auch heute an vielfältigen Bedürfnissen; Bürger und Forscher haben verschiedene Interessen und die Medien erst recht. Die kritischen Fragen im Rückblick auf den Wandel der Vorstellungen in Wort und Bild eröffnen neue Perspektiven: Was ist das eigene Menschliche, was ist das Fremde im Affen? An überzeugenden tragfähigen Antworten arbeiten moderne Philosophen, aber auch Zoos, in denen wir Menschenaffen von Auge zu Auge begegnen können, die aber auch neue Fragen aufwerfen: Welche Rolle kommt den Zoos in der zukünftigen Haltung, Zucht und Aufklärung über das Verhältnis von Menschenaffen zum Menschen zu? Wie bestimmen und verändern die Medien heute unsere Rezeption von Menschenaffen? Man wird darüber diskutieren, wenn wieder einmal ein Hollywoodfilm neue Aufklärung über Menschenaffen oder den Planet der Affen verspricht.

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Der Weg im Vorstellungswandel über Menschenaffen vom Monster zur Person führte vor allem im Fall der Gorillas ab Mitte des 19. Jahrhunderts über viele Umwege und Stolpersteine zu einer völlig neuen Auffassung. Über aggressive Jagdstories von Du Chaillu kurz nach der Entdeckung der Gorillas, über Berichte in Brehms Tierleben oder in Jugendbüchern seit 1900, dann in Abenteuerromanen wie Tarzan, in King-Kong- und Afrikafilmen wurden bekannte Klischees verbreitet – und dennoch entpuppten sich die Gorillas am Ende als sanfte Vegetarier oder „Gentle Giants“.25 Dazu trugen schon frühere Versuche der Entmythologisierung durch Afrikareisende (z. B. durch Carl Akeley) bei, aber auch Beobachtungen zu Gorillas in Zoos oder der heute wenig bekannte erste AfrikaDokumentarfilm Congorilla der Johnsons aus dem Jahr 1932. Deren Wirkung

25 Bourne, Geoffrey Howard/Cohen, Maury, The gentle giants. The gorilla story, New York: Putnam 1975.

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wurde aber durch den King Kong-Film von 1933 völlig überlagert. Erst die moderne Gorilla-Feldforschung seit 1950er Jahren durch George Schaller, dann seit den 60ern durch Dian Fossey und schließlich auch durch die Untersuchungen mit dem Hausgorilla Koko von Francine Patterson – hat mit alten GorillaMythen endgültig aufgeräumt. Sie prägen die heutige Vorstellung vom Gorilla als sanftem Vegetarier, überhaupt einen medialen Gorillakultus, der völlig ins Gegenteil umgeschlagen ist. Berühmt geworden sind dabei der freie Gorilla Digit, der mit Fossey befreundet war und von Eingeborenen niedergemetzelt wurde, ferner die Gorilladame Koko, die Jahrzehnte mit der amerikanischen Primatologin Patterson zusammenlebt und die Zeichensprache beherrscht, aber auch gesprochenes Englisch versteht, witzelt, malt, lügt, und sich fotografiert usw. Man schreibt diesen und anderen Menschenaffen Selbstbewusstsein zu und nimmt sie daher in den Club der „Personen“ auf. Entsprechend forderten moderne Tierethiker, Primatologen und andere Wissenschaftler „Menschenrechte für Menschenaffen“ ein.26 Es scheint daher, dass der einstige ‚gute Wilde‘ des 18. Jahrhunderts auf seinem langen Marsch nun doch noch ein ‚Bruder‘ des Menschen geworden ist. Doch der kritische Blick zurück auf die Ideen-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der Menschenaffen seit ihrer europäischen Entdeckung sollte lehren, dass es auch heute zeitbedingte Paradigmen und Denkmuster sind, welche die Vorstellungen zu Menschenaffen prägen – in einem szientistischen Zeitalter, das dem Naturalismus ebenso anhängt wie dem Kulturalismus.27

26 Cavalieri, Paola/Singer, Peter, Menschenrechte für die großen Menschenaffen. Das Great-Ape-Projekt, München: Goldmann 1994. 27 Vgl. zum Hintergrund: Ingensiep, Hans Werner, Der kultivierte Affe. Philosophie, Geschichte und Gegenwart, Stuttgart: Hirzel 2013.

Das Tier in mir. Eine problematische anthropologische Fiktion des Liberalismus1 M ICHAEL W EINGARTEN

Dr. Henry Jekyll, ein wohlsituierter und anerkannter Arzt und Wissenschaftler im viktorianischen England, versucht mit allen Mitteln seine Hypothese zu verifizieren, „dass der Mensch in Wahrheit nicht eins, sondern wahrlich zwei ist.“2 Der Mensch sei ein Doppelwesen, zusammengesetzt aus zwei Naturen, dem Guten und dem Bösen, und diese lägen im Bewusstsein eines jeden miteinander im Kampf. Wenn dem so ist, so Dr. Jekyll weiter, dann müsste es doch möglich sein, diese beiden Naturen zu trennen und in gesonderte Persönlichkeiten zu verpflanzen. Als Erfolg einer solchen Trennung erwartet Dr. Jekyll, dass das Leben von dem unerträglichen Streit zwischen diesen beiden Naturen befreit werden würde. Der Ungerechte könnte seinem Wege folgen, befreit von den Aspirationen und Gewissensbissen seines rechtschaffenen Zwillingsbruders, und der Gerechte könnte fest und sicher seinen aufwärtsführenden Pfad schreiten, das Gute tun, das seine Freude bildet, fürder nicht mehr Schande und Strafe ausgesetzt durch die Hand dieses ihm wesensfremden Bösen. Es war der Fluch der Menschheit, dass diese inkongruenten Teile so miteinander verbunden waren – dass in dem qualdurchzuckten Schoße des Bewusstseins diese einan-

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Die folgenden Überlegungen sind Ausschnitte eines größeren Projekts, in dem die häufig impliziten anthropologischen Annahmen politischer Theorien rekonstruiert werden.

2

Stevenson, Robert Louis, Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Zürich: Diogenes 1996, S. 90.

88 | M ICHAEL W EINGARTEN der feindlichen Zwillinge ständig im Kampfe liegen mussten. Was würde geschehen, wären sie geschieden?3

Und da dem herrschenden Wissenschaftsverständnis richtige Wissenschaft experimentierende Wissenschaft ist, ist Dr. Jekyll bereit, den Versuch der Trennung dieser beiden Naturen an sich selbst durchzuführen, nachdem er entsprechende Mittel hergestellt hat. Insbesondere durch die vielen Verfilmungen dieser Erzählung von Stevenson weiß wohl jeder, was der Versuch der Trennung der beiden Naturen, die zusammen die Person Dr. Jekyll ausmachen, bewirken wird: Die Verwandlung Dr. Henry Jekylls in den ganz anderen, aber immer schon in ihm enthaltenen Edward Hyde. Und wohl jedem sind den Verfilmungen entlehnte Bilder dieser Verwandlung gegenwärtig. In der Erzählung der ersten Verwandlung setzt Stevenson aber andere Akzente, die nicht sofort das Affenähnliche des Mr. Hyde betonen. Daher zitiere ich zunächst die Selbstbeschreibung von Dr. Jekyll nach der Einnahme des die Verwandlung bewirkenden Präparats ausführlich: Quälende Todesangst folgte; ein Reißen in den Knochen, tödliche Übelkeit und ein Angstgefühl, wie es in der Stunde der Geburt oder des Todes nicht größer sein kann. Dann begann diese Qual langsam zu weichen, und ich kam wieder zu mir mit dem Gefühl, als erwachte ich aus schwerer Krankheit. Es war etwas Fremdartiges in meinem Empfinden, etwas unbeschreiblich Neues und, dank dieser völligen Neuheit, unsagbar Süßes. Ich fühlte mich jünger, leichter, glücklicher. In meinem Innern lebte eine berauschende Sorglosigkeit; ein Strom ungeordneter sinnlicher Vorstellungen durchrauschte in tausend Wirbeln meine Phantasie; alle Bande der Verpflichtung schienen gelöst, und ein nie gekanntes, doch nicht unschuldsvolles Freiheitsgefühl erfüllte meine Seele. Mit dem ersten Atemzug dieses neuen Lebens erkannte ich, dass ich lasterhafter geworden war, zehnfach lasterhafter, ein Sklave alles Bösen, das in mir gelebt hat. Dieser Gedanke stärkte und entzückte mich in dem Augenblick gleich Wein. Jauchzend angesichts der Lebhaftigkeit dieser Empfindung streckte ich meine Arme aus, und im gleichen Moment wurde ich plötzlich gewahr, dass ich kleiner geworden war.4

Die Verwandlung wird erfahren als Erwachen aus schwerer Krankheit, als Befreiung und Glück – doch sofort schlagen diese Erfahrungen um in die Erkenntnis, dass das, was in und mit der Verwandlung freigesetzt, in Freiheit gesetzt wurde, das absolut Lasterhafte und Böse sei. Woher aber stammt diese Erkennt-

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nis, wenn diese Erfahrungen doch neu sind, also bisher von Dr. Jekyll gerade nicht oder jedenfalls nicht so erfahren wurden? Sein bisheriges Leben beschreibt Dr. Jekyll als ein „Leben der Arbeit, der Tugend und der Selbstzucht“.5 Und in dem jetzt einsetzenden Kampf setzt er immer auf Zwang, Disziplin und eben Selbstzucht, um wieder Herr über Mr. Hyde werden zu können. [E]ntschlossen sagte ich der Freiheit Lebewohl, der vergleichsweisen Jugend, dem leichten Schritt, den hüpfenden Pulsen und geheimen Vergnügungen, denen ich in der Maske Hydes gefrönt hatte. […] Zwei Monate jedoch blieb ich meiner Wahl treu, zwei Monate führte ich ein Leben solcher Strenge, wie ich es vorher nie erreicht hatte, und fand mich durch die Billigung meines Gewissens belohnt.6

Dr. Jekyll hofft durch solche Zwänge wieder auf den besseren Teil seiner Existenz beschränkt zu sein. Und, oh, mit welcher Freude erkannte ich das, mit welch strebender Demut klammerte ich mich aufs neue an die Beschränkung natürlichen Lebens! Mit welch aufrichtigem Gefühl der Verzichtleistung verschloss ich die Tür […]7

Das durch Zwang, Disziplinierung und Entsagung beschränkte Leben als das eigentliche, natürliche Leben sei nicht sklavisch im Gegensatz zu dem Leben von Mr. Hyde, der der Sklave seiner Lüste und Triebe sei; so Dr. Jekyll. Aus der Perspektive von Mr. Hyde müsste es sich aber gerade umgekehrt verhalten: Die bürgerlichen Beschränkungen sind das den Menschen Versklavende, das Ausleben der Sinnlichkeit und der Affektualität das Befreiende. Schließlich beschreibt Dr. Jekyll selbst seine Verwandlung in Mr. Hyde als Befreiung und die mit der Befreiung verbundene Angst als das Angstgefühl der Geburt oder des Todes. Und als Ursache dafür, dass Mr. Hyde kleiner ist als Dr. Jekyll, macht er aus, dass die bis dahin unterdrückte Sinnlichkeit und die unterdrückten Affekte ja noch wachsen und sich gestalten müssten; eben genauso wie ein neugeborenes Kind sich mit seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln muss. Insofern wäre es durchaus möglich, die Geschichte der Verwandlung des Dr. Jekyll in Mr. Hyde ganz anders zu erzählen, nämlich als Befreiung aus all den bürgerli-

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chen Zwängen und zugleich als Bildungsgeschichte der sich entwickelnden Sinne und Affekte. Genau diese Möglichkeit will Stevenson aber ausschließen! Ihm geht es nicht um die Bildung der freigesetzten Sinne und Affekte, sondern um die Notwendigkeit der Erziehung als durch Zwang herbeigeführte Disziplinierung des Ich und des damit verbundenen Verzichts auf bzw. Unterdrückung von Sinnlichkeit und Affektualität. Deswegen muss Stevenson die negativen Konnotationen der Verwandlung verstärken und Bilder einführen, die es erlauben Dr. Jekyll als Verkörperung des menschlichen Menschen und Mr. Hyde als Verkörperung der tierischen Menschen zu verstehen. Dr. Jekyll sagt, der Körper sei Ausdruck der Seele. Für ihn selbst bedeutet dies, dass er als wohlsituierter britischer Gentleman eben auch einen diesem Status entsprechenden wohlgeformten Körper hat. Deswegen darf Mr. Hyde nicht nur einfach kleiner sein als Dr. Jekyll, sondern er muss auch auffällig körperlich deformiert sein, damit deutlich wird, dass in seiner Seele nur und ausschließlich das Böse dominiert. Aber erst, nachdem die Verwandlungen in Mr. Hyde eintreten auch ohne die Droge eingenommen zu haben – nämlich immer dann, wenn die Überwachungs- und Unterdrückungsinstanzen im Ich des Dr. Jekyll nicht wachsam sind – wird das Äffische des Mr. Hyde beschrieben. So lag ich noch immer, als mein Auge zufällig in einem lichteren Moment auf meine Hand fiel. Nun war die Hand Henry Jekylls (wie du ja oft bemerkt hast) in Form und Größe eine typische Arzthand: Sie war groß, fest, zart und schmal. Doch die Hand, die ich jetzt nur allzu klar in dem gelben Licht eines Londoner Morgens erblickte, die Hand, die halbgeschlossen auf dem Bettuch lag, war dürr, faltig, mit hervortretenden Knöcheln, gebräunt und mit einem schwarzen Haarwald überzogen; es war die Hand Edward Hydes.8

Erst jetzt spricht Dr. Jekyll mit Bezug auf Mr. Hyde von dessen „tierischer Sinnlosigkeit“, die nichts anderes sei als die „vollkommene moralische Sinnlosigkeit“ und der „wahnsinnige Hang zum Bösen“9 als dessen leitende Charakterzüge. Und er spricht von Hyde nicht mehr als einer Person, sondern von einem „es“.10 Wobei er dieses „es“ in einem Atemzug auch als „Kind der Hölle“ bezeichnet, somit das Natürlich-Triebhafte des erst noch zu erziehenden und zu disziplinierenden Kindes betont.

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„Es“, sage ich – ich kann nicht ich sagen. Jenes Kind der Hölle hatte nichts Menschliches an sich, nur Furcht und Hass lebte in seinem Innern […].11

Während Kinder tierliche Menschen sind und deswegen erzogen werden können und erzogen werden müssen, ist Mr. Hyde nur ein Tier, eine Bestie. Das Ich, die Person bezeichnet also kein Widerspruchsverhältnis zwischen dem tierlichen und dem menschlichen Menschen, sondern jedes Ich trägt in sich den Widerstreit zweier einander kontradiktorisch entgegengesetzter Wesen aus. Dieser Widerstreit ist ein Kampf auf Leben und Tod, in dem nur der Mensch über das Tier oder eben umgekehrt das Tier über den Menschen siegen kann. Will der Mensch diesen Kampf nicht verlieren, dann muss seine Vernunft, seine Rationalität ununterbrochen über das im Inneren eines jeden lauernde Biest wachen und jederzeit bereit sein, um den Regungen dieser Bestie mit aller Macht und Gewalt entgegentreten zu können. Die Droge – so kann jetzt gesagt werden – setzt diese disziplinierenden Instanzen außer Gefecht, bewirkt den „Schlaf der Vernunft“ und ermöglicht so das Erwachen der Bestie. Wäre die Bestie einfach vergleichbar etwa mit dem Alien in Ridley Scotts gleichnamigen Film aus dem Jahr 1979, dann wäre zwar das absolut Bedrohliche dieses Wesens klar, nicht aber das zugleich maßlos Verunsichernde und Erschreckende. Denn alle, die mit Mr. Hyde konfrontiert werden – nicht wissend, dass es sich um den verwandelten Dr. Jekyll handelt – spüren bzw. beobachten zwar auch das drohend Gewalttätige des Mr. Hyde, fühlen sich aber viel stärker in nicht begreifbarer und artikulierbarer Weise verunsichert durch die Erscheinungsweise dieser Person und dadurch kommt eigentlich das Erschrecken zustande. So versucht Mr. Enfield dem Anwalt Utterson den Eindruck seiner ersten Begegnung mit Mr. Hyde zu beschreiben: Er ist nicht leicht zu beschreiben. Es liegt etwas Schlimmes in seiner Erscheinung; etwas Unangenehmes, etwas geradezu Widerwärtiges. Noch nie sah ich einen Menschen, der mir so missfiel, und dennoch weiß ich kaum, weshalb. Er muss irgendwie missgestaltet sein. Man hat das starke Gefühl der Missgestaltung, obwohl ich nicht festzustellen vermochte, inwiefern. Er ist ein ganz ungewöhnlich aussehender Mann, und doch vermag ich tatsächlich nichts in dieser Hinsicht namhaft zu machen.12

Dem Anwalt Utterson geht es nicht anders:

11 Ebd., S. 111 12 Ebd., S. 13f.

92 | M ICHAEL W EINGARTEN Mr. Hyde war bleich und gnomenhaft. Er machte den Eindruck eines Verwachsenen, ohne dass man einen Defekt anzugeben vermochte. Er hatte ein unangenehmes Lächeln. Sein Benehmen dem Anwalt gegenüber war gewissermaßen eine mörderische Mischung von Zaghaftigkeit und Unverschämtheit, und er sprach mit einer rauhen, flüsternden und wie gebrochen wirkenden Stimme. Das waren wohl alles Punkte, die gegen ihn einnahmen, aber alle zusammen vermochten nicht diesen bis dahin nie gekannten Widerwillen zu erklären, nicht den Ekel und die Furcht, womit Mr. Utterson seiner gedachte.13

Von allen also, die Hyde zum ersten Mal sehen, wird er beschrieben als Mensch, der aber doch zugleich in unbestimmter Weise nicht menschlich wirkt. Es bleibt in der Erzählung offen, ob Mr. Hyde tatsächlich missgestaltet ist oder nur so wirkt; in den Verfilmungen dagegen ist Mr. Hyde unübersehbar missgestaltet und affenartig – die einzige mir bekannte Ausnahme ist der Film The nutty Professor von Jerry Lewis aus dem Jahr 1963. Nicht nur spielt Jerry Lewis in hervorragender Weise mit den üblichen Verwandlungsszenen und den Erwartungen der Zuschauer; sondern gerade das, was bei der Verwandlung zustande kommt, verweist auf einen semantischen Horizont von „affig“, der etwas „typisch Männliches“ karikiert. Aufschlussreich in Hinsicht der Frage, ob Mr. Hyde missgestaltet und affenartig ist, ist auch der Bericht Dr. Lanyons, Arzt, Kollege und in gewisser Weise wissenschaftlicher Widerpart zu Dr. Jekyll. Dieser notiert zwar ebenfalls sein Missbehagen, das Hyde bei ihrem ersten Treffen in ihm auslöst, qualifiziert es aber als bloß subjektives Gefühl ab; auch taucht in seinem Bericht an keiner Stelle ein Verweis auf das tierähnliche Aussehen Hydes auf. Er ist darum bemüht so objektiv wie möglich seine Begegnung mit Hyde zu beschreiben: Dieser Mensch nun (der vom ersten Moment seines Eintrittes an in mir das Gefühl erzeugt hatte, das ich nur als eine mit Abscheu gemischte Neugier zu bezeichnen vermag) war in einer Art gekleidet, die einen gewöhnlichen Menschen nur lächerlich hätte erscheinen lassen: Sein Anzug, wenn man von einem Anzug überhaupt sprechen kann, obwohl von reichem, dunklem Stoff, war nach allen Ausmaßen unerhört viel zu groß für ihn – die Beinkleider hingen auf seine Stiefel herab und waren hochgeschlagen, damit sie nicht auf dem Boden schleppten; die Taille des Rockes saß unterhalb der Hüften, und der Kragen hing unordentlich über die Schultern. Seltsamer Weise war diese lächerliche Ausrüstung weit davon entfernt, mich zum Lachen zu reizen. Wenn auch etwas Anormales und Missgestaltetes aus dem innersten Wesen dieses Geschöpfes sprach, das mir hier gegenüberstand – etwas, das fesselte, überraschte und empörte –, schien diese äußerliche Disharmonie doch

13 Ebd. S. 24f.

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zu dem Ganzen zu passen und seine Wirkung noch zu verstärken, so dass sich meinem Interesse für des Mannes Natur und Charakter noch die Neugier über sein Herkommen, sein Leben, seine Vermögensumstände und seine Stellung in der Welt hinzugesellte.14

Ein Schimpanse in Menschenkleidern wirkt belustigend – und soll und kann dies ja auch, weil wir alle wissen, dass es kein Mensch, sondern eben „nur“ ein Schimpanse ist. Aber bei Mr. Hyde bleibt auch dem um einen wissenschaftlichobjektiven Blick bemühten Dr. Lanyon das Lachen im Halse stecken. MenschenAffen haben etwas Lächerliches, wenn sie wie Menschen gekleidet sind; Menschen-Affen dagegen wirken verunsichernd, provozierend und bedrohlich, weil sie als Menschen-Affen das Mensch-Sein der Menschen in Frage stellen. Dr. Lanyon versucht damit zurecht zu kommen, indem er seinen Abscheu als subjektive Empfindung abzutun bemüht ist und seine Neugier darauf richtet, ob und inwiefern das anormal und missgestaltet Wirkende des Mr. Hyde über seine Lebensumstände erklärt werden könne und somit als eine Möglichkeit des MenschSeins begriffen werden kann. Dass er damit durchaus auf der richtigen Spur ist, wenn auch in einer gänzlich anderen Art und Weise als es ihm dann mit der vor seinen Augen geschehenden (Rück-)Verwandlung von Mr. Hyde in Dr. Jekyll vorgeführt wird, führt zu seinem absoluten Entsetzen: Der Menschen-Affe, der in jedem von uns steckt und auf sein In-Erscheinung-Treten lauert, ist eben keine Karikatur des Menschen, so wie es der Schimpanse in Menschenkleidern ist, sondern bei ihm handelt es sich um das Tierische desjenigen Menschen, der von allen sozialen Zwängen und Disziplinierungen befreit ist. Genau dadurch wird zunächst ein Missbehagen ausgelöst, das dann, wenn man begreift, woher dieses Missbehagen rührt, in Entsetzen umschlägt. Insofern muss der Menschen-Affe als eine eigene und vom Menschen-Affen (wie einem Schimpansen), aber auch vom Affen-Menschen wie Tarzan15 zu unterscheidende Figur begriffen werden.16

14 Ebd., S. 84. 15 Tarzan, auch wenn er erwachsen wirkt, ist kein Erwachsener, sondern ein Kind. Aber kein „Kind der Hölle“ wie Hyde, sondern ein natürliches Kind. Deswegen kann er ja auch zum Sprechen und zum Mensch-sein erzogen werden. 16 In dieser Hinsicht ist auch Kong zu verstehen. Das Bedrohende, das von ihm ausgeht, ist zwar etwas ganz anderes als das Bedrohende des Mr. Hyde; aber es bezieht sich auch auf die Sinnlichkeit und Affektualität: Kong könnte ja gegenüber den weißen Männern der viel potentere Liebhaber sein. Dies bringt der deutsche Titel des Filmklassikers von 1933 viel besser zum Ausdruck als der englische Originaltitel. Der lautet einfach King Kong; im Deutschen dagegen King Kong und die weiße Frau – und genau darauf kommt es doch an!

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Menschen-Affen sind durch ihre Ähnlichkeiten mit den Menschen zweideutige und täuschende Figuren: Sie können uns Karikaturen von Menschen vorführen, sie können uns zum Lachen und Mit-Leiden bringen – dann haben wir es mit Menschen-Affen zu tun und wir sind unproblematisch in der Lage, das Spiel der Täuschungen und Inszenierungen zu durchschauen. Sie sind eben bloße Tiere. Ganz anders verhält es sich mit Menschen-Affen wie Mr. Hyde. Diese sind keine Karikaturen von Menschen, keine Tiere, die wie Menschen auf uns wirken können, sondern es sind Menschen als Tiere, Menschen, die nicht mehr menschlich, sondern tierisch sind oder, wie Dr. Jekyll, tierisch geworden sind. Und Menschen als Tiere sind sie, weil bei ihnen die Affekte freigesetzt wurden von allen Regulativen und nun dominieren über die Vernunft und Rationalität. Die Erzählung von Stevenson exemplifiziert wesentliche Grundmomente der negativen Anthropologie des Liberalismus. Negativ ist diese Anthropologie, weil sie davon ausgeht, dass die Menschen von Natur aus böse sind, weil sie bloß im Affekt und ihren ungezügelten Leidenschaften folgend handeln. Aber zugleich hat der Mensch auch schon im Naturzustand Vernunft; d.h. die Gattung Mensch ist vernünftig, aber die einzelnen Menschen müssen erst dazu gebracht werden, ihre Vernunft vernünftig zu gebrauchen. Wenn jeder Einzelne die Vernunft, über die er als Einzelner qua Zugehörigkeit zur Gattung verfügt, vernünftig gebraucht, kann der Übergang vom Natur- in den Gesellschaftszustand realisiert werden. Vernünftig gebraucht der Einzelne die Vernunft dann, wenn er an seinen Affekten zunächst die Unterscheidung trifft zwischen guten Interessen (im Wesentlichen das Gewinnstreben), die er berechtigterweise verfolgen darf, und den bösen Leidenschaften (letztendlich alle anderen Affekte), die er aus Vernunft unterdrücken muss.17 Die Einhaltung dieser Unterscheidung muss nicht nur jeder Einzelne Zeit seines Lebens kontrollieren, sondern zumindest bei Hobbes bedarf es zusätzlich der Instanz des Souveräns, der im Naturzustand und damit als Bestie verbleibt und so die Einhaltung dieser Unterscheidung unter Androhung von Gewalt gewährleistet. Weil aber der Souverän im Naturzustand verbleibt, darf er weiterhin seine Affekte ungezügelt ausagieren, d.h. er darf morden, rauben und vergewaltigen. Für das Leben der Einzelnen im Gesellschaftszustand bedeutet dies, dass sie in einer doppelten Furcht verharren: Der Furcht, dass sie doch von

17 Vgl. zu dieser für den Liberalismus grundlegenden Unterscheidung von guten Interessen und bösen Leidenschaften Hirschman, Albert, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980.

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ihren Affekten überwältigt werden; und der Furcht vor der Gewalttätigkeit des Souveräns. Und diese doppelte Furcht – dies gilt es noch umfangreicher und genauer auszuarbeiten – kann auch nicht beseitigt werden, wenn der Souverän über Konzepte der Gewaltenteilung in den Gesellschaftszustand eingebunden wird. Denn einerseits bleibt in jedem Einzelnen die Furcht vor seinen Affekten unverändert erhalten. Zum anderen tritt an die Stelle des tierischen Souveräns die Vernunft, die zwar im Unterschied zum Souverän als Bestie nicht mehr auf TierMetaphern verweist, aber zu einer gänzlichen Abspaltung der Affekte und des menschlichen Körpers von der Vernunftseite führt. Für Kant sind wir als Menschen Bürger zweier Welten, Vernunft- und Affektwesen; und nur als Vernunftwesen, also unter Absehung unserer Körperlichkeit und Affektualität, können wir uns im Sinne des kategorischen Imperativs verhalten und den Anspruch erheben, moralische Personen zu sein. Es ist sinnvoll möglich zu sagen, dass in der liberalen Tradition der Mensch als Tier oder der Menschen-Affe immer dann ins Spiel gebracht wird und von den anthropologischen Vorannahmen her ins Spiel gebracht werden muss, wenn es um die Rechtfertigung der hierarchischen Vorrangstellung und Dominanz der Vernunft gegenüber den menschlichen Köpern und ihren Affekten geht. Will man also die Tier-Metaphern in der politischen Philosophie insbesondere der liberalen Tradition außer Kraft setzen, dann müssen die den Liberalismus mitkonstituierenden anthropologischen Annahmen angegriffen werden. Erst damit gewinnt man eine Ausgangsbasis für eine postliberale politische Philosophie. Und für die Gewinnung einer solchen anderen anthropologischen Ausgangsbasis wird nicht nur das erneute Durchdenken der Tugendlehre von Aristoteles bedeutsam, stehen doch dort die Affekte und deren kluge Regulation im Zentrum; sondern all die Theoretiker, die versuchen eine politische Theorie im Ausgang einer Affektenlehre zu entwickeln, gewinnen eine hohe Aktualität. Gemeint sind damit nicht nur Spinoza und die an ihn gegenwärtig anknüpfende Diskussion, sondern auch die Arbeiten von Hannah Arendt, Martha Nussbaum sowie der in der Bundesrepublik noch immer viel zu wenig beachteten Judith Shklar. In diesen Kontext gehört auch die große und bis heute kontrovers diskutierte Arbeit von Elias Canetti Masse und Macht, zuerst erschienen 1960, sowie seine AphorismenSammlungen. Für den Liberalismus ist die duale Entgegensetzung von Mensch als Vernunftwesen und Tier als Affektwesen grundlegend. Die aristotelische Tradition der Tugendethik enthält einen solchen Dualismus nicht. Denn mit den Tieren gemeinsam haben Menschen Affekte und Strebevermögen. Zu diesen Affekten und dem Strebevermögen können Menschen sich aber ganz anders verhalten als

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Tiere: Den Menschen ist es möglich ihre Affekte klug und in Hinsicht des einer Situation entsprechenden Tuns zu regulieren. Insofern können nur Menschen sich tierisch verhalten, wenn sie nämlich ihre Affekte nicht regulieren; oder anders: Ein Mensch, der sich tierisch verhält, ist und bleibt ein Mensch. Tiere dagegen verhalten sich immer tierlich. Affekte richten sich nicht nur auf angestrebte Dinge, sondern auch auf andere Individuen. Und da Menschen und Tiere über Affekte und entsprechende Strebevermögen verfügen, ist es durchaus sinnvoll möglich zu sagen, dass auf affektueller Ebene auch ein „Verstehen“ zwischen Menschen und Tieren möglich ist. Und weil Affekte sich nicht nur und ausschließlich auf die Erfüllung der Begehrungen von Einzelnen – im methodologischen Individualismus –, sondern wie die Begehren nach Liebe, Achtung oder Anerkennung auf Andere richten, umfasst die Regulation der Affekte auch die Sozialdimension der Ausgestaltung der Beziehungen der Vielen untereinander, zielt also ab auf eine Lebensform. Analytisch entwickelt Aristoteles seine Konzeption im Ausgang von den Individualtugenden hin zur Tugend der Gerechtigkeit und dann zur Lebensform der Freundschaft. Die Lebensform der Freundschaft ist aber Bedingung für die Entfaltung der Tugend der Gerechtigkeit, die wiederum die Voraussetzung dafür ist, dass die Einzelnen Individualtugenden einüben können. In anthropologischer Hinsicht relevant ist, dass in eine solche Lebensform Tiere mit eingebunden sind bzw. eingebunden werden können, eben weil sie wie Menschen mit Affekten und Strebevermögen ausgestattet sind. Wie eine solche Lebensform bestimmt werden könnte, bedarf eigener Untersuchungen. Im Folgenden möchte ich nur noch Ausgangsbedingungen der politischen Philosophie Spinozas skizzieren, um den postliberalen Gehalt dieser Konzeption zumindest anzudeuten. Dabei beziehe ich mich an dieser Stelle nur auf den Politischen Traktat von Spinoza18, auch wenn seine Affektenlehre zentral in der Ethik ausgearbeitet wird. Leitend für die ebenfalls noch auszuarbeitende Rekonstruktion der politischen Anthropologie Spinozas ist folgende These: Spinozas Argumentation muss rekonstruiert werden immer im Vergleich mit Hobbes. Denn beide bearbeiten in gewisser Weise dasselbe Problem, aber so, dass Spinoza den Ansatz von Hobbes in sein Konzept aufnehmen kann, nicht aber umgekehrt Hobbes das Konzept Spinozas (Hobbes kann Spinozas Konzept nur abstrakt negieren). Gegen den Hobbesschen methodologischen Individualismus, den Naturzustand und den so notwendig zu gestaltenden Übergang zur Gesellschaftlichkeit

18 Spinoza, Baruch de, Politischer Traktat. Herausgegeben und übersetzt von Wolfgang Bartuschat, Meiner: Hamburg 2010.

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setzt Spinoza eine andere anthropologische Ausgangssituation: Von Menschen kann nur dann gesprochen werden, wenn es eine Pluralität von Menschen und damit soziale Beziehungen zwischen den Vielen gibt; die Sozialität ist keine Eigenschaft, die den Einzelnen als Exemplaren des Typus Mensch zukäme, sondern die Sozialität ist ein bestimmtes Verhältnis zwischen den Vielen. Grundlegend ist die Kategorie multitudo; diese Kategorie erlaubt Begriffsbildungen wie civis, populus oder vulgus. Dabei spricht Spinoza nicht einfach nur von multitudo, sondern eine – fast möchte man sagen – Standardformulierung lautet, „Menge, die wie von einem Geist [mens] geleitet wird“. Zu beachten ist: Weder wird die Menge faktisch von einem Geist geleitet noch hat sie einen Geist, sondern sie wirkt gleichsam wie von einem Geist geleitet. Und sie wirkt wie von einem Geist geleitet dann und genau dann, wenn dieser seine ratio vernünftig gebraucht. Ratio wird an vielen Stellen der Übersetzung mit Vernunft übersetzt, scheint mir aber besser mit Verstand übersetzt. Indem der eine Geist seine ratio vernünftig gebraucht, wird der (numerisch) eine Geist zugleich ein bestimmter Geist. Vielleicht sollte man folgendes noch mithören: unus adverbiell gebraucht als una meint ein räumlich und zeitlich zusammenhängendes Eins (und vielleicht könnte man da sogar an Leibnizens Monadologie und die Kompossibilität denken). Also: Der numerisch eine sowie räumlich und zeitlich zusammenhängende Geist, der seine ratio vernünftig gebraucht, ist dasjenige, das im Wirken der Menge als gleichsam leitend scheint. Zu interpretieren bleibt velut(i), also wie, gleichwie, gleichsam, gleich als ob, wie wenn. Und zu interpretieren bleibt die Bedeutung von mens im Unterschied zu spiritus (Seele geistlich), animus (Seele geistig) oder umbra (Gespenst). Mir scheint aber unbestreitbar zu sein, dass mens, weil er eben nur gleichsam und nicht wirklich die Menge leitet, dieser nicht übergeordnet ist so wie die Vernunft den Affekten übergeordnet ist; sondern dass dieser Geist eingerückt ist in die Verhältnisse zwischen den Vielen. Weiter: An vielen Stellen wird civilis mit staatlich, civitas mit Staat übersetzt; damit verschwindet die Differenz zu imperium, das ebenfalls mit Staat übersetzt wird. Dadurch kommt in die Übersetzungen ein Staatszentrismus, der – wenn man die Differenz von civitas (Bürgerschaft oder Bürgerschaftlichkeit) und imperium (Staat) stark macht – bei Spinoza so nicht vorhanden ist. Auch wenn in den Übersetzungen von Gemeinschaft und gemeinschaftlich gesprochen wird, muss der von Spinoza gebrauchte lateinische Terminus herangezogen werden. Denn commune, communitas meint nicht den deutschen Gebrauch von Gemeinschaft als Gegenbegriff zu Gesellschaft, sondern das Gemeinwesen, gemeinsam, Gemeinsinn.

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An manchen Stellen wird auch in wichtigen Zusammenhängen collegiatur übersetzt mit gemeinschaftlich. Damit geht das mit den anderen zusammen regieren in der Übersetzung verloren. Schließlich: An vielen Stellen der Übersetzungen gehen die logischen Verknüpfungen und Abhängigkeiten verloren oder werden undeutlich, wenn zwei Hauptsätze in der Übersetzung einfach mit und verknüpft werden. Ein Beispiel ist § 16 von Kap. 2 des Politischen Traktats. Spinozas Formulierung Ubi hominis jura communia habent omnesque una veluti mente ducuntur wird übersetzt mit Wo Menschen gemeinsame Rechtsgesetze haben und wie von einem Geist geleitet werden. Die Übersetzung legt eine Aufzählung nahe: Erstens müssen Menschen gemeinsame Rechtsgesetze haben und zweitens dann auch noch wie von einem Geist geleitet werden. Omnesque betont aber ein logisches Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Sätzen: Menschen haben gemeinsame Rechtsgesetze und somit oder und demnach oder und daher werden sie wie von einem Geist geleitet. Zugleich ergibt sich für die Interpretation von velut(i) fast zwingend, dass das gleichsam wie von einem Geist geleitet werden aufgelöst werden können müsste über eine Interpretation dessen, was Spinoza mit gemeinsamen Rechtsgesetzen (mit m.E. der Betonung des Gemeinsamen bezüglich der Rechtsgesetze) meint. Auch der für Spinoza zentrale Terminus multitudo wird, beispielsweise in Kap. 5, § 6, ohne Grund verschieden übersetzt: Nämlich einmal als (freie) Menge und dann als (besiegte) Bevölkerung. In dem daran anschließenden Satz wird aber deutlich, dass es Spinoza um das Verhältnis der Affekte Hoffnung und Furcht geht: Eine Menge ist dann frei, wenn die Hoffnung über die Furcht dominiert; sie ist unfrei, wenn umgekehrt die Furcht über die Hoffnung dominiert. Interpretierend scheint mir klar, dass Spinoza auf Hobbes anspielt. In dessen Konzeption geht es darum, dem Tod zu entrinnen. Spinoza dagegen geht es darum das Leben zu gestalten, eigenständig zu leben, frei zu leben. In beiden Fällen scheint die Bestimmung des Staates als Staat ähnlich: die multitudo unterstellt sich ihm als Untertanen (populus, die Herrschaftsseite des Staates). Dominiert aber die Furcht über die Hoffnung, dann herrscht ein so gegründeter Staat durch Gewalt (Kriegsrecht), die Untertanen sind eher Sklaven. Dominiert die Hoffnung über die Furcht, dann herrscht der Staat durch Macht, genauer durch die Macht der wie von einem Geist geleiteten multitudo. Die Seite des Rechts bleibt hier uninterpretiert. Ich möchte aber vermuten, dass in Spinozas Konzeption Recht im Sinne des Rechten das den Staat und die Untertanen Übergreifende ist. Während bei Hobbes der Souverän außerhalb des Rechts steht bzw. eine Grenzfigur darstellt. Während bei Hobbes der Staat als nur herrschend konzipiert wird und deswegen auf einem Gewaltverhältnis beruht, betont Spino-

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za eher das Führen im Herrschen, kann daher Macht und Gewalt voneinander unterscheiden. Führen kann der Staat aber nicht aus sich heraus, sondern nur über die Macht der multitudo als der Macht der civitas gegenüber dem Staat. Vielleicht könnte man sagen, dass der Staat das Partikular-Allgemeine der civitas ist, der Bürger-Status (civis) damit nicht im Status des Staats-Bürgers (populus) aufgeht. Wenn Spinoza in Kapitel 2, § 15 sagt, er erhebe keinen Einwand gegen die Benennung des Menschen als einem sozialen Lebewesen und dies begründet wird damit, „dass die Menschen im Naturzustand ihr eigenes Recht kaum aufrecht erhalten können“, dann meine ich, es ist sinnvoll möglich zu sagen, dass es für Spinoza keine vereinzelten Einzelnen mit natürlichen, den vereinzelten Einzelnen zukommenden Rechten gibt, die als Ursprung der Konstitution der Sozialität und des Staates fungieren. Insofern bezieht sich seine Rede von „natürlichen Rechten“ immer schon auf einen sozialen Zustand, auf soziale Verhältnisse zwischen Menschen. Die Fiktion eines Naturzustandes und natürlicher Rechte ist so eher ein Rekonstrukt dessen, was mit „sozialem Lebewesen“ sinnvoll gemeint sein kann, sie ist aber keine Konstitutionsbasis für die Soziabilität/Gesellschaftlichkeit durch Vertragsabschluss. Mein Vorschlag läuft darauf hinaus, in einem ersten Schritt Spinozas Überlegungen zu multitudo zu verstehen äquivalent zu Hannah Arendts Kritik an der Rede von dem Menschen und der damit einhergehen könnenden Gemeinschaftskonzeption (Familie, Clan usw.) und dem Rekurs auf die für das Menschsein der Menschen unaufhebbare Pluralität der Menschen. Mit Pluralität der Menschen nicht gemeint ist eine Anzahl von token eines types oder einer natural kind, sondern die Rede von der Pluralität der Menschen hebt ab auf die Verschiedenheit jedes einzelnen Menschen als Einzelnem gegenüber allen anderen Menschen. Diese Verschiedenheit muss dann – und dies gehört für Arendt entscheidend zum Sinn des Politischen – begriffen (aufgehoben) werden können als Unterschied, der sich ergibt in der Art und Weise der Bezugnahme der Einzelnen aufeinander. Die Menge von Einzelnen ist somit keine Summe gleichförmiger Einzelner (einzelner Iche), die – wie im Titelbild des Leviathan – durch den politischen Körper zu Einem zusammengebunden werden, sondern die Menge von Einzelnen ist insofern heterogen als sich im Vollzug des sich von den anderen Unterscheidens die Differenz von Ich und Du bildet. Das Eine ist also das Verhältnis, die Menge oder Pluralität sind diejenigen, die sich voneinander unterscheidend in das Verhältnis eingebunden sind. Streng terminologisch kann multitudo daher nur im Singular verwendet werden. Es „gibt“ also nur eine multitudo und in Konsequenz dann auch nur einen

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Geist, der die Menge gleichsam zu leiten scheint. Denn die multitudo ist das Eines-sein (Verhältnis) der Vielen. Und umgekehrt können die Vielen (als Summe vereinzelter Einzelner) ohne das Eine (das Verhältnis) nicht existieren. Ein gewagter Sprung sei hier erlaubt: Ist damit nicht genau das gemeint, was Hegel dann im Übergang zum Selbstbewusstseins-Kapitel als das Zugleich von Ich, das ein Wir ist, und dem Wir, das ein Ich ist, formuliert? Und liegt hier nicht eine Grenze der Konzeption Hannah Arendts, die zwar von dem Ich, das ein Wir ist, spricht, aber immer dann in Schwierigkeiten gerät, wenn sie das Ich-Sein des Wir bestimmen müsste? Weswegen sie dann auch von konservativer Seite als Totalitarismus-Theoretikerin vereinnahmt werden kann. Und ist dann das Spannende an Canettis Versuch nicht eben die Bemühung, in der ersten Hälfte von Masse und Macht das Eine der Vielen zu thematisieren, um dann in der zweiten Hälfte das Viele in dem Einen zu untersuchen? Analytisch, zum Zweck der Bestimmung des Verhältnisses der Vielen zueinander als Eine, müssen die Momente des Verhältnisses (die vereinzelten Vielen bzw. die vielen Vereinzelten) und das Verhältnis selbst voneinander unterschieden werden. Verselbständigt man das voneinander Unterschiedene so, dass die vereinzelten Einzelnen und das (mögliche) Verhältnis der Einzelnen zueinander etwas Verschiedenes sind, dann landet man entweder bei Hobbes (von den vereinzelten Einzelnen ausgehend soll das Verhältnis konstituiert werden können) oder bei Rousseau (die vielen Einzelnen sind unmittelbar und ursprünglich ein homogenes Eines, ein Volk). Wenn die voranstehende grobe Skizze zumindest in die richtige Richtung weist, dann sollte deutlich geworden sein, dass multitudo auf ein Verhältnis der Vielen zueinander verweist. Das Verhältnis-Sein des Verhältnisses ist damit aber noch nicht bestimmt. Wie verhalten sich die Vielen zueinander? Und wie ist je nach dem Verhalten der Vielen zueinander das Eine bestimmt? Zumindest zwei Modi der multitudo spricht Spinoza mit der freien und der unfreien multitudo an (Canetti bietet zusätzlich noch eine Reihe weiterer modaler Bestimmungen an). Und, wie oben schon gesagt, sind es die Ausregelungen der Affekte der Einzelnen, von denen abhängt, ob das Eine der Vielen dominiert wird durch die Dominanz der Furcht über die Hoffnung (unfreie multitudo) oder umgekehrt durch die Dominanz der Hoffnung über die Furcht (freie multitudo). Wichtig gerade in Richtung der Auseinandersetzung mit Hobbes ist, dass Spinoza von seinen Grundlagen aus die Struktur des Hobbesschen Sicherheitsstaates erklären kann, ohne dass er sich auf die anthropologischen Voraussetzungen von Hobbes einlassen müsste. Denn ausgehend von Spinozas Affektenlehre können die Einzelnen nicht zusammen handeln dann und genau dann, wenn ihre (individuelle) Affektregulierung insgesamt von dem Affekt der Furcht dominiert

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wird. Dagegen kann Hobbes von seinen Grundlagen aus weder die Beziehungen der Einzelnen zueinander als Verhältnis (civilitas) denken noch den durch die freie multitudo gegründeten Staat. Zu einer unfreien multitudo gehört auch, dass sie insgesamt von einem ungezügelten Affekt geleitet sein kann: Dies ist der Mob oder vulgus in seinem Hass, seiner Wankelmütigkeit und Beeinflussbarkeit. Zwar könnte man vielleicht auch sagen, dass die unfreie multitudo in gewisser Weise wie von einem Geist geleitet agiert. Aber von diesem Geist – wenn es denn einer ist und sein kann – müsste gelten, dass er seine ratio nicht oder zumindest nicht vernünftig gebraucht. Für Spinoza dagegen sind die freie und die unfreie multitudo Gegenbegriffe, die beide modalen Ausgestaltungen der multitudo begreift als Resultat des Wirkens der Affekte der Vielen. Also auch die unfreie multitudo hat sich selbst durch das Wirken der Affekte der Vielen als unfreie ausgestaltet; es gibt keine allein von außen determinierend auf den Modus der multitudo einwirkende Gewalt.

Dem Auge auf die Sprünge helfen. Jagdbare Tiere und Jagden bei Johann Elias Ridinger (1698-1767) E LLEN S PICKERNAGEL

Kein anderer Künstler des 18. Jahrhunderts hat derartig viele Darstellungen von jagdbaren Tieren und Jagden geschaffen wie der Stecher Johann Elias Ridinger. Ein großer Teil der etwa 1.600 druckgrafischen Werke behandelt diesen Themenkreis. Die Zeitgenossen schätzten seine Arbeiten, sie wurden auch nach seinem Tod weiter nachgedruckt1 und fanden selbst dann noch zahlreiche Abnehmer, als das tradierte obsessive Jagen im 19. Jahrhundert entschieden in Misskredit geraten war, und zwar in doppelter Hinsicht: als Privileg des Adels und als Gewalt gegenüber Tieren. Neben der hohen, wenn auch nicht durchgängig gegebenen Meisterschaft in der Tierdarstellung verdankt sich Ridingers Erfolg der prosperierenden Technik der Druckgrafik, die auf breitere Adressatenkreise als die Malerei zugeschnitten war, und den Produktions- und Vertriebsbedingungen eines Verlags, den er zusammen mit seinen Söhnen in Augsburg betrieb. Die freie Reichsstadt war ein Zentrum der Kupferstichkunst und ein bevorzugter Sitz von Kupferstichverlagen,2 so dass sich in Anbetracht der Konkurrenz eine Spezialisierung empfahl. Ridinger konnte hinsichtlich der Jagd mit einer großen Zahl sowohl von adligen als auch bürgerlichen Abnehmern rechnen.

1

Wer hat das Thierreich so in seines Pinsels Macht?... Die Tierdarstellungen von Johann Elias Ridinger. Sonderausstellung des Museums Jagdschloß Kranichstein vom 29.5. bis zum 2.8.1999, Darmstadt: Stiftung Hessischer Jägerhof 1999, S. 13.

2

Stubbe, Wolf, Johann Elias Ridinger, Hamburg/Berlin: Parey 1966, S. 10f.

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Im Folgenden werde ich drei umfangreiche, zwischen 1740 und 1756 entstandene Bildserien untersuchen. Sie sind nicht als Illustration verschiedener historischer Jagdarten von Interesse, vielmehr geht es um zukunftsweisende mediale Strategien in sequentiellen Darstellungen, die das Verhältnis zu jagdbaren Tieren unter dem Aspekt der Augenlust neu formieren sollten. Ridinger organisierte unterschiedliche Blickweisen, die zunehmend dynamischer wurden. Es ist also zu fragen, welche Rolle das Wild und sein Potential an Bewegungsmöglichkeiten für analoge Bestrebungen in den Kompositionen hatte. Waren es die in die Falle laufenden und von Jägern gehetzten Tiere, welche die Techniken des Sehens erweiterten? Die Titel der drei Serien – Abbildung der jagdbaren Tiere/Fangarten der wilden Tiere/Die Parforcejagd des Hirschen – ließen eine Fortsetzung der traditionellen Jagdliteratur erwarten.3 In der posthum erschienenen Lebensbeschreibung 1768 heißt es, dass viel Nützliches in Ridingers Werken zu finden sei wie „die Lectionen im Reiten, die Jagd, Behetzung und Fang der Thiere, […] so dass nicht nur ein Reuter und Jäger noch daraus lernen, sondern auch ein jeder Liebhaber der schönen Künste und Wissenschaften sich einen rechten Begriff von der Sache machen kann“.4 Der Künstler versichert, dass es sein Hauptzweck sei, „die sonst so weitläuffige Jagtbeschreibungen aufs Kürzeste und Deutlichste, auf die neuste Manier zusammen zu fassen und mit Kupfern, so ich nach dem Leben gezeichnet, zu illustrieren“.5 Die Forschung folgte bedenkenlos mit der Behauptung, dass er den Bildtafeln „von Grund auf entwickelte Informationen“ und „leicht verständliche [...] Erläuterungen“ zugefügt habe und seine Werke von lehrhaftem Charakter seien. Zugleich wurde ihr ästhetischer Wert hervorgehoben.6 Die Definition als Lehrschrift erledigt sich in Anbetracht des Verhältnisses von Illustration und Text. Während in der traditionellen Jagdliteratur die Illustra-

3

Zu den Serien s. das Werkverzeichnis Thienemann, Georg August Wilhelm, Leben und Wirken des unvergleichlichen Thiermalers und Kupferstechers Johann Elias Ridinger, mit dem ausführlichen Verzeichniss seiner Kupferstiche, Schwarzkunstblätter und der von ihm hinterlassenen grossen Sammlung von Handzeichnungen, Leipzig: Weigel 1856 (Nachdruck Amsterdam: Israel 1962).

4

Zit. nach Thienemann, Georg August Wilhelm, Die Lebensbeschreibung des Johann

5

Die Formulierung stammt aus dem Vorwort zu Ridingers Kupferstichsammlung Voll-

Elias Ridinger (1856), in: Wer hat das Thierreich (Anm. 1), S. 13–19, S. 18. kommene und gründliche Vorstellungen der vortrefflichen F ü r s t e n - L u s t oder der edlen Jagtbarkeit (1729), zit. nach Thienemann, Leben und Wirken (Anm. 3), S. 7. 6

Stubbe, Wolf, Johann Elias Ridinger (Anm. 2), S. 30; Wer hat das Thierreich (Anm. 1), S. 106f.

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AUF DIE

S PRÜNGE

HELFEN

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tionen durchaus untergeordnet waren, dominieren sie hier, und die umfangreichen Ausführungen in den Quellen sind in zwei der drei Serien auf Textzeilen unter dem Bild verknappt. Ridinger sprach damit ein Publikum an, dessen Schaulust an die Stelle jagdpraktischen Lernens trat.

1. 1740 erschien eine Folge von 23 Radierungen unter dem Titel Abbildung Der Jagtbaren Thiere mit derselben angefügten Faehrten und Spuhren, Wandel, Gänge, Absprünge, Wendungen, Widergängen, Flucht, und anderer Zeichen mehr.7 Die großformatigen Blätter (37 x 30 cm) zeigen jeweils ein jagdbares Tier in seiner Umwelt (Abb. 1-3). In einem Streifen darunter sind zwei seiner Spuren samt Beischriften zu sehen, z. B. „rechter Vorderlauf/linker Vorderlauf“ bei dem Fischotter, „in weicher Erde/auf hartem Boden“ bei der Gemse. Ferner sind einzelne Teile des Abdrucks aufgelistet, so beim Wildschwein „Schälwände, Ballen“ etc. Die letzten Blätter geben in verkleinertem Maßstab eine Übersicht über alle Spuren, unterschieden nach „im Gang“ und „flüchtig“. Die Aufzählung im Titel, die Aufteilung der Stiche sowie der Topos in Ridingers Vorwort, er habe Tiere und Fährten (mit Ausnahme von Löwe und Tiger) nach der Natur und teilweise nach „gründlicher Anleitung eines hirschgerechten Jägers“ gezeichnet, schließen an die vorliegende umfangreiche Jägerliteratur an, die sich an das Berufsjägertum richtete. Der größte Teil der europäischen Jagdliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts entstand durch Exzerpieren und Kompilieren älterer Quellen, und dies setzte sich über Ridinger bis ins 19. Jahrhundert fort.8 Das älteste schriftlich fixierte Jagdwissen bezog sich auf die Spuren des Wilds in der Natur, deren Kenntnis dem Jäger erlaubte, die Fährten aufzunehmen und die Tiere zu verfolgen. Eine deutschsprachige lehrhafte Abhandlung, Die Lehre von den Zeichen des Hirsches, wurde erstmals am Anfang des 16. Jahrhunderts gedruckt.9 Hanns Friedrich von Flemings Der Vollkommene Teutsche

7

Thienemann, Leben und Wirken (Anm. 3), Nr. 162-185, S. 44-46; Wer hat das Thierreich (Anm. 1), S. 86-90 (mit Abbildungen).

8

Laß, Heiko/Schmidt, Maja, „Zur höfischen Jagd in Deutschland. Eine wahrhaft ritterliche Übung“, in: Berns, Jörg Jochen u.a.: Erdengötter. Fürst und Hofstaat in der Frühen Neuzeit im Spiegel von Marburger Bibliotheks- und Archivbeständen, Marburg: Universitätsbibliothek 1997, S. 389-437, S. 407.

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Lindner, Kurt (Hg.), Die Lehre von den Zeichen des Hirsches, Berlin: de Gruyter 1956, S. 50.

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Jäger (1719/1724) fasste das für lange Zeit verbindliche Zunftwissen in umfangreichen Beschreibungen, Anweisungen und vielen Kupfern zusammen.

Abb. 1: Das Wildschwein, aus der Folge Abbildung der jagdbaren Thiere mit derselben angefügten Fährten und Spuhren, 1740.

Abb. 2: Der Hase im Laubwald, aus der Folge Abbildung der jagdbaren Thiere mit derselben angefügten Fährten und Spuhren

Ridinger fand hier, wie in anderen Werken, die Abbildungen des Wilds und seiner Spuren, die Beischriften und die Übersichten über die Trittsiegel vor.10 Fleming gibt das jeweilige Wild in Seitenansicht auf einer schmalen Standfläche wieder, nur selten deutet er die Umgebung an. Ridinger verzichtet auf detaillierte Erläuterungen und stellt die Tiere vor Naturkulissen, welche die gesamte Bildfläche füllen, ohne Aussicht in die Ferne. Er beschränkt sich auf die Abdrücke im Boden, während die Quellen auch trittlose Zeichen wie Fegen, Losung und Nässen beschreiben.11 Ein brauchbares Wissen stellt er zugunsten der Wirkung von Bildern zurück, entscheidend aber ist es, dass er für die alten Muster eine neue Lesart vorschlägt.

10 Fleming, Hanns Friedrich von, Der Vollkommene Teutsche Jäger, 2 Bde., Leipzig: Martini 1719/1724, Bd. 1,Tafel XII zeigt die Übersicht. 11 Lindner, Die Lehre (Anm. 9), S. 51.

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Abb. 3: Der Baummarder und das Wiesel, aus der Folge Abbildung der jagdbaren Thiere mit derselben angefügten Fährten und Spuhren Im Vorwort zu seiner Serie schreibt Ridinger, dass der Mensch die Herrschaft über die Tiere verloren habe, und diese würden ihn nun fliehen, manche ihn auch gefährden. Doch sorge der gütige Schöpfer dafür, dass die Menschen die Tiere aus den Fährten „nicht allein nach ihren Arten erkennen, um sich vor den Orten, wo Raub- und Blut-gierige Thiere sich enthalten, zu hüten, als vielmehr, daß sie auch eine Einrichtung eines allerweisesten Wesens mercken und bewunderen möchten“.12 Fleming hatte die Jagd mit dem Verweis legitimiert, dass Gott die

12 Wer hat das Thierreich (Anm. 1), S. 86.

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unvernünftigen Tiere den „Menschen zu gut erschaffen und ihme unterwürffig gemacht hat“.13 Während er die für die Feudalgesellschaft verbindliche Begründung wiedergab, führte Ridinger die Betrachtungsweise der Physikotheologie ein, jene in der deutschen Aufklärung bedeutende Bewegung innerhalb des Protestantismus, der zufolge die Natur eine Offenbarung der Weisheit, Allmacht und Güte Gottes sei.14 Die programmatische Umdeutung der jagdbaren Tiere in Objekte frommer Betrachtung erfolgte vor allem mit Hilfe der deutlich gezeichneten, großen Spuren, die wie sinnbildhafte Zeichen wirken. Ridinger knüpfte an die reiche Überlieferung jener natursymbolischen Darstellungen an, die auf einer Fläche eine Auswahl präzis erfasster Pflanzen, Früchte und kleiner Tiere ausbreiteten und ihnen zur Überhöhung ein Motto, etwa aus dem biblischen oder antiken Schrifttum, zuordneten.15 Die Betrachtung dieses Mikrokosmos sollte zur Erkenntnis der Natur und zum Lob des Schöpfers anleiten. Die tierischen Gestalten sind von der Seite und in meist statischer Haltung erfasst. Die größeren, wie Gemse, Reh oder Wildschwein, sind gemäß naturgeschichtlicher und jagdkundlicher Konvention abgebildet, aber sie zeichnen sich klar vor der Folie recht schematisch gegebener Felsen oder Vegetation ab, als ob sie sich im Visier des Jägers befänden. Für die kleineren Waldbewohner wählte Ridinger ein anderes Blickmuster. Unter den detailreichen Naturformen im Wechsel zwischen Licht und Schatten fallen sie zunächst nicht auf. Im grafischen Netzwerk verliert sich das Auge, ehe es, wie ein Jäger, Hase, Dachs oder Wiesel erspäht. Die empfohlene Versenkung in die göttliche Schöpfung bei gleichzeitigem Angebot für den begehrenden Blick verweist auf einen für die Epoche kennzeichnenden Widerspruch. Ridinger löste ihn für sich selbst in seinem letzten Selbstbildnis (1767), mit dem er der Nachwelt als Tier- und Naturfreund in Erinnerung bleiben wollte.16 Er sitzt im tiefen Wald an der Staffelei, vor ihm das Gemälde eines kapitalen Hirschs, so als habe dieser ihm Modell gestanden. In

13 Fleming, Der Vollkommene Teutsche Jäger (Anm. 10), Bd. 1, S. 83. 14 Ludwig, Heidrun, Nürnberger naturgeschichtliche Malerei im 17. und 18. Jahrhundert, Marburg: Basilisken-Presse 1998, S. 116, 166; vgl. auch Kantzenbach, Friedrich Wilhelm, Protestantisches Christentum im Zeitalter der Aufklärung, Gütersloh: Mohn 1965, S. 25-29. 15 Verwiesen sei hier nur auf das bedeutende Werk Georg Hoefnagels, Archetypa studiaque, Frankfurt am Main [1592]; vgl. dazu Vignau-Wilberg, Thea, Archetypa studiaque patris Georgii Hoefnagelii. Natur, Dichtung und Wissenschaft in der Kunst um 1600, München: Staatliche Graphische Sammlung 1994. 16 Wer hat das Thierreich (Anm. 1), Abb. S. 60.

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der Lebensbeschreibung wird Ridinger zwar auch als Jäger bezeichnet, aber sein größtes Vergnügen, so heißt es, habe er darin gefunden, „wenn er in Wäldern und Feldern dem großen und kleinen Wild und Federvieh nachschleichen konnte, um sie nur anzusehen und zu betrachten“.17 Im Hinblick auf die Serie von 1740 erkannte Ridinger wohl, dass sich die Lehre von der Natur als sichtbare Offenbarung Gottes mit der visuellen Aufforderung, die Tiere zu verfolgen und zu töten, nicht vereinbaren ließ. Der Widerspruch zwischen Jagdlust und meditativem Bildgebrauch war zu ausgeprägt, um dem Konzept einen bleibenden Markterfolg zu verschaffen. Ridinger vermied künftig solche Versuche, sei es, dass er unverfängliche Tierdarstellungen schuf18 oder dass er – eindeutiger – die gewaltsame Vereinnahmung des Wilds betrieb, wie im folgenden Beispiel.

2. 1750 publizierte Ridinger die 31 Blätter umfassende Folge Die Fangarten der Wilden Thiere, die zu den Hauptwerken seiner Jagddarstellungen gehört. Er versprach, das Publikum über jene die „Edle Jaegerey angehenden Dinge“ zu belehren, in diesem Fall, „Wie alles Hoch u: Niedere Wild, samt dem Feder wildpraeth auf verschidene weise mit Vernunfft List u: Gewalt lebendig oder tod gefangen wird! […] Geschihet es mit Fallen, Schlag und Leg-Eisen, SelbstGeschoss, Gruben, […] durch Hüener- und Spion Hunde mit denen Barbets, […] mit dem Schuhu, […]“.19 All dies wird in einem großen Schaubild ausgebreitet, ehe die einzelnen Tafeln ins Detail gehen (Abb. 4).

17 Thienemann, Die Lebensbeschreibung (Anm. 4), S. 18. 18 Der prominente Dichter der Frühaufklärung, Barthold Heinrich Brockes, der in seiner Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott (1721–1748) Natur und Religion verband, sah in Ridinger vor allem den „Tierseelenmaler“ (vgl. Stubbe, Johann Elias Ridinger (Anm. 2), S. 19 f.). Brockes verfasste Lobgedichte auf den Künstler und fügte vielen seiner Stiche, u.a. den Fabeln (1744), Verse hinzu; vgl. Wer hat das Thierreich (Anm. 1), S. 96-98. 19 Zit. nach ebd., S. 107.

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Abb. 4: Titelblatt zu Die Fangarten der Wilden Thiere, 1750. Was den Inhalt betrifft, so mangelte es nicht an Lehrschriften zu Fallen und Fangmethoden. Noch 1811/12 behandelte Georg Ludwig Hartig in seinem Lehrbuch für Jäger und die es werden wollen in nicht weniger als 36 Kapiteln die hölzernen und eisernen Fangapparate, Fanggarne, Blend- und Sperrzeuge sowie die Jagd- und Fangmethoden für zahllose Tiere, angefangen vom Edelwild über Dachs und Otter bis hin zu Vögeln aller Art.20 Für Jäger und Fallensteller, die sich unter Ridingers Käufern und Sammlern befinden mochten, hatte auch die Serie von 1750 keinen nennenswerten Nutzen, denn sie enthielt weder Konstruktionszeichnungen noch Anleitungen zum Bau von Fangeinrichtungen, aber sie spiegelte die Jahrhunderte lang in der breiteren Bevölkerung bekannten und geübten Techniken in neuer Form: Sie bot Landschaftsbilder mit Fallen und angelocktem Wild. Ein Vergleich mit Flemings Abbildungsmanier belegt den Funktionswandel.21 Die Wiedergabe eines Fuchses im Eisen (1724) zielt auf die genaue Konstruktion des Fangapparats und seine Wirkung am lebenden Tier unter Verzicht auf schmückendes Beiwerk. Sie veranschaulicht die im Textteil gegebene ausführliche Erklärung zum Zweck des Nachbaus. Auch Ridinger lässt den Luchs im „Berliner Eisen“ verenden, jedoch an einem Ort, der den Schrecken der Wildnis aufruft (Abb. 5). Auf der rechten Bildseite breiten sich miteinander verschlungene Bäume, abgestorbene Äste, abgerissene Zweige, zerstörte Palisaden aus. Das Auge wird in die hell beleuchtete Zone zu dem Gefangenen ge20 Hartig, Georg Ludwig, Lehrbuch für Jäger und die es werden wollen, Wien u.a.: Rößl und Kaulfuß 1812 (Nachdruck Wiesbaden: Georg-Ludwig-Hartig-Stiftung 1998). 21 Fleming, Der Vollkommene Teutsche Jäger (Anm. 10), Bd. 2, Tafel XIX.

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lenkt. Auch die rahmenden Äste ziehen den Blick auf ihn in dem funktionierenden Apparat.

Abb. 5: Ein mit dem Berliner Eisen gefangener Luchs Hatte der Künstler sich in der Serie von 1740 oft mit eher formelhaften Arrangements begnügt, so entwarf er hier anspruchsvollere Kompositionen in der verfeinerten Technik von Radierung und Kupferstich, mit der eine differenziertere Darstellung von Licht, Bewegung und Stofflichkeit zu erreichen war. Er verband damit die Adaption niederländischer Landschaftskunst des 17. Jahrhunderts, die in dieser Epoche höchst angesehen war, da sie die höfisch-barocke Kunst überwand. Sie stellte im Stil des Realismus vielfältige Landschaftstypen zur Verfügung und half Ridinger, den zahlreichen Fallen entsprechend abwechslungsreiche Schauplätze zu entwerfen. Bei Jan Breughel d.Ä., Gillis van Coninxloo, Abraham Govaerts und vielen anderen Malern waren die dichten, dämmrigen Waldinterieurs, die bis zum oberen Bildrand reichenden Laubkronen mit dem kleinteiligen, genau gezeichneten Blattwerk vorgegeben.22 Im Unterschied zu diesen Landschaften, in denen Jagdaktionen nur als Staffage fungierten, stellte Ridin-

22 Berswordt-Wallrabe, Kornelia von, „Jagd, welch fürstliches Vergnügen“. Höfische Jagd im 18. und 19. Jahrhundert, Schwerin: Staatliches Museum Schwerin 2000, Abbildungen S. 36, 65, 67; zur holländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts, s. Schneider, Norbert, Geschichte der Landschaftsmalerei vom Spätmittelalter bis zur Romantik, 3. Aufl., Darmstadt: Primus 2011, S.137-148 (mit weiterer Literatur).

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ger, gleichsam als Angebot für Jäger und Fallensteller, die mörderischen Instrumente in den Fokus. Mochten solche ästhetisch aufbereiteten Schauplätze auch gefallen, wichtiger für den Erfolg der Serie war die Art, wie der Künstler unterschiedliche Sehvorgänge initiierte. Der Hirsch ist zur Salzlecke im Wald gekommen, wo ihn der Jäger im Ansitz erwartet (Abb. 6). Hohe beschattete Bäume stehen im Vordergrund, von dem aus die Betrachter den Hirsch auf dem hell beleuchteten Freiplatz sehen. Der an den linken Bildrand geschobene und in das pflanzliche Blendwerk eingefügte Jäger versteckt sich vor Wild und Betrachter gleichermaßen. Wenn das Auge die kleine Figur des Schützen entdeckt, wird es vom Gewehr in seiner Hand zu dem zusammenstürzenden Wild geleitet. So wird eine identische Scharfstellung des bildinternen und des externen Auges erreicht.

Abb. 6: Der Anstand auf den Hirschen bei der Salz Lecke In der Krähen-, Elstern- und Rabenhütte ließ sich aus verdeckten Schießscharten auf die Vögel zielen (Abb. 7).23 Sie wurde halb in die Erde versenkt und mit Rasen bedeckt, um einen Hügel vorzutäuschen. Eine hohe Stange, an die ein Lockvogel gefesselt war, und Fallbäume wurden hier aufgerichtet.

23 Alle Jagd- und Fangmethoden sind bei Hartig, Lehrbuch für Jäger (Anm. 20), ausführlich beschrieben.

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Abb. 7: Kraehen Alstern und Raben Hütte Wie in holländischen Herbst- und Winterlandschaften, etwa von Joos de Momper (Abb. 8), ist der Horizont niedrig, dünne, entlaubte Bäume erheben sich vor dem weiten Himmel, in der Ferne ist ein Dorf zu sehen. Die Betrachter haben ein Tableau mit zahlreichen, in entlaubten Bäumen freigestellten Vögeln vor sich. Klar silhouettiert, bieten sie sich dem Blick oder dem Abschuss dar. In anderen Blättern machen grafische Struktur und Verteilung der Hell- und Dunkelwerte das Tier fast unsichtbar. Erst gezielte Suchbewegungen führen zum Fuchs und zu dem mit einem Seil ans Fallbrett geleimten Lockvogel vor der dekorativen Folie eines Laubbaums. Oft ist der Prozess der Anlockung durch fängisch gestellte Fallen zu beobachten (Abb. 9). Ridinger nutzt das Muster der stimmungsvollen Nachtlandschaft. Der Vollmond steht über einer offenen, in zarten Hell-Dunkel-Abstufungen gehaltenen Waldzone. Auf dem bildparallelen Weg im Vordergrund nähert sich der Fuchs vorsichtig dem Köder und dem verdeckten Tellereisen vor ihm. Am linken Bildrand liegt ein gut getarnter Jäger auf der Lauer, sein außerbildlicher Kompagnon verfolgt seinerseits das Tier auf der geradlinigen Strecke, gespannt, ob es noch einmal ausweicht oder in die Falle läuft.

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Abb. 8: Joos de Momper, Winterlandschaft, um 1615-1625. Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Abb. 9: Einen alten verpröllten Fuchs mit dem Deller-Eisen zu fangen

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Für den Wolf ist eine bewegliche Scheibe über einer Grube vorbereitet (Abb. 10). Eine daran befestigte Ente verleitet ihn, zu springen und den Mechanismus auszulösen. Auch hier wird, wie im Drama, der Höhepunkt der Spannung geboten: Die animalische Bewegungsfreiheit ist aufs Höchste bedroht, aber noch ist nicht ganz zwischen Entkommen und Absturz des Wolfs, zwischen Enttäuschung und Befriedigung seitens des Fallenstellers entschieden.

Abb. 10: Wie der Wolff mit der Enten auf die Scheiben gebracht und in der Gruben gefangen wird

3. Ridinger veröffentlichte 1756 Die par force Jagd des Hirschen und deren ganzer Vorgang mit ausführlicher Beschreibung in 16 Kupfertafeln.24 Die großformatigen Bildtafeln sind mit einem breiten Textband versehen, in dem die jeweilige Phase des Jagdzeremoniells erklärt wird. Illustriert wird die 1680 von Frankreich übernommene Hetzjagd auf ein einziges ausgewähltes Stück Wild, meist ein Hirsch oder auch ein Wildschwein. Diese ranghöchste fürstliche Jagdart erforderte größten Aufwand an Personal, Pferden, Hunden und Materialien. Die eigentliche Jagdtätigkeit übernahmen das Personal und die Meute, der Fürst folgte

24 Thienemann, Leben und Wirken (Anm. 3), Nr. 48-64, S. 16-20.

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ihnen, um das nach langer Verfolgung geschwächte, schließlich gestellte und zur Flucht unfähige Tier zu töten.25 Im Diskurs der Aufklärung nahm die Kritik am Jagdprivileg des Adels und seiner exzessiven Nutzung zu.26 Selbst herrschaftliche Jäger sahen sich genötigt, in ihren Jagdschlössern mit Hilfe von Architekturformen und Bildprogrammen ihre Obsession christlich zu legitimieren,27 und das aufsteigende Bürgertum distanzierte sich zunehmend von tierfeindlichen Praktiken. Dennoch kam es nicht zu tief greifenden Reformen bis zur Beseitigung der feudalen Vorrechte in der Revolution 1848/49.28 Ridinger legte es darauf an, mit der Darstellung einer Prunkjagd unterschiedliche Adressaten zu erreichen. Die Bildserie fand – wie auch andere seiner Arbeiten – Anklang an deutschen Höfen, so wurde sie etwa von Markgraf Karl Friedrich und Markgräfin Caroline Luise von Baden und den Herzögen von Mecklenburg-Schwerin erworben.29 Besonders enge Verbindungen bestanden zwischen Ridingers Verlag und dem Hof von Hessen-Darmstadt. Landgraf Ludwig VIII. sammelte und beauftragte den Künstler, die von ihm erlegten „Wundersamsten Hirsche“ abzubilden, um auf diese Weise seine Jagderfolge bekannt zu machen. Der Verlag wiederum profitierte von dem Kunden, einem der berüchtigtsten Jäger der Epoche.30 Mochte der Adel ein besonderes Gefallen an der Wiedergabe der Parforcejagd finden, so war auch der Kreis bürgerlicher Liebhaber groß. Die visuelle Teilhabe am höfischen Prunk spielte dabei keine geringe Rolle, ausschlaggebend aber war das künstlerische Neuland, das Ridinger eröffnete. Im Unterschied zu der bisherigen Reihung nur thematisch verbundener Einzeldarstellun-

25 Rösener, Werner, Die Geschichte der Jagd. Kultur, Gesellschaft und Jagdwesen im Wandel der Zeit, Düsseldorf/Zürich: Artemis und Winkler 2004, S. 287. 26 Ebd., S. 349-354. 27 Spickernagel, Ellen, Tötungslust und Rechtfertigung. Ein Jagdschloss des Fürstbischofs Clemens August (1700-1761), in: Dies., Der Fortgang der Tiere. Darstellungen in Menagerien und in der Kunst des 17.-19. Jahrhunderts, Köln u.a.: Böhlau 2010, S. 15-28. 28 Rösener, Die Geschichte der Jagd (Anm. 25), S. 348. 29 Fürstliche Sammlungen von Ridingers Grafik befinden sich u.a. in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe und im Staatlichen Museum Schwerin. 30 Zu den Jagdexzessen der hessischen Landgrafen Ernst Ludwig und Ludwig VIII. s. Stiftung Hessischer Jägerhof (Hg.), Museum Jagdschloß Kranichstein. Wiedereröffnung 1998, Darmstadt: Stiftung Hessischer Jägerhof 1998, S. 58-62. Im Herbst 1753 erlegte Ludwig VIII. 61 Hirsche.

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gen entwickelt er hier eine übergreifende, auf Spannung setzende Dramaturgie.31 Die Blätter 1-7 zeigen die Vorbereitungen zur Jagd, angefangen von der Vorsuche mit den Leithunden bis zur Zusammenkunft der Jagdgesellschaft und dem Beginn der Verfolgung. Der Hirsch ist abwesend, jedoch deutet alles auf ihn hin. Die Spannung löst sich spät, erst im achten Bild, in der Mitte der Sequenz, tritt der Protagonist auf. Seine Erscheinung leitet die dramatischen Szenen der Verfolgung bis zu seiner Tötung ein. Im Schlussbild stürzt sich die Meute auf sein Fleisch, die fürstliche Familie befindet sich bereits in vornehmer Distanz zu diesem letzten Akt der Gewalt.

Abb. 11: Die Ankunfft des Fürsten auf dem Rendevous, aus der Folge Die par force Jagd des Hirschen und deren ganzer Vorgang mit ausführlicher Beschreibung, 1756 Ridinger reduziert entschieden den tradierten Rang des Jagdherrn, in zwei Szenen sitzt er im Jagdwagen und zeigt sich am Ende nochmals in zeremonieller Pose (Abb. 11, 12, 13). Handlungsträger sind hier Jäger zu Fuß und zu Pferd, Hunde und Hirsch. Aufschlussreich ist der Vergleich mit französischer Hofkunst, vor allem mit Jean-Baptiste Oudry, der im gleichen Zeitraum als Jagdmaler Ludwigs XV. neun Gemälde mit den Jagden des Königs schuf (Abb. 14).32 Dieser befin-

31 Ältere grafische Folgen zeigen ein breites Spektrum von Jagden auf zahlreiche Tierarten, vgl. Wer hat das Thierreich (Anm. 1), S. 65-74 (mit Abbildungen). 32 Oudrys Chasses de Louis XV. dienten als Kartons für die 1736-1753 hergestellten wandfüllenden Gobelins, s. Animaux d’Oudry. Collection des Ducs de Mecklembourg-Schwerin, Musée National du Château de Fontainebleau, 5 novembre 2003-9

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det sich stets im Vordergrund in der Mitte der zeremoniell aufgereihten Gruppe vornehmer Jagdteilnehmer und wird durch sein Pferd, seine Kleidung und den Befehlsgestus seiner Hand hervorgehoben. Ridinger überträgt seine Rolle auf einen ranghohen Hofbeamten, der auf dem Versammlungsplatz hoch zu Ross mit hoheitsvoller Gebärde den Beginn der Jagd befiehlt (Abb. 12).

Abb. 12: Der Zug nach dem Bogen auf den Anjagts Hirschen

Abb. 13: Das Curée

février 2004, Musée National des Châteaux de Versailles et de Trianon, 5 novembre 2003–8 février 2004, Paris: Réunion des Musées Nationaux 2003, Nr. 1-8.

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Der Künstler unterläuft mit der Marginalisierung des Fürsten die höfische Repräsentationskultur, dagegen steigert er die immer schon gegebene Bedeutung der animalischen Jagdhelfer. Er stellt die Parforce-Hunde sowohl in der gewohnten Manier als auch unter neuem Blickwinkel dar. Wenn sie zum Einsatz kommen, werden ihre Gewaltausbrüche gegenüber dem Hirsch grell beleuchtet und ebenso ihre Disziplinierung durch das Jagdpersonal. Die gewaltige Kraft der Parforce-Pferde, ihre Wendigkeit und Tapferkeit in der Gefahr werden betont. Unkonventionell ist der Einstieg in die Serie (Bl. 2,3) – den zum Versammlungsplatz ziehenden Hunden und Pferden ist im Dienst der Schaulust je ein Blatt gewidmet. Berittene Jäger, mit Hörnern und Peitschen ausgestattet, führen die scharf dressierten, gekoppelten Parforce-Hunde, die wie die zahlreichen bereits gesattelten Pferde einen langen, geordneten Zug bilden. Die ostentative Inszenierung widersprach der veränderten Beziehung zu Hunden und Pferden in der urbanen Gesellschaft. Haushunde, denen man affektiv zugetan war, lösten im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend Nutzhunde ab.33 Auch das Pferd, das als Sinnbild der Bezähmung, der Dienstbarkeit, der Treue galt, rückte seinen Besitzern – jenseits des vielfältigen Gebrauchs – emotional näher.34 Ridinger, der viele grafische Einzelporträts nobler Pferde und Hunde für Kenner und Liebhaber verfertigte, zielte hier auf Adressaten, die gegen die zeitgenössische Tendenz das Bild einer von Männern kontrollierten animalischen Gewalt bevorzugten. Dass er eine maskuline Ausrichtung anstrebte, bezeugt auch das folgende Frühstück der Piqueure und Besuchknechte (Bl. 4). Sie haben sich unter Waldbäumen auf dem Boden niedergelassen, essen und trinken vor der anstrengenden Jagd. Diese Genreszene orientiert sich an dem im 18. Jahrhundert verbreiteten Typus der Fêtes galantes, der, dem Ideal der Natürlichkeit folgend, höfische Vergnügungen in einer heiteren, parkähnlichen Landschaft zeigt, wie sie auch im Hintergrund von Oudrys Jagdszene zu sehen ist (Abb. 14).35 Ridingers Konzept des Natürli-

33 Steinbrecher, Aline, „Eine Stadt voller Hunde. Ein anderer Blick auf das frühneuzeitliche Zürich“, in: Wischermann, Clemens (Hg.), Tiere in der Stadt, Berlin: Deutsches Institut für Urbanistik 2009, S. 26-40. 34 Schmölders, Claudia, „Das Pferd in dir. Über Physiognomik und Züchtungswahn“, in: Bilstein, Johannes/Winzen, Matthias (Hg.), Das Tier in mir. Die animalischen Ebenbilder des Menschen, Köln: König 2002, S. 74. In Bezug auf Ridingers Pferdedarstellung war der Augsburger Georg Philipp Rugendas einflussreich, vgl. Wer hat das Thierreich (Anm. 1), S. 74. 35 Vgl. Held, Jutta, Antoine Watteau, Einschiffung nach Kythera. Versöhnung von Leidenschaft und Vernunft, Frankfurt am Main: Fischer 1985.

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chen schließt das vornehme Personal ebenso wie Liebespaare zugunsten einer Männergruppe und derberem Verhalten aus.

Abb. 14: Jean-Baptiste Oudry, Der Tod des Hirschen im See, 1736, Fontainebleau, Musée national du château Er verändert auch den Schauplatz der Jagd grundlegend. Für Oudry war das Jagdsternsystem des königlichen Territoriums verbindlich, von dessen Zentrum aus Alleen durch den Wald geschlagen wurden, um die Verfolgung des Wilds zu erleichtern. Dieses System des Tiergartens ist bei Ridinger zu erkennen, aber er überspielt es zugleich und wechselt die schlanken, regelmäßig aufgereihten Bäume gegen eine freiere Gruppierung machtvoller Bäume aus. Die ‚Vorsuche‘ durch Piqueure und Leithunde erfolgt im Tiergarten, die ‚Ankunft des Fürsten auf dem Rendevous‘ spielt vor prächtigen Baumkulissen, und die Jagdgesellschaft nähert sich auf sternförmig verlaufenden Schneisen dem zentralen Versammlungsplatz (Abb. 11, 12).

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Abb. 15: Der Anjagts Hirsch wird mit dem Lancier Hunde gesprengt Bei der unmittelbar danach einsetzenden Verfolgung des Hirschs durch Leithunde schlägt die Szenerie um (Abb. 15). Das Terrain zerfällt in zwei gegensätzliche Räume, auf der einen Seite der für die Jagd aufbereitete Forst, auf der anderen ein wegloses, wucherndes Dickicht und das fliehende Tier. Die Grenze markiert ein Baum, aus dessen Wurzel ein gerader, schlanker Stamm und ein krummer mit abgestorbenen Ästen wachsen. Das Emblem, das die Überwindung der wilden Natur durch die Kultur auf eine visuelle Formel brachte, nutzt Ridinger, um den Mythos des nachtseitigen, schaurigen Waldes, den Menschen fürchten, zu aktivieren.36 Er treibt die Formähnlichkeit des springenden Hirsches und einer im Vordergrund liegenden Wurzel hervor und ebenso die Übereinstimmung von Geweih und knorrigen Ästen, so als seien das Reich der Tiere und der Pflanzen, der Hirsch und sein Raum noch nicht geschieden. In den folgenden Szenen bleibt er untrennbar mit dem ‚Ur-Wald‘ verbunden. Er versucht zu entkommen, verliert zunehmend die Fluchtdistanz und wehrt sich unter einem mächtigen, breit verzweigten Baum gegen die Hunde (Abb. 16). Auf Seiten der heransprengenden Reiter jedoch lichtet sich der Wald als Vorausschau auf die endgültig wiederhergestellte Ordnung im Curée (Abb. 13). Die Verschlingung und vollständige Vernichtung der Beute erfolgt an einem Ort, an dem ein ungeregelt gewachsener Baum als letzter Außenposten der Wildnis steht. Von da aus öffnet sich die Aus-

36 Angermann, Norbert u.a. (Hg.), Lexikon des Mittelalters, 10 Bde., München/Zürich: Lexma 1980-1999, Bd. 8 (1997), Sp. 1940–1946.

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sicht auf eine Ebene, einen stillen See und die Allee eines Parks, der auf ein nahes Schloss verweist.

Abb. 16: Der Hirsch stellt sich, und kaempfft die Hunde ab Im Gegensatz zum Tiergarten als Raum der Kultur, wie bei Oudry, repräsentieren urtümlicher Wald und Hirsch in dieser Bildfolge die wilde, menschenfeindliche Natur, die in der Jagd bekämpft und besiegt werden muss. Dieses Konzept hätte in der Epoche der Aufklärung nicht zu dem großen Erfolg der Serie geführt, wäre nicht eine gegenläufige Tendenz hinzugekommen, die darin bestand, die Dynamik der Jagd mit neuen Mitteln über das gewohnte Maß hinaus zu steigern. Auch die einzelnen Darstellungen der Fangarten der wilden Tiere aktivierten das Sehen, aber hier gab Ridinger die Reihung in sich geschlossener Kompositionen auf und verband die Blätter unter dem Aspekt, die Beweglichkeit des Auges zu forcieren. Die ersten Blätter lenken das Auge jeweils in nur eine Richtung. Es folgt den Leithunden nach links, wandert dann entlang der Kette von Hunden und Pferden in die Bildtiefe, bis die geradlinig verlaufenden Bewegungen in die Frühstücksrunde münden. Sorgt der Kreis für Ruhe und Sammlung, so gibt es danach kein Verweilen mehr. Ein ebenso ungewöhnliches wie effektives Mittel für die Visualisierung von Bewegung ist die Durchlässigkeit der Bildgrenzen. Der nach rechts gerichtete Jagdwagen der fürstlichen Familie gleitet in die nächste Szene, wo er im Hintergrund zu sehen ist, während vorne links Piqueure einen Hund auf die Spur des Hirschen setzen und damit die Verfolgung einleiten (Abb. 11, 12). Über die Zäsur des emblematisch aufgeladenen Baums in der Mitte hinweg reißt die zwischen Piqueur und Hund gespannte Leine auch den Betrachter mit sich in

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Richtung auf den Hirsch, er folgt seinem Sprung nach rechts, der potentiell die Bildgrenze durchbricht (Abb. 15). Im nächsten Bild flieht er nicht, wie erwartet, in der gleichen Richtung weiter, abgebracht von dem eingeschlagenen Fluchtweg wechselt er diese jäh (BL. 9). Die geradezu filmische Manier der Bildfolgen, Schnitte und Bewegungssequenzen beteiligt das Auge auch an der weiteren durch Jäger, Reiter und Hunde vorangetriebenen Hetzjagd, bis es sich auf die Kampfgruppe von Meute und Hirsch unter dem Baum einstellt und ihn, wie die Hunde, umzingelt (Abb. 16). Der Künstler und versierte Geschäftsmann Ridinger ging davon aus, dass die Jagd ungeachtet aller Kritik und schwindender Bedeutung weiterhin unterschiedliche Adressatenkreise fesseln könnte, wenn er die künstlerischen Mittel kontinuierlich modernisieren würde. Zuerst veränderte er die Funktion der jahrhundertealten Jägerliteratur und machte die Abbilder jagdbarer Tiere und ihrer Spuren frommer Betrachtung zugänglich. Im nächsten Schritt stimulierte er die Betrachter in der Weise, dass sie Spähen und Lauern mit vollzogen und Anteil an der Spannung der Jäger hatten, wer siegen würde: der Instinkt der Tiere oder die Macht der Apparaturen. Schließlich entwickelte Ridinger am Bewegungspotential des Wilds mediale Fortschritte: der fliehende Hirsch hetzt das Auge und steigert so die Jagdlust bis hin zur Vernichtung des Tieres.

Abbildungsnachweise: Abb. 8 Bildagentur bpk/ Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Hans-Peter Kent, Abb. 13, 11-15 Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Kupferstichkabinett. Die übrigen Abbildungen stammen aus dem Archiv der Verfasserin.

Tropische Regenwälder – Zentren der Artenvielfalt A NDREAS S CHLÜTER

Biodiversität umschreibt die biologische Vielfalt der Erde. Der Begriff umfasst ein viel größeres Spektrum an Parametern als die „ Artenzahl“. Zur Biodiversität gehören genetische Varianten ebenso wie Scharen von Arten, Scharen von Gattungen, Familien und höherer Taxa unter Berücksichtigung der Mannigfaltigkeit von Ökosystemen. Wilson beschreibt die Biodiversität als die „über alle biologischen Organisationseinheiten hinweg anzutreffende Vielfalt der Organismen“.1 Noch vor 1000 Jahren bedeckten tropische Regenwälder (Abb. 1) 13 Prozent der Landmassen der Erde. Durch anthropogene Einflüsse wie Holzeinschlag und Brandrodung, die mit 200.000 Quadratkilometern pro Jahr der Gesamtfläche von England, Wales und Schottland entsprechen, ist die von Regenwäldern bedeckte Landmasse inzwischen auf sechs Prozent geschrumpft. Dennoch sind sie auch heute noch die komplexesten und reichhaltigsten Land-Ökosysteme der Erde mit der größten Artendichte an Pflanzen, Pilzen und Tieren. Der „grüne Gürtel“ unserer Erde, großflächig unter Wolken versteckt, setzt sich aus unterschiedlichen Waldformationen zusammen. Und dennoch, ob in Südamerika, Zentralafrika oder Asien, unter ähnlichen Umweltbedingungen haben sich ähnliche Anpassungen entwickelt. Man spricht von einer konvergenten Evolution. Ein bekanntes Beispiel sind die nur auf dem amerikanischen Doppelkontinent lebenden Kolibris, deren „Gegenstück“, die Nektarvögel, in Afrika und Asien vorkommen. Temperaturen, die sich im Jahresmittel zwischen 24 und 28 Grad Celsius bewegen, eine Luftfeuchtigkeit von 70 - 80 Prozent und meist auch gleichmäßig

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Wilson, Edward O., Der Wert der Vielfalt, München/Zürich: Piper Verlag 1997.

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über das Jahr verteilte Niederschläge von mindestens 2000 Millimeter pro Jahr und Quadratmeter sind die Grundvoraussetzung für die Existenz eines tropischen Regenwaldes.

Abb. 1: In den tropischen Regenwäldern stehen Millionen von Pflanzen-, Pilzund Tierarten im „biozönotischen Konnex“. Die grüne Decke mindert die erodierende Kraft tropischer Regenfälle und reguliert den Wasserkreislauf (Foto: A. Schlüter).

G LOBALER D IVERSITÄTSGRADIENT Millionen Tier- und Pflanzenarten sind in den tropischen Regenwäldern in äußerst komplexen Lebensgemeinschaften (Biozönosen) miteinander verwoben. Wissenschaftler schätzen, dass die tropischen Regenwälder über die Hälfte aller auf der Erde lebenden Organismenarten beherbergen. Doch wie sicher ist diese Schätzung? Allgemein bekannt ist, dass in den Äquatorregionen der Erde die meisten Pflanzen- und Tierarten vorkommen. Von den 250.000 weltweit bekannten Gefäßpflanzenarten wachsen etwa 170.000 (fast 70 Prozent) in den Tropen und Subtropen, die meisten davon in den tropischen Regenwäldern. Die höchste Pflanzenvielfalt konzentriert sich auf nur zwei Prozent der kontinentalen Erd-

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oberfläche. Dieser sogenannte „biologische Hotspot“ umfasst die Länder Kolumbien, Ecuador und Peru. Untersucht man ein fest abgestecktes Gebiet im tropischen Regenwald, wird dessen Artenreichtum besonders deutlich. Auf den artenreichsten Regenwaldflächen gehört jeder zweite Baum einer anderen Art an. Am augenfälligsten ist die Artenvielfalt der Insekten. Auf einem Areal von der Größe eines Fußballfeldes konnten bis zu 40.000 Arten nachgewiesen werden. 1200 Schmetterlingsarten entdeckte der peruanische Zoologe Gerardo Lamas in dem 55 Quadratkilometer großen peruanischen Tambopata-Reservat. Die Insektengruppe aber, deren Artenvielfalt die aller anderen weit in den Schatten stellt, ist die der Käfer. Weltweit sind bisher etwa 300.000 Arten beschrieben worden. Während man in den USA und Kanada bisher gut 25.000 Käferarten kennt, sind es in Panama etwa 21.000 Arten – pro Hektar!

Abb. 2 Angesichts dieser Zahlen, ist es nur schwer zu begreifen, dass ausgerechnet tropische Regenwälder zumeist auf unfruchtbarem Sand gedeihen. Der Motor des Wachstums ist die Sonne. Ihr Licht liefert dem Wald die Energie, die es den Pflanzen ermöglicht, über die Photosynthese große Mengen Kohlenhydrate aufzubauen. Organische „Abfälle“ wie Blätter, Holz oder Tierkadaver werden von Pilzen, Ameisen, Termiten und anderen Organismen schnellstmöglich aufbereitet und in den Nährstoffkreislauf des Waldes zurückgeführt (Abb. 2 u. 3). Das gleichförmige Klima ermöglicht deren ganzjährige Aktivität und ununterbroche-

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nes Wachstum. Anders als bei uns in Deutschland verhindert dieses direkte Recycling die Entstehung eines Humusspeichers.

Abb. 2 (vorhergehende Seite) u. Abb. 3: Pilze haben wegen ihrer Abbautätigkeit eine Schlüsselstellung im tropischen Regenwald. Abb. 2: Die Exhuvie („Haut“) einer Spinne wird umgehend von Pilzen besiedelt. Ihre Inhaltsstoffe werden dem Wald in einem kurzgeschlossenen Kreislauf wieder zugeführt. Das geschieht so schnell, dass kein Humus entstehen kann. Abb. 3: Die Schleierdame (Dictyophora spec.) lockt mit ihrem Kadavergeruch Fliegen für den Transport ihrer Sporen an. (Fotos: A. Schlüter). Abb. 3 Doch auch das klimatische Geschehen unterliegt weitgehend einem geschlossenen Kreislauf. Das in den Bäumen hochgepumpte Wasser verdunstet über die Blattoberflächen und kondensiert über dem Wald zu Regenwolken. Der Regenwald begießt sich selbst und sein dichter Baumbestand mindert die Gefahr von Erosionen.

R ECYCLING –

DER

T RICK

MIT DEM

N ÄHRSTOFFKREISLAUF

Im Verlaufe von Millionen von Jahren sind die Böden der Regenwälder zu nährstoffarmen Endzuständen gealtert. Ihre Bodennährstoffe wurden weitgehend ausgewaschen und über die großen Fluss-Systeme ins Meer abtransportiert. Dieser Prozess ist in Zentralamazonien am weitesten fortgeschritten. Auf großen Gebieten ist der Boden fast völlig frei von Mineralien. Diese Nährstoffarmut

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zwingt die Pflanzen zum sparsamen Umgang mit den Mineralien. Deshalb ist es für den Wald hier lebensnotwendig, dass ihm organisches Material über Mikroorganismen auf dem schnellsten Wege zur Verfügung gestellt wird. Die Böden sind über die Jahrmillionen verarmt, Humus gibt es so gut wie gar nicht. Und dennoch wachsen auf den ausgelaugten Böden mächtige Urwaldriesen und mit ihnen das artenreichste Land-Ökosystem der Erde. Die Antwort ist verblüffend einfach. Tropische Regenwälder ernähren sich nicht aus dem Boden, sondern aus sich selbst heraus. Ihre mineralischen Nährstoffe zirkulieren in einem Kreislauf, ohne je in den Boden zu gelangen. Der größte Teil der Mineralien ist also nicht im Boden sondern in den lebenden Organismen gespeichert. Ein herabgefallenes Blatt, eine Frucht, ein Zweig oder ein totes Tier – alles wird innerhalb kürzester Zeit umgesetzt und wieder in den Kreislauf zurückgeführt. Bakterien, Pilze, Termiten und Ameisen, sie sind die Hauptverantwortlichen für die Ernährung des Waldes. Die meisten Regenwaldbäume wurzeln flach. Ihre Wurzeln suchen direkt unter der Bodenoberfläche nach Nahrung. Die gewaltigen Stelz- und Brettwurzeln vergrößern die Standflächen der Bäume. Begrenzt auf die oberen 30 – 40 cm des Waldbodens arbeitet sich das Geflecht der Baumwurzeln in jeden erreichbaren Winkel vor. Eine Schlüsselrolle bei der Erschließung von Nährstoffen spielen die Mykorrhiza-Pilze. Ohne sie könnten die meisten Regenwaldbäume nicht existieren. Ihre mikroskopisch kleinen Fäden durchdringen deren Wurzeln und gehen mit ihnen eine Symbiose (Mykorrhiza) ein. Die Wirkung der Mykorrhiza-Pilze ist eine doppelte: Einerseits vergrößern sie mit ihrem Geflecht, das die Baumwurzeln umschließt, deren Oberfläche um ein Vielfaches, andererseits führen sie den Bäumen Nährstoffe direkt zu, die durch den Abbau organischer Substanzen entstehen. Erstaunlicherweise verläuft dieser „kurzgeschlossene“ Nährstoffkreislauf fast ohne Verlust. Die Mykorrhiza-Pilze stellen den Bäumen Nährstoffe schnell zur Verfügung, bevor der nächste Tropenregen alles davon schwemmt. Sie wiederum erhalten als Symbiosepartner der Bäume Kohlenhydrate für ihre eigene Ernährung. Bei aller Effektivität der Pilze ist ein winzig kleiner Schwund an Mineralien durch Auswaschung unvermeidlich. Diesen geringen Verlust gleicht der Regenwald aus durch Mineralien, die im Regenwasser enthalten sind. Doch auch der Regenwald ist trotz seines perfekt funktionierenden geschlossenen Nahrungskreislaufs nicht völlig von globalen Stofftransporten unabhängig. Etwa 500 Millionen Tonnen Saharastaub tragen Nordost-Passate jährlich in westlicher Richtung über den Atlantik auf die amerikanischen Regenwälder zu. Etwa 13 Kilogramm Kalium, 3 Kilogramm Phosphat und bis zu 16 Kilogramm Calcium gehen pro Hektar Regenwald jährlich aus dem feinen Staub nieder. Selbst das Magnesium, der Grundbaustein des Blattgrüns, kommt aus der Saha-

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ra. Diese Mineralien gelangen dabei zum größten Teil gar nicht erst in den Boden. Sie werden unterwegs bereits von Epiphyten (Aufsitzerpflanzen wie Bromelien und Orchideen) und Epiphyllen (Flechten und Moose, die auf Blättern wachsen) aufgefangen (Abb. 4). Dieser „Filter Regenwald“ ist so effektiv, dass die in den Bächen und Flüssen abfließenden Wassermassen fast frei von gelösten Mineralien sind und beinahe die Werte von destilliertem Wasser erreichen.

Abb. 4: Der Amazonas-Regenwald ist von der Kronenregion bis hinunter zu den Wurzeln ein riesiger Nährstoff-Filter. Die im Saharastaub enthaltenen Mineralien werden von Epiphyten wie Bromelien und Epiphyllen wie Flechten und Moosen aufgefangen und gelangen somit gar nicht erst in den Boden. Die in den Bächen abfließenden Wassermassen erreichen beinahe die Werte von destilliertem Wasser. (Foto: A. Schlüter).

D ER W ALD

ALS

„R EGENMACHER “

Von besonderer Bedeutung für die hohen Niederschläge, die pro Jahr und Quadratmeter durchaus 10.000 Millimeter erreichen können, sind die Pflanzen selbst. Ihr dichter Wuchs, aber auch der in seinen oberen Schichten nie austrocknende Boden, Falllaub, Bäche, Flüsse und Tümpel, alles zusammen bildet einen riesigen nassen Schwamm. Unter dem Einfluss der intensiven Sonneneinstrahlung

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steigen die feuchten Luftmassen nach oben, wo sie, in kältere Luftschichten angehoben, zu Regentropfen kondensieren und auf das Blätterdach zurückprasseln. Drei Viertel der gesamten Wassermassen zirkulieren in diesem „kleinen Kreislauf“. Den Rest erhält der Wald aus dem „großen Kreislauf“ mit seinen Passat-Wolken, die sich über dem Atlantik füllen und die mineralhaltigen Stäube aus der Sahara mitführen.

G ONDWANALAND – W IEGE

DER

T ROPEN

Sucht man nach den Ursachen für die heutige Verbreitung von Regenwaldpflanzen und -tieren kristallisieren sich zwei Hauptkräfte heraus: die Kontinentalverschiebung und Klimaänderungen. Vor ungefähr 180 Millionen Jahren (im mittleren Jura) führten plattentektonische Prozesse (Kontinentalverschiebungen), die durch Ausdehnungen der Meeresböden verursacht wurden, zum Zerbrechen des Superkontinents Pangaea in eine nördliche (Laurasia) und eine südliche (Gondwana) Hälfte. Beide drifteten auseinander und zerbrachen in weitere Stücke. Das Auseinanderbrechen Gondwanas war für die weitere Entwicklung der Tropen von ausschlaggebender Bedeutung, weil alle drei tropischen Regionen der Erde hier ihren gemeinsamen Ursprung haben. So kann man trotz der enormen Artenvielfalt zwischen den Organismen der verschiedenen tropischen Regenwälder Ähnlichkeiten erkennen. Als Gondwana auseinander brach, waren die wesentlichen Schritte zur Entwicklung der Blütenpflanzen bereits erfolgt. Und so gibt es heute unter den Blütenpflanzen 59 Familien mit 334 Gattungen pantropischer Verbreitung.

P LEISTOZÄNE R EFUGIEN – R ÜCKZUGSGEBIETE

EISZEITLICHE

Kaum ein Thema wird unter Tropenbiologen so kontrovers diskutiert, wie die möglichen Ursachen der tropischen Artenvielfalt. Weitgehend gesichert ist die Erkenntnis, dass die Ausdehnung der tropischen Regenwälder in ihrer 60 Millionen Jahre alten Geschichte abwechselnd wuchs und schrumpfte. Während der letzten großen Eiszeit vor 20.000 bis 15.000 Jahren und der ihr folgenden Zwischeneiszeit vor 13.000 bis 12.000 Jahren wurden sie zurück gedrängt und sogar zerstückelt. Anders aber als in den gemäßigten Breiten fiel in diesen Regionen die Temperatur nur um ein bis zwei Grad Celsius. Dieser Umstand kann primär nicht die Ursache für den Rückgang der Tropenwälder gewesen sein. Die Ursa-

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che muss eine andere gewesen sein. Die wenn auch nur geringe Temperatursenkung muss die globale Wasserzirkulation verringert und somit zur Austrocknung weiter Teile der tropischen Regenwälder geführt haben. Ein Resultat waren kleine, teilweise voneinander getrennte, aber ausreichend feuchte Rückzugsgebiete, in denen zahlreiche Arten überdauern konnten. In diesen isolierten (pleistozänen) Refugien entstanden neue Formen, die sich nach dem Rückzug der Eiszeiten genetisch so stark voneinander unterschieden, dass ihre Vermischung nicht mehr möglich war. Neue Arten waren entstanden. In bestimmten Regionen Amazoniens kann man eine besonders artenreiche Vogelfauna mit vielen endemischen (nur dort vorkommenden) Arten beobachten. Vergleicht man diese Zentren mit den inselartigen Verbreitungsmustern von Blütenpflanzen, Schmetterlingen und anderen Organismen, erkennt man erstaunliche Übereinstimmungen. Die Ergebnisse zahlreicher vegetationskundlicher und geowissenschaftlicher Untersuchungen lassen in der Tat den Schluss zu, dass diese Zentren den Stellen entsprechen, die über die Jahrmillionen immer mit Regenwald bedeckt waren. Der Grund für die hohe Artenvielfalt in den tropischen Regenwäldern ist also mit dem bloßen Hinweis auf die heutigen klimatischen Verhältnisse nicht erschöpfend zu erklären. Flora und Fauna, so wie wir sie heute erleben, haben ihre wechselvolle Geschichte, die in alle Überlegungen einbezogen werden muss.

Q UELLEN

UND

S ENKEN

Sucht man im Regenwald den Boden nach Arten einer bestimmten Tiergruppe ab, stößt man unweigerlich auf ein interessantes Phänomen. Das ist bei Fröschen ebenso deutlich wie bei Schmetterlingen. Man stellt fest, dass sich deren Zusammensetzung alle hundert oder tausend Meter verändert. Eine Art, auf die man an einer bestimmten Stelle häufig stößt, „verdünnt“ sich mit zunehmender Entfernung von ihrem Populationszentrum, bis man schließlich überhaupt kein Exemplar mehr findet. Geht man weiter, begibt man sich Schritt für Schritt in das Zentrum einer anderen Art derselben Gruppe. Solche Zentren, in denen Arten ihr Optimum an Lebensbedingungen vorfinden, bezeichnet man als Quellen. Sie wechseln ab mit den Senken, in denen die Lebensbedingungen nicht ausreichen, um von sich aus eine Population aufrecht zu erhalten. Nach diesem Quellen-Senken-Modell stützen die erfolgreichen die schwindenden Populationen durch ständigen Nachschub. Hiermit erkennen wir einen weiteren Grund für die hohe Artenvielfalt der tropischen Regenwälder. Es ist die Tatsache, dass die meisten Tier- und Pflan-

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zenarten des tropischen Regenwaldes in kleinen Gebieten, und hier oft sogar nur in einer bestimmten Etage, leben, die sie so gut wie nie verlassen. Im Extremfall kann eine Art ein Gebiet von wenigen hundert Quadratmetern bewohnen. Sie kommt nur hier und nirgendwo sonst auf der Erde vor. An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass schon eine relativ kleine Zerstörung im Regenwald zum Verschwinden einer Art führen kann.

E IN L EBEN

IN

S TOCKWERKEN

UND

N ISCHEN

Das Beispiel der Quellen und Senken lässt sich auch in der Vertikalen verfolgen. Die Lebewesen im Regenwald verteilen sich über die relativ gut definierbaren Zonen Boden, Strauchschicht, Stammbereich und Baumkronen. Im lichtdurchfluteten Kronendach des Waldes leben die meisten Arten. Hier wo Bromelien, Orchideen, Farne, Moose und Lianen gedeihen, entdecken Biologen täglich neue Arten. In der bereits erwähnten peruanischen Tambopata-Region besprühte der Insektenforscher Terry Erwin einen Baum mit einem Insektizid, um anschließend die herabfallenden Insekten einsammeln zu können. Er fand 43 Ameisenarten aus 26 Gattungen. An einem einzigen Baum leben hier halb so viele Ameisenarten wie in ganz Deutschland. In ihrem permanenten Kampf ums Überleben haben die Tiere der Regenwälder eine unüberschaubare Vielfalt von Tarn- und Warntrachten entwickelt (Abb. 5 u. 6). Insekten und deren Larven, Froschlurche, Reptilien und teilweise sogar Vögel ahmen belebte und unbelebte Gegenstände nach, und verbergen sich auf diese Weise vor Feinden oder schrecken diese ab. Heuschrecken, Schmetterlinge und sogar Frösche ähneln Falllaub oder lebenden Blättern, während manche Orchideen transparent sind. Raupen sehen aus wie Vogelkot oder wie kleine Schlangen und zahlreiche Frösche warnen ihre Feinde mit grellbunten Farben vor ihren giftigen Hautsekreten.

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Abb. 5

Abb. 5 u. 6: Zahlreiche Arten haben Tarntrachten entwickelt. Abb. 5: Die Flügel der Heuschrecke ähneln einem Blatt. Es wirkt wie von Insekten angefressen und mit Flechten bewachsen. Das Flechtenimitat ist so perfekt, dass es von Lichenologen (Flechtenforschern) bis zur Gattung bestimmt werden kann! Abb. 6: Der Knickzehenlaubfrosch (Scinac) hockt perfekt getarnt an der Rinde eines Baumes. (Fotos: A. Schlüter) Abb. 6

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Jede Tier- und Pflanzenart existiert in einer auf sie zugeschnittenen „Planstelle“, einer ökologischen Nische. Als Folge der enormen Artenfülle der tropischen Regenwälder sind die meisten Arten nur mit wenigen Individuen vertreten. In vegetationsreichen Regionen begünstigen die dreidimensionalen Wälder die Koexistenz zahlreicher Arten, so dass sie sehr verschiedene Nischen besetzen. Da der Wald Bäume mit unterschiedlicher Schattentoleranz beherbergt, ist deren Artenfülle unübersichtlich. Der gesamte Wald verfügt über eine große Spanne vertikaler und horizontaler Abstufungen mikroklimatischer Bedingungen.

K OEXISTENZ

DER

A RTEN

Eine der wichtigsten Fragestellungen ist zweifellos die nach den Parametern, die es den vielen Arten ermöglichen, nebeneinander zu existieren. Schließlich sind auch in einem Ökosystem wie dem tropischen Regenwald alle Ressourcen begrenzt vorhanden. Das Geheimnis liegt in der ökologischen Einnischung der Arten, ihrer Spezialisierung in Raum, Zeit, Nahrung und Fortpflanzung. Ähnlich den Korallenriffen der Meere bietet der tropische Regenwald mit seinen Stockwerken seinen Bewohnern eine dritte Dimension mit einer Fülle von Versteckmöglichkeiten, Nahrungsquellen und Brutplätzen. Erst seit wenigen Jahrzehnten beschäftigt sich die Wissenschaft nicht nur mit dem Aufzählen der in den Regenwäldern lebenden Arten, sondern auch mit dem Versuch, deren äußerst komplexes Beziehungsgefüge, den biozönotischen Konnex, zu entschlüsseln. Dabei wird deutlich, dass tropische Regenwälder „mehr sind als nur Restaurant und Wohnung“.2 Die Abhängigkeit der meisten Regenwaldpflanzen von tierischen Bestäubern ist ein Musterbeispiel derartiger Verflechtungen. In allen tropischen Regenwäldern haben sich ähnliche Methoden (Syndrome) der Anlockung spezialisierter Bestäuber entwickelt. Vögel, Fledermäuse, Nachtfalter, Käfer, Bienen – jede dieser Tiergruppen benötigt eine eigene, ihren Fähigkeiten angepasste Blütenkonstruktion. So sind Vogelblüten stabil gebaut und auffällig gefärbt. Sie ragen aus dem allgemeinen Blättermeer heraus oder blühen erst dann, wenn ein Baum seine Blätter abwirft. Zumeist weißlich gefärbt und klebrig sind die Fledermausblüten. Sie öffnen sich erst nachts und haben meist einen auffällig säuerlichen oder modrigen Geruch. Die Pollenübertragung auf die Fledermaus geschieht

2

Whitmore, Tim C., Tropische Regenwälder. Berlin/Heidelberg/New York: Spektrum Akademischer Verlag 1990.

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durch zwei unterschiedliche Methoden. Entweder die Blüte ist tief becherförmig, so dass der Pollen am Kopf der Fledermaus hängen bleibt, oder die Pflanze bietet ihren Pollen auf rasierpinselartig angeordneten Staubblättern an. In diesem Fall bleibt der Pollen an der Brust der Fledermaus hängen. Auch Fledermausblüten ragen aus der allgemeinen Beblätterung hervor. Eine erstaunliche Entdeckung machte das deutsche Forscherehepaar Dagmar und Otto von Helversen bei Untersuchungen an der Liane Mucuna holtonii in Mittelamerika. Eines ihrer fünf Blütenblätter, das als zwei Zentimeter lange „Fahne“ senkrecht nach oben steht, ist mit einer kleinen, dreieckigen Vertiefung versehen, die Fledermäusen als „akustisches Katzenauge“ dient. In ihm wird der Schall des Fledermaussonars so gebündelt, dass er mit hoher Intensität auf das Tier zurück gestrahlt wird und ihm somit die Richtung weist. Nachtfalterblüten, sie öffnen sich ebenfalls erst nachts, riechen meist süßlich, sind zart gebaut und besitzen eine sehr lange Kronröhre, in die der lange Rüssel des Schmetterlings bis zur Nektarquelle vorgestreckt wird. Käfer landen und kriechen vergleichsweise schwerfällig auf ihren Blüten. Deshalb sind „ihre“ Blüten relativ robust und schalenförmig offen. Sie duften häufig angenehm und sitzen meist mitten im Blätterwerk. Bienenblüten schließlich öffnen und schließen sich der Tagesperiodik folgend und sind meist mit leuchtenden Farben versehen. Sie besitzen oft Saftmale, die nur im für Bienen sichtbaren Ultraviolettlicht erkennbar sind. Zahlreiche Bienenblüten, wie die der Orchideen, sind mit einer Landeplattform ausgerüstet. Ein weiteres Kapitel, das die Abhängigkeit zwischen Pflanzen und Tieren verdeutlicht, ist die Samenverbreitung. Typische Früchtefresser unter den Vögeln bevorzugen große, nährstoffreiche Früchte mit großen Samen. Vögel, bei denen Früchte nur Bestandteil einer abwechslungsreichen Nahrung sind, verzehren vor allem kleine, wasserreiche Früchte mit sehr kleinen Samen. Erst seit wenigen Jahren rücken auch Fische als Verbreiter von Pflanzensamen ins Interesse der Biologen. Bei Hochwasser nehmen sie in den Überschwemmungsgebieten Früchte und Samen auf. Bei Niedrigwasser ziehen sie sich in die verbliebenen Lagunen zurück und ernähren sich hauptsächlich von ihren Fettreserven.

N ATÜRLICHE K ATASTROPHEN – G ARANTEN DER V IELFALT Ein sterbender Baum kündigt sein bevorstehendes Ende schon tagelang vorher lautstark an. Ein kurzer schussähnlicher Knall verkündet seinen verlorenen Wi-

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derstand gegen die Schwerkraft. Danach folgen in immer kürzer werdenden Abständen Salven von zwei, drei oder mehr „Schüssen“. Nach jedem Knall verstummen alle Tiere für ein paar Sekunden. Schließlich hört man die letzte Salve von vielleicht 20, 30 oder mehr „Schüssen“. Der Baum bricht in sich zusammen, reiß einige Nachbarbäume mit um und fällt dumpf auf den Boden. Einen Augenblick lang ist der Wald absolut still, dann protestieren die Aras. Das Bild, das sich bietet: ein Schneise mit mehreren umgefallenen oder zerbrochenen Bäumen und jede Menge am Boden liegende Aufsitzerpflanzen, deren Gewicht dem alten Baum vermutlich den Rest gegeben hat. Ein Jahr später schon hat man Schwierigkeiten, die Absturzstelle des Baumes wieder zu finden. Das Holz ist am Vermodern, Pilze und Insekten verrichten ihre Arbeit und Sekundärvegetation verdeckt viele Spuren. Die Rinde löst sich bei der leichtesten Berührung und gibt eine Unmenge von Tieren frei. Insektenlarven, Käfer, Springschwänze, Tausendfüßer und Spinnen eilen aufgeschreckt umher. Termiten haben stellenweise schon ganze Arbeit geleistet und in ihrem „Sägemehl“ verstecken sich Skorpione. Unter „normalen Umständen“ ist es kaum möglich, mitten im lichtarmen Primärwald eine derart hohe Konzentration verschiedenster Organismen auf engem Raum anzutreffen. Sollte man nicht vermuten, dass der Einschlag einer maroden Baumkrone in den Wald eine Katastrophe für den Lebensraum bedeutet? Katastrophe gleich Artenschwund, diese Formel scheint hier, an dieser Stelle, irgendwie nicht zu stimmen. Ganz im Gegenteil ist gerade dieser Ort der Zerstörung ein Magnet für Pflanzen und Tiere, die im schattigen intakten Primärwald nicht oder nur in geringer Dichte vorkommen. Auch ohne das Übergewicht der Epiphyten, ohne Blitzeinschlag oder Windbruch, erreicht ein Baum nur ein bestimmtes Alter. Er stirbt, bricht zusammen und reißt ein Loch in den Wald. Es entsteht eine Lichtung, in der das Sonnenlicht den Boden erreicht. Die sonst nur dahinkümmernden Sprösslinge wachsen jetzt zu Jungbäumen heran, bis aus ihnen stattliche Riesen geworden sind. Der Waldbestand ist nicht statisch; er befindet sich in einem ständigen Fließgleichgewicht: Zusammenbruch eines alten Baumes, Keimung von Sämlingen, Heranwachsen und Sterben der Bäume. Als Resultat dieser Dynamik ist der Wald ein Mosaik vieler Flecken, die sich in unterschiedlichen Entwicklungsphasen befinden. Für den Charakter eines dieser Bausteine ist die Größe einer Bestandslücke von entscheidender Bedeutung. Ist die von einem Baum in den Wald geschlagene Lichtung klein, dann schießen die Keimlinge der sogenannten Klimaxarten in die Höhe. Sie stammen von den Bäumen der unmittelbaren Umgebung ab und

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sitzen oft schon seit Jahren in ihren dunklen Startlöchern. Wachsen sie heran, verändert sich die Artzusammensetzung an dieser Stelle nicht. Hat allerdings eine Lichtung große Ausmaße, wird sie von schnellwüchsigen, lichtliebenden Pionierarten besiedelt. Der Ameisenbaum (Cecropia) ist in den Neotropen einer der ersten Bäume, die sich ansiedeln, wenn der Wald irgendwo beschädigt wird. Unter seinen großen Schatten spendenden Blättern gedeihen Pilze, die, wenn sie vermodern, eine Unmenge kleinster Fliegen anlocken. Pfeiffrösche (Adenomera), die keine direkte Sonneneinstrahlung vertragen, können hier im Schatten auf Fliegenfang gehen. Kammspinnen machen Jagd auf die kleinen Frösche, während andere Spinnen ihre Netze zwischen den Pilzen spannen. Im Schatten der Pionierarten ist jetzt eine kleine, besonders artenreiche Lebensgemeinschaft entstanden. Allerdings ist der Bestand der Pionierarten an diesen Standorten nicht von Dauer. In ihrem Schatten gedeihen nämlich nicht nur die gerade genannten Arten, sondern auch schon die Keimlinge der Klimaxarten. Diese setzen sich durch, wenn die Pionierarten absterben und setzen den nächsten Wachstumszyklus des Bestandes in Gang. Derartige Verschiebungen der Artzusammensetzung bezeichnet man als Sukzession. Zwar führt der ständige Wechsel zwischen Klimax- und Pionierarten an der betreffenden Lokalität zu einem Hin und Her an Bedingungen, den Wald als Ganzes verändert er aber nicht. Man spricht von einem MosaikzyklusGleichgewicht. Solche Zentren, die praktisch Nachschub liefern, findet man überall im tropischen Regenwald. Sie verdeutlichen, dass natürliche „Katastrophen“, auf lange Sicht betrachtet, ein wichtiger Garant der Artenvielfalt sind.

G ENETISCHE E ROSION Die biologische Vielfalt der tropischen Regenwälder ist hier mehrfach angesprochen worden. Es galt auch zu veranschaulichen, dass „die oft bewunderte hohe Produktivität der tropischen Regenwälder ein Ausdruck der ständigen Erneuerung ist, die mit Hilfe der Sonnenenergie, des Regenwassers und der ununterbrochenen Rezyklisierung von Nährstoffen möglich ist“.3 Wird nur eine dieser drei Komponenten unterbrochen oder dem Regenwald entzogen, bricht das gesamte Ökosystem zusammen.

3

Régös, Janos, Die grüne Hölle – Ein bedrohtes Paradies. Bericht aus dem Regenwald, Hamburg/Berlin: Parey 1987.

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Der ausgeprägte Endemismus, also das Vorkommen zahlreicher Tier- und Pflanzenarten in eng begrenzten Gebieten, ist eine wichtige Komponente des Artenreichtums tropischer Regenwälder. Fallen gerade deren Standorte menschlichen Eingriffen wie der Brandrodung zum Opfer, dann kann es vorkommen, dass die nur hier vorkommenden Arten für immer von der Erde verschwinden. Man bezeichnet diesen Verlust als „genetische Erosion“, da nach und nach genetische Variationsformen verloren gehen. Die große Zahl menschlicher Gesellschaften („Naturvölker“), die seit Jahrhunderten in den Regenwäldern leben, ohne sie zu vernichten, beweist, dass die Gegenwart des Menschen nicht gleichbedeutend sein muss mit Zerstörung und Artenschwund. Auch heute noch kann man die Ressourcen des Regenwaldes nutzen, ohne seine Artenvielfalt zu verringern. Der wohl beste Beweis dafür ist die Fischerei in den Varzea-Überschwemmungswäldern, die immer wieder durch Schwemm-Material aus den Anden nachgedüngt und auf einem hohen Produktionsniveau gehalten werden. Das fischereiliche Potential der Überschwemmungswälder wird heute auf etwa eine Million Tonnen pro Jahr geschätzt, von denen zur Zeit nur etwa 200.000 Tonnen genutzt werden. Ganz anders sieht es mit der Terra firme aus, dem Teil des Waldes, der nie überflutet wird und deshalb auch keinen Mineralnachschub durch Überschwemmungen bekommt. Dieser Teil des Waldes ist es, der sich in dem weiter oben beschriebenen fast geschlossenen Kreislauf aus sich selbst ernährt und dessen riesige Artenvielfalt auf einem hauchdünnen, von Kleinorganismen gebildeten Fundament steht. Wie wir gesehen haben, befinden sich hier die lebenswichtigen Mineralien in den lebenden Organismen. Entfernt man aus diesem System die Bäume, dann entfernt man automatisch auch die in ihnen gespeicherten Mineralien. Die Rezyklisierung von Nährstoffen ist unterbrochen. Humus, wie in unseren Wäldern, gibt es nicht und die starken Regengüsse legen innerhalb kürzester Zeit unfruchtbaren Sand frei. Worauf sollte ein neuer Wald entstehen?4

4

Ein Teil der o. g. Ausführungen findet sich wieder in dem Museumsheft Schlüter, A. (2001): Regenwald. Tropische Vielfalt in Südamerika. Stuttgarter Beiträge zur Naturkunde. Serie C, Heft 48.

Zoos und Politik in Westafrika J ULIEN B ONDAZ

Wenn man sich mit den Zoos in Westafrika befasst, braucht es dazu einen theoretischen wie kritischen Ansatz, der drei wesentliche Punkte umfasst. Erstens: Da die Frage der Inszenierung für die Frage des Zoos zentral ist, ist es notwendig, einen kritischen Standpunkt gegenüber den Repräsentationen Afrikas einzunehmen, das oft selbst als ein großer Zoo gesehen wird. Man muss sich vom Bild der Safari distanzieren, das für Ost- und Südafrika besonders prominent ist. Zweitens ist es unvermeidlich die Frage nach der Postkolonialität oder der „postkolonialen Situation“1 zu stellen. Seit dem Ende der 1990er Jahre stellen die Studien, die sich den Zoos widmen, die Idee in den Vordergrund, dass diese die „Inkarnation der kolonialen Idee“ seien.2 Manche Autoren situieren sich deswegen ausdrücklich innerhalb der Postcolonial Studies. Der zoologische Park wird als populärkulturelles Äquivalent der kolonialen Texte in der Literatur präsentiert.3 Im westafrikanischen Kontext erscheint die Frage des Zusammenhangs zwischen zoologischen Parks und Postkolonialismus umso wichtiger. Die westafrikanischen Zoos sind tatsächlich ein koloniales Erbe. Schließlich ist drittens die Frage der tierischen Präsenz, der Interaktion zwischen den ausgestellten Tieren und den Menschen zentral für eine Untersuchung dieser Parks. Doch die Spezifik des Zooraums muss dazu hervorgehoben werden. Laut Michel Foucault

1

Smouts, Marie-Claude (Hg.), La situation postcoloniale, Paris: Presses de la fondation nationale des sciences politiques 2007.

2

Rothfels, Nigel, Savages and Beasts. The Birth of the Modern Zoo, Baltimore/London: John Hopkins University Press 2002, S. 21.

3

Malamud, Randy, Reading Zoos. Representations of Animals and Captivity, New York: New York University Press 1998, S. 58.

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ist der Zoo, wie die Psychiatrie oder das Gefängnis, ein Heterotopos, also ein anderer Ort, eine andere Topik, ein anderer Topos.4 Im Zoo erscheint der Topos Tier durch eine Alterität markiert, die ihn zu einem Ort des Ausdrucks der Macht werden lässt, wo die Disziplinierung der tierischen Körper diejenige der menschlichen Körper abzubilden scheint. Die zoologischen Parks Westafrikas müssen folglich als Inszenierungen der wilden Fauna, als postkoloniales Erbe und als „politischer Ort“ untersucht werden.5 Eine Ethnographie des westafrikanischen Zoos braucht folglich eine Anthropologie der Natur, des kulturellen Erbes und der Politik. Mein besonderes Augenmerk richtet sich auf die Beziehung zwischen Politik und zoologischem Park, so werde ich zeigen, wie die historischen, sozialen und kulturellen Kontexte westafrikanischer Gesellschaften die lokalen Bevölkerungen dazu geführt haben, nicht nur bestimmte koloniale Formen der Ausstellung wilder Tiere fortzuführen, sondern auch neue Formen der politischen Nutzung für sich zu erfinden. Die Beziehungen zwischen Zoos und Kolonialismus sind so ein notwendiger Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Ich werde danach darstellen, wie die Zoos nach den Unabhängigkeiten 1960 zum Ort der Inszenierung der Nation werden. Die Zirkulation der Tiere zwischen verschiedenen Ländern und die Namensgebung mancher Tiere skizzieren eine wirkliche Geopolitik. Schließlich werde ich aufzeigen, welcher Zusammenhang besteht zwischen der rituellen Macht, die man gelegentlich Zootieren im westafrikanischen Kontext zuspricht, und der politischen Funktion, mit der sie ausgestattet werden. Ich werde mich den Fällen Mali, Niger, Burkina Faso und in geringerem Maße Senegal zuwenden und dazu auf die unterschiedlichen historischen und ethnographischen Umstände eingehen.6

4

Foucault, Michel, „Des espaces autres“, Architecture, Mouvement, Continuité, 5 (1984), 46-49. Zur Beziehung zwischen Gefängnis und Zoo vgl. Foucault, Michel, Surveiller et Punir, 1975, Paris: Gallimard 1999, S. 174.

5

Baratay, Eric, „Le zoo: lieu politique, XVIe-XIXe siècles“, in: Bacot, Paul/Baratay, Eric/Barbet, Denis/Faure, Olivier/Mayaud, Jean-Luc (Hg.), L’animal politique, Paris: L’Harmattan 2003, S. 15-36.

6

Meine Forschungen zum Zoo, die jedes Mal mehrere Monate direkter Beobachtung beinhalteten, fanden in Mali zwischen 2006 und 2010, im Niger 2007 und in Burkina Faso 2008 statt. 2011 habe ich im Zusammenhang einer Forschungsreise mehrmals den Zoo von Hann in Dakar besucht.

Z OOS

1. Z OOLOGISCHE G ÄRTEN

UND

P OLITIK

IN

W ESTAFRIKA |

143

UND KOLONIALISMUS

1.1 Koloniale Zoos: die Ausstellung des Wilden in der Hauptstadt Von Anfang an wird die koloniale Erforschung und Eroberung Afrikas von zahlreichen Ausstellungen begleitet. Der museale und der „zoologische Blick“ im Sinne von John Bergers Verständnis des Blicks auf Zootiere prägen den Blick der Forscher, des Militärs, der Missionare und selbst der Ethnologen auf Afrika.7 Zwar sind die kolonialen Museen weitgehend erforscht,8 doch die kolonialen Zoos sind noch überwiegend unerforschtes Gebiet. Die kolonialen Zoos und Museen teilen sich jedoch eine gemeinsame Geschichte und haben an der gleichen Logik teil. Wie in den Museen schaffen die Sammlung und Ausstellung von Objekten und Tieren eine Beziehung zwischen Zoos und Kolonien; häufig sind es dieselben Personen, die Gegenstände und Tiere sammeln, die gleichen „offiziellen Reisenden“ oder „kolonialen Korrespondenten“.9 Die großen ethnographischen Erkundungsreisen, die am Ende der Kolonialzeit in Afrika durchgeführt wurden, waren selbst Gelegenheiten, um in die Metropolen nicht nur präparierte Tierkörper, sondern auch lebende Tiere zurückzubringen. Dies ist z.B. in Frankreich der Fall für die berühmte Erkundungsreise Dakar-Djibouti.10 Die für die Zoos gefangenen Tiere galten so als „lebende Trophäen“,11 als Symbole der kolonialen Eroberung oder als Ziele wissenschaftlichen Reisens.

7

Berger, John, „Why look at animals?“ (1977), in: Ders., About Looking, New York: Vintage International 1991, S. 3-28.

8

Dias, Nélia, „Musées et colonialisme: entre passé et présent“, in: D. Taffin (Hg.), Du musée colonial au musée des cultures du monde (actes du colloque organisé par le Musée National des Arts d’Afrique et d’Océanie et le centre Georges-Pompidou, 3-6 juin 1998), Paris: Musée National des Arts d’Afrique et d’Océanie-Maisonneuve et Larose 2000, S. 15-33.; de L’Estoile, Benoît, Le Goût des Autres. De l’Exposition coloniale aux Arts premiers, Paris: Flammarion 2007.

9

Loisel, Gustave, Histoire des ménageries de l’antiquité à nos jours, 3 vol., Paris: Octave Doin et Fils et Henri Laurens 1912, S. 3:136, 333.

10 Vgl. Bondaz, Julien, „L’ethnographie comme chasse. Michel Leiris et les animaux de la mission Dakar-Djibouti“, Gradhiva, 13 (2011), 162-181. 11 Baratay, Eric/ Hardoin-Fugier, Elisabeth, Zoos. Histoire des jardins zoologiques en Occident (XVIe-XXe siècles), Paris: La Découverte 1998, S. 27.

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In dieser Dynamik scheinen Kolonisierung, Zivilisierung und Domestizierung am gleichen Prozess teilzuhaben, an der gleichen Reaktion auf eine als wild wahrgenommene Welt. Die gezähmten Tiere werden als „zivilisiert“ beschrieben, während die Afrikaner als Repräsentanten einer wilden Alterität präsentiert werden, die man domestizieren muss. Wenn Afrikaner wilde Tiere gefangen nehmen, wird diese Tat als Akt der Zivilisierung präsentiert. „Diese Affen zu fangen ist eine Arbeit, die den Afrikaner zivilisiert“, schrieb derart ein Besucher der ersten Weltausstellung in London 1851, als bei dieser Gelegenheit Affenhäute ausgestellt wurden.12 Weltausstellungen und vor allem Kolonialausstellungen sind somit offen dafür, die zoologische Ausstellung als Propaganda einzusetzen. Der Fall des Zoos der Kolonialausstellung in Paris 1931 ist in dieser Hinsicht aufschlussreich.13

Abb. 1: Der Affenfelsen im zoologischen Park der Kolonialausstellung in Paris 1931, Postkarte (Privatbesitz des Autors)

12 Thomas, Keith, Dans le jardin de la nature. La mutation des sensibilités en Angleterre à l’époque moderne (1500-1800), Paris: Gallimard 1985, S. 35. 13 Thétard, Henry, Des hommes, des bêtes. Le zoo de Lyautey, Paris: La Table ronde 1947. Ich befasse mich hier nicht mit den Völkerausstellungen, die gelegentlich „zoos humains“ genannt werden. Vgl. dazu Bancel, Nicolas/Blanchard, Pascal/Boëtsch, Gilles/Deroo, Eric/Lemaire, Sandrine (Hg.), Zoos humains. Au temps des exhibitions humaines, Paris: La Découverte 2004.

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Die Gefangennahme von Tieren wird zum Ausdruck kolonialer Repräsentationen und Praktiken. Sie stützt sich auf kommerzielle Handelsketten, auf die Kolonialverwaltung oder auf wissenschaftliche Forschungsreisen. Zunächst erwerben die europäischen und amerikanischen Zoos ihre Tiere über Händler, die sich allmählich spezialisieren. So konstituiert sich der Typus des Jägers als Fachmann für die Gefangennahme wilder Tiere,14 so verbreiten sich Jagdgeschichten, in denen diese Fachmänner und die Geschichten ihrer Jagden dargestellt werden. Diese Handelsketten machen Ägypten zum Umschlagplatz des Tierhandels und sie begründen den Reichtum der großen Händler, von denen der berühmteste sicherlich Carl Hagenbeck ist.15 Aber auch mit Hilfe der Kolonialverwaltung wurden Tiere erworben. Als Beamter auf Posten in Afrika stattete man zum Beispiel den Zoo seiner Heimatstadt aus. Diese Geschichten vom Erwerb und Versand der Tiere inspirieren die kolonialen Schriftsteller, die Szenen des kolonialen Lebens ebenso wie Geschichten aus dem Tierleben zum Gegenstand ihres Erzählens machen.16 Als Institut oder wissenschaftliche Forschungsreise schickte man Tiere in die Zoos, Vivarien oder die Aquarien der Hauptstadt. Zum Beispiel organisierte das in Dakar basierte Institut Français d’Afrique Noire in den 50er Jahren jedes Jahr Lieferungen für das Naturkundemuseum in Paris, je nach Jagdbeute oder erhaltenen Geschenken, aber auch auf Bestellung. Parks werden folglich als Transitzonen eingerichtet,17 so wie in Frankreich der zoologische Park von Marseille dazu dient, die Tiere zu akklimatisieren, bevor sie in die Hauptstadt weiterverschickt werden. Auch der Park von Stellingen in der Nähe Hamburgs, den Hagenbeck 1907 eröffnet, dient als Vorratshaltung für seinen Handel. Der an der Grenze von Tschad und Kamerun gelegene Zoo von Logone, gegründet vom französischen Verwalter François Quer, lieferte auf diese Art während der Expedition Urbain zahlreiche Tiere an den Zoo des Bois

14 MacKenzie, John M., The Empire of Nature. Hunting, Conservation and British Imperialism, Manchester, Manchester University Press 1988, S. 38-42; Rothfels, Savages and Beasts (Anm. 2), S. 44-80. 15 Vgl. Hagenbeck, Carl, Von Tieren und Menschen, Berlin: Vita Deutsches Verlagshaus 1908. 16 Vgl. Demaison, André, Le grand livre des bêtes dites sauvages, Paris: Flammarion 1951. 17 Kisling, Vernon N. Jr, „Ancient Collections and Menageries“, in Vernon N. Kisling Jr (Hg.), Zoo and Aquarium History. Ancient Animal Collections to Zoological Gardens, Boca Raton/London/New York/Washington: CRC Press 2001, S. 1-47, S. 35.

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de Vincennes.18 Aber diese Zirkulation von Tieren zwischen Kolonien und Metropole haben gleichermaßen politischen Wert. So stattet der Zoo von Bamako zum Beispiel nicht nur das Naturkundemuseum in Paris aus, sondern auch den persönlichen Park des Prinzen von Monaco.19 Die Tierlieferungen werden auf diese Art zum Mittel, institutionelle oder politische Netzwerke zu unterhalten. 1.2 Koloniale Zoos: Die Beherrschung des Wilden in den Kolonien Dass Zoos in den Metropolen eingerichtet wurden, darf uns nicht vergessen lassen, dass sie auch in den Kolonien präsent waren.20 In den historischen, geographischen und soziologischen Studien, die sich dem Phänomen Zoo widmen, steht die Frage der Repräsentationen Afrikas in den europäischen und amerikanischen Zoos weitgehend im Vordergrund, während die Präsenz von Zoos auf dem afrikanischen Kontinent bislang nur wenig behandelt wurde.21 Eine solche Vernachlässigung der afrikanischen Zoos beruht auf einem gewissen Eurozentrismus. Er führt in der Tat dazu, dass der Zoo als Ort der Präsentation exotischer Tiere definiert wird, während dagegen die afrikanischen Zoos, besonders die westafrikanischen, zumeist die Tiere ausstellen, die im eigenen Land gefangen wurden, also autochtone Tierarten. Die Ausstellung von Löwen, Flusspferden oder Krokodilen zum Beispiel definiert derart einen „Zoo der Anderen“ in Europa, hat aber in Westafrika an der Konstruktion eines „eigenen Zoos“ teil.22 Diese Inszenierung autochtoner Arten gibt es seit der Kolonialzeit. Zu dieser Zeit ging es vor allem darum, der kolonialen Macht eine spektakuläre Form zu geben. Koloniale Missionare, Militär und Beamte im Dienst in Afrika umgaben

18 Flassch, Armand-Henry, De la brousse au zoo. Carnet de route de l’Expédition Urbain au Sahara, en A.O.F., en A.E.F et au Cameroun, Paris: Payot 1938. S. 59-61. 19 IFAN, Rapport annuel, Dakar: IFAN 1954, S. 100. 20 Vgl. die Analysen, die Nélia Dias hinsichtlich der Kolonialmuseen vorschlägt. Dias, „Musées et colonialisme“ (Anm. 8). 21 Eine Ausnahme, die die Geschichte der Zoos im vor allem englischsprachigen Afrika behandelt, ist die Publikation Labuschagne, Wilhelmus/Walker, Sally, „Zoological Gardens of Africa“, in: Kisling, Vernon N. Jr (Hg.), Zoo and Aquarium History (Anm. 17), S. 331-349. 22 Ich übernehme hier die Unterscheidung, die Benoît de l’Estoile zum Thema Museen eingeführt hat. Vgl. de L’Estoile, Benoît, Le Goût des Autres. De l’Exposition coloniale aux Arts premiers, Paris: Flammarion 2007.

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sich mit mehr oder weniger gezähmten Tieren, die ihnen als Jungtiere gegeben worden waren – als Geschenk der Indigenen oder als Beute, nachdem ihre Eltern bei der Jagd getötet worden waren. Als Camille Habert im Fort Bakal im Senegal am Ende des 19. Jahrhunderts eintrifft, berichtet er von der Entdeckung der kleinen Menagerie, die sich dort befindet. Als wir in den Innenhof vordringen wollten, hielten wir plötzlich an: Ein hübscher Gepard oder eine senegalesische Tigerkatze kam gerade heraus. Ein Soldat, der uns empfing, fing an zu lachen, als er unsere Überraschung sah, und er versicherte uns, dass dieses scheinbare Wildtier völlig zahm sei und ohne jede Bosheit. „Es ist unser Wachposten“, sagte er. Er pfiff und der Gepard kam zu ihm wie ein Hund. […] Als wir in den Kasernenhof vordrangen, sahen wir übrigens, dass dieser merkwürdige vierfüßige Wachposten nicht das einzige wilde Exemplar war, das es in Bakel gab: Zwei acht Monate alte Löwenjunge, dick wie Neufundländer, rollten sich und spielten in der Sonne.23

Ein anderes Beispiel: Mehr als ein halbes Jahrhundert später berichtet der Forscher Henri Lhote seine Begegnung mit dem Gepard des Kommandanten von Timbuktu, den Schrecken, den er fühlt und dann seine Scham, als er seinen Titel „chargé de mission du Muséum“ dem Repräsentanten der Kolonialmacht gegenüber angeben muss.24 Jenseits dieser zwei Anekdoten, von denen die zweite in einem ironischeren Stil verfasst ist als die erste, erscheinen solche überraschenden Begegnungen mit halbgezähmten Wildtieren als Topos von Entdeckungsberichten. Die „kolonialen Menagerien“25 werden zum politischen Ort. Wilde Tiere in Gefangenschaft, besonders Löwen, werden zu Symbolen kolonialer Macht.26

23 Habert, Camille, Au Soudan. Excursion dans l’Ouest africain, Paris: Librairie Ch. Delagrave 1894, S. 107-109. 24 Vgl. Lhote, Henri, Le Niger en Kayak, Paris: J. Susse 1946, S. 33-34. 25 Kisling, Zoo and Aquarium History (Anm. 17). 26 Zur Frage der eingesperrten Löwen in Bamako als Machtsymbole siehe Bondaz, Julien, „La maison où voir le lion. Pistes fauves au zoo de Bamako (Mali)“, in: Cros, Michèle/Bondaz, Julien (Hg.), Sur la piste du lion. Safaris ethnographiques entre images locales et imaginaire global, Paris: L’Harmattan 2010, S. 107-118.

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Abb. 2: Löwe im Käfig im zoologischen Park von Bamako, Postkarte, Mitte der 1920er Jahre (Sammlung des Autors) Die Entwicklung kolonialer Wissenschaften spielt gleichermaßen eine Rolle bei der Einrichtung von Menagerien in Westafrika. Die koloniale Expansion zeigt sich daran, dass Sammelstationen eingerichtet werden für botanische und zoologische Arten, die kurz darauf in Zoos umgewandelt werden. Kolonialbeamte und Missionare liefern gewisse Gattungen lebend an Forschungsinstitute. Diese zoologischen Parks werden also im Rahmen der Entwicklung einer Zoologie geschaffen, und zwar einer im kolonialen Kontext angewandten Zoologie. Die Fragen der Domestizierung und der Akklimatisierung sind zentral für diese Einrichtungen. Neben der Markierung des kolonialen Terrains, dem Ausdruck der Macht und dem wissenschaftlichen Experiment bestimmen die Einrichtung von westafrikanischen Zoos schließlich gelegentlich auch die lokalen Bräuche, die schon vor der Kolonialisierung existierten. So präsentiert der große Historiker des Zoos Gustave Loisel 1912 den afrikanischen Totemismus als eine „primitive Form der Sitte, wilde Tiere gefangen zu halten“.27 Andere Formen der Tierhaltung sollten auch genannt werden, die den kolonialen Menagerien noch näher waren. Die lokale Bevölkerung hält die wilden Tiere gelegentlich aus rituellen Gründen gefangen, was in Beziehung zum Glauben an einen tierischen Doppelgänger steht. Tiere können aber auch als Symbole der Macht auftreten. Man fand folglich 27 Loisel, Histoire des ménageries (Anm. 9), S. 3:1.

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halb-zahme Tiere in den königlichen Palästen oder den Machtsitzen traditioneller Chefs, zum Beispiel Sträuße, Antilopen, Zibetkatzen bei den Hausa, während manche Jäger, die in der Mandingue-Zone in Gemeinschaften organisiert waren, Hyänen zähmten. Die Idee der Ausstellung war in diesen Bräuchen schon präsent, ohne dass jedoch der Gefangenschaft und der Präsentation wilder Tiere ein eigener Ort gewidmet gewesen wäre. Der Zoo als Heterotopie ist ein koloniales Erbe.

2. D IE POLITISCHE R OLLE A USSTELLUNG

DER ZOOLOGISCHEN

2.1 Postkoloniale Tiergärten: die Inszenierung der Nation Mit der Unabhängigkeit, die die meisten westafrikanischen Länder 1960 erreichten, wurden die kolonialen zu nationalen Zoos. Die neuen politischen Verantwortlichen mussten also die Tiergärten nationalisieren, manchmal auch hinsichtlich der Rechtsform. Der zoologische Park von Abidjan, der zunächst einem Franzosen gehörte und 1965 verkauft wurde, wurde sieben Jahre später nationales Eigentum. Ein anderes Beispiel ist der Zoo von Ghana, der Privatbesitz des ghanaischen Präsidenten nach der Unabhängigkeit war und 1968 der Öffentlichkeit übergeben wurde. Es geht vor allem darum, das staatliche Territorium gemäß einer Logik des musealen Raums zu inszenieren,28 indem man die verschiedenen Biotope des Landes präsentiert und die Repräsentanten der nationalen Fauna ausstellt. Der postkoloniale Zoo soll ein nationaler Zoo sein und die Zootiere werden deswegen als Vertreter der Nation entworfen. Die Elfenbeinküste legte folglich dreimal, 1992, 1997 und 1999, Briefmarkenserien mit dem Bild mehrerer Tiere des Zoos in Abidjan auf.

28 Zur Inszenierung der Nation in afrikanischen Museen siehe Gaugue, Anne, Les Etats africains et leurs musées. La mise en scène de la Nation, Paris: l’Harmattan 1997.

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Abb. 3: Ivorische Briefmarke von 1992, die eine der „seltenen Tierarten“ darstellt, die im Zoo von Abidjan ausgestellt werden (Sammlung des Autors) Dieser Wille, das nationale Territorium auszustellen, wird jedoch vor allem in der räumlichen Organisation, im Plan und der Architektur des Zoos selbst oder in der Wahl der ausgestellten Tiere sichtbar. In Bamako wurden zum Beispiel Ende der 1940er Jahre drei Parks eingerichtet mit dem Gedanken, verschiedene Biotope zu zeigen: eine „waldreiche Zone mit sudanesischem Klima“, eine „feuchte und halb-feuchte Savanne“ und eine „trockene Ebene, wo sich die Tiere der Sahelzone vergnügen“. Der Direktor des botanischen Gartens präzisiert das 1968 folgendermaßen: „Es ist die Beschaffenheit des Terrains, die es erlaubt, einen Eindruck des Tierlebens in den verschiedenen Zonen Malis zu geben.“29 Ziel ist es also, einen Zoo zu schaffen, in dem ein Panorama der malischen Fauna ausgestellt würde. Laut dem Direktor von 1968 geben die drei Parks „dem Besucher ein ‚reduziertes Modell‘ der verschiedenen Zonen des Hinterlands von Mali“30. Dieses metonymische Ziel ist übrigens immer noch aktuell: Auch 2008 ist es für den Direktor des biologischen Parks die Rolle des Zoos, „alle Regionen

29 Macher, H., Projet de planification du parc biologique de Bamako, Bamako: Ministère de la production du Mali – Service des Eaux et forêt 1968, S. 22. 30 Ebd. S. 23.

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des Landes, alle Biotope (Flussniederungen, Bergregion, Wald, Wüste) zu zeigen“31. Im Nationalmuseum des Niger, das 1959 entstand, wird der Zoo gleichermaßen als ein Mittel entworfen, die Nation zu inszenieren.32 Der erste Direktor des Museums bemerkt folglich: „Fast die ganze Fauna des Niger ist in unserem Zoo vertreten“.33 Bei einem Interview erinnert sich ein Zeitzeuge, dass die Vergrößerung des Tierbestands der Darstellung des nationalen Territoriums diente. „Alle Regionen haben Tiere hergebracht ... zum Beispiel gab es Giraffen und Warzenschweine. Jede Region gab dem Museum ein Tier.“ Im September 1963 ist es ein traditioneller Chef, der Chef des Wahlkreises von N’guigmi, der dem Nationalmuseum Kouri-Kühe gibt, eine Rinderrasse, die durch ihre voluminösen Hörner charakterisiert wird und die vom Tschad-See, also vom Osten des Niger stammt.34 Diese Kouri-Kühe legen jedoch offen, welche nationalen Anliegen mit der Ausstellung lebender Tiere verbunden sind. Eine der Frauen, die im Museum arbeiten, äußerte ihr Unverständnis, als ein Zoo Burkina Fasos (der Zoo des Präsidenten) eine der Kühe kaufen wollte. Sie fragte sich, warum dieser Zoo eine solche Kuh kaufen wolle, wo es doch diese Kühe in Burkina Faso gar nicht gebe. Darin zeigt sich die Vorstellung, dass der Zoo in Burkina Faso in gleichem Maße wie das Nationalmuseum in Niger nur einheimische Tiere ausstellen solle. Ein Angestellter Toubou (eine Ethnie im Osten des Nigers und des Tschads), mischte sich in dieses Gespräch ein und sagte, dass auch im Niger keine Kouri-Kühe mehr existierten: „Die Kouri-Kühe des Museums sind nicht reinrassig. Es sind gekreuzte Rassen.“ An der Größe des Hornes beurteilt man die Rassenmischung,

31 Es handelt sich um den 2008 amtierenden Direktor. Anlässlich der 50-Jahresfeier der Unabhängigkeit 2010 wurde ein weitläufiges neu geschaffenes Gelände, das den botanischen Garten und das Nationalmuseum verband, eröffnet. In bedeutsamer Weise nannte man diese neue Einrichtung „Parc national du Mali“. Später sollte auch der zoologische Garten integriert werden. Mehr Details darüber in Bondaz, Julien, „Parcs urbains et patrimoine naturel en Afrique de l’Ouest. De la période coloniale au cinquantenaire des Indépendances“, Géographie et Cultures, 79 (2012), 71-93. 32 Zur Anwesenheit von Tieren im Nationalmuseum des Niger siehe Ibrahim, Mamane, „L’exposition des animaux vivants au Musée National Boubou Hama de Niamey (Niger)“, in: Cros, Michèle/Bondaz, Julien/ Michaud Maxime (Hg.), L’animal cannibalisé. Festins d’Afrique, Paris: Editions des Archives contemporaines 2012, S. 127-139. 33 Toucet Pablo, Aperçu et opinions sur le Musée national du Niger, Niamey: Brochure du Musée National du Niger, o.D., S.8. 34 Vgl. Martin, François, Le Niger du président Diori. Chronologie 1960-1974, Paris: L’Harmattan 1991, S. 80.

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denn ihr Radius ist auf einzigartige Weise reduziert. Anscheinend fügen sich das Problem der nigrischen Identität und das der Rassenreinheit zu einer gemeinsamen Frage, nämlich ob auf dem nationalen Territorium und im Nationalmuseum eine „echte“ Kouri-Kuh vorhanden sei. Unlängst nahm der museale Ankauf einer lebensgroßen Giraffenstatue die Logik der Repräsentation der nationalen Fauna auf. Man will im Museum eine der berühmten Giraffen von Kouré ausstellen, eine Unterart, die man nur noch im Niger findet und die für das Land Teil des nationalen Erbes wurde ebenso wie ein Symbol der Nation Niger.35 Dennoch wird das mit dem Zoo im nigrischen Nationalmuseum verbundene nationale Imaginäre durch manche Tiere beeinträchtigt. So wird heutzutage ein Kapelch, den einst der Zoo von Nigeria geschenkt hat, in den Gehegen des Museums ausgestellt. Die Tafel des Geheges erwähnt dennoch seinen geographischen Ursprung nicht und schlägt die umgangssprachlichen Namen fonday in der Sprache Zarma und gada in Hausa vor.36 So wird das zoologische Vokabular der Nationalsprachen verwendet um damit ein Tier zu nationalisieren, das man auf dem Territorium des Nigers nicht findet. Andere Erwerbungen widersprechen gleichermaßen diesem Willen, einen nationalen Zoo zu präsentieren. So wurde kürzlich mit dem Zoo in Brazzaville der Austausch von zwei Nilpferden gegen zwei Gorillas angebahnt („denn wir kennen hier keine Gorillas. Was wir Gorillas nennen, sind Schimpansen), schließlich aber aufgegeben. Ein Angestellter widersprach der Bestimmung des Zoos, die Nation zu repräsentieren und meinte dazu: „Wir werden doch von den Tieren kein Visum verlangen!“ 2.2 Geschenke und Tiernamen: die Geopolitik des Zoos Die Zirkulation der Tiere, die Netzwerke, in denen sie getauscht werden, und die Praxis der Geschenke, jeweils zwischen verschiedenen Ländern, lassen ein geopolitisches Interesse erkennen. Zunächst kann es sich um den Austausch oder Geschenke von Tieren zwischen Zoos handeln. So hat der Zoo des Nationalmuseums des Niger einen Fall von Überbevölkerung in seinen Zookäfigen dadurch geregelt, dass er am Anfang der 80er Jahre mehrere Löwen einem Pariser Zoo sowie dem Zoo von Bamako überließ. Zumeist jedoch sind die geschenkten Tiere ein Mittel um diplomatische Beziehungen zwischen zwei Staaten zu kenn-

35 Vgl. Luxereau, Anne, „Des animaux ni sauvages ni domestiques, les ‘girafes des blancs’ au Niger“, Antropozoologica, 39.1 (2004), 289-300. 36 Dabei sollte es statt fonday richtig bubale heißen; der korrekte zoologische Name ist cephalophe de Grimm.

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zeichnen oder zu unterhalten ebenso wie die freundschaftlichen Beziehungen ihrer Präsidenten. 1977 schenkt der malische Präsident Moussa Traoré seinem französischen Pendant Valéry Giscard d’Estaing einen Junglöwen, der dem Zoo von Vincennes übergeben wird. Im Februar 2012 schenkt Amadou Toumani Touré, der Moussa Traoré gestürzt und in Mali die Demokratie eingeführt hat, als zweiter Präsident eines demokratischen Mali dem Prinzen Albert von Monaco bei einem Staatsbesuch sieben Spornschildkröten. Die Schildkröten werden zwei Monate später verschickt und vom Prinzen dem ozeanographischen Museum Monacos geschenkt. Zwischenzeitlich ist der malische Präsident bereits durch einen Staatstreich gestürzt worden.37 Meistens beschränkt sich jedoch die Zirkulation von Wildtieren aufgrund der Konvention von Washington auf Länder Afrikas.38 So gab z.B. Marokko dem Tiergarten Hann in Dakar zwei Pumas und einen Schimpansen. 2007 und 2008 schenkte General Gaddafi seinerseits mehreren seiner afrikanischen Amtskollegen aus West- und Zentralafrika Herden von fünf Dromedaren. Sie wurden mit dem Flugzeug verfrachtet und von einer lybischen Delegation begleitet. Anschließend wurden sie in den Nationalzoos oder in den präsidentiellen Zoos der betroffenen Länder ausgestellt. 2007 erwarb das Nationalmuseum des Niger zwei Nilpferde für den Tiergarten von Ziniaré, Burkina Faso. Etwas mehr als ein Jahr später wurden zehn Tiere per Militärflugzeug von diesem Park bis nach Bamako gebracht. Unter ihnen floh eine Antilope kurz nach der Ankunft in Mali. Ein Zoowärter erinnert sich, dass sie bis zum Präsidentenpalast floh und dass der Präsident sie, als er aus seiner Ministerialversammlung kam, in seinem Salon vorfand. Abgesehen vom anekdotischen Charakter legt diese Episode offen, dass Zootiere auf politische Weise eingesetzt werden können und dass eine Nähe zwischen den zoologischen Institutionen und den Orten der Macht besteht. Diese

37 Manche der Journalisten benutzen die Metapher der Migration um von der Ankunft der Schildkröten zu reden (siehe z.B. Regaieg, Haïkel, „Des tortues de Mali immigrent au Musée Océanographique de Monaco“, Nice Premium, 2.5.2012). Wenn man den Tenor der Debatte um die Immigration in Frankreich kennt, ist die Verwendung einer solchen Metapher, die eine Beziehung zwischen der Immigration und der Zirkulation von Wildtieren etabliert, eminent politisch und sicherlich ungeschickt (wenn nicht Schlimmeres). 38 Es handelt sich um das Washingtoner Artenschutzübereinkommen von 1973, welches die Gefangennahme wilder Tiere reguliert oder verbietet. Obwohl dieses Abkommen auch in den meisten westafrikanischen Staaten gilt, wird es selbst heutzutage nicht immer befolgt.

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Nähe ist zunächst topographisch. In Bamako befindet sich der Zoo an der Straße nach Koulouba, welche zum Präsidentenpalast führt. Die Einfassungen der Straße und der Eingang zum Park sind für den 20. Januar, den Feiertag der Armee, weiß gestrichen,. Die Fassaden des Zoos werden derart zum Ort der Manifestation der Macht. Die Nähe zur Macht übersetzt sich jedoch wohl nicht in einen politischen Willen, die Zoos finanziell zu unterstützen. So erklärte mir ein Zooangestellter: Der Zoo interessiert die Politiker nicht, selbst wenn die Umwelt ein politisches Thema ist. Zahlreiche Staatschefs kennen den Zoo. Sie gehen daran vorbei um nach Koulouba zu fahren Manche sind zu Besuch gekommen [...]. Aber sobald man sie um Finanzierung bittet, wenden sie uns den Rücken zu.

Ein anderer Angestellter nuanciert jedoch diese Aussage. Laut ihm werden dank Aminata Maïga Keita, der Frau des ehemaligen Präsidenten der Nationalversammlung und ehemaligen Premierministers Ibrahim Boubacar Keita Anstrengungen unternommen. Sie setzt sich seit Mitte der 90er Jahre für die Rehabilitierung des Zoos ein. Sie gründete den Verein AGIR für Umwelt und Lebensqualität, der kürzlich den Status einer NGO erhalten hat und dessen Büros im Herzen des botanischen Gartens eingerichtet wurden, bevor dieser 2010 neu angelegt wurde. Noch größer ist die Nähe von Politik und Zoo in Burkina Faso, denn der Präsident des Landes, Blaise Compaoré, besitzt einen Privatzoo in seinem Geburtsort Ziniaré, der etwa 30km außerhalb der Hauptstadt liegt. Der Zoo des Präsidenten gilt mit Recht als reicher als die Menagerie im Stadtpark von Ouagadougou. Eine Bewohnerin der Hauptstadt erzählte mir bei einem Interview: „In Ziniaré gibt es alle Arten von Tieren. Sie sind hinter Drahtgitter. Man bringt die Kinder der Kindergärten dorthin und fotografiert sie mit den Tieren an ihrer Seite. Ein Fotograf begleitet sie.“ Die Qualität der Gehege wird gleicherweise betont („Die Gehege sind professioneller“). Aber der „Parc Animalier de Ziniaré“ wird vor allem als Ausdruck der Macht des Präsidenten betrachtet. Auch die „wildhaltigen Wälder des Präsidenten, die seiner privaten Jagd dienen“, wurden gelegentlich Gegenstand der Kritik.39 Ein Burkinabè erklärte mir in einer neutraleren Weise: „Das liegt sicher daran, dass er sehr viel Grund und Boden hat und auch, weil er

39 Siehe besonders die Affaire Ernest Nongma Ouedraogo, genannt nach dem oppositionellen Politiker, der 1995 zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde, weil er den präsidentiellen Besitz in Ziniaré kritisiert hatte. Kaboré, Roger Bila, Histoire politique du Burkina Faso. 1919-2000, Paris: L’Harmattan 2002, S. 274-276.

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seine Macht zeigen will. Es gibt viele afrikanische Würdenträger, die Wildtiere hielten, Mobutu zum Beispiel.“ Die meisten Tiere erhielt der Präsident als Geschenk von afrikanischen Regierenden. Zusätzlich zu den Dromedaren, die Gaddafi geschenkt hat, findet man Löwen aus dem Niger, aber auch Elefanten, Nilpferde, Giraffen und Zebras. Der Park bildet damit nicht nur die Fauna Burkinas ab, sondern diejenige Afrikas. Anders als in den nationalen Zoos handelt es sich im Zoo des Präsidenten weniger darum, die Nation zu inszenieren, als die afrikanische Geopolitik. Zur gleichen Zeit wie die Tiere werden die internationalen Beziehungen in Ziniaré ausgestellt.

Abb. 4: Wachturm und Käfig im Tierpark von Ziniaré, Burkina Faso Der Park des Präsidenten dient darüber hinaus als Projektionsraum für die politischen Kommentare der burkinischen Journalisten. Einer von ihnen schreibt folglich über die „Alliance pour la Démocratie et la Fédération-Rassemblement Démocratique Africain“, die politische Partei, die als Wappentier den Elefanten hat: „Wird die ADF-RDA [...], die Blaise Comparoé im Wahlkampf 2005 unterstützt hat und die seit vielen Jahren im Parlament vertreten ist, 2010 einen Kandidaten präsentieren oder wird sie den Elefanten im Tierpark von Ziniaré anbinden, damit er in Ruhe weiden kann?“ Im Sommer 2010 ist es die „Union Nationale pour la Démocratie et le Développement“, deren Wappentier ein Panther ist, die sich

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der Partei des Präsidenten annähert. Der Journalist fragt sich also in folgender Weise: „Hat sich auch der Panther dazu entschlossen, sich im Tierpark von Ziniaré zähmen zu lassen?40 Auf diese Weise wird der burkinische Präsident metaphorisch zum Direktor eines politischen Zoos. In gleicher Weise diente der zoologische Park in der Côte d’Ivoire in Folge der postelektoralen Krise 2010-2011 der gegen Laurent Gbagbo vorgebrachten Kritik. Ein Blogger postete den „Zoo LMP von Abidjan“, indem er die Bilder des Zoos abwandelte und die Anführer von „La Majorité Presidentielle“ (LMP), der Partei Gbagbos, in Tiere verwandelte.41 Diplomatische Beziehungen und das politische Machtspiel äußern sich gleichermaßen in der Wahl der Namen, die man den Zootieren gelegentlich gibt. Diese Namenswahl kann ein Mittel sein, das Tier in eine politische Geschichte einzuschreiben. Die Biographie des Tieres trifft sich hier mit der Historiographie internationaler Beziehungen. So nannte man einen Schimpanzen im Nationalmuseum des Niger Arafat, weil er in dem Jahr geboren ist, in dem das palästinensische Staatsoberhaupt auf Staatsbesuch gekommen ist. Man findet hierin die Methode des „historischen Kalenders“42, die traditionellerweise dazu verwendet wird, das Alter des Menschen zu ermitteln, indem man eine Beziehung zwischen der Geburt des Einzelnen und einem historischen Ereignis herstellt. Auf gleiche Weise nannte man einen Löwen desselben Nationalmuseums Youssoun N’Dour. Ein Angestellter erklärte diese Wahl folgendermaßen: Beim letzten Besuch von Youssoun N’Dour in Niamey [Mitte der 90er Jahre] gab er zwei Konzerte, das eine in der Stadt, das andere im Franco [Centre Culturel Franco-Nigérien]. Die Einnahmen dieses zweiten Konzerts wurden dem Nationalmuseum des Niger vorbehalten. Als Dank dafür nannte das Nationalmuseum ein Löwenjunges Youssoun N’Dour.

40 „Une Lettre pour Laye: Du rififi au Groupe parlementaire de la Convention des forces républicaines“, L’Observateur Paalga, 16.4.2009, et „Parc animalier de Ziniaré : après l’éléphant, la panthère?“, L’Observateur Paalga, 9.8.2010. 41 Siehe „Le blog de Oba! Oba!“ (http:// obaoba.over-blog.com/). Man findet im Internet auch die Verwendung der Zoometapher in Kommentaren, was eigentlich typisch ist, aber in Westafrika ungewöhnlich. So steht auf Facebook der Eintrag: „Am liebsten würde ich Gbagbo zusehen, wenn er seinen Mais wie ein Affe im Zoo verschlingt.“ 42 Scott, Christopher and Georges Sabagh, „The Historical Calendar as a Method of Estimating Age: The Experience of the Moroccan Multi-Purpose Sample Survey of 1961-1963“, Population Studies, 14.1 (1970), 93-109.

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Ein anderer Angestellter erinnert sich, dass das fragliche Löwenjunge bei dieser Gelegenheit sogar auf die Bühne des Centre Culturel gebracht wurde, als ob der Ortswechsel des Löwen (auf die Bühne) die Übertragung des Namens bedeutet hätte, sozusagen durch Kontakt. Auch im zoologischen Park von Hann, in Dakar, sind die Namen der Löwen Mittel, um diplomatische Beziehungen, aber auch Figuren der Nationalpolitik zu inszenieren. Eine der Wildkatzen trägt den Namen Gaddafi, eine andere den Namen des senegalesischen Präsidenten Abdoulaye Wade, der selbst für gewöhnlich den Beinamen „der alte Löwe“ trägt. In der senegalesischen Presse wird so gelegentlich der zoologische Park in zweideutiger Weise als Schlupfloch des alten „Abdoulaye Wade“ bezeichnet. Der präsidiale Löwe kann in der Tat zur Kritik des löwenhaften Präsidenten eingesetzt werden. Anlässlich der Feierlichkeiten zum Gedenken an die Unabhängigkeit 2009 wird die Kritik schärfer, als die Beziehung zwischen Zoolöwe und Präsident bei einer Parade ausgestellt wird. Ein Blogger bemerkt folglich: In Dakar nimmt der Präsident der Republik, der altersschwache Abdoulaye Wade, an der Parade teil, indem er von einem armen alten, halbverhungerten Löwen begleitet wird, so wie einst der Heilige Imperator Bokassa I. Angesichts des Zustands beider Tiere sollte man den einen wie den anderen einschläfern.43

Man versteht so besser, warum der Tod des Löwen, der kurze Zeit später starb, in der Presse nicht besprochen wurde. Die Zootiere sind nicht nur wilde Tiere, die man zähmt, oder wissenschaftliche Forschungsobjekte, die man klassifiziert. Sie unterstützen auch die Ausübung der Politik und sie können dem Spiel der Macht sowohl dienen als auch es beeinträchtigen. Die politische Rolle der Zootiere rührt also sowohl vom Wappentier wie auch vom Trickster her.

43 http://www.senegalaisement.com/senegal/fetes_traditions_senegal.php.

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3.1 Die Macht der Tiere: Totem und Opfertier In Westafrika ist die Macht der Zootiere nicht nur politisch, sie kann auch magisch oder rituell sein. Deswegen wird die Gabe mancher Tiere an Politiker gelegentlich als Gefahr angesehen. Dies war in den 70er Jahren im Senegal der Fall mit dem Löwen von Mansour Bouna Ndiaye. Mansour Bouna Ndiaye war der Enkel des Königs der Djolof Alboury Penda Ndiaye und der Cousin von Abdou Diouf, dem Premierminister Präsident Senghors. Als Bürgermeister von Louaga wurde er als einer der politischen Gegner des Präsidenten betrachtet. Die Geschichte dieses Löwen, den ein Prinz schenken wollte und den ein Präsident zurückgewiesen hat, lässt uns verstehen, was die Macht eines Tieres bewirken kann. Als ich entschieden hatte, in meiner Eigenschaft als Prinz dem Präsidenten als königliches Geschenk einen Löwen zu schenken, den König der Tiere, entstand Panik im Lager meiner politischen Gegner, die dem Staatsoberhaupt sagten, es könne von diesem Geschenk sterben“, berichtete M. Ndiaye. „Als das Löwenjunge Cäsar, das 1976 im Tiergarten von Vincennes (Frankreich) geboren wurde, in Louaga ankam, dachten meine politischen Gegner sogleich an einen mystischen Aktivismus und unternahmen die notwendigen Schritte, um den Präsidenten davon abzuhalten, sich nach Louaga zu begeben.“ Er fügt hinzu, dass seine „politischen Feinde“ zum Präsidenten gegangen seien um ihm zu sagen, der Löwe stamme aus dem Buschland von Joloff, wo Mansour Bouna Ndiaye ihn mit den magischen Zaubern seines Vaters und seines Großvaters Alboury gewappnet habe, so dass der Präsident bei Erhalt des Geschenks sterbe und so der Cousin von Ndiaye, Abdou Diouf, an die Macht komme. Angesichts des großen Geschreis, das diese Angelegenheit auslöste, hatte Mansour Bouna Ndiaye auf Rat des Premierministers Abdou Diouf den Rat des damaligen Kalifen der Tidianes, El hadji Abdoul Aziz Sy, eingeholt. „Der Weise von Tivaouane antwortete mir, dass ein Staatsoberhaupt nicht stirbt, wenn man ihm einen Löwen zum Geschenk macht. Dein Vater schenkte 1938 dem Gouverneur géneral De Coppet zwei Löwen und er lebte noch 20 Jahre später“, berichtete M. Ndiaye. […] Präsident Senghor, der den Rat des Kalifen der Mouriden, Abdoul Ahad Mbacké, gesucht hatte, hatte folgende Antwort erhalten: „Mansour hat von seinem Vater Reichtümer geerbt, die du nicht geerbt hast, deswegen will er dir ein Löwenjunges zum Geschenk machen.“ Trotz dieser Versicherungen wurde der Besuch des Präsidenten abgelehnt und die Lage entspannte sich nicht. [...] Er sah sich gezwungen den Löwen dem Zoologischen Garten von Hann zu schenken, wo er 21 Jahre später starb. Er erinnert sich: „Der Premierminister Ab-

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dou Diouf hatte mir gesagt, dass Senghor doch sehr betagt sei und wenn er stürbe, würden die Leute sagen es sei wegen uns zwei. Gib den Löwen dem Park von Hann.“44

Der aus einem Pariser Zoo stammende Löwe wird schließlich nicht dem Präsidenten, sondern dem Zoologischen Park von Hann geschenkt. Diese Angelegenheit ist umso interessanter, als sie zeigt, wie sich anlässlich eines kritischen Geschenkes politische und religiöse Mächte verwickeln. Nicht nur die politischen Freunde des Präsidenten werden befragt, sondern auch die Vertreter der zwei großen muslimischen Kongregationen des Senegal, der muridischen und der tidianischen.45 Diese Verknüpfung des Politischen und des Religiösen ist im Übrigen sichtbar im Ausdruck „mystischer Aktivismus“. Der Löwe ist nicht nur ein königliches Tier (er trägt obendrein einen imperialen Namen: Cäsar). Aus der Sicht des Beschenkten könnte der Löwe auch „bearbeitet“ (liggey in Wolof) worden sein, das heißt, man könnte ihn einem magischen Ritual unterzogen haben. Der Löwe wäre somit nicht nur als wildes Tier gefährlich, sondern auch als Mittel magischen Angriffs. Wir schauen deswegen einer Krise des Geschenks und der Gegenseitigkeit zu wie in vielen Fällen von Hexerei.46 Aber vom Geber wird das Geschenk als positiv gesehen, nicht nur weil es eine politische Freundschaft hätte bedeuten können, sondern auch weil seine Familie und die des Präsidenten dieselbe spezifische Beziehung zu der Wildkatze haben. Die Familien Ndiaye (Wolof) und Senghor (Sereer) haben in der Tat beide den Löwen als Totemtier.47 Darüber hinaus steht die Frage des Totemismus in Beziehung zum Alltag der Zoos in Westafrika.48 Die Totem-Bindungen zwischen gewissen Familien und

44 Ndiaye, Cheikh Tidiane, „Le lion de Mansour Bouna Ndiaye à Senghor ou l’impossible recevabilité du cadeau d’un prince“, Agence de Presse Senegalaise, 31.7. 2008. Der Journalist zitiert Abschnitte eines Buches von Mansour Bouna Ndiaye. Ndiaye, Mansour Bouna, Le prince qui croyait à la Démocratie, Dakar/Paris: Editions Panafrika-Silex-Nouvelles du Sud 2008. 45 Zur Beziehung zwischen den muslimischen Bruderschaften und der Herrschaft im Senegal siehe besonders Coulon, Christian, Le marabout et le prince. Islam et pouvoir au Sénégal, Paris: Pedone 1981. 46 Vgl. de Boeck, Filip/Plissart, Marie-Françoise, Kinshasa. Récits de la ville invisible, Bruxelles, La Renaissance du Livre, 2005, S. 203. 47 Siehe dazu das Gedicht Senghors „Le Totem“, erschienen in der Sammlung Chants d’ombre 1945. 48 Die Frage des Totemismus ist zentral für die Anthropologie und der Rückgriff auf dieses Konzept im westafrikanischen Kontext veranlasst heftige Debatten, die sich hier

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gewissen Tiergattungen, zumeist wilden Tierarten, sind in Erzählungen begründet, die von der Verbindung eines Ahnen mit einem Ahnentier handeln. Sie stellen Netzwerke zwischen Familien her, die sich politisch analysieren lassen, und sie beruhen auf bestimmten Verboten, die diese Tiere betreffen. Der Löwe zum Beispiel ist das Totemtier nicht nur der Familien Ndiaye und Senghor, sondern auch das der Kanouté bei den Soninké und der Diarra bei den Bambara. Einen Löwen des Nationalmuseums des Niger nannte man Diarra wegen der Homonymie mit einem Offizier der malischen Armee, der den Park besuchte und dessen Totemtier es war (der Familienname Diarra, oder jara in Bambara, bedeutet „Löwe“). Aber die Totem-Verbote führen manchmal bei Zoobesuchen zu Problemen.49 Manchen Familien ist es nicht nur verboten, das Totemtier zu töten und zu essen, es kann selbst verboten sein, es zu sehen. Das erklärt, warum manche Besucher ihr Totem gelegentlich vermeiden, wenn sie erfahren, dass es im Park ausgestellt ist, oder warum sie ein symbolisches Opfer bringen, einen Edelstein oder ein Geldstück, wenn sie ihr Tier in einem Käfig oder Becken entdecken. Sie wollen so die Auswirkungen der unheilvollen Begegnung abwehren. Das gilt besonders für die Löwen im Zoo von Bamako.50 Diese kleinen Opfergesten sind nicht die einzigen rituellen Handlungen, die in westafrikanischen Zoos stattfinden. Die segensreiche oder unheilvolle Macht, die man den Tieren, vor allem einigen unter ihnen (besonders Löwen und Hyänen) zuschreibt, führt zu verschiedenen Praktiken, die von der Anrufung bis zum Opfer reichen.51 Dass man denkt, manche Wildtiere unterhalten Beziehungen mit unsichtbaren Entitäten, die oft als Geister des Buschlandes dargestellt werden, erklärt zum Teil ihren Erfolg in den Augen der Besucher, führt aber auch zu heimlichen Zeremonien im Innern des Parks.52 Das ist beispielsweise der Fall im

nicht entfalten lassen. Für weitere Ausführungen siehe Adler, Alfred, „Le totémisme en Afrique noire“, Systèmes de pensée en Afrique noire, cahier 15, 1998, 13-107. Einzuräumen ist, dass der Begriff „Totem“ bei den frankophonen Sprechern Westafrikas weit verbreitet ist. 49 In den lokalen Sprachen übersetzt der Begriff „Totem“ die Idee des „Verbotenen“ (mban in Wolof, Tana in Bambara, Kisgu in Mooré…). 50 Vgl. Bondaz, La maison où voir le lion“ (Anm. 26). 51 Der Begriff „Opfer“ ist zweideutig, aber er übersetzt besser als andere die in den lokalen Sprachen verwendeten Begriffe (z.B. die aus dem Arabischen sadaqa Stammenden: sarax in Wolof und saraka in Bambara. Sie bezeichnen nicht-blutige Opfer. 52 Zur Beziehung zwischen Zootieren und Buschgeistern im Niger vgl. Bondaz, Julien, „Topographie magico-religieuse et espace muséal. Territoires, trajectoires et transes

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Niger, wo nachts Opferzeremonien vor dem Becken des Nilpferds organisiert werden.

Abb. 5: Die um das Nilpferdbecken stehende Menge im Nationalmuseum des Niger am Tag Aid-el-Fitr 2007 Gerüchte verbreiten sich gleichermaßen über Opferpraktiken, die in den Zoos der Präsidenten stattfinden. Sie gründen sich auf das in Westafrika weit verbreitete Postulat, dass die politische Macht immer ihren Doppelgänger in einer okkulten Macht hat.53 Es kommt darüber hinaus vor, dass Opfer mitten am Tag vollzogen werden und man darin die Anweisungen der Marabuts oder FetischPriester befolgt. Derart erhalten die Pythons des Zoos in Bamako gelegentlich lebende Hühner, die die Besucher mitbringen und die dann von den Wärtern verfüttert werden. Auch das Elefantenbaby des Parks erhält Opfergaben. Gemäß

au Musée National du Niger“, in: Berthold, Etienne (Hg.), Patrimoine et sacralisation, patrimonialisation du sacré, Québec: éditions Multimondes 2009, S. 269-282. 53 Siehe Bieri, Arnaud,/Froidevaux, Sylvain, „Dieu, le président et le wak. A propos de certains phénomènes ‘magico-religieux’ au Burkina Faso“, in: Hilgers, Mathieu/ Mazzochetti, Jacinthe (Hg.), Révolte et opposition dans un régime semi-autoritaire. Le cas du Burkina Faso, Paris: Karthala 2010, S. 67-83 für ein Beispiel aus Burkina Faso.

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den Angaben des Zoodirektors übergab 2009 ein Mann vier Kilo Milchpulver und acht Kilo Kartoffeln, um das Jungtier zu ernähren. Diese verschiedenen Opfer werden häufig vollzogen, um leichter an Reichtümer oder an ein politisches Amt zu kommen. Ein solcher Umgang mit dem Zoo schreibt sich derart in eine größere Dynamik ein, in der Opferpraktiken an den urbanen westafrikanischen Kontext angepasst werden.54 3.2 Die Macht der Tiere: Wie man „Kraftobjekte“ herstellt In Westafrika sind die Zootiere nicht nur Empfänger von Opfergaben. Sie liefern auch das Material für zahlreiche „power objects“55 oder „Kraftobjekte“ (objets forts)56. Die Zoowärter sammeln in der Tat eine ganze Reihe von tierischen Materialien ein, die anschließend verkauft werden und dann zur Herstellung von Medikamenten oder von Fetischen oder „gris-gris“, magischen Objekten, eingesetzt werden.57 Haare und Federn, Urin und Exkremente, oder auch die Eier der Krokodile werden gesammelt, um verkauft zu werden, so wie auch Hufe, Schweif und Mähne der Pferde und Esel, die geschlachtet werden, um die Wildtiere des Parks zu füttern.58 Das stark nachgefragte Blut von Hyäne und Vogelstrauß wird manchmal den lebenden Tieren heimlich abgenommen. Es wird in den magisch-religiösen Praktiken eingesetzt, die zur Erlangung eines politischen Amtes führen sollen. Ein Wärter des Nationalmuseums im Niger erklärte mir

54 Vgl. Touré, Abdou/Konaté, Yacouba, Sacrifices dans la ville. Le citadin chez le devin en Côte-d’Ivoire, Abidjan: éd. Douga 1990. 55 Vgl. McNaughton, Patrick R., The Mande Blacksmiths. Knowledge, Power, and Art in West Africa, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1988. 56 Colleyn, Jean-Paul, „L’alliance, le dieu, l’objet“, L’Homme 170 (2004), S. 61-78. 57 Hier wäre der richtige Ort, um diese aus der Kolonialzeit stammende Begrifflichkeit und die Vielfalt der materiellen Artefakte, die sie abdeckt, zu diskutieren (und zu kritisieren), indem man auf die lokalen Namen, die ihnen gegeben werden, eingeht. Dies kann jedoch nicht im Rahmen des vorliegenden Textes geschehen. Meines Erachtens deckt der Ausdruck „objet fort“, Kraftobjekt, diese besondere Art von magischreligiösen Objekten hinreichend ab. Vgl. Colleyn, „L’alliance“ (Anm. 56). 58 Für weitere Informationen zur Fütterung der Wildtiere in westafrikanischen Zoos siehe Bondaz, Julien, „Carnivores et dévorés. La fabrication et la circulation de la viande dans les zoos d’Afrique de l’Ouest“, in: Cros, Michèle/Bondaz, Julien/Michaud, Maxime (Hg.), L’animal cannibalisé. Festins d’Afrique, Paris: Editions des archives contemporaines 2012, S. 65-79.

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Folgendes: Bei Wahlen gibt es Leute, die das Blut von Hyäne oder Vogelstrauß verlangen. Sie kommen um fünf Uhr morgens, damit man sie nicht sieht. Es ist ein Geheimnis. Die Tierpfleger halten das Tier fest und die Interessenten nehmen das Blut mit einer Spritze ab.“ Wenn ein Zootier stirbt, können ebenfalls verschiedene Teile seines Leichnams verkauft werden. Herz, Geschlechtsteil und das Fett der im Zoo gestorbenen Nilpferde wie auch die der Löwen werden oft für Verwendungsweisen zu unterschiedlichen Zwecken aufbewahrt. Ein Wächter fasst es so zusammen: „Jedes Teil hat seine Besonderheit.“

Abb. 6: Der Verkaufsstand eines Häutehändlers gegenüber dem malischen Parlament, Mali, 2008 Diese Stoffe und Stücke des Tiers versorgen dann den lokalen Markt und dienen dazu, traditionelle Medikamente oder rituelle Objekte herzustellen. Die Zooangestellten beliefern in der Tat die Händler von Häuten, die sie auf den Märkten der westafrikanischen Hauptstädte verkaufen. Manche Teile der Tiere werden stärker nachgefragt und sind deswegen teurer, weil sie, abhängig vom Tod des Tieres, seltener sind. Der Kopf eines Löwen wird so zum Luxusobjekt, das zu 1000000 FCFA (1500€) in Bamako verkauft wird. Auf dem Markt der malischen Hauptstadt erklärte mir das ein junger Mann so: „Es ist nicht leicht, einen Löwenkopf zu sehen. Wenn es einen gibt, wird er sofort verkauft. Es ist etwas Sel-

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tenes. Die großen Geschäftsleute, die Politiker, zahlen dafür.“ Man wird sich also nicht wundern, wenn in Bamako der Markt der Häutehändler direkt gegenüber vom Parlament angesiedelt ist. Die Politiker wie auch das Militär sind tatsächlich die besten Kunden. Die Macht der Zootiere dient so auch nach ihrem Tod der Macht der Menschen. Das Beispiel eines Manati illustriert die Verflechtung dieser verschiedenen Kräfte, die in den Zoologischen Parks Westafrikas ins Spiel kommen. Im Zoo von Bamako gilt das Wassersäugetier, das oft mit einer Sirene verglichen wird, als eine Besonderheit. Es wird manchmal als Wassergeist (bafaro) präsentiert und es heißt, seine Gefangennahme verursache Katastrophen, da das 1961 der Fall war. Der Fang des Manatis im Fluss Niger und die Ausstellung des Tiers im Zoo fielen tatsächlich mit Überschwemmungen und einem besonders gefährlichen Hochwasser zusammen. Die Obrigkeit musste einschreiten und das Tier in Freiheit setzen. In diesem Zusammenhang wurde daran erinnert, dass der Manati das Totem des amtierenden Präsidenten Modibo Keita war. Als man den Manati ins Wasser zurückbrachte, schrieb der Soziologe Diango Cissé, dass nun alles zur Ordnung zurückkehren würde.59 Dennoch bietet der „Fluch“60 oder zumindest die Kausalität zwischen dem Fang des Manatis und dem Hochwasser des Nigers weiterhin Stoff für Diskussionen. Ein Gesprächspartner erklärte mir, dass „das Wasser zum Manati (Banfaro) käme, selbst wenn er 100 km vom Fluss entfernt wäre“. Vorsicht ist also geboten, selbst dahin gehend übrigens, dass der malische Präsident Amadou Tourmani Touré 2005 zwei Manatis wieder freigesetzt hat. Als er das Nigerdelta besuchte, wurden ihm zwei Manatis von den Fischern geschenkt. Nach der Zeremonie ließ er sie wieder ins Wasser zurück. Derzeit wird dennoch ein Manati im Zoo von Bamako ausgestellt, allerdings in unerwarteter Form. 2004 starb ein in Mopti gefangener Manati bei seiner Ankunft im Zoo. Der Minister war anwesend und die Journalisten waren eingeladen. Also erklärte der Direktor des Ministeriums für Wasser und Forstwirtschaft sofort: „Wir werden ihn ausstopfen, das kann ein Museum interessieren.“ Der Manati wurde also präpariert, landete aber im Zoo in einer Vitrine. Allerdings wurden heimlich eine ganze Reihe von Proben von Besuchern (von FetischPriestern, meint ein Wärter) abgenommen. Besonders Rippen und Flossen wurden vom Tier entfernt. Dazu bestimmt, als Medizin oder als Bestandteil von

59 Cissé, Diango, Structures des Malinké de Kita, Bamako: Editions populaires 1970, S.13. 60 So lautet der Titel des Kriminalromans von Moussa Konaté, La Málediction du lamantin. Enquête sur les rives du fleuve Niger, Paris: Fayard 2009, der von dieser historischen Begebenheit inspiriert wurde.

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Kraftobjekten zu dienen, erlaubten es diese Stücke des Tiers, sich die Macht des Tiers, ja sogar die des Wassergeistes anzueignen. Die Zootrophäe wurde zum Fetisch. Zwei Präsidenten, die den Befehl geben, Manatis wieder ins Wasser zu lassen, ein Minister, der eine weitere dieser Sirenen im Zoo empfängt – das ist die offizielle Fassade der Beziehungen zwischen Zoo und Politik. Aber im Hintergrund treffen sich die Macht der Menschen und die der Tiere ebenso in individuelleren Praktiken, bei denen Politik vor allem als Wettkampf zwischen Individuen verstanden wird, ja sogar als Raubzug. In Westafrika sind die Tierparks Orte, an denen die Tiere mit einer politischen Bedeutung und Funktion versehen werden. Es hat sich gezeigt, dass zuerst im kolonialen Kontext, dann im postkolonialen, die Macht, die über die Tiere ausgeübt wurde, als Übersetzung der politischen Macht verstanden werden konnte, aber dass die Lage häufig nuancierter und komplexer war. Im Besonderen können der Zoo und die dort ausgestellten Tiere gleichermaßen eine Rolle bei der Kritik der amtierenden Gewalt spielen. Es wäre falsch daraus den Schluss zu ziehen, dass die Zoos nichts anderes als Strafanstalten oder hegemoniale Orte seien. Es hat sich auch gezeigt, dass im westafrikanischen Kontext die magischreligiöse Macht mancher Tiere dazu geeignet ist, die Macht mancher Menschen zu speisen. Die Ausstellung im Zoo kann derart verschiedene Mächte zirkulieren lassen. Es geht also darum, den Zoo nicht mehr nur als eine Metonymie administrativer Territorien oder als Metapher politischer Machtausübung zu betrachten, sondern die Rolle zu verstehen, die Nicht-Menschliche in menschlichen Kollektiven spielen können.61 Schließlich bedeutet die Heterotopie des Zoos weniger eine Opposition zwischen einem zoologischen und einem politischen Raum als einen Ort, an dem die Tiere den Menschen auf verschiedene Art politische Vorschläge machen. Aus dem Französischen übersetzt von Annette Bühler-Dietrich

61 Latour, Bruno, Politiques de la nature. Comment faire entrer les sciences en démocratie, Paris: La Découverte & Syros 1999.

Tiere und Tiermetaphern im postkolonialen frankophonen Roman A NNETTE B ÜHLER -D IETRICH

2006 veröffentlichte Notre Librairie ein Themenheft zum Tier in der afrikanischen Literatur. Die Vielfalt des Einsatzes von Tieren wird an der Diversität der Beiträge deutlich. Tierfabeln in der Nachfolge Lafontaines und in der Bearbeitung Senghors werden zum Fibeltext, der koloniale Roman macht den Anderen zum Tier, und Tiere werden zum Gegenstand der Narration im postkolonialen Roman.1 Als metaphorischer Bezugspunkt fungieren sie in Titeln wie Amadou Kouroumas En attendant le vote des bêtes sauvages (1998) oder Tierno Monénembos Les crapauds-brousse (1979). Wird der Afrikaner im kolonialen Roman mit den Zügen des Animalischen versehen, so reagieren postkoloniale Autoren auf diese Zuschreibungen, indem sie sie offensiv und kritisch verwenden. Daneben wird das Tier-Mensch-Verhältnis aus menschlicher oder tierischer Perspektive zum Gegenstand. Drei dieser Romane werde ich im Folgenden betrachten: Sami Tchaks Place des fêtes, in welchem zahlreiche Tiere als Metaphern eingesetzt werden, Alain Mabanckous Mémoires de porc-épic, in welchem das Leben im afrikanischen Dorf aus der Perspektive eines Stachelschweins erzählt wird, und schließlich Patrice Nganangs Temps de chien, das sich mit der Großstadtrealität Yaoundés

1

Vgl. Bourrel, Jean-René, „Le Lièvre et le Roi: La belle histoire de Leuk-le-lièvre de L.S. Senghor et d’A. Sadji“, in: Notre librarie. Revue des littératures du Sud 163 (Sept.-Dez. 2006): Indispensables animaux, S. 43-48; Mangeon, Anthony, „Des hommes et des bêtes sauvages: humanité/animalité chez les écrivains coloniaux“, ebd. S. 53-59; Assah, Augustine H., „Le monde vu par les animaux: la narration animalière ou l’art du décentrement“, ebd. S. 35-41.

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aus der Sicht eines Hundes auseinandersetzt. Führt das Stachelschwein ein von den Menschen eigentlich abgeschiedenes Leben, so interagiert Mboudjak, der Hund in Temps de chien, auf vielfältige Weise mit den ihn umgebenden Menschen. Der Weg der drei Romane führt dabei vom Dorf in die Großstadt und schließlich nach Paris, dem Ort des nach einer U-Bahn-Station benannten Romans Tchaks. Die drei Autoren kommen aus verschiedenen westafrikanischen Ländern: Patrice Nganang aus Kamerun, Alain Mabanckou aus CongoBrazzaville, Sami Tchak aus Togo. Alle drei leben heute in der Diaspora, Tchak und Mabanckou in Paris, Nganang in den USA.2 Alain Mabanckous Stachelschwein ist ein „double nuisible“, ein schädlicher Doppelgänger eines Menschen. Er lebt in Abhängigkeit zu diesem Menschen namens Kibandi, dessen Befehle er ausführen muss. Wann immer Kibandi sich eines Menschen entledigen möchte, ersticht das Stachelschwein diesen Menschen, indem es Verletzungen zufügt, die später unsichtbar sind. Kibandi hat nicht nur ein tierisches, sondern auch ein gesichtsloses menschliches Double, das sich von der Lebenskraft der Getöteten ernährt. Die Kraft eines Doubles wird vererbt und durch einen Trank initialisiert, der zum Initiationsritus des Menschen gehört. Das Stachelschwein weiß um seine Bestimmung, Doppelgänger zu sein, weil es im Traum berufen wird. Im Unterschied zu Trickster-Figuren, die zwischen menschlicher und tierischer Gestalt wechseln können, verwandelt sich Kibandi nicht selbst in ein Stachelschwein, sondern schickt dieses, um seine Befehle zu realisieren. Somit ist eine getrennte Existenz und Ansicht der Welt für das Tier möglich. Das namenlose Stachelschwein ist jedoch nicht nur ein „porc-épic“, sondern auch ein homonymes „porc-épique“. Nach dem Tod seines Herrn überlebt es wunderbarer und unerwarteter Weise und erzählt seine Lebenserinnerungen einem Du, das sich als Baobab, Affenbrotbaum, entpuppt, bei dessen Stamm das Stachelschwein Schutz sucht. Es wählt diesen Ort bewusst, denn „je veux en fait tirer profit de ton expérience d‘ancêtre“ (43) – der Baobab als Verkörperung des Ahnen wird zum idealen Zuhörer des Stachelschweins. Im Anhang dann schafft Mabanckou eine Autorfiktion, die an seinen eigenen vorherigen Roman Verre Cassé anschließt.3 Denn auch das Manuskript des Stachelschweins wird dem verstorbenen „Verre Cassé“ zugeschrieben, eponymer Autor einer Sammlung

2

Mabanckou, Alain, Mémoires de porc-épic, Paris: Seuil 2006; Nganang, Patrice, Temps de chien (2001), o.O: Groupe Privat/Le Rocher 2007, Tchak, Sami, Place des Fêtes, Paris: Gallimard 2001. Seitenzahlen für die Zitate finden sich in Klammer im Text.

3

Mabanckou, Alain, Verre Cassé, Paris: Seuil 2005.

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von Bargeschichten. Da der Erzähler Verre Cassé Geschichten sammelt, reihen sich die Memoiren des Stachelschweins in die über Verre Cassé weitergegebenen Menschen-Geschichten ein. Sie erzählen von gescheiterten Existenzen und den Ursachen ihres Scheiterns, die meist in der Bestialität des menschlichen Miteinanders liegen. Im Unterschied zu diesen Stadtgeschichten verlagert der tierische Erzähler die Handlung ins Dorf. Damit ruft er das Dorf als Ort der Handlung und des Erzählens von traditionellen Erzählungen, „contes“ auf, die Tiere wie den Hasen „Leuk le lièvre“, als Handlungsträger haben. Diese Erzählungen dienen der Erziehung und sollen zumal Kindern das richtige Verhalten lehren.4 Mabanckou evoziert diesen Kontext der traditionellen Erzählung zwar, destabilisiert ihn aber zugleich. Dies geschieht bereits in der Widmung: „Je dédie ces pages à mon ami et protecteur L’Escargot entêté, aux clients du bar Le Crédit a voyagé, et à ma mère Pauline Kengué de qui je tiens cette histoire (à quelques mensonges près)“ (7).5 Mabanckou erwähnt derart seine eigene Mutter neben den fiktionalen (oder fiktionalisierten) Personen und Orten des Vorgängerromans. Indem als prospektive Leser die Barbesucher angesprochen werden, situiert sich der Roman nicht als Form der kindlichen Erziehung, sondern seine Botschaft richtet sich an die gestrandeten Existenzen der Bar. Dennoch bleibt der moralische Impetus der „contes“ bereits gegenüber des intradiegetischen Lesers insofern erhalten, als der Kneipenbesitzer „L’Escargot entêté“ schließlich an den Verleger schreibt: „Je ne peux me retenir de vous confier que je me suis laissé emporter par le destin de cet étrange porc-épic[…]. Et depuis, je ne regarde plus les animaux avec les mêmes yeux. D’ailleurs, qui de l’Homme ou de l’animal est vraiment une bête? Vaste question !“ (229).6 Die Frage nach einem ethisch richtigen Verhalten steht somit am Ende des Romans und wird darin der Widmung an die Mutter gerecht. Wie Verre Cassé ist auch das Stachelschwein ein Außenseiter. Aufgrund seiner Erwählung zum „double nuisible“ muss es die Gemeinschaft der Stachelschweine verlassen und in die Nähe der Menschen ziehen, um der Befehle

4

Zu den verschiedenen Gattungen der „Contes“ siehe Ndiaye, Christiane, Introduction aux littératures francopohnes. Afrique – Caraïbe – Magreb, Montréal: Les Presses de l‘Université de Montréal 2004, S. 66f.

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„Ich widme diese Seiten meinem Freund und Beschützer L’Escargot entêté, den Gästen der Bar Le Crédit a voyagé und meiner Mutter Pauline Kengué, von der ich diese Geschichte habe (bis auf ein paar Lügen).“ Mabanckou, Alain, Stachelschweins Memoiren, übers. v. Holger Fock und Sabine Müller, München: Liebeskind 2011, S. 5.

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Die Herausgeberfiktion fehlt in der veröffentlichten deutschen Übersetzung.

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Kibandis gewahr zu sein. Nach dem Tod Kibandis ist es allein der Baobab, der als Zuhörer in Frage kommt, da der Erzähler den Kontakt zu seiner Gemeinschaft verloren hat. Der Baobab als Ahne ist der Bewahrer der Geschichten, das Gedächtnis der Kultur und deswegen der geeignete Zuhörer. Als Erzähler etabliert sich das Stachelschwein zu Anfang gegen die menschlichen Vorurteile: pour eux, je ne suis qu’un porc-épic, et puisqu’ils ne se fient qu’à ce qu’ils voient, ils déduiraient que je n’ai rien de particulier […] à vrai dire, je n’ai rien à envier aux hommes, je me moque de leur prétendue intelligence puisque j’ai moi-même été pendant longtemps le double de l’homme qu’on appelait Kibandi (11f.).7

Als Double führt er ein Schattendasein, bei dem er von den Tätigkeiten Kibandis profitiert – er lernt lesen – wie auch dessen Befehle ausführen muss. Lesen gehört dabei zu den Tätigkeiten, die Kibandi nur beherrscht, weil er zu den Initiierten gehört. Das Stachelschwein beobachtet das Verhalten Kibandis und seiner Umgebung und bewertet es im Kapitel „comment le vendredi dernier est devenu un vendredi de malheur“. In diesem Abschnitt des Romans berichtet der Erzähler von seinen Einsätzen als „double nuisible“, das die Gegner seines Herrn aus dem Weg räumt. Im Unterschied zu ihm bemerkt er jedoch die Gefahr, die von den prospektiven Opfern ausgeht und bewertet die vollzogenen Taten. Er befindet sich zwischen Tier und Mensch und ist mit den Tieren über die Gattung, mit den Menschen als Double verbunden. Als solches ist das Stachelschwein nicht das einzige Tier; um seine Eignung als Double zu testen, wird es von der Ratte, dem Double des Vaters, heimgesucht. Wenngleich es sich bei Mabanckous Stachelschwein um ein anthropomorphisiertes Exemplar handelt, bleibt die Differenz zwischen Tier und Mensch erhalten. Während das Stachelschwein von Vorahnungen und schlechtem Gewissen geplagt wird, ertränkt Kibandi diese Sensoren in „mayamvumbi“ (181), einem Palmweingetränk. Und obwohl es meint, „pour qu’un être humain en mange un autre il faut des raisons concrètes, la jalousie, la colère, l’envie, l’humiliation,

7

„für sie bin ich nur ein Stachelschwein, und da sie nur ihren Augen trauen, schließen sie daraus, dass an mir nichts Besonderes ist […] ehrlich gesagt, beneide ich die Menschen um nichts, ich lache über ihre angebliche Intelligenz, denn ich war selbst lange Zeit der Doppelgänger eines Mannes namens Kibandi“. Mabanckou, Stachelschweins Memoiren (Anm. 5), S. 8.

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le manque de respect“ (138),8 zeigt es damit, dass es die niederen Affekte, Eifersucht, Zorn, verletzter Stolz, sind, die unverhältnismäßige Konsequenzen zeitigen. Die Folge ist eine Gesellschaft, in der sich die Menschen ausnutzen und an die Stelle des Aushandelns von Konflikten die Gewalt tritt. Der „arbre de palabre“ als Ort der Konfliktlösung hat somit ausgedient. Das Dorf ist folglich keine Idylle, die dem Stadtleben gegenüber steht, sondern die Konflikte wiederholen sich auf dem Dorf auf andere Weise. Bewusst beginnt das porc-épic/épique den Akt des Erzählens: „je suis assis à ton pied, je te parle, je te parle encore même si je suis certain que tu ne me répondras pas, or la parole, me semble-t-il, délivre de la peur de la mort […]“ (39).9 Es eignet sich darin die Form der sinnstiftenden Erzählung an, die gemeinhin den Menschen vorbehalten ist. Indem es dem Baobab erzählt, wendet es sich an denjenigen, der alle Geschichten sammelt und aufbewahrt, ohne sie alleine erzählen zu können: „Soyez les bienvenus, mes enfants. Je vous ai demandé de revenir pour m’aider à raconter le monde au monde. […] Je suis là pour les siècles des siècles“,10 äußert Jean-Pierre Guinganés Baobab merveilleux. Nicht nur die Angst vor dem Tod, sondern auch das Weiterleben nach dem Tod motiviert das Stachelschwein derart. Im Einklang mit der moralischen Erziehung steht schließlich, dass gerade die negativen Eigenschaften der Menschen zum rächenden Einsatz des „double nuisible“ führten. Dagegen will das Stachelschwein nun in seinem verbleibenden Leben nur Gutes tun, wozu auch sein Wunsch nach Frau und Kindern gehört, was die traditionelle Familienstruktur affirmiert. Obwohl das Stachelschwein zwar den Willen seines Herrn vollziehen muss, wird es im Roman als ethische Instanz sichtbar. Der Mensch, nicht das Stachelschwein, ist also das „bête“, das tierische Biest, und in diese Beobachtung ist nicht nur Kibandi einbezogen, sondern auch alle, die ihn zu seinen Handlungsweisen veranlassen. Während Mabanckous porc-épic Dorfszenen dokumentiert, berichtet Mboudjak in Temps de chien von der auf den Hund gekommenen Gesellschaft Yaoundés. Sie trifft sich, wie die Gesellschaft von Verre Cassé, in der Bar, hier mit dem Namen „Le Client-est-Roi“. Der retrospektive hündische Erzähler ver-

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„damit ein menschliches Wesen ein anderes verzehrt, muss es konkrete Gründe geben, Eifersucht, Wut, Neid, Demütigung, Mangel an Respekt“, ebd. S. 119.

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„sitze ich seit diesem Morgen an deinem Stamm und spreche zu dir und rede noch immer, obwohl ich mir sicher bin, dass du mir nicht antworten wirst, aber das Sprechen, so scheint mir, vertreibt die Angst [vor dem Tod, A. B.-D.]“, ebd. S. 32.

10 Guingané, Jean-Pierre, Le baobab merveilleux. Conte théâtralisé, Ouagadougou: Éditions Gambidi/Découvertes du Burkina 2007, S. 15.

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sammelt in seiner Erzählung überwiegend mittellose Gestalten, die in der Bar seines Herrn Massa Yo zusammenkommen. Nganangs Roman wird in der Forschung zum einen hinsichtlich der Sprachmischung analysiert, zum anderen hinsichtlich seines Realitätsgehalts. Nzessé weist nach, dass Nganang die Realität Kameruns in seinem Roman thematisiert, indem er Geographien, Namen, Wahlgesänge und Ereignisse aufgreift, z.B im Gesang des Wahlsongs der R.D.P.C. Paul Bliyas, in der Demonstration der Studenten 1991 oder im Tod des jungen Takou.11 Gleichzeitig zeigt Nzessé die vielfachen linguistischen Eigenheiten des Romans auf und erklärt manche der aus den Nationalsprachen oder dem Pidgin English übernommenen Phänomene.12 Der Hund als Erzähler findet dabei weder bei Nzessé noch bei Essohs Analyse der Sprachmischung Erwähnung.13 Mboudjak Leidensweg führt durch die hündische und menschliche Gesellschaft der achtziger und frühen neunziger Jahre in Kamerun. Während er zunächst als Haustier gehalten wird, das fürsorglich durch das Wohngebiet ausgeführt wird, bewirken die Finanzprobleme seines Herrn, Massa Yo, dass Mboudjak zunehmend auf sich gestellt ist. Im Laufe des Romans wechselt er derart zwischen einem Leben als abgesicherter Haus- und Kneipenhund und einem Dasein als herumstreunender Köter, der sich menschlichen „underdogs“ anschließt. Aufgrund seiner Zwischenstellung ist er in der hündischen wie menschlichen Gesellschaft gefährdet. Die von den Straßenkötern behauptete Freiheit erkennt er als Mythos, dem er den Status als Haustier vorzieht. Als Kneipenhund wird er zum intimen Beobachter der täglichen Kneipengänger und ihrer gescheiterten Träume. Erzählendes und erlebendes Ich, reflektiert Mboudjak über seine menschliche Umwelt, deren Humanität er in Frage stellt, nachdem der Sohn Massa Yos versucht hat, ihn zu erhängen. Sein Projekt, die Menschen zu beobachten, ergibt sich derart als Überlebensnotwendigkeit: „Quant à moi, je sais que pour survivre

11 Nzessé, Ladislas, „Temps de chien de Patrice Nganang ou la prise en charge des réalités camerounaises“, in: Ders./Dassi, M.: Le Cameroun au prisme de la littérature africaine à l’ère du pluralisme sociopolitique (1990-2006), Paris: L’Harmattan 2008, S. 61-79. Siehe besonders die Seiten 64, 67f., 69. 12 Ebd. S. 70-78. 13 Essoh, Christiane Félicité Ewané, „Subjectivité et créativité lexicale dans Temps de Chien de P. Nganang et Bouillons de vies de A.S. Bonono“, in: Le Cameroun (Anm. 11), S. 97-107.

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aux hommes, il faut savoir de quoi ils sont capables“ (43).14 Massa Yos Bar bietet sich dafür an. Der Beobachterblick ist dabei ein Blick von unten: „J’observe le monde par le bas. Ainsi, je saisis les hommes au moment même de leur séparation de la boue. De même, je saisis les moments d’anéantissement de leur humanité“ (54).15 Wenn der Hund derart auf seine menschliche Umwelt blickt, wird gerade deren Animalität sichtbar. Trotz seiner Annäherung an das Leben der Menschen besteht Mboudjak deswegen auf seiner Differenz: „Être pris pour un homme demeure cependant toujours l’insulte la plus terrible qu’on puisse me faire“ (56).16 Er setzt der Welt seine eigene Deutungshoheit entgegen: „C‘est moi, oui c’est moi seul qui interpréterai le monde autour de moi“ (48).17 Wie, so Julia Bodenburg, der Mensch auf das Tier blickt, um seine Identität in der Abgrenzung zu bestätigen,18 irritiert der Blick des Tieres diese Differenzierung für den Menschen – während der Hund selbst auf seiner Differenz besteht.19 So äußert eine in flagranti von Mboudjak erwischte Frau „Qui sait si ce n’est pas mon mari“ (55)20 und lässt sich von seinem Blick in ihrem Liebesspiel stören. Der fremde Blick Mboudjaks wird so semantisiert, bleibt aber bedrohlich, weil die Ir-

14 „Ich aber weiß: Wenn man unter den Menschen überleben will, muss man wissen, wozu sie fähig sind.“ Patrice Nganang, Hundezeiten. Roman, übers. v. Gudrun und Otto Honke, Wuppertal: Peter Hammer 2003, S. 33. 15 „Ich betrachte die Welt von unten her. Auf diese Weise erfasse ich die Menschen im selben Moment, in dem sie sich aus dem Schlamm erheben. Ebenso erfasse ich die Momente, in denen sie sich von ihrer Menschlichkeit verabschieden.“ Ebd. S. 41. 16 „Als ein Mensch angesehen zu werden, wird aber trotzdem immer die schlimmste Beleidigung bleiben, die man mir gegenüber äußern kann.“ Ebd. S. 43. 17 „Von nun an bin ich es, ja, ich allein, der die Welt um mich herum erklärt.“ Ebd. S. 37. 18 Vgl. Bodenburg, Julia, Tier und Mensch. Zur Disposition des Humanen und Animalischen in Literatur, Philosophie und Kultur um 2000, Freiburg: Rombach 2012, S. 221. Susan Mc Hugh kritisiert gerade diese Betrachtung des Animalischen als verdrängtes Menschliches. McHugh, Susan, „Literary Animal Agents“, in: PMLA 124.2 (2009), S. 487-495, S. 489. 19 „I often ask myself, just to see, who I am – and who I am (following) at the moment when, caught naked, in silence, by the gaze of an animal, for example the eyes of a cat, I have trouble, yes, a bad time overcoming my embarrassment.“ Derrida, Jacques, „The Animal that therefore I am (more to follow)“, in: Critical Inquiry 28.2. (Winter 2002), S. 369-418, S. 372. 20 Nganang, Hundezeiten (Anm. 14) „Wer weiß, ob es nicht mein Mann ist“, S. 43.

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ritation über das Erklärungsmodell des Trickster-Hundes abgewehrt wird und damit bleibt. Aus seiner Perspektive des „chercheur en sciences humaines“ (104) analysiert Mboudjak die Gesellschaft des Quartiers „Madagascar“. Seine Tätigkeit ist darin der des Schriftstellers, „l’homme en noir-noir“ (146) verwandt, der im ersten Teil auftritt. Autoreferentiell macht Nganang den Schriftsteller zum Autor eines Buches „Temps de chien“, das er den Barbesuchern zeigt. „Il dit qu’il avait essayé d’y écrire une histoire du présent, une histoire du quotidien, de saisir l’histoire se faisant, et de remettre la conduite de l’Histoire aux mains de ses véritables héros“ (149f.).21 Wie bei Verre Cassé führt es dazu, dass die Barbesucher versuchen, ihm ihre Geschichten zu erzählen – die Nganang allerdings, im Unterschied zu Verre Cassé, nicht zum Bestandteil des Buches macht. Stattdessen wird der Schriftsteller – der „Corbeau“ (146)/Rabe Opfer einer Verhaftung nach einigen regimekritischen Bemerkungen. Indem sie ihn als „Raben“ bezeichnen, benennen die Kneipengäste seine Kleidung sowie seine unheilverheißenden politischen Parolen. Dass er als Rabe nicht zu den Quartiers-Bewohnern gehört, beweist ihr Verhalten bei seiner Verhaftung. Allein Mboudjak protestiert gegen den polizeilichen Machtmissbrauch, indem er bellt und beißt, während die übrigen Besucher des Client-est-Roi tatenlos verharren, was er missbilligend registriert. Nganang zeigt mittels der Figur des Corbeau die angespannte Situation im Kamerun der seit 1982 andauernden Herrschaft Paul Bliyas anhand von Andeutungen, die er später im Roman in der Referenz auf die Demonstration von 1991 ausbaut. Als Chronist – der Untertitel lautet „chronique animale“ – dokumentiert Mboudjak die unscheinbaren Ereignisse. Seine „chronique animale“ ist nicht nur die Chronik eines tierischen Verfassers, sondern auch die Chronik inhumaner Verhaltensweisen der Menschen. Der fremde Blick auf den Menschen bringt gerade die menschlichen Verfehlungen ans Licht. Die Inhumanität des Menschen jedoch hängt direkt mit den politischen Umständen zusammen: „Je me rendrai compte à quel point la misère mange l’humanité des hommes“ (235),22 konstatiert Mboudjak. Erst als das Leiden der Bevölkerung unter der Herrschaft Bliyas

21 „Er sagte, dass er versucht habe, eine Geschichte der Gegenwart zu schreiben, eine Alltagsgeschichte, dass er versucht habe, die Geschichte des alltäglichen Lebens zu erfassen und den Gang der Geschichte in die Hände ihrer wirklichen Helden zurückzulegen.“ Ebd. S. 117. 22 „Immer würde ich daran denken, wie gierig das Elend die Menschlichkeit der Menschen auffrisst.“ Ebd. S. 186.

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derart zunimmt, dass es zu öffentlichem Protest kommt, bemerkt der Hund eine Rehumanisierung des Menschen: Debout devant la cour vide du Client-est-Roi, debout sur mes pattes avant, dressant haut mes oreilles, laissant pendre ma langue, haletant et écarquillant grand mes yeux, je voyais soudain repoindre dans la rue devant moi, renaître dans la rumeur famélique, dans la rumeur coléreuse de ce mortifié Madagascar : l’homme. […] Je m’arrachais à ma réclusion ; je marchais avec lui : devant lui. Unis nous étions, l’homme et moi, dans la précipitation saccadée du langage nôtre : dans nos aboiements. (366)23

Zeigt derart der erste Teil des Romans die Trägheit einer Bevölkerung auf dem Rückzug, deren Tagesgeschäft sich im Barbesuch erschöpft, beobachtet Mboujdak auf seinen Wanderungen durch andere Stadtteile Yaoundés, wie das Elend und die Gereiztheit der Bevölkerung zunehmen. Er begegnet ersten Anzeichen des Widerstands, bis er anlässlich des Todes eines Kindes, Takou, Teil der Demonstranten wird. Auf seiner Wanderung stößt Mboudjak auf den Kadaver des dreibeinigen Hundes, der einst das Zusammenleben mit Menschen als Sklaverei bezeichnete. Nun verrottet er auf der Straße. J’écarquillai mes yeux quand je vis les trois pattes du cadavre se lever au ciel. Je dressai mes oreilles, horrifié. Et soudain je fus habité par le chant lointain de liberté de ce chien communiste de Madagascar. J’arrondis mon dos terrifié et je me jetai sur la route, secoué par la nausée. (238)24

23 „Ich stand auf dem verwaisten Hof des ‚König Kunde‘, auf meine Vorderpfoten gestützt, die Ohren gespitzt und mit hängender Zunge, hechelnd, und ich riss die Augen weit auf. Denn plötzlich sah ich vor mir auf der Straße etwas wieder auftauchen: den Menschen, wiedergeboren im hungrigen Murren, im wütenden Murren des gedemütigten Madagascars. […] Ich nahm Abschied von meinem Refugium, ich marschierte mit ihm, vor ihm. Wir waren vereint, der Mensch und ich, vereint im Stakkato unserer Sprache: in unserem Gebell.“ Ebd. S. 288. 24 „Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich sah, dass es ein Kadaver mit drei Beinen war, die in den Himmel zeigten. Vor lauter Entsetzen stellten sich meine Ohren hoch. Und in mir erklang mit einem Mal der längst vergessene Freiheitsgesang des kommunistischen Hundes von Madagascar. Mein Rücken wurde starr vor Schreck, ich krümmte mich und machte einen Satz mitten auf die Straße. Ekel würgte mich.“ Ebd. S. 187f.

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Während die Menschen achtlos an dem Hundekadaver vorbeigehen, reagiert Mboujak körperlich auf den Anblick. Er erweist schließlich dem Hund seine Reverenz, indem er noch einmal von dem Toten Abschied nimmt – wird dann aber von Straßenjungs mit Steinen beschossen. Der tote Hund ist für die Anwohner nichts mehr als ein Gegenstand. Ihre eigene Bestialität verschieben sie auf den Hund, „les chiens sont sauvages!“ (240), rufen sie aus.25 Temps de chien ist Nganangs Bestandsaufnahme der Situation Yaoundés Ende der achtziger Jahre. Anstelle eines auktorialen Erzählers oder eines menschlichen Ich-Erzählers wählt er mit dem hündischen Ich-Erzähler Mboudjak eine Figur, die sich in der Gesellschaft der Menschen bewegt und ihr doch fremd ist. Sein eigener Niedergang, der sich in der Wanderung durch die Stadtteile Yaoundés ausdrückt, setzt ihn der zunehmenden Verelendung und sozialen Spannung unter den Menschen aus, die sich schließlich im Widerstand entlädt. Als Hund kann sich Mboudjak hinbewegen, wo er möchte, und den Gesprächen lauschen, die ihn interessieren. Die Gespräche der Menschen sind ihm verständlich – „J’ai appris leur langage et je flirte avec leurs modes de pensée“ (13)26 und deswegen kann er zum Chronisten werden. Gleichzeitig fällt ihm auf, was die Menschen nicht sehen – der Kadaver des dreibeinigen Hundes, der auf der Straße verrottet – und was die Menschen nicht wahrhaben möchten – ihre eigene Trägheit angesichts der politischen und ökonomischen Situation. Statt den politisch wachsamen Außenseiter ins Zentrum zu stellen, wie Nganang das im intradiegtisch erwähnten gleichlautenden Roman „Temps de chien“ macht, dessen Verfasser der Corbeau ist, wählt er für seinen Roman den Hund, der eben nicht verbal mit seiner Umgebung interagieren muss. In der Misshandlung des Hundes zeigt sich die durch die Situation hervorgebrachte Bestialität des Menschen, ohne dass die Situation das menschliche Verhalten rechtfertigt.

25 Das literarische Gegenbild dazu ist die vielbesprochene Szene in Coetzees Disgrace, in der David Lurie die Hunde selbst auf das Laufband des Krematoriums legt. „Why has he taken on this job? […] For himself, then. For his idea of the world, a world in which men do not use shovels to beat corpses into a more convenient shape for processing.“ Coetzee, J.M., Disgrace, London: Vintage 2000, S. 145f. DeKoven schreibt dazu: „Coetzee’s thematic emphasis in this sequence falls on the practical valuelessness, the gratuitousness, and therefore the ethical force of Lurie’s self-imposed preservation of the dead dog’s honor.” DeKoven, Marianne, Guest Column: „Why Animals Now?“, in: PMLA 124.2. (2009), S. 361-369, S. 365. 26 „Ich habe ihre Ausdrucksweise erlernt, und ich kokettiere mit ihrer Art zu denken.“ Nganang, Hundezeiten (Anm. 14), S. 9.

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Nganangs Interesse ist nicht primär tierethisch oder kognitiv. Sein Erzähler hat deutlich anthropomorphe Züge und sein Zuhörer/Leser müsste ein Mensch sein, kein Baobab. Seine Kritik am Menschen übt er gleichwohl: „’Chien’ était alors une de ces innombrables choses humaines qui m’étranglaient, me décapitaient, m’éventraient, m’édentaient, m’embouaient, me tuaient, m’enterraient. C’est qu’il me signifiait l’arrogance qu’ont les hommes de nommer le monde, de donner une place aux choses autour d’eux, et de leur intimer l’ordre de se taire“ (14).27 In dieser Auflistung zu Anfang des Romans benennt Mboudjak die für die anderen Arten tödliche Hybris des Menschen, der meint, ihnen einen Platz zuweisen zu können. Die Auflistung von Verben der Gewalt stellt die in Anspruch genommene Benennungshoheit des Menschen in eine Reihe mit der körperlichen Gewalt, die Tieren gegenüber ausgeübt wird. Wenngleich der Roman eine Chronik Yaoundés und nicht primär eine Chronik tierischer Misshandlung ist, dokumentiert Mboudjak darin auch die zahlreichen kleinen und großen Misshandlungen, die er erlebt – angefangen vom Versuch des Familiensohnes, ihn zu erhängen, über die zahlreichen nach ihm geworfenen Steine bis hin zur Drohung des Flaschensammlers, ihn zu essen, oder zu seiner zeitweisen Ankettung im Hof der Bar. Dazu kommen die vielen Verbalinjurien, die ihm nachgeschleudert werden. Nur als Besitz, als Attribut seines Herrn Massa Yo, hat er die Chance, Rang und Schutz zu bekommen. Dafür zählt aber nicht, was er tut, sondern dass er als Statussymbol schlicht da ist. So kann Nganangs Roman nicht nur als politische Kritik, sondern auch als Appell an ein menschliches Verhalten gelesen werden, das das Tier respektiert: „Die Chance für eine Hoffnung der Tiere liegt daher in einer diesseitigen politischen Utopie, die die Menschenwürde bejaht, aber zugleich einem ‚expandierenden Humanismus‘ (Ingensiep) voranstellt, der nicht nur Menschen, sondern ‚auch die Tiere‘ (Art. 20 a Grundgesetz) seriös in das Rechtssystem einbezieht.“28 Sami Tchaks Roman Place des Fêtes erschien im selben Jahr wie Temps de chien. Im Unterschied zu den besprochenen Romanen treten Tiere bei Tchak lediglich als Metaphern auf. Davon jedoch gibt es so zahlreiche, dass sich eine Analyse im Rahmen der Human-Animal-Studies lohnt.

27 „Damals lernte ich zahllose Eigenarten der Menschen kennen, die mich würgten, aufwühlten, kopflos machten, die mir die Kehle zuschnürten, die Zähne ausfallen ließen, mich töteten und unter die Erde brachten. ‚Hund‘ war eine dieser Eigenarten. Das Wort galt mir als sprechendes Beispiel für die Arroganz, welche die Menschen an den Tag legen, wenn sie der Welt Namen geben, wenn sie den Dingen, die um sie herum sind, einen Platz zuweisen und ihnen zu schweigen befehlen.“ Ebd. S. 9f. 28 Ingensiep, Hans Werner/Baranzke, Heike, Das Tier, Stuttgart: Reclam 2008, S. 131.

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Der eponoyme Place des Fêtes benennt eine U-Bahn-Station in Paris. Paris und die Banlieue sind Handlungsort des Romans, dessen Protagonist und IchErzähler aus einer Familie afrikanischer Einwanderer stammt. Sein Vater träumt den unerfüllbaren Traum der Rückkehr, seine Schwestern arbeiten als Prostituierte in Amsterdam, die Mutter war vor ihrer Heirat ebenfalls Prostituierte und hat noch heute zahlreiche Liebhaber. Der namenlose Ich-Erzähler, ein arbeitsloser Geisteswissenschaftler, lebt davon, seine Cousine und seine Nichte anschaffen zu lassen. Der durchaus pornographische Züge enthaltende Roman ist in 72 Kapitel gegliedert, die alle mit einem gleichlautenden Fluch beginnen: „Putain de“. Tchaks Roman legt den Fokus jedoch nicht auf die Handlungsebene. Hier stehen sexuelle Handlungen im Vordergrund, sie erstrecken sich vom Rückblick auf die ersten Entdeckungen der Jugend bis zur schließlichen Etablierung als Familienvater am Ende des Romans. Diesen Handlungen gegenüber stehen rassistische und nostalgische Afrika-Diskurse, die Tchak kunstvoll gegeneinander ausspielt. So distanziert der Erzähler sich von der Afrika-Nostalgie des Vaters, entlarvt aber auch den in Frankreich herrschenden Rassismus. Und auch der Handlungsfokus auf Sexualität macht gerade die stereotyp von weißer Seite zugeschriebene Hypervirilität und Hitze zum ostentativen Zentrum.29 Die Darstellung der Banlieue 2001 steht im Kontext einer Tendenz, dem Schweigen über die nationale Heterogenität die Artikulation einer solchen entgegenzusetzen.30 Der ausgeübte, doch nicht diskutierte Rassismus der französischen Gesellschaft kommt zur Sprache, indem Tchak die Sprachmuster aufgreift und verkehrt. Hierfür verwendet er eine Strategie, die Neel Ahuja als „animal mask“ bezeichnet und welche auf die „animalization, the organized subjection of racialized groups through animal figures“ reagiert:

29 Schüller stellt die These auf, es gehe in Place des Fêtes um „die Inszenierung einer neuen Situation, der Akzeptanz der Jetztzeit und der Dekonstruktion der Vergangenheit“ (S. 135). Angesichts der beißenden Kritik, die Tchak an der französischen Gesellschaft übt, handelt es sich zwar um die Demontage nostalgischer Afrika-Bilder, nicht aber um „Akzeptanz der Jetztzeit“. Schüller, Thorsten, „Wo ist Afrika?“ Paratopische Ästhetik in der zeitgenössischen Romanliteratur des frankophonen Schwarzafrika, Frankfurt/M.: IKO – Verlag für interkulturelle Kommunikation 2008. 30 Vgl. Thomas, Dominic, Africa and France. Postcolonial Cultures, Migration, and Racism, Bloomington: Indiana University Press 2013. Zur französischen Immigrationspolitik siehe besonders Kapitel 3, „Sarkozy’s Law: National Identity and the Institutionalization of Xenophobia“.

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In our supposedly postracial moment, an ironic stance provisionally embracing animality is actually a common strategy for disentangling race and species in this context. I call this strategy, which appropriates the rhetoric of animalization to reveal its ongoing racial, neocolonial, or ecological legacies, the animal mask.31

Während die Tiermetapher zum kolonialen Diskurs gehört,32 setzt der IchErzähler sie exzessiv ein, um seine Eltern oder andere afrikanische Migranten zu bezeichnen. Wie die Gnus sollten die Eltern in ihre Heimat zurückkehren (vgl. 23), und die Art, zu telefonieren, bezeichnet er als Affengeschrei, „cris de singe“ (27). Die pejorative Affenmetapher wird hier aus dem kolonialen Diskurs aufgenommen und für die eigene Gruppe verwendet.33 Dass sich Telefonate wie Affengeschrei anhören, führt er als ein Argument an, warum Afrikaner in Frankreich keine Wohnung bekommen. Eingebettet ist diese Aussage in eine Passage, die alle Argumente auflistet, die gegen die Vermietung an Afrikaner ins Feld geführt werden – aber in der Verfremdung eines schwarzen Sprecher-Subjekts. Tchak zeigt bei seinen Metaphern eine Vorliebe für aus nördlicher Perspektive exotische Tierarten. Er knüpft seinen Metaphernteppich kunstvoll, so wenn er schreibt: Alors, tous les jours, il hurle comme un putois en disant que si moi son fils, en six mois, je n’ai pas de situation, c’est à cause du racisme. Et le racisme, il le voit un peu comme un crocodile du Nil, la gueule ouverte sur des puissantes dents qui n’épargnent aucune peau mal placée. (24)34

31 Beide Zitate Ahuja, Neel, „Postcolonial Critique in a Multispecies World“, in: PMLA 124.2 (2009), S. 556-563, S. 557, 558. 32 „Animal categorisations and the use of derogatory animal metaphors have been and are characteristic of human languages, often in association with racism and sexism […].“ Huggan, Graham/Tiffin, Helen, Postcolonial Ecocriticism. Literature, Animals, Environment, London: Routledge 2010, S. 135. 33 So schreibt Nazi Boni von der „vigilante susceptibilité et la révolte du Noir quant aux récits burlesques qui l’assimilaient à la descendance du singe et prétendaient que sa vie sentimentale n’excédait pas le cadre de l’acte charnel.“ Boni, Nazi, Crépuscule des temps anciens, 1962, Paris/Dakar: Présence Africaine o.D., S. 16. 34 „Jeden Tag lautstarker Protest: Wenn ich, sein Sohn, nicht innerhalb von sechs Monaten eine Arbeit gefunden hätte, dann nur wegen dieses Scheißrassismus! Der Rassismus ist für ihn eine Art Nilkrokodil mit aufgerissenem Rachen und gewaltigen Zähnen, die kein deplatziertes Stückchen Haut verschonen.“ Sami Tchak, Scheiß Leben, Übers. von Uta Goridis und Nicole Gabriel, Frankfurt/M.: Zebu 2004, S. 22.

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Tchak verwendet hier die Redewendung „comme un putois“, um den lautstarken Protest zu benennen, in dem aber der Iltis als stinkendes und schreiendes Tier enthalten ist, was das Motiv des pupsenden/übelriechenden Vaters aufgreift. Für diesen Vater ist der Rassismus ein Krokodil mit geöffnetem Rachen, das der Erzähler schließlich mit einem Haustier vergleicht, das seine Wohnung belegt (25). Über die Figur des Vaters verhandelt Tchak die Heimat-Nostalgie der in Frankreich Gestrandeten. Angesichts seiner miserablen Lage glorifiziert der Vater seine Heimat, ohne in sie, als erfolgloser Migrant, zurückkehren zu können. Um dessen Lage zunächst pointiert darzustellen, wählt der Erzähler das Exemplum des verirrten Gnous: „Mais, du troupeau de gnous qui claquent leurs sabots sur les joues de la terre, certains font quand même fausse route en chemin, à l’aller comme au retour“ (11).35 Im Anschluss stellt er die Absicht des Vaters vor, als Leichnam rücküberführt zu werden, und vergleicht ihn mit einer Ratte, die sich in ihr Loch zurückzieht, um zu sterben (14). Allein auf den sieben Seiten des Kapitels „Putain de nés là-bas“ finden sich derart Verweise auf Elefanten und Gnus, Maultier, Hund, Ratte, Wal, Lachs und Boa, wobei die letztgenannten alle Figurationen des Todes sind und in Variationen die Situation des Vaters beleuchten. Seine Weigerung, im Sinne des Vaters in die sogenannte Heimat zurückzukehren, gestaltet der Ich-Erzähler über das Bild des Hundes. C’est une vie de chien qu’ils mènent, une vie que le destin tient en laisse avec une chaîne d’acier, une vie qui aboie et qui laisse des crottes partout, une vie enragée, une vie aux dents jaunes, une vie qui bouffe du caca, mange les os, mange de la charogne comme les vautours, une vie-chien, voilà. (19)36

Aus dem « vie de chien » wird das « vie-chien », das dem Menschen eigene Hundeleben, das zwischen literalem und metaphorischem Sinn changiert. Indem es aber „là-bas“ ist, wo dieses Hundeleben regiert, ist die Pejorisierung des Ko-

35 „Aber in der Herde von Gnous, die mit ihren Hufen über die Wangen der Erde klappern, gibt es immer welche, die sowohl auf dem Hin- wie auf dem Rückweg einen falschen Kurs einschlagen.“ Ebd. 8f. 36 „Sie führen ein Hundeleben, ein Leben, das bellt und überall Scheiße hinterlässt, ein tollwütiges Leben mit gelben Reißzähnen, ein Leben, das Scheiße frisst, das Knochen frisst, das Aas frisst wie die Geier, kurz: das Leben eines Hundes.“ Ebd. S. 17.

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lonisierten im Bild des Hundes aufbewahrt. Dass die Menschen wie Hunde leben, ist nicht Folge der Natur, sondern der Kolonisierung.37 Das Bild des Hundes ist unter den zahlreichen verwendeten Tierbildern das häufigste. Es tritt auf als Vergleich, der mit dem Hund wie auch mit den Hundekegeln vollzogen wird. So bezeichnet der Erzähler die Prostituierten als „chiennes savantes“ (269), die Sexualität akzentuierend, meint aber auch, sein Vater sei „tout seul comme un chien errant“ (286) gestorben, weil man ihn eben nach seiner Rückkehr in die Heimat wie Hundekot behandelt habe (285). Der Erzähler verwendet dieses Bild auch, wenn er über seine Hautfarbe und seinen Namen reflektiert, die seine „tendance ethnique“ verraten – was wiederum zu Schwierigkeiten bei der Jobsuche führt: Donc, tu as sur le dos ta peau et tu as, comme une crotte de chien, sur tes papiers les noms qu’ils se sont permis de se donner là-bas, mes parents, les machins, n’importe quoi ! […] Déjà même si tu as un blaze qui ne fait pas trop tendance, tu iras à l’entretien et là, ta couleur, ça fait marrer les oiseaux. (179f.)38

Wenngleich Tchaks Erzähler so zu Anfang des Romans die Rassismus-Vorwürfe des Vaters zu entkräften scheint (vgl. 23ff.), ist dies als uneigentliche, ironische Rede erkennbar, auch weil sich der Erzähler in den Kapiteln „Putain de Paris !“ und „Putain de banlieue !“ mit den alltäglichen Diskriminierungen auseinandersetzt. Gegenstand seiner Überlegungen sind daneben die Lebenssituation in der Banlieue, die Reaktion der Front National, die Thematik illegaler Einwanderer. Die provokanten Aussagen dieser Kapitel greifen die gegen die legalen und illegalen Einwanderer gerichteten Parolen der Front National auf, die direkt genannt wird im Kapitel „Putain de Front National!“ und deren Programm der „préférence nationale“ (44) der Erzähler im Kapitel „Putain de Préférence !“ diskutiert. In Letztgenanntem meint er, sein Vater hätte als Eisbär zur Welt kommen sollen:

37 In Coetzees Disgrace ist zunächst der Schwarze Petrus der „dog-man“, weil er sich um die Hunde Lucies kümmert, darin schwingt aber die erlittene Erniedrigung mit. Coetzee, Disgrace (Anm. 25), S. 64. David Luries Verzicht auf utilitaristische Erwägungen lässt ihn schließlich die Aufgabe des „dog-man“ freiwillig übernehmen. 38 „Zum einen ist es also die Hautfarbe, zum anderen sind es die Namen, die sie sich da unten verpasst haben, meine Eltern, diese Soundso und Soundso. […] Und selbst wenn der Name nicht so eindeutig ist, man braucht sich nur irgendwo vorzustellen, und schon lässt unsere Hautfarbe die Hühner gackern.“ Tchak, Scheiß Leben (Anm. 34), S. 183.

182 | A NNETTE BÜHLER -D IETRICH „Je dis que papa aurait été heureux s’il avait pu devenir un ours blanc parce que cela lui aurait permis de vivre sans toujours se battre contre l‘idée que la merde partout, c’est les Blancs“ (44).39

Die Rede von Tchaks Erzähler entzieht sich dabei jeder sicheren Position. Während er die Parolen der Front National ausstellt – „Moi, je suis de la France, je suis un d‘abord par rapport à eux [les Noirs nés là-bas]“ (45)- darin Jean-Marie Le Pens Buchtitel Les Français d’abord (1984) aufgreifend, benennt er gleichzeitig die Ausschließungspraktiken afrikanischer Länder und entwertet darin die vom Vater vollzogene Polarisierung zwischen Frankreich und „la-bàs“. Der IchErzähler ergreift so gerade nicht Partei, sondern dekonstruiert überkommene Oppositionen. Dass sich die Rede dabei besonders am Verhalten des Vaters entzündet, läuft gerade der in den afrikanischen Gesellschaften gängigen Forderung nach Respekt gegenüber den Alten entgegen: Des vieux sages, comme s’il suffisait d’être vieux pour cesser d‘être un imbécile, un menteur, un lâche, un con, un barjo, un idiot ! […] Eux, ils ne peuvent que palabrer sous leurs arbres au moment où leurs singes jappent dans les arbres. (283) 40

Sein Zorn entlädt sich darüber, dass gerade eine scheinbare Weisheit hochgehalten wird, die die Schwachen der Gesellschaft angreift, indem z.B. der Grund einer Krankheit in Hexerei statt in natürlichen Ursachen gesucht wird. In seiner Nostalgie verkennt der Vater, dass ihm sein Denken in Oppositionen nicht weiterhilft. Dieser Willen, sich nicht einordnen zu lassen, der dem Erzähler, aber auch dem narrativen Diskurs Tchaks zuzuschreiben ist, zeigt sich auch in der Konzeption des gesamten Romans. Während etwa die Hälfte des Buches eine Auseinandersetzung mit politischen Positionen der Immigranten einerseits, der Rechten Frankreichs andererseits darstellt, befassen sich die anderen Kapitel mit den amourösen Praktiken des Erzählers und brechen darin die Tabus Homosexualität und Inzest. Ostentativ wird Lust gelebt und übertrifft in der Hyperbel die stereo-

39 „Ich behaupte also, Papa wäre glücklich gewesen, wenn er sich in einen weißen Bären hätte verwandeln können, dann hätte er sich nicht sein ganzes Leben mit der Vorstellung herumschlagen müssen, dass die Weißen an allem schuld sind.“ Ebd. S. 42. 40 „Die Weisheit des Alters, als würde man mit dem Alter aufhören, ein Arschloch, ein Lügner, ein Feigling, ein Blödmann, ein krummer Hund, ein Schwachkopf zu sein! […] Sie können nur unter ihren Bäumen sitzen und endlos palavern, während ihre Affen in den Baumkronen japsen.“ Ebd. S. 289.

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typen Vorstellungen weiblicher und männlicher afrikanischer Sexualität. Dass die diskriminierende Animalisierung besonders über die Sexualität stattfindet, wird in dieser Hyperbel ironisch ausgestellt, die lustvoll die „hündische“ Potenz in Szene setzt.41 Tchak wählt für seine politische Abrechnung mit der französischen NichtIntegrationspolitik den leichten Plauderton mit zahlreichen umgangssprachlichen Wendungen. Sein Erzähler wendet sich direkt an den Leser; die Gliederung in einzelne Verfluchungen erlaubt den Fokus auf spezifische Momente des Daseins der Figur. Tchak setzt die Tiermetaphern besonders in den reflexiven Passagen ein, in denen er sich mit Stereotypen auseinandersetzt. Über sie werden unerfüllbare Wünsche – der Vater als Eisbär – oder die Dimension der Abjektion und Ausschließung dargestellt – der eigene Name als Hundekot auf dem Pass. Dass diese Situation zornig macht, zeigt eben die Einteilung in Flüche. Der letzte Tiervergleich erscheint schließlich im vorletzten Kapitel. Hier schreibt er über Immigranten wie seine Eltern: „Ils pleurent parce qu’il manque à leur cœur les odeurs de leur enfance, l‘arôme de leurs rêves. Ils souffrent comme des bêtes malades et ne disent pas toujours qu’ils souffrent […]“ (291).42 Doch diese zuletzt mit dem Schicksal der Elterngeneration mitfühlende Passage zitiert einen aus der Popmusik bekannten Stereotyp, den Tchak offen legt: Sein Erzähler verweist explizit auf Laams Song „Chanter pour ceux qui sont loin de chez eux“ (1998) – dessen Videoclip im multikulturellen New York spielt, wo die Situation der Migration zur conditio humana geworden ist. Insofern Tchak das Wortfeld Tier konsequent über den Roman hin verwendet, nähert er Immigranten und Tiere einander an. In dieser überdeutlichen Verwendung der Tiermetaphorik alludiert Tchak die Gattung der „Contes“, die er

41 Papa Samba Diop nennt Tchak als Vertreter einer neuen Generation von Schriftstellern, die sich gerade von den moralischen Vorgaben der Nationalliteratur löst: „ Such concerns [for a new, universal poetics, A.B.-D.] have made way for approaches ranging from the absurd to the obscene, approaches that emphasize how comfortable the writer is with himself, as far away as he is from his native land and its moral straitjackets. Sami Tchak is central here.“ Diop, Papa Samba, „The Francophone SubSaharan African Novel: What World Are We In?“, übers. v. Donald NicholsohnSmith, in: Yale French Studies 120 (2011): Francophone Sub-Saharan African Literature in Global Contexts, hg. Mabanckou Alain/Thomas, Dominic, S. 10-22, S. 18. 42 „Sie weinen, weil ihr Herz sich nach den Gerüchen ihrer Kindheit, dem Aroma ihrer Träume sehnt. Sie leiden wie kranke Tiere und geben niemals zu, dass sie leiden, denn das hieße, sich vor anderen zu entblößen, die dann nur Tränen des Mitleids vergießen würden.“ Tchak, Scheiß Leben (Anm. 34), S. 300.

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überdies über die inszenierte Oralität aufruft: „Mais, est-ce que je vous ai dit que mes parents sont nés là-bas et que moi je suis né ici?“ (9), beginnt der Roman.43 Doch zwischen die inszenierte Simplizität und Vulgarität schiebt sich die erwähnte Verkehrung nostalgischer und rassistischer Diskurse. Darin legt er auch die herabsetzende Funktion des nördlichen Interesses für traditionelle Erzählungen offen: „Il n’est pas possible de séparer la fortune des contes d’animaux de la représentation qu’il faut bien appeler raciste de l’Afrique dans la mentalité européenne.“44 Indem ein schwarzes Sprechersubjekt diese Tiervergleiche verwendet, schafft diese Rede neue Allianzen. Der Vergleich des Vaters mit dem afrikanischen Herdentier Gnu weist exakt auf das Leiden an der Isolation voraus, sobald die Herde, hier die ursprüngliche dörfliche Gemeinschaft, verlassen wird. Das Bild des Vaters als Eisbären stellt dagegen die Paradoxie seiner Situation heraus: Weil er kein Eisbär, also nicht weiß sein kann, schimpft er über seine Lage, doch er könnte, als Abkömmling einer heißen Klimazone, eben auch nicht wie/als dieses Tier leben. Der Wunsch ist absurd, doch die Absurdität wird durch die politische Realität hervorgebracht, in der der schwarze Immigrant nur als weißer akzeptiert würde. Da dies aufgrund der Hautfarbe unmöglich ist, bleibt der Aufenthalt in Frankreich auch für den Erzähler lediglich das geringere Übel (vgl. 290). Wenn Mabanckou und Nganang in ihren in der Diaspora geschriebenen Romanen den verfremdenden Tierblick auf die heimische Gesellschaft werfen, stärken sie stellvertretend eine Außenseiterposition, die ihnen in gewissem Maße selbst zuteil wird: „Cette tentative de ramener les animaux vers le centre rejoint les préoccupations des auteurs postcoloniaux et féministes de transformer diverses victimes (colonisés et femmes surtout) en sujets.“45 Tchak vollzieht dieselbe Bewegung, indem er die Wahrnehmung des Immigranten als Tier ausstellt und darin selbst bewusst vom Rand her spricht.

43 „Habe ich Ihnen eigentlich gesagt, dass meine Eltern dort unten geboren wurden und ich hier?“ Ebd. S. 5. 44 Ricard, zit. nach Moura, Jean-Marc, Littératures francophones et théorie postcoloniale, Paris: Presses Universitaires de France, 1999, S. 94: „Man kann den Erfolg der Tiererzählungen nicht von der gut und gern rassistisch zu nennenden Darstellung Afrikas in der europäischen Mentalität trennen.“ 45 Assah, Le monde vu par les animaux (Anm. 1), S. 41: Dieser Versuch, die Tiere ins Zentrum zurückzubringen trifft sich mit dem Anliegen postkolonialer und feministischer Autoren, verschiedene Opfer (vor allem Kolonisierte und Frauen) zu Subjekten zu machen.

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In dem 2007 erschienenen Manifest „Pour une ‚littérature monde‘ en français“ und der darauf folgenden Essay-Publikation hinterfragen frankophone Schriftsteller die Funktionsweise des frankophonen Literatursystems.46 In seinem darin enthaltenen Aufsatz „Ecrivains en position d’entraver“ schreibt Abdourahman Waberi über die Situation des frankophonen Schriftstellers und seine Kritiker 2006: „Plus d’un écrivain dit francophone est déjà parti, au moins une fois, rencontrer la presse française comme d’autres vont à l’abattoir, redoutant la question qui coupe net tout élan : Pourquoi écrivez-vous en français ?“47 Die Begegnung mit der Presse als Gang zum Schlachthaus und der Todesstoß die Frage nach der Wahl der Schriftsprache. Der Schriftsteller positioniert sich in diesem Vergleich selbst an den Ort des Tieres. Darin stellt er eine Zuschreibung aus, die er, das Bildfeld wieder aufnehmend, später benennt: „Sensualité, chaleur, sexualité (ou bestialité) d’une part; guerres, chaos, aporie d’autre part, voilà le térritoire balisé pour l’écrivain de l’hémispère Sud, qui a tout intérêt à s’y cramponner.“48 In einem von Bildern und Zuschreibungen gesättigten Feld als frankophoner Schriftsteller in Frankreich aufzutreten, bedarf einer Strategie, wie man mit diesen Zu-Schreibungen umgeht, zumal wenn man über Afrika schreibt. Ein dominanter Afrika-Topos ist der des Ortes der Wildheit von Mensch und Tier. Die Metapher des Schlachthauses konnotiert jedoch Folgendes: Zum Schlachthof führt man Nutztiere, keine Wildtiere. Sie werden für diesen Moment aufgezogen und gefüttert. Dies gilt, in gewisser Weise, auch für den frankophonen Schriftsteller, der in der Amtssprache Französisch alphabetisiert und gebildet wird – um dann eben in seiner Differenz die Identität des Anderen zu bestätigen. Die Selbstbestätigung des Nordens gegenüber dem afrikanischen Schriftsteller verläuft aber über die von Waberi genannten Zuschreibungen. Eben sie nehmen die hier diskutierten Schriftsteller ostentativ auf. Die Oberfläche selbst wird darin opak. Wenngleich Kritik an den sozialen Zuständen geübt wird, findet sich diese nicht latent, sondern wird offen ausgesprochen – von einem tierischen Ich

46 „Pour une ‚littérature-monde‘ en français“, in: Le monde, 16.03.2007. 47 Waberi, Abdourahman A., „Ecrivains en position d’entraver“, in: Le Bris, Michel/ Rouaud, Jean (Hg.), Pour une littérature-monde, Paris: Gallimard 2007, S. 67-75, S. 67: „Mehr als ein sogenannter frankophoner Autor ist schon wenigstens einmal zu einem Interview mit der französischen Presse gegangen wie andere zum Schlachthof gehen, die Frage fürchtend, die jeden Elan bremst: Warum schreiben Sie auf Französisch?“ 48 Waberi, ebd. S. 70: „Sinnlichkeit, Hitze, Sexualität (oder Bestialität) einerseits; Kriege, Chaos, Aporie andererseits; so sieht das für den Schriftsteller des Süden ausgewiesene Terrain aus, der gut daran täte, sich daran festzuklammern.“

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oder von einem Ich-Erzähler bei Tchak, der gerade „sexualité (ou bestialité)“ ausstellt. In Coetzees Roman Elizabeth Costello beginnt die eponyme australische Autorin ihren Vortrag an einer amerikanischen Universität über Tiere mit der Bemerkung, sie fühle sich wie Kafkas Affe Rotpeter in „Bericht für eine Akademie“. Nach einigen Zwischenbemerkungen insistiert sie: „I want to say at the outset that that was not how my remark – the remark that I feel like Red Peter – was intended. I did not intend it ironically. It means what it says. I say what I mean. I am an old woman. I do not have the time any longer to say things I do not mean.“49 Costello insistiert auf ihrem eigentlichen Sprechen und begründet es mit ihrem Alter. Sie sagt, was sie meint, und für Costello heißt das, dass sie schon zu Anfang des Vortrags suggeriert, was sie später ausführt: sie kann sich in diesen zivilisierten Affen Rotpeter einfühlen und sie kann das, weil sie, wie die Tiere, eine verkörperte Seele, „an embodied soul“ ist.50 René Maran, Antillaner im administrativen französischen Dienst in Afrika, veröffentlichte 1921 den Roman Batouala. Das Werk unterscheidet sich von den kolonialen Romanen weißer Schriftsteller der Zeit und bekam dennoch den Prix Goncourt 1921. In diesem Roman heißt es: „Nous ne sommes que des bêtes de portage. Des bêtes ? Même pas. Un chien ? […] Nous sommes, pour eux, moins que ces animaux, nous sommes plus bas que les plus bas. Ils nous crèvent lentement.“51 Wenn Waberi an den Anfang seiner Ausführungen über „Ecrivains en position d’entraver“ das Bild des Schlachthauses stellt, so ruft er mit diesem Vergleich die Erinnerung an die Misshandlung und Herabwürdigung der Kolonisierten auf. Dass dies in einem Sammelband zum Thema Pour une littérature monde geschieht, an dem auch u.a. Alain Mabanckou mitwirkt, weist auf die komplexe Sprecherposition des afrikanischen, Französisch schreibenden Schriftstellers hin. Die Wahl der Bestialität stellt in der „animal mask“ die Zuschreibungen aus. Doch diese Maske ist eben mehr als eine Metapher. „Nous sommes moins que ces animaux“ heißt auch, dass die Erfahrung der Kolonialzeit ins kulturelle Gedächtnis eingeprägt ist. Der Gang zum Schlachthaus wirkt so als Metapher, in

49 Coetzee, J. M., Elizabeth Costello, New York: Viking 2003, S. 62. 50 Ebd. S. 78. 51 Maran, René, Batouala. Véritable roman nègre (1921), Paris: Albin Michel 2007, S. 98: „Wir sind nichts als Lasttiere. Tiere? Nicht einmal das. Ein Hund? […] Wir sind weniger als diese Tiere, wir sind niedriger als die Niedrigsten. Sie richten uns langsam zugrunde.“

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die das eigentliche Sprechen eingeschrieben bleibt.52 In dieser Verortung bleibt der afrikanische Schriftsteller eine Trickster-Figur, deren Macht darin besteht, die Gestalt zu wechseln.

52 Tom Tykwers und Lana und Andy Wachowskis Film Cloud Atlas (2012) bietet eine unheimliche Variante dieses Themas. In der Gesellschaft der Zukunft werden menschliche Klone zunächst als Arbeitskräfte eingesetzt und dann geschlachtet, um die Fleischversorgung der Gesellschaft sicher zu stellen. Im Film wird dies über das Bild zahlreicher an Haken hängender nackter Körper im Schlachthaus dargestellt und durch die Protagonisten kommentiert.

An der Schwelle zum irdischen Paradies. Der Hund als Gestalt gewordene Verheißung im Spätwerk von Monika Maron D OROTHEE R ÖMHILD

Manchmal glaubte sie, es läge in ihrem Wesen ein Mangel, der sie hinderte, Glück oder Freude ebenso stark zu empfinden wie Schmerz. Aber war es nicht ein Mangel, den sie mit fast allen Menschen, die sie kannte, teilte, ein Mangel also in der menschlichen Natur oder in der Art zu leben, wie sie üblich war. Oder was hatte es mit dem Glück auf sich, daß es als Existenzbeweis nicht taugte. (MONIKA MARON, DAS MISSVERSTÄNDNIS)1 Ich bin ich, weil mein kleiner Hund mich kennt (GERTRUDE STEIN) Nach einiger Erfahrung mit Hunden halte ich es für möglich, daß wir von Tieren so viel lernen können wie sie von uns. (MARTIN WALSER,

DAS HUNDEMÖGLICHE

ODER DIE ENTSTEHUNG DER ZUKUNFT)2

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Maron, Monika, Das Mißverständnis. Vier Erzählungen und ein Stück, Frankfurt a.M.: Fischer 1982, S. 36-37.

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In ihren sämtlichen Romanen wie in dem ausgewiesenermaßen autobiografischen Text Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte (1999) hat Monika Maron aus individueller Perspektive vornehmlich weiblicher Figuren mit erkennbar autobiografischen Zügen von Krisenerfahrungen erzählt – man denke an die Journalistin Josefa Nadler in Flugasche (1987), die selbst auf die Gefahr des Parteiausschlusses hin eine ungeschminkte Reportage über Bitterfeld schreibt; an den psychosomatisch motivierten Ausstieg der Wissenschaftlerin Rosalind Polkowski in Die Überläuferin (1986) oder deren Fortschreibung in Stille Zeile sechs (1991). Dabei reicht das Spektrum von politischen Themen im Spannungsverhältnis von Ost/West, DDR-Vergangenheit/Westorientierung, Individuum/Kollektiv über genuin anthropologische Grundkonflikte wie Mann/Frau, Vater/Tochter, Natur/Zivilisation bis hin zu persönlichsten Erfahrungen. Diese wiederum sind mentalen Antagonismen wie Anpassungsbereitschaft und Widerstandsgeist, Herdentrieb und Freiheitsdrang und nicht zuletzt dem Erleben von Spannungen und Spaltungen in einer polnisch-jüdisch-deutschen Familie bis hin zur existentiellen Erfahrung physischer Vernichtung des Großvaters und Verdrängungsstrategien der Mutter geschuldet. Dass dabei die Allianz von Frau und Natur/Tier als weibliche Sehnsuchtsphantasmagorie eine neoromantische Motivkette bildet, die sich – und sei es auch nur in metaphorischer Bedeutung – ebenfalls auf markante Weise stringent durch Marons Werk zieht, darauf hat vor allem Elke Gilson wiederholt hingewiesen.3 So imaginiert sich Josefa Nadler in einer Liebesnacht phantasievoll als geflügelten „Tintenfisch“4, die Naturwissenschaftlerin Rosalind erfährt sich in eben dieser Situation als kreischendes „Affenweibchen“5 und die Ich-Erzählerin in Animal triste regrediert am Ende zur „braunhaarige(n) Äffin“6 in die Zeit vor

2

Walser, Martin, „Das Hundemögliche oder Die Entstehung der Zukunft“, in: Christen, Jürgen, Schriftsteller und ihre Hunde. Musen auf vier Pfoten, Berlin: Autorenhaus 2008, S. 7.

3

Gilson spricht diesbezüglich geradezu von der „Sehnsucht nach einer ‚animalischen’ Existenz“. Gilson, Elke, Wie Literatur hilft, „übers Leben nachzudenken“. Das Oeuvre Monika Marons, Gent: Studia Germanica Gandensia 1999, S. 85; dies., „Die Katze Erinnerung“ (2001), in: dies (Hg.), „Doch das Paradies ist verriegelt…“ Zum Werk von Monika Maron, Frankfurt a.M.: Fischer 2006, S. 215: „Seit geraumer Zeit repräsentiert das Tier im Oeuvre der Autorin das freie, ehrliche und unverfremdete Leben.“

4

Vgl. Maron, Monika, Flugasche, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 113-114.

5

Maron, Monika, Die Überläuferin, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 218-219.

6

Maron, Monika, Animal triste, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S. 239. Alle weiteren Zitate aus diesem Werk werden i.W. unter der Abkürzung (At, S.) direkt im Text belegt.

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dem Sündenfall. Alle diese Protagonistinnen entdecken gelegentlich das Tier in sich oder erträumen sich schlicht, wie die Büroangestellte in Stille Zeile sechs, ein Leben als Einzelgänger Katze, um der alltäglichen (Selbst)Entfremdung zu entgehen: „Man müßte eine Katze sein […] irgendwo seine Nahrung holen, sich höflich bedanken und dann zu seinesgleichen ziehen und tun, wozu man Lust hat.“7 Als Wunschbilder auf dem Weg zu einem ‚besseren‘ oder wenigstens erträglicheren Dasein oder einfach als Antipoden des ‚falschen‘ Lebens werden einzelne Tiere, Tierarten oder auch nur animalische Wesenszüge bei Maron zur Projektionsfläche, ganz im Sinne von Silvia Bovenschens Bemerkungen zu den kulturellen Mustern der Tier-Projektionen: „Wenn Menschen über Tiere reden, reden Sie von sich. Wenn die Menschen über Menschen reden, indem sie über Tiere reden, werden sie unvorsichtig. Das macht das Thema soziologisch [und wie ich meine auch literaturwissenschaftlich, D.R.] interessant.“8 Auffallend ist Marons immer stärkere Profilierung dieser Motivkette des Animalischen als Medium menschlicher Selbstvergewisserung im Spätwerk – übrigens keineswegs zufällig parallel zu ganz neuen Sinnkrisen ihrer Heldinnen seit dem Mauerfall, wie noch zu zeigen sein wird. Dafür mag hier allein schon der sprechende Romantitel Animal triste (1996) stehen. Dessen Protagonistin und Ich-Erzählerin, eine ‚gefühlt‘ zum hundertjährigen Fossil erstarrte Paläontologin, die ihr Leben rückblickend erzählt und zugleich neu erfindet, bekennt eindeutig: „Ich habe meine Tierhaftigkeit nie vergessen können“ (At, 165). In der Mitte ihres Lebens aus der Zeit gefallen, nachdem sie von ihrer späten einzigen Liebe, dem verheirateten Biologen Franz, verlassen wurde, rekapituliert sie ihren amour fou und ihre damit einhergehende Sensibilisierung für Grundfragen des menschlichen Seins bis hin zu einem nachhaltigen Perspektivenwandel, den sie mit Äußerungen wie den folgenden umkreist: „Je älter ich wurde, um so weniger war die Zivilisation mir ein Trost“ (At, 166). Wie ein Leitmotiv wird immer wieder angeschlagen: „Man kann im Leben nichts versäumen als die Liebe“ (At, 23, 192, 229); wiederholt werden Fragmente der Kleistschen Penthesilea rezitiert: „‚…dich zu gewinnen oder umzukommen‘“ (At, 142, 194). Die eigene Tierhaftigkeit nicht vergessen können und wollen, ja, mehr noch, sich ihrer in Liebesgeschichten überhaupt erst bewusst werdend – mit diesem charakteristischen Zug der weiblichen Stimme in Marons Nachwendetexten ist

7

Maron, Monika Stille Zeile sechs, Frankfurt a.M.: Fischer 1991, zit. n. Gilson, Elke, Die Katze Erinnerung (Anm. 3), S. 215.

8

Bovenschen, Silvia, „Tierische Spekulationen. Bemerkungen zu den kulturellen Mustern der Tier-Projektionen“, in: Neue Rundschau, 94, 1983, H. 1, S. 5ff.

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gewissermaßen der Umschlag des politischen in einen ganz anderen, den existentiellen Diskurs vollzogen. Steht also das Tier in Animal triste in genau diesem Sinne zentral, so scheint mir eine weitere Beobachtung in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Die Liebenden sind beide als Naturwissenschaftler ausgewiesen, und sie treffen bezeichnenderweise in einem Naturkundemuseum unter der fossilen Gestalt eines Sauriers erstmals aufeinander (vgl. At, 15f.). Der vom erzählenden Ich erinnerte oder erfundene Dialog mit Franz kreist denn auch beständig um natur- wie menschheitsgeschichtlich relevante Themen wie Mensch und Tier, Leben und Tod, Evolution und Kreation, Wirklichkeit und Fiktion, Mann und Frau, instrumentale und „höhere Vernunft“ (vgl. At, 22) und in diesem Rahmen um verschiedene Konzeptionen von Liebe. In diesem fortwährenden Diskurs in Monologen und Gesprächen mit erinnerten oder auch nur erfundenen Figuren – mal redet das weibliche Ich mit Franz, dann wieder mit Ate, einer Jugendfreundin, immer aber mit sich selbst – bekennt die Ich-Erzählerin, dass sie sich bedingungslos der Liebe, dem animalischen Sein, mithin dem „Anderen der Vernunft“ (Horkheimer/Adorno) verschrieben hat: „Ate sagte, die Liebe sei offenbar eine Glaubenssache, eine Art religiöser Wahn, und ich sagte, die Liebe sei der letzte Rest Natur in uns und die ganze menschengemachte Ordnung nur da, um sie zu domestizieren“ (At, 175). „Man kann im Leben nichts versäumen als die Liebe“ (At, 23) – dieser Leitsatz markiert denn auch einen Wendepunkt im Denken der Erzählerin, der – bereits vor der Liebeserfahrung mit Franz – unmittelbar mit einem anderen Urerlebnis, dem jähen Bewusstwerden ihrer Sterblichkeit, korrespondiert (vgl. At, 23). Bemerkenswert ist dabei folgendes, für Marons Heldinnen geradezu prototypisches Erfahrungsmuster: Eine zunächst konventionell lebende Frau, hier als Naturwissenschaftlerin überdies an rationalen Weltdeutungsmustern interessiert, wird sich schockartig ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst und mutiert in einer erfahrenen oder auch nur erfundenen Liebesgeschichte aus Passion zunächst phasenweise und dann, nach deren Scheitern, endgültig zum Tier, um dann rückblickend – und hier schließt sich der Kreis vom Anfang zum Ende und wieder zurück zum Anfang des Romans – diesen Prozess in einer Reihe von assoziativ erzählten Geschichten nachzuzeichnen. Das heißt, der Perspektivenwechsel von der logozentrischen auf die animalische, im Sinne der im Text selbst als eine solche ausgewiesene „höhere“ (vgl. At, 22) Vernunft, verläuft parallel mit dem von der nur scheinbar objektiven zur fiktionalen Erfassung der Welt. Damit ist aber aus der Naturwissenschaftlerin – nach dem Modell der Kleistschen Marionette – im Umweg über die animalische Weltwahrnehmung am Ende eine Erzäh-

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lerin, eine Dichterin geworden und in eben diesem Sinne ‚das Paradies von hinten wieder‘9 geöffnet. Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass die Autorin in eben diesem Text bereits eine Tierfigur mit prominenter Bedeutung auflädt, die sie später von Endmoränen bis hin zu Ach Glück nicht nur fortschreiben, sondern metaphorisch weiter verdichten wird: den Hund. Dieses Gefährtentier, schon wegen seiner Doppelfunktion als Natur- und Kulturwesen gleichermaßen zur Spiegelfigur wie zum Gegenbild des Menschen prädestiniert, wird Maron in ihren späteren Texten vor allem in seiner Kreatürlichkeit biografisch, lebensphilosophisch, poetisch wie poetologisch zentral beschäftigen. Warum die Autorin ausgerechnet in ihren utopisch perspektivierten Erzählkonzeptionen neueren Datums so nachhaltig auf den Hund kommt, soll jetzt entlang der genannten Texte und der dazu gehörigen poetologischen Nebentexte entwickelt werden. In Animal triste sind es nur zwei kurze Episoden, in denen der Hund jedoch umso wirkungsvoller in Szene gesetzt wird. Unmittelbar im Anschluss an ihre Reflexionen über unterschiedliche Ausdrucksformen der Liebe und des Liebens – von der Liebe aus Passion, die sie der Jugend, bis hin zu „Tierliebe, Kinderliebe, Naturliebe, Liebe zur Arbeit und zu Gott, Menschenliebe, Musikliebe, Kunstliebe im allgemeinen und so weiter“ (At, 109), die sie dem reiferen Alter zuschreibt, stellt sich die Ich-Erzählerin ihren Geliebten im geordneten Ehealltag mit ihrer Rivalin vor, um sich gleich darauf wieder in ihre ureigenste imaginäre Fluchtburg, das Erzählen von Geschichten, zurückzuziehen. Es scheint nämlich, als rette sie sich vor der unliebsamen Wirklichkeitserfahrung, dem Verlust des Geliebten, permanent in das Erzählen von Geschichten, ja als erzähle sie wie Scheherazade um ihr Leben. In diesem Zusammenhang kommt in der ersten Episode als ihr Retter und Ritter der Hund ins Spiel, und dies wohl keineswegs zufällig in Gestalt eines großen bärigen Bernhardiners, auf dem sie in ihrer Kindheit unmittelbar nach Kriegsende geritten sein will, ihn zugleich lenkend wie von ihm getragen: „Plötzlich saß ich auf dem Bernhardiner, hielt seine Ohren, die sich wunderbar weich und samtig anfühlten, wie Zügel in meinen Händen, und er lief, mit mir auf seinem Rücken, einmal oder zweimal, vielleicht sogar dreimal gemächlich um den Platz“ (At, 115). Mit diesem Bild knüpft Maron offenbar ganz bewusst

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Auf Marons Rezeption von Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater hat Gilson in ihrer Anthologie Zum Werk von Monika Maron (2006) bereits im Titelzitat hingewiesen. Auf Marons Dankesrede zur Carl-Zuckmayer-Medaille (2003), die in eben diesem Zusammenhang, noch dazu mit Blick auf den eigenen Hund Bruno, das Wesen des Hundes kommentiert, werde ich i.W. zu sprechen kommen.

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an den legendären Mythos des Schweizer Lawinenhundes Barry an, der im 19. Jahrhundert viele Kinder vor dem Eistod gerettet haben soll und seitdem – man denke nur an die berühmten Gemälde des englischen Tiermalers Sir Edwin Landseer, an die philanthropischen Riesen bei Theodor Fontane und Theodor Storm oder an Annette von Droste-Hülshoffs Epos Das Hospiz auf dem großen St. Bernhard (1838) – mit Fäßchen um den Hals und einem Knaben auf seinem Rücken im kollektiven Bewusstsein zur topischen Figur geworden ist.10 So heißt es etwa in der Schrift Versuch einer vollständigen Tierseelenkunde (1840) des Schweizer Theologen Johann Peter Scheitlin, von dem wiederum der Zoologe Edmund Alfred Brehm beeinflusst war, mit pathetischen Worten über Barry: „Du höchster der Hunde, du höchstes der Tiere […] sinnvoller Menschenhund mit einer warmen Seele für Unglückliche […] das Gegenteil von einem Totenhund […] mit dem zarten Knaben auf dem Rücken vor der Klosterpforte“.11 Getreu nach dem Muster der Barry-Legende zur rettenden Figur an sich stilisiert, erinnert Marons Erzählerin das „gewaltige Tier“ als „Fleisch und Fell gewordene Güte“ (At, 114). Der traumhafte Ritt durch die Trümmerlandschaft der ersten Nachkriegszeit zwischen Kneipe und Kirche, Krieg und Frieden wird ihr in der Erinnerung zu einem Urerlebnis ihrer Kindheit, entrückt in märchenhafte Dimensionen, die sie ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld so nicht vermitteln kann. Mittels ihrer vielstimmigen Erzähltechnik belässt die Erzählerin die schicksalhafte Begegnung mit dem Hund auf diese Weise in einem ständigen Schwebezustand zwischen Realität und Traum. Sogar sie selbst fragt sich: „Ob ich auf dem Bernhardiner wirklich geritten bin, oder ob ich es mir nur so innig gewünscht, so eindringlich vorgestellt habe“ (At, 115), und ihren Geliebten Franz lässt sie gleich darauf kommentieren: „Ach ja, die Art sich zu erinnern, ist wohl eine Charaktersache, wie die Träume. Die einen haben Alpträume, die anderen träumen nur vom Paradies […] Du dagegen hältst einen Traum sogar für die Wirklichkeit“ (At, 116). Dieses selbstreflexive Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion, das auch die mythisch überhöhte Gestalt des Hundes zugleich als Projektionsfläche offen legt, erinnert schon für sich an die Erzähltechnik von E.T.A. Hoffmanns Wirklichkeitsmärchen; bedenkt man den Erzählein- und -ausgang von Hoffmanns spätromantischer Version des sprechenden Hundes Berganza,

10 S. dazu ausführlich Römhild, Dorothee „Belly’chen ist Trumpf“. Poetische und andere Hunde im 19. Jahrhundert, Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 201-207. 11 Zit. n. Klever, Ulrich, Die dickste Freundschaft der Welt. 5000 Jahre Hund und Mensch. Die amüsante und erstaunliche Kulturgeschichte des Hundes, Heidelberg; München: Heyne 1966, S. 139-140; dazu i.W. Römhild, Belly’chen ist Trumpf (Anm. 10), S. 201-203.

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der (nachweislich nach dem Vorbild des Wirtshaushundes Pollux aus Hoffmanns Bamberger Zeit gestaltet) dort bald als real vorstellbarer, noch dazu autobiografisch verbürgter Hund, bald als Fantasiegestalt, immer aber als Kopfgeburt des Ich-Erzählers begegnet12, dann ist man versucht, Marons Verwendung des Hundemotivs nicht zuletzt in diesen Traditionszusammenhang einzuordnen. Ein weiterer gleich doppelt intertextueller Hund begegnet uns in Animal triste – und zwar ebenfalls im Zusammenhang mit einem Liebesverlust – in der deformierten Gestalt eines „dackelähnliche[n] gelbe[n] Hundes mit einem drahtigen geringelten Schwanz und einem viel zu großen, schönen, eher zu einem Schäferhund passenden Kopf“ (At, 135) mit dem sprechenden Namen Parsifal. Als Trennungsopfer lebt Parsifal zunächst bei Ate, der verlassenen Frau, um kurz darauf von Ali, ihrem ehemaligen Geliebten und seinem früheren Herrn reklamiert zu werden. Eben dieser zweite Verlust wirkt wie ein kathartisches Erlebnis angesichts des Liebesverrats: Ate, die um den Verlust des Geliebten nicht weinen konnte, um „Parsifal weinte sie nun“ (At, 136). Nachdem ihre Freunde, darunter die Erzählerin, in geheimer Nacht- und Nebelaktion den Hund wieder zurück entführt haben, kommt es zu einem zweiten kathartischen Erlebnis, dieses Mal nach dem umgekehrten Muster der berühmten Argos-Episode in Homers Odyssee: „Als Parsifal endlich in Ates Armen lag, schrie er vor Freude, Ate weinte und ließ sich von Parsifal die Tränen vom Gesicht lecken“ (At, 137). Abgesehen von dieser weiteren kynopoetischen Anspielung auf die bedingungsund selbstlose Hundetreue, mündet die gesamte Episode am Ende in eine Hymne auf die Freundschaft nach dem Muster von Schillers Lied An die Freude: „Wir standen dabei voller Rührung und Genugtuung, weil die Gerechtigkeit und die Liebe gesiegt hatten und weil wir ihr dazu verholfen hatten“ (At, 137). Und sie ist in eben diesem Sinne bereits als Vorausdeutung auf die utopische Perspektivierung der Denkfigur Hund in späteren Werken von den Endmoränen bis zu Ach Glück zu verstehen, so wenn die Ich-Erzählerin hier rückblickend auf diese einzigartige Erfahrung von menschlicher, um nicht zu sagen kreatürlicher Solidarität betont: „Diese Minuten gehören auch jetzt, nach siebzig oder achtzig Jahren, zu den glücklichsten meines Lebens“ (At, 137). Bedenkt man noch dazu, dass Parsifal, der eigentliche Stifter dieses glückhaften Moments, als Fundhund (vgl. At, 135) eingeführt wurde, dann erweist sich jener andere Fundhund, der auf den letzten Seiten des Romans Endmoränen (2002) im Wortsinne zufällig, nämlich ausgesetzt an einem Autobahnparkplatz –

12 Gemeint ist E.T.A. Hoffmanns 1813 entstandene Erzählung Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza. Dazu ausführlich Römhild, Belly’chen ist Trumpf (Anm. 10), S. 88-118.

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und doch unmissverständlich als Verheißungsträger eines „wunderlichen Anfangs“13 ausgewiesen – in den Gesichtskreis der Ich-Erzählerin gelangt, als dessen unmittelbare Fortschreibung. Die Ausgangssituation ist die folgende: Wiederum haben wir es mit einer Ich-Erzählerin als Protagonistin, Johanna genannt, zu tun, die in der Mitte ihres Lebens über entscheidende Verlusterfahrungen nachdenkt. Sie reichen vom Tod der Freundin, dem Ende der DDR, dem damit verbundenen Zweifel an ihrem eigenen politischen Selbstverständnis als Schriftstellerin und Journalistin, der zunehmenden Entfremdung von ihrem Ehemann und Kleistforscher Achim Märtin, dem bevorstehenden Aufbruch der erwachsen gewordenen Tochter bis hin zur eigenen Sterblichkeit und führen am Ende dazu, dass Johanna sich die Frage nach dem Sinn des Lebens neu stellt. In diesem Zusammenhang denkt sie in Monologen und Dialogen gelegentlich über fremde und eigene Glücksvorstellungen und damit verknüpft als „Stadtkind“ über ihr „Verhältnis zur Natur“ (EM, 26) im Besonderen und das des Menschen zur Tierwelt im Allgemeinen (EM, 126-130) nach. All dies tut sie während ihres jährlichen Sommeraufenthalts in ihrem Ferienhaus im brandenburgischen Basekow, wo sie eigentlich ihrem Schriftstellerberuf nachgehen wollte, stattdessen aber Schreibkrise auf Schreibkrise mit Gartenarbeit und sozialen Kontakten kompensiert. Die Endmoränen des Titels bezeichnen so zum einen real die geologische Landschaftsformation um ihren Sommersitz, symbolisch aber auch Schutt, Geschiebe und Geröll, wie es der Eishobel am Ende einer Eiszeit liegen lässt – kurz: die melancholische Endzeitstimmung der Protagonistin. Und wie schon in Animal triste erweisen sich auch in dieser resignativen Grundstimmung einer ‚gefühlt‘ alt gewordenen Frau zwei episodisch eingestreute Miniatur-Hundegeschichten im letzten Drittel der Erzählung als Richtung weisend für einen Neuanfang. Die erste begegnet Johanna während ihres besagten Aufenthalts in Basekow, wo sie von dem tragischen Schicksal ihrer Nachbarin Friedel Wolgasts erfährt, von dem sie fast schon identifikatorisch beeindruckt ist. Die trauernde Witwe lebt nach dem Tod ihres Mannes erstmals wieder auf, als sie ein Bündnis mit dessen zu einem Monument der Hundetreue erstarrten Vierbeiner schließt.14 Der einsame Hund und die einsame alte Frau, der eine „so

13 Maron, Monika, Endmoränen. Roman, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 255. Alle weiteren Zitate aus diesem Roman werden i. W. unter der Abkürzung (EM, S.) direkt im Text belegt. 14 „Der Hund, eine dörfliche Abart des Schäferhunds, lag apathisch im Zwinger, die Schnauze auf den gekreuzten Pfoten“ (EM, 65). Auch mit diesem anrührenden Denkmal der Hundetreue schließt Maron unmittelbar an einen Topos in Alltag, bildender

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abgemagert“ (EM, 65) und verhärmt wie die andere und damit spiegelbildlich aufeinander bezogen, haben sich in ihrer „ungewohnten Lage“ (EM, 196) zusammengetan; beide wirken nunmehr, wenn auch nicht unbeschwert glücklich, so doch immerhin „rührend stolz; Friedel auf ihre neue Begleitung, der Hund, weil er, vielleicht zum ersten Mal, für ein paar Minuten das Leben seiner Herrin teilen durfte“ (EM, 196). Dieser anrührende und auf eine gemeinsame Zukunftsperspektive hin gerichtete Augenblick ist allerdings nicht von Dauer. Als die Idylle von außen durch einen ungeliebten neuen Nachbarn aus der Stadt bedroht wird, hetzt Friedel den Hund auf ihn, woraufhin dieser – nach dem Modell so vieler kathartischer Hundetode in der Literatur15 – auf Anordnung der Behörde eingeschläfert wird: „der lag dann auf dem Hof, alle viere von sich gestreckt, ganz friedlich, sogar die Augen hat der Tierarzt ihm zugedrückt, als wär er ein Mensch“ (EM, 228-229). Und für Friedel Wolgast geht die Geschichte kaum weniger schlimm aus; vollends an der Welt irre geworden muss sie „ins Heim“ (EM, 229). Anders verhält es sich dagegen mit jener zweiten, nur äußerst knapp skizzierten Hundebegegnung, deren visionäre Bedeutung sich allerdings nur dann erschließt, wenn man sie aus dem offenen Schluss der Erzählung herausnimmt und sie auf eine ihr vorausgegangene zwischenmenschliche Begegnung bezieht. Unmittelbar bevor Johanna wieder nach Hause zu ihrem Ehemann Achim und damit in die gewohnte Ordnung ihres Lebens zurückkehrt, kommt es zu einer fast schicksalhaften Begegnung mit dem russischen Galeristen Igor, mit dem sie lange Gespräche über Gott und die Welt, Barbarei und Zivilisation und verschiedene Vorstellungen von Männlichkeit, Weiblichkeit, Emanzipation und Alterungsprozesse führt und der ihr eine Art Goldenes Zeitalter für reife Frauen (vgl. EM, 238) und damit eine „Revolution in der Geschlechterbeziehung“ (EM, 240) verheißt. Als Johanna ihm resigniert von dem glücklichen Anfang und dem unglücklichen Ende des Bündnisses zwischen Friedel Wolgast und ihrem Hund

Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts an; vgl. dazu Römhild, Belly’chen ist Trumpf (Anm.10), S. 192f. 15 Derart tragische Geschichten von Menschen und ihren Hunden hatten bereits im Rahmen der Einfühlungsästhetik des 19. Jahrhunderts Hochkonjunktur – zu denken ist hier etwa an die sozialkritische Ballade Der Bettler und sein Hund (1819) von Adelbert von Chamisso, Theodor Storms Novelle Waldwinkel (1874), Marie von EbnerEschenbachs Novellen Krambambuli (1884) und Die Spitzin (1901) oder Ferdinand von Saars Novelle Tambi (1892) – und werden in Literatur und Film des 20. und 21. Jahrhunderts immer wieder neu belebt. S. dazu Römhild, Belly’chen ist Trumpf (Anm.10), S. 235-269 u. 290f.

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(vgl. EM, 242) erzählt, entgegnet der bekennende „Anfangsfetischist“ Igor: „man müsse vor allem im eigenen Leben dafür sorgen, daß es zu jeder Zeit genügend Anfänge gibt, glückliche Anfänge“ (EM, 242). Auch wenn sie sich von Igor nach einer gemeinsamen Nacht wieder trennt, wird dessen SisyphosLebensmaxime des immer neuen Anfangens (vgl. EM, 242-243) wenn nicht eingelöst, so doch wach gehalten durch eben jenen Zufallsfundhund, von dem bereits eingangs die Rede war und der der heimkehrenden Johanna inmitten der alten Ordnung dennoch einen „wunderlichen Anfang“ (EM, 255) verheißt. Beide Hunde, der von Friedel und der von Johanna, symbolisieren so die im fortlaufenden Prozess dieser Erzählung charakteristische Pendelbewegung zwischen Abgesang und Aufbruch, Scheitern und Neuanfang. Der eine, ein um seinen Herrn trauernder angstaggressiver Zwingerhund, der von seiner Besitzerin – aus deren eigener Trauer und Angstaggression heraus – nach einer kurzen glücklichen Phase des Neuanfangens zu des Menschen Wolf denaturiert und damit ungewollt um sein Weiterleben gebracht wird, der andere ein verwahrloster Riesenschnauzer, „angsterfüllt“ und „entschlossen“ zugleich (EM, 254), am Wegesrand ausgesetzt und von Johanna ins Leben gerettet. Der diametrale Wechsel in der Zielrichtung – vom apathischen Weiterleben oder auch lebenden Sterben endgültig in den Tod und vom todgeweihten Leben wieder zurück ins Leben – ereignet sich hier, und darin manifestiert sich ein für Marons Erzählen typisches Verfahren, als kaum fassbares Ineinander von Wirklichkeit und Fiktion. Auf die vielfältigen autobiografischen Bezüge ihrer Prosa hat Maron in ihren theoretischen Nebentexten, sowohl in ihrer Dankesrede zur Carl-ZuckmayerMedaille (2003) wie auch in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche (2005) wiederholt hingewiesen und dabei den Hund ins Zentrum gestellt, heiße er nun (real) Bruno Maron oder (fiktional) Bredow Märtin. Es ist also keineswegs mehr ein Zufall, dass der namenlose Fundhund, der im Schlussakkord der Endmoränen (2002) der schreibenden Heldin einen neuen Auftakt signalisiert und der dort explizit als „eine Mischung aus Schnauzer und noch etwas […] wahrscheinlich […] sogar Riesenschnauzer“ (EM, 254) bezeichnet wird, ein Jahr später in der Zuckmayer-Rede in Gestalt von Marons eigenem Riesenschnauzer Bruno16 – und zwar ausgerechnet im Zusammenhang der hier formulierten Sprachskepsis der Autorin – bereits ausführlicher zur Sprache kommt, um zwei Jahre später in der Poetikvorlesung als Fortschreibung des Endmoränen-Hundes und zugleich im Vorgriff auf den

16 S. dazu das Kurzportrait von Jürgen Christen, illustriert von einem mittlerweile recht bekannten Foto von Jim Rakete, das die Autorin mit ihrem Riesenschnauzer Bruno zeigt, in: Ders., Schriftsteller und ihre Hunde… (Anm. 2), S. 68-71.

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Folgeroman Ach Glück (2007) in Gestalt des schwarzen zotteligen Bredow Johanna Märtins wiederum fiktionalisiert zu werden.17 Sehen wir uns darauf hin zunächst einmal die beiden Paratexte näher an. In ihrer Dankesrede zur Zuckmayer-Medaille, die ihr ausdrücklich „für Verdienste um die deutsche Sprache“18 verliehen wurde, kommt Maron äußerst knapp auf ihren „zurückhaltenden Umgang mit den Wörtern“ (DZM, 270), sodann ohne Umschweife auf ihren Hund Bruno zu sprechen, den sie in Unkenntnis seiner Herkunft, also seines „Vorlebens“ (DZM, 271) im jugendlichen Alter von etwa „eineinhalb“ (DZM, 271) vor etwa drei Jahren übernommen habe. Was dann folgt, ist sowohl als kleine Hundegeschichte wie als anthropologischer Diskurs über die Unzulänglichkeit der menschlichen Verbalsprache im Vergleich mit der hündischen Körpersprache und nicht zuletzt als autobiografisches Nachwort zu Endmoränen lesbar, nur daß die Entwicklung hier umgekehrt verläuft: Während der Hund dort erst zu dem Zeitpunkt in Johanna Märtins Leben tritt, nachdem sie sich ihrer Sinn- und Schreibkrisen längst bewusst geworden war, spricht die Autorin Maron von etwas, das sie erst seit ihrem Zusammenleben mit dem Hund beschäftige: „von der Erfahrung einer nahezu sprachlosen Verständigung“ (DZM, 270). Dabei gebühre, wie sie betont, „das größere Verdienst an unserer glücklichen Verständigung Bruno“ (DZM, 272). Was die Autorin hier also im Sinn hat, ist jene soziale oder emotionale Intelligenz des Hundes, die mit rationalen Mitteln kaum fassbar – vergleichbar dem fechtenden Bären in Kleists Marionettentheater – auf keine „Finte“ hereinfällt. Sowie anders herum der Hund in seiner ihm eigenen Körpersprache immer unmissverständlich, kurz: authentisch ist und schon gar nicht strategisch denkt: „Natürlich tut Bruno das für sich und nicht für mich. Er will […etwas, D.R.] und wenn ich auch gerade […dasselbe, D.R.] will, sind wir eine wunderbare Gemeinschaft“ (DZM, 273). Und mehr noch – im Weiteren bringt sie die Qualitäten dieses absichtslosen Bündnisses auf Gegenseitigkeit in Zusammenhang mit idealtypischen Liebes- und Lebensvorstellungen, endend mit der Paradiesesvorstellung Heinrich von Kleists: „‚Doch

17 In ihrem nach Abschluss dieses Aufsatzes erschienenen Roman Zwischenspiel (Frankfurt a.M. 2013) nimmt Monika Maron das Hundemotiv in einer deutlich an E. T. A. Hoffmann angelehnten Manier an zentraler Stelle wieder auf. Eine Einbeziehung dieses Werks in eine spätere eventuelle Fortschreibung meiner Studie würde deren Aspekte bestätigen und um einige Nuancen erweitern. 18 Maron, Monika, „Doch das Paradies ist verriegelt…“ Dankesrede zur CarlZuckmayer-Medaille (2003), in: Gilson, „Doch das Paradies ist verriegelt…“ (Anm.3), S. 270. Alle weiteren Zitate aus dieser Quelle werden i.W. unter der Abkürzung (DZM, S.) direkt im Text belegt.

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das Paradies ist verriegelt […] wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten wieder offen ist‘“. Diese zugleich vorwärtsund rückwärtsgewandte Utopie bezieht sie sodann expressis verbis auf ihre eigene die Grenzen der Sprache überschreitende Beziehung zum Hund: „Und so ist meine sprachlose Freundschaft zu Bruno vielleicht der Versuch, mich heimlich ans Paradies heranzuschleichen, um mich über die Unvollkommenheit meiner sprachlichen Bemühungen hinwegzutrösten“ (DZM, 275). So ist es kein Wunder, dass Maron in der nachfolgenden Poetikvorlesung, die bereits im Titel Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche auf ihre eigene Schreibkrise anspielt, den Hund als solchen gleich doppelt ins Zentrum ihrer Überlegungen rückt: Indem sie ihn zum einen in dem Abschnitt „Von Schriftstellern, Hunden und Mythenbewohnern“19 unter literarhistorischer Perspektive betrachtet und zum anderen – parallel dazu – ein eigenes canides Motiv als zentrale Metapher ihres geplanten Folgeromans Ach Glück entwickelt. Es handelt sich hier also um einen Text, der zugleich Werkstattgespräch wie Erzählen über das Erzählen, Reflexion über „Gelingen und Misslingen des Schreibens“ (FV, 7) im Allgemeinen, über die geplante Fortschreibung der Endmoränen und den imaginären Fundhund als Metapher und Mittel zur Überwindung der Schreibkrise im Besonderen ist. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion sind dabei wieder einmal fließend, zumal längere Entwürfe zum Folgeroman hier bereits vorweggenommen und durchdacht werden. Mit ihrer Poetikvorlesung knüpft Maron also unmittelbar an die Schreibkrise ihrer Ich-Erzählerin Johanna an (vgl. FV, 8-9), die sie jetzt – gespiegelt in eben dieser Figur – als die eigene demaskiert, dabei die subjektive Perspektive mehrfach betonend: „Wenn ich jetzt über das Schreiben spreche, muß ich über mich sprechen“ (FV, 7). Für unseren Zusammenhang, die Frage nach der Bedeutung des Hundes dabei, ist allerdings folgende Beobachtung weit bemerkenswerter: Mit dem Ziel der Überwindung ihrer eigenen Schreibkrise nach einem noch zu schreibenden Romananfang suchend, der hier zugleich identisch ist mit dem „Fortgang der Geschichte“ (FV, 8) ihres Alter egos Johanna Märtin, stellt Maron jetzt den Hund ins Zentrum, und zwar in genau dem Sinne jener nicht zu Ende gedachten Schwellenfigur zwischen Auflösung und Neuanfang, Krisenerfahrung, Resignation und Utopie, die in Endmoränen den rätselhaften Schlussakkord, der dort bereits ein neuer Auftakt zu sein versprach, begründet hatte: „Je länger ich darüber nachdachte […], um so sicherer schien mir, daß ich dringli-

19 Maron, Monika, Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche. Frankfurt a:M.: Fischer 2005, S. 29f. Alle weiteren Zitate aus der Frankfurter Poetikvorlesung werden unter der Abkürzung (FV, S.) direkt im Text belegt.

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cher als alles wissen wollte, was Johanna, nachdem sie aus den Endmoränen in die Stadt zurückgekehrt ist, tut […] und was der Hund in ihrem Leben bewirkt“ (FV, 9). Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? – indem sie diese drei klassischen Fragen des menschlichen Seins an das Fortschreibungsprojekt Johanna Märtin bindet, von da aus den Faden weiterspinnt zu ihren literarhistorischen Beobachtungen im Fokus des Hundes20 und am Ende konstatiert: „Der Hund hat keinen Sinn, er ist der Sinn“ (FV, 34), fühlt man sich an Kafkas Diktum „Alles Wissen, die Gesamtheit aller Fragen und aller Antworten ist in den Hunden enthalten“21 erinnert. Doch Maron belässt ihre Kommentierung der eigenen Hundefrage keineswegs in solchen rätselhaften intertextuellen Anspielungen. Vielmehr referiert sie canide Darstellungs- und Deutungsmuster ihrer Schriftstellerkollegen von „Thomas Mann, Tibor Dery, Sandor Marai, Paul Auster, John Berger, um nur einige zu nennen“ (FV, 35), um in der Differenz ihre eigene Position dazu umso stärker herauszuarbeiten: Weder wolle sie einen „Hunderoman […] in dem Maraischen Sinne“22 schreiben, dass sie „über den Hund von den Menschen“ (FV, 38) erzähle; ebenso wenig halte sie es mit Büchern, „in denen Hunde menschlich denken und sprechen“ (FV, 35), denn ein denkender und sprechender Hund“ wäre ja nur „ein verkleideter Autor, was […] aber gerade das Geheimnis tilgt, dem allein die sprachlose Freundschaft zwischen Hund und Mensch, zwischen Bredow und Johanna, sich verdankt“ (FV, 35-36). Ihr gehe es – gerade im Gegenteil – um die „metaphysische Besonderheit im Verhältnis zwischen Mensch und Hund“ (FV, 36), darum also, daß der Hund „hat, wonach der aus seiner transzendenten Verankerung gerissene Mensch sich sehnt: etwas zu dem er gehört, das größer ist als er selbst. Und daß wir einem anderen Geschöpf das sein können, was wir selbst zwischen Philosophie und Sterndeutung vergeblich suchen, rührt uns bis an den tiefsten Punkt unserer Seele“ (FV, 36-37). Und hier schließt sich der Kreis zu jener Dankesrede von 2003, wo Maron – mit Blick gerade auf das unbestechliche Naturwesen Hund – veranschaulicht, wie denn die Kleistsche Paradiesesvorstellung, und sei es schreibend, einzulösen sei; in der Poetikvorlesung heißt es entsprechend: „Der Hund als Fra-

20 siehe FV, 29f.: Von Schriftstellern, Hunden und Mythenbewahrern. 21 Kafka, Franz, „Forschungen eines Hundes“, in: Ders., Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, hg. v. Max Brod, Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 190. 22 Gemeint ist Sándor Márais von ihm selbst so genannte „Hundegeschichte“ und „Hunderoman“ (Einleitung, passim) Csutora (Budapest 1931), deutsch Ein Hund mit Charakter, München: Piper 2001.

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gezeichen hinter der eigenen Sinn- und Glücksvorstellung vielleicht; als Konfrontation mit dem kreatürlichen Anteil in uns selbst“ (FV, 40). Und in genau diesem Sinne als „Fragezeichen“, das zum Wegweiser wird, soll der Hund in ihrem „Buch […] also nicht sprechen oder denken, sondern nur in Johannas Wahrnehmung existieren“ (FV, 37). Denn nur so – und das ist das Entscheidende an Marons kynopoetischer Erzählkonzeption – kann sie den Transfer leisten, wie „eine nüchterne Realistin, die ihren geschrumpften Lebensraum ausmißt […] am Ende die Botschaft, die ein ausgesetzter Hund ihr überbringt, versteht“ (FV, 78). Als Bindeglied zwischen diesen beiden Romanen bildet die Poetikvorlesung also zugleich einen Post- und Nebentext zu Endmoränen und einen Prä- und Nebentext zu Ach Glück, der in eben dieser Doppelfunktion dieselben Gedanken diskursiv entfaltet, die hier wie dort erzählerisch gestaltet werden. Sehen wir nun, wie der Folgeroman Ach Glück den Vorlesungstitel Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche handgreiflich einlöst und ihn zugleich widerlegt und welche Rolle der Hund weiter dabei spielt. Zunächst einmal steht die Ausgangssituation von Ach Glück geradezu beispielhaft dafür, dass der Hund jetzt, wie in der Poetikvorlesung geplant, nur mehr „in Johannas Wahrnehmung“ (FV, 37) noch weiter existiert und als handelnde Figur dahinter verschwindet. Wir treffen Johanna nämlich im Flugzeug auf dem Weg nach Mexiko wieder, wo sie – in der jetzt personal erzählten Zeit eines Tages – gleichsam im Zeitraffer von der mentalen Zeitenwende vor und nach dem Einzug des Hundes Bredow in ihren Berliner Lebensalltag erzählt. Sie markiert damit den Anschluss an jenen „wunderlichen Anfang“ (EM, 255), den verheißungsvollen letzten Satz in Endmoränen. Im weiteren Prozess des Erzählens – selbstredend ohne den fluguntauglichen großen Hund23 – jongliert sie in luftigen Höhen gedanklich zwischen den Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In der Tat ist der Roman Ach Glück nicht nur personell, sondern auch thematisch und situativ eine direkte Fortschreibung der Endmoränen, nur dass er abwechselnd aus Johannas und Achims Perspektive, also bipersonal er-

23 Wie es im Roman ausführlich thematisiert wird, Maron, Monika, Ach Glück, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 12: „Eigentlich wollte sie Bredow mitnehmen auf die Reise. Sie hatte sich nicht vorstellen können, sich für Wochen, vielleicht sogar Monate von ihm zu trennen. Aber er war zu groß, um im Passagierraum mitzufliegen, und hätte als Gepäckstück verladen werden müssen.“ Alle weiteren Zitate aus diesem Roman werden nachfolgend unter der Abkürzung (AG, S.) direkt im Text belegt.

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zählt und dabei aber ganz bewusst so konzipiert ist, dass man ihn eben so gut als einzelnen Text wie als zweiten Teil eines Diptychons lesen kann.24 So nimmt bereits der Titel den eher resignativ und skeptisch geäußerten Seufzer Johannas „Ach, Glück“ (EM, 124) wieder auf. Damit schlägt er eine Brücke ausgerechnet zu jener Passage in Endmoränen, wo Johanna mit ihrer Freundin Elli über Glück und Unglück eines Hirnforschers und die Gefühle seiner tierischen Forschungsobjekte, der Affen, mutmaßt – allerdings mit dem Unterschied, daß er hier durch das fehlende Komma eher einen Ausruf und damit eine andere Bedeutung signalisiert. Im Folgeroman erinnert sich Achim an eben diesen Ausspruch Johannas, mit dem sie seine ironische Bemerkung „vielleicht fände sie ja in Mexiko ihr Glück“ (AG, 198) paradiert: „Ach Glück, hatte sie nur gesagt, eigentlich nicht gesagt, eher geseufzt, versetzt mit einem kleinen harten Lachen, ach Glück, als sei ihr dieses Wort schon vor langer Zeit entfallen und als erinnere sie sich gerade in diesem Augenblick an seinen Klang, ach Glück, und als sei er schuld, dass ihr ein so kostbares Wort bedeutungslos geworden war“ (AG, 198-199). So verklammert der Romantitel beide Romane durch Aufnahme zweier Textstellen miteinander, an denen er jeweils wörtlich zitiert wird und jedes Mal in unterschiedlicher Weise zwischen Resignation und Sehnsucht changiert. In dieser Weise mit Binnenbedeutung aufgeladen, erinnert er an Schillers Definition des Elegischen als Klage um die verlorene Natur und Sehnsucht nach dem unerreichbaren Ideal25 und ist zugleich anschlussfähig an Marons Kleistrezeption. Dennoch ist Ach Glück vergleichsweise weit optimistischer und zukunftsorientierter konzipiert, konkretisiert die Autorin hier doch komplementär mit der Bedeutung des Hundes für Johannas Aufbruchsphantasien erst jene utopische Perspektive, die im Schlusssatz der Endmoränen bereits aufscheint, als eine durchaus lebbare. Dazu gehört Johannas neues Selbstbewusstsein gegenüber Achim ebenso wie ihr Aufbruch nach Mexiko und nicht zuletzt die Wirkung, die dieser mentale Paradigmenwechsel auch bei ihrem Mann offenbar hinterlässt. Achim, der als Prototypus des sinnenfeindlichen Gelehrten an ihrer Seite, wie Johanna beklagt, zunehmend „‚mit dem Rücken zur Welt‘“ gelebt hat, „womit sie, wie er vermutete, vor allem aber mit dem Rücken zu ihr meinte“ (AG,

24 In ihrer Poetikvorlesung kommentiert die Autorin: „Ich muß so erzählen, daß jemand, der die Endmoränen nicht gelesen hat, versteht, worum es eigentlich geht; und gleichzeitig darf ein anderer, der die Endmoränen gelesen hat, nicht den Eindruck haben, er lese ein ihm schon bekanntes Buch noch einmal.“ (FV, 28). 25 Siehe Schiller, Friedrich, Über naive und sentimentalische Dichtung (1795), Abschnitt „Elegische Dichtung“.

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94-95), leidet zunehmend unter Sinnverlust, und zwar direkt proportional zu jenem Ortswechsel, den Johanna mit ihrer neuen Hinwendung zur Welt und zum Leben auch innerlich gerade vollzieht. Die Verhaltensauffälligkeiten seiner Frau, angefangen von ihrem „Hundewahn“ (AG, 31), ihren „Nachtwanderungen“ (AG, 33), ihrer „reichlich pathetischen Erzählung“ (AG, 34) davon, ihrem „neuen Kleid (das teuerste, das sie je gekauft hat, sagte sie)“ (AG, 48), ihrem Aushilfsjob in Igors Galerie (vgl. AG, 49) bis hin zu ihrem Verschwinden nach Mexiko „auf unbestimmte Zeit“ (AG, 28) befremden ihn und rütteln ihn auf. In der Folge beginnt auch Achim über sich selbst, sein Verhältnis zur Ehe, zur gemeinsamen Tochter, zu seiner Arbeit und letztlich über die Sterblichkeit des Menschen nachzudenken und akzeptiert schließlich den Vorwurf, den Johanna ihm „neuerdings“ macht: „vielleicht“ hatte er ja „wirklich zwischen den Büchern vor allem einen Platz gesucht, der ihn vor dem Leben bewahren sollte“ (AG, 171).26 In dieser Weise dient das bipersonale Erzählen zugleich der Reflexion und Erörterung des Glücksbegriffs aus der Doppelperspektive des Paares, die durch Gespräche beider Gestalten mit wieder anderen Personen in ihrem sozialen Umfeld noch erweitert wird. Dabei kristallisiert sich am Ende gerade jener Liebesund Glücksbegriff als tragfähig heraus, der Johanna durch den Hund vorgelebt wird. Das heißt aber nicht, dass der Hund diesen Sinn neu in Johanna weckt, sondern dass sie mit dem Hund eine geeignete Metapher eines eigenen Lebenskonzepts gefunden hat. Flankiert und unterstützt wird diese neue Vorstellung eines gelingenden Lebens von Erinnerungen an und Gesprächen mit Personen, die bereits für sich solche alternativen Lebenskonzepte entwickelt haben und sie leben. Da wäre zum Beispiel der Russe Igor, der „Anfangsfetischist“, mit dem Johanna jene schicksalhafte Liebesnacht verbindet (vgl. EM, 242 u. AG, 15-16), oder die verrückte Russin Natalia Timofejewna, mit der sie gemeinsam in Mexiko auf den Spuren der Künstlerin Leonora Carrington27, der „Verkörperung eines gelungenen Lebens“ (AG, 153), wandeln will. Dann lernt sie auf dem Umweg über den Hund, den sie während ihrer Reise dort unterbringen will (vgl. AG, 178f.), den legendären Tierarzt und Biologen Hannes Strahl kennen, der von ihrer Freundin Elli fast

26 Noch deutlicher fast an folgender Stelle, wo Achim sich am Kleistgrab, das ihm „manchmal wie sein eigenes vorkam“ (AG, 68) so sehr „an den durchschossenen Schädel herandachte“ (ebd.), dass er auf einmal wie Johanna denkt: „Da lag auch sein eigenes Leben begraben, ein Leben im Dienste des Heinrich von Kleist“ (ebd.). 27 Vorbild ist die englisch-mexikanische Künstlerin gleichen Namens (1917-2011), die in ihren Anfängen von ihrem damaligen Lebensgefährten Max Ernst beeinflusst war und mit ihren surrealistischen Bildern, Skulpturen und Dichtungen berühmt wurde.

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schon zu einer Märchenfigur28 stilisiert wird. Dieser hat nach dem Tod seiner ersten Frau mit sechzig Jahren sein Leben noch einmal radikal verändert und sein exklusives Loft in New York mit einem „halbverfallene[n] Herrenhaus und zwanzig Hektar Land“ (AG, 21) vertauscht. Er „erschuf dort, wie Elli berichtete, einen paradiesischen Ort auf Erden für sich selbst, seine [zweite, D.R.] Frau, sein kleines Kind, für Pferde, Schafe, Hühner, Katzen und allerlei anderes Getier“ (AG, 21). Eben dieser Hannes Strahl, der sich mit Bredow von Anfang an wortlos versteht, redet mit Johanna über verschiedene Formen von Liebe – zu Tieren, zu Menschen, zum Leben und nicht zuletzt über die Realisierbarkeit eines „gelungenen Lebens“ (AG, 154). Mit seiner von dem amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell gewonnenen Lebensmaxime „follow your bliss“ (AG, 154), folgt der Tierarzt einem Glücksbegriff, der auf Intuition, um nicht zu sagen Instinkt basiert: „Bliss ist so etwas wie ein inneres Wissen über sich selbst, die eigene Vorstellung von Glück […] Mich hat das Gefühl, daß es in mir diese sichere, dem üblichen Kalkül nicht unterworfene Instanz gibt, immer beruhigt. Etwas hat mich geleitet, und ich habe mich dem nicht widersetzt“ (AG, 154). Von dieser Figur des Lebenskünstlers mit dem sprechenden Namen Hannes Strahl aus, der sich wie die Kleistsche Marionette immer in seinem Gravitationspunkt befindet, schließt sich der Kreis wieder zu jenem kreatürlich-authentischen Anschauungsobjekt in Gestalt des Hundes Bredow, der im zweiten Teil von Marons Diptychon im Zentrum steht, und zwar als Verkörperung des „NichtSagbaren“ (FV, 32), wie es in der Poetikvorlesung heißt, „als Konfrontation mit dem kreatürlichen Anteil in uns selbst“ (FV, 40). Damit ist er zugleich die Gestalt gewordene Verheißung und Metapher des irdischen Glücks, dem Johanna sich jetzt – gedanklich, schreibend und lebend – zuwendet. Dabei ist es letztlich unerheblich, ob der Hund der Auslöser oder nur die Spiegelfigur von Johannas Aufbruchsphantasien ist: „Vielleicht wäre auch ohne Bredow alles so geworden, wie es jetzt war; wer konnte das wissen. Aber fest stand, dass mit Bredow […] die Serie von Erstmaligkeiten begonnen hat. Bredow war ihr erster Hund“ (AG, 9). Seinen Namen verdankt er der Autobahnausfahrt, in deren Nähe er gefunden wurde und die den Ort bezeichnet, der durch Willibald Alexis‘ einst äußerst populären Roman Die Hosen des Herrn von Bredow (1846) berühmt geworden ist;

28 „Aber seit sie erzählt hatte, wie Hannes Strahl von einem afghanischen Prinzen, dem er das Leben gerettet hatte, ein weißes Pferd geschenkt bekam, das, sobald sein neuer Herr im Sattel saß, in wildem Galopp durchging und samt Hannes eine ganze Nacht durch die afghanische Wüste stürmte, seitdem hielt Johanna Hannes Strahl für eine der Phantasiegestalten, die Elli sich als Traum von der Liebe hin und wieder erfand“ (AG, 21).

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im Text selbst wird dieser Name als „literarisch zu belastet“ (AG, 11) ausgewiesen. Und in der Tat hat Bredow neben seiner poetischen Eigenschaft als symbolisch gemeinte Spiegelungsfigur der neuen, glücklicheren Johanna auch in poetologischer Hinsicht eine wichtige Funktion, wird er doch zur Metapher jenes irdischen Glücks, die nicht nur Marons eigene Schreibkrise überwinden hilft, sondern zugleich ihren Erzählkonzepten eine neue Richtung gibt, die wiederum – vergleichbar dem individuellen Bewusstseinswandel Johanna Märtins – der Hinwendung zum Leben gilt. Johanna selbst denkt in Monologen und Gesprächen immer wieder über die schicksalhafte Begegnung mit dem Hund nach. Mal sieht sie in ihm „ein höheres Wesen […] das von Natur aus recht hatte, mit göttlicher Kompetenz ausgestattet“ (AG, 30), dann wieder „nichts als ein[en] Hund“ (AG, 32), dem sie ihre „wiedergewonnene Freiheit […] verdanke“ (AG, 34), um schließlich zu befinden, es gehe dabei um nichts anderes als „um Liebe“ (AG, 41; vgl. AG, 106 u. 158-159) und um dann doch wieder darauf zu beharren, der Hund sei ihr „als Botschaft geschickt worden“ (AG, 61). So gesehen ist der fiktive Hund in Ach Glück eine binäre Gestalt, die einmal real vorstellbar, dann wieder mythisch aufgeladen, immer aber eine Kunstfigur ist, wie es ihre Brieffreundin Natalia auf den Punkt bringt. Sie vergleicht ihn mit den surrealen Traum- und Mischwesen aus Mensch und Tier in den Bildern und Dichtungen Leonora Carringtons: „Stellen Sie sich ihren Hund vor als eines von Leonoras Geschöpfen (schrieben Sie nicht, Ihr Hund sei schwarz), eine aufrechte priesterliche Gestalt, oder was immer Sie in ihm sehen oder was Leonora in ihm sehen könnte“ (AG, 161-162). Ob man ihn in diesem Sinne als einen priesterlichen Seelengeleiter in der Art eines ins Positive gewendeten Anubis sehen will oder auch nur als vierfüßigen Vorschein des Traums vom irdischen Glück – bei Maron ist der Hund in ihrem epischen Diptychon wie in ihren poetologischen Überlegungen eine vielfältig intertextuell aufgeladene Kunstfigur.29 Sie nimmt – angefangen von Schillers Versuch über naive und sentimentalische Dichtung über Kleists Versuch über das

29 Als Seelengeleiter zur Kunst begegnet der Hund bereits in Martin Walsers autobiografischem Schlüsselroman Ein springender Brunnen (1998); als Metapher für ihren eigenen problematischen Umgang mit Sprache verwendet ihn Elfriede Jelinek in ihrer Nobelpreisrede (2007). Wenn bei Maron der Hund aber gerade für das schlechthin Unverfügbare steht, erscheint er bei Jelinek regelrecht als Karikatur des Unterwürfigen und Widersetzlichen zugleich, sozusagen als Angstbeißer. Siehe zum Komplex Walser und Jelinek: Römhild, Dorothee, „Der andere Tell. Zur Schillerrezeption in Walsers Roman Ein springender Brunnen“, in: ZfdPh 2007, Sonderheft Texte, Tiere, Spuren, hg. v. N. O. Eke u. E. Geulen, S. 46-62, S. 61f.

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Marionettentheater bis hin zu jenem „wunderlichen“ Anfang für Marons Heldin, der deutlich auf E.T.A. Hoffmanns terminus technicus für den Einbruch des Wunderbaren in den Alltag anspielt30 – insbesondere Poetologien der beginnenden Moderne auf, die den Menschen zwischen der Klage über die verlorene Natur einerseits und der Sehnsucht nach dem unerreichbaren Ideal verorten. In allen diesen Fällen geht es, mit Derrida gesprochen, letztendlich darum, das „autobiografische Tier“ in sich zu entdecken – „L’animal donc je suis“, „Das Tier, das ich also bin (weiterzuverfolgen)“.31

30 Siehe dazu ausführlich das Kapitel III.5 Wunderbares – Wunderliches vor allem b) „Das Wunderliche“, in: Pikulik, Lothar, Romantik als Ungenügen an der Normalität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 410-467. 31 Paraphrasierende Übersetzung von Markus Sedlaczek, in: Derrida, Jacques, Das Tier, das ich also bin. Wien: Passagen 2010.

Endzeitliches Schweifwedeln. Der Hund als Begleiter des letzten Menschen M ANFRED S CHNEIDER

I. Als an einem Spätherbstabend des Jahres 2098 über Dover die Sonne in der wildbewegten See versinkt, erscheinen plötzlich aus verschiedenen Richtungen drei weitere Sonnen, wirbeln über den Himmel, verschmelzen und stürzen zusammen als gewaltiger Feuerball ins Meer. Das Wasser beginnt daraufhin zu kochen und vulkangleich zu lodern. In panischer Furcht stürzen sich Pferde und Rinder über die Klippen ins Wasser. Immer höher wächst die Wassermauer am Horizont, und die entsetzten Zuschauer glauben, von dieser Gewalt der Elemente ins Weltall hinaus gewirbelt zu werden. Die einen fürchten, dass sie hier die Folgen einer Verschiebung der Erdachse erleben, den anderen schwant, dass das Jüngste Gericht gekommen ist. Doch die Katastrophe hat sich angekündigt. Schon seit Jahren wütet eine Seuche auf dem ganzen Erdball und raffte bereits den größten Teil der Menschheit dahin. London zählt nur noch wenige hundert Einwohner. Die Flucht und das Sterben der Millionen auf allen Kontinenten begleiten Klimakatastrophen. Migrantenwellen aus Übersee suchen plündernd und mordend die britische Insel heim, Endzeitpropheten ergreifen die Macht über die Gemüter. Zuletzt scheint die Welt völlig menschenleer. Nur ein letzter einsamer Mensch, der von England nach Rom gelangt ist, verfasst die Chronik dieser Ereignisse. Er schreibt für ein Geschlecht, das es offenbar nicht mehr gibt. Sein einziger Genosse ist ein Hirtenhund, der ihm freundlich schweifwedelnd zugelaufen ist und der ihn gemeinsam mit ein paar Büchern auf der Suche nach möglichen weiteren letzten Exemplaren der Menschengattung begleiten wird. Das ist die Lage des letzten Menschen Lionel Verney, die Mary Wollestonecraft-Shelley in ihrem 1826 erschienenen Roman The last man niedergelegt hat.

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Den geschichtlichen Hintergrund ihres Romans bildete die Klimakatastrophe von 1816, als in Nordamerika und Europa der Sommer ausfiel und das ganze Jahrhundert die schlimmste Hungersnot verzeichnete. Die mehrere Monate dauernde Verdunkelung des Himmels durch Ascheregen und Staub war die Folge der ungeheuren Eruption des Vulkans Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa im April 1815, die vermutlich mehr als 70.000 Menschen das Leben kostete. Im gleichen sonnenlosen Jahr 1816 verfasste der Dichter Lord Byron seine Elegie Darkness, die sich leicht als die Weltuntergangsvision eines letzten Menschen liest. Die ersten Verse lauten so: I had a dream, which was not all a dream. The bright sun was extinguish’d, and the stars Did wander darkling in the eternal space, Rayless, and pathless, and the icy earth Swung blind and blackening in the moonless air; Morn came and went – and came, and brought no day, And men forgot their passions in the dread Of their desolation [...].1

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts lässt die Vorstellung, dass das Menschengeschlecht dereinst von einer Katastrophe dahin gerafft werden könnte und dass ein letzter Mensch diesen Untergang protokolliert, die literarische Phantasie der Moderne nicht mehr los. Mary Shelley war nicht die erste Autorin, die einen letzten Menschen in die nur um einen Hund gekürzte Einsamkeit schickte. Einen solchen Robinson der ganzen Erde hatte bereits Jean Paul in seiner Erzählung Die wunderbare Gesellschaft einer Neujahrsnacht aus dem Jahre 1801 an den Rand der Welt gestellt. In der Neujahrsnacht, die das 18. Jahrhundert schließt, sitzt der Erzähler in seinem Schreibzimmer und versinkt in verschiedene Zeitmeditationen, als plötzlich vor seinem imaginären Auge „drei Propheten der Zeit“ auftreten. Zu ihnen zählt ein Jüngling, der folgendes sagt: Es gibt einmal einen letzten Menschen – er wird auf einem Berg unter dem Äquator stehen und herabschauen auf die Wasser, welche die weite Erde überziehen – festes Eis glänzet an den Polen herauf – der Mond und die Sonne hängen ausgebreitet und tief und nur blutig über der kleinen Erde, wie zwei trübe feindliche Augen oder Kometen – das aufgetürmte Gewölke strömet eilig durch den Himmel, und stürzet sich ins Meer und fährt wieder em-

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Byron, Poetical Works, ed. by Frederic Page. London: Oxford University Press 1970, S. 95.

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por, und nur der Blitz schwebt mit glühenden Flügeln zwischen Himmel und Meer und scheidet sie – Schau auf zum Himmel, letzter Mensch! Auf deiner Erde ist schon alles vergangen – deine großen Ströme ruhen aufgelöset im Meere. 2

Zur gleichen Zeit, als Jean Pauls Erzählung Die wunderbare Gesellschaft einer Neujahrsnacht erschien, beendete der französische Schriftsteller Jean-Baptiste François Xavier Cousin De Grainville den ersten Roman, der von einem einsamen Überlebenden einer Weltkatastrophe erzählt: Dieses Werk Le dernier homme erschien postum im Jahr 1805. Der Roman spielt in der Umgebung der Ruinen von Palmyra, einer antiken Antike, die im 3. Jahrhundert römische Provinz wurde, aber ihre Handlung ist in eine ferne Zukunft gelegt. In einer Höhle begegnet der Icherzähler seinem Gott, dem himmlischen Chef aller Zeiten. Das Oberhaupt der Welt und der Ewigkeit lässt den Erzähler die Geschichte des letzten Menschen in einem magischem Spiegel, dem romantischen Kino, erleben, ehe er die Welt und die Zeit definitiv zum Verschwinden bringt. Aber der Erzähler erhält die Sondervorstellung nicht nur zum Vergnügen, er soll dieses zukünftige Endspiel schon jetzt aufzuschreiben. Denn der letzte Auftritt des Menschen liegt aus der Sicht des Erzählers noch in ferner Zukunft, aber der Herr der Zukunft möchte doch, dass bereits lange vor diesem Ende das Weltfinale einen Beobachter und Protokollanten habe. Der letzte Mensch und Zeuge des Weltuntergangs ist sinnreich auf den letzten Buchstaben des griechischen Alphabets getauft und heißt Omegare. Der Erzähler wird auf diese Weise Zeuge, wie im Spiegel der Zukunft Omegare in einer bereits vom Untergang gezeichneten düsteren Welt auf Adam, den Vater der Menschen, trifft. Der letzte Mensch erzählt dem ersten seine Geschichte. Alle diese zum Teil gewaltigen Endzeiterzählungen legen stets große Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Tiere. Dass es nun vor allem Hunde sind, die mit einem letzten Menschen am Saum der Zeit entlang wandern, mag nicht erstaunen, da die animalische Sentimentalität der Moderne in der Hundeliebe kulminiert. Doch die endzeitlichen Hunde kommen mit ihrer Freundlichkeit und Treue nicht allein aus der Hundeliebe der Autoren. Sie haben sich für ihre Rolle empfohlen, weil sie bereits seit der frühen Neuzeit mit einer spezifischen literarischen und emblematischen Qualität ausgestattet wurden, die auch sie zur Zeugenschaft tauglich macht. Die verschiedenen Romane vom letzten Menschen und seinem schweifwedelnden Begleiter, Mary Shelleys The Last Man, Richard Mathesons I am a Legend, Herbert Rosendorfers Großes Solo für Anton, Marlen

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Jean Paul, „Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht“, in: Jean Paul, Werke, hg. v. Norbert Miller, München: Hanser 1960-1977, Bd. IV, S. 1121-1138, S. 1133f.

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Haushofers Die Wand, Magaret Atwoods Oryx und Crake sowie Michel Houellebecqs La possibilité d’une île, erzählen nicht allein von einem letzen Menschen und seinen Überlebensversuchen. Sie geben sich vielmehr als Bericht aus der Feder dieses apokalyptischen Zeugen, der treu seine letzten Erfahrungen protokolliert. Dass dieser Bericht für niemanden ergeht, ist ein raffiniertes Erzählmanöver, über das auch viel zu sagen wäre. Die Tatsache indessen, dass Mary Shelleys Letzter Mensch ebenso wie Houellebecqs 25. Daniel doch in einer fiktiven Zeugenschaft schreiben oder gar eine Pflicht als Dokumentarist erfüllen, bleibt nicht allein dem erzähltechnischen Problem zugerechnet. Andere Erzähler kümmern sich nicht um die Paradoxie, dass ihre Protokolle doch niemanden mehr erreichen werden. Bereits Lord Byrons Vision eines Menschheitsuntergangs, die Elegie Darkness, lässt einen Hund auftreten, der bis zum Ende mit unerschütterlicher Treue seinem Herrn beisteht. Die kosmische Katastrophe führt zu einer Hungerepidemie, so dass sogar die Hunde ihre Herren anfallen. Es gibt nur eine Ausnahme: Even dogs assail’d their masters, all save one, And he was faithful, to a corse, and kept The birds and beasts and famish’d men at bay, Till hunger clung them, or the dropping dead Lur‘d their lank jaws; himself sought out no food, But with a piteous and perpetual moan And a quick and desolate cry, licking the hand Which answer’d not with a caress – he died.3

Der Hund klagt hier nicht einfach als ein literarischer Topik entstiegenes Geschöpf, obgleich er zur sentimentalen Ausstattung einer Szene gehört, die beim Untergang der Welt dem Menschen einen Begleiter zugesellt, der auch bisweilen als Liebesobjekt dient. Vielmehr gehört der Hund strukturell zum Protokoll der Apokalypse. Es übernimmt eine notarielle Funktion. Dies ist nicht immer evident, und so folgen hier zunächst ein paar Beispiele für eine anscheinend indifferente Zeugenschaft des Hundes beim letzten Menschen. Richard Mathesons Roman I am a Legend erschien im Jahre 1954, spielt aber im Jahre 1974. Es ist die Geschichte eines letzten menschlichen Originals, eines Mannes namens Robert Neville, der eine Bakterienepidemie überlebt hat und der seine leere Zeit damit füllt, die als Vampire mit minderer Intelligenz fortleben-

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Byron, Poetical Works, (Anm. 1), S. 95.

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den Ex-Menschen zu töten. Diese Vampire sind aber nicht seine einzigen Feinde, denn die von allem Leben nahezu entleerte Welt bevölkert noch eine andere menschenähnliche Art, die gegen die Epidemie resistent blieb und die es sich zur Mission gemacht hat, alle anderen Opfer der Katastrophe zu töten. Am Ende wird Neville tatsächlich von diesen Wesen erschlagen, nachdem er jahrelang allein gelebt hat – bis auf eine kleine Episode, wo es ihm gelang, einen verängstigten Hund bei sich aufzunehmen, der als einziges nicht menschenartiges Wesen überlebt hat, aber doch kurz darauf stirbt. Mathesons Roman wurde 1964 unter dem Titel The Last Man on Earth von Sidney Salkow verfilmt. Das Bild zeigt den kurzen Augenblick, da dieser letzte Begleiter auftaucht.

Abb. 1: Der Hund in The Last Man on Earth von Sidney Salkow Eine zweite Version des Themas wurde 1971 unter dem Titel The Omega Man von Boris Sagal verfilmt. Der Name Omega ist offenbar von Grainville adaptiert, dessen Held ja Omegare hieß. Dass der letzte Mensch, den Matheson auf den Namen Robert Neville tauft, als letzten Begleiter einen Hund hat, war hingegen bei Mary Shelley abgeschrieben. 2007 kam eine weitere Filmversion von Mathesons Roman heraus I am Legend von Francis Lawrence. Auch in diesem Film tauchen am Ende doch noch ein paar versprengte Menschenwesen auf, nachdem der Held des Films, ein modernisierter Robert Neville, der monatelang mit seinem Hund durch das menschenleere, nur von wilden Tieren bevölkerte New York gepilgert ist. Der Schnappschuss zeigt Neville, dargestellt von Will Smith, mit seinem Hund.

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Abb. 2: Robert Neville mit Hund in I am Legend von Francis Lawrence Diese Geschichten und Movies beschäftigen den letzten Menschen nicht mit dem Protokoll des Untergangs. Der Hund spielt zwar emblematisch mit, aber ihm übertragen weder Autoren noch Regisseure eine notarielle Funktion. Denn der hündische Begleiter des letzten Menschen ist nicht immer nur das melancholisch schweifwedelnde Tier. In anderen Romanversionen von letzten Menschen fletschen sie als der Wildnis zurückgegebene Abkömmlinge des treuen Haushundes die Zähne. So in Herbert Rosendorfers Roman Goßes Solo für Anton aus dem Jahr 1979. Der Titelheld Anton erwacht eines Morgens in seiner süddeutschen Kleinstadt, und alle übrigen Menschen sind spurlos verschwunden. Für diese plötzliche Menschenleere gibt es keine Erklärung. In den Nachbarwohnungen und Häusern hört Anton die Hunde kläffen, die wie er von allen guten Geistern in Gestalt von Herrchen und Frauchen verlassen wurden. Antons Einsamkeit wird nur dadurch belebt, dass bisweilen das Denkmal des Kurfürsten und ein Hase mit ihm sprechen. Die Hunde, die er in den ersten Tagen aus den Wohnungen bellen und winseln hörte, nehmen bald nach ihrer Befreiung ihr altes wölfisches Wesen wieder an, und Anton muss mit seinen zahlreichen Waffen dafür sorgen, dass sie ihn nicht zerreißen. Nach gut zwei Monaten hat er bereits 400 Tiere erlegt. Nicht viel besser als Rosenhofers Helden ergeht es dem Protagonisten des Romans Oryx and Crake von Margaret Atwood. Diese 2003 erschienene Science-Fiction-Erzählung lässt den letzten Menschen Jimmy durch eine postkatstrophische menschenleere Welt geistern. In Frankreich kam das Buch daher auch unter dem Titel Le dernier homme heraus.4 4

Atwood, Margaret, Oryx and Crake, London: Bloomsbury 2003.

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Jimmy durchquert ein durch missglückte gentechnische Experimente verwüstetes Amerika. Die Menschheit ist durch eine gezielt verbreitete Lifestyledroge und infolge von Ökokatastrophen ausgestorben. Außer Jimmy Snowman bevölkert nur noch eine transgene Hominidenart das durch Erdbeben und Tsunamis fast ausgelöschte Amerika. Ihren Namen, sie heißen Craker, verdanken sie dem Bioingenieur Crake, einem Jugendfreund Jimmys. Crake hat das Design dieser posthumanen Wesen entworfen, sie mit Freiheit von Sex und Religion gesegnet und mit der nötigen Robustheit ausgestattet, um in der wüsten Umwelt zu überleben. Crake wollte mit der neuen Menschenart gerade das absehbare Ende der Welt aufhalten. Der Gentechniker schwang sich zum Katechont auf, und ließ zur Erhaltung des Lebens das alte menschliche Umweltungeheuer verschwinden. Die Crakers hingegen sollten als naive, von allen Gewaltund Ehrgeiztrieben gereinigte Art für ein Fortbestehen des Ökosystems sorgen. Zwar verehren die Crakers Jimmy wie einen Gott und bilden für ihn keine Gefahr, aber andere mutierte Tierarten, darunter aggressive Hunderassen und Organersatzschweine, sind den Biolabors entsprungen und bedrohen den letzten Menschen, der sich nachts auf Bäume zurückziehen muss, um den Bestien zu entgehen. Der Roman erzählt die Geschichte von Jimmy Snowman in Serien von Rückblenden, während dieser sich in der zerstörten Welt einzurichten beginnt. Crake hatte ihn gegen die Seuche immunisiert, daher muss er über den Grund seiner Ausnahmestellung nicht grübeln. Von Interesse ist nun, dass die Hunde, die aus Crakes Biolabor hervorgegangen sind und die Snowman gefährlich zusetzen, ihre natürliche Eigenart eingebüßt haben, nämlich ohne alle Zweideutigkeit zu sein. Sie heißen daher auch anders, nämlich Hunölfe, aber sie sehen aus wie Hunde, benehmen sich wie Hunde, kommen freundlich schweifwedelnd mit gespitzten Ohren auf ihn zu, aber dann fallen sie ihn an. Es hat nicht viel gebraucht, sagt sich Snowman, und fünfzigtausend Jahre Wechselwirkung zwischen Mensch und Hund sind zurückgedreht. Diese Hunde sind falsch und unterlaufen damit das mythische Bild, das die Literatur von ihrem Wesen gezeichnet hat. Der mythische Hund war eindeutig, er litt nicht am Gleiten des Signifikanten, der mythische Hund war nicht ironisch, er konnte nicht betrügen. So ist die Episode mit den Hunden in Oryx und Crake aufschlussreich, weil eine uralte Liaison, die zwischen Schrift und Hund, zerrissen ist. Die Treue und der von Deutungsirrtümern freie Bezug der Hunde zur Welt haben ihnen in einer emblematischen und mythischen Historie Eigenschaften beschert, die sie zu Garanten von Zeichen und Schriften erhob. Snowman, der im Gegensatz zu Crake als Schriftmensch charakterisiert ist und damit die Aufgabe übernehmen könnte, das Ende der Menschenzeit zu protokollieren, ist um seinen Partner gebracht. Für den

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Sprach- und Schriftmenschen Jimmy ist dies eine Katastrophe, weil ihm zur Bezeugung des Weltendes oder zum Protokoll des Menschenendes kein Hund beisteht. Das darf man sagen, weil diese Lage in anderen Erzählungen des gleichen Endes, bei Mary Shelley, aber auch bei Marlen Haushofer und Michel Houellebeq anders angelegt ist. Dort tritt der Hund dem Notar der Katastrophe schweifwedelnd bei.

II. Die Geschichte des Hundes als Beglaubigungsinstanz und Schreiber mag hier am Beispiel verschiedener Medien, Bilder und Texte skizziert werden.5 So ist die Funktion des Hundes als Notar auf einem berühmten Gemälde festgehalten: in Jan van Eycks Portrait des eben getrauten Ehepaares Arnolfini. Der Hund tritt hier in der Funktion des Zeugen auf. Man erkennt im Hintergrund, oberhalb der Hände des Ehepaars einen Spiegel, der den malenden Künstler von vorn und das Ehepaar von hinten zeigt. Damit offenbart sich im virtuellen Raum das Objekt des hündischen Blicks: Es ist dieser Künstler, der eigentlich unsichtbar im Vordergrund des Bildes selbst steht, aber auch seine Anwesenheit durch ein Schriftzeugnis auf dem Bild bezeugt. Die kunsthistorische Interpretation tendiert dazu, den Hund als Zeichen der Treue zu lesen. Die Treue zählt gewiss zur kynologischen Semantik, und sie spielt unvermeidlich in den Kontext des Hochzeitbildes hinein. Aber damit sind die Ressorts seines Amtes nicht erschöpft, sondern es kommen noch weitere hinzu.6

5

Vgl. hierzu ausführlicher Verf., „Das Notariat der Hunde. Eine literaturwissenschaftliche Kynologie“, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie. Sonderheft zu Band 126 (2007), S. 4-27.

6

Hierzu Harbison, Craig, „Sexuality and Social Standing in Jan van Eyck's Arnolfini Double Portrait, in: Renaissance Quarterly 43 (1990), pp. 249-291. und ders.: The Mirror of the Artist. Northern Renaissance Art in its Historical Context, New York: Abrams 1995.

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Abb. 3: Jan van Eyck: Das Ehepaar Arnolfini (1434) Eine weitere Dimension zeigt die Darstellung eines mittelalterlichen Intellektuellen bei der Arbeit: Vittore Carpaccios Bildnis des Heiligen Augustinus von 1506.

Abb. 4: Vittore Carpaccio: Der Heilige Augustinus (1506) Man sieht hier, dass der kleine Malteserhund seinen Blick in die gleiche Richtung lenkt wie der Heilige Autor, der eben im Schreiben innehält. Die geschärf-

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ten Sinne des Hundes werden seit der Antike gerühmt. So berichtet der griechische Zoologe Aelian, dass die Hunde im Athena-Heiligtum von Daunia genau zwischen Göttern und Menschen und ebenso unerbittlich zwischen Hellenen und Barbaren unterschieden: Die einen begrüßten sie mit Schweifwedeln, die anderen aber mit Gebell.7 Für den Betrachter ergibt sich damit der Hinweis, dass der augustinische Malteser hier eine animalische, nämlich natürliche Wahrnehmung dessen hat, was dem Kirchenvater als spirituelle Vision zuteil wird.8

Abb. 5: Benozzo Gozzoli: Augustinus als Rhetoriklehrer in Rom (um 1460) Die kynologische Semantik, die in diese Bilder eingeht, entstammt vornehmlich antiken und patristischen Quellen. Sowohl das Arnolfini-Gemälde als auch das Augustinus-Bild geben zu sehen, dass diese Hunde einen ausgebildeten Sinn für

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Peri Zoon Idiothätos 11,5. Auch Pferde haben diese Unterscheidungsfähigkeit, vgl. 16, 24, Aelian, On the Characteristics of Animals. With an English Translation by A.F. Scholfield, London, Cambridge: Harvard University Press 1971, Bd. II, S. 363 u. Bd. III, S. 295f.

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Vgl. Reuterswärd, Patrik, „The Dog in the Humanist Study“, in: Ders.: The Visible and Invisible in Art, Vienna: IRSA 1991, S. 206-311.

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den unsichtbaren Grund der Dinge haben: für Götter, Heilige und den Künstler. Es ist nämlich die Vision des Apostels Johannes, in die Augustinus und sein Hund gleichzeitig versunken sind. Zugleich heißen bei Gregor dem Großen auch die Kirchenväter canes.9 Tatsächlich durchläuft die Renaissance eine ganze Tradition bildlicher Komplizenschaft von Gelehrten und Hunden.10 So etwa auf einem Portrait des Augustinus von Benozzo Gozzoli aus den 1460er Jahren. Dies Bild zeigt den künftigen Kirchenvater noch vor seiner Bekehrung als Lehrer der Rhetorik in Rom. Es ist aber keine rein ikonographische Geschichte, die sich hier vor unseren Augen zeigt, sondern eigentlich eine literarische. Eine entscheidende Rolle in dieser Geschichte spielte ein Werk, das zu Beginn des 15. Jahrhunderts auftauchte, nämlich die so genannten „Hieroglyphica“ des Horapollo.11 Bei diesen „Hieroglyphica“ handelt es sich um ein weitgehend apokryphes griechisches Werk, das im 15. Jahrhundert zunächst in Italien für erhebliches Aufsehen sorgte. Die Renaissancegelehrten gelangten nämlich zu der Ansicht, dass sie hier ein Quellenwerk über die Bedeutung der seit der Antike viel umrätselten Hieroglyphen in Händen hielten. Das schmale Manuskript stammt aus dem alexandrinischen Gelehrtenkreis des zweiten bis vierten Jahrhunderts. Weder ist der Name des Horapollo sonstwo erwähnt noch der des Übersetzers Philippus, der das Werk ins Griechische übersetzt haben soll. Gesichert ist lediglich, dass die „Hieroglyphica“ von einem Geistlichen namens Christofero de’ Buondelmonti auf der Insel Andron erworben und nach Florenz gebracht worden waren. Damals schrieb man das Jahr 1419. Die „Hieroglyphica“ beschreiben und erläutern in zwei Büchern rund 190 Bildzeichen, die als Hieroglyphen ausgegeben werden. Monoton setzt jede Beschreibung an: „Wenn sie [dies oder jenes] bezeichnen wollten, dann zeichneten sie […].“ Zunächst gelangten die „Hieroglyphica“ ohne Illustrationen in den Druck. Erst nachdem im Jahre 1556 Pierio Valerianos mit Holzschnitten ausgestattetes Kompendium über die Hieroglyphen mit Horapollos Werk im Anhang erschienen war, wurden Illustrationen daraus später auch den Einzelausgaben

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Moralia Liber XX, VI, 15. Patrologia Latina LXXVI, 145.

10 Belege bei Reuterswärd (Anm. 8). 11 Ori Apollinis Niliaci, Hieroglyphica. Per Bernardinum Trebatium Vincentinum a Graecis translata, Augsburg 1515. Neuausgabe: Horapollo, Zwei Bücher über die Hieroglyphen. In der lat. Übersetzung von Jean Mercier nach der Ausgabe Paris 1548, hg. v. Helge Weingärtner, Erlangen: Specht 1997.

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des Horapollo einverleibt.12 So trat eine erste Wissenschaft auf den Plan, die ein Lexikon von Hieroglyphen erstellte.

Abb. 6/7: Pierio Valeriano: Hieroglyphica (1556) Die Bilder zeigen also Schriftzeichen oder Ideogramme für Frömmigkeit und Gewohnheit. Die Wirkung dieser und weiterer Werke auf die neue Hieroglyphenmode und ägyptologische Wissenschaft war in Italien wie auch in anderen Ländern Europas ganz enorm. Erasmus von Rotterdam glaubte sogar, dass die Autoren ganz neue Quellen erschlossen haben müssten.13 Auch Leonardo da Vinci befasste sich mit Hieroglyphenkunde, und in seinen frühen Jahren verfasste er einen „Bestiarius“, worin er verschiedene Tierarten beschrieb, die sich später im großen emblematischen Tierpark drängeln sollten: Bieber, Storch, Löwe, Adler, Elefant, Pelikan, Salamander, Chamäleon, Krokodil.14 Neben vielen anderen Büchern ist aber Valerianos Werk für die Verbreitung solch posthieroglyphischer Tierbilder, wenn sie auch schon in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts fallen,

12 Pierio Valeriano, Hieroglyphica sive de sacris Aegyptiorum aliarumque gentium literis, Basel: Isengrin 1556. 13 Hierzu auch Assmann, Jan, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München: Hanser 1998, S. 118ff. 14 Vgl. hierzu Leonardo [da Vinci], The Literary Works of Leonardo da Vinci, 2 Bde., hg. v. Jean Paul Richter, New York: Phaidon 1970, 2. Bd., S. 313ff. Hinweis nach Volkmann, Ludwig, Bilderschriften der Renaissance. Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen, Leipzig 1923, S. 31.

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besonders aufschlussreich. Das folgende Beispiel eines Hundes stammt aus Valerianos „Hieroglyphica“.

Abb. 8: Darstellung des Princeps oder Notars in Pierio Valerianos Hieroglyphica Der Hund tritt hier mit einer Schärpe auf, die ihn als Amtsträger ausweist. Das Hundeamt des princeps ist in der Erläuterung ausführlich bezeichnet15, indessen ist es nicht das einzige officium, das ihm oder seinem Bild übertragen wurde. Das esoterische Wissen, das dieser Signatur bei Horapollo zugrunde liegt, lautet: „Magistratum vero aut iudicem cum disegnant: appingunt cani & regiam vestem, nudae figurae appositam.“ (Wenn sie einen hohen Beamten oder einen Richter

15 Valeriano, (Anm. 12). In fol. 42v heißt es: „Praeter ea quae iam posita sunt de cane significata, sacerdotes iidem Aigypty si principem aut legislatorem significare vellent, canem hieroglyphicum cum diademate. Siue fascia, vel amiculo faciebant, reliqua corporis facie nuda, propterea quòd veluti leuisomna canum, vt cum Lucretio iocer, fido cum pectore corda in Deorum simulacris diligenter observandis detinentur.“

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anzeigen wollten, dann zeichneten sie eine königliche Schärpe zur sonst unbekleideten Gestalt eines Hundes.)16 Weiter heißt es bei Horapollo, dass der Hund bei den Ägyptern auch als Ideogramm eines heiligen Schreibers, nämlich eines Notars, und eines Propheten geschrieben wurde. Kein Wunder also, dass in Deutschland nicht nur die Humanisten, sondern auch die kaiserliche Majestät Maximilian selbst ein heißes Interesse an dem Horapollo-Werk zeigten. Maximilian hatte den Gelehrten Willibald Pirckheimer ausdrücklich beauftragt, eine Übersetzung des griechischen Horapollo ins Lateinische anzufertigen. Das erste Buch dieses Werkes wurde von Albrecht Dürer illustriert. Kaiser Maximilian selbst kümmerte sich zu dieser Zeit besonders eifrig um die vermeintliche ägyptische Weisheit, weil er sich mit genealogischen Forschungen befasste und dabei nach Anhaltspunkten dafür suchte, dass der ägyptische Herkules am Beginn der Habsburger Dynastie gestanden haben könnte. Da der ägyptische Herkules als Sohn des Osiris galt, und da dem Gott Osiris nach einer anderen, sehr verbreiteten Humanistenschrift, den „Antiquitates“ des Annius da Viterbo17, die Erfindung der Hieroglyphenzeichen nachgesagt wurde, war also denkbar, dass sich über diesen Stammvater Osiris die prestigeträchtige Stiftung der Buchstaben dem Konto der Habsburger gutschreiben ließ.18 Die erhaltenen Reste der von Pirckheimer übersetzten Horapollo-Handschrift enthalten nun auch eine Holzschnitt-Version Dürers, die den Princeps mit Stola zeigt. Diese Semantik, die Hunde-Bilder als Signifikanten von Autorität und Vertrauenswürdigkeit auftreten lässt, aktiviert noch ein anderes emblematisches Potential, das sich von der patristischen Lesart des apostolischen Amtes her schreibt. Nennt doch Gregor I. in seinen „Moralia“ die Heiligen Kirchenväter die Hunde der Gläubigen: „canes […] doctores sancti […] fidelium custodes.“19

16 Horapollo nach Weingärtner, (Anm. 11), S. 70 (I, 40). Pirckheimer übersetzt hingegen: „principem optimum exprimere volentes, canem stola decoratum pingebant, quoniam animal templa ingreditur, et Deorum imagines acute inspicit. Priscis quoque temporibus judices soli regem videbant stola amicti.“ Beleg nach Volkmann, (Anm. 14), S. 89. 17 Giovanni Nanni [Annius da Viterbo], Antiquitatum Variarum, 17 Bde., Venedig 1499, et sæp. 18 Darstellung nach Giehlow, Karl, „Dürers Stich ‚Melencolia I‘ und der Maximilianische Humanistenkreis“, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst. Beilage der „Graphischen Künste“ 4 (1904), S. 57-78. 19 Patrologia Latina LXXVI, Sp. 145.

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Abb. 9: Albrecht Dürers Illustration zur HorapolloHandschrift. Darstellung des Fürsten und heiligen Schreibers Dies ist möglich, weil in einer anderen Tradition die Hunde, auf Grund ihres Scharfsinns, ihrer Unbeirrbarkeit auch als Verkörperungen der Dialektik bzw. der Logik auftreten konnten. Dafür noch zwei Beispiele. Das eine entstammt dem Emblembuch von Christopherus und Andreas Coricynus Emblemata in VII artes liberales (1597) Hier verfolgt die Dialektik oder Logik in Gestalt mehrerer Jagdhunde einen Hasen. Diese Darstellung versinnbildlicht den investigativen Charakter der Dialektik. Zugleich verfügt das Mittelalter auch über eine cynoforme Ikonographie des Gottes Merkur, der als Erfinder oder Stifter der Rhetorik galt. Auch Merkur wurde häufig mit einem Hundekopf dargestellt. Warum? Antwort: „quod inter omnia animalia canis sagacissimus genus et perspicax habeatur.“20

20 Vgl. hierzu Wirth, August, „Die kolorierten Federzeichnungen im Cod. 2975 der österreichischen Nationalbibliothek. Ein Beitrag zur Ikonographie der Artes Liberales im 15. Jahrhundert“. In: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg (1979), S. 67-110, S. 78.

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Abb. 10: Christopherus u. Andreas Coricynus: Emblemata in VII artes liberales (1597). Darstellung der Dialektik Ein wenig komplexer fällt die Darstellung der Logik in der Margarita Philosophica von Georg Reisch aus. Diese populäre Kompilation des mittelalterlichen Wissens erlebte mehrere Auflagen. Die Allegorie der Logik stammt aus der Ausgabe von 1517. Die Illustration personifiziert die Logik als investigative Hornbläserin, die dem logischen Problem in Gestalt eines Hasen auf der Spur ist. Zwei Hunde bilden ihre Vorhut. Der Hund veritas sowie der Hund falsitas führen die allegorisch überfrachtete Landpartie an. Ihr Weg geht über die steinigen Insolubilia, die unlösbaren Probleme. Die vestimentäre Ausstattung der Logica ist ebenso allegorisch: conclusiones, quaestiones, syllogismoi, der locus und die argumenta bilden ihre Toilette. Sogar ihre Schuhe heißen praedicamenta und praedicabilia. Hier jagen die Hunde nur als Begleiter der Logik. Als muntere veritas und etwas träge falsitas folgen sie her masters voice, die aus dem Horn ergeht. Links aus einer Art Höhle verfolgt Parmenides in melancholischer Haltung das Treiben.

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Abb. 11: Georg Reisch: Margarita Philosophica (1508 und 1517). Darstellung der Logik

III. Dies waren Auszüge des seligen 16. Jahrhunderts und seiner eigenen Vorstellungen vom Hund als einem emblematischen Wesen und unbestechlichen Zeugen. Die Literatur der Moderne stellt dem Letzten Menschen den Hund daher nicht als Einsamkeitströster zur Seite oder auch nicht als Repräsentanten der Tierwelt, sondern er gehört in diese Schreibszene, weil er dank seiner mythisch und emblematisch erworbenen Fähigkeit, zu denken, Götter zu riechen, heilige Schriften zu kopieren, dort an der Aufgabe mitwirkt, das metaphysische Ereignis des Welt- und Menschenendes getreulich zu protokollieren. Die Schreibszene des protokollierenden Letzten Menschen ist durchsichtig auf die Konstellation in Carpaccios geheimnisvoller Augustinusvision (Abb. 4). Hier noch einige Bemerkungen zu den beiden erwähnten Romanen, zu Margret Haushofers Die Wand und zu Michel Houellebecqs Die Möglichkeit einer Insel. Marlen Haushofers 1963 erschienener Roman erzählt in der Ich-Perspektive die Geschichte einer etwa 40jährigen Frau, die ein Wochenende in der Jagdhütte

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ihres Schwagers im Gebirge verbringt. Am Morgen nach ihrer Ankunft sind Schwager und Schwester verschwunden. Gemeinsam mit dem Hund des Schwagers erkundet sie die Umgebung. Dabei stößt sie auf eine unsichtbare Sperre, die sie von der Umgebung trennt. Ein jenseits dieser unsichtbaren Mauer an einem Brunnen sitzende Mann ist offenbar tot. Eine rätselhafte Katastrophe hat offenbar diese gläserne Wand errichtet und jenseits von ihr alles Leben vernichtet. Diese unsichtbare Wand bildet für sie Schutz und Gefängnis. Sie umschließt mehrere Jagdreviere, es gibt verschiedene Pflanzen, und so begibt sich die einsame Frau daran, mit den verbliebenen Vorräten, aber auch mit den Früchten und Tieren des Waldes und ihres Gartens das Weiterleben zu organisieren. Nach und nach laufen ihr verschiedene Tiere zu: zum Hund gesellen sich Katzen und später eine trächtige Kuh. In einer späteren Episode tritt dann doch ein weiteres Menschentier auf, ein Mann, der grundlos den Hund und den Jungstier tötet, den die Kuh zur Welt gebracht hat. Daraufhin erschießt sie den mörderischen Fremdling. Trotz der Mühen und Schmerzen und zuletzt der Enttäuschungen, die sie zu erdulden hat, scheint die Frau keineswegs unglücklich. Die Einsame legt ein Journal an, ohne zu wissen, ob es je einen Leser geben wird. Der Leser hält also einen Bericht in der Hand, den diese Frau in den Wintermonaten des dritten Jahres, das sie allein verbringt, auf der Grundlage von Kalendereinträgen verfasst. Sie weiß nicht so recht, warum sie das tut, aber als eines der Motive nennt sie das Verlangen, ihr Menschsein nicht einzubüßen. Das heißt nicht die Angst, ein Tier zu werden, sondern am Tier vorbei in einen Abgrund des Lebendigen zu stürzen. Diese in der absoluten Einsamkeit entstehende Synonymie von Menschsein und Schreiben bildet ein privatkatechontisches Tun, das eben die Katastrophe nicht im Rücken, sondern vor sich sieht. Das Schreiben ist nur ein anderes Register einer Kommunikation, die sie mit ihren Tieren unterhält, dem Hund Luchs, der Kuh Bella, den Katzen Perle und dem Kalb Stier, die sie ersichtlich aller Kommunikation mit Menschen vorzieht. Als letzter Mensch leidet sie also nicht unter Einsamkeit, sondern allein unter der am Horizont aufziehenden Gefahr, dass das Schreibzeug, Papier und Bleistifte zu Ende gehen könnten oder dass sich ihre Lebensbedingungen schlagartig änderten. Sie denkt nicht ernsthaft daran, unter die Wand ein Loch zu graben und das Jenseits kennenzulernen. Wie nahezu allen letzten Menschen der Literatur und des Kinos stirbt dieser Hund, und die Trauer darüber bildet das intensivste Gefühl, von dem man erfährt. Nicht anders ist diese Erfahrung in Michel Houellebecqs Roman Die Möglichkeit einer Insel. Die Konstellation dort ähnelt sehr der Situation im Magret Atwoods Oryx and Crake. Der Roman hat zwei Zeitebenen, eine entspricht mehr oder minder unserer Zeit und eine zweite liegt rund 2000 Jahre später. Dazwi-

E NDZEITLICHES S CHWEIFWEDELN

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schen folgen 25 Generationen aufeinander, von deren Schicksal wir wenig erfahren, aber die Welt ist inzwischen durch Atomkriege und Umweltkatastrophen sowie durch eine Verschiebung der Erdachse nahezu unbewohnbar geworden. Erzählt wird aus der Perspektive eines ersten Protagonisten namens Daniel und derjenigen fernen Nachfahren dieses ersten Daniel, die durch Klontechnik hervorgebracht werden. Der erste Daniel bestreitet die gute Hälfte der Erzählung, und die andere Hälfte wird von den Daniels Nr. 23 bis 25 bestritten, die die Berichte ihrer jeweiligen Vorgänger lesen und kommentieren. Sie alle bleiben am Leben, weil sie Mitglieder einer Sekte, der Elohimiten, sind, die die Bedingung des Fortbestehens an diese Regel knüpft, dass die diversen Generationen über Schriftzeugnisse miteinander verbunden bleiben. Diese Sekte steht auf der Grundlage einer religiösen Ideologie, da sie an Außerirdische glaubt, die auf die Erde gekommen sind und die Klontechnik in die Welt gebracht haben. Ich will gleich zur Pointe kommen. Durch diese vielen Generationen wandert auch ein Hund namens Fox, der zuletzt der einzige präsente Gefährte der einsamen Daniels bleiben wird. Der Grund für die Existenz der Daniels ist also das Eintauchen in die Schreibszene, die auch eine Leseszene ist und dies in der Gemeinschaft mit der jeweiligen Generation des Fox. Mit der Zeit wird den NeoMenschen das Verlangen nach Glück und Liebe des ersten Daniel zunehmend unbegreiflich, ihnen ist wie den Crakern das Verlangen nach Fortpflanzung wie so viele andere beunruhigende Verlangensformen aus dem genetischen Programm gestrichen. Allein dank Fox mit seiner unwandelbaren Treue, die wie ein mythisches Kapital die Zeiten und Transformationen übersteht, bleibt ihnen eine ungefähre Anschauung von dem, was Liebe ist. So verfügen diese Daniels außer den Schriftzeugnissen und dem Hund über keine weitere Empirie. Sie kommunizieren zwar über elektronische Terminals mit anderen – es gibt auch Frauen – aber dies führt zu keinen weiteren Verbindungen. Daher nur als eine Kostprobe aus dem Roman eine Passage, in der Daniel 24 über seinen Hund schreibt: Doch am liebsten mag er es, wenn ich ihn in den Arm nehme und er mit geschlossenen Augen in seligem Halbschlaf, den Kopf auf meinem Schoß, sich von der Sonne bescheinen lässt. Wir schlafen im selben Bett, und jeden Morgen leckt er mich zu Begrüßung ab und kratzt mich mit seinen kleinen Pfoten; er ist sichtlich glücklich, das Leben und das Tageslicht wiederzufinden. Er hat die gleichen Freuden wie seine Vorfahren, und auch bei seinen Nachkommen werden es die gleichen bleiben; seine Natur beinhaltet die Möglichkeit des Glücks. Ich bin nur ein Neo-Mensch, und meine Natur beinhaltet keinerlei Möglichkeit dieser Art. Dass bedingungslose Liebe die Voraussetzung für die Möglichkeit des Glücks ist, dass wussten schon die Menschen, zumindest die am weitesten entwickelten unter ihnen. Auch

228 | M ANFRED S CHNEIDER wenn wir das Problem inzwischen vollständig erfasst haben, ist es uns bisher nicht gelungen, irgendeine Lösung dafür zu finden. […] basieren die in Anlehnung an Darwin entwickelten Theorien, die das Auftauchen des Altruismus in Tiergesellschaften durch einen selektiven Vorteil für die Gesamtheit der Gruppe zu erklären suchen, auf einer Reihe von derart ungenauen, widersprüchlichen Berechnungen, dass sie schließlich in Vergessenheit geraten sind. Güte, Mitleid, Treue, Altruismus sind also in unserem Umfeld weiterhin unergründliche Geheimnisse, die auf den begrenzten Raum der körperlichen Hülle des Hundes beschränkt bleiben. Von der Lösung dieses Problems hängt es ab, ob die Zukünftigen kommen oder nicht. Ich glaube an die Ankunft der Zukünftigen.21

Der Hund trägt also auch hier eine Schärpe, nicht als heiliger Schreiber, sondern als Vorläufer einer künftigen Erlösung, die alle Tugenden, die der Hund in sich trägt und der Mensch eben nicht, zurückbringen wird. Es ist also mehr als evident, dass dieser Hund eine protoheilige Gestalt ist, da er einmal alle moralischen und emotionalen Eigenschaften besitzt, Liebe, Treue, die den Menschen abgehen, zugleich aber jene andere Treue bewahrt, die allen Klonierungen widersteht. Er ist daher nicht nur ein unbestechlicher Zeuge einer metaphysischen Offenbarung, die auf dem Bild von Carpaccio dargestellt ist, sondern er ist auch unbestechlich in seiner Treue zu der Danielbotschaft, die hier artikuliert ist im Namen des eschatologischen Spezialisten Daniel. Dass dieser Name nicht zufällig gewählt ist, geht aus dem Studium der Bibel, das einer dieser Daniels betreibt, hervor. In der apokalyptischen Stimmung, die die Literatur der letzten Menschen beherrscht, hält die Moderne stets ein Gericht über sich selbst, über ihre anthropologischen Defizite, über Menschenhybris, Menschenbosheit, Menschenhass. Der Hund als Begleiter des letzten Menschen, dem es aufgegeben ist, die Katastrophe zu bezeugen, ist nicht nun Kumpan, Geselle, Liebesobjekt, Dialogpartner, Garant einer wahren Natur, sondern auch stiller Träger all jener Eigenschaften, deren Mangel bei den Menschen eben die Katastrophe herbeigeführt hat.

 21 Houellebecq, Michel: Die Möglichkeit einer Insel. Reinbek: Rowohlt 2005, S. 74ff.

Das, was Herr Duchamp vergessen hat1 H AMED T AHERI

L EISE S TIMMEN Eines kalten Winterabends, als ich Kind war, kroch ich unter meine Decke und öffnete mein Lieblingsbuch, ein illustriertes Buch der Geschichte Noahs. Umringt von den Stimmen der Tiere auf seinem Schiff, schlug plötzlich etwas gegen meine Fensterscheibe. Ängstlich und mit Pipi in der Hose rannte ich zu meiner Mutter. Meine Mutter nahm mich in ihre Arme und sagte mir: „Hab keine Angst, es war nur ein Vogel, der sich im Schnee verirrt hat und gegen die Scheibe flog.“ Ich schlief in jener Nacht in ihren Armen, während die Luft nach ihrem Busen duftete. Ich denke bis heute, dass es ein Geist war. Darum widme ich meinen Aufsatz diesem Vogel oder diesem Geist oder dem Geruch des Busens meiner Mutter.

1

Der hier vorliegende Aufsatz ist die Veröffentlichung eines bearbeiteten Manuskriptes einer Vorlesung unter demselben Titel im Rahmen der Ringvorlesung „Topos Tier“ an der Universität Stuttgart, Internationales Zentrum für Kultur und Technikforschung und Institut für Literaturwissenschaft, 01. Dezember 2010. Die Schauspielerin Elisa Rosenthal eröffnete die Vorlesung mit einer Stimmperformance, in der sie einen Dschungel an Stimmen herbeirief. Die Stimmperformance spielte eine strategische Rolle in der Nachforschung des Autors über den Bezug von Tier und Stimme, da seine Nachforschung das Ergebnis seiner langjährigen Praxis im Theater ist. Ein Wissen, das von einem Ereignis übrig bleibt. Der Autor bedankt sich herzlich bei den Zuhörern der Vorlesung, die mit ihren Fragen und ihrer Diskussion den Autor bei der Bearbeitung des Manuskriptes geleitet haben. Besonderer Dank geht an Jürgen Geiger, der dem Autor beim Lektorieren geholfen hat.

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Wenn ich die Gelegenheit hätte, Marcel Duchamp eine Frage zu stellen, würde ich ihm gewiss eine Frage über das Objekt stellen, welches er vergessen hat: die Stimme. Duchamp war nicht nur ein revolutionärer Künstler, er war auch ein materialistisches Monster. Seine monströse Lehre lautete: sich wie ein schleimiges und klebriges Monster an ein Objekt krallen, dessen Zweck abschütteln oder die Nabelschnur zwischen dem Objekt und dessen Zweck durchtrennen. Das Objekt bleibt dasselbe, ist aber nicht mehr dasselbe. Ein Urinal bleibt ein Urinal, wie alle anderen Urinale, es ist aber kein Urinal mehr.

1. D IE

ERHÄNGTEN

K ATZEN

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S ANKT P ETERSBURG

Lassen Sie uns in das Sankt Petersburg vom Ende des 19. Jahrhunderts zurückgehen, wo Fjodor Dostojewskij, leidend an einer schweren Lungenerkrankung und Blut hustend, seinen letzten großen Roman Die Brüder Karamasow geschrieben hat. Alle Dostojewskij-Fans erinnern sich an die stinkende Frau Lisaweta mit schwarzem und dichtem Haar, ihr ganzes Leben lang barfuß, im Sommer wie im Winter nur ein Hemd tragend, gekleidet in Dreck und Erde, Unrat und Blätter, die, immer im Schmutz schlafend, in einer warmen und hellen Septembernacht bei Vollmond von dem betrunkenen Fjodor Karamasow zwischen Brennnesseln und Kletten geschwängert wird. Neun Monate später bringt Lisaweta einen Jungen zur Welt und stirbt. Der Junge (Smerdjakow) wächst bei Karamasow auf und arbeitet dort in dessen Haushalt. Er leidet an Epilepsie und wir kennen seine Hobbys: Philosophie und streunende Katzen erhängen und begraben. Nach dem Mord an Vater Karamasow weisen alle Spuren auf den bösen Sohn Dimitri. Am Ende des Romans jedoch enthüllt Dostojewskij den wahren Mörder. Smerdjakow gesteht, dass er den alten Karamasow getötet hat. Was, wenn trotz dessen, was Dostojewskij uns glauben machen möchte, nicht Smerdjakow, sondern Lisaweta die Mörderin gewesen ist? Was, wenn Lisaweta nach ihrem Tod nicht schlafen konnte und wie eine lebende Tote umhergewandert ist? Was, wenn Smerdjakow, gekleidet wie seine tote Mutter, mit Perücke und Maske und lallend mit ihrer Stimme, den alten Karamasow getötet hat? Man darf nicht vergessen, dass Lisaweta stumm gewesen ist. Lisaweta ist das, was ich Stimme nenne. Aus ihrem Geschlecht platzt die Sprache heraus und die Stimme stirbt. Die Stimme ist das, was jedes Mal sterben muss, wenn wir auf die Insel der Bedeutung gelangen möchten. Sie ist weder der Laut der schreienden Katze, die Smerdjakow erhängt, noch die signifikante Sprache von Smerdjakow. Sie ist die lebende Tote, die in Gestalt der Epilepsie in der Sprache von Smerdjakow wiederkehrt. Die Stimme überlebt ihren Tod.

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2. H EGEL

UND DIE

S CHREIE

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VERGESSEN HAT

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H ÜHNERN

Von hier aus können wir einen direkten Sprung nach Deutschland machen, wo in den Jahren 1803/04 und 1805/06 das Arsenal des Denkens über Stimme in den Jenenser Vorlesungen des jungen Hegels eine ihrer entscheidenden Explosionen erfahren hat. Zuerst etablierte Hegel eine Beziehung zwischen dem Tod und der Tierstimme. Ein Tier findet seine Stimme bei der Begegnung mit seinem „gewaltsamen Tod“. Anders gesagt ist die Stimme des Tieres der Schrei des Tieres in „Todesgefahr“. Aber das ist nicht die Neuigkeit Hegels, hier tritt er nur in die Fußstapfen Herders und kündigt eine neue Version von dessen Formel an: „Der Todeston tönet. Das ist das Band dieser Natursprache!“2 Hegel geht noch einen Schritt weiter. Die Sprache, um Sprache zu sein, muss die Stimme opfern. Die Stimme ist genau das, was aufgehoben werden muss, damit die Sprache als Artikulation ankommt. Weder animalischer Laut noch menschliche Sprache, ist die Stimme das Opfer, welches vor den Füßen der Sprache verblutet. Das ist die Neuigkeit Hegels. Kann sich die Sprache von den Blutflecken reinigen? Die Stimme bleibt wie eine Narbe an der Stelle eines ausgedrückten Pickels im Gesicht der Sprache oder steckt wie ein verschluckter Knochen im Hals der Sprache.3 Hegel muss nach seinem Tod noch 129 Jahre auf den König der Hegelianer warten: Alfred Hitchcock. Lassen Sie uns den Film Psycho von 1960 näher betrachten. Wie in den meisten Filmen von Hitchcock, in denen eine schöne junge Frau in das Haus eines Mannes geht, der mit seiner Mutter dort lebt, geht in Psycho die junge Marion (Janet Leigh) in das Haus Norman Bates’ (Anthony Perkins), der mit seiner Mutter dort lebt. Aber die Radikalität des Filmes Psycho besteht darin, dass die Mutter hier reine Stimme ist. Mit Hegel zu sprechen ist die Sprache Norman Bates’ die Artikulation von Stimme durch eine Stimme des Todes. Psycho ist die Geschichte des stotternden Norman Bates, der nach dem Tod des Vaters seine Mutter und deren neuen Lebensgefährten aus Eifersucht umgebracht hat. Er hat die Leiche der Mutter aus dem Friedhof gestohlen und sie wie einen Vogel ausgestopft. Vor der berühmten Mordszene unter der Dusche

2

Zu einer detaillierten Darstellung der Stimme in den Jenenser Vorlesungen Hegels vgl. Agamben, Giorgio, Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität, aus dem Italienischen von Andreas Hiepko, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 74-84. Zu Herders Zitat siehe ebd., S. 79, Fn. 22.

3

In dieser Hinsicht ist man versucht den Titel Die Phänomenologie des Geistes als eine tote Maske zu betrachten, hinter der das wahre Gesicht des großen Werkes liegt: Die Phänomenologie der Stimme.

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bietet Norman im Büro seines Motels Marion ein Abendbrot an und unterhält sich mit ihr über sein Hobby, die Taxidermie, und über seine Mutter, deren Stimme Marion schon gehört hat. Das Gespräch verläuft unter den Blicken ausgestopfter Vögel. Während Marion ihr Abendessen zu sich nimmt, bemerkt Norman, sie esse wie ein Huhn und hält einen langen Vortrag über Taxidermie. Es ist bekannt, dass Hitchcock mit der Tonspur, aber besonders mit den Schreien der Mordszene unter der Dusche unzufrieden gewesen ist, bis sein Komponist, Bernard Hermann, eine geniale Idee hatte, die Hitchcock begeisterte. Er komponierte ein Streicherstück, das die Schreie von Hühnern darstellen sollte. Jedes Mal, wenn sich Marions Mund wegen der Einstiche zu einem Schrei öffnet, sollen wir statt eines menschlichen Schreies den Schrei eines Huhnes hören. Norman Bates ist kein gewöhnlicher Mörder, er leiht lediglich seinen Körper den leiblosen Stimmen. Die Sprache Norman Bates’ bietet ein Grab für die tote Stimme seiner Mutter. Angesichts der unvergesslichen Schlussszene in Psycho, in der uns das stumme Gesicht Norman Bates’ aus einer Zelle heraus anstarrt und sich langsam in einen Totenkopf verwandelt, während man die körperlose und alles sehende Stimme seiner Mutter hört, darf man sagen, dass die Stimme das tote Gesicht ist, das in einem Sumpf versinken muss, damit unser Gesicht in dem biometrischen Bild unseres Passes, das heißt in unserer Sprache, festgenagelt werden kann.4

4

Es ist kein Zufall, dass wir unsere Hand zum rettenden Strohhalm Kino ausstrecken. Die Erfindung des Kinos war tatsächlich eine Verkörperung der gescheiterten Experimente der Philosophen mit der Stimme. Kino konnte das mit der Stimme tun, was die Philosophen seit Aristoteles versucht haben zu tun, ohne dass es ihnen gelungen wäre. Mit dem Kino war es zum ersten Mal möglich die Stimme vom Körper und den Körper von seinen Organen zu trennen, um eine fließende Körper-Stimme zu erreichen. Kino hat es ermöglicht, dass der Mensch sich von sich selbst erlöst, indem er die Ganzheit seines Körpers verlieren kann. Er konnte seine Stimme ausleihen und sich dafür eine andere Stimme borgen. Jean-Luc Godard zufolge hätte es von Anfang an den Ton- und Farbfilm geben können – es war aber nicht so, weil der Film schwarz gekleidet und sprachlos vor Schmerz um das Jahrhundert der Massenmorde trauern musste. Allerdings muss man die melancholische Idee Godards dadurch ergänzen, dass es der Tonfilm gewesen ist, der uns zum ersten Mal ermöglicht hat das Schweigen zu hören. Der Stummfilm entspricht der Stimme und der Tonfilm der Sprache. In der Sprache hört man erst die Stimme, wenn die Sprache einschläft, wenn die Sprache schweigt.

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3. M ENSCH ≠ T IER +/– X

ODER

H EIDEGGER

VERGESSEN HAT

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T OMANIA

69 Jahre nach Hegels Tod und 120 Jahre nach Erscheinen seines Buches Die Phänomenologie des Geistes fand eine erneute Explosion im Arsenal des Denkens über Stimme statt, die alles zerstörte, was noch von der Explosion übrig geblieben war, die Hegel verursacht hatte. Wir sind noch in Deutschland, im entscheidenden Jahr 1927, als das Buch Sein und Zeit des 38-jährigen Heideggers veröffentlicht wurde. Martin Heidegger ist ein dickköpfiges Kind, welches die Algebra Mensch = Tier +/– X nicht schlucken will. Deswegen rennt er, wie Jerry vor Tom, vor Rainer Maria Rilkes Algebra Mensch = Tier - das Offene ebenso davon wie vor Aristoteles’ Algebra Mensch = Tier + Sprache5. Für Heidegger gibt es eine radikale Trennung zwischen Natur und Kultur, Tier und Mensch, Stimme und Sprache. Dazwischen liegt eine unüberwindbare Kluft. Jedes Mal, wenn der Mensch seine Stimme erfahren möchte, findet er sich im Schrecken des Abgrunds wieder. Was passiert ihm dabei? Wie jedes Kind sofort zu antworten wüsste, bekommt er Angst und zittert. Diese Angst im Schrecken des Abgrunds zwischen Stimme und Sprache nennt Heidegger „Stimmung“: „die Angst als die von jener Stimme gestimmte Stimmung“6. Kurz gesagt, wir fallen in die Tiefe des Abgrunds zwischen Stimme und Sprache, und die „lautlose Stimme“ stimmt „uns in den Schrecken des Abgrundes“7. Es gibt eine Neigung, Heideggers Stimmung als schlechte Laune oder Ekel vor der Welt zu verstehen. Man braucht nur an Jean Paul Sartres’ Roman Der Ekel oder Albert Camus’ Der Fremde oder Michelangelo Antonionis Filme zu denken, in denen die schlecht gelaunten Protagonisten in den Abgrund der Welt geworfen werden. Aber das Neue an Heideggers Stimmung, und das ist die Genialität dieses Gedankens, besteht darin, dass der Begriff der Stimmung hier mit dem Problem der Stimme verknüpft ist. Die Stimmung hat nichts mit unserer Laune gegenüber der Welt zu tun, sondern ist der Name unserer Stimmlosigkeit. Das ist aber nicht die ganze Geschichte. Es hat einen Vagabunden gegeben, der Heidegger besser verstanden hat als dieser sich selbst.

5

Zu einer prächtigen Darstellung von Heideggers Topographie von Mensch und Tier vgl. Agamben, Giorgio, Das Offene. Der Mensch und das Tier, aus dem Italienischen von Davide Giuriato, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 57-86.

6

Heidegger, Martin, Wegmarken, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1976, S. 307.

7

Ebd., S. 306. Zu einer exzellenten Darstellung des Begriffs Stimmung mit Bezug auf die Stimme in Heideggers Gedanke vgl. Agamben, Giorgio, Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität (Anm.2), S. 91-103.

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Wenn Hegel 129 Jahre lang nach seinem Tod auf die Verkörperung seiner Gedanken über Stimme warten musste, so hatte Heidegger mehr Glück. Der König der Heideggerianer, der im selben Jahr wie Heidegger geboren wurde (1889), und ein Jahr nach Heidegger starb (1977), war ein kleiner Vagabund aus London, mit großen Schuhen und einem kleinen Schnurrbart, der Heidegger erregen konnte: Charlie Chaplin. Chaplin hatte eine Abneigung gegen den Tonfilm. Diese Abneigung war nicht ein Zeichen seiner konservativen Haltung, sondern im Gegenteil ein Zeichen seines radikalen Verständnisses von Stimme. Außerdem hatte er Greta Garbos Beispiel vor Augen, die Diva des Stummfilms, die durch ihre piepsige Stimme für immer ihre Aura verlor, nachdem sie das erste Mal in einem Tonfilm gespielt hatte.8 Aber letztendlich machte Chaplin dann doch Tonfilme: Lichter der Großstadt vier Jahre und Der Große Diktator dreizehn Jahre nach der Veröffentlichung von Heideggers Sein und Zeit. Lichter der Großstadt ist eigentlich ein Stummfilm plus Tonspur für Geräusche und Musik. Die menschliche Stimme fehlt immer noch. Jedoch macht Chaplin in diesem Film eine seiner größten Entdeckungen in der Form einer Stimme, die aus einem Objekt im Inneren des Körpers kommt. Chaplin verschluckt auf einer Party aus Versehen eine Trillerpfeife und bekommt Schluckauf. Nun hören wir die Stimme der Trillerpfeife.9 Mit Der große Diktator dann kann Chaplin endlich einen Tonfilm machen, in dem die menschliche Stimme zu hören ist. Warum? Chaplin glaubte, dass der Mensch durch Sprechen lächerlich gemacht werde. Wer wäre besser geeignet als Hynkel, der Diktator von Tomania, um diese Idee zu verkörpern? Zu Beginn des Filmes hält der Diktator eine Rede an das tomanische Volk. Chaplin ergänzt diese Rede durch die Rede eines jüdischen Frisörs, der versehentlich für den Diktator Hynkel gehalten wird und vor das tomanische Volk treten muss. Wir sehen Hynkel und den Frisör während ihrer Reden nie aus der Perspektive des tomanischen Volkes. Wir sind immer auf Augenhöhe mit dem Redner. Die Rede Hynkels ist eine schizophrene deutsche Sprache, die niemand versteht. Dies ist die Stimme der Macht; die Stimme Gottes. Wir hören zudem die Stimme eines unsichtbaren Dolmetschers, der Hynkels Rede ins Englische übersetzt. Niemand kann beweisen, dass das, was der Dolmetscher sagt, wirklich Hynkels Worte sind. Dies ist die Stimme des Bürokraten; die Stimme der Engel.

8

Zum Verhältnis Chaplins zum Ton vgl. Chion, Michel, Film. A Sound Art, Translated by Claudia Gorbman, New York: Columbia University Press 2009, S. 21-28. Zu einer Darstellung der Stimme im Film „Der große Diktator“ vgl. Dolar, Mladen, A Voice and Nothing More, Cambridge, Massachusetts/London: MIT Press 2006, S. 114-119.

9

Vgl. Žižek, Slavoj, „The Trauma of the Voice“, in: Ders.: Enjoy your symptom! Jacque Lacan in Hollywood and out, London/New York: Routledge 2008, S. 1-3.

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Diktator Hynkel sagt in seiner Rede, dass die Demokratie, die Freiheit und die Redefreiheit abgeschafft werden sollten. Der jüdische Frisör verteidigt in seiner Rede dagegen die Menschlichkeit, die Brüderlichkeit und die Freiheit. Aber der Beifall des tomanischen Volkes – und das ist der brillante Höhepunkt von Chaplins Genialität – ist bei beiden Reden der gleiche. Dies nämlich ist die Stimme der Masse.10

4. E INE M AUS ,

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Am Abend des 6. Juni 1924, im Monat vor Marcel Duchamps 37. Geburtstag, feierte Arnold Schönbergs Erwartung ihre Uraufführung im Neuen Deutschen Theater in Prag, in der eine Frau, die sich im dunklen Wald verirrt hat, laut und unmusikalisch schreit. Man kann sich die Empörung des Publikums vorstellen. Sollte etwa der Prager Franz Kafka einer der Zuschauer gewesen sein? Nein. Drei Tage vorher war Kafka in einem Sanatorium in der Nähe Wiens im Alter

10 Vor diesem Hintergrund kann man die Einheit des leidenschaftlichen Beifalls der Massen während der Papstkrönung im Februar 1922 im Vatikan unter den Rufen „Viva Cristo Re!“ und des Beifalls für Benito Mussolini im Oktober 1922 im Palazzo Venezia mit den Rufen „Viva il Duce!“ in aller Deutlichkeit erkennen. Zu den Zitaten siehe Kantorowicz, Ernst H., Laudes Regiae. A Study in Liturgical Acclamations and Mediaeval Ruler Worship, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1946, S. 185, Fn. 23. Dazu vgl. Agamben, Giorgio, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo Sacer II.2), aus dem Italienischen von Andreas Hiepko, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 226-232. Die Politik der kommenden Gemeinschaft, die noch auf dem Weg ist, ist die Politik der Stimme allein. Es ist das Verdienst Hannah Arendts, in ihrem Buch Über die Revolution mit Bezug auf das Romankapitel Der Großinquisitor von Fjodor Dostojewskij das stumme Mitleid in der Gebärde des Kusses, die das Sprechen unmöglich macht, dem Redeschwall gegenüber gestellt zu haben. Wir kennen die Geschichte. Ins Sevilla des 16. Jahrhunderts kehrt Jesus zurück. Der Großinquisitor führt mit ihm in einer Gefängniszelle ein langes Gespräch. Am Ende verurteilt er Jesus zum Tode auf dem Scheiterhaufen. Was Jesus aber während des Gespräches tut und den meisten Interpreten der Geschichte entgeht, ist, dass er die ganze Zeit über stumm bleibt und am Ende in einer merkwürdigen Geste dem Großinquisitor mit einem Kuss antwortet. Dazu vgl. Arendt, Hannah, Über die Revolution, München: Piper 1965, S. 108-111.

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von 41 Jahren gestorben.11 Dieser Schrei, in der Mitte des Stückes Erwartung von Schönberg und in der Stadt Prag, drei Tage nach dem Tod Kafkas, stünde perfekt für das Wappen eines Mannes, der getan hat, was Duchamp zu tun vergessen hat: die Entdeckung der Readymadestimme. Die letzte Erzählung von Kafka Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse entstand im März 1924, im Todesjahr ihres Autors, als er nicht mehr essen konnte, sein Sprachvermögen verloren hatte und nur noch unter Schmerzen atmen konnte. Sie kann nicht nur als sein Testament angesehen werden, sondern auch als ein Manifest für das Werk Duchamps. Es ist die Geschichte einer Maus unter einem Volk von Mäusen, die in einer Weise singen kann, dass das ganze Volk sich um sie versammelt, um diesem bis dahin noch nie gehörten Gesang zu lauschen. Aber was sie tatsächlich produziert, ist nicht ein Singen, sondern nur ein Pfeifen. Dieses Pfeifen ist nichts Besonderes, denn pfeifen ist die Sprache ihres Volkes. Es ist ein Urinal wie jedes andere Urinal. Josefines Pfeifen, das wie das Pfeifen ihres Volkes ist, aber zugleich kein Pfeifen ist, ist ein zweckloses Objekt, das von der Funktion der Bedeutung und der Kommunikation für immer befreit worden ist. Es ist Marcel Duchamp in seiner reinsten Form. „Eine Nuss aufzuknacken ist wahrhaftig keine Kunst“, sagt der Erzähler über die Kunst von Josefine, „deshalb wird es auch niemand wagen ein Publikum zusammen zu rufen und vor ihm, um es zu unterhalten, Nüsse knacken. Tut er es dennoch und gelingt seine Absicht, kann es sich eben doch nicht nur um bloßes Nüsseknacken handeln.“12 Am Ende der Erzählung ist Josefine grundlos verschwunden. Sie verlässt ihr Volk und entzieht ihm damit auch ihr Pfeifen, Zischen und Piepsen. Eine Stimme, weder menschlich noch animalisch, die ihr Volk verlässt und sich von der „irdischen Plage“ erlöst, ist eine der größten Errungenschaften Kafkas. Es geht keinesfalls um eine neue Artikulation zwischen Mensch und Tier, sondern im Gegenteil darum diese Artikulation selbst zum Stillstand zu bringen. Wie? Mit einem Pfeifen. Das Problem der Stimme war für Kafka so wichtig, dass er eine neue, bis heute noch ausstehende Wissenschaft forderte. Zwei Jahre vor seinem Tod, in der Erzählung Forschungen eines Hundes, ernannte er einen Hund zum Erfinder dieser neuen Wissenschaft. Man sollte hier nicht vergessen,

11 Zu diesem bedeutungsvollen Zufall siehe Dolar, Mladen, „If music be the Food of Love“, in: Žižek, Slavoj and Dolar, Mladen, Opera’s Second Death, London/New York: Routledge 2002, S. 90, Fn. 2. In Hinsicht auf die Bedeutung der Stimme bei Kafka stütze ich mich im Folgenden auf Dolars „Kafka’s Voices“, in: Ders., A Voice and Nothing More (Anm. 8), S. 164-188. 12 Kafka, Franz, „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“, in: Ders., Sämtliche Erzählungen, hg. von Paul Raabe, Frankfurt a.M.: Fischer 1970, S. 173.

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dass die Tiere, ihr Volk und ihre zerbrechliche Stimme von der Hand Kafkas auf die Bühne seiner Schriften gezaubert wurden, bevor ein paar Jahre später Kafkas Volk zu einer Maus, einem Hund oder einer Spule reduziert und wie Asche im Wind der Geschichte verweht werden sollte. Trotz des allgemeinen Verständnisses der Erzählung als obskur zeigt ihre genaue Lektüre jenseits allen Zweifels, dass sie die präzise und klare Geschichte eines Hundes unter anderen Hunden ist, der sich der Wissenschaft der Stimme und der Musik der Hundschaft widmet. Drei große Entdeckungen Kafkas zur Stimme in dieser Erzählung sind: 1) Die körperlose Stimme, die man hört und von der man weiß, woher sie kommt, ohne sie zu sehen. Diese Art der Stimme wird verkörpert in den Figuren der Lufthunde, die ständig in der Luft schweben. Niemand kann sie sehen, aber man ist von deren Dasein fest überzeugt. Und das zehn Jahre vor Fritz Langs Film Das Testament des Dr. Mabuse, einer körperlosen Stimme hinter einem Vorhang. Dr. Mabuse ist ein Lufthund.13 2) Die körperlose Stimme, die man nicht sieht, aber hört und von der man doch nicht weiß, woher sie kommt.

13 Im Jahr 1748 portraitiert der 35-jährige Materialist Denis Diderot in seinem ersten und unverkennbar pornografischen Roman auf geniale Weise diese Art von Stimme in Bezug auf das weibliche Geschlechtsorgan. Die geschwätzigen Kleinode (Les Bijoux indiscrets) von Denis Diderot ist die Geschichte von dem kongolesischen Sultan Mangogul, der einen Zauberring besitzt, mit dem er die Kleinode von Frauen zum Reden bringen kann. Aber was sind das für Kleinode? Ja, es sind die Geschlechtsteile der Frauen. Die Frauen beginnen an öffentlichen Plätzen wie Oper, Theater oder Ballett über ihre Affären zu reden, aber nicht mit dem Mund, sondern mit ihren Geschlechtsorganen. Es ist wichtig, dass wir die Geschlechtsorgane nicht sehen können, sondern nur ihre Stimmen hören. Die Stimme, die Diderot entdeckt, ist ein Objekt in unserem Körper, das nicht zu uns gehört. Diese Verschiebung des Sprachapparats vom Mund zum Geschlechtsteil ist eine Strategie, um die Stimme vor der Moralität der Sprache zu retten. Dazu vgl. Božovič, Miran, „Der Despotismus des Körpers“, in: von der Heiden, Anne (Hg.), … Was du nicht siehst. Blick und Körper 1700/1800, aus dem Englischen von Frank Born, Zürich/Berlin: Diaphanes 2006, S. 89-102. Es lohnt sich hier David Cronenbergs Film Naked Lunch (1991) in Erinnerung zu rufen, in dem eine Schreibmaschine plötzlich einen riesigen Anus bekommt, mit dem sie spricht.

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Diese Art von Stimme wird verkörpert in den Figuren der sieben Hunde, das sind sieben große Musikkünstler, die plötzlich aus der Finsternis auftauchen und schweigend den leeren Raum mit Musik erfüllen. Eine Musik ohne Quelle, eine von überall herkommende Musik, die Stimme der schweigenden Sirenen. Es ist diese Stimme, die etwa sechzig Jahre später in den Filmen von Marguerite Duras ihren Höhepunkt finden wird.14 3) Die Stimme des defekten Mundapparats. Der Mund ist eine bifunktionelle Maschine: Nahrungsapparat und Sprachapparat. Wenn der Mund zu sehr mit Nahrung vollgestopft ist, ist es unmöglich zu sprechen. Man muss hier den Mund im weiteren Kontext von Kafkas Universum begreifen. Man kann die zentrale Wichtigkeit des Mundapparats fassen, wenn man ihn als Zwilling des Gesetzes-/Strafapparats, Kafkas lebenslanger Obsession, versteht. Was den Gesetzesapparat betrifft, muss man sich der allgemeinen Meinung, der zu Folge Kafkas Welt eine pessimistische Welt sei, in der die Menschen, verzaubert und gefangen von dem Gesetzesapparat, missbraucht und gefoltert werden, brutal widersetzen. Der Gesetzesapparat muss und kann deaktiviert werden. Dies ist die fröhliche Botschaft Kafkas. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass der Mundapparat der Zwilling des Gesetzesapparats ist. Man muss nur ungefähr 40 Jahre warten, bis Adolf Eichmann in seinem Prozess in Jerusalem wie ein Papagei wiederholen wird: „Führers Worte haben Gesetzkraft.“15 Deshalb entschließt sich der Hund in der Erzählung Kafkas, vollständig zu fasten. Es wird seine letzte Forschung sein. Der Hund bringt den Mundapparat zum Stillstand. Er ist in solch einem Maße hungrig, dass er nicht mehr sprechen kann. Erst jetzt kann er den Lärm in seinem Bauch hören, und kann kaum glauben, was er da hört. In seiner ausgebrochenen Blutlache liegend, hört der Hund am Ende eine körperlose Melodie oder Stimme, „vor deren Erhabenheit der Wald verstummte“16. Sterbend und glücklich, den Mundapparat zum Stillstand gebracht zu haben, wünscht sich der Hund eine noch kommende Wissenschaft:

14 Zu einer detaillierten Kategorisierung der ersten zwei Stimmarten und ihre Darstellung in der Filmgeschichte vgl. Chion, The Voice in Cinema (Anm. 8). 15 Zum Zitat von Eichmann und seiner politischen Aktualität vgl. Agamben, Giorgio, Homo Sacer. Die Souveräne Macht und das nackte Leben, aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 193. 16 Kafka, Franz, „Forschungen eines Hundes“ in: Ders., Sämtliche Erzählungen (Anm.12), S. 353.

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Es war der Instinkt, der mich vielleicht gerade um der Wissenschaft willen, aber einer anderen Wissenschaft als sie heute geübt wird, einer allerletzten Wissenschaft, die Freiheit höher schätzen ließ als alles andere. Die Freiheit! Freilich, die Freiheit, wie sie heute möglich ist, ist ein kümmerliches Gewächs. Aber immerhin Freiheit, immerhin ein Besitz.17

17 Ebd. S. 354. Man ist versucht, das Testament des Forscherhunds ernst nehmend, sich ein stimmwissenschaftliches Labor in der Form einer Mülldeponie vorzustellen, wo sich Marcel Duchamp gewiss zu Hause gefühlt hätte. Im Niemandsland zwischen Natur und Kultur, wo alle menschlichen Produktionen ihre Funktion für immer verloren haben. Die Stimme ist der Abfall der Sprachfabrik. Am Tor dieses Labors stünde ein Slogan von Paul Celan geschrieben: „Aber sie [die Sprache] musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede.“ Der Leiter wäre Kafkas Hund und die Laborarbeiter würden rund um die Uhr damit beschäftigt sein, neue Defekte zu finden, um den menschlichen Sprachapparat von seiner Funktion zu befreien. Wer würde in dieser Fabrik angestellt sein? Man würde zwei französische Ärzte des 17. und 18. Jahrhunderts – Maître Roland und De Jussieu – antreffen, die mit einem Mund ohne Zunge beschäftigt wären. Und man würde Edgar Allan Poe mit einer Zunge ohne Mund antreffen, mit der Zunge von Valdemar, die begänne zu sprechen, nachdem Waldemar gestorben ist. Man würde Samuel Beckett antreffen, der mit einer Bohrmaschine Löcher in die Sprache bohrte, um zu sehen, was dahinter ist: „Und immer mehr wie ein Schleier kommt mir meine Sprache vor, den man zerreißen muss, um an die dahinter liegenden Dinge (oder das dahinter liegende Nichts) zu kommen.“ Man würde Louis-Ferdinand Céline antreffen, der ständig drei Punkte in das Fleisch der Sprache eintätowierte. Man würde Herman Melville antreffen, der mit Billy Budd das Stottern übte. Man würde Roman Jakobson und seinen Freund Nikolai Trubetskoi antreffen, die das Lallen der Kinder sowie Interjektionen, Onomatopöien und an Haustiere gerichtete Kommandos oder Lockrufe untersuchten. Man würde Elias Canetti antreffen, der weinend versuchte seine Muttersprache zu vergessen. Man würde Osip Mandelstam antreffen, der wiederholte: „Es lastet auf mir und vielen meiner Zeitgenossen, dass wir stammelnd zur Welt kamen. Nicht sprechen haben wir gelernt, sondern lallen […].“ Zu Celans Zitat siehe Celan, Paul, „Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen“, in: Ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Bd. III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 185-186. Zu Maître Roland und De Jussieu vgl. Heller-Roazen, Daniel, Echolalien. Über das Vergessen von Sprache, aus dem Englischen von Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 158-162.

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5. D IE S CHLANGE

DES

P ARADIESES

Es gibt eine Frage, welche die Theologen seit unvordenklichen Zeiten plagt. Die Frage betrifft die Erbsünde: Wie sprach im Paradies die Schlange mit Eva? Welche Sprache hat die Schlange gebraucht, um sich mit Eva zu verständigen? Wie konnte ein Tier mit einer Frau sprechen?18 Die verzwickte Frage könnte neufor-

Zu Poes Geschichte siehe Poe, Edgar Allan, „Die Tatsachen im Falle Valdemar“, in: Ders., Sämtliche Erzählungen in vier Bänden, hg. von Günter Gentsch, aus dem Amerikanischen von Heide Steiner, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 2002, S. 233-244. Dazu vgl. Heller-Roazen, S.164-172. Zu Becketts Zitat aus dem Brief von 1937 an Axel Kaun siehe Beckett, Samuel, Disjecta, Vermischte Schriften und ein szenisches Fragment, hg. und mit einem Vorwort versehen von Ruby Cohn, aus dem Englischen und Französischen von Wolfgang Held/Erika und Elmar Tophoven, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 73. Zu Jakobson und Trubetskoi vgl. Heller-Roazen, S. 9-19. Zu Canetti siehe jene unvergessliche Seiten im Teil 1 und Teil 2 in Canettis Die gerettete Zunge. Dazu vgl. Heller-Roazen, S. 173-188. Zu Mandelstams Zitat siehe Mandelstam, Osip, „Die Komissarschewskaja“, in: Ders., Das Rauschen der Zeit, aus dem Russischen übertragen und hg. von Ralph Dutli, Zürich: Ammann Verlag, 1985, S. 88. 18 Anstatt das riesige Archiv von verzweifelten Antworten der Theologen zu wiederholen, ist man eher versucht die Geschichte der Erbsünde alla Monti Python zu variieren: was, wenn eines Nachts im Paradies Adam Eva vermisst und mit einem Apparat, etwas wie unserem Telefon, Eva anruft, um ihr zu sagen, dass er sich alleine fühle, und sie zu fragen, ob sie Zeit habe, mit ihm im Garten Eden spazieren zu gehen, und Gott, indem er sie wie die Stasi belauscht, ein Angst einflößendes Rauschen hervorruft, so dass Eva Adam nicht mehr hören kann und die arme Frau Angst bekommt und nackt, wie sie ist, beginnt wie eine Verrückte in den Straßen des Paradieses umher zu rennen, bis sie zu dem Baum der Erkenntnis gelangt, eine Frucht pflückt und sie schnell isst, um zu wissen, was los ist? Oder was, wenn es Gott in dieser Nacht langweilig ist und er Telefonterror bei Eva betreibt, indem er sie anruft, und erschreckende Geräusche von sich gibt, und die arme Frau Angst bekommt und nackt, wie sie ist, beginnt wie eine Verrückte in den Straßen des Paradieses umher zu rennen, bis sie zu dem Baum der Erkenntnis gelangt, eine Frucht pflückt und sie schnell isst, um zu wissen, was los ist? Und vielleicht noch radikaler: was, wenn Eva taub ist und was sie hört, ein Rauschen ist, das in dem Hohlraum ihres tauben Ohres widerhallt, und die arme Frau Angst bekommt und nackt, wie sie ist, beginnt wie eine Verrückte in den Straßen des Paradieses umher zu rennen, bis sie zu dem Baum der Erkenntnis gelangt, eine Frucht pflückt und sie schnell isst, um zu wissen, was los ist?

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muliert werden, wenn man wagt mit ihr ein „Experiment ohne Wahrheit“19 durchzuführen: Was, wenn die Schlange des Paradieses der Name einer sprechenden Stimme wäre, die aus einem Apparat kommt und nicht aus einem Mund.20 Die Assoziation der aus einem Apparat sprechenden Stimme mit dem Tier kann nicht reiner Zufall sein. Nehmen wir drei große Beispiele solch einer Stimme: der bekannte Hund Nipper, der, einem Grammophon lauschend, in die Geschichte der Werbung eingegangen ist;21 die Stimme des Sprechapparats des Zauberers Oz im Film Der Zauber von Oz (The Wizard of Oz, Victor Fleming, 1939), die außer von dem Hund Toto von einer tierischen akustischen Landschaft umringt ist; der Computer Hall 9000 in Stanley Kubricks Film 2001: Odyssee im Weltraum (2001: A Space Odyssey, 1968), dessen sprechende Stimme der siamesische Zwilling der Schreie der Affen zu Beginn des Filmes im sogenannten Teil Der Morgen der Menschheit (The Dawn of Man) ist. Wie dem auch sei, die aus einem Apparat sprechende Stimme bezeichnet eine Schwelle, in der die Koordination zwischen Mensch und Tier in eine neue Epoche eintritt. Giorgio Agamben stellt den stillschweigenden Mechanismus der neuen Koordination ganz klar dar, wenn er schreibt: „Die integrale Humanisierung des Tieres koinzidiert mit der integralen Animalisierung des Menschen.“22 Wir sind für die Erfindung der aus einem Apparat sprechenden Stimme und ihrer Unheimlichkeit einem asthmatischen Propheten zu Dank verpflichtet, der mit seiner Atemnot über den Eintritt der Menschheit in eine neue Epoche Zeugnis abgelegt hat, als der 33-jährige Duchamp als Frau verkleidet vor der Kamera Man Rays stand: Marcel Proust. Das klare Röntgenbild dieser unheimlichen Stimme wird auf jenen Seiten des Buches Die Welt der Guermantes sichtbar, in

19 Ich leihe mir den Ausdruck „Experiment ohne Wahrheit“ von dem schönen Titel von Walter Lüssis Buch über Robert Walsers Werke. Lüssi, Walter, Robert Walser. Experiment ohne Wahrheit, Berlin: Erich Schmidt 1977. 20 Die aus einem Apparat sprechende Stimme in Bezug auf Sünde erscheint in der Moderne in ihrer ganzen Pracht in der Popkultur im Film noir wie z.B. Frau ohne Gewissen (Double Indemnity, Billy Wilder, 1944), Klute (Alan J. Pakula, 1971), im postmodernen Film noir wie z.B. Lost Highway (David Lynch, 1997) und in der Hochkultur in Samuel Becketts Theaterstücken wie z.B. Das letzte Band (1958) und Fernsehspielen wie z.B. He, Joe (1965). 21 Nipper ist 24 Jahre nach Graham Bells Erfindung des Telefons im Jahre 1895 gestorben, als Marcel Duchamp acht Jahre alt war. Zu einer kurzen aber heiteren Darstellung der Geschichte der Sprechmaschine von Wolfgang von Kempelen und des Hundes Nipper vgl. Dolar, A Voice and Nothing More (Anm. 8), S. 5-11, 74-81. 22 Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier (Anm. 5), S. 86.

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denen der Erzähler zum ersten Mal mit seiner Großmutter telefoniert.23 Die Telefonkabel, die unterirdischen Schlangen, verbinden den Erzähler in Doncières mit seiner Großmutter in Paris. Er hört zum ersten Mal die körperlose Stimme seiner Großmutter. Die Stimme überwältigt ihn derart, dass er einen fiebrigen Drang verspürt, die Großmutter zu küssen. Da sie aber nur eine Stimme, eine gespenstische Erscheinung ist, nimmt er am nächsten Morgen den ersten Zug nach Paris. In den Armen der Großmutter möchte er sich von dem Geist befreien, der plötzlich aus Aladins Telefonwunderlampe erschienen ist. Aber als er in der Wohnung der Großmutter angelangt ist oder, anders gesagt, als er zum ersten Mal den Körper zu Gesicht bekommt, der dank des Telefons von seiner Stimme getrennt war, löst sich alles in Luft auf und er sieht sich einer alten Frau gegenüber, einer lächerlichen Marionette, die ihm fremd ist, „[…] auf dem Kanapee sitzend, rot, schwerfällig, vulgär, krank, vor sich hindösend und mit etwas wirrem Blick über ein Buch hingleitend eine alte von der Last der Jahre gebeugte Frau, die ich gar nicht kannte.“24 Lassen Sie uns hier eine kleine Pause einlegen, um die Physiognomie dieser Stimme zu betrachten. Die Kraft solch einer Stimme, die aus dem Diaphragma eines jeden Apparats wie Telefon, Grammophon, Kassette, Compact Disc und so weiter und so fort kommt, besteht darin, dass der Apparat die Symmetrie zwischen dem Sehen und dem Hören für immer zerstört und eine Stimme ohne Körper produziert oder, mit Proust zu sprechen, eine Stimme „ohne die Maske des Gesichts“25. Weder menschlich noch mechanisch ist sie eine Stimme ohne jede Spur von Ich: die Stimme eines leeren Ichs, ein Geist im Apparat. Oft, wenn ich zuhörte, ohne die zu sehen, die von so weit her zu mir sprach, schien es mir, als steige diese Stimme aus Tiefen klagend auf, aus denen man niemals wiederkehrt, und ich habe damals schon die Angst an mir erfahren, die eines Tages mich ganz umfangen sollte, wenn eine Stimme (nur sie, die nicht mehr mit einem Leib in Verbindung stand, den ich niemals wieder sehen sollte) so noch einmal an meinem Ohr die Worte flüsterte, die ich im Vorüberhuschen von Lippen hätte wegküssen mögen, die für immer zu Staub zerfallen sind.26

23 Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. III. Die Welt der Guermantes, aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1955, S. 192-205. 24 Ebd. S. 205. 25 Ebd. S. 195. 26 Ebd. S. 194. Es ist das Verdienst Michel Chions, der in seinem bahnbrechenden Buch The Voice in Cinema seinen nun verbreiteten Begriff „voix acousmatique“ formulie-

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Von hier können wir einen direkten Sprung vagen, um 48 Jahre später am 22. Februar 1969 in der Société française de philosophie zu landen, wo Michel Foucault kein halbes Jahr nach dem Tod Duchamps mit seinem Vortrag eine große Debatte entfacht. Die Debatte entfacht mit dem Zitat „Was liegt daran wer spricht, jemand hat gesagt, was liegt daran wer spricht“ aus dem dritten Text von Samuel Becketts Texte um Nichts. Ihn verwendet Foucault als strategisches Mittel in seinem Vortrag „Was ist ein Autor?“, um einen freien Raum zu schaffen, in dem der Autor, vom Fluch des Ausdrucks erlöst, dauerhaft verschwindet.27 Im scharfen Gegensatz zum Schreibapparat von Tausendundeine Nacht, der dem Tod entrinnend schreibt, stellt Foucault einen heutigen Schreibapparat dar, dessen Kraftstoff der Tod ist. In diesem Schreibapparat muss ein Brennstoff – „bios“ – geopfert werden, damit das Schreiben erscheint. In seinem Vortrag redet er nicht ausdrücklich über die Stimme, jedoch gebraucht er am Ende das akustische Bild der „Anonymität eines Gemurmels“, in der sich alle Diskurse entfalten würden. Ist nicht die gesichtslose Stimme der Großmutter am Telefon diese Anonymität eines Gemurmels? Der foucaultsche Begriff „bios“ ist nichts anderes als Stimme. Nun sind wir in der Lage den unsichtbaren Faden, der die aus einem Apparat sprechende Stimme mit dem Tier verbindet, in aller Deutlichkeit zu betrachten. Der bio-politische Apparat, in dem wir alle heute leben, funktioniert mit der Doppelbewegung der „Humanisierung des Tieres“ und der „Animalisierung des Menschen“.28 In diesem Apparat koinzidiert die aus dem Apparat sprechende Stimme mit der „Anonymität eines Gemurmels“.

rend, unsere Aufmerksamkeit auf diese Stelle in Prousts Werk Die Welt der Guermantes lenkte. Chion, The Voice in Cinema (Anm. 8), S. 46. Dazu vgl. Dolar, A Voice and Nothing More (Anm. 8), S. 63-65. 27 Foucault, Michel, „Was ist ein Autor?“, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. von Daniel Defert/Francois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, aus dem Französischen von Michael Bischoff/Hans-Dieter Gondeck/Hermann Kocyba, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, Bd. I, S. 1003-1041. 28 In dieser Hinsicht muss man die Figur des „Muselmanns“ in den KZs betrachten, die derart im bio-politischen Apparat ruiniert ist, dass sie – wenn nicht zum Nichts – zu „Anonymität eines Gemurmels“ zerfallen ist und in den Zeugnissen der Überlebenden als „Gamel“, „Kamel“ und „Schwein“ bezeichnet wurde. Dazu vgl. Agamben, Giorgio, „Der ,Muselmann‘“, in: Ders., Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo Sacer III), aus dem Italienischen von Stefan Monhardt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 38, 145.

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Falls das Wort Aufgabe uns immer noch etwas bedeutet, besteht unsere Aufgabe heute darin, den Apparat auf jeden Fall zum Halt zu bringen.

6. D IE S TIMME

IM

S CHLACHTHAUS

Wenn es stimmt, dass jedes wahre Denken in einem Ausnahmezustand stattfindet, worin besteht dann die Not über Stimme nachzudenken? Die Stimme ist die kleine zerbrechliche Kreatur, die ins Exil gehen muss, damit die Nation der Sprache gegründet werden kann. Wer ist die Stimme? Die Juden, die Zigeuner, die Schwarzen, die Araber, die Indianer, die Demonstranten in Syrien, …. Wir sind alle Stimme. Das ist die Gefahr, die überall lauert. Eine Stimme allein, befreit von jeder Koordination zwischen Mensch, Sprache und Tier, wäre der erste Stein für den Aufbau einer neuen Ethik, die wir dringend brauchen. Es drängt, über Stimme nachzudenken. Wir sind noch am Anfang.

Zu den Autor_innen

Heike Baranzke, Dr., lehrt Theologische Ethik an der Bergischen Universität Wuppertal. Arbeitsschwerpunkte sind begriffsgeschichtliche Analyse ethischer Grundbegriffe (z.B. Menschenwürde, Autonomie, Person, Heiligkeit des Lebens, Würde der Kreatur, Ehrfurcht vor dem Leben etc.), Kantische Ethik, Pflegeethik, Bioethik, Ethik der Mensch-Tier-Beziehung. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenbeiträge, u.a.: zus. m. G. Duttge (Hg.): Autonomie und Menschenwürde. Leitprinzipien in Bioethik und Medizinrecht. Würzburg 2013: zus. m. H.W. Ingensiep: Das Tier. Stuttgart 2008; exemplarische Beiträge: Der menschliche Embryo – Naturzweck oder Handlungszweck? In: Th. Heinemann, H.G. Dederer, T. Cantz (Hg.): Entwicklungsbiologische Totipotenz in Ethik und Recht. Göttingen 2015, 165–222; Wer ist eine Person? Zur bioethischen Brisanz einer Frage im Ausgang von John Locke. In: I. Römer, M. Wunsch (Hg.): Person: Anthropologische, phänomenologische und analytische Perspektiven. mentis: Münster 2013, 317–342. Menschenwürde und Pflege. Sozial-, handlungs- und haltungsethische Implikationen. In: J.C. Joerden, E. Hilgendorf, F. Thiele (Hg.): Menschenwürde und Medizin. Berlin 2013, 635–650. „Sanctity of Life“ – A Bioethical Principle for a Right to Life? In: Ethical Theory and Moral Practice, vol. 15, 2012, 295–308; Inwiefern kann die Menschenwürde „verletzt“ werden? Avishai Margalits Theorie der Kränkung und Demütigung. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 32. Jg., H. 3/2010, 179–187. Julien Bondaz, Dr., ist Ethnologe und Dozent (Maître de conférences) an der Universität Lyon 2. Seine Feldforschung in Westafrika bezieht sich auf die Anthropologie der Kunst, des kulturellen Erbes, der Natur und der Stadt. Ein weiterer Forschungsbereich ist die Geschichte ethnographischer und zoologischer Sammlungen in Afrika während der Kolonialzeit. Zu seinen Publikationen gehören u.a. L’exposition postcoloniale. Musées et zoos en Afrique de l’Ouest, Paris 2014. Er ist Mitherausgeber verschiedener Zeitschriften-Themenhefte, so

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2015 „Liaisons animales. Questions d’affects“ der Zeitschrift Anthropologie et sociétés sowie „Bête comme une image. Ontologies et figurations animales“ der Zeitschrift Religiologiques. Er hat mit verschiedenen Museen wie dem Musée du quai Branly, dem Musée des Confluences und dem Musée africain de Lyon zusammengearbeitet. Benjamin Bühler, PD Dr., ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Als Heisenberg-Stipendiat arbeitet er an der Universität Konstanz und am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Berlin). Zu seinen aktuellen Forschungsschwerpunkten zählen Tiere als Wissensfiguren, literarische Prognostik, SicherheitsPhantasmen und politische Ökologie. Publikationen u.a.: Zwischen Tier und Mensch. Grenzfiguren des Politischen in der Frühen Neuzeit 2013; gem. mit Stefan Rieger eine wissensgeschichtliche Tetralogie: Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt am Main 2006; Das Wuchern der Pflanzen. Ein Florilegium des Wissens, Frankfurt am Main 2009; Bunte Steine. Ein Lapidarium des Wissens und Kultur. Ein Machinarium des Wissens, beide: Frankfurt am Main 2014. Annette Bühler-Dietrich, Dr., ist Privatdozentin für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Stuttgart und seit 2014 DAADLektorin an der Université de Ouagadougou, Burkina Faso. Von 2010 bis 2013 hat sie mit Françoise Joly das Projekt "Wo ist Afrika? Postkoloniale Literaturwissenschaft und interkulturelle Begegnungen", gefördert im Programm Denkwerk der Robert Bosch Stiftung, geleitet. Derzeit forscht sie zum frankophonen westafrikanischen Gegenwartstheater. Publikationen u.a.: Bühler-Dietrich/Joly (Hg.). Kulturelle Kartographien. Baltmannsweiler 2015; Drama, Theater und Psychiatrie im 19. Jahrhundert, Tübingen 2012. Hans Werner Ingensiep, Prof. Dr., Studium der Biologie und Philosophie in Bonn, Dipl. Biol. (1979), Dr. rer. nat. (1983), Habilitation im Fach Philosophie (1993). Seit 2003 Professor für Philosophie und Wissenschaftsgeschichte am Institut für Philosophie und seit 2008 am Zentrum für medizinische Biologie, Universität Duisburg-Essen. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen. Dorothee Römhild, (apl.) Prof. Dr. phil. habil., Universität Osnabrück. Arbeitsschwerpunkte sind Gender, Zoologie als Anthropologie, Medientransfer in der Literatur des 19. und 20./21. Jahrhunderts. Monographien zu: Frauenbilder bei Heinrich Böll; Poetische Hunde im 19. Jahrhundert. Herausgeberin eines Sam-

I NFORMATIONEN

ZU DEN

A UTOR _ INNEN

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melbands zu Tiermotiven in der Literatur. Einzelstudien zum Verhältnis von Literatur – Fotografie – Film. Andreas Schlüter, Dr., Studium der Biologie an der Universität Hamburg. Promotion bei Prof. Dr. Hans-Wilhelm Koepcke über die Ökologie einer Amphibiengemeinschaft im tropischen Regenwald Perus. Von 1984 – 2013 Zoologe im Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart. In dieser Zeit weitere Forschungsaufenthalte in Peru (Amazonien) und Venezuela (Tafelberg) sowie Lehrveranstaltungen in verschiedenen Universitäten Perus. Forschungsschwerpunkt ist weiterhin die Ökologie der Amphibien und Reptilien in Still- und Fließgewässern Amazoniens. Publikationen: Schlüter, A., J. Icochea & J. M. Perez (2004): Amphibians and reptiles of the lower Río Llullapichis, Amazonian Peru: updated species list with ecological and biogeographical notes. Salamandra 40(2): 141–160. Schlüter, A. (2005): Amphibien an einem Stillgewässer in Peru – mit einer Checklist der Amphibien und Reptilien des unteren Río Llullapichis. Frankfurt am Main: Edition Chimaira, Frankfurter Beiträge zur Naturkunde, Band 22. Manfred Schneider ist emeritierter Professor für Neugermanistik, Ästhetik und literarische Medien an der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitet u.a. zu Literatur und Recht, zu Medien, Diskurstheorie und Kulturkritik. Seine letzten Veröffentlichungen: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft. Berlin: Matthes & Seitz 2010. Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche. Berlin: Matthes & Seitz 2010. Ellen Spickernagel, Prof. Dr., Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Kunstpädagogik. Arbeitsschwerpunkte sind Kunst- und Kulturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in den letzten Jahren vor allem Tierforschung. Publikationen (Auswahl): Der Fortgang der Tiere. Darstellungen in Menagerien und in der Kunst des 17. – 19. Jahrhunderts, Köln: Böhlau 2010. Am Ende der Jagd. Tierstillleben von Desportes, Oudry und Chardin. In: Ausst.-Kat. Von Schönheit und Tod. Tierstillleben von der Renaissance bis zur Moderne. Karlsruhe 2011. Im Nahraum. Das Vieh, der Affe bei Th. Rousseau, C. Troyon und den Brüdern Goncourt. In: Tierstudien 1, 2012. Hamed Taheri, Autor, Theaterregisseur und Student an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Arbeitsschwerpunkte sind Politik/Poetik des Körpers, der Stimme und der Schrift. Publikationen: JAK (Roman, 2013, EXP.edition); Towards the true materialistic Theatre or Tadeusz Kantor with friends (2014, in:

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Polish Theatre Perspectives. Tadeusz Kantor: Twenty Years Later); Das leere Grab und Die Schauspielerin (2014, zwei Theaterstücke, Cantus Verlag). Michael Weingarten, Prof. Dr., lehrt Philosophie an den Universitäten Stuttgart und Marburg. Arbeitsschwerpunkte sind Philosophische Anthropologie, Sozialphilosophie und Politische Philosophie sowie Grundlagenprobleme der RaumWissenschaften. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenbeiträge.

Human-Animal Studies Sven Wirth, Anett Laue, Markus Kurth, Katharina Dornenzweig, Leonie Bossert, Karsten Balgar (Hg.) Das Handeln der Tiere Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies Dezember 2015, 272 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3226-2

Reingard Spannring, Reinhard Heuberger, Gabriela Kompatscher, Andreas Oberprantacher, Karin Schachinger, Alejandro Boucabeille (Hg.) Tiere – Texte – Transformationen Kritische Perspektiven der Human-Animal Studies November 2015, 390 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2873-9

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.) Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen Oktober 2015, 482 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2232-4

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Human-Animal Studies Nastasja Klothmann Gefühlswelten im Zoo Eine Emotionsgeschichte 1900-1945 Juni 2015, 430 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3022-0

Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Tiere Bilder Ökonomien Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal Studies 2013, 328 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2557-8

Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Human-Animal Studies Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen 2011, 424 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1824-2

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