Tiefenpsychologie trifft Systemtherapie: Eine besondere Begegnung 9783666404542, 9783525404546, 9783647404547

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Tiefenpsychologie trifft Systemtherapie: Eine besondere Begegnung
 9783666404542, 9783525404546, 9783647404547

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Joseph Rieforth/Gabriele Graf

Tiefenpsychologie trifft Systemtherapie Eine besondere Begegnung

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404546 — ISBN E-Book: 9783647404547

Mit 20 Abbildungen Abbildungen 1, 2, 3, 5, 6, 7, 8, 9: Matthias Janßen Abbildungen 4, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19: erstellt mit Genograph, © Klaus Wessiepe, 2007 Abbildungen 10, 20: Joseph Rieforth

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40454-6 ISBN 978-3-647-40454-7 (E-Book) Umschlagabbildung: shutterstock.com © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil A: Theoretische Grundlagen 1 Psychische Störungen: Auslöser, Ausprägungen und Zusammenhänge . .

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2 Verständnis von Krankheit und Gesundheit: Pathogenese und Salutogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Krankheitsbegriff, Pathologisierung und Chronifizierung . . . . . . . . . . 2.2 Pathogenese und Salutogenese als Ressourcenorientierung . . . . . . . . . 2.3 Salutogenese: Die Entstehung von Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Resilienz: Entwicklung trotz schwieriger Bedingungen . . . . . . . . . . . . .

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3 Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zum Identitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Identität in wechselnden Lebenskontexten und Krisensituationen . . . 3.3 Identität als Bewältigungsressource . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Psychotherapie zur Behandlung seelischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Historische Entwicklung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Zur Entwicklung der Identität der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die Bedeutung der »vier Psychologien« der Psychoanalyse für das heutige Verständnis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.1.4 Exkurs: Das dynamische Unbewusste in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie aus neurowissenschaftlicher Sicht . . 4.1.5 Ich-Funktionen und Über-Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.6 Der neurotische Konflikt: Konflikt- und Strukturpathologie . . . 4.1.7 Konfliktpathologie und Strukturpathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.8 Übertragung und Gegenübertragung als kontextspezifisches Beziehungsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.9 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in der aktuellen Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Systemische Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Historische Entwicklung der systemischen Therapie . . . . . . . . . . 4.2.2 Der Übergang zur Kybernetik zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Das Konzept der Autopoiese und der Selbstorganisation . . . . . . 4.2.4 Die Entwicklung der familientherapeutischen Schulen . . . . . . . . 4.2.5 Die jüngeren Ansätze der systemischen Therapie: Die Patientin als Expertin ihrer Situation und Lebensgeschichte . . . . . . . . . . . . 4.2.6 Zur Identitätsentwicklung der systemischen Psychotherapie . . . 4.2.7 Das Selbst im Rahmen des systemischen Modells . . . . . . . . . . . . 4.2.8 Das heutige Verständnis der systemischen Therapie . . . . . . . . . . 4.2.9 Die systemische Therapie in der aktuellen Anwendung . . . . . . . . 5 Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren: Mehr als die Summe der einzelnen Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Psychodynamische und systemische Psychotherapie: Ein Methodenvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung als Erkenntnisinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Intrapsychisch, interpersonell, systemisch: Die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die Konzeption des Selbst und die Bedeutung der Objektbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die Wechselwirkung der intrapsychischen und interpersonellen Dimension als Basis für die Entwicklung eines gesunden Selbst . . . . . 5.6 Das Beziehungsgeschehen in der Tiefenpsychologie und Systemtherapie: Die therapeutische Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Sinn und Verständnis des Symptoms in der Psychodynamischen und systemischen Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der aktuellen Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

5.9 Die Rolle des Therapeuten in einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9.1 Was Psychodynamische und systemische Psychotherapie für wichtig empfinden und wofür sie sich einsetzen . . . . . . . . . . 5.9.2 Die Herausforderungen an den Therapeuten durch die aktuelle Entwicklung der Psychotherapieverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9.3 Das Paradox der Zielorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9.4 »Es könnte auch ganz anders sein …«: Von der Kunst unterschiedlicher Wirklichkeitskonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . 5.10 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil B: Der therapeutische Prozess 6 Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung . . . . . 6.1 Das Unbewusste aus psychodynamisch-systemischer Sicht . . . . . . . . . 6.2 Schwellenangst und Stigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Diagnostik und Indikation: Die OPD als prozess- und kontextorientiertes Instrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Achse I: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen 6.3.2 Achse II: Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Achse III: Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4 Achse IV: Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.5 Achse V: Psychische und psychosomatische Störungen . . . . . . . . 6.4 Indikation für psychodynamisch-systemische Psychotherapie . . . . . . . 6.5 Die Bedeutung der Mentalisierung für eine psychodynamischsystemische Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Das Neun-Felder-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.1 Die Bedeutung des Neun-Felder-Modells in der Therapie . . . . . 6.6.2 Die Triade zwischen Problem, Wunsch und Lösung . . . . . . . . . . 6.6.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Aspekte einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie . . . . . . 6.7.1 Spezifische Aspekte der Wirklichkeitskonstruktion innerhalb des therapeutischen Geschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.2 Biografische Zuschreibungen und genografische Analysen: Der sinnvolle Umgang mit der Wirklichkeit des Patienten . . . . . 6.7.3 Ziele einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie . . . 6.8 Die therapeutische Haltung im psychodynamisch-systemischen Handlungsdialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

6.9 Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Praxis: Haltung und Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.9.1 Strategische Orientierung des therapeutischen Prozesses unter Berücksichtigung der Individualität des Patienten . . . . . . . 6.9.2 Mentalisierungsbasierte Interventionskonzepte: Hypothesengeleitete Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.9.3 Erfassung der Komplexität: Wahrung der Autonomie und Orientierung an den Zielen des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 Schlussbetrachtung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

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Vorwort

Als sich die heutigen Großväter und Großmütter der Tiefenpsychologie und Systemtherapie in den 1950er Jahren trennten, bewegten sie höchst unterschiedliche Ideen und Vorstellungen über psychotherapeutische Prozesse. Die Vertreter des damals aufstrebenden, noch jungen systemischen Ansatzes etablierten völlig neue Therapieverfahren, die bis dahin niemand für möglich gehalten hatte. So luden sie auch die Angehörigen oder ganze Familien von Patienten ein, um die Zusammenhänge von Störungen erkennen und in dem Kontext behandeln zu können, in dem sie auftraten. Über die Zeit wuchs eine wertschätzende, neugierige und entwicklungsfördernde Generation von Therapeuten und Therapeutinnen heran, die in ihrer therapeutischen Haltung den Patienten als Experten für sein eigenes Leben ansah und versuchte, psychische Störungen vor allem durch eine konstruktive Kooperation und dialoggestützte Zusammenarbeit zu bearbeiten. Durch ihre Erkenntnis, dass soziale Wirklichkeit stets über Beschreibungen erzeugt wird, entwickelten sie eine starke Skepsis gegenüber solchen Auffassungen, die psychischen Störungen eine einseitige pathologische Orientierung zuschrieben und den sozialen Kontext einer Störung zu wenig berücksichtigten. Bis heute setzen sie sich dafür ein, soziale Wirklichkeiten möglichst so zu beschreiben, dass Veränderung möglich ist. Den Großvätern und Großmüttern des tiefenpsychologisch fundierten Therapieansatzes erging es da zunächst anders. Aus der Tradition der analytischen Verfahren kommend führte dieser Therapieansatz viele Jahre lang ein Schattendasein neben der Psychoanalyse. Erst in den letzten zwanzig Jahren entwickelte er ein eigenständiges Profil und stellt heute ein attraktives eigenständiges Verfahren dar, das Patienten auf der Grundlage eines aktuellen psychischen Konflikts mit einer klaren Zielorientierung zu behandeln versucht. Heute, mehr als sechzig Jahre nach der Trennung, ist es an der Zeit, dass sich die therapeutischen Enkel gemeinsam an den Tisch oder auf die Couch setzen und sich ihrer Großväter und Großmütter erinnern, um deren Leistung zu würdigen. Die aktuellen Entwicklungen in der tiefenpsychologisch fundier-

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Vorwort

ten Psychotherapie sowie die auf dem Konzept der Selbstorganisation basierenden Ansätze der systemischen Therapie schaffen neue Möglichkeiten für den Umgang mit psychischen Störungen. Die Verbindung beider psychotherapeutischer Verfahren eröffnet die Möglichkeit, den Patienten in seiner Gesamtheit wahrzunehmen und so angemessene Behandlungsformen zu entwickeln, die sowohl die affektiven Zustände des Patienten als auch seine individuelle Struktur im sozialen Kontext und seine gewünschten Veränderungen durch den Therapieprozess berücksichtigen. Bei dieser Begegnung können beide Psychotherapieverfahren unter Wahrung ihrer Eigenständigkeit neue Kooperationsformen entwickeln und in einem konstruktiven Sinne um eine moderne Form von Psychotherapie konkurrieren, um mit einem frischen und ressourcenvollen Blick neue Umgangsformen für die zu behandelnden Störungen zu etablieren. Dabei soll es gar nicht um eine oberflächliche Verknüpfung beider Verfahren gehen. Jedoch kann mittlerweile, mehrere Jahrzehnte nach der getrennten Entwicklung, durch eine von Wertschätzung und Respekt getragene Begegnung auf Augenhöhe eine Erweiterung für den psychotherapeutischen Alltag im Interesse der Patienten geschaffen werden. Daher ist es ein besonderes Anliegen dieses Buches, nicht nur den Weg der Trennung der Verfahren und ihrer eigenständigen Weiterentwicklung aufzuzeigen, sondern auch eine neue Form der Synthese darzustellen, die weitere Entwicklungschancen für beide Verfahren enthält – sozusagen die Spanne von der Abgrenzung und Individuation bis hin zur »bezogenen Individuation«, wie Helm Stierlin es bezeichnete, der als ausgebildeter Psychoanalytiker zu einem der Urväter der Familien- und Systemtherapie in Deutschland wurde. Es soll einen Überblick geben, welche fruchtbare Weiterentwicklung möglich ist, wenn sich beide Verfahren intensiver als bisher und unter transparenten Regeln ergänzen und dabei gemeinsame Verfahrens- und Interventionsformen für eine wissenschaftlich fundierte Psychotherapie konzipieren. Dieses Buch bietet die Chance, über den Tellerrand der bisherigen klassischen Therapiemodelle hinauszuschauen – es richtet sich somit insbesondere an interessierte Psychotherapeuten, Betroffene sowie Fachgruppen und Laien, Fachkräfte in psychosozialen Feldern und Beratungsstellen, im Gesundheits-, Präventions- und Rehabilitationsbereich sowie an Kolleginnen und Kollegen, die an einer schulenübergreifenden psychotherapeutischen Arbeit interessiert sind. Im ersten Teil dieses Buchs wird nach einer kurzen Einführung in die theoretischen Grundlagen zur psychischen Störung zunächst das Verständnis von Gesundheit und Krankheit aus pathogenetischer und salutogenetischer Sicht dargelegt, bevor die Frage der menschlichen Identität behandelt wird. Anschließend werden sowohl das tiefenpsychologisch fundierte als auch das systemische

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Vorwort

Therapieverfahren inhaltlich und in ihrer Entwicklung vorgestellt. Dadurch werden wichtige Hinweise für eine affektiv-kontextuelle Rahmung im therapeutischen Prozess erschlossen, der sich für beide Verfahren bei einer gegenseitigen Beachtung ihrer Grundlagen und Besonderheiten ergibt. Im anwendungsbezogenen zweiten Teil werden Möglichkeiten und Interventionen aufgezeigt, wie sich durch eine mögliche Verbindung beider Therapieverfahren in Form einer psychodynamisch-systemischen Umsetzung die therapeutische Praxis gestalten lässt. Diese Idee greift auch die Umschlagabbildung auf, indem jeweils ein Strahler ein eigenständiges Therapieverfahren darstellt, während die gemeinsame Schnittmenge den zusätzlichen Teil ausmacht, der sich aus der Summe beider Verfahren ergibt.

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Dank

Bei der Arbeit an diesem Buch haben uns viele Menschen unterstützt, motiviert und angeregt, die wir im Einzelnen nicht alle nennen können, da es in den Jahren zahllose Begegnungen mit Patienten, Kollegen, Angehörigen und Freunden gegeben hat, die uns bewusst und unbewusst Impulse dazu gegeben haben. Unseren herzlichen Dank dafür! Da die Arbeit an einem Buch immer auch ein Projekt mit psychodynamischsystemischen Auswirkungen auf das bedeutsame psychosoziale Feld der Autoren darstellt, möchten wir uns an dieser Stelle insbesondere bei unseren Familien – Gisel, Uli, David, Maximilian, Elena, Antonia und Teresa – für ihre emotionale Unterstützung bedanken. Des Weiteren möchten wir Inken Puk nennen, die sich mit viel Sorgfalt um das Manuskript gekümmert hat, sowie auf Verlagsseite Günter Presting, der uns immer wieder ermuntert hat, das Thema umzusetzen, und Sandra Englisch, die für die redaktionelle Umsetzung verantwortlich war. Neben den Mitarbeiterinnen aus der Ausbildungsstätte Psychotherapie der Universität Oldenburg, stellvertretend Astrid Beermann-Kassner und Anja Kruse, seien hier alle Kolleginnen und Kollegen und Ausbildungskandidaten genannt, mit denen wir in den ganzen Jahren die Konzepte entwickelt und durchgeführt haben. Abschließend gilt unser Dank den Patientinnen und Patienten; ihr Vertrauen und ihre Rückmeldungen im Rahmen der gemeinsamen Arbeit an den krisenhaften Themen waren für uns wichtige Impulse für die Weiterentwicklung. Wir haben uns entschieden, bei Berufs- und Funktionsbezeichnungen abwechselnd die männliche und weibliche Form zu benutzen, um eine Ausgewogenheit im Sinne der Gendersensitivität zu erreichen. Joseph Rieforth und Gabriele Graf

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Einleitung

Zunächst gab es wirklich grundlegende Unterschiede zwischen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und der systemischen Therapie. Doch was war so anders? Auf der einen Seite stand die tiefenpsychologische Praxis mit einem Patienten, die im Rahmen der Einzeltherapie einen Schutzraum bot. Der therapeutische Stil war abwartend und zurückhaltend und orientierte sich am Konflikt. Psychische Störungen sollten in kontinuierlichen wöchentlichen Sitzungen bearbeitet werden, um die notwendige Intensität zu entwickeln. Eine wesentliche Aufgabe des Therapeuten bestand im Halten und Aushalten von Gefühlen, einer Begleitung im Sinne des Containings und der dyadischen Bearbeitung des psychischen Konflikts des Individuums. Diesem Therapiestil stand die systemische Therapie gegenüber, die in den Anfangsjahren die gesamte Familie bzw. die Mitglieder des Sozialsystems des Patienten in den Therapieprozess einbezog. Dies erlaubte, die Bedeutung des Symptoms für das gesamte Sozialsystem zu erkunden und den Patienten gleichzeitig durch die Einbeziehung realer Mitspieler zu entlasten. Es herrschte ein herausfordernder, in manchen Fällen scheinbar sogar respektloser Therapiestil (Enactment), der einer Ressourcenorientierung folgte. Grundlage für das klinische Verständnis war die Vorstellung, dass Störungen und auffälliges Verhalten sowohl für den Patienten als auch für das gesamte soziale System eine besondere Bedeutung haben. Oft endeten die Sitzungen mit Abschlussinterventionen, die mit Übungs- oder Verhaltensanweisungen verbunden waren, um die Entwicklung der Ressourcen aller Systemmitglieder durch die Anwendung in konkreten Lebenssituationen zu ermöglichen. Daher fanden die Sitzungen in der Regel nur in langen zeitlichen Abständen statt. Die Sitzungen selbst waren geprägt durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Konfliktthemen des Systems, indem der Therapeut (häufig auch ein Team) mit herausfordernden Fragen oder symbolischen Aktionen die bisherigen Ideen, Einstellungen und Verhaltensweisen des Einzelnen und des Gesamtsystems infrage stellte. Mit dieser konstruktiven

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Einleitung

Verstörung versuchte man die bisherigen Muster und Regeln des Zusammenlebens in ein neues Gleichgewicht zu bringen. Zu den damals ungewöhnlichen Methoden zählte auch das therapeutische Setting in der Form, dass hinter einem Einwegspiegel ein therapeutisches Team den Therapieverlauf beobachtete und zu geeigneten Zeitpunkten seine Beobachtungen an den bzw. die Therapeuten weitergab. In späteren Jahren wurde diese Methode des »Zweikammersystems« durch das Reflektierende Team ersetzt (vgl. Kapitel 4.2.4). Die tiefenpsychologische Praxis der Wahrnehmung der aktuellen Störung exklusiv durch den einzelnen Patienten mit seiner alleinigen Sichtweise und die daraus resultierende therapeutische Bearbeitung stand einem systemtheoretisch ausgerichteten Verständnis von Störungen gegenüber, bei dem Austauschprozesse zwischen ganzen Familien- oder Beziehungssystemen betrachtet wurden, um durch therapeutische Interventionen die sozialen Interaktionen und das Handeln des Patienten zu beeinflussen und so den therapeutischen Prozess zu fördern. Dem abwartenden, abstinenten Therapiestil aus der analytischen Tradition stand ein aktiver Therapiestil entgegen, der auch durch Provokationen oder Humor zu Veränderungen anregen wollte. Der Konfliktorientierung auf der einen Seite stand eine konsequente Ressourcenorientierung auf der anderen Seite gegenüber. Die Vorstellung von intrapsychischen Störungen wurde von der Systemtherapie um die Idee ergänzt, dass Störungen und auffälliges Verhalten sich im Sozialsystem entwickeln und demnach zwischen den einzelnen Systemmitgliedern zu verorten sind. Die exklusive Form der tiefenpsychologischen Arbeit durch ein deutliches Abgrenzen nach außen wurde aufgehoben zugunsten einer Beteiligung der vom Problem Mitbetroffenen. Vor allem die Erfahrungen mit psychotischen Patienten hatten gezeigt, dass gerade bei einer guten Entwicklung einer Einzeltherapie das dazugehörige Sozialsystem versucht, die bekannten störungsspezifischen Muster wiederherzustellen. Dies ging so weit, dass erfolgreiche Therapien vorzeitig abgebrochen wurden (vgl. Satir, 1975; Rotthaus, 2013; von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Mittlerweile, circa sechzig Jahre später und nach Durchlaufen unterschiedlicher Phasen und Entwicklungen, sind sich beide Verfahren ähnlicher geworden, und die bestehenden Unterschiede sind längst nicht mehr so groß wie die Vorurteile, die häufig von den Vertretern beider Seiten hochgehalten und gelebt werden. Das Thema der Schulenzugehörigkeit in der Psychotherapie ist vor allem in Deutschland ein ganz eigenes Thema und bedarf mehr Raum, als wir ihm in diesem Rahmen geben können (vgl. Fiedler, 2012). Vielmehr möchten wir durch dieses Buch eine Begegnung beider Verfahren auf Augenhöhe sowie einen Austausch über die Erfahrungen, die beide Verfahren in den letzten fünf-

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Einleitung

zig Jahren gemacht haben, ermöglichen. Der Fokus liegt dabei auf der historischen Entwicklung beider Verfahren, auf der Bedeutung der damaligen Trennung und den heutigen Möglichkeiten einer konstruktiven Zusammenarbeit. So äußern sich von Schlippe und Schweitzer in der neuen Ausgabe ihres Lehrbuchs zur systemischen Beratung und Therapie zum Beginn der Familien- und Systemtherapie, dass diese Anfangszeit unter anderem geprägt war durch eine »scharfe Abgrenzung besonders gegenüber der Psychoanalyse und lebhafte Konkurrenz zwischen den Pionieren der einzelnen Ansätze« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 44). Aufbauend auf diesen Entwicklungen eröffnet sich heute für die Enkelgenerationen die Möglichkeit, sich der eigenen inneren Bilder bewusst zu werden und diese gemeinsam zu reflektieren. Dies dürfte sich auf beide Seiten bereichernd auswirken. So könnten beispielsweise (un-)bewusste generationsübergreifende Beauftragungen (Delegationen) oder dysfunktionale Loyalitäten zum eigenen Herkunftsverfahren bewusst gemacht und gegebenenfalls bearbeitet werden, um nicht nur »heimlich« und unter dem Deckmantel der Umetikettierung die jeweiligen Qualitäten des anderen zu nutzen, sondern diese mit Wertschätzung und Respekt im Sinne einer wissenschaftlich fundierten Psychotherapie anzuwenden und weiterzuentwickeln. Gerade die Verbindung von tiefenpsychologisch fundierter (Psychodynamischer) Psychotherapie und den auf dem Konzept der Selbstorganisation basierenden »weicheren« Ansätzen einer Systemtherapie unterstreicht die Tatsache, dass sich Beziehungswelten nicht objektiv beschreiben lassen. Ebenso können Ursachen für beobachtetes Verhalten und das Erleben von Menschen nur hypothetisch gefunden werden (von Schlippe u. Schweitzer, 2012; Schiepek, 1999). Gerade deshalb soll dieses Buch den Leser und die Leserin ermuntern, in dieser neuen Komplexität weiterzudenken und nicht der Idee zu verfallen, dass Veränderung menschlichen Verhaltens zielorientiert auf direktem Wege steuerbar und nach systemexternen Wirkungen bewertbar sei. Ziel ist es vielmehr, weiterhin therapeutisch so zu handeln, dass die Dynamik der bewussten und unbewussten intrapsychischen Vorgänge, genauso wie die Grundideen des sozialen Konstruktivismus, eine wesentliche Grundlage für den therapeutischen Qualitätsstandard darstellt (Wöller u. Kruse, 2010; Schiepek, Eckert u. Kravanja, 2013). Wir möchten mit diesem Buch anregen, in den nächsten Jahren weitere Methoden und Verfahren zur Erforschung dieser komplexen Zusammenhänge und sozialen Wechselwirkungen zu entwickeln, um gerade deren Bedeutung für die Heilung bzw. Linderung von psychischen Störungen bewusst zu machen. Zunächst gehen wir näher auf die Entwicklung des tiefenpsychologischen und des systemischen Modells ein.

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Entwicklung findet stets im Ambivalenzraum zwischen Anpassung und Abgrenzung statt. So besteht die Motivation der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie seit den 1960er Jahren vor allem darin, sich als Behandlungsmodell von der Konfliktorientierung ohne vorgegebenem Ziel und freier Assoziation mit vertiefter Regression (Übertragungsneurose), gemäß der traditionellen Psychoanalyse, zu differenzieren und sich stattdessen auf den aktuell belastenden und symptomauslösenden aktualisierten neurotischen Konflikt zu fokussieren. Mit Einführung der Psychotherapie-Richtlinien im Jahre 1967 ist dieses modifizierte Modell eines tiefenpsychologischen Behandlungssettings als Verfahren im Gesundheitssystem anerkannt (Reimer u. Rüger, 2003). Seit dieser Zeit steht im psychotherapeutischen Prozess der aktuell aktualisierte psychische Konflikt mit dem jeweils relevanten biografischen Hintergrund im Fokus der Behandlung. Die Fokussierung auf gemeinsam von Patienten und Therapeuten entwickelte Therapieziele macht den Konflikt behandelbar und begrenzt die Heilbehandlung unter Wahrung der therapeutischen Abstinenz mit einer Nutzung von Übertragung und Gegenübertragung bei Begrenzung der Regression. Durch diese Fokussierung können nicht nur spezifische Konfliktdynamiken behandelt werden, sondern zunehmend auch Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen, mit psychosomatischen Erkrankungen, Suchterkrankungen und anderen Störungsbildern, die mit einem geringen Strukturniveau verbunden sind (vgl. Gemeinsamer Bundesausschuss, 2013; Faber u. Haarstrick, 2012; Wöller u. Kruse, 2010). Die besondere Qualität der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie besteht neben der fokussierten Arbeit am aktualisierten Konflikt darin, die Prozessdurchführung den individuellen Belastungsmöglichkeiten des Patienten anzupassen und je nach Störung und Patient zu variieren. Auf der anderen Seite entwickelte sich seit den 1950er Jahren das systemische Therapiemodell. Zunächst standen die unterschiedlichen familientherapeutischen Schulen (Minuchin, 1977; von Schlippe u. Schweitzer, 2012; von Sydow, 2003; Satir, 1975) im Vordergrund und brachten durch ihre neuen Behandlungsverfahren auch bis dahin unbekannte Sichtweisen in die psychotherapeutische Behandlung ein. So wurden psychische Störungen als Teil von Beziehungsmustern betrachtet, die auf den Patienten pathogenetisch wirken und neue Erklärungsmodelle für psychische Störungen ermöglichten. Seit dieser Zeit werden insbesondere in den klassischen zwischenmenschlichen Bereichen des Patienten, wie zum Beispiel in Paar-, Familien- und Arbeitsbeziehungen, transaktionale Muster und Interaktionsabläufe beobachtet und diagnostiziert, um sie für das Behandlungsverfahren nutzbar zu machen. Die systemische Therapie entfaltet ihre Wirkung insbesondere durch die Unterbrechung dieser bisherigen pathogenetischen Muster, durch die Anregung neuer salutogenetischer Beziehungs-

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konstellationen. Heute findet die systemische Therapie sowohl im Einzel- als auch im Mehrpersonensetting sowie in Gruppen ihre Anwendung. Die besondere Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes, in dem die Störung auftritt, und der Einsatz von systemischen und weiteren Hypothesen zur Erklärung der Störung, um der Komplexität menschlicher Störungen und Konflikte gerecht zu werden, zeichnen das systemische Verfahren aus. Die Frage nach dem Sinn der psychischen Störung bzw. dem Erleben der Einzelperson im Gesamtsystem charakterisiert die systemische Therapie als ein Verfahren, das die Zusammenhänge für Störungen in sozialen Strukturen begründet sieht. Bei der Erfassung der sozialen Prozesse liegt daher der Fokus auf der Dynamik zwischen den beteiligten Personen und weniger auf den Prozessen innerhalb der Person. In den Anfängen der familientherapeutischen Schulen (Stierlin, 2001a; von Schlippe u. Schweitzer, 2012) wurde in Bezug auf den Patienten die emotionale Bedeutung der Bindungskräfte einer Familie im Vergleich zur gefühlten Qualität einer therapeutischen Zweierbeziehung deutlich. Die Beteiligung der Angehörigen am therapeutischen Prozess unterstrich diese Erkenntnis durch vielfältig gemachte Erfahrungen, und so entwickelten sich neue therapeutische Modelle, die nicht nur dem Patienten, sondern auch dem Familiensystem zugutekamen. Dies legte ebenfalls eine neue Grundlage für die Erfassung und Bearbeitung generationsübergreifender Loyalitäten und Delegationen, die heute auch in Einzeltherapien vielfach zur Anwendung kommen (Stierlin, 2001a, S. 250; Reich, Massing u. Cierpka, 2007; Reich, 2010). Im Jahr 2013, etwa vierzig Jahre nach den ersten Veröffentlichungen von Virginia Satir (1975) und Salvador Minuchin (1977), zeigen aktuelle Forschungsergebnisse, dass gerade durch ein Grundverständnis der Systemzusammenhänge eine angemessene Reduktion der Komplexität gelingt, um mit Hilfe fein dosierter Eingriffe und der notwendigen Geduld Veränderungen in sozialen Systemen (Patient, Paar, Familie etc.) anzuregen (Roth, 2007, S. 181 f.). Die Vorstellung, dass Psychotherapie sowohl den personalen als auch kontextorientierten Aspekt unter Einbeziehung eines definierten Ziels bzw. Zielen berücksichtigen sollte, ist bereits seit vielen Jahren in unterschiedlichen Facetten immer wieder bestätigt worden. Nicht nur die Allgemeine Psychotherapie von Grawe (1995, 1998), sondern bereits die Definition von Strotzka aus dem Jahre 1975 weist darauf hin, dass diese Merkmale eine bedeutsame Rolle im psychotherapeutischen Prozess spielen: »Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) meist verbal, aber auch aver-

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bal, in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminderung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit) mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens« (Strotzka, 1975). Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und systemische Therapie haben die psychotherapeutische Realität stark inspiriert und neu geordnet. Sowohl nach Freud als auch nach der Entwicklung der Familientherapie wurden grundlegend neue Bedeutungen für die therapeutische Realität geschaffen und diese mit neuer Sprache versehen. Stierlin (2001a) hat bereits damals einerseits auf das Trennende, andererseits auf das Verbindende durch die Fokussierung auf das Individuum auf der einen und das System auf der anderen Seite hingewiesen. Ebenso machte er den Unterschied zwischen einer eher abwartend beobachtenden Einstellung und einem therapeutischen Aktivismus im Rahmen des therapeutischen Prozesses deutlich. Verbindendes sah er bezüglich des Fokus auf die unsichtbaren und größtenteils unbewussten Mechanismen des Individuums, die in der Psychoanalyse vorwiegend als innerpsychische Konflikte und Abwehr, in der systemischen Therapie als Dynamiken in Form von Familienmythen, als Prozesse der Delegation und der Loyalitätsbindung sowie der sich daraus entwickelnden Scham- und Schuldverstrickungen deutlich wurden. Damals nahm er an, dass eine Annäherung der unterschiedlichen Verfahren nicht einfach zu vollziehen sei, da die unterschiedliche Sprache dies eher erschwere. Auf der einen Seite stand die Prägung durch Konzepte aus der Physik und Neurologie des 19. Jahrhunderts und auf der anderen Seite die Orientierung an der modernen Informationstheorie. Heute sind die aktuellen tiefenpsychologisch fundierten sowie systemischen Therapiemodelle durch eine wachsende Übereinstimmung in ihren Sprachmustern sowie in ihren Behandlungsformen gekennzeichnet. Während die psychodynamischen Verfahren stets im Einzelsetting durchgeführt wurden und erst in den letzten Jahren eine zögerliche Öffnung hin zur Mitbeteiligung von Partnern und Angehörigen festzustellen ist (vgl. Kapitel 5.8), hat die Familien- und Systemtherapie auch im Rahmen der Gestaltung des therapeutischen Prozesses intensiv am Wandel der Perspektiven mitgewirkt. Die besondere Herausforderung, nicht allein zum Patienten eine vertrauensvolle, kooperative Haltung aufzubauen, sondern gleichzeitig zu mehreren Personen bis hin zu gesamten Familiensystemen, machte eine Vielzahl von neuen Verfahrens- und Interventionsformen notwendig. Die beiden systemischen Grundhaltungen Allparteilichkeit und Neutralität verweisen auf die Bedeutung für die gleichwertige Wertschätzung in Bezug auf die Positionen, Anliegen, Bedürfnisse und Wertvorstellungen aller beteiligten Personen bei gleichzeitiger Offenheit und Zurückhaltung im Sinne einer Lösungsbeeinflussung durch den Thera-

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peuten. Dies verlangte den beteiligten Therapeuten neue Konzepte und kommunikative Kompetenzen ab, die später noch eingehender behandelt werden. Die im deutschen Gesundheitssystem notwendige wissenschaftliche Anerkennung als Behandlungsvoraussetzung wurde durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) bei Inkrafttreten des Psychotherapiegesetzes im Jahre 1999 neben der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie auch der analytischen Psychotherapie und der Verhaltenstherapie zugesprochen. In seiner Stellungnahme aus dem Jahre 2004 (WBP, 2010) hat der Beirat beschlossen, für die tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien und die psychoanalytischen Therapien den Oberbegriff des »Psychodynamischen Verfahrens« zu verwenden. Die Einteilung der Psychotherapieverfahren in dem tiefenpsychologischen Bereich stellt sich im sozialrechtlichen Rahmen allerdings modifiziert dar. In diesem Rahmen sieht der dafür verantwortliche Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) in seiner Psychotherapie-Richtlinie unter § 14 die psychoanalytisch begründeten Verfahren mit den zwei Teilbereichen »tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« und »analytische Psychotherapie« vor (Gemeinsamer Bundesausschuss, 2013). Die systemische Therapie wurde im Jahre 2008 als wissenschaftlich fundiert anerkannt, allerdings steht die sozialrechtliche Prüfung noch aus.

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Teil A: Theoretische Grundlagen

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Psychische Störungen: Auslöser, Ausprägungen und Zusammenhänge

Psychische Störungen wurden über lange Zeit vor allem als Schwäche der Betroffenen ausgelegt oder im schlimmsten Fall als »verrückt sein« abqualifiziert. So wurden psychische Störungen häufig gar nicht diagnostiziert oder in einer kompensatorisch-körperlichen Symptomatik versteckt und somit jahrelang nicht angemessen behandelt. Bei vielen Betroffenen dauerte es daher durchschnittlich mehrere Jahre, bis eine zutreffende psychische Diagnose gestellt wurde. Heute werden psychische Erkrankungen besser erkannt und die hinter den diffusen Schmerzen stehenden psychischen Ursachen diagnostiziert. Auch die Überweisung vom Hausarzt zum Psychologischen Psychotherapeuten oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten geschieht häufiger. Zudem können die Patientinnen seit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes im Jahre 1999 (Behnsen u. Bernhardt, 1999) direkt den approbierten Psychotherapeuten aufsuchen. Dennoch geht der Erkennung einer psychischen Störung oft eine lange Zeit des Leidens voraus, die nicht selten zu einer Chronifizierung des Problems mit teilweise massiven Auswirkungen auf das alltägliche Leben der Betroffenen wie etwa ein frühzeitiges Ausscheiden aus dem Berufsleben führt. Nach einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (2014) zur psychischen Erkrankung und Frührente bezogen im Jahr 2012 75 000 Versicherte erstmals eine Rente wegen Erwerbsminderung aufgrund psychischer Erkrankungen. Mit 42 % ist fast jede zweite neue Frührente inzwischen psychisch verursacht. Das durchschnittliche Alter zu Beginn der Frühverrentung liegt mittlerweile bei 49 Jahren. Die Anzahl der wegen einer psychischen Erkrankung bedingten betrieblichen Fehltage hat sich danach im Zeitraum von 2000 bis 2012 fast verdoppelt (96 %); der Anteil dieser Erkrankung an allen betrieblichen Fehltagen liegt bei knapp 14 %. Nach den Muskel-Skelett-Erkrankungen sind psychische Erkrankungen damit der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit, wodurch sie eine erhebliche volkswirtschaftliche Dimension erreichen. Nachdem psychische Störungen lange Zeit weitgehend im tabuisierten Bereich blieben, drängen sie nun zunehmend in den Fokus der Aufmerksam-

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Psychische Störungen: Auslöser, Ausprägungen und Zusammenhänge

keit. Psychische Erkrankungen und hier insbesondere die depressiven Störungen sowie Angststörungen haben deutlich zugenommen bzw. werden zunehmend häufiger diagnostiziert. Zahlreiche Studien, epidemiologische Untersuchungen und letztlich auch die Daten der Krankenkassen und Rentenversicherungsträger zu psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeiten, Klinikeinweisungen, Verrentungen oder Arzneimittelverordnungen belegen dies. Laut Gesundheitsreport 2010 der Techniker Krankenkasse (Techniker Krankenkasse, 2010) stiegen die verordneten Psychopharmaka-Tagesdosen in der Dekade von 2000 bis 2009 bei männlichen Patienten um 119 % und bei weiblichen Patienten um 96 %. Im Jahre 2012 nahmen die durch psychische Störungen verursachten Fehlzeiten weiter zu und machten mittlerweile über 17 % aller Fehlzeiten aus. Danach lief jeder sechste Krankschreibungstag unter einer psychischen Diagnose (Techniker Krankenkasse, 2013). Gleichzeitig führen Patientinnen mit psychischen Erkrankungen die Liste der stationären Behandlungstage in deutschen Kliniken mit Abstand an (vgl. Barmer GEK, 2011). Die Ergebnisse des Bundes-Gesundheitssurveys (Jacobi, Hoyer u. Wittchen, 2004), einer vom Robert-Koch-Institut im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums durchgeführten repräsentativen Erhebung zum Gesundheitszustand der deutschen Bevölkerung von 1997 bis 1999, zeigen, dass etwa jeder dritte erwachsene Deutsche im Laufe eines Jahres an einer psychischen Störung erkrankt. Als häufigste Diagnosen sind Angststörungen, Störungen durch psychotrope Substanzen (insbesondere Alkohol), affektive Störungen (vor allem Depressionen) und somatoforme Störungen (körperliche Beschwerden ohne ausreichende organische Ursache) zu nennen. Die Zunahme dieser Störungen wird unter anderem im Zusammenhang mit den sich immer weiter verändernden sozialen Strukturen, mit all den Individualisierungs- und Flexibilisierungsansprüchen in einer »Risikogesellschaft« diskutiert (vgl. Beck u. Beck-Gernsheim, 1994). Dabei müssen aber auch die Effekte einer verbesserten Diagnostik und zunehmenden Entstigmatisierung beachtet werden. Psychische Störungen dürfen keinesfalls als bloße Befindlichkeitsstörungen bagatellisiert werden, sondern sie stellen Störungsbilder dar, die in jedem Fall heilkundlich von qualifizierten Fachkräften behandelt werden sollten. Psychotherapie ist psychologische Heilkunde und wird als solche im öffentlichen Gesundheitswesen von qualifizierten Psychologen und von psychologisch qualifizierten Ärzten ausgeübt. Im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie kommen auch ausgebildete und demnach approbierte Pädagogen und Sozialpädagogen zum Einsatz. Medizinische und psychologische Heilkunde unterscheiden sich in vielfacher Weise und ergänzen sich gerade dadurch gegenseitig zu einer umfassenden Behandlung seelischer und körperlicher Erkrankungen.

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Psychische Störungen: Auslöser, Ausprägungen und Zusammenhänge

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Es drängt sich die Frage nach dem eigentlichen Kern einer psychischen Störung und der damit verbundenen Psychodynamik auf, die häufig durch oberflächliche, aber dominant wirkende Symptome überdeckt wird. Das Ausmaß unbewusst ablaufender Prozesse bei psychischen Erkrankungen und ihre unbewusste Konfliktdynamik konnten durch die Untersuchungen und Ergebnisse der neueren Hirnforschung belegt werden (vgl. Kapitel 4.1.4). Wie in Kapitel 5.7 näher beschrieben wird, erfüllt das Symptom der jeweiligen psychischen Störung eine bedeutsame Funktion als Abwehr- und Kompensationsmechanismus im Sinne einer Bewältigungsstrategie. Bei der Betrachtung der aktuell nicht mehr zu bewältigenden intra- und interpsychischen Konflikte müssen sowohl psychodynamische als auch psychosoziale und psychogenetische Aspekte einbezogen werden. Sowohl die Berücksichtigung der intrapsychischen als auch der interpersonellen und systemischen Realität ist Voraussetzung für eine angemessene und zutreffende Diagnose und einen daraus zu entwickelnden Behandlungsplan. Die Anwendung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie in Kombination mit der systemischen Therapie sichert die Berücksichtigung der psychopathologischen und salutogenetischen Zusammenhänge. Die Definition von Krankheit wird so aus verschiedenen Perspektiven betrachtet (vgl. Kapitel 2.2). Im Rahmen der Psychotherapie-Richtlinien und hinsichtlich der Kostenübernahme durch die Krankenkassen stellt sich die Frage, wann eine seelische Störung behandlungsbedürftig im Sinne einer psychischen Störung mit Krankheitswert ist und welche psychotherapeutischen Möglichkeiten im jeweiligen Fall indiziert sind. Psychotherapie-Richtlinien Die im Jahre 1967 in Kraft getretene erste Psychotherapie-Richtlinie hatte das Ziel, die nach der Reichsversicherungsordnung der 1960er Jahre bestehenden gesetzlichen Erfordernisse der Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit für den Bereich der ätiologisch orientierten Psychotherapie zu regeln. In dieser Richtlinie werden Kriterien zu der Indikation sowie der Aufgabenbereich für die Psychotherapie festgelegt, um die Verpflichtung zur Kostenübernahme durch die gesetzlichen Versicherungsträger zu definieren. Die Psychotherapie-Richtlinien werden vom Gemeinsamen Bundesausschuss als oberstem Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen entwickelt und kontinuierlich an die aktuellen Erfordernisse angepasst.

Bezieht man den Krankheitsbegriff auf psychische Störungen, wird eine besondere Problematik deutlich. Die Schwelle von der Gesundheit zur Krankheit ist in

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vielen Fällen nicht exakt bestimmbar und zeigt sich als fließender Prozess. Bei psychischen Störungen mit Krankheitswert handelt es sich um erhebliche Abweichungen des Erlebens, Denkens, Fühlens und Handelns von der Norm, die den Betroffenen so sehr in seiner alltäglichen Lebensführung beeinträchtigen, dass eine angemessene Bewältigung des alltäglichen Lebens eingeschränkt ist. Daher muss die wahrgenommene Ausprägung der Störung sowohl von der Patientin selbst als auch von therapeutischer Seite angemessen eingeschätzt werden. Gemäß der Richtlinientherapie, die 1967 als unentgeltliche Leistung der Sozialversicherungsträger im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung eingeführt wurde, kann eine psychische Krankheit in psychischen und körperlichen Symptomen und in krankhaften Verhaltensweisen erkennbar werden. »Seelische Krankheit wird als krankhafte Störung der Wahrnehmung, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen verstanden. Der Krankheitscharakter dieser Störungen kommt wesentlich darin zum Ausdruck, dass sie der willentlichen Steuerung durch den Patienten nicht mehr oder nur zum Teil zugänglich sind« (Faber u. Haarstrick, 2012, S. 15). Sämtliche psychischen Störungen mit Krankheitswert sind im international anerkannten diagnostischen Klassifikationssystem ICD (International Classification of Diseases) in Kapitel V (F00–F99) aufgelistet. Dieses System wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verantwortet und steht aktuell in der zehnten Fassung zur Verfügung. Ein weiteres international anerkanntes System wird von der American Psychiatric Association herausgegeben und steht aktuell in der fünften Version als DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) zur Verfügung. Für alle Diagnosen werden in beiden Systemen die Merkmale beschrieben, die die jeweilige Störung mit Krankheitswert kennzeichnen. Allerdings müssen die im Behandlungskontext erarbeiteten Diagnosemerkmale angesichts zunehmender Diversität der zu behandelnden Patientinnen heute grundsätzlich hinterfragt werden (vgl. Breidenbach u. Nyri, 2008), um Fehldiagnosen zu vermeiden. Aus diesem Grund war auch die Ausgabe des DSM-V (2013) schon im Vorfeld in die Kritik geraten; da hier vielfältige neue Diagnosen konzipiert und aufgenommen worden sind, besteht nun noch ein größeres Risiko, dass psychische Leidenszustände unzulässig pathologisiert werden. Als eine Folge der Ausweitung des Krankheitsbegriffs könnte eine Überdiagnostik unter anderem auch eine Übermedikation nach sich ziehen. Insgesamt besteht hier die Gefahr, dass gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten auch schon bei Kindern pathologisiert und mit Medikamenten egalisiert wird. Im Vordergrund sollte der tatsächliche, unmittelbare Leidensdruck der Betroffenen stehen, verbunden mit der Frage: Worum geht es hier wirklich, unabhängig von einer scheinbar objektiven Diagnose? Absolut unerlässlich ist an dieser Stelle ebenso

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Psychische Störungen: Auslöser, Ausprägungen und Zusammenhänge

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die Frage, in welchem inneren und äußeren Kontext diese Störung (Störung der Lebensbewältigung) steht. Die reine Symptomebene kann hier nicht aussagekräftig sein, da es anders als bei somatischen Störungsbildern in der Regel keine klaren biologischen Ursachen gibt, die es abzuarbeiten gilt. Wenngleich sich psychische Vorgänge auch in hirnstrukturellen und hirnorganischen (auch stoffwechselbedingten) Vorgängen abbilden, sollte dies jedoch keinesfalls dazu verleiten, psychische Leidenszustände als hirnorganisch bedingte Stoffwechselstörungen oder gar als rein genetisch determinierte Fehlfunktionen zu erklären und einer medikamentösen Behandlung den Vorzug zu geben. Die vermehrte Ausschüttung verschiedener Neurotransmitter und auch Stresshormone wie beispielsweise Adrenalin im Augenblick einer realen Gefahr gilt ebenso als »normal« und angemessen wie eine Veränderung der Vorgänge im Zusammenhang mit psychischen Belastungen und seelischen Konfliktlagen, ohne dass in diesen Fällen schon von einer ursächlichen Stoffwechselstörung oder einer ursächlichen Störung im Gehirn gesprochen werden kann. Ein Anstieg der hirnorganischen Aktivität, der auch durch bildgebende Verfahren nachgewiesen werden kann, ist damit nicht automatisch die Erklärung für die ursächliche Störung. Nach den von der WHO festgelegten Kriterien wird Gesundheit nicht allein als Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern umfasst den Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Die Krankenkassen stehen in der Pflicht, die Kosten zu übernehmen (Leistungspflicht), wenn körperliche oder seelische Funktionen über eine bestimmte Norm hinaus eingeschränkt sind, sodass sie nur noch mit Hilfe eines Arztes bzw. Psychotherapeuten wiederhergestellt werden können. Dies soll durch Diagnostik und Klassifikation objektivierbar werden. Im Zusammenhang mit neurotischen Erkrankungen betonte allerdings auch Freud in seinem Werk »Abriss der Psychoanalyse«: »Die Neurosen haben nicht wie z. B. die Infektionskrankheiten spezifische Krankheitsursachen. Es wäre müßig, bei ihnen nach Krankheitserregern zu suchen. Sie sind durch fließende Übergänge mit der sogenannten Norm verbunden und andererseits gibt es kaum einen als normal anerkannten Zustand, in dem nicht Andeutungen neurotischer Züge nachweisbar wären« (Freud, 1938, S. 109). Diese »fließenden Übergänge«, wie auch Angst vor Stigmatisierung oder Unverständnis aus dem sozialen Umfeld, können den Umgang mit verschiedenen Vorurteilen bei psychischen Störungen erschweren und die Entscheidung für eine Psychotherapie erheblich verzögern. Häufig geäußerte Vorbehalte wie beispielsweise »Ich bin doch nicht verrückt«, »Ich habe Angst, in die geschlossene Psychiatrie weggesperrt zu werden« oder Vorwürfe aus dem Umfeld wie »Die soll sich einfach mal zusammenreißen, es geht doch jedem mal schlecht« ver-

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Psychische Störungen: Auslöser, Ausprägungen und Zusammenhänge

hindern die Suche nach therapeutischen Hilfsmöglichkeiten. Insgesamt besteht so (verständlicherweise) bei vielen von psychischen Störungen Betroffenen die Befürchtung, dass das Bekanntwerden einer psychischen Problematik zu einer Stigmatisierung mit gravierenden Nachteilen führen könnte. Diese Thematik soll aufgrund ihrer Bedeutung auch in den folgenden Kapiteln noch einmal aufgegriffen werden. Gesetzt den Fall, eine psychische Störung mit Krankheitswert ist diagnostiziert, kann eine Psychotherapie im gesetzlichen Krankenkassensystem (GKV) mit Hilfe anerkannter wissenschaftlich fundierter Verfahren die Bewältigungsfähigkeit des Betroffenen verbessern. Neben den im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung geforderten Voraussetzungen einer Krankheitstheorie und einer wissenschaftlich reflektierten Behandlungstechnik sind aktuell neben der Psychoanalyse, der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und der Verhaltenstherapie noch die Gesprächspsychotherapie und die systemische Psychotherapie wissenschaftlich anerkannt. Die beiden zuletzt genannten Verfahren haben aber bisher noch keine Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss für die Umsetzung im GKV-System erhalten, sodass für die Patientinnen in diesen Fällen keine Kostenerstattung erfolgt.

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Verständnis von Krankheit und Gesundheit: Pathogenese und Salutogenese

Der Begriff Krankheit oder die Definition einer psychischen Störung als Krankheit erscheint im ersten Moment als ein wissenschaftlich überprüftes Faktum, welches ein psychisches Phänomen scheinbar objektiv einordnet und damit auch festschreibt. Insgesamt ist die Ausgangslage der menschlichen Phänomenologie jedoch vielschichtiger. Auch kann der (festschreibende) Umgang mit dem Begriff Krankheit gerade im Bereich der psychischen Störungen gravierende Folgen auslösen. Im Sinne einer differenzierten Sichtweise soll dies unter den Aspekten Pathogenese und Salutogenese unter Berücksichtigung von Pathologisierung und Chronifizierung im Folgenden beleuchtet werden. Dabei soll auch die Bedeutung der Resilienz, die Entwicklung der psychischen Widerstandsfähigkeit eines Menschen, thematisiert werden. 2.1 Krankheitsbegriff, Pathologisierung und Chronifizierung Um den problematischen Gebrauch von Begriffen wie »Krankheit« oder »Erkrankung« weitgehend zu vermeiden, wird seit den 1990er Jahren in dem ICD-System der WHO der Begriff »Störung« (»disorder«) verwendet, um einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzuzeigen. Diese sind immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppenoder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden (Dilling, Mombour u. Schmidt, 1993, S. 22 f.; Franke u. Broda, 1993). Die Klassifikation einer psychischen Störung als Krankheit, um die Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen zu erfüllen, beinhaltet die Gefahr, Eigenverantwortung und Handlungskompetenzen der Betroffenen zu schmälern. Handelt es sich um eine Krankheit, so ergibt sich zwangsläufig die (Mit-)Verantwortung eines Arztes oder Psychotherapeuten als Experten für den Umgang mit der Krankheit. Dabei besteht die Gefahr, dass die Verantwortung für den Umgang mit der Krankheit von der Patientin weitgehend abgegeben wird. Die Patientin wird so zum Opfer der Krankheit und verhält sich ent-

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Verständnis von Krankheit und Gesundheit: Pathogenese und Salutogenese

sprechend. Diese Situation führt bei einer Reihe von Patientinnen zunächst zur Entlastung bei gleichzeitiger Reduktion der eigenen Verantwortlichkeit. Ebenso können Betroffene mit höheren Sympathiewerten, mit Mitleid und auch Hilfsbereitschaft im sozialen Umfeld rechnen, wenn ihre psychische Störung als Krankheit definiert wird. Diese Situation kann ein Bearbeiten der Symptome erschweren, Handlungsunfähigkeit fördern und zu einer Chronifizierung der psychischen Störung führen. Die Klassifizierung einer psychischen Störung als Krankheit kann Konsequenzen haben, die den weiteren Krankheitsverlauf wesentlich beeinflussen (vgl. hier von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Letztendlich sollte deshalb bei aller Notwendigkeit diagnostischer Maßnahmen immer noch die Frage bleiben, unter welchen Bedingungen Menschen und ihre Problematiken überhaupt klassifiziert werden können. Es ist wichtig, die Störung immer unter den jeweils biografischen und sozialen Gegebenheiten in einem ganzheitlichen, umfassenden Verständniszusammenhang zu sehen. Diagnosen und Begriffe sollten immer in den individuellen und sozialen Kontext gestellt und auch vor dem Hintergrund lebensgeschichtlicher Begebenheiten und der Gründe für die Aufrechterhaltung der Symptomatik gesehen werden. Dabei ist eine psychische Störung als ein Prozess zu sehen, der nicht automatisch abläuft, sondern beeinflusst werden kann und beeinflusst wird. Das institutionelle Anforderungsprofil für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen gibt zwar die Definition einer psychischen Störung als Krankheit (Krankheitswert) vor, darüber hinaus lässt sich aber der Störungsbegriff anhand der Ursachen, des Verlaufs und der Interventionsmöglichkeiten durchaus auf vielfältige Weise differenzierter beleuchten. So ergibt sich zum Beispiel in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie der Sinn einer psychischen Störung zunächst aus den lebensgeschichtlichen Bedingungen, während aus systemischer Sicht zunächst die zirkulär-kausalen Wechselwirkungen aus dem jeweiligen sozialen Kontext der Patientin entscheidend sind. Um einer Stigmatisierung (vgl. Kapitel 6.2) entgegenzuwirken, wird im Rahmen der Internationalen Klassifikationsrichtlinien (ICD-10) (Dilling, Mombour u. Schmidt, 1993) empfohlen, den Begriff der psychischen Krankheit durch den Begriff »psychische Störung« zu ersetzen. Dies gilt unabhängig davon, dass Kostenträger des Gesundheitssystems im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung weiterhin den Krankheitsbegriff im Sinne einer Störung mit erheblicher Einschränkung der Bewältigung des Alltags definieren. Da einer seelischen Störung häufig eine aktuelle seelische Krise zugrunde liegt, könnte der Begriff »Krise mit Krankheitswert« hilfreich sein. Dadurch würde der Fokus der Betrachtung auf die krisenhaft zugespitzten krankheitswertigen Abweichungen des Erlebens und Verhaltens gerichtet. Im Sinne einer psychodynamisch-systemischen Sicht-

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Pathogenese und Salutogenese als Ressourcenorientierung

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weise wäre eine Pointierung auf die jeweilige kontextuelle Beziehungssituation ebenfalls hilfreich, um zu vermeiden, dass eine Krise allein als eine Störung des Einzelnen betrachtet wird. Die Auswirkungen auf die Mitbeteiligten (Partner, Kinder, Angehörige, Freunde etc.), die die Krise entweder mit ihren Ressourcen positiv beeinflussen oder durch ihre Problemsicht eher verstärken können, sollten ebenfalls Berücksichtigung finden. Daher schlagen wir als Begriff »Krise mit Krankheitswert im sozialen System« vor. So könnte der jeweilige Zustand der Betroffenen treffender beschrieben und eine unnötig schwere und stigmatisierende Pathologisierung vermieden werden. Folglich könnten Selbstkompetenz und Selbstverantwortung sowie Entscheidungs- und Handlungskompetenz auch im Rahmen von Psychotherapie für die Beteiligten stärker ins Blickfeld rücken. Der Begriff »Krise« könnte das Augenmerk vielmehr auf einen nötigen Wendepunkt und damit auf ein ausbaufähiges Potenzial legen, wenn man die Krise als eine krisenhafte Zuspitzung einer auslösenden Belastungssituation mit Reaktivierung frühkindlicher Traumata im weitesten Sinne und dem damit zusammenhängenden Zusammenbruch der bis dahin funktionsfähigen Abwehrmechanismen versteht. Wird dabei gleichzeitig der aktuelle Kontext mit seinen konkreten Realbeziehungen und den interpersonellen Mustern mit möglichen Delegationsmustern aus früheren Generationen (vgl. Kapitel 4.2) berücksichtigt, kann diese Bewusstmachung als Ressource für den Veränderungsprozess genutzt werden. Eine krisenhafte Störung könnte somit bei allem Leid als eine Chance für neue Entwicklungsprozesse gesehen werden. 2.2 Pathogenese und Salutogenese als Ressourcenorientierung Der Begriff Pathogenese entstammt dem Forschungsgebiet der Pathologie. Diese hat in der Psychologie bereits seit langem ihren Platz. Bekannt geworden durch den griechischen Arzt Galenus, bedeutet Pathologie frei übersetzt die Lehre vom Leid. Die Pathogenese (zusammengesetzt aus griech. Pathos »Leid«, »Mitleid«, »Leidenschaft« und griech. Genesis »Ursprung«, »Entstehung«, »Entwicklung«) als Teilgebiet der Pathologie beschäftigt sich mit der Fragestellung, wie eine Krankheit und ein Leid entstehen (Kuhlmann u. Rieforth, 2006, S. 89 f.). Psychische Störungen aus pathologischer Sicht zu betrachten, stellt zunächst die gängige Form dar, da ohne eine Diagnose nach ICD oder DSM keine Heilbehandlung im Gesundheitssystem möglich ist. Neben den Vorteilen, die eine solche Klassifizierung im Sinne der Vergleichbarkeit und der notwendigen Operationalisierung für eine gemeinsame Verständigung mit sich bringt, stellt die Diagnose einer psychischen Störung insofern eine besondere Situation dar, da diese auf die Patientin eine direkte Auswirkung hat, die sich für die Gesun-

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Verständnis von Krankheit und Gesundheit: Pathogenese und Salutogenese

dung nicht nur förderlich, sondern in vielen Fällen auch krankheitsbestätigend auswirken kann. So macht zum Beispiel Simon (1990) in seinem Werk »Meine Psychose, mein Fahrrad und ich« auf die malignen Wechselwirkungen zwischen Diagnose und Individuum aufmerksam. Mittlerweile findet zwar vermehrt eine kritische Betrachtung einer einseitig pathologisch orientierten Diagnostik unter anderem auch durch Erkenntnisse aus der Resilienz- und Salutogeneseforschung statt, gleichzeitig besteht aber durch eine immer differenziertere Diagnostik die Gefahr einer zunehmenden Pathologisierung menschlichen Verhaltens. Durch die zunehmenden Forschungsaktivitäten unter Laborbedingungen im Rahmen von randomisierten kontrollierten Studien (RCT-Studien) und weitere auf die Effizienz ausgerichtete Wirksamkeitsstudien bei der Erfassung psychischer Störungen wurden naturalistische und die Effektivität (Wirksamkeit unter realen Bedingungen) erfassende Studien nur eingeschränkt wahrgenommen. Dabei steht die Frage nach der Relevanz dieser Studienergebnisse aus den Laboruntersuchungen für die Anwendung in der Praxis in vielen Fällen noch aus (vgl. Beutel, Doering, Leichsenring u. Reich, 2010, S. 54 ff.). Das systemische Modell hat in den vergangenen Jahrzehnten eindrucksvoll gezeigt, wie durch die Relativierung (Verflüssigung) störungsspezifischer Diagnosen durch eine Dekonstruktion dieser einseitigen Zuschreibung bei der Behandlung störungsspezifischer psychischer Störungen gute Erfolge erzielt werden konnten (Ludewig, 2013; von Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer, 2007; Beher, 2006; Scholz, 2005). Die im Rahmen der psychodynamischen Verfahren entwickelte Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) hat ebenfalls zum Ziel, eine psychische Störung nicht als einen Zustand, sondern als einen Prozess mit entsprechenden Wechselwirkungen in den jeweiligen sozialen Kontextsituationen zu erfassen (in Kapitel 6.3 wird dieses Diagnosemodell und seine Bedeutung für eine konstruktive Beziehung zwischen beiden Psychotherapieverfahren näher dargestellt). Bei aller Unterschiedlichkeit der Überlegungen zur pathologischen Entstehungsgeschichte von psychischen Störungen stehen die gemeinsamen Ziele, für den Patienten größere Freiräume im Umgang mit der psychischen Störung und eine Förderung seiner Autonomie zu schaffen, im Vordergrund (Schweitzer u. von Schlippe, 2006). 2.3 Salutogenese: Die Entstehung von Gesundheit Aaron Antonovsky, ein amerikanisch-israelischer Medizinsoziologe, der 1960 nach Israel emigrierte, beschäftigte sich in seinen Arbeiten erstmalig nicht mehr mit den Entstehungsbedingungen einer Krankheit, der Pathogenese, sondern stattdessen mit der Salutogenese, der Entstehung von Gesundheit (von lat.

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Salutogenese: Die Entstehung von Gesundheit

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»salus«: »Heil«, »Wohlbefinden«). Ihn interessierte insbesondere die Frage, wieso Menschen trotz der hohen Anzahl von Umweltgiften und psychosozialen Stressoren in den unterschiedlichen Lebensfeldern (Familie oder am Arbeitsplatz) und trotz wiederkehrender alltäglicher Ärgernisse gesund bleiben oder nicht selten ihre Gesundheit durch solche Situationen sogar noch steigern können. Dabei stellte Antonovsky folgende Annahmen der salutogenetischen Perspektive auf: 1. Statt Menschen als entweder krank oder gesund zu kategorisieren, werden sie auf einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum lokalisiert. 2. Im salutogenetischen Modell wird nicht die Entstehungsgeschichte der jeweiligen Krankheit isoliert betrachtet, sondern die gesamte Lebensgeschichte eines Menschen wird einbezogen. 3. Das Interesse in der salutogenetischen Betrachtungsweise liegt bei den Faktoren, die an einer Bewegung auf dem Kontinuum zwischen gesund und krank bzw. an der Stabilisierung einer bestimmten Position mitwirken. 4. Stressoren sind immer und überall in verschiedener Form vorhanden und nicht in Gänze zu beseitigen. Gleichzeitig sind Stressoren nicht grundsätzlich als krank machend anzusehen, sie können auch gesundheitsfördernde Konsequenzen haben (Bernath, Fichten u. Rieforth, 2000; Rieforth u. Fichten, 1994; Fichten u. Rieforth, 1995).

Die Grundidee der Salutogenese, Gesundheit nicht als Abwesenheit von Krankheit, sondern als ein Kontinuum zwischen Krankheit und Gesundheit zu betrachten, schuf die Voraussetzung für die prozesshafte Darstellung der jeweiligen Ausprägungsqualität im Sinne einer »Mehr-oder-weniger-Skala«. Das Erleben des Menschen kann nun individuell auf dieser Skala verortet werden (Kuhlmann u. Rieforth, 2006). Gesundheit und Krankheit werden nicht als starre Normen aufgefasst, sondern aus einem Prozess der Bewegung zwischen den beiden Polen verstanden (siehe Abbildung 1). Das Erleben von Gesundheit und von Krankheit ist dabei immer subjektiv. Psychische, körperliche wie auch soziale Einflüsse bestimmen den Grad der Krankheit bzw. den der Gesundheit. Nach Antonovsky ist der »Kampf in Richtung Gesundheit […] permanent und nie ganz erfolgreich« (Antonovsky, 1993, S. 10 f.). Dabei gilt es im salutogenetischen Ansatz die Frage zu klären, welche Faktoren dem Menschen dazu verhelfen, so erfolgreich wie nur möglich mit den Bedrohungen im Verlauf seines Lebens umzugehen und wie diese gleichzeitig gesundheitserhaltend wirken können (Antonovsky, 1993). Indem der Blick in Richtung Gesundheit gelenkt wird, verändert sich auch die Wahrnehmung von kranken Menschen. Sie sind auf dem Gesundheits-

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Verständnis von Krankheit und Gesundheit: Pathogenese und Salutogenese

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Abbildung 1: Krankheit und Gesundheit als dynamischer Prozess

Krankheits-Kontinuum nicht nur mehr oder weniger krank, sondern auch mehr oder weniger gesund. Der Fokus verschiebt sich so auf die gesund machenden Faktoren und auf die individuellen Ressourcen, die zu Gesundheit führen. Die Bewegungsrichtung in dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum wird nach Antonovsky (1997) bestimmt durch den erfolgreichen oder erfolglosen Umgang mit den durch die Stressoren verursachten Spannungszuständen. Ob ein Stressor als solcher wahrgenommen wird oder nicht, ist abhängig davon, ob ein Individuum ihn subjektiv als Stressor wahrnimmt und ob es die nötigen Ressourcen aufbringen kann, mit dem Stressor umgehen zu können. Stressoren rufen im Organismus einen Spannungszustand hervor, der bewältigt werden muss. Dieser Bewältigungsprozess ist von zentraler Bedeutung für die Salutogenese. Bewältigt das Individuum den Spannungszustand, so bewegt es sich im Gesundheits-Krankheits-Kontinuum in Richtung Gesundheit. Kann der Spannungszustand nicht gelöst werden, so erfolgt – in Wechselwirkung mit anderen krank machenden Faktoren – eine Bewegung in Richtung Krankheit. Die sogenannten Widerstandsressourcen (»generalized resistance resources«, GRR) bestimmen jeweils, in welchem Maße der Bewältigungsprozess Erfolg versprechend ist. Hilfreiche Widerstandsressourcen sind zum Beispiel eine sichere Lebenssituation und Unterstützung im sozialen Bereich, eine zufriedenstellende Partnerschaft, eine gesundheitsbewusste Lebensweise, ein intaktes Immunsystem, eine gute medizinische Betreuung, aber auch vorhandene Stressbewältigungsstrategien. Allen Widerstandsressourcen zum Trotz ist eine Bewegung in Richtung Gesundheit letztendlich immer abhängig von der intrinsischen Motivation, die über die Bereitschaft, die eigenen Ressourcen auch einzuset-

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Salutogenese: Die Entstehung von Gesundheit

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zen, entscheidet. Die intrinsische Motivation ist wiederum abhängig von dem individuellen Stärkegrad des Kohärenzsinns (»sense of coherence«, SOC). Nach Antonovsky wird im Kohärenzgefühl die individuelle Grundhaltung, aus der das Individuum den Umgang und den Bedeutungsprozess belastender Ereignisse steuert, repräsentiert. Er definiert dies als ein grundsätzliches und gleichzeitig dynamisches Gefühl des Vertrauens, das davon ausgeht, dass die inneren und äußeren Umstände sich so entwickeln, wie es vernünftigerweise zu erwarten ist (vgl. Antonovsky, 1997). Das Vorliegen einer solchen generellen Einstellung und Haltung gegenüber dem Leben wird als eine dispositionelle Bewältigungsressource betrachtet, die Menschen widerstandsfähiger gegenüber Stressoren macht. Danach führt ein starkes Kohärenzgefühl zu einer Immunisierung gegen Krankheit und zu einer Unterstützung von Gesundheit. Das Kohärenzgefühl lässt sich nach Antonovsky durch drei zentrale Kompetenzbereiche beschreiben, die miteinander verbunden sind. Dabei handelt es sich um die »Verstehbarkeit«, die »Handhabbarkeit« und die »Bedeutsamkeit« bzw. »Sinnhaftigkeit« (Antonovsky, 1997). Eine daraus entwickelte Frageskala, die Sense of Coherence Scale, wurde in einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung teststatistisch überprüft und in Form einer Kurzskala (Leipziger Kurzskala) weiterentwickelt (Schumacher, Wilz, Gunzelmann u. Brähler, 2000). Der Kompetenzbereich »Verstehbarkeit« ermöglicht es Menschen, Situationen einschätzen und Entwicklungen vorhersagen zu können. Interne und externe Reize bekommen dadurch Sinn und erlauben eine gewisse Form von Kontrolle im eigenen Leben. Die Annahme, dass späteres Bindungsverhalten durch frühe Objektbeziehungen mitbeeinflusst wird, weist dem Verständnis der Verbindung zwischen den frühen Erfahrungen und den aktuellen Konflikten eine besondere Aufmerksamkeit zu. Durch die Nutzung der therapeutischen Arbeitsbeziehung mit der Bearbeitung der damit verbundenen Übertragungsprozesse durch fokussierte Reflexionen wird die Einsicht der Patientin in ihre unbewussten Motive unterstützt und damit die Verstehbarkeit ihrer innerpsychischen Impulse und der damit verbundenen Interaktionen gefördert. Die »Handhabbarkeit« als zweiter Kompetenzbereich ermöglicht, Lebenssituationen aus eigener Kraft oder mit Unterstützung von außen zu begegnen und Schwierigkeiten als Herausforderung oder Lernerfahrung zu betrachten. Der dritte Kompetenzbereich schließlich fokussiert die Bedeutsamkeit, nach der ein Individuum entscheidet, welche Bereiche ihm wichtig sind und wo es sich engagieren will, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Sind die Ausprägungen in allen drei Bereichen hoch, dann verfügt das Individuum über ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrau-

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Verständnis von Krankheit und Gesundheit: Pathogenese und Salutogenese

ens (Antonovsky, 1997), das die Ereignisse des Lebens strukturierbar, vorhersehbar und erklärbar macht. Die dafür notwendigen Ressourcen stehen dem Individuum dabei zur Verfügung und es empfindet die dafür erforderlichen Anforderungen und das Engagement als lohnend. Entscheidend für eine salutogenetische Entwicklung sind Ressourcen, die vom Individuum eingesetzt werden. Diese lassen sich in vier Kategorien einteilen: 1. Persönliche oder psychische Ressourcen: bereits bestehende Ressourcen wie bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, Fähigkeiten und Kompetenzen verringern Spannungszustände (z. B. Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen, Bewältigungsstrategien). 2. Soziale Ressourcen: Unterstützung, Hilfeleistungen und Halt aus dem sozialen Umfeld sowie intakte zwischenmenschliche Beziehungen. 3. Soziokulturelle Ressourcen: gesellschaftliche, salutogene Strukturen, Werte und Normen, die das Individuum in seiner Entwicklung, in seinem seelischen Zustand und seinen Leistungsmöglichkeiten beeinflussen. 4. Physikalisch-materielle Ressourcen: Sicherung der Qualität und Quantität äußerer Faktoren (z. B. Umwelt), um körperliche Gesundheit zu garantieren und Störungen zu vermeiden (z. B. ausreichende Bewegungsmöglichkeiten, Qualität der Luft).

Aus salutogenetischer Sicht wird eine Reihe von Persönlichkeitseigenschaften als besonders hilfreich für die Gesundheit eines Menschen angesehen. Dazu zählen zum einen Zuversicht und Optimismus, zum anderen das Vertrauen in die eigene Kompetenz sowie die Fähigkeit und die Motivation, seine momentane Gefühlswelt zum Ausdruck zu bringen. Antonovsky macht deutlich, dass in einer seelischen Konfliktlage und bei der Bewältigung von kritischen Lebensereignissen die Person mit einem starken Kohärenzgefühl darauf vertraut, dass mit neuen Informationen etwas Sinnvolles anzufangen ist. Diese Situation betrachtet die Person als Herausforderung und nicht als Gefahr (Antonovsky, 1997). Eine beziehungsorientierte tiefenpsychologisch fundierte sowie systemische Psychotherapie stellt – wie noch im Weiteren zu sehen sein wird – eine wertschätzende und respektvolle Umgebung dar, um eine Basis zu finden und dieses Gefühl der eigenen Kohärenz zu entwickeln oder auch wiederzufinden. Entsprechend der Bedeutung der frühen lebensgeschichtlichen Verhältnisse, wie sie für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie selbstverständlich und durch die neuen Ergebnisse der Bindungs- und Hirnforschung auch gesi-

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Resilienz: Entwicklung trotz schwieriger Bedingungen

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chert worden sind (Stern, 1992; Strauß u. Schmidt, 1997; Leuzinger-Bohleber, Roth u. Buchheim, 2008; Brisch, 2011), entspricht das von Antonovsky genannte Kohärenzgefühl den allgemeinen therapeutischen Wirkfaktoren aus der Psychotherapieforschung. Demnach wirkt eine Therapie unabhängig von der Methode, wenn es gelingt, dem Menschen neue Hoffnung zu vermitteln sowie sein Leiden für ihn verstehbar zu machen. Im weiteren Verlauf des therapeutischen Prozesses gilt es, zusammen mit der Patientin überzeugende Wege für eine positive Entwicklung aufzuzeigen und sie zu ermutigen, eigene Wege der Veränderung zu finden. Der Qualität der professionellen Beziehung zwischen Therapeut und Patientin kommt bei der Chancenentwicklung für die Etablierung der psychischen Gesundheit im Sinne eines ganzheitlichen Gesundseins, Gesundwerdens und Gesundbleibens eine besondere Tragkraft zu. Gesundsein beinhaltet dabei vor allem die Qualität der Beziehungsgestaltung und die Fähigkeit zum Fühlen und Wahrnehmen. Menschen in befriedigenden Beziehungen mit der Fähigkeit zur emotionalen Verarbeitung von unerfüllten Bedürfnissen haben Interesse an Verbundenheit, Bezogenheit, eigener Persönlichkeit und emotionaler Verbindung auf unterschiedlichen Ebenen. Eine salutogenetische Sichtweise richtet sich auf die Protektiv- und Risikofaktoren und nimmt die Patientin in einer mehrperspektivischen Sichtweise nicht nur als krankes, sondern auch als gesundes Individuum mit Eigen- und Fremdbewältigungsressourcen wahr. Somit stellt die Perspektive der Salutogenese zunächst eine Erweiterung der Betrachtung der Patientin dar und nicht einen Paradigmenwechsel im erkenntnistheoretischen Sinne. 2.4 Resilienz: Entwicklung trotz schwieriger Bedingungen Die Resilienz stellt ein bedeutsames Phänomen im Rahmen von Psychotherapie dar, betont sie doch die Eigenkräfte der Person in schwierigen Lebenssituationen. In den letzten Jahren fand teilweise eine wenig differenzierte und grenzenlose Anwendung des Begriffs statt. Daher wollen wir zunächst den Begriff der Resilienz differenziert darstellen und die Frage beleuchten, warum sie für den therapeutischen Prozess hilfreich ist. Als zentrale Merkmale von Resilienz gelten ihre variable Größe und die dadurch bedingte ständige Veränderbarkeit und Unvorhersehbarkeit. Im Fokus steht ein dynamisch-transaktionaler Prozess, den es zu erfassen gilt. Die damit verbundene mögliche Ressourcenaktivierung stellt einen wesentlichen Wirkfaktor für psychotherapeutische Veränderungen im Psychotherapieprozess dar. Resilienz ist situationsspezifisch und kontextabhängig und nicht auf alle Lebensbereiche übertragbar (vgl. Wustmann, 2004).

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Verständnis von Krankheit und Gesundheit: Pathogenese und Salutogenese

Zur Anwendung kommt der Begriff Resilienz immer dann, »wenn sich Personen trotz gravierender Belastungen oder widriger Lebensumstände psychisch gesund entwickeln« (vgl. Fröhlich-Gildhoff u. Rönnau-Böse, 2009, S. 9). Demnach sind zwei Aspekte von Bedeutung, um von Resilienz sprechen zu können. Das ist zum einen der Umstand, dass eine belastende Situation vorliegt, und zum anderen, dass diese belastende Situation erfolgreich bewältigt wurde (vgl. Fröhlich-Gildhoff u. Rönnau-Böse, 2009). Charakteristisch für das Konzept der Resilienz ist die Vorstellung, dass es sich bei den erkennbaren Fähigkeiten um die emotionale und kognitive Flexibilität und Widerstandsfähigkeit handelt, die im Sinne einer Persönlichkeitseigenschaft (engl. »trait«) quantitativ erfasst werden kann. Hier findet sich eine konstruktive, nicht pathologisierende, sondern salutogenetische Sichtweise auf intrapsychische Ressourcen der Patientin, die durch unterschiedliche therapeutische Interventionen angesprochen werden können. Nach Wagnild und Guinn (2009) zählen die folgenden Fähigkeiten zum Resilienz-Kern: Entschlossenheit (»purposeful life«), Beharrlichkeit (»perseverance«), Gelassenheit (»equanimity«), Selbstvertrauen (»self reliance«) und Bei-sich-selbst-Sein (»existential aloneness«). Da alle Menschen im Laufe ihrer Lebensbiografie Belastungen, Unglücke, Stress sowie Schicksalsschläge erleben, ist es nicht das Ziel, diese Situationen aus dem Leben zu entfernen, sondern vielmehr die Fähigkeit zu erwerben, einen angemessenen Umgang damit zu erreichen. Durch die Entwicklung einer differenzierten Abstimmung der eigenen affektiven Befindlichkeit kommt es zu einer ausgewogenen und adäquaten Reaktion auf die Belastungen. Die bisherigen Erkenntnisse betonen die hohe Kontextabhängigkeit. Als der Begriff der Resilienz in der Mitte der 1990er Jahre in die psychologische Literatur aufgenommen wurde, entwickelten sich zunächst zwei unterschiedliche Auffassungen. Ein dynamisches Entwicklungskonzept der Person stand der Idee einer persönlichkeitsorientierten Trait-Resilienz als Ausdruck stabiler Merkmale der Person gegenüber. Die Vorstellung von einem überdauernden Persönlichkeitsmerkmal ist mit dem Vorhandensein einer größeren emotionalen Komplexität aufgrund einer gesteigerten kognitiven und affektiven Flexibilität verbunden (vgl. Ong, Bergemann u. Boker, 2009; Waugh, Thompson u. Gotlib, 2011; Genet u. Siemer, 2011). Kashdan und Rottenberg (2010) betonen in diesem Zusammenhang die Bedeutung dieser psychologischen Flexibilität als einen fundamentalen Aspekt der Gesundheit. Da bisher keine signifikanten Unterschiede in der Altersstufe, dem sozialökonomischen Status und auch nicht bezüglich des Geschlechts für die Ausprägung der Resilienz nachgewiesen werden konnten, setzt sich mittlerweile die Vorstellung durch, dass es sich um ein durch intrapsychische Ressourcen

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Resilienz: Entwicklung trotz schwieriger Bedingungen

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in Form einer hohen Entwicklungs- und Veränderungsfähigkeit erworbenes Entwicklungskonzept einer Person handelt, sich auf schwierige Situationen einstellen zu können. Gelingt es der Patientin, sich im Rahmen der Therapie der eigenen Ressourcen bewusst zu werden und sie zu benennen, können sie wirksam werden und den Gesundungsprozess unterstützen. Denn nur was als Ressource wahrgenommen wird, wirkt auch als solche. Dies können beispielsweise »eigene Kompetenzen und Fähigkeiten, Bezugspersonen, soziale Bezüge und Zugehörigkeiten, materielle Ressourcen, Ideelles wie Ideen, Visionen, Erinnerungen, Spiritualität und Religiosität« sein (Schiepek u. Matschi, 2013, S. 56). Eine in der Psychotherapie viel beachtete Studie führte die Psychologin Emmy Werner (1977) durch. In ihrer Längsschnittstudie begleitete sie über vierzig Jahre hinweg fast 700 Kinder des Jahrgangs 1955 auf der hawaiianischen Insel Kauai und machte dabei folgende beeindruckende Entdeckung: Obwohl die Kinder unter äußerst belastenden Lebensbedingungen (u. a. Armut, Alkoholabusus, Scheidung der Eltern oder chronische familiäre Konflikte) zu leiden hatten, entwickelte sich etwa ein Drittel der Kinder zu kompetenten und selbstbewussten Erwachsenen. Auf der Suche nach den Bedingungsmustern fand sie schützende Momente sowohl im Kind selbst als auch in dessen Familie sowie in seinem sozialen Umfeld. Bei den Kindern traten Persönlichkeitsmerkmale in Form eines positiven Temperaments, der Fähigkeit zur Kommunikations- und Problemlösung sowie der Fähigkeit zum Planen auf. Im Rahmen der Familie zeigten sich die schützenden Faktoren in Form der Position als erstgeborenes Kind, in dem kompetenten Verhalten der Mutter sowie in der Möglichkeit, sich in Krisen beispielsweise an Großeltern, ältere Geschwister, einen Vertrauenslehrer oder den Pfarrer wenden zu können. Diese Überlebens- und Gesundungsfaktoren bezeichnete Werner als Resilienz (vgl. Werner, 2012). Seitdem werden diese Faktoren als Voraussetzungen für die nötige Flexibilität und Elastizität im Umgang mit Belastungen angesehen. Gleichzeitig erkannte Werner, dass Menschen sich nach erfolgreich bewältigten kritischen Lebenssituationen zukünftig mit belastenden Ereignissen leichter auseinandersetzen können. Dabei werden den erlittenen Traumatisierungen nicht allein die jeweiligen Autonomiepotenziale der Betroffenen additiv entgegengesetzt, vielmehr handelt es sich um ein komplexes interaktionistisches Geschehen. Durch eine differenzierte Wechselwirkung zwischen Risiko- und Schutzfaktoren können sich die Schutzfaktoren der Person bei einem eintretenden Risiko situationsangemessen steigern (Schutzfaktorenmodell). Nach heutigem Erkenntnisstand wird bei Kindern eine wechselseitig wertschätzende Beziehung zu Erwachsenen sowie deren erzieherisch-strukturierender Einfluss

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Verständnis von Krankheit und Gesundheit: Pathogenese und Salutogenese

in Form eines familialen Systems (Eltern-Kind-Interaktion, Bindung, Erziehung) als wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Schutzfaktoren angesehen. An dieser Stelle soll in Bezug auf die bedeutsamen Bezugspersonen des Kindes noch einmal auf den Stellenwert einer frühen wechselseitigen Vertrauenswürdigkeit, einer wechselseitigen Wertschätzung und damit auf eine Basis für Hoffnung, Zuversicht und Urvertrauen hingewiesen werden (Holmes, 2012). Ein Gefühl von Ich-Identität kann entstehen, wenn das Kind »eine innere Welt erinnerter und voraussehbarer Empfindungen und Bilder in fester Korrelation mit der äußeren Welt vertrauter, zuverlässig wiedererscheinender Dinge und Personen ›weiß‹« (Erikson, 1995b, S. 241). Innerhalb einer wechselseitigen Vertrauenswürdigkeit, auch im Rahmen von Spiegelprozessen, kann das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten entstehen und wachsen. Ebenso wirken sich Eigeninitiative und Aktivität, das Gefühl der Selbstachtung und Selbstwirksamkeit sowie das Vorhandensein zahlreicher Freundschaften positiv auf das Erreichen eines hohen Resilienzfaktors aus. Die Ressourcen des sozialen Netzwerks in Form von Schule und die Bedeutung von Gleichaltrigen (Peers) unterstützen diesen Prozess. Die Stärke der Resilienz zeigt sich in der Motivation von Menschen, einen möglichst guten Umgang mit schwierigen Ereignissen erzielen zu wollen. Daher ist insbesondere ein Einsichtsprozess und ein Prozess des Sich-seines-Selbstbewusst-Werdens im Rahmen einer Psychotherapie in Kombination mit einer Ressourcen- und Kontextorientierung geeignet, in herausfordernden Lebenssituationen diese Fähigkeit weiterzuentwickeln und zu stärken. Die Erfahrungen mit den Kindern aus der Studie von Werner (1977) zeigen, dass die als besonders resilient eingestuften Kinder eine deutlich höhere Tendenz hatten, unter Stress nach Hilfe zu suchen – bei gleichzeitigem Streben nach Autonomie. Murphy (1974) spricht in diesem Zusammenhang von einem gesunden Narzissmus der Kinder, eine Fähigkeit, bei äußeren Widrigkeiten zu einem Gefühl von Hoffnung für die Situation zu gelangen. Für eine Reihe von kritischen Lebenssituationen haben sich kulturelle und gesellschaftliche Rituale etabliert. Sie lassen sich im positiven Sinne mit einem sozialen Rahmen vergleichen mit dem Ziel, die teilweise schweren Übergänge in eine veränderte Lebenssituation (z. B. Trauerfeier bzw. Beerdigungszeremonie bei Verlust eines Menschen) zu bewältigen. Rituale dienen dazu, einen sozialen Raum zu schaffen, in dem Emotionen ungehindert und gleichzeitig kulturell eingebunden ausgedrückt werden können. Die Person verbindet sich auf diese Weise mit ihrem sozialen Umfeld, was den sozialen Rückhalt erhöht. Ihre Grenze erreichen diese spezifischen sozialen Kontexte in der Regel an dem Punkt, an dem, bestimmt durch die situativ bedingten Modalitäten, alle

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Resilienz: Entwicklung trotz schwieriger Bedingungen

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zuvor gültigen Normen und Leitlinien in sich zusammenfallen und nicht mehr anwendbar sind. Dies ist immer dann der Fall, wenn ein Ritual aufgrund der situativen Umstände gesellschaftlich unangemessen und das Zeigen von Emotionen fragwürdig ist. Boss (2008) spricht auch im Rahmen eines eher alltäglichen Verlusts durch Situationen wie Scheidung, Adoption, Tod oder Krankheit von unaufgeklärtem und häufig nie aufzuklärendem Verlust. Ein uneindeutiger Verlust, wie beispielsweise der Verlust der Heimat, der gesellschaftlichen Zugehörigkeit, der Gesundheit oder des Arbeitsplatzes mit allen Folgen der damit ausgelösten Ambivalenz und Mehrdeutigkeit, stellt neben einer individuellen Pathologie eine Beziehungsstörung im sozialen System dar. Daher sollte nach Möglichkeit im psychotherapeutischen Prozess auch die Chance einer Einbeziehung emotional wichtiger Personen im Rahmen des sozialen Kontextes Berücksichtigung finden. Zur professionellen Bearbeitung dieser Phänomene stellt die Bewusstmachung der eigenen Erfahrungen mit uneindeutigem Verlust für Therapeuten ein wichtiges Ziel sowohl in der tiefenpsychologisch fundierten als auch in der systemischen Psychotherapie dar. Die Bedeutung, die eine Person einer Situation zuschreibt, die subjektive Logik, Kohärenz oder rationale Begründung macht den individuellen Sinn aus. Ohne Zuschreibung eines Sinns findet keine neue Erkenntnis statt, eine Bewältigung der Situation ist kaum zu realisieren, und es können keine adäquaten Entscheidungen für die Zukunft getroffen werden. Sinn bildet zugleich Systemidentität. Daher ist Sinn stets kontext- und systemspezifisch zu begreifen und nicht in einem übergeordneten allgemeingültigen Rahmen. Dies beinhaltet auch die Zweckdienlichkeit einer bestimmten Handlung in einem größeren Handlungszusammenhang (vgl. Kapitel 5.7). Da Sinn untrennbar mit Hoffnung verbunden ist, besteht eine intensive Auswirkung auf die Ausprägung von Resilienz und Gesundheit. Fehlt bei einem Problem die Lösung, dann entscheidet die Sinngebung darüber, wie und ob Menschen mit dieser Situation umgehen können oder ob sie dadurch hilflos werden. Im Falle einer Ambiguitätssituation kommt es vor, dass sich keine Sinnhaftigkeit und keine Lösung einstellen, da die Situation als Tatsache feststeht. Die Kunst der therapeutischen Veränderung besteht nun darin, der Patientin zu helfen, ihre Wahrnehmung und ihre Einstellung aus unterschiedlichen Perspektiven zu reflektieren und so eine Möglichkeit für eine Überarbeitung und Veränderung zu schaffen. Durch Bewusstwerdung, Verstehen und Empfinden wird die Patientin im Rahmen einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie, unter Einbeziehung der Bearbeitung noch nicht ausreichend integrierter früherer Konflikte, in die Lage versetzt, sich weniger auf Selbstvorwürfe, Schuldgefühle oder

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Verständnis von Krankheit und Gesundheit: Pathogenese und Salutogenese

Rachegelüste zu konzentrieren, sondern sich auf positive Deutungen und Veränderungen der Situation einlassen zu können, um ihr den Weg in Richtung Sinngebung, Resilienz und Gesundheit zu ermöglichen. Das therapeutische Ziel besteht nicht darin, die Patientin von ihrem Schmerz über den uneindeutigen Verlust zu befreien, sondern einen angemessenen Umgang mit ihm zu ermöglichen, einen selbstreflektierten Sinn für das eigene Leben zu entdecken und es mit Hoffnung zu füllen. Zwischenmenschliche Beziehung als Realität zu erkennen, sich auf Veränderungen angemessen und selbstbestimmt einzulassen und nicht einen statischen Zustand aufrechtzuerhalten, stellt ein Ziel im therapeutischen Prozess dar. Insgesamt stellt sich der Umgang mit Veränderungen und die Erarbeitung eines positiven Kohärenzgefühls unter Nutzung der eigenen Ressourcen als eine lebenslange Aufgabe dar. Bei all ihrer Vielfalt scheinen Ressourcen erst dann mit Wohlbefinden einherzugehen, wenn sie mit relevanten individuellen Zielen in Zusammenhang stehen. Was für eine Person eine Ressource darstellt, ergibt sich aus ihrem Lebenskontext und ihren Plänen für die Zukunft. So legt die Ressourcenorientierung auch eine Orientierung in die Zukunft nahe und führt daher zu einem Wechselspiel von vorhandenen Ressourcen und der Resilienz. Da also Resilienz nach heutigem Forschungsstand keine angeborene und unveränderliche Eigenschaft ist, sondern sich im Laufe des Lebens dynamisch entwickelt, bekommt sie für den therapeutischen Prozess eine wichtige Bedeutung. Durch den Prozesscharakter ergeben sich vielfältige Variationsformen einer Beeinflussung von außen, welche die Orientierung an der Resilienz als Grundlage für die Entwicklung von Handlungsalternativen bedeutsam machen (Rutter, 2000).

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Identität

Durch soziale Rückspiegelungsprozesse aus der Erfahrung mit anderen und aus der Spiegelung im und durch den anderen entwickelt sich das Selbstwertgefühl. Dieser soziale Aspekt des Selbst ist der Kern des Identitätsgefühls und soll im Folgenden beleuchtet werden. Identitätsarbeit stellt sich als eine lebenslange Aufgabe dar. Ohne Vergangenheit kann es keine Zukunft geben (vgl. Erikson, 1998; Blos, 1962; Waller u. Scheidt, 2010). 3.1 Zum Identitätsbegriff Identität und Identitätsentwicklung sind untrennbar mit zwischenmenschlichen Interaktionsprozessen verbunden. Der Identitätsbegriff ist stets an die historischen Bedeutungen gekoppelt und berücksichtigt die aktuellen Veränderungen. Er beinhaltet einerseits ein bewusstes Gefühl der individuellen Einmaligkeit und andererseits ein unbewusstes Streben nach Kontinuität des Erlebens und nach Solidarität mit den Idealen einer Gruppe. So ist Identitätsbildung ein Prozess, der unter gleichzeitiger Reflexion und Beobachtung sowohl im Kern des Individuums als auch im Kern seiner gemeinschaftlichen Kultur abläuft. Nach Erikson ist Identität »die unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit und die damit verbundene Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen« (Erikson, 1998, S. 18). Die heutige Bedeutung des Begriffs Identität entwickelte sich unter anderem über die Psychoanalyse im Zusammenhang mit Freuds Instanzenmodell des Ich, des Über-Ich und des Es. Die moderne Ich-Psychologie und hier insbesondere auch Hartmann (1970) und Hartmann, von Eckardt-Jaffé und Hartmann (1972) beschreiben dieses Gebiet noch klarer und definieren das Selbst und die Selbstrepräsentation im Gegensatz zu der Objektrepräsentation. Identität steht für die Auswahl bisher wichtiger Vorbilder, Werte und Normen und deren allmähliche Integration in das entstandene und entstehende Selbstbild, was durch das Ich mit seinen vermittelnden Funktionen ermöglicht wird. Erikson (1995a) spricht

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Identität

von Ich-Identität, die er als ein Gefühl der inneren Einheitlichkeit und Kontinuität beschreibt. Diese Ich-Identität ist geprägt durch einen stabilen Anteil des tatsächlich Erreichten und durch einen dynamischen Anteil, in dem regelmäßig die Realität und das Gefühl über die Realität innerhalb einer sich wandelnden sozialen Umwelt überprüft und so insgesamt repräsentiert wird (vgl. Graf u. Krischke, 2004, S. 14). Identität zeigt sich in der Dynamik zwischen Intersubjektivität und Interkulturalität als Fähigkeit, sich auf soziale Situationen angemessen und variierbar einlassen und sich distanzieren zu können. Die Entwicklung einer ausgewogenen Balance zwischen Nähe und Distanz, die Bewusstheit über sich selbst und die eigenen Wurzeln dient als Grundlage einer authentischen Biografie und ist die Voraussetzung für eine kontinuierliche, kohärente und konsistente Identitätsentwicklung. »Ohne die Verlässlichkeit biografisch authentischer Differenzierung wird diese spätestens dann, wenn es darum geht, auf ihr zu bestehen, zur diffusen Überforderung« (Bialas, 1997, S. 47). Die heutigen Erkenntnisse über die Bedeutung zwischenmenschlicher Interaktion für die Identitätsentwicklung, im Zusammenhang mit sozial angepasstem Verhalten, sozial abweichendem Verhalten, Anpassung, Selbstdarstellung und Authentizität, wurden wesentlich beeinflusst von dem amerikanischen Soziologen Irving Goffman (1972). Dieser betonte vor allem aus sozialwissenschaftlicher Sicht die Bedeutung und die Auswirkungen von sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung auf die Identitätsentwicklung. Danach haben einschneidende und gesellschaftlich nicht erwünschte oder akzeptierte Lebensereignisse, wie zum Beispiel der Verlust des Arbeitsplatzes, eine Scheidung, Krankheit, eine psychische Störung oder andere krisenhaft zugespitzte Geschehnisse, einen entscheidenden Einfluss auf die Identitätsentwicklung. Menschen müssen ihre Identitäten fortwährend präsentieren und auch verteidigen, indem sie ihre »Rollen spielen«. Ebenso formulierte Krappmann (1975) bereits in den 1970er Jahren die Fähigkeit zur Rollendistanz als erste Voraussetzung für die Errichtung und Wahrung von Identität. Rollendistanz bedeutet dabei, sich den gesellschaftlichen Normen gegenüber reflektierend und interpretierend zu verhalten, indem die Person sich über die Anforderungen ihrer Rollen »erhebt«, um auswählen, negieren, modifizieren und interpretieren zu können. Rollendistanz wie auch Distanz zu den Normen stellt eine grundsätzliche Voraussetzung für die Entwicklung von Empathie dar, um sich in die Rolle eines anderen hineinzuversetzen, sich mit den darin enthaltenen Erwartungen, Normen und Bedürfnissen auseinanderzusetzen und darüber die eigene Rolle zu entwerfen. Dabei auftretende Widersprüchlichkeiten und mehrdeutige Informationen werden so wahrgenommen, dass durch sie die Fähigkeit zur Toleranz bewertet wird. Von großer Bedeutung erweist sich hier auch die Ambiguitätstoleranz als die Fähig-

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Identität in wechselnden Lebenskontexten und Krisensituationen

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keit, auch widersprüchliche Rollenbeteiligungen und einander widerstrebende Motivationsstrukturen interpretierend nebeneinander zu akzeptieren (Graf u. Krischke, 2004, S. 21). Der Form des Umgangs einer Person mit ihrer sozialen Umwelt und umgekehrt kommt in der psychodynamisch-systemischen Psychotherapie eine wesentliche Rolle zu (vgl. Kapitel 5.3). Soziale Anerkennung und das Empfinden von Zugehörigkeit sind basale Voraussetzungen für das »Gefühl von Identität«. Vor dem Hintergrund des allgemeinen gesellschaftlichen Wandels und den damit verbundenen Pluralisierungs-, Individualisierungs- und Entstandardisierungsprozessen bietet der kulturelle Rahmen immer weniger übernehmbare Identitätsmuster und macht eine alltägliche Identitätsarbeit für den Einzelnen zunehmend erforderlich. Auch Erikson (1995a) fasste in seinem Identitätskonzept identitätspsychologische, sozialwissenschaftliche, historische, kulturelle und entwicklungspsychologische Aspekte zusammen und ging von einer lebenslangen intra- und interindividuell variablen Entwicklung aus, die in einem direkten Zusammenhang mit den von einem Individuum im Laufe seines Lebens zu bewältigenden normativen und sozialen Konflikten und Krisen steht. 3.2 Identität in wechselnden Lebenskontexten und Krisensituationen Der allgemeine gesellschaftliche Wandel und die sich daraus entwickelnden Individualisierungs- und Globalisierungstendenzen haben gezeigt, dass psychische Grundlagen der menschlichen Grundbedürfnisse und Konflikte, wie das Erleben von Affekten und Emotionen und insbesondere auch Wünsche nach Wertschätzung, Liebe und Zugehörigkeit, bei Menschen unterschiedlicher Kulturkreise grundlegend identisch sind. Kulturelle Identität basiert auch auf fundamentalen kulturellen Elementen, Symbolen, Mythen, Ritualen, Wertbegriffen und insgesamt auf kollektiven Erinnerungen. Die Entwicklung eines sicheren Ich-Gefühls ermöglicht es, sich in dem sozialen Kontext, zum Beispiel in der Familie oder im Rahmen einer sozialen Gruppenzugehörigkeit, und dem damit verbundenen kollektiven Ich-Ideal und sozialen Über-Ich zurechtzufinden. Identitätsprozesse definieren sich als prozessualer, kreativer Dialog zwischen Unbewusstem, Vorbewusstem und Bewusstem und zeigen sich durch die Reibung an den Strukturen der Gesellschaft wandlungs- und veränderungsfähig. Neben der intrapsychischen Dimension prägt auch die soziale Umgebung als kollektives Umfeld die Internalisierungs- und Identifizierungsvorgänge in der individuellen Ich-Entwicklung im Zusammenhang mit dem bedeutsamen Anderen (vgl. Erikson, 1998).

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Identität

Die Wahrung eines kongruenten Identitätsgefühls stellt in Krisenzeiten und Umbruchsituationen eine besondere Syntheseleistung dar. Neue Erfahrungen müssen in den Bestand der alten Erfahrungen ohne Verlust des Gefühls von persönlicher Kontinuität und Konsistenz integriert werden. Gerade die Aufgabe, seelische Integrationsprozesse in schwierigen Lebenssituationen zu bewältigen, ist mit einer besonderen Vulnerabilität verbunden. So muss in diesen Situationen (oft) »Altes« verdrängt werden, da es nicht mehr »passend ist«, oder aus lebensgeschichtlichen Gründen in Form unbewältigter Konflikte unterdrückt werden. Auch wenn manches Alte schon »verpönt« scheint, kann häufig nicht auf eine neue Tradition zurückgegriffen werden. So entstehen Lücken, und scheinbar Überwundenes kommt zurück in den Fokus, ohne dass es zwischen dem scheinbar überwundenen traditionellen Symbolsystem und dem gelebten Neuen zu einer hinreichenden Auseinandersetzung gekommen ist. In Situationen sozialer Krisen, ausgelöst beispielsweise durch einen Arbeitsplatzverlust, Trennung, Krankheit, Umzug oder auch Migration, tauchen Fragen der sozialen Isolation auf. Die mit dem Verlust verbundenen Gefühle wie Verlassenheit, Trauer, Schmerz oder auch Angst gilt es zu kompensieren. Dabei besteht die Gefahr, sie nicht angemessen wahrzunehmen und sich mit Hilfe eines Abwehrmodus davor zu verschließen. Bei einer hohen emotionalen Betroffenheit können einerseits über Spaltungsprozesse Angst- oder auch Schuldgefühle verdrängt werden, indem zum Beispiel das Alte, Zurückgelassene entwertet und abgelehnt und das Neue übertrieben wird und unreflektiert Wertschätzung erfährt. Andererseits kann das Zurückgelassene idealisiert und das Neue abgewertet und negativ besetzt werden. In beiden Fällen besteht das Ziel darin, eine Orientierung und »Ordnung« wiederherzustellen. 3.3 Identität als Bewältigungsressource Identität, Kohärenzgefühl und auch eine persönlich erlebbare Kontinuität sind Grundlagen für Gesundheit und eine erfolgreiche Lebensbewältigung. Zeigt sich diese Grundlage defizitär oder über ein bestimmtes Maß hinaus vulnerabel, kann dies die Entwicklung belastender psychischer Störungen begünstigen. Die besonderen Anforderungen und Gegebenheiten bei Menschen in psychischen Belastungssituationen und persönlichen Krisenzeiten können bei entsprechender Disposition zu einem Gefühl der Identitätsdiffusion und zu einer als bedrohlich empfundenen Handlungsunfähigkeit führen. Werden neue Lebensanforderungen oder wird der Wechsel in eine andere Lebensphase oder in eine andere soziale Umgebung von einem Gefühl des Identitätsverlustes begleitet, kann der Selbstkontinuitätssinn (Kernberg u. Steinmetz-

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Identität als Bewältigungsressource

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Schünemann, 2006) verloren gehen, der den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart im Sinne einer übergreifenden Lebensperspektive beschreibt. So kann es bei entsprechenden Auslösern unter anderem zu einer Reaktivierung infantiler Ohnmachtsgefühle oder auch frühkindlicher »Traumata« kommen. Abgewehrte Kränkungs- und Enttäuschungswut kann sich gegen das Selbst wenden. Dies kann sich in einer depressiven Symptomatik, einer unerträglichen inneren Unruhe, fortwährendem Gedankenkreisen, quälenden Selbstzweifeln, Schlaflosigkeit, Erschöpfungs- und Verzweiflungszuständen mit phasenweise überwältigenden Sinnlosigkeitsgefühlen oder schließlich auch in einer erhöhten Suizidalität niederschlagen. Eine angemessene Bewältigung des Alltags ist somit unmöglich. Oft geht es dabei sowohl um die Suche als auch um die Wahrung einer eigenständigen sozial-emotionalen Identität, in der die verschiedenen Einflüsse miteinander verbunden werden. Die integrativen Fähigkeiten eines stabilen Selbst ermöglichen es, in eine neue Lebensphase, in neue Lebensumstände einzutreten, ohne die alten Anteile aufgeben zu müssen. Unter Beachtung all der möglicherweise auftretenden Widersprüchlichkeiten kann dieses als ein kreativer Prozess, als nicht zu vollendendes Projekt im Sinne von (letztlich lebenslanger) Identitätsarbeit verstanden werden. So kann es in krisenhaften Phasen in verschiedener Hinsicht (auch) um die Wiederentdeckung der Vergangenheit gehen. Die Beschäftigung mit eventuell wieder anflutenden »Traumenresten« im Sinne unbearbeiteter und unintegrierter früherer Konflikte kann hier sogar auch im positiven Sinne die Identitätsstabilisierung beeinflussen: »Traumenreste stellen eine volle Beziehung zwischen der Gegenwart und einer dynamischen aktiven Vergangenheit her und richten so die historische Kontinuität im Ich auf, die für ein Gefühl von Sicherheit, Ziel und Harmonie zwischen Gefühl und Handlung verantwortlich ist« (Blos, 1962, S. 155). In der Bearbeitung (und in Teilen der Aufarbeitung) der lebensgeschichtlich begründeten unbewussten Konflikte oder auch infantilen »Traumata« kommt dem tiefenpsychologischen Ansatz ein besonderer Stellenwert zu. Seelische Phänomene und psychische Störungen oder Erkrankungen können hier in einen Bedeutungszusammenhalt gestellt werden. Von großer Bedeutung ist hier der emotionale Zugang zu alten Hoffnungen, Wünschen, Idealisierungen, Kränkungen und Enttäuschungen. Ist dies alles der bewussten Auseinandersetzung zugänglich geworden, kann es auf verschiedenen Ebenen betrauert werden. So ebnet sich der Weg und das Neue kann freier und in angemessener Weise integriert werden.

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Psychotherapie zur Behandlung seelischer Störungen

Die Psychotherapie kommt bei Störungen des Denkens, Fühlens, Erlebens und Verhaltens und auch bei psychosomatischen Störungen zum Einsatz und bietet vielfältige methodische Ansatzpunkte für die Gesundung und Verbesserung der Lebensqualität der Patientinnen. In dem Abschlussbericht eines von der Techniker Krankenkasse durchgeführten Qualitätsmonitorings in der ambulanten Psychotherapie wurden Daten zur Versorgungsforschung ermittelt, »die auf eine hohe Wirksamkeit der ambulanten Psychotherapie hinweisen und damit ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutung unterstreichen« (Wittmann et al., 2011, S. 12). Der Begriff der Psychotherapie wurde zunächst vor allem mit der zu Beginn des letzten Jahrhunderts von Sigmund Freud eingeführten Psychoanalyse assoziiert. Im Verlauf der Zeit entwickelten sich jedoch zahlreiche unterschiedliche psychologische Therapieverfahren, die heute im Wesentlichen vier Hauptrichtungen zugeordnet werden können: Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie, Humanistische und systemische Psychotherapie. Zur ersten Richtung zählen die psychodynamischen Verfahren, wie die Psychoanalyse und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bearbeitet die unbewusste Konfliktdynamik aktuell wirksamer innerer und äußerer Konflikte; hierauf wird in Kapitel 4.1 noch ausführlich eingegangen. Als weitere Therapierichtung findet sich die Verhaltenstherapie, die vor allem auf den Theorien des instrumentellen Lernens und den Prinzipien des Konditionierens aufbaut. Zur Gruppe der humanistischen Verfahren, die dem Individuum die Möglichkeit zuschreiben, sich selbst begreifen zu können und in der Lage zu sein, seine Selbstkonzepte und seine Grundeinstellungen zu verändern, gehören zum Beispiel die Gestalttherapie, die Gesprächspsychotherapie, das Psychodrama und die Transaktionsanalyse. Die systemische Psychotherapie schließlich stellt die zwischenmenschlichen Beziehungen und den sich daraus ergebenden Einfluss auf das Erleben und Verhalten, insgesamt den systemischzirkulären Zusammenhang der zwischenmenschlichen Interaktionen in den

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Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

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Vordergrund (sie wird in Kapitel 4.2 vertiefend dargestellt). Im Rahmen der Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen sind nach den Psychotherapie-Richtlinien derzeit die Psychoanalytische Psychotherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Verhaltenstherapie zugelassen. Von der GKV anerkannte Psychotherapie zur Behandlung von seelischen Störungen basiert auf nachprüfbaren wissenschaftlichen Theorien zur Heilung oder Verminderung seelischen Leidens. »Die Interventionen sind in der Psychotherapie wissenschaftlich begründet und beziehen sich auf eine definierte Theorie der Persönlichkeit, des Verhaltens bzw. Erlebens, eine wissenschaftliche Krankheitstheorie und eine anerkannte Ausbildung« (Ermann, 2004, S. 362). Die systemische Therapie stellt zum jetzigen Zeitpunkt zwar ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren dar, das allerdings von der gesetzlichen Krankenversicherung noch nicht anerkannt wird, sodass die Behandlungskosten nicht mit den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden können. Ein Ziel des psychotherapeutischen Prozesses stellt die Symptomremission oder Symptomverbesserung und ein angemessener Umgang mit den eigenen Problematiken bzw. mit den Personen im sozialen Umfeld dar. Im therapeutischen Prozess nimmt die Beziehungsgestaltung einen tragenden Stellenwert ein. Im Folgenden sollen zunächst die besonderen Merkmale der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, in Form der Bewusstmachung und Bearbeitung der unbewussten Konfliktdynamik, am aktualisierten Konflikt unter Berücksichtigung von Übertragungs- und Gegenübertragungsvorgängen und der Arbeit an Abwehr und Widerstand aufgezeigt werden. Anschließend sollen die besonderen Merkmale der systemischen Therapie mit dem speziellen Augenmerk auf die Zirkularität, die eigene Wirklichkeitskonstruktion und die Ressourcen- und Kontextorientierung beleuchtet werden. Zum Schluss sollen beide Therapieverfahren trotz aller Unterschiedlichkeit auf ihre gegenseitigen Ergänzungen hin betrachtet werden. Beide Verfahren werden nach heutigen Standards wissenschaftlicher evidenzbasierter Verfahren durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie empirisch überprüft und auf ihre therapeutische Wirksamkeit getestet. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wurde bereits 1967 mit der Einführung der Psychotherapie-Richtlinien für die GKV-Versorgung zugelassen. Die systemische Therapie erfuhr ihre wissenschaftliche Anerkennung im Jahre 2008 (von Sydow et al., 2007). 4.1 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie geht von der Annahme aus, dass das Erleben und Verhalten durch das Zusammenwirken von bewussten

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Psychotherapie zur Behandlung seelischer Störungen

und unbewussten seelischen Prozessen beeinflusst wird. Im therapeutischen Prozess steht die Bewusstwerdung und Bearbeitung der unbewussten Psychodynamik aktuell wirksamer neurotischer Konflikte im Mittelpunkt. Der aktualisierte unbewusste Konflikt und die Möglichkeit, im Rahmen der besonderen therapeutischen Beziehungsform neue Bewältigungsmöglichkeiten zu entwickeln, stellen den Fokus der Therapie dar. Über das Erlangen einer Einsicht in die zugrunde liegenden inneren Konflikte und die anschließende Bearbeitung sollen eine Symptomreduzierung und ein angemessener Umgang mit dem verbleibenden Konfliktpotenzial möglich werden. Zur Förderung des Verständnisses der aktuellen Problematik bzw. der heilkundlichen Störung werden lebensgeschichtliche Erfahrungen herangezogen, die im Zusammenhang mit der aktuell aktivierten und reaktivierten Problematik stehen und im Rahmen der Aktualbeziehung erinnert, verdeutlicht und bearbeitet werden. Dabei steht im Besonderen die Arbeit am emotionalen Erleben im Zentrum. Bei der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie liegt der Schwerpunkt nicht in der Aufarbeitung der Vergangenheit per se, sondern in der Erforschung und dem Aufdecken des Gegenwarts-Unbewussten im aktuellen Konflikt. Dies geschieht unter Einbeziehung des im biografischen Verlauf Erlebten und Gefühlten. So kann im konkreten Fall die Wechselwirkung zwischen dem aktuellen Konflikt und den möglichen Ursprüngen in der Vergangenheit bewusst werden. Im therapeutischen Prozess kann der Patient sein damaliges Verhalten als die im biografischen Verlauf bestmögliche Lösung ansehen und bekommt nun durch die Zeitrelativierung und der sich darstellenden Übertragungsphänomene ein Erleben davon, was sich im Lebensverlauf maladaptiv verfestigt hat (Fürstenau, 2007). Die durch diesen therapeutischen Prozess allmählich mögliche integrierende, emotionale und kognitive Distanzierung von diesem Interaktionsmuster schafft die Voraussetzung für eine bewusste und in Teilen auch veränderte Betrachtung lebensgeschichtlicher Situationen für nun anstehende Veränderungen. So können sich aus psychischen Belastungen bzw. Störungen sowie den damit verbundenen aktualisierten Grundkonflikten trotz der vielfältigen zu bewältigenden innerpsychischen Integrationsprozesse und bei allem Leid auch ganz neue Chancen für die Überarbeitung der Kindheitsidentifizierungen, -internalisierungen und insgesamt der infantilen Introjekte ergeben. Die heutige tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hat sich zu einem eigenständigen Therapiemodell mit Grundlagen und Wurzeln aus der Psychoanalyse etabliert (Rudolf, 2010; Poser, 2010; Wöller u. Kruse, 2010).

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4.1.1 Historische Entwicklung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als ätiologisch orientiertes Therapieverfahren basiert historisch auf den Grundlagen der Psychoanalyse. Dieses Verfahren konzentriert sich auf die Bearbeitung lebensgeschichtlich begründeter unbewusster Konflikte und krankheitswertiger psychischer Störungen. In einem psychodynamischen Prozess wird unter besonderer Berücksichtigung von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen sowie Abwehr- und Widerstandsformen des Patienten die seelische Störung bearbeitet. Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie umfasst psychodynamische Behandlungen als Kurz- und Langzeittherapie und gehört zu den am häufigsten angewandten psychotherapeutischen Behandlungsformen im deutschsprachigen Bereich (Reimer u. Rüger, 2003). International hat sich für die große Gruppe der auf dem theoretischen Hintergrund der Psychoanalyse basierenden, aber im Behandlungssetting mehr oder weniger deutlich davon abweichenden Behandlungsverfahren der Oberbegriff der psychodynamischen Psychotherapien etabliert. Dieser Bezeichnung hat sich in Deutschland auch der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie angeschlossen (vgl. Deutsches Ärzteblatt, 2005). Für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bildet die klassische Psychoanalyse, wie sie zunächst von Freud entwickelt wurde, eine wichtige Grundlage. Etwa 1895 begann Sigmund Freud mit der Entwicklung der psychoanalytischen Behandlungsmethode, mit der er Patientinnen anregte, die hinter ihren Symptomen liegenden Traumatisierungen aufzuspüren und auszusprechen. Auf diese Art sollte den Patientinnen ermöglicht werden, erlittene Verletzungen, Kränkungen, Ekel, Entwertung oder auch Gewalt zu benennen. Vor dem Hintergrund des bürgerlichen Wiens im ausgehenden 19. Jahrhundert vermutete Freud vor allem außer Kontrolle geratene »Triebwünsche« und Fantasien als Ursprung psychischer oder psychosomatischer Störungen. Die herrschenden bürgerlichen Normen, die bürgerliche Scheinmoral, Tabus und Anstandsforderungen bestimmten das individuelle wie das kollektive Verhalten. Triebdynamische Energie musste durch die Zensur des gesellschaftlichen Über-Ich in den seelischen Untergrund verbannt werden (vgl. Glaser, 1976). Freud nutzte zunächst Hypnosetechniken, bevor er sich auf die freie Assoziation und die Traumdeutung konzentrierte. Die eigentliche psychoanalytische Technik entstand in der Folge durch die Methode des ungerichteten Zuhörens des Therapeuten und seiner gleichschwebenden Aufmerksamkeit. Freud analysierte und deutete die freie Assoziation der Patientin hermeneutisch, um unbewusste Inhalte freizulegen. Er unterschied auf der Grundlage der Erfahrungen, die er

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mit seinen Patientinnen machte, zwischen drei verschiedenen Instanzen. Zum einen benannte er das Bewusste, mit dem willentlich umgegangen werden kann, zum anderen das Vorbewusste, auf welches bei der Suche nach Zusammenhängen zurückgegriffen werden kann, und schließlich das Unbewusste, das selbst bei größter willentlicher Anstrengung nicht ohne Weiteres zugänglich ist. Dieses Unbewusste besteht vor allem aus verdrängten oder abgewehrten Bewusstseinsinhalten, die so dynamisch weiterwirken und zu neurotischem Leiden führen können. Diese Macht des Unbewussten soll in der Psychoanalyse durch Bewusstmachung des Verdrängten gelockert werden. Freud entwickelte das Drei-Instanzen-Modell der psychischen Funktionen des Es, des Ich und des Über-Ich (Mentzos, 2010). Das Es als triebhaftes Element der Psyche bezeichnet den Teil der psychischen Struktur, in dem die Triebe (z. B. der Sexualtrieb, der Überlebenstrieb), Instinkte, Bedürfnisse und Affekte (z. B. Neid, Hass, Liebe) und damit weitgehend das Unbewusste verortet ist. Im Über-Ich sind im Sinne einer moralischen Instanz Normen und Wertvorstellungen repräsentiert, die im Zusammenhang mit der familiären, kulturellen und gesellschaftlichen Umgebung verinnerlicht worden sind. Dieses Geschehen steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Objektbeziehungen. Danach stellt das Über-Ich die Summe der von wichtigen primären Bezugspersonen (Objekten) übernommenen Verbote und Gebote dar (Mentzos, 2010, S. 52). Das Ich fungiert als Vermittler zwischen diesen beiden Instanzen. Als Instanz des Bewusstseins kann das Ich sich reflektierend und ordnend mit den verschiedenen Inhalten auseinandersetzen und gegebenenfalls zur Konfliktbewältigung auch Abwehrmechanismen einsetzen. Zwischen 1911 und 1915 veröffentlichte Freud eine Reihe von Abhandlungen, in denen er das strenge Prozedere seiner Behandlungstechnik, die freie Assoziation der Patientin im Liegen auf der Couch, die Traumarbeit sowie die Neutralität, Anonymität und Abstinenz des Therapeuten beschrieb, um sich gegenüber einer falschen oder missbräuchlichen Nutzung der Psychoanalyse abzugrenzen. 1918 fand der 5. Internationale Psychoanalytische Kongress in Budapest statt (vgl. Harmat, 1988). Bereits auf diesem Kongress relativierte Freud die Bedeutung der bisherigen, an der Hysterie entwickelten Behandlungstechnik und betonte insbesondere die Notwendigkeit und Bereitschaft zur Modifizierung seiner bestehenden Theorie, wenn neue Erkenntnisse oder Gegebenheiten dies erfordern sollten. So lockerte er die Abstinenzregel zugunsten einer größeren Aktivität des Therapeuten, um so auf Patientinnen mit unterschiedlichen Krankheitsbildern eingehen zu können. Auffällig ist, dass bereits damals je nach Störungsbild aus heutiger Sicht verhaltenstherapeutische Elemente in die Behandlung einflossen (vgl. Reimer u. Rüger, 2003, S. 4). Wenig bekannt ist

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die Tatsache, dass Freud das Prinzip einer aktiven selbstgesteuerten Angstexposition bei Patientinnen mit phobischen Ängsten vorgesehen hatte und analog zu der heutigen Verhaltenstherapie die Aufgabe des Vermeidungsverhaltens durch die Patientin als Voraussetzung und nicht als Folge der Behandlung gesehen hatte. Verschiedene Schüler Freuds experimentierten später mit größerer therapeutischer Flexibilität im Sinne einer Regressionsbegrenzung, einer geringeren Stundenfrequenz oder gegebenenfalls auch mit Unterbrechungen in der Behandlung. Dieses Vorgehen löste heftige Kontroversen mit der die Standardmethode idealisierenden analytischen Kollegenschaft aus. Nach diversen Krisen durch Kritiken und Abwandlungsbestrebungen verschiedener Psychoanalytiker kam es nach 1953 innerhalb der orthodoxen Psychoanalyse zu einer konzeptuellen Unterscheidung zwischen analytischem Standardverfahren und sogenannten abgewandelten Verfahren (Reimer u. Rüger, 2003). Ein Teil dieser abgewandelten psychodynamischen Behandlungsverfahren ist seit 1967 mit der Einführung der Richtlinienpsychotherapie in Deutschland unter der Bezeichnung »Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« zusammengefasst und in die kassenärztliche Versorgung eingeführt worden (Reimer u. Rüger, 2003, S. 26). Diese Verfahren unterscheiden sich von der analytischen Psychotherapie durch eine geringere Behandlungsfrequenz, Begrenzung und Fokussierung sowie insgesamt durch ein modifiziertes Behandlungssetting. Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie sieht keine wissenschaftliche Grundlage für eine Unterscheidung zwischen tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie als zwei getrennte Verfahren. Nach dem Methodenpapier des Beirats werden beide Psychotherapieverfahren in ihren unterschiedlichen Ausgestaltungen als methodische Varianten eines Verfahrens, nämlich der Psychodynamischen Psychotherapie, eingeordnet. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Anwendungsformen mit einem gemeinsamen störungs- und behandlungstheoretischen Hintergrund, in denen verschiedene Settings angewandt werden (vgl. Deutsches Ärzteblatt, 2005; siehe auch Hiller, Leibing, Leichsenring u. Sulz, 2004; Reimer, Eckert, Hautzinger u. Wilke, 2007). Die historische Entwicklung der Psychoanalyse und der psychoanalytisch orientierten Behandlungsverfahren zeigt, dass die hochfrequente Langzeitpsychoanalyse im Liegen nicht als das Basisverfahren, aus dem sich die anderen Behandlungsverfahren als Ableitungen oder Varianten entwickelt haben, verstanden werden kann. Vielmehr haben sich alle Behandlungsverfahren zwar zu unterschiedlichen Zeitpunkten, jedoch als gleichberechtigte Geschwister entwickelt (vgl. Fürstenau, 1979). Diese unterschiedliche, jedoch gleichberechtigte Entwicklung findet sich auch in der im internationalen Sprachgebrauch üblichen Sammelbezeichnung »Psychodynamische Psychotherapie« wieder.

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In der klassischen hochfrequenten Psychoanalyse, die in Deutschland in die allgemeine Versorgung aufgenommen wurde, finden circa zwei bis vier Sitzungen wöchentlich statt. In diesen liegt die Patientin außerhalb des Sichtfeldes des Analytikers auf einer Couch. Die Behandlung erstreckt sich über mehrere Jahre mit bis zu 300 Sitzungen. Im Gegensatz dazu finden die Behandlungen bei der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie in der Regel einmal wöchentlich dialogisch statt, wobei sich Patientin und Therapeut gegenübersitzen, und beschränken sich auf 25 Sitzungen als Kurzzeittherapie und 50–80 Sitzungen als Langzeittherapie. Im Höchstfall können 100 Sitzungen stattfinden (drei Bewilligungsschritte). Die klassische Psychoanalyse nutzt regressive Prozesse zur Erreichung eines infantilen Organisationsniveaus, um über eine Übertragungsneurose innerhalb der therapeutischen Beziehung infantile Konfliktkonstellationen wiederzubeleben. Die neurotische Symptomatik, der neurotische Konfliktstoff und die zugrunde liegende neurotische Struktur werden so behandelbar und bearbeitbar. So kann eine Nachreifung und strukturelle Veränderung erreicht werden. Aus dieser Sicht liegt der Hauptfokus therapeutischer Arbeit in der Bewusstmachung verdrängter Kindheitserinnerungen durch die Aufhebung der frühkindlichen Amnesie. Dies hat der Psychoanalyse berechtigterweise die Kritik eingebracht, über die Abreaktion regressiver Gefühlszustände nicht hinauszugelangen und in gewisser Weise zur Bestätigung der leidvollen Situation beizutragen (Ermann, 1993). Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie begrenzt dagegen diese regressiven Prozesse und formuliert jeweils konkrete Behandlungsziele. Das zunächst vorwiegend konfliktzentrierte Vorgehen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie versteht psychische Erkrankungen als Folge aktueller Belastungen (Auslöser) vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen. So kann die dem Störungsbild zugrunde liegende unbewusste Psychodynamik aktuell wirksamer neurotischer Konflikte in der konkreten Konfliktsituation beleuchtet werden. Im Fokus steht die Betrachtung und Bearbeitung des »Gegenwarts-Unbewussten« und nicht die einseitige Orientierung an der Rekonstruktion des Früheren (Sandler u. Sandler, 1984). Die pathologischen Kompromissbildungen sowie die dazugehörigen habituellen Lösungsmuster des Individuums im Hier und Jetzt stehen im Vordergrund (vgl. Rudolf, 2010; Reimer u. Rüger, 2003). Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie stützt sich auf die gesunden Anteile der Patientin, um unter Berücksichtigung der individuellen psychischen, körperlichen und sozialen Situation ungünstige Prozesse zu unterbrechen und so eine förderliche Gesamtentwicklung zu ermöglichen. Diese Entwicklung in der Psychodynamischen Psychotherapie bedeutete eine eindeutige Abkehr von der Grundidee Freuds, dass Patientinnen allein über

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die Aufhebung der verdrängten Erfahrungen ihrer Frühentwicklung zu einem Zustand psychischer Gereiftheit gelangen könnten (Freud, 1950, S. 44). Dabei blieb das Grundprinzip der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, die unbewussten Prozesse auch in der Übertragung zu bearbeiten, erhalten. Allerdings stellt die Aufhebung der Kindheitsamnesie nicht mehr den entscheidenden Wirkfaktor für den Behandlungserfolg dar, sondern das Zusammenspiel aller Faktoren der aktuellen inneren Konflikte. Dies hat einen entscheidenden Einfluss auf die Bedeutung der Übertragung im gesamten tiefenpsychologischen Prozess. Danach geht es nicht in erster Linie um die Übertragung der historischen Objekte, sondern um die von der Patientin entwickelten inneren Bilder dieser Objekte (vgl. Kapitel 5.9.4). Aus Sicht der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie bekommen die unbewussten Fantasien, die in bestimmten Phasen der Entwicklung von der Patientin gebildet wurden und die unter Umständen in ihrer ursprünglichen Form als archaische Fantasien erhalten geblieben sind, eine große Bedeutung. Maladaptive Erfahrungen, die durch bestimmte Einflüsse isoliert und von der weiteren Entwicklung ausgeschlossen wurden, können so im biografischen Verlauf als pathogene unbewusste Fantasien erhalten bleiben. Ziel der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist es, diese belastenden unbewussten Anteile zu erkennen (bzw. wiederzuerkennen), soweit sie für den aktuellen Konflikt und die notwendige Reflexion und Neubetrachtung der pathologischen Denk- und Verhaltensmuster notwendig sind. Dabei werden neue und teilweise intensive Affekte und Emotionen angeregt, die für die Veränderung der Patientin im therapeutischen Prozess Voraussetzung sind. Die Entwicklung eines eigenständigen Profils der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie soll im folgenden Abschnitt ausführlicher dargestellt werden. 4.1.2 Zur Entwicklung der Identität der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Mitglieder der psychoanalytischen Bewegung entwickelten schon Anfang der 1930er Jahre eigene Ideen zur sogenannten reinen Lehre der Freud’schen Psychoanalyse, nach der der Antrieb des Menschen insbesondere vom Sexualtrieb bestimmt wird. Alfred Adler entwickelte zum Beispiel die Individualpsychologie (vgl. Kriz, 2007), in der er den Menschen als soziales Wesen mit all seinen Minderwertigkeitsgefühlen in den Mittelpunkt stellte. Wilhelm Reich dagegen lehnte die Freud’sche Todestriebtheorie ab und wandelte seine Libidotheorie zur körperorientierten Vegetotherapie und schließlich zur Orgontherapie (orgastische Potenz als Therapieziel zur Erlangung psychischer Gesundheit) um. Daraufhin wurde er 1934 aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausge-

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schlossen, und auch andere Mitglieder gingen fortan ihren eigenen Weg. Im weiteren Verlauf der Entwicklung therapeutischer Modifikationen durch einzelne Analytiker ging es vor allem um die Frage, was noch als Psychoanalyse aufgefasst werden konnte. So kam es auch weiterhin immer wieder dazu, dass therapeutische Neuerungen der »Abtrünnigen« zu Austritten oder Ausschlüssen führten. Bei der Profilierung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, ihrer Modifikation, Weiterentwicklung und teilweise auch Abgrenzung von der klassischen Psychoanalyse kommen unter anderen Sándor Ferenczi (1873–1933) aus der ungarischen psychoanalytischen Schule sowie Otto Rank (1884–1939) aus Wien, dem ursprünglich engsten Vertrauten Freuds, eine wegbereitende Bedeutung zu. Beide betonten die interpersonellen Aspekte, die aktive Haltung des Therapeuten, die zeitlichen Grenzen der Therapie im Sinne einer Regressionsbegrenzung sowie die damit verbundene Erhaltung und Förderung der Selbstständigkeit der Patientin. Weiterhin setzten sie sich für ein beziehungsorientiertes Vorgehen mit einer korrigierenden emotionalen Erfahrung im therapeutischen Prozess bei gleichzeitiger patienten- und störungsbildbezogener Flexibilität ein. Daher werden Sándor Ferenczi und auch Otto Rank häufig als die Urväter der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie angesehen. 4.1.2.1 Ferenczi, Rank, Balint und andere

Sándor Ferenczi war zunächst ein Schüler und enger Freund Freuds, bevor es später aufgrund unterschiedlicher fachlicher Auffassungen zu persönlichen Spannungen und schließlich zum Bruch kam (vgl. Ferenczi, 2004). Ferenczi beschäftigte sich in der Psychoanalyse nicht nur mit der Entfaltung der Ich-Instanzen, sondern auch mit interpersonellen Aspekten und bezog dabei schon früh die Vorstellungen der Ich-Psychologie ein. Nach seiner Vorstellung wird das Ich als organisierende und strukturierende psychische Instanz zur Anpassung der inneren und äußeren Realität benötigt (Hartmann et al., 1972). Er konkretisierte die Entwicklungsstufen eines Wirklichkeitssinns im Sinne verinnerlichter Beziehungserfahrungen und ergänzte damit das intrapsychische Triebmodell von Freud. Ferenczi konzipierte im Zusammenhang mit dem frühen Beziehungsgeschehen vor allem den Begriff der Introjektion als Grundlage für die eigene Einstellung sich selbst gegenüber. Auf dieser Grundlage behandelt sich die Patientin später selbst so, wie ihr früheres Objekt (Bezugsperson) sie behandelt hat. Damit gab er der Internalisierung von Objektaspekten und der damit verbundenen Identifikation eine neue Richtung, was sich unter anderem auch wegweisend im Zusammenhang mit der Konzeption der Ich-Identität bei Erikson (1973) zeigt. Ferenczi war es auch, der das Auftreten einer unbewussten Übertragung früher erlebter Affekte auf den behandelnden Psychoanalytiker als grundsätzli-

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ches charakteristisches Merkmal der Beziehung zweier Menschen in den therapeutischen Fokus stellte. Er wies damit auf die besondere Beachtung der interpersonellen Herangehensweise im Sinne einer interpersonellen Psychoanalyse hin. Im Vergleich zu anderen psychoanalytischen Autoren seiner Zeit führte dieser Ansatz zu einer deutlichen Akzentverschiebung und brachte dem Phänomen der Übertragung fortan eine erhöhte Aufmerksamkeit in einem breiteren Zusammenhang als in der klassischen analytischen Situation (vgl. Harmat, 1988). Das bedeutete für Ferenczi, auch die Gegenübertragungsprozesse vom Behandler zur Patientin in den Blick zu nehmen. Um innerhalb dieser zumeist unbewusst ablaufenden Vorgänge eine genauere Differenzierung der Affekte des Behandlers und der Affekte der Patientin zu ermöglichen, ergab sich für Ferenczi die Notwendigkeit einer Lehranalyse für den Analytiker, was damals noch nicht selbstverständlich war. Heute ist auch in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie eine umfangreiche Selbsterfahrung, die über die gesamte Ausbildung einen wichtigen Stellenwert einnimmt, für den Behandler eine unabdingbare Voraussetzung (vgl. Kapitel 5.6). Im Zusammenhang mit der praktischen Umsetzung der von Ferenczi vertretenen Ich-Psychoanalyse und als Modifizierung der bisher auf der Technik der freien Assoziation festgelegten klassischen Psychoanalyse vertrat Ferenczi zunehmend eine aktivere Technik, wobei für ihn grundsätzlich eine bestimmte Passivität der hervorstechendste Charakter der Analyse blieb (Ferenczi, 2004). Nach seiner Vorstellung bedurfte es aber in besonderen Situationen wie etwa bei der Analyse bestimmter Fälle von Angsthysterie konkreter Vorgaben und Verhaltensanweisungen wie zum Beispiel Ernährungsvorschriften oder zeitweilige Verbote und Gebote. »Es kam vor, dass Patienten, trotz genauer Befolgung der ›Grundregel‹ und trotz tiefer Einsicht in ihre unbewussten Komplexe, nicht über tote Punkte der Analyse hinwegkommen konnten, bis sie nicht dazu gedrängt wurden, sich aus dem sicheren Versteck ihrer Phobie herauszuwagen und sich versuchsweise der Situation auszusetzen, die sie ob ihrer Peinlichkeit ängstlich gemieden hatten« (Ferenczi, 2004, S. 76). Dieses konkrete Erleben eröffnete seiner Meinung nach neue therapeutische Möglichkeiten für die Patientinnen: »Indem sie sich diesem Affekt aussetzen, überwanden sie zugleich auch den Widerstand gegen ein bisher verdrängt erhaltenes Stück des unbewussten Materials, das nunmehr in Einfällen und Reminiszenzen der Analyse zugänglich wurde« (Ferenczi, 2004, S. 77). Diese Vorgehensweise findet sich in der heutigen tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wieder und kann im therapeutischen Prozess bei unterschiedlichen Störungsbildern zur Anwendung kommen. Auch im Rahmen einer sogenannten Nachbemutterung erteilte Ferenczi in manchen Fällen Ratschläge und Empfehlungen und bevorzugte statt einer küh-

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len Neutralität eher eine wohlwollende Bemutterung, um in der aktuellen Situation die psychischen Spannungen der Patientin zu verringern und gleichzeitig eine neue positive Beziehungserfahrung vor dem Hintergrund einer in der Kindheit häufig ungenügend erfahrenen Zuwendung zu ermöglichen. Bei der Korrektur von Beziehungserfahrungen gilt es, Grenzen im Sinne einer professionellen und gut reflektierten therapeutischen Beziehung einzuhalten, wie es in der heutigen tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie gehandhabt wird. Ferenczi hatte bereits früh Gedanken im Sinne der späteren Objektbeziehungstheorie formuliert und postulierte im Zusammenhang mit der Entstehung von psychischen Störungen die Bedeutung von Kindheitserfahrungen. So sah er im Gegensatz zu Freud als Grundlage für die Entstehung von Neurosen insbesondere die von frühen Bezugspersonen introjizierten Vorstellungen und Annahmen sowie die das Über-Ich im starken Maße prägenden Prinzipien. Ein zeitweise enger Weggefährte Ferenczis aus dem Kreis der psychoanalytischen Bewegung war Otto Rank, der ebenfalls ein Schüler Freuds war. Sowohl Ferenczi als auch Rank stellten im Gegensatz zu der orthodoxen Psychoanalyse das jeweils Aktuelle im Leben der Patientin, den aktuellen Konflikt und die aktuell zu bewältigenden Anforderungen, in den Vordergrund, so wie es auch in der heutigen tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie praktiziert wird. Ebenso wegweisend war die von Ferenczi und Rank betonte Bedeutung und Beachtung der Interaktion zwischen dem Behandler und dem Behandelten. Auch Rank entwickelte nach seinem Bruch mit Freud eine aktivere Behandlungstechnik und eine festgelegte Therapiebegrenzung (vgl. Deutsches Ärzteblatt, 2009). Des Weiteren hatte Ferenczi einen großen Einfluss auf verschiedene andere Erneuerer der Psychoanalyse wie zum Beispiel Karen Horney (1885–1952), Erich Fromm (1900–1980) oder auch Donald W. Winnicott (1896–1971). Auch Ferenczis Schüler Michael Balint (1896–1970) betonte die Bedeutung der frühkindlichen Erfahrungen in der frühen Mutter-Kind-Beziehung für die psychische Entwicklung. Im Sinne der Therapiebegrenzung entwickelte Balint die Fokaltherapie. In dieser formulieren Patientin und Therapeut in einem gemeinsamen Prozess am Anfang der Therapie den jeweils vorliegenden zentralen Konflikt und legen damit den Fokus fest, der im weiteren Verlauf bearbeitet werden soll. Der Schwerpunkt liegt auf einem festgelegten und begrenzten Behandlungsziel. Auch hier finden sich Grundsätze, wie sie in der heutigen tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie fester Bestandteil sind (Balint, 1988, 2004). Außerdem betonte und interpretierte Balint noch einmal im Besonderen die interpersonellen Aspekte zwischen Arzt und Patientin, indem er ein Augenmerk auf den Einfluss der hier unbewusst ablaufenden Prozesse legte. Daraus entwickelten sich die Balintgruppen, wie sie auch heute vielfach zur Anwendung kommen.

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In den Balint-Arbeitsgruppen können problematische Arzt-Patient-Beziehungen thematisiert, reflektiert und analysiert werden, um den Ursachen der aufgetretenen Spannungen unter besonderer Beachtung der Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene auf den Grund zu gehen. Manche dieser von Freud und der orthodoxen Analyse abweichenden Gedanken wurden weiter reflektiert und aufbereitet und finden sich in der heutigen tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wieder. Auf diesem Weg entwickelte sich ein eigenständiges Anwendungsverfahren. Dabei befindet sich die Identitätsfindung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, die noch keinesfalls abgeschlossen ist, in einem stetigen Prozess der Weiterentwicklung. 4.1.2.2 Konzeptionelle Weiterentwicklung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Im Verlauf der konzeptionellen Weiterentwicklung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie gewinnt neben der stärkeren Aktivität des Therapeuten auch der Gegenwartsbezug eine größere Bedeutung. Es können neue Erfahrungen gemacht und auch reflektiert werden. Therapie kann so als eine neue Erfahrung und im Sinne einer erlebnisnahen und umfassenden konstruktiven Suche interpretiert werden. Der Aspekt der Interaktion erhält einen bedeutsamen Stellenwert. Die grundsätzlich offene Haltung des Therapeuten gegenüber den von der Patientin geäußerten Konflikten und Fragestellungen sowie die Bereitschaft des Therapeuten, die Therapie als eine gemeinsame Arbeit mit einer gemeinsamen Zielorientierung zu sehen, bildet die Grundlage der therapeutischen Arbeit. Der Therapeut ist gefordert, in angemessener und reflektierter Form aus der Anonymität herauszutreten und sich als Person in der therapeutischen Rolle zu zeigen. Die immer auftretenden Übertragungsphänomene behalten ihre Bedeutung und werden in angemessener Form beachtet, reflektiert und analysiert. Die Patientin nimmt den Therapeuten bewusst oder unbewusst immer auch als eine reale Person wahr, sodass es in jeder Therapie je nach Stand des therapeutischen Prozesses auch zu Überschneidungen zwischen Übertragungs-, Real- und Aktualbeziehung kommt (vgl. Jaeggi u. Riegels, 2008). Im therapeutischen Prozess können die unbewussten Beziehungsmuster transparent werden. Die kognitive und affektive therapeutische Bearbeitung mit Hilfe unterschiedlicher Techniken schafft die Möglichkeit, bisher Unaussprechbares aussprechbar und besprechbar zu machen. Die Frequenz von einer Sitzung pro Woche und die stärkere Aktivität des Therapeuten betonen das Element der Realbeziehung gegenüber der regressiven Übertragungsbeziehung, wie sie im Rahmen der hochfrequenten Psychoanalytischen Therapie üblich ist. Trotzdem oder gerade deshalb können hier die immer und überall auftretenden Übertragungsphä-

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nomene gut erkannt und für den therapeutischen Prozess berücksichtigt werden. So weist der Kommentar zu den Psychotherapie-Richtlinien darauf hin, dass die analytische Psychotherapie die Übertragungsaspekte »nutzen« und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sie im therapeutischen Prozess »berücksichtigen« solle (Rudolf, 2010, S. 120). Daher können unter anderem auch erlebnisaktivierende Techniken zur Anwendung kommen, um die Übertragungen sichtbar, fühlbar und analysierbar zu machen. Die Verdeutlichung der unbewussten seelischen Problematik durch verschiedene Techniken und Methoden geschieht stets im Rahmen der therapeutischen Beziehung. Dieses therapeutische Arbeitsbündnis wird getragen von den Faktoren der Empathie, Akzeptanz und der Gemeinsamkeit (vgl. Jaeggi u. Riegels, 2008). 4.1.3 Die Bedeutung der »vier Psychologien« der Psychoanalyse für das heutige Verständnis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Als Grundlage heutiger tiefenpsychologischer Betrachtungen können vier psychodynamische Modelle gesehen werden, die sogenannten vier Psychologien (vgl. Pine, 1990). Bei den vier konzeptionell trennbaren Perspektiven zur Dynamik seelischer Prozesse handelt es sich um die Psychologien von Trieb, Ich, Objektbeziehungen und Selbst. In jeder dieser Psychologien wird eine spezifische Auffassung von der Arbeitsweise der menschlichen Psyche hervorgehoben. Erst die Integration dieser vier Psychologien führt zu einem Gesamtverständnis der seelischen Dynamik (siehe Abbildung 2). 4.1.3.1 Die Triebpsychologie

Bei der auf Freud zurückgehenden Triebpsychologie (Freud, 1905, 1961) steht das Lustprinzip im Vordergrund. Hier geht es um Wünsche und triebhafte Bedürfnisse mit den daraus resultierenden Konflikten und ihrer Abwehr. Frühe Unter- oder Überbefriedigungen bestimmter Triebe und damit verbundener Wünsche können frühe Fixierungen oder auch Regressionsneigungen hervorrufen. Dies kann im Zusammenhang mit den im familiären und sozialen Umfeld entwickelten Wünschen und Bedürfnissen auch als unannehmbar und gefährlich erlebt werden. In diesem Zusammenhang »erscheinen die psychischen Prozesse um Konflikte und ihre Lösungen herum organisiert und durch Angst, Schuld, Aspekte von Scham, Hemmung, Symptombildung und pathologische Charakterzüge gekennzeichnet« (Pine, 1990, S. 233). Auf tiefenpsychologischer Ebene stellt sich in der therapeutischen Situation die Frage, welcher Wunsch aktuell ausgedrückt bzw. abgewehrt werden muss und in welcher Form die angewendeten Abwehrmechanismen sich als erfolgreich und konsistent für die Patientin erweisen.

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Abbildung 2: Die »vier Psychologien« als Grundlage für die heutige tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

4.1.3.2 Die Ich-Psychologie

Die Ich-Psychologie fokussiert auf die Fähigkeit zur Anpassung, Realitätsprüfung und auf den Umgang mit den Abwehrprozessen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Form und Qualität von Abwehrmechanismen zur Verfügung stehen und ob es sich bei den jeweiligen Verhaltensformen und -mustern um sogenannte reife oder frühe (unreife), effektive, flexible oder rigide Mechanismen handelt. Der Fokus liegt auf der Steuerung und Bewältigung des Ausgleichs zwischen der inneren Welt der Bedürfnisse, also Affekten und Fantasien, und der äußeren Welt mit ihren Realitätsanforderungen. Um diese Prozesse steuern zu können, ist es auch wichtig, die unterschiedlichen inneren und äußeren Anteile in angemessener Weise zu integrieren. Hartmann et al. (1972) sprechen von der Anpassung an die durchschnittlich zu erwartende Umgebung und deren Bedeutung für die seelische Gesundheit. Störungen in der Entwicklung dieser psychischen Anpassungs- und Integrationsfähigkeit

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können sich in einer Affektintoleranz, einer Affektüberschwemmung, einer Unzulänglichkeit im Bereich des Impulsaufschubs und der Impulskontrolle oder auch in mangelnder Objektkonstanz niederschlagen. Die Ich-Psychologie spricht hier von einer Entwicklungs- oder Strukturpathologie, nach welcher frühe Konflikte zu einer defizitären Ich-Entwicklung beitragen, da diese Konfliktelemente in das Selbsterleben aufgenommen werden und vielfältige Wirkung entfalten können. 4.1.3.3 Die Psychologie der Objektbeziehungen

Die Objektbeziehungspsychologie beleuchtet die Grundlagen eines sozialen Lebens und die Wahrnehmung der Affekte sowie das persönliche Erleben in der Begegnung mit dem anderen. Im Gegenwartsprozess spielen demnach aktive und zumeist unbewusste Reinszenierungen verinnerlichter Beziehungskonstellationen eine wichtige Rolle. Auf Kindheitserfahrungen basierende innere Bilder prägen die neuen Erfahrungen, sodass die aktuelle Situation nicht in ihrer tatsächlichen Form erlebt wird, sondern in besonderer Art nach dem Vorbild alter Dramen (vgl. Pine, 1990, S. 233). Im therapeutischen Prozess stellt sich die Frage, welche alten Objektbeziehungen sich in der aktuellen Situation wiederholen, was sich gerade reinszeniert und wer welche (alte) Rolle übernimmt. Frühere Beziehungserfahrungen werden im Zusammenhang mit maladaptiven Beziehungsmustern beleuchtet. Bei der inneren Verarbeitung dieser Beziehungserfahrungen gelten die drei Modi Identifikation, Internalisierung und Introjektbildung. Bei der Identifikation mit wichtigen Bezugspersonen verhält sich der Betroffene gegenüber anderen Menschen so, wie eine wichtige Bezugsperson sich ihm gegenüber verhalten hatte. Hier ist kritisch anzumerken, dass eine Identifikation auch aus der Betrachtung von Beziehungsmustern zwischen wichtigen Objekten und weiteren Personen erkannt werden kann (z. B. der Umgang der Mutter mit dem Vater oder mit ihrer eigenen Mutter). Im Rahmen der Internalisierung erwartet der Betroffene von aktuellen Interaktionspartnern die gleichen Verhaltensweisen, die bereits frühe Bezugspersonen zeigten. Introjektbildung dagegen liegt vor, wenn sich der Betroffene selbst so sieht und behandelt, wie er früher von seinen wichtigen Bezugspersonen behandelt wurde. Wichtige frühe Beziehungsmuster werden dabei wiederholt, um entweder erlebte Erfahrungen mit Zugehörigkeit, Vertrautheit und Sicherheit wiederzuerhalten oder traumatische Erfahrungen zu bewältigen. Bedeutsam ist an dieser Stelle, dass es sich immer um subjektiv geprägte erlebte Erfahrungen handelt, die »durch den Triebzustand oder Ich-Zustand des Patienten zum Zeitpunkt des Beziehungsereignisses determiniert« waren (Pine, 1990, S. 239). So geht es in diesem Sinne nicht

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zwangsläufig um ein wirklich objektives Ereignis, sondern um Erinnertes und subjektiv Gefühltes. 4.1.3.4 Die Selbstpsychologie

Die Psychologie des Selbst fokussiert darauf, »das Selbst als Mittelpunkt von Initiative und als Eigner des eigenen inneren Lebens zu etablieren und ein anhaltendes Gefühl des subjektiven Wertes zu entwickeln« (Pine, 1990, S. 240). In der Selbstpsychologie (Kohut, 1977) steht das anhaltende subjektive Empfinden im Hinblick auf Selbstgrenzen, Wertschätzung und Selbstwertgefühl im Mittelpunkt der Betrachtung. Dies schließt auch das Erleben von Kontinuität, Reaktionen auf Schwankungen des subjektiven Zustandes und die Entwicklung von Selbstkonstanz mit ein. Die Aufgabe des Selbst besteht darin, für die verschiedenen Lebenssituationen sowohl ein differenziertes als auch ganzheitliches Gefühl auszubilden. Im therapeutischen Prozess sind daher insbesondere die von der Patientin bewusst und unbewusst angewendeten Anstrengungen von Bedeutung, um Störungen im subjektiven Selbsterleben auszugleichen. Die Stabilität des Gefühls für differenzierte Selbstgrenzen insbesondere in belastenden Lebenssituationen, die Panik vor Verlust dieser Grenzen, das Ausmaß von Verschmelzungsfantasien oder Depersonalisierungs- oder Derealisierungserlebnisse werden für das seelische Gleichgewicht als bedeutsam erachtet und erforscht. Der Grad von Ganzheit oder Fragmentierung, Kontinuität oder Diskontinuität und die Wertschätzung des eigenen Selbst werden als zentral angesehen. Das subjektive Erleben der Selbstbestimmung steht in engem Zusammenhang mit der Qualität der Beziehung zu den jeweiligen Objekten (vgl. Kapitel 4.2.7). 4.1.4 Exkurs: Das dynamische Unbewusste in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie aus neurowissenschaftlicher Sicht

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie geht davon aus, dass aus Sicht des Betroffenen unlösbare und unerträgliche psychische Konflikte, Angst machende Gedanken oder Impulse durch unbewusste Abwehrmechanismen aus dem Bewusstsein verdrängt werden. Diese wirken unbewusst weiter und können sich in bestimmten Auslösesituationen als Krankheitssymptome ausdrücken und sich auch in körperlichen Erkrankungen niederschlagen (Wöller u. Kruse, 2010, S. 397 ff.). Das tiefenpsychologische Konzept des dynamischen Unbewussten stützt sich auf die Annahme, dass unter dem Einfluss von Abwehrvorgängen vormals bewusste Inhalte verdrängt werden, die somit im Unbewussten eine eigene Dynamik entfalten und so weiterhin wirken. Um diese abgewehrten Inhalte und Impulse aus dem Bewusstsein zu verdrängen,

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werden dauerhaft Abwehrvorgänge aufrechterhalten, die maladaptive Folgen haben können. So gilt es in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, das Nichtsichtbare hinter den Symptomen, unbewusste Motive und Intentionen und auch die unbewussten Abwehrvorgänge ins Blickfeld zu rücken. Dabei werden symptomauslösende problematische Anteile bewusstseinsfähig gemacht, um sie zu beleuchten, zu bearbeiten und angemessenere Bewältigungsmöglichkeiten zu entwickeln. Aus Sicht der bisherigen Ergebnisse aus der Hirnforschung (LeuzingerBohleber, Roth u. Buchheim, 2008; Schiepek, 2011) umfasst das Unbewusste die Inhaltsbereiche, die einmal bewusst waren, im weiteren Verlauf jedoch ins Unterbewusstsein gesunken oder verdrängt worden sind. Diese sind trotz willentlicher Anstrengung nicht direkt abrufbar. Da viele belastende Erfahrungen in frühen Entwicklungsstufen und in späteren massiv überfordernden Lebenssituationen nicht explizit, sondern im impliziten Gedächtnis überwiegend subkortikal abgespeichert werden, sind sie willentlich nicht erinnerungsfähig (vgl. Juckel u. Edel, 2014). Durch geeignete psychotherapeutische Interventionen können sie jedoch, bezogen auf den zu bearbeitenden Konflikt, vermehrt wieder ins Bewusstsein gelangen, um das Verständnis des zu bearbeitenden Konflikts zu fördern und eine bewusste Bearbeitung zu ermöglichen (vgl. Kapitel 6.1). Das Unbewusste umfasst auch die aktuell nicht bewussten vorbewussten Inhalte von Wahrnehmungsvorgängen, die nach hinreichender Aktivierung der assoziativen Großhirnrinde wieder bewusst werden. So können vorbewusste Inhalte und Vorgänge, die aktuell nicht bewusst sind, jederzeit bewusst gemacht und aktiv erinnert werden. In den Bereich des Unbewussten gehören auch unterschwellige Wahrnehmungen sowie Vorgänge in Gehirnregionen außerhalb der assoziativen Großhirnrinde, die grundsätzlich unbewusst ablaufen. Dazu zählen alle perzeptiven, kognitiven und emotionalen Prozesse, die im Gehirn in allerfrühester Zeit (als Fötus, Säugling, Kleinkind) vor Ausreifung des assoziativen Kortex ablaufen (vgl. Roth, 2001). Als Organisator des bewusstseinsfähigen deklarativen Gedächtnisses bildet der Hippocampus mit den ihn umgebenden Strukturen ein ausgedehntes System zur dynamischen assoziativen Verknüpfung von Erlebnisinhalten. Er spielt eine zentrale Rolle beim Vergleich ankommender und gespeicherter Informationen und ist damit wesentlich an Gedächtnis, Konsolidierung und Habituation beteiligt. Ebenso tragen limbische Strukturen zur Steuerung aller Verhaltens- und Denkprozesse sowie an der affektiven und emotionalen Ausgestaltung von Wahrnehmung, Vorstellung, Erinnerung und Handlungsplanung bei. Die emotionalen Vorgänge machen nur einen Teil der vielfältigen Aufga-

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ben aus, und nach heutigem Wissensstand sind nicht alle limbischen Regionen bewusstseinsfähig (vgl. Birbaumer u. Schmidt, 2005). Gigerenzer (2007) hat darauf hingewiesen, dass hoch komplexe Zusammenhänge oft automatisch und ohne großes Nachdenken als Bauchentscheidungen erfasst und im impliziten, prozeduralen Gedächtnis gespeichert werden. Dabei handelt es sich häufig um emotional bedeutsame, aber nicht strukturierte, unsystematische Erfahrungen, die sich als Basics im Gedächtnis festgesetzt haben und im Zusammenhang mit der psychischen Störung bedeutsam sind. Insgesamt besteht aus Sicht der Hirnforschung und der Neuropsychologie kein Zweifel daran, dass die unbewussten Gehirnvorgänge höchst wirksam sind und bewusste Vorgänge stark beeinflussen. Das Unbewusste beeinflusst das Bewusstsein, indem bei auftauchenden Gedanken, Vorstellungen, Wünschen und Plänen immer erst abgeglichen und festgestellt wird, ob das bewusst und unbewusst Gewünschte und Gewollte mit den Inhalten des unbewussten emotionalen Gedächtnisses im Einklang steht. Auf dieser Grundlage findet gegebenenfalls eine Umsetzung in Handlung statt. Obwohl die im impliziten Gedächtnis gespeicherten bedeutsamen Lebenserfahrungen nicht direkt bewusstseinsfähig sind, übernehmen sie im allgemeinen Bewertungssystem des Gehirns eine mitentscheidende Rolle und bewerten die Situationen als gut oder schlecht mit dem Wunsch nach Wiederholung oder Vermeidung (Roth, 2001). Die im bisherigen Leben gemachten Vorerfahrungen repräsentieren sich in den neuronalen Kopplungsstrukturen in Form der synaptischen Verbindungen mit über 100 Milliarden Neuronen und noch mehr Synapsen mit vielfältigen Verschaltungskombinationen. Durch bestimmte (ähnliche) Merkmale des Gegenwartsgeschehens können die in den neuronalen Strukturen konstituierten Erfahrungen jeweils selektiv verstärkt und wieder aktiviert werden. Dabei werden bewusste und unbewusste Inhalte entlang dieser Assoziationsbahnen abgerufen. »Es entwickelt sich also ein Assoziationsfluss, der nicht allgemein, überindividuell gültigen Gesetzmäßigkeiten folgt, sondern individuellen – jenen Assoziationsbewegungen, die ein Mensch in seinem persönlichen Leben bisher entwickelt hat und die in seinem Gehirn zeitlich überdauernd konsolidiert worden sind« (Deneke, 2001, S. 69). Die Neurowissenschaften gehen von der Annahme aus, dass Gedächtnis letztlich auf erfahrungsabhängigen dauerhaften Veränderungen der neuronalen Strukturen beruht. Aus neurobiologischer Sicht besteht im Rahmen von Psychotherapie durch die Neuroplastizität des Gehirns die Möglichkeit, die im expliziten und impliziten Gedächtnis gespeicherten relevanten Situationen bewusst zu machen und dadurch neue Einsichten und Handlungsoptionen zu ermöglichen. Im Rahmen der psychodynamischen Verfahren werden insbesondere auch die

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bis dahin unbewussten implizit gespeicherten Erfahrungen, die zu den inneren Konflikten der Patientin geführt haben, berücksichtigt. Demnach stellt das Gedächtnis einen Speicher dar, in dem die Inhalte so lange unverändert aufbewahrt werden, bis sie wieder abgerufen werden. Das tritt in bestimmten Auslösesituationen, beispielsweise bei der Reaktualisierung früherer Beziehungsmuster mit den dazugehörigen Affekten und Emotionen unbewusst und ungewollt auf. Im alltäglichen Leben können ganz verschiedene Aspekte eines vergangenen Ereignisses wie zum Beispiel ein bestimmter Geruch, eine Melodie, eine Stimme oder auch ein Geschmack eine (unbewusste und vielleicht auch irritierende, weil nicht bewusst einzuordnende) Assoziation oder eine konkrete Erinnerung an das Ereignis auslösen. Dieser Prozess des Erinnerns steht in hohem Maß mit der aktuellen inneren wie äußeren Situation in Zusammenhang. Im Rahmen der Psychodynamischen Psychotherapie wird dieses Phänomen durch die Rekonstruktion von Erfahrungen und der damit verbundenen Wiederbelebung der abgewehrten Wünsche und Kränkungen genutzt. Das konkrete Erleben der zugehörigen Affekte und Emotionen im therapeutischen Prozess schafft die Basis für die Bewusstwerdung und Bearbeitung dieser konflikthaften Situation und trägt damit zum selbstbestimmten Umgang in dem aktuellen Geschehen bei. Durch das Erkennen der strukturellen Ähnlichkeit und der Analogien zwischen aktuellen Situationen und gespeicherten Erfahrungen entsteht Bewusstwerdung. So lässt sich das Erinnern als ein kreativer und (re-)konstruktiver Prozess auffassen, der entscheidend durch innere und äußere Bedingungen, individuelles Vorwissen, Schlussfolgerungen und auch durch kulturelle Voreingenommenheit beeinflusst wird. Durch diesen Prozess des Erinnerns lassen sich unerkannte Ähnlichkeiten der aktuellen Konfliktsituation mit früheren traumatisch erlittenen Erfahrungen aufdecken und für eine Veränderung nutzen. Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über das Gehirn als komplexes, sich selbst organisierendes System mit nichtlinearer Dynamik bestärken die Psychotherapie in ihrem bisherigen Vorgehen, durch geeignete Interventionen (vgl. Teil B) zur Veränderung der bisher vorherrschenden Verarbeitungsprozesse anzuregen (Schiepek, 2011). Im Rahmen der Hanse-Psychoanalyse-Studie verglich eine Forschungsgruppe um den Neurobiologen Gerhard Roth die Aktivitätsmuster der Nervenzellen von an Depression erkrankten Menschen mit einer Kontrollgruppe Nichtbetroffener mit Hilfe von Kernspintomografen (MRT) und Elektroenzephalogrammen (EEG). Bei den von Depression betroffenen Menschen ergaben sich bei der Konfrontation mit niederdrückenden Aussagen sichtbare Aktivitäten

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und Veränderungen im limbischen System, dem Zentrum für die Entstehung und Verarbeitung von Emotionen. Die Forscher leiteten daraus unter anderem ab, dass eine Psychotherapie bei chronisch depressiven Patienten besonders dann wirksam ist, wenn Emotionen angesprochen werden. Da die wesentlichen Probleme der Patienten nicht ihre Kognitionen, sondern vielmehr ihre Emotionen beträfen, sei ein psychodynamisch fokussiertes Verfahren daher sinnvoll (Buchheim et al., 2012). 4.1.5 Ich-Funktionen und Über-Ich

Auf Freuds Strukturmodell zurückgehend etablierte sich die Unterscheidung der drei psychischen Instanzen Es, Ich und Über-Ich. Während mit der naturnahen Triebinstanz des Es die weitgehend auch unbewusst prägenden Triebimpulse, Bedürfnisse und Affekte dargestellt werden, werden mit dem ÜberIch die in der frühen Kindheit gebildete moralische Gewissensinstanz und die durch Introjektion verinnerlichten Wertvorstellungen und Normen der sozialen Umgebung erfasst. Im Laufe der Weiterentwicklung kam es zu veränderten Konzeptionen dieses Modells. So geht man jetzt von der Annahme aus, dass das Es »nicht nur die Triebe, sondern wichtige unbewusste Fantasien, Repräsentanzen von Objekten und Objektbeziehungen, also nicht nur die unorganisierten, chaotischen und nur nach Befriedigung drängenden Triebe, sondern auch viele andere verhaltens- und erlebensbestimmende Tendenzen« beinhaltet (Mentzos, 2010, S. 52). Das Ich stellt die vermittelnde Instanz zwischen den Ansprüchen des Es und des Über-Ich dar. Die Ich-Instanz existiert in Beziehung zu inneren und äußeren Objekten. Innere Objekte stellen die internalisierten Versionen äußerer Objekte dar und repräsentieren insbesondere frühe Objekte, frühe Bezugspersonen wie Eltern und die Interaktion mit ihnen. Verbunden sind diese Erfahrungen mit grundlegenden Affekten in Bezug auf Bindung, Zurückweisung und Frustration. Im guten Sinne ordnet das Ich das Wahrnehmen, das Denken und das Erinnern nach dem Realitätsprinzip, um psychische und soziale Konflikte aufzulösen oder zumindest eine Kompromissleistung zu erreichen. In schwierigen Lebenssituationen kann es allerdings zu Verzerrungen kommen: »In Augenblicken des Selbstvorwurfes und der Depression wendet das ÜberIch gegen das Ich so archaische und barbarische Methoden an, dass sie denen des blind impulsiven Es ähnlich werden« (Erikson, 1995b, S. 189). Das Ich verwendet Abwehrmechanismen, um sich zu schützen, Befriedigungen aufzuschieben, Ersatz zu finden oder andere Kompromisse zwischen Es-Impulsen und Über-Ich-Zwängen zu erreichen. Reife Abwehrmechanismen – also Abwehrmechanismen, die sich in einer höheren, gereifteren Entwicklungsstufe entwickeln konnten – sind für die Bewältigung des täglichen Lebens unerläss-

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lich. In der frühen Entwicklungsphase dominieren Abwehrmechanismen, die auf eine Veränderung des äußeren Realitätserlebens (Spaltungsabwehr) gerichtet sind, während auf einer reiferen Entwicklungsstufe Spannungen innerseelisch, zum Beispiel über Verdrängung (Verdrängungsabwehr) abgebaut werden können (Ermann, 2004). So sind Abwehrvorgänge nicht als solche dysfunktional, sondern sie müssen immer im Gesamtzusammenhang mit der Situation und der psychischen Struktur gesehen werden. Zunächst einmal sind sie ein Bestandteil der bestmöglichen inneren Konfliktlösungen, die im Verlauf der bisherigen psychischen Entwicklung erreicht werden konnten. Erst eine starre, nicht situationsangemessene Nutzung der Abwehrmechanismen oder auch das Zurückgreifen auf unreife Abwehrstrukturen stellt einen maladaptiven Vorgang dar. Abwehrmechanismen lassen sich den unterschiedlichen Strukturniveaus zuordnen. So weisen Verdrängung, Intellektualisierung oder Rationalisierung auf ein reifes Strukturniveau hin, während dem mittleren Strukturniveau Entwertung bzw. Idealisierung, Reaktionsbildung, Regression oder auch Konversion zugeordnet werden. Im Rahmen eines niedrigen Strukturniveaus greift das Ich auf Mechanismen wie Projektion, Spaltung oder auch Autoaggression (selbstverletzendes Verhalten) zurück. Insgesamt kommt dem Ich die Funktion der Orientierungs- und Planungsfähigkeit des Individuums zu. Es ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und der Entwicklung von Individualität und Identität. Den Gegenpol zum sogenannten Lustprinzip des Es bildet das Über-Ich mit den verinnerlichten Normen, Idealen, Geboten und Verboten. Die psychische Instanz des Über-Ich kann sich in krisenhaften Veränderungsprozessen sowohl motivierend für ein Hochgefühl im Sinne sozialer und individueller Weiterentwicklung auswirken als auch hemmend erweisen. In der Entwicklung identifiziert sich das Kind zunächst mit dem Über-Ich der Eltern im sozial-kulturellen Umfeld. Dies ist im Sinne der geltenden aktuellen Ideale auch von kollektiver Bedeutung. Das Über-Ich wird zum Träger der Tradition und aller zeitbeständigen Wertungen, die so über Generationen weitergegeben werden. So bleibt die frühe Erziehung eines Kindes das sensitive Instrument einer kulturellen Synthese, bis sich eine andere Synthesemöglichkeit als überzeugend oder unumgänglich anbietet (Erikson, 1995b, S. 150). Dabei können die dem Ich näher stehenden und elastischeren Ich-Ideale bewusster mit den Idealen der aktuellen Zeitepoche oder der aktuellen sozialen und kulturellen Umgebung verbunden werden, da diese Ideale sich wandeln können. All diese Aufgaben und Anforderungen bestehen über die gesamte Lebensspanne, stellen sich in psychischen Belastungssituationen aber in besonderem Ausmaß. Aufgrund umgebender, sich teilweise widersprechender sozialer Kon-

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texte können alte identifikatorische Muster ins Wanken geraten, was zu einem intrapsychischen Konflikt zwischen dem Ich und den Über-Ich-Strukturen führen kann. Bisherige Über-Ich-Muster fordern Zugehörigkeit und Anpassung an die elterlichen, sozialen und kulturellen Normen, Werte, Gebote und Verbote. Dies kann jedoch zu einem Konflikt mit dem sozialen Umfeld (und dessen sozialem Über-Ich) führen und ist oft mit massiven Schuldgefühlen verbunden. So kann es zu einer allgemeinen Ablehnung alles Neuen und zu einer irrationalen Überschätzung alles Fremden kommen oder im Umkehrschluss kann alles Bisherige verdrängt und abgelehnt werden. Dabei kann es nach Erikson zu einem »entwertenden Über-Ich-Triumph über die schwankende Identität« kommen (Erikson, 1998, S. 178). In diesem Fall kann das Ich den Konflikt zwischen diesen verschiedenen Über-Ich-Instanzen nicht bewältigen, sodass die zwischen innerer und äußerer Welt vermittelnden Ich-Funktionen überfordert zusammenbrechen. Dies schränkt die Orientierung und damit die Fähigkeit zur wahrnehmenden Beobachtung und realistischen Interpretation der jeweiligen Situation gravierend ein. So sind unter anderen auch migrationsbetroffene Menschen der sogenannten Zweiten Generation in dieser Hinsicht doppelt betroffen. Einerseits sind sie Teil der Generation, die die Werte und Normen der Aufnahmegesellschaft reproduziert, andererseits sind sie die Generation, die die traditionellen Werte und Normen der Eltern und der Ursprungsgesellschaft nicht aufgeben darf. Sie fühlen sich loyal verpflichtet, mit ihr verbunden zu bleiben und sie in einer gewissen Hinsicht zu bewahren. Auch in anderen Zusammenhängen projiziert die Elterngeneration nicht verwirklichte Erfolgserwartungen vielfach auf ihre Kinder, was die Entstehung von Schuld-, Loyalitäts- und Über-Ich-Konflikten nach sich ziehen kann. 4.1.6 Der neurotische Konflikt: Konflikt- und Strukturpathologie

Konflikte und konflikthafte Vorgänge gehören zum gesunden psychischen Leben dazu und implizieren allein noch keine psychische Störung. Zu unterscheiden sind zunächst einmal Konflikte im äußeren, systemischen Kontext und Konflikte im intrapsychischen, personalen Bereich. Ein Konflikt im äußeren Bereich könnte zum Beispiel durch rigide, von außen willkürlich gesetzte Regeln entstehen bei einem gleichzeitig bestehenden Wunsch nach eigener Gestaltung. Konflikte im inneren Bereich drücken sich beispielsweise in der Unentschiedenheit einer Person aus, welchen, vielleicht im Widerspruch stehenden, inneren Impulsen sie nachgehen will und kann. Die Verarbeitung der Situation als äußerer oder innerer Konflikt hängt von der jeweiligen Person, ihren biografischen Grundlagen und der sozialen Situation ab. Die inneren Konflikte lassen sich in bewusste und unbewusste differenzieren, wobei gerade die inneren unbewuss-

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ten Konflikte bei der Entstehung neurotischer Störungen eine besondere Rolle spielen. »Den meisten psychoneurotischen und psychosomatischen Störungen jedoch liegen vorwiegend unbewusste intrapsychische Konflikte zugrunde, also unbewusste innerseelische Zusammenstöße entgegengerichteter Motivationsbündel« (Mentzos, 2000, S. 75). Auch intensive und anhaltende äußere Konflikte und Belastungen können zu gravierenden psychischen Störungen führen, wenn sie die individuelle Vulnerabilitätsgrenze des Betroffenen massiv und andauernd überschreiten. So waren innerseelische Konflikte vielfach ursprünglich äußere Konflikte, die im Laufe der Entwicklung bzw. Sozialisation nicht befriedigend gelöst werden konnten und sich dann überdauernd intrapsychisch repräsentieren (vgl. Mentzos, 2000). An dieser Stelle soll betont werden, dass bereits Erikson in seinem Stufenmodell zum Lebenszyklus (1995a) das Wachstum der Persönlichkeit in einem systematischen Zusammenhang mit Konflikten und Krisen sah. Die Bewältigung der Krisen und Konflikte stellte für ihn die Basis einer subjektiv gesunden Entwicklung dar. Aus tiefenpsychologischer Sicht wird davon ausgegangen, dass die Art und Weise, wie Entwicklungskonflikte bewältigt werden, sich in der Persönlichkeitsorganisation als Repräsentanzen niederschlagen und eine Orientierung geben, »welches strukturelle Entwicklungsniveau für das Erleben und Verhalten eines Menschen tragend wird« (Ermann, 2004, S. 34). Bereits im Säuglingsalter kommt es zu einem ersten entwicklungsgemäßen Konflikt zwischen Urvertrauen und Urmisstrauen in Bezug auf die Begegnung und Interaktion mit dem »frühesten Anderen« (Erikson, 1995a). Die Erfahrung und der Glaube an die Erfüllbarkeit primärer Wünsche und vitaler Stärke stehen im Konflikt mit den unvermeidbaren Erfahrungen von Versorgung und Entbehrung im Alltag. Eine erfolgreiche Bewältigung dieses ersten, frühen Konfliktes bildet im Sinne der Entstehung eines Urvertrauens in sich und andere eine wichtige Grundlage für die Bewältigung der weiteren Entwicklungsschritte. Dagegen führt eine Nichtbewältigung dieses in der Entwicklung sehr frühen Konflikts zu einem Urmisstrauen und einer unsicheren Grundlage im zukünftigen Umgang mit Konflikten. Grundsätzlich geht die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie davon aus, dass eine Neurose durch einen inneren unbewussten Konflikt ausgelöst wird. Dies bezieht sich auf Erlebnisse, die mit Angst, existenziellen Verunsicherungen und gravierenden Frustrationen von vitalen Grundbedürfnissen, die das erträgliche Ausmaß übersteigen, verbunden sind. Diese massiven Konflikte können aufgrund der damals noch nicht voll ausgebildeten oder der altersgemäß eingeschränkten Ich-Funktionen nicht angemessen bewältigt werden. Stattdessen werden sie im Rahmen der entwicklungsgemäß eingeschränkten (unreifen)

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Abwehrstrategien zunächst ertragen und ausgehalten, um die Aufrechterhaltung eines erträglichen Spannungsniveaus zu sichern. Kommt es zu einer Überforderung durch äußere oder innere Reize, so schalten sich regulatorische Mechanismen ein, um diesen unlustvollen oder gefährlichen Zustand auf ein erträgliches Spannungsniveau zu reduzieren. Ist der Ausgleich der Spannungen mit adaptiven Abwehrmechanismen nicht mehr möglich, werden in der frühen Entwicklungsphase Notfallmechanismen, zum Beispiel in Form von Mutismus, psychogenem Schweigen, anhaltendem Schreien oder hospitalisierenden Schaukelbewegungen, in Gang gesetzt. Die in jedem Konflikt enthaltenen gegensätzlichen Motivationsbündel lösen nicht selten eine unerträgliche, anhaltende erhöhte Spannung aus, die mit schwerem körperlichen Stress zu vergleichen ist. Mentzos meint: »Aus diesem Grunde treten auch hier, wie im Fall von körperlichem Stress, Notfallreaktionen auf, d. h., es werden Mechanismen mobilisiert und Kompromissbildungen angestrebt, die einen großen Teil des klinischen Bildes neurotischer Störungen ausmachen« (Mentzos, 2000, S. 77). In späteren konflikthaften Situationen können gemäß der ursprünglichen Traumatisierung ähnliche affektive und emotionale Zustände wieder ausgelöst werden (Auslösesituationen). Aufgrund mangelnder Adaptionsfähigkeit der ansonsten intakten Ich-Funktionen kann es in der Folge zu einer nicht kontrollierten unbewussten und auch vermehrten Abwehrbereitschaft gegen die schmerzlichen (unbewussten und noch nicht integrativ verarbeiteten) Erinnerungen kommen. So überträgt sich das ursprünglich Erlebte in vielfältiger Weise unbewusst auf die Gegenwart. Die Person fährt daher fort, sich mit Hilfe der gewohnten Reaktionsweisen und Abwehrmechanismen gegen Gefahren zu verteidigen, die in der Realität gar nicht mehr in dieser Form bestehen. In diesen Fällen bleibt die Abwehr unbewusst und maladaptiv und ist somit nicht bewusst kontrollierbar oder bearbeitbar. Die verdrängte Angst oder existenzielle Unlust blockiert das bewusste Erleben der eigentlichen Wünsche und Bedürfnisse, um eine erneute Traumatisierung zu verhindern. Damit festigt sich der Konflikt und allmählich kann sich aus dem rigiden, festgefahrenen und starren maladaptiven Abwehrgeschehen eine neue Leidensquelle entwickeln. Der ursprünglich sinnvolle Umgang mit der Situation verselbstständigt sich und blockiert nun die Lösung des aktuellen Konflikts. Nach Mentzos (2000) stellt sich ein unbewusster Konflikt aus verschiedenen Perspektiven dar. So beschreibt er zum Beispiel den sogenannten Triebkonflikt, in dem Triebregungen, Wünsche und Bedürfnisse aus dem bewussten Leben ferngehalten werden müssen. Andernfalls könnten, in Verbindung mit frühkindlich erlebten oder erlittenen zentralen Beziehungskonflikten, existenziell

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bedrohliche Ängste und/oder Schuld- und Schamgefühle ausgelöst werden. Bei emotionalen Konflikten dürfen bestimmte emotionale Befindlichkeiten von den Betroffenen nicht erlebt werden, weil sie aus der Erfahrung heraus als gefährlich, beschämend oder auch überflutend internalisiert wurden. Bei einem ÜberIch- oder auch Gewissenskonflikt steht dagegen das Normensystem des sozialen Umfeldes mit den zugehörigen Verpflichtungen, Regeln, Strafandrohungen, Strafangst und Gewissensangst im Vordergrund. Beim Autonomiekonflikt stehen konkurrierende Beziehungswünsche oder Beziehungsverpflichtungen, zum Beispiel eine Nähe-Distanz- oder Autonomie-Abhängigkeits-Thematik mit dem Bedürfnis, gleichzeitig autonom und eng gebunden zu sein, im Fokus. Aus psychodynamischer Sicht wird davon ausgegangen, dass die interpersonellen Erfahrungen in den frühen Beziehungen für Muster und Prototypen des interaktionalen Verhaltens zu einem nahen fürsorglichen Objekt von prägender Bedeutung sind. Diese frühen Internalisierungen und Introjekte beeinflussen die intersubjektive Ausrichtung des Menschen und bilden damit die Basis, von der aus die darauf folgenden Entwicklungsschritte und auch die Möglichkeit zur Bewältigung der anstehenden Konflikte ausgehen. Da neurotische Konflikte eine hinreichend psychische Struktur voraussetzen, ist die Entstehung dieser psychodynamischen Konflikte »weniger in den frühesten, sondern mehr mit dem Zuwachs strukturell-symbolischer Fähigkeiten in der späteren Kindheit und Jugend zu sehen« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 104). Schwere Konflikte in sehr frühen Entwicklungsstadien können zu strukturellen Störungen im Sinne eines psychotischen bzw. emotional-instabilen Persönlichkeitsverlaufs führen. 4.1.7 Konfliktpathologie und Strukturpathologie

Das Konfliktmodell geht von einer aktuellen Versuchungs- oder Versagenssituation aus, in deren Zusammenhang die Person mit ihren biografischen Erlebnissen und den daraus entstandenen unbewältigten infantilen Konflikten und deren prägenden Identifikationen, Internalisierungen und Introjekten konfrontiert wird. In entsprechenden (auslösenden) Situationen kommt es zu einer Reaktivierung und auch Reinszenierung ungelöster früherer infantiler Konflikte. Stoßen dabei die Bewältigungsmechanismen an ihre Grenzen, brechen die Abwehrmechanismen ein und führen zu einer Symptombildung mit unreifen, infantilen Abwehrmechanismen, die eine Alltagsbewältigung stark einschränken oder sogar unmöglich machen. Das Konfliktmodell setzt ein intaktes Ich mit allen wesentlichen Ich-Funktionen voraus. Diese können jedoch konfliktbedingt so stark eingeschränkt sein, dass sich das jeweilige Symptom im Sinne einer Kompromissbildung zwischen den Konfliktteilen manifestiert. Das folgende Fallbeispiel verdeutlicht dies.

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Fallbeispiel 1 Eine 35-jährige Patientin hatte Panikattacken und diffuse Ängste entwickelt. Sie lebte allein und arbeitete in leitender Stellung in der Versicherungsbranche. Die Wochenenden verbrachte sie regelmäßig bei ihren Eltern, die sich stets sehr darüber freuten. Auch sie beschrieb ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu ihnen. Dies war ihr seit langer Zeit vertraut, da sie als Einzelkind ihre Anwesenheit als wichtig für die Stabilisierung der elterlichen Beziehung gespürt hatte. Als ihr Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben stärker wurde, entwickelte sie im Sinne einer Kompromissbildung die Angststörung. Seit dieser Zeit erlebte sie sich noch enger an die Eltern gebunden, was durch deren überfürsorgliches Verhalten zudem verstärkt wurde. Die Angst stellte in diesem Fall eine Form der Kompromissbildung dar, die einen weiteren Schritt in die Autonomie eines selbstbestimmten Lebens verhinderte.

Im Gegensatz zur Konfliktpathologie steht in der Strukturpathologie die Betrachtung der Entwicklungsdefizite der Ich-Funktionen im Vordergrund. In diesen Fällen konnte in den dafür vorgesehenen Entwicklungsphasen kein kohärentes Selbstbild entstehen. Dadurch ist in der Folge keine oder nur eine unzureichende Unterscheidung zwischen der Person und ihrer sozialen Umwelt (Außen) sowie der Regelung von Nähe und Distanz möglich. Der Aufbau einer Frustrationstoleranz, einer angemessenen Affektwahrnehmung und die Gestaltung von Beziehungsprozessen können sich nicht in ausreichendem Maß entwickeln. In der Folge können affektive Überflutung, innere Leere, Entfremdungsgefühle oder auch Dissoziationen auftreten, was sich unter anderem in Süchten, Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten und dissozialen Verhaltensweisen ausdrücken kann (vgl. Kernberg u. Steinmetz-Schünemann, 2006). Diese Symptomatiken führen vorübergehend zu einer gewissen Entlastung, um die Entwicklungsschwäche zu kompensieren. Eine Entwicklungspathologie kann unter anderem im Zusammenhang mit frühen traumatischen Schädigungen (z. B. Missbrauchserlebnissen) stehen. Hier geht die pathologische Wirkung von der frühen Erfahrung von Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein und Sicherheitsverlust sowie einer massiven Überflutung durch ausgelöste, nicht integrierbare Affekte aus. In der Konsequenz ergeben sich Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Realitätsprüfung. Da die strukturellen Funktionen in den frühen Lebensabschnitten heranreifen, hängt die Entwicklung eines stabilen sowie eines eingeschränkten Funktions- bzw. Organisationsniveaus direkt von den frühen emotionalen interpersonellen Erfahrungen ab. Das jeweilige strukturelle Funktionsniveau spiegelt die spezifische Erwartung des Subjekts an die Objektwelt wider. Das folgende Fallbeispiel erläutert dies wieder.

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Fallbeispiel 2 Der 52-jährige Patient beklagte in der Therapie gravierende Beziehungsstörungen, die geprägt waren von aggressiven Ausbrüchen seinerseits und der Androhung seiner Frau, sich von ihm zu trennen. In der Therapie zeigte sich bei diesem Patienten neben einer verminderten Impulskontrolle und einer fehlenden Frustrationstoleranz eine verminderte Fähigkeit, sich in die Gefühlswelt seiner Partnerin einfühlen zu können. Gleichzeitig ließ er sich oft von deren Empfindungen anstecken, als wären es seine eigenen. Seine Selbst- und Objektgrenzen verwischten und eine angemessene Abgrenzung war nicht möglich. Aus seiner Biografie war bekannt, dass der Vater sich früh von der Mutter getrennt hatte. Die Mutter hatte in der Folge häufig wechselnde Partnerschaften, die sie aber vor ihm zu verheimlichen suchte. So hatte er öfter erlebt, dass er bei nächtlichen Angstträumen nicht von ihr versorgt wurde, da sie sich in der Wohnung mit ihrem Partner vergnügte und ihn barsch zurück ins Bett schickte. Am nächsten Morgen habe sie ihm dann eingeredet, die nächtlichen Besucher hätte er sich nur eingebildet und erträumt. Aufgrund dieser für den Patienten konfus-bindungslosen und für sein Empfinden widersprüchlichen Erfahrungen konnte er in jungen Jahren kein kohärentes Selbst ausbilden, und die koordinierenden Ich-Funktionen blieben defizitär. Dies zeigte sich deutlich im aktuellen Beziehungsgeschehen innerhalb seiner Partnerschaft.

Bei der Konfliktpathologie liegt der Fokus auf dem aktuellen unbewussten Konflikt, der einer Störung zugrunde liegt und der in auslösenden Situationen zum Tragen kommt. Grundsätzlich ist das konfliktneurotische Geschehen durch blockierte Eigenaktivität gekennzeichnet. Charakteristisch sind vor allem eine reduzierte Handlungsfähigkeit, unerfüllte objektgerichtete Bedürfnisse und die Widersprüchlichkeit von Handlungsimpulsen. Als Grundlage dieser Problematik finden sich Objektbeziehungen, die als zurückweisend, entwertend oder auch beschämend im Entwicklungsprozess erlebt wurden, ebenso wie negative Objektbilder und damit verbundene Affekte wie Angst, Scham und Schuld. Die interaktionellen Prozesse im konfliktneurotischen Rahmen zeichnen sich trotz aller negativen Wirkung durch einen haltgebenden und begrenzt fördernden Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung aus. Die Tatsache, dass die Objekte einschätzbar und in gewisser Weise verlässlich reagieren, bietet die Möglichkeit, trotz allem eine strukturgebende Basis zu entwickeln mit den notwendigen Regulationsfähigkeiten. Dies wirkt sich positiv auf die Qualität des Strukturniveaus aus. Bei strukturellen Beeinträchtigungen liegt der Akzent nach Rudolf (2006) auf der eingeschränkten Verfügbarkeit regulierender Funktionen in Bezug auf das Selbst und seinen Beziehungen. Dies betrifft insbesondere die nicht vorhan-

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dene oder mangelhafte Fähigkeit, sich selbst und andere kognitiv erfassen und differenzieren zu können sowie die Unfähigkeit, das eigene Handeln und Fühlen wahrzunehmen und zu steuern. Auch in der Fähigkeit, sich selbst und andere emotional zu verstehen, sich in einen emotionalen Kontakt begeben sowie emotional wichtige Beziehungen innerlich bewahren zu können (Objektkonstanz), liegen Defizite vor. Dies betrifft ebenfalls den Umgang mit dem eigenen Selbstwert und schränkt die strukturelle psychische Basis ein, sich selbst im Gleichgewicht zu halten und eine Orientierung finden zu können. Bei strukturellen Störungen zeigt sich insbesondere, dass die Patientinnen Reaktionen von außen (das passiv Erfahrene) emotional nicht oder nur schwer ertragen können. Die fehlende Fähigkeit, Zusammenhänge zu reflektieren, und die bestehenden strukturell beeinträchtigten Regulationsfähigkeiten können zu diffuser emotionaler Überflutung oder Gefühlsleere sowie zu maladaptiven Emotionen wie Verzweiflung, Schmerz, Enttäuschung, Gekränktheit und Empörung führen. Dies wiederum führt häufig zu selbstschädigendem Verhalten, Suchtentwicklung und destruktiver Beziehungsgestaltung. Rudolf (2006, S. 50) unterscheidet dabei den neurotischen Modus in Form des Internalising, bei dem das Ich die konflikthafte Spannung intrapsychisch erlebt, vom strukturellen Modus in Form des Externalising, bei dem die Spannungen dem (sozialen) Umfeld zugeschrieben und dort durch äußere Aktionen bekämpft werden, um die inneren Spannungszustände abzubauen. An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, dass die Übergänge zwischen Struktur- und Konfliktpathologie fließend sind. Jedes Ich-Funktions-Defizit kann Ausdruck oder Folge schwerwiegender intrapsychischer oder interpersoneller Konflikte sein, und ein konfliktdynamisch ableitbares Symptom kann sich in einer Hemmung bestimmter Ich-Funktionen und struktureller Fähigkeiten auswirken. Die Grenze zur Strukturpathologie zeigt sich phasenweise durchlässig, da auch eine Konfliktpathologie Spuren in der Ich-Struktur hinterlassen kann. »Die klinische Realität ist bekanntlich dadurch komplizierter, dass Aspekte von Konflikt und Struktur durchaus miteinander verwoben sind« (Rudolf, 2006, S. 52). Auch Mentzos (2000) betont, dass eine Gegenüberstellung von Konfliktpathologie versus Strukturpathologie nicht verabsolutiert werden darf: »Auch diese Strukturmängel, diese mangelhafte Entwicklung des Selbst, beruht letztlich auf Konflikten, aber auf sehr frühen Konflikten. Genetisch gesehen sind also alle psychogenen Störungen konfliktbedingt« (Mentzos, 2000, S. 83). Ein struktureller Mangel weist unter Umständen auf Konflikte aus sehr frühen Entwicklungsstufen hin, in denen noch keine hinreichend reifen Abwehrstrukturen zur Verfügung stehen. Diese frühen pathologischen Konflikte fallen in die Phase der

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Konstituierung des noch unreifen Ich und beeinflussen so dessen Struktur und Konsistenz maßgeblich. Nach Rudolf (2006) werden heute Konflikt und Struktur zunehmend als eine Ergänzungsreihe im Sinne komplementärer Erklärungsmuster von psychischen Störungen mit fließenden Übergängen verstanden. So ergeben sich auch Mischbilder von konflikt- und strukturbedingten Störungen. Daher wird bei der psychodynamischen Diagnostik im Rahmen der Fokusbestimmung und Therapieplanung berücksichtigt, dass bei einer psychischen Störung meist sowohl Struktur- als auch Konfliktanteile bedeutsam sind: »Bei der Fokusbestimmung ist darauf zu achten, dass je nach Art der Störung das Gewicht der Struktur- oder der Konfliktanteile unterschiedlich ist und dass dieses Verhältnis sich in der Auswahl der Foki widerspiegeln sollte. In eindeutigen Fällen können ausschließlich Konflikt- oder ausschließlich Strukturfoki gewählt werden. Meist sind jedoch beide Aspekte bedeutsam« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 31). 4.1.8 Übertragung und Gegenübertragung als kontextspezifisches Beziehungsgeschehen

Im Rahmen der Übertragung werden (meist unbewusste) Gefühle, Wünsche, Befürchtungen und Erwartungen, die sich aus früheren Beziehungen ergeben haben, unbewusst auf aktuelle soziale Beziehungen übertragen. Im therapeutischen Interaktionsgeschehen kann dieses Phänomen aus dem Unbewussten ins Bewusstsein gerückt werden. Dabei lässt sich zunächst erkennen, ob es sich um eine sogenannte negative oder positive Übertragung (auf den Therapeuten) handelt, die dann entsprechend bearbeitet werden kann. Bei der Gegenübertragung handelt es sich um die beim Therapeuten entstehende emotionale Reaktion auf die Patientin. Dabei können sich in einer übereinstimmenden, konkordanten Identifikation in der Gegenübertragung bei dem Therapeuten Gefühle zeigen, wie sie die Patientin mit Beziehungspartnern erlebt oder früher erlebt hat. In einer gegensätzlichen, komplementären Identifikation entstehen in der Gegenübertragung des Therapeuten ähnliche Gefühle, wie sie ein früherer oder aktueller Beziehungspartner gegenüber der Patientin hat oder hatte (vgl. Wöller u. Kruse, 2010). In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie werden diese Übertragungsphänomene beachtet und für den therapeutischen Prozess durch die Reflexion des Behandlungsfokus nutzbar gemacht (vgl. Rudolf, 2010). Dabei stellt sich der Therapeut auch als Entwicklungsraum für die Nutzung, teilweise auch Wiederentdeckung und Erweiterung der IchFunktionen zur Verfügung. Dieser geschützte Raum bietet die Möglichkeit zur Reflexion des aktuellen Konflikts mit den dafür bedeutsamen biografischen Erinnerungen des konflikthaften Beziehungsgeschehens. Die mit den belasten-

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den Beziehungserfahrungen zusammenhängenden Kränkungen und Enttäuschungen werden mit den zugehörigen Affekten und Emotionen bewusst und erfahrbar gemacht, wodurch sie bearbeitet werden können. Durch diese Form der therapeutischen Arbeitsbeziehung bietet sich ein interpersonaler Experimentierraum, der längerfristig ebenfalls eine korrigierende Beziehungserfahrung ermöglicht. Eine Übertragungsneurose (durch Übertragungsvorgänge mobilisierte und aktualisierte Konflikte der Patientin) im eigentlichen Sinne, wie dies in der klassischen Psychoanalyse (Patientin auf der Couch liegend ohne direkten Blickkontakt zum zurückhaltend agierenden Therapeuten) der Fall ist, soll jedoch vermieden werden. Denn das Ziel der klassischen Psychoanalyse ist es, verinnerlichte konflikthafte Gefühle zu den ursprünglichen Bezugspersonen in einem sehr ausgeprägten Maß auf den Analytiker zu übertragen und in dieser Wiederholung zu bearbeiten. So entsteht durch mehrmalige wöchentliche Sitzungen eine tiefe und langwierige Übertragungsneurose. Dies wird in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie nicht angestrebt, um die realen Beziehungszusammenhänge der Patientin zu nutzen und im aktuellen Zusammenhang eine emanzipatorische und selbstbestimmte Entwicklung zu fördern. Im Vordergrund steht die Bearbeitung der für die psychische Störung bedeutsamen bewussten und unbewussten Denk- und Verhaltensmuster (GegenwartsUnbewusstes) in den aktuellen sozial-emotionalen Systemen der Patientin. In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie mit einer wöchentlichen Sitzung und einer reduzierten Regressionstiefe kommt es wie in jeder zwischenmenschlichen Beziehung zu positiven wie auch negativen Übertragungen, die im therapeutischen Prozess genutzt werden. Der jeweiligen Situation angemessen, findet dies in aktiv aufdeckender Form statt, um unbewusste Beziehungsmuster transparent zu machen und bei der Patientin über die Einsicht neue Entwicklungsschritte zu ermöglichen. Im therapeutischen Kontakt entsteht zwangsläufig eine für Therapeut und Patientin unmittelbar erlebbare und spürbare interpersonelle Realität. Über das reflektierte Interaktionsgeschehen können sowohl konfliktbehaftete als auch ressourcenorientierte Beziehungsmuster aus dem Unbewussten ins Bewusstsein gerückt und im Prozess in unterschiedlichen Konstellationen bearbeitet werden. Unter Einbeziehung der jeweiligen biografischen Dimension mit den zugehörigen Emotionen und Affekten kann hier ein vertieftes Verstehen von maladaptiver Abwehr- und Beziehungsgestaltung ebenso wie ein neues Bewusstsein für eigene vorhandene Ressourcen und Kompetenzen zur Gestaltung von Beziehungen entstehen. Unbewusste Konflikte, welche die bisherige Interaktion mitbestimmt haben, können an dieser Stelle erkannt und beleuchtet werden. Dies erlaubt im Prozess zunächst eine innere Distanzierung von immer wieder destruktiv erfahrenen

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Verhaltensmustern und ermöglicht im zweiten Schritt eine Veränderung des bisherigen Verhaltens aufgrund einer neuen Einsicht. Dies wird durch die insgesamt korrigierende Beziehungserfahrung im therapeutischen Prozess unterstützt und gestärkt mit dem Ziel der Entwicklung eines eigenen neuen, adäquaten Musters der Beziehung zu sich selbst und zu anderen. In diesem Beziehungsgeschehen stellt die therapeutische Einfühlung eine wichtige Konstante innerhalb der therapeutischen Grundhaltung dar, um das Erkennen und die Reflexion der Beziehungsmuster zu ermöglichen. Die Nutzung positiver wie auch negativer Übertragungsphänomene stellt die Grundlage für diesen interaktionellen Prozess dar. Beide Interaktionspartner stellen sich aufeinander ein und wiederholen unvermeidlich (auf beiden Seiten) weitgehend unbewusste Interaktionsmuster, die es zu reflektieren gilt. Innerhalb der therapeutischen Interaktion können minimale Hinweise im Verhalten des Therapeuten für die Patientin ein für ihr Leben typisches Szenario wiederholen. Das folgende Fallbeispiel illustriert dieses Geschehen: Fallbeispiel 3 In einem laufenden Therapieprozess, in dem die Patientin sowohl über ihre depressive Symptomatik als auch über die sich daraus ergebenden Konflikte am Arbeitsplatz berichtet hatte, stellte der Therapeut unter anderem auch eine Frage nach dem Befinden ihres kranken Arbeitskollegen. Dies führte bei der Patientin zu heftigen Schuldgefühlen und sofortigen Rechtfertigungstendenzen gegenüber dem Therapeuten (Übertragung). Durch Spiegelung der Situation und eine vertiefte Reflexion war es der Patientin möglich, den Zusammenhang zwischen der aktuellen Situation und einer für sie bedeutenden biografischen Erfahrung herzustellen. Damals hatten die Eltern von der Patientin erwartet, stets für ihren kleinen Bruder zu sorgen. Sie erinnerte sich an eine Situation, in der sie mit ihrer Freundin intensiv gespielt hatte und ihr Bruder unbemerkt im Teich beinahe ertrunken wäre. Dies wurde ihr jahrelang als Fehlverhalten vorgehalten. Nach und nach hatte sich diese belastende Schuldproblematik unbewusst auf andere Lebensbereiche übertragen und bei der Patientin zum inneren Konflikt geführt, ihre eigenen Bedürfnisse nicht erkennen und umsetzen zu dürfen. Das Rücksichtnehmen hatte für sie immer Vorrang. Während die Patientin ihre innere Not hinter rationalen Erklärungsversuchen zu verbergen versuchte, entstand bei dem Therapeuten ein Gefühlsgemenge aus Trauer, Wut und intensivem Mitgefühl (konkordante Gegenübertragung). Ihre Enttäuschung, ihre Wut und ihre Trauer gegenüber Personen (versagenden Objekten), die sie in ihrer Not nicht unterstützt haben, hatte die Patientin sich bisher nicht erlaubt zuzulassen. In den folgenden Therapiesitzungen spiegelte der Therapeut der Patientin durch die Mitteilung sei-

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ner Gegenübertragungsgefühle nach und nach diese von ihr bisher abgewehrten bzw. nicht bewussten Gefühlsanteile. Die emotional affektive Bearbeitung der für die Patientin bisher unbewussten Gefühlsanteile und die neue Einsicht sowohl in ihre intrapsychische Verarbeitungsform als auch in die sich dadurch verfestigten interaktionellen Muster, durch die die Patientin in ihrer aktuellen Lebenssituation immer wieder in heftige Konflikte gerät, eröffneten ihr eine neue Sicht auf sich selbst und ihren Umgang mit den für sie wichtigen Bezugspersonen. Dies ermöglichte ihr neue Handlungsoptionen hinsichtlich einer selbstbestimmten Lebensgestaltung. Die Integration der bisher von der Patientin unterdrückten, nicht erlaubten Gefühle war die Grundlage für die deutliche Reduzierung der depressiven Symptomatik.

Kritische Lebenssituationen erfordern eine besondere Berücksichtigung der Beziehung zwischen innerer und äußerer Realität mit der Betrachtung von äußeren Fakten und inneren psychischen Vorgängen (vgl. auch Kallenbach, 2013). Frühe und in der Biografie bedeutsame Objektbeziehungen und ihre Wiederholungen bekommen an dieser Stelle eine deutliche Relevanz. Insgesamt ist zu bedenken, dass sich Übertragungsphänomene in jedem Interaktionsgeschehen des täglichen Lebens finden lassen. Dysfunktional werden sie dann, wenn es sich um starre, die aktuelle Realität verzerrende und nur schwer oder gar nicht korrigierbare Übertragungen handelt. Werden in einer Psychodynamischen Psychotherapie diese Übertragungsprozesse in Kombination mit den Gegenübertragungsprozessen des Therapeuten genutzt, um bisher nicht integrierte bzw. unbewusste innere Phänomene und Gefühle der Patientin zu erfassen, kann dadurch der konstruktive Veränderungsprozess intensiviert werden. 4.1.9 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in der aktuellen Anwendung

Unter tiefenpsychologisch fundierter (oder dynamischer) Psychotherapie sind dialogische Behandlungsverfahren zu verstehen, die auf der psychoanalytischen Krankheitslehre beruhen und auf die Ursachen der Störung ausgerichtet sind. Durch eine besondere Anpassung der Behandlungstechnik wird ein therapeutischer Prozess ermöglicht, der die individuellen Bedürfnisse und Erfordernisse der Patientin und ihres Störungsbildes intensiv berücksichtigt. Der Begriff »Tiefe« verweist hier auf eine spezifische psychische Bedeutung der Erkenntnis gegenüber einer rein deskriptiven »oberflächlichen« Betrachtung. In Abgrenzung zur Psychoanalyse begrenzt sich die Tiefe in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie auf den vereinbarten Fokus im Zusammenhang mit dem therapeutischen Ziel. Jaeggi und Riegels (2008) betonen, dass

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in einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie die »therapeutische Breite« im Sinne der bearbeiteten Themen gegenüber der Psychoanalyse nicht so groß sei, aber die Tiefe im Rahmen der eingegrenzten Zielerreichung durchaus gewahrt bleibe. Im Rahmen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie kommen sowohl die Lebensgeschichte mit den für die Persönlichkeit bedeutsamen frühen Beziehungserfahrungen als auch die dadurch entstandenen Wirklichkeitskonstruktionen für die aktuelle Situation zum Tragen. Zusätzlich besteht für diese Erlebnisverarbeitung eine innere Eigendynamik, die unter den Einflüssen neuer Erfahrungen mit allen unbewussten Wünschen und Motiven von der Patientin vielfach überarbeitet wird und entsprechend zu berücksichtigen ist. Dies verdeutlicht noch einmal den Prozess der Selbstorganisation. Seit 2009 hat sich der Behandlungsrahmen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie erweitert. Sah dieser zuvor insbesondere die Bearbeitung neurotischer konfliktorientierter Störungen mit psychischer oder somatischer Symptomatik vor, so wurde dies im Rahmen der aktuellen Psychotherapie-Richtlinien dahingehend geändert, dass neben den konfliktbezogenen neurotischen Störungen auch die strukturellen Störungen unter Beachtung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand behandelt werden können (Gemeinsamer Bundesausschuss, 2013). Diese thematische Erweiterung unterstreicht die therapeutische Wirksamkeit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie für den Bereich struktureller Störungen. Auch bei verschiedenen körperlichen Erkrankungen kann eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zur Verbesserung der Krankheitsbewältigung und somit unter Umständen auch zur Eingrenzung und Verhinderung einer weiteren Chronifizierung beitragen. Als Voraussetzung gilt, dass sich die Patientin nicht ausschließlich auf die somatischen Symptome fixiert, sondern die Bereitschaft zeigt und die Möglichkeit hat, den symptomtragenden Hintergrund zu beleuchten und reflektierend zu bearbeiten. In einer breiteren Konzeption tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie werden neben neurotischen Störungsbildern daher zunehmend auch Patientinnen mit schweren Persönlichkeitsstörungen, Patientinnen mit körperlichen (somatischen) oder psychosomatischen Störungen sowie Patientinnen mit Suchterkrankungen oder anderen Ich-strukturellen Störungen behandelt. Nach Wöller und Kruse (2010) ist eine breitere Konzeption der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie auch durch die gegenwärtige psychotherapeutische Versorgungsrealität gerechtfertigt, ohne die eine zeitgemäße Patientenversorgung gar nicht zu gewährleisten wäre (vgl. auch Rosenberg, 2009; Poser, 2010). So bietet sich für die Behandlung von Störungen im Ich-strukturellen Bereich (wie Persönlichkeitsstörungen) zum Beispiel die niederfrequente Therapie im

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Sinne einer längerfristigen haltgebenden therapeutischen Beziehung als Sonderform der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie an (vgl. Gemeinsamer Bundesausschuss, 2013). Hier können die Fähigkeit zur Kommunikation, zu emotionalem Austausch und zu emotionaler Ausrichtung auf den anderen in den Vordergrund gestellt werden, um die früh geschädigten Aspekte des Selbst, des Selbstbildes, der Selbstkohärenz, der Selbstabgrenzung und der Selbststeuerung zu stabilisieren. In dieser speziellen Variante der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie können Ich-strukturell gestörte Patientinnen mit einem supportiven Schwerpunkt behandelt werden. Auch bei dieser Patientengruppe ist die psychische Struktur lebenslang entwicklungsfähig, wobei sich die Veränderungsgeschwindigkeit häufig als sehr langsam zeigt, was leicht den Eindruck von Konstanz erweckt. Der Arbeitskreis OPD (2006, S. 114) weist darauf hin, Struktur unter dynamischen Gesichtspunkten zu betrachten, und führt dazu folgendermaßen aus: »Psychische Strukturen sind, aus einer Entwicklungsperspektive betrachtet, dynamisch, da sie sich lebensgeschichtlich bilden. Zwar gründen sie auf genetisch verankerten Persönlichkeitsdispositionen, werden aber während der Kindheit erst geformt und unterliegen im Verlauf der Lebensentwicklung mehr oder weniger großen Veränderungen«. Durch die Integration neuer Informationen verändern sich psychische Strukturen, wodurch sich allmählich eine neue Regelhaftigkeit herstellen lässt, die sich im Rahmen der Integration weiterer Informationen im Verlauf erneut verändern kann. Insgesamt liegt der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie eine Perspektivenvielfalt zugrunde, die sich während des gesamten therapeutischen Prozesses in der diagnostischen Grundhaltung widerspiegelt. Diese Anpassungsmöglichkeiten an die jeweiligen Präferenzen und Notwendigkeiten der Patientinnen und an die jeweils spezifische Situation basieren immer auf der tiefenpsychologischen Grundorientierung und unterliegen der stetigen Reflexion des therapeutischen Geschehens vor dem Hintergrund von Abwehr, Widerstand, Übertragung und Gegenübertragung. Im Übertragungs-GegenübertragungsGeschehen geht es darum, das Unbewusste der Patientinnen (aber auch die in diesem Zusammenhang vom Therapeuten immer selbst zu reflektierenden mitschwingenden eigenen unbewussten Anteile des Therapeuten) zu analysieren und im therapeutischen Prozess in angemessener Form zu reflektieren. So kann es situationsbedingt, je nach Zeitpunkt der Behandlung, Stand der Therapie und der Problematik der Patientinnen, sinnvoll sein, im therapeutischen Prozess eine intrapsychische oder eher eine interpersonelle Sichtweise zu fokussieren. Die intrapsychische Sichtweise konzentriert sich auf die ablaufenden inneren Prozesse im Zusammenhang mit Wünschen, Ängsten, Fantasien oder Überzeu-

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gungen und den damit verbundenen intrapsychischen Konflikten. Im Rahmen der damit eng verzahnten interpersonellen Sichtweise stehen das Objektbeziehungsgeschehen im interaktiven Bereich und die damit verbundenen verinnerlichten Beziehungsmuster, die latent wirkenden Identifikationen, Internalisierungen und Introjekte im Vordergrund. »Analog zu den intrapsychischen Konflikten, Abwehrformen und Defiziten identifizieren wir interpersonelle Konflikte, interpersonelle Abwehrmuster und Defizite der interpersonalen Kompetenz« (Wöller u. Kruse, 2010, S. 26). Durch diese enge Verwobenheit können durch psychische Vorgänge der Identifikation, Introjektion und Internalisierung aus interpersonellen Prozessen intrapsychische werden. Umgekehrt können durch Vorgänge der Projektion und Externalisierung aus intrapsychischen Prozessen interpersonelle Prozesse werden. Daher betonen neuere Objektbeziehungstheorien die Bedeutung der biografisch bedeutsamen realen Interaktionspartner und der realen Objekterfahrungen, die sich als innere Objektrepräsentanzen oder innere Objekte strukturell niederschlagen. Durch diese internalisierten Objekte ist das Selbst ständig Gegenstand der intrapsychischen Bewertung. Deshalb kann es durch problematische Beziehungserfahrungen zur Entwertung des eigenen Selbst kommen, was sich intrapsychisch in den Selbstrepräsentanzen, den Vorstellungen von der eigenen Person, abbildet und das Selbstwerterleben gravierend beeinflusst. Phasenweise oder auch störungsspezifisch kann die Betonung in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie auch auf der Bearbeitung der Ich-Fähigkeiten liegen. Hier können unzureichend ausgebildete oder im Zuge des eskalierenden Konflikts eingeschränkte Ich-Funktionen beleuchtet und im Sinne von Abwehrmöglichkeiten und Bewältigungsorientierung gestärkt und stabilisiert werden. Nochmals ist hier anzumerken, dass Ich-Funktions-Defizite auch als Folge schwerwiegender intrapsychischer oder interpersoneller Konflikte auftreten können. Allerdings ist es im Umkehrschluss auch möglich, dass Konfliktlagen durch mehr oder weniger relevante Einschränkungen der Ich-Funktionen ausgelöst werden bzw. damit verknüpft sind. In diesem Zusammenhang kann der therapeutische Prozess aus der Problemperspektive, aber ebenso aus einer Ressourcenperspektive forciert werden und störungsorientiert oder auch störungsübergreifend konzipiert sein. Grundsätzlich ist psychodynamisches Denken aber zuallererst konfliktorientiert, weshalb die Konfliktperspektive einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Der jeweilige neurotische Grundkonflikt, die daraus entwickelten lebensgeschichtlich gewachsenen Abwehr- und Bewältigungsformen und die Psychodynamik der Konfliktaktualisierung stehen bei der therapeutischen Arbeit im Vordergrund. Hierbei ist zu prüfen, wann und wodurch die lebensgeschichtliche Dis-

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position durch aktuelle Lebensereignisse eine Zuspitzung erfahren hat, die das innere Gleichgewicht und auch die bisher intakten Bewältigungsstrategien so sehr belasten, dass es zu der Ausbildung gravierender und belastender Symptome gekommen ist. Der systematischen Konzeptualisierung unbewusster Konfliktmuster liegt die Annahme zugrunde, dass Symptome und Problematiken als Ausdruck (unbewusster) intrapsychischer und/oder interpersoneller Konflikte auch systemisch zu verstehen sind und dass die Erforschung, die Bewusstmachung, die Benennung und schließlich das Verständnis dieser unbewussten Wünsche oder auch Ängste das Geschehen günstig beeinflusst und den Umgang mit den jeweiligen Thematiken wesentlich erleichtert. Eine sorgfältige Diagnostik und ein damit verbundener therapiestrategischer Behandlungsplan legen fest, welche Problembereiche fokussiert werden und welche Interventionsformen im jeweiligen Fall bevorzugt zum Einsatz kommen sollen. Unter Beachtung der psychodynamischen Prozesse ist das therapeutische Vorgehen unter besonderer Beachtung möglicher Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene konsequent an den Reaktionen der Patientin zu orientieren und gegebenenfalls entsprechend zu modifizieren. Aus heutiger tiefenpsychologischer Sicht handelt es sich bei dem zu beachtenden Phänomen des Widerstandes um die Haltung der Patientin, sich nicht auf die erforderlichen Schritte umfänglich einzulassen, die notwendig wären, um ihr Therapieziel zu erreichen. Wöller und Kruse (2010) betonen die Wichtigkeit, Widerstand stets auf das Therapieziel zu beziehen und nicht auf eine wie auch immer gestaltete Form des Verhaltens gegen den Therapeuten oder die Therapie (vgl. Kapitel 5.9.2; siehe Abbildung 3). Daraus ergibt sich, die Patientin in ihrer Schutzhaltung ernst zu nehmen und in einer haltgebenden Beziehung gemeinsam die dahinterliegenden Umstände zu erforschen und bewusst zu machen. Bei der Auseinandersetzung mit schmerzhaften Gefühlen durch das Erinnern belastender Geschehnisse oder Konflikte im Zusammenhang mit den aktuellen Gegebenheiten und dem angestrebten Therapieziel der Patientin können erste neue Möglichkeiten der Betrachtung und des Umgangs entwickelt werden. Die fortwährende Anpassung des therapeutischen Vorgehens ist eng mit der Frage verbunden, welches therapeutische Angebot und welche therapeutische Intervention die Patientin benötigt, damit der therapeutische Prozess nutzbringend durchgeführt werden kann. So können unter Beachtung einer tiefenpsychologisch fundierten Grundhaltung mit den Aspekten Abwehr, Widerstand, Übertragung und Gegenübertragung auch zunehmend erweiternde, wissenschaftlich fundierte Interventionsmöglichkeiten zum Einsatz kommen. Um den therapeutischen Prozess anzustoßen und zu optimieren und um die Behandlungsziele

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Abbildung 3: Widerstand als dynamisches interaktionelles Phänomen

zu erreichen, können zahlreiche Interventionen auch anderer Psychotherapieschulen adaptiert und modifiziert werden. Ihr Einsatz und ihre Anwendung in bestimmten Situationen mit dem Ziel, spezifische Behandlungsergebnisse zu erreichen, ist stets konsequent vor dem Hintergrund einer tiefenpsychologisch fundierten Grundhaltung zu reflektieren. Unter diesen Umständen können spezifisch tiefenpsychologisch fundierte Interventionsformen mit strukturfördernden oder eklektischen Techniken verbunden werden, wobei die Orientierung an der unbewussten Dimension des Geschehens der Dreh- und Angelpunkt bleibt. Auch der Umgang mit dem Stundenkontingent erfolgt in Abstimmung mit den Erfordernissen des jeweiligen therapeutischen Prozesses. In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist das Verhalten des Therapeuten, im Unterschied zur klassischen analytischen Psychotherapie, durch Formen des aktiven Zuhörens mit einer selektiven Abstinenz im Sinne einer höheren Interventionsaktivität unter Verwendung gezielter sprachlicher oder auch symbolischer Interventionen gekennzeichnet (vgl. Ermann, 2004; Wöller u. Kruse, 2010). Dabei zielt die Behandlungsstrategie darauf ab, das Verhalten und Erleben im Hinblick auf unbewusste Hintergründe und Motive zu untersuchen und die individuelle Psychodynamik sowie zwischenmenschliche Prozesse zu

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erhellen. Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zentriert methodisch auf die Bearbeitung der aktuellen psychosozialen Konflikte unter besonderer Beachtung und Erforschung der Reaktualisierung von unbewussten (früheren und frühen) Beziehungserfahrungen in den gegenwärtigen Beziehungen. Diese kommen in Auslösesituationen zum Tragen und haben für die Symptombildung, die Dekompensation der Abwehrmechanismen und insgesamt für die Entwicklung psychischer Störungen eine maßgebliche Bedeutung. »In den psychodynamischen Verfahren werden die bewusstseinsnahen Probleme der Patienten in ihrer unbewussten Dimension behandelt« (Ermann, 2004, S. 437). So wird, um das aktuelle Erleben vertiefend zu verstehen, ein Bezug zur Lebensgeschichte hergestellt, was zum Wiederfinden und zum Verständnis der eigenen Geschichte und der eigenen Wurzeln beiträgt. Das Ziel ist eine weitgehende Auflösung der aktuellen Konflikte und der dadurch bedingten psychischen Störungen, um so eine angemessene und möglichst selbstbestimmte Alltags- und Lebensbewältigung zu ermöglichen. Auch eine korrigierende Beziehungserfahrung gehört zu den Wirkfaktoren der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, in der sich die Patientin ihrer internalisierten maladaptiven Beziehungsmuster bewusst wird und über diesen therapeutischen Rahmen verändern kann. Dabei bildet die Erfahrung einer vertrauensvollen, verlässlichen, haltenden und entwicklungsfördernden therapeutischen Beziehung die Grundlage. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie fokussiert und begrenzt sich in der Therapieplanung und Durchführung auf umschriebene Situationen und Ziele, die sich aus aktuellen Veränderungen, Beanspruchungen und Belastungen im Leben der Patientin ergeben und für die Patientin mit ihren bisherigen bewährten Bewältigungsstrategien nicht mehr lösbar sind. Hier geht es vor allem um die angemessene Aufdeckung und Bearbeitung von auf unbewussten Grundkonflikten beruhenden und durch bestimmte Situationen ausgelösten, reaktualisierten Beziehungsrepräsentanzen sowie um maladaptive Beziehungsmuster, die die reife Abwehr zum Zusammenbruch gebracht und krankheitswertige Symptomatiken ausgelöst haben. Im Vordergrund steht immer ein gegenwartsund zukunftsorientiertes Therapieziel, was im Rahmen der kontingentierten Therapiesitzungen auch realistisch und erreichbar erscheint. Die therapeutische Arbeit ist ausgerichtet auf die aktuell überwiegende unbewusste Konfliktdynamik und hier vorrangig auf deren erlebnisnahe Anteile. Im Rahmen der tiefenpsychologisch fundierten Vorgehensweise soll auf die durch aktuelle Lebensumstände wiederbelebten biografischen, unbewussten Vorgänge regressionsbegrenzend fokussiert werden. Das Interesse gilt immer überwiegend der aktuellen Lebensrealität der Patientin und dem Umgang der Patientin mit ihrer sozialen Realität aus ihrer Sicht.

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Diese ist von unbewussten Voreinstellungen, Identifikationen, Internalisierungen und Introjekten geprägt. In der Therapie können nun Patientin und Therapeut diese Außenwelt betrachten. Zudem kann der Therapeut unter Beachtung des Übertragungs-, Gegenübertragungs-, Abwehr- und Widerstandsgeschehens durch Hinterfragen und Zurückspiegeln die Erforschung und das Verständnis der inneren Welt der Patientin fördern, sodass auch eine veränderte Einstellung zur Außenwelt möglich wird. In der Therapie können nun konkrete Alternativen zu den bisherigen Mustern entwickelt und ein entsprechendes Probehandeln außerhalb der Therapie ermöglicht werden. Dieses kann anschließend innerhalb der Therapie reflektiert und besprochen werden. Unter Nutzung des haltgebenden Schutzes der therapeutischen Beziehung können bislang vermiedene Situationen oder Anforderungen in Angriff genommen werden. Phasenweise übernimmt der Therapeut hier auch eine Hilfs-Ich-Funktion, indem er zu Veränderungen ermutigt, unterstützend bestärkt und somit Misserfolge auffängt. Über das Erleben der korrigierenden Beziehungserfahrung in der therapeutischen Beziehung kann sich für die Patientin die Möglichkeit eröffnen, sich nun ebenfalls außerhalb der Therapie selbststärkende, schützende und heilsame Selbstobjekterfahrungen zu verschaffen (vgl. Boessmann, 2006). Aufgrund der außerordentlich flexiblen Einsatzmöglichkeiten findet sich bei der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ein breites Indikationsspektrum, das sowohl in der ambulanten als auch stationären Versorgung und auch im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung genutzt werden kann. Die Versorgungsrelevanz ist relativ hoch, da aufgrund der adäquaten Berücksichtigung der psychosozialen Aspekte des Krankseins und der besonderen Anpassungsmöglichkeiten der Behandlungstechnik an die individuellen Gegebenheiten der Patientinnen eine für den Therapieprozess notwendige Motivierung der Patientinnen gut gelingen kann. Dies alles steht unter stetiger Berücksichtigung der unbewussten psychodynamischen Prozesse im biografischen Zusammenhang sowohl mit frühen Erfahrungen als auch mit der Wirksamkeit des aktuellen Unbewussten und der Bedeutung der Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse im therapeutischen Geschehen. Auch die aktuelle Wirksamkeit der Widerstände in Form intrapsychischer und interpersoneller Schutzhaltungen und Abwehrmechanismen der Patientinnen kommt dabei zur Beachtung und Reflexion.

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4.2 Systemische Psychotherapie Mit der Entwicklung der systemischen Psychotherapie wurde eine neue Grundlage für die Erklärungsmodelle zum individuellen Verhalten und Erleben geschaffen. Galten bis dahin intrapsychische Abläufe und Motive oder Lernbedingungen der Umwelt als wichtige Erklärungen für menschliches Erleben und Verhalten, traten nun als bedeutsame Ergänzung die rekursiven Wechselbeziehungen der Patientin mit den Verhaltens- und Kommunikationsformen der Interaktionspartner als neuer Indikator hinzu. Die systemische Theorie entwickelte sich ab den 1950er Jahren in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen, sodass die Familien- und Systemtherapie mehrere Gründungsväter und -mütter aufweist (von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Von psychotherapeutischer Seite führten vor allem die ohnmächtigen Erfahrungen bei der Behandlung psychotischer Patientinnen und die damit verbundene Erkenntnis des Eingebundenseins der Familienmitglieder in die Problematik zu neuen Behandlungsmethoden, die bei aller Unterschiedlichkeit den Fokus in einem systemtheoretischen Sinne auf die Vorstellung von zirkulären Rückkopplungsprozessen in sozialen Systemen richteten und damit das bislang vorherrschende Denken in geradlinigen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen aufgaben (Saß u. Bateson, 1969; Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1969). Gregory Bateson entwickelte mit seinen Kollegen als Erster eine Reihe von neuen Kategorien, um die Eigenschaften von Beziehungen, dynamischen Prozessen und Interdependenzen innerhalb von Systemen sowie von System-Umwelt-Beziehungen erfassen zu können (Bateson, 1981). Aus dieser erweiterten Sicht auf das Gesamtsystem der Patientin heraus erschien ihre Symptomatik als sinnhaft und in sich schlüssig. Die ersten Erfahrungen in der therapeutischen Arbeit mit dem gesamten Familiensystem waren geprägt von der Faszination, die Interaktionsregeln zwischen den Familienmitgliedern direkt beobachten zu können und nicht wie gewohnt die intrapsychischen Vorgänge, die Gedanken und Gefühle der Patientin lediglich mit Hilfe teilweise hypothetischer Konstrukte zu erfassen. Dadurch entwickelte sich vorübergehend die Vorstellung, es sei einfacher und erfolgreicher, ein Interaktionssystem zu therapieren als ein Individuum. In diesem Fall wäre es zum Beispiel möglich, durch eine Verschreibung des Krankheitssymptoms die Patientin zu bitten, das symptomatische Verhalten noch eine Zeit lang zu zeigen oder durch die Verstärkung ihres Verhaltens das bestehende Familienspiel aus dem Gleichgewicht zu bringen und dadurch neue Organisationsprozesse anzuregen. Diese Vorstellung sollte sich nur zum Teil erfüllen, verfügten doch die Familiensysteme auch über eine Reihe unsichtbarer (unbewusster) Regeln

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und Muster, nach denen sie sich unplanmäßig und nicht vorhersehbar nach den Prinzipien der Selbstorganisation verhielten. Das systemische Modell forderte im Rahmen der Psychotherapie unmissverständlich dazu auf, die einseitige Ursachenzuschreibung auf die Patientin aufzugeben und sich von der Vorstellung zu verabschieden, Symptome würden sich allein durch pathologische Zusammenhänge im individuellen psychischen System erklären lassen. Die Verschiebung des Fokus bei der Beobachtung und Intervention zu den transaktionalen Mustern und Regeln des Gesamtsystems machte es möglich, therapeutische Interventionen zu nutzen, um die sozialen Systeme (in der Regel Familien oder Paare) zu sprunghaften Strukturveränderungen anzuregen – mit überraschenden therapeutischen Erfolgen. Die Rolle des Therapeuten veränderte sich im systemischen Modell von einem Experten für gesunde Strukturen (mit der damit verbundenen Verantwortung) hin zu einer allparteilichen und im Rahmen der Lösungsfindung zur Neutralität verpflichteten Person. Diese Rollenverschiebung ermöglichte der Patientin eine kontinuierliche Außenperspektive, um sich ihrer wechselseitigen Selbst- und Fremdinterpretationen der Realität bewusst zu werden. Durch gezielte Anstöße mittels spezieller Fragen oder symbolischer Interventionstechniken wurden neue Freiräume für alle am System Beteiligten geschaffen, um die bisherigen Regeln zu verändern. Dabei genügten schon vergleichsweise geringe Anstöße, um schnelle und auch diskontinuierliche Veränderungen zu erreichen mit dem Ziel, die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen zu erweitern. 4.2.1 Historische Entwicklung der systemischen Therapie

Systemisches Denken stellt zunächst eine allgemeine Perspektive dar, der verschiedene systemtheoretische und kybernetische Konzepte und Theorieansätze zugrunde liegen. Diese Konzepte beziehen sich auf bestimmte Anwendungs- und Geltungsbereiche und gehen von der Annahme aus, dass das Verhalten von Elementen nicht aus ihrem endogenen So-Sein, sondern aus den Beziehungen zu anderen Elementen zu erklären ist. Das systemtheoretische Denken setzte sich in der Folge in mehreren Wissenschaftszweigen durch, und bei aller Unterschiedlichkeit besteht bis heute das Gemeinsame dieses Denkens in der Erforschung komplexer und dynamischer Zusammenhänge in Systemen (von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Im Mittelpunkt steht das vernetzte zirkuläre Betrachten von sozialen Interaktionen und nicht die reduzierte Betrachtung isolierbarer Effekte oder Teilsituationen. Die Systemtheorie wurde zu Beginn ihrer Entwicklung von dem Systemansatz in der Biologie entscheidend mitgeprägt. Von Bertalanffy, der bekannteste Vertreter dieses Ansatzes, definierte in seinem Werk »General System Theory«

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Systeme als Gebilde, die aus verknüpften Elementen bestehen und sich stets im Zustand eines Fließgleichgewichts befinden (Bertalanffy, 1968). Systeme stehen in einem wechselseitigen und dynamischen Austausch mit anderen Systemen und weisen so auf die beiden Aspekte Komplexität und Abgrenzbarkeit hin. Systemisches Denken ergibt sich demnach aus der Betrachtung von Systemen als ein »spezifischer Satz von Elementen und Objekten zusammen mit deren Beziehungen zwischen diesen Objekten und deren Merkmalen« (Hall u. Fagen, 1956). Die Psychologie übernahm in den 1950er Jahren den Ansatz der Systemtheorie aus mehreren Wissenschaftsbereichen, darunter den Natur- und Sozialwissenschaften sowie der Kommunikationstheorie (Lewin, 1975). Die Vorstellung von der Systemtheorie als einem Modell, das den Einzelwissenschaften transdisziplinär zuzuordnen ist, nimmt Kriz (2010) in seinem Konzept der Systemtheorie als Metamodell im Rahmen der Psychotherapie wieder auf. In der systemischen Psychotherapie liegt der Fokus auf der Analyse der Wechselwirkungen von sozialen Situationen und ihrem jeweiligen Einfluss aufeinander. Willke (1993) spricht in diesem Zusammenhang von dem Ziel aller Programme, das Problem der Komplexität ohne reduktionistische Kurzschlüsse lösen zu wollen. Durch die Entwicklungsströmungen in den wissenschaftlichen Disziplinen hat die systemische Theorie verschiedene Verläufe genommen, und auch in den familien- und systemtherapeutischen Schulen zeigten sich große Unterschiede (für einen Überblick siehe von Schlippe u. Schweitzer, 2012; Schiepek, 1991; Ludewig, 1993, 2013). Betrachtet man die historische Entwicklung der systemischen Therapie aus heutiger Sicht, lassen sich einige richtungsweisende Impulse erkennen. Für die Sozial- und Geisteswissenschaften entstanden die ersten Erfolge des systemtheoretischen Denkens aus den Ansätzen der Kommunikationstheorie. Hier wurden zum ersten Mal kommunikative Vorgänge transpersonal beschrieben, ohne auf biologische oder physikalische Analogien zurückgreifen zu müssen. So erforschten beispielsweise Forschergruppen um Bateson und Mead sowie Watzlawick gemeinsam mit Praktikern, unter ihnen Virginia Satir und Salvador Minuchin, redundante, in der Kommunikation entstehende Interaktionsmuster mit dem Ziel, durch empirische Untersuchungen transaktionale Muster erkennen und danach Regeln für das zwischenmenschliche Verhalten aufstellen zu können (Watzlawick et al., 1969; Watzlawick, Weakland u. Fisch, 1974; Bateson, 1981). Sie beobachteten die Dynamik zwischenmenschlicher Interaktionen als Rückkopplungskreisläufe, in denen sich Ursache und Wirkung im Sinne einer linearen Logik nicht trennen lassen, sondern in einer zirkulären Kausalität miteinander verbunden sind (Wiener, 1969). Diese Dynamik wurde in Kommunikationsregeln und entsprechenden transaktionalen Mustern beschrieben. Dell

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(1986) erweiterte dieses Konzept um die Vorstellung der Koevolution von Mustern und löste damit nicht nur das Verursacherprinzip auf, sondern integrierte bei der Beobachtung und dem Erkennen von Mustern zusätzlich die Rolle und Bedeutung des Beobachters (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 149). Die Bedeutung der gleichzeitigen inhalts- und beziehungsorientierten Kommunikationsmuster zwischen Personen nutzte das systemische Modell und erfasste den Grad der jeweiligen Übereinstimmung der Beteiligten in ihren Ansichten, Ideen und Gefühlen. Erkennbar wurden Kommunikationsabläufe zwischen einzelnen Partnern mit komplementären oder symmetrischen Strukturen, die zwar von außen durch einen Beobachter erkennbar, aber nicht linear veränderbar waren. So konnten auch psychische Störungen als Elemente eines absurden und unhaltbaren zwischenmenschlichen Kontextes erkannt werden, wie es unter anderem in dem Modell des »double bind« beschrieben wird. Auch wenn die von Bateson und seinen Mitarbeitern entwickelte Theorie des »double bind« bis heute wissenschaftlich nicht bewiesen werden konnte, so machte es die Systemtheorie doch möglich, menschliches Verhalten als eigenständiges, überindividuelles Phänomen zu beschreiben, das sich aus seinem jeweiligen Kontext erklären lässt (Ludewig, 1993). Die daraus folgende Erweiterung des Beobachtungs- und Untersuchungsfeldes veränderte die Betrachtung des Individuums im Rahmen der Psychotherapie. Es erfolgte eine Verschiebung von der intrapsychischen Dynamik zu den relevanten Interaktions- und Systemprozessen zwischen den Personen und zu der Fokussierung auf größere soziale Systeme (z. B. die Familie). Im Mittelpunkt des Interesses standen nicht mehr lineare Ursache-Wirkung-Beziehungen, sondern die Beobachtung zirkulärer Rückkopplungsprozesse und Interaktionsregeln. Aufgabe war es, bei der Entstehung psychischer Störungen die Regeln der Kommunikation und deren Auswirkungen auf die psychischen und biologischen Strukturen der Systemmitglieder zu verstehen, um sie so für den konstruktiven Umgang der Beteiligten im System nutzbar zu machen. Dem jeweiligen Kontext, in dem die psychische Störung auftrat, fiel für das Verständnis des Verhaltens und Erlebens eine entscheidende Rolle zu. Niklas Luhmann als wichtiger Vertreter der soziologischen Systemtheorie des 20. Jahrhunderts sah Gesellschaft als einen operativ geschlossenen Prozess sozialer Kommunikation an und vertrat die These, dass ein System sich gegen seine Umwelt abgrenzt. Die Umwelt als etwas zu betrachten, das nicht zum System dazugehört, brachte neue systemtheoretische Ansätze hervor. Luhmann übertrug das auf Maturana und Varela zurückzuführende, auf organische Prozesse angewandte Modell der Autopoiesis (Maturana u. Varela, 1987; Varela, 1979) auf psychische und soziale Systeme mit der Annahme, dass Systeme die Fähigkeit besit-

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zen, sich selbst mittels systemeigener Abläufe herzustellen. Diese Ideen wurden zu wesentlichen Eckpfeilern des systemischen Theoriemodells (Luhmann, 2006). 4.2.2 Der Übergang zur Kybernetik zweiter Ordnung

Mit der Entwicklung der Kybernetik zweiter Ordnung wurde die Idee der »Beobachtung der Beobachtung« eingeführt und objektive Realitäten als hinfällig angenommen zugunsten einer Vorstellung, dass Realitätsbeschreibungen als ein rein subjektives Ergebnis anzusehen sind. Von Interesse waren nun die Beschreibungen und Erklärungen sowohl des Beobachters eines Systems als auch des Systems selbst. Dadurch wurde die Relevanz des systemischen Ansatzes für die psychotherapeutische Praxis erhöht, indem die Nichtexistenz einer objektiven Realität unterstrichen und die »Konstruktion der Wirklichkeit« durch den jeweiligen Beobachter (Watzlawick, 1981) zugrunde gelegt wurde. Die bestehende Trennung zwischen Subjekt und Objekt wurde zugunsten einer Sichtweise aufgegeben, in der der Beobachter am Prozess mitbeteiligt ist und die Beschreibung der Wirklichkeit weitgehend von der Perspektive der Beobachtung und der Position des Beobachters innerhalb und außerhalb des Systems bestimmt wird (von Foerster, 1988, 1993). Dies bedeutete für den psychotherapeutischen Prozess, dass Kommunikationsabläufe nicht objektiv erfasst und die Funktionen und Regeln des jeweiligen Systems wertfrei bestimmt werden konnten. Eine »objektiv neutrale« Form der Intervention wurde im Rahmen selbstreferenzieller Systeme als unerreichbar angesehen (Keeney, 1987). Da das Ergebnis seines Tuns für den Therapeuten nur zum Teil vorhersehbar ist, stellt die Kompetenz zur Steuerung des Prozesses eine besondere Herausforderung dar. Dem Therapeuten kommt die Rolle eines Ko-Konstrukteurs von Wirklichkeit zu, der durch seine Fragen, Kommentare und nonverbalen Kommunikationen eine therapeutische Wirklichkeit miterzeugt. Diese resultiert aus seinen Beobachtungen und den sich daraus ergebenden Bewertungen. Auf der Grundlage, dass sich lebende Systeme kontinuierlich verändern (Fließgleichgewicht), bedeutet das für den therapeutischen Prozess, dass die kooperative Begleitung im Sinne einer haltgebenden Beziehung nach Grawe, Donati und Bernauer (1994) die Voraussetzung für eine konstruktive Irritation und Anregung ihrer Selbstorganisation darstellt. Diese Grundlagen der Kybernetik zweiter Ordnung machen deutlich, dass Erkenntnis nicht mehr im Sinne der Spaltung zwischen dem erkennenden Subjekt und einer von ihm getrennten, ihm gegenüberstehenden Welt erklärt wird, sondern als eine Koevolution zwischen Patientin und Therapeut. Dadurch traten neue Beobachtungskategorien und Erklärungsmodelle in den Vordergrund, deren Ziel es nicht mehr war, die Vorhersagbarkeit der Veränderung zu steigern

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und durch Interventionen Kontrolle auszuüben, sondern stattdessen das Streben nach mehr Autonomie und Umweltsensibilität für den Patienten bzw. das relevante System (Familie, Partnerschaft etc.) zu entwickeln (Rufer, 2012). Die Erkenntnisse aus der Kybernetik zweiter Ordnung machten zum einen deutlich, dass Personen, die eine Beschreibung ihrer psychosozialen Situation abgeben, immer auch sich selbst beschreiben. Zum anderen zeigten sie, dass auch jeder Therapeut, der mit einem sozialen System arbeitet, immer auch ein Element dieses sozialen Systems ist und insofern den Einflüssen der Selbstbezüglichkeit unterliegt. Obgleich die Existenz dieser Grundsätze in der systemischen Therapie unbestritten ist, findet eine explizite Nutzung des Gegenübertragungsphänomens beim Therapeuten bisher nicht statt. Die Kombination mit dem tiefenpsychologischen Modell könnte diese Situation konstruktiv weiterentwickeln. Durch die konzeptionelle Weiterentwicklung wurden neue Konzepte zum Umgang mit den pathologischen Störungen und der Kooperation im therapeutischen Prozess bereitgestellt. In ihnen lag der Fokus auf der Erfassung des gesamten Systems einschließlich des Therapeuten. Therapie erhielt eine neue, ethische Basis mit dem Auftrag, die Autonomie der Patientin und ihres Sozialsystems zu unterstützen. Diese Entwicklung leitete in den 1980er Jahren die Wende von der Familientherapie zur systemischen Therapie ein (Boscolo, Cecchin, Hoffman u. Penn, 1988; Reiter, Brunner u. Reiter-Theil, 1988). Auf der Suche nach der Störung trat anstelle des Familiensystems das definierte Problemsystem, das über die Systemgrenzen der Familie hinausging. Familie als soziales System stellt seit dieser Zeit nur noch ein mögliches von vielen anderen sozialen Systemen dar, in denen Probleme auftreten können. Seit dieser Zeit entwickelten sich im Rahmen des systemischen Modells verschiedene Strömungen mit unterschiedlichen Vorgehensweisen, die teilweise zu heftigen Kontroversen führten. Eine der wichtigsten Weiterentwicklungen stammt von Goolishian und seinen Mitarbeitern. Die Arbeitsgruppe stellte 1985 ihr alternatives Konzept des »problemdeterminierten Systems« vor (Goolishian u. Anderson, 1988). Danach sind Probleme nicht allein aufgrund von strukturell-normativen Ansätzen zu erklären, sondern stets auch von der persönlichen Erlebnisweise der Betroffenen abhängig zu machen. Menschen nehmen beunruhigende Situationen individuell und in Teilen unabhängig von makrosozialen Normen wahr. Sowohl das einseitig ausgelegte Konzept der Psychopathologie in der Medizin als auch das normative Modell der Abweichung in den Sozialwissenschaften erfuhr so eine Relativierung. Gleichzeitig wandelte sich die Vorstellung von einem Sozialsystem (z. B. Familie, Partner, Gruppe etc.), das ein Problem hat, in die Betrachtung eines speziellen sozialen Systems, welches sich erst durch das spezifische Problemthema entwickelt.

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Die Entwicklung der Kybernetik zweiter Ordnung brachte zusammengefasst dem systemischen Ansatz vor allem zwei Veränderungen. Die wichtigste Veränderung bestand in der Einführung des Beobachters als einer entscheidenden Variablen für die Betrachtung und Veränderung von Situationen. Die zweite Veränderung war die strukturelle Erfassung der inneren Dynamik und ihrer Wechselwirkungen mit der Umgebung (im Kontext) als ein Leitgedanke Systemischer Theorie. Die Unterscheidung zwischen Familien- und Systemtherapie eröffnete neue Möglichkeiten bei der Betrachtung von problematischen Situationen, psychischen Konflikten und den daran beteiligten Personen. Für die psychotherapeutische Behandlung ergeben sich nachhaltige Veränderungen in der Betrachtung der Patientin, der Bedeutungsgebung von Problemen und der Beziehungsdefinition zwischen Patientin und Therapeut, wie im Weiteren noch ausführlich dargestellt werden wird. Im Rahmen der Entwicklung des systemischen Modells, verbunden mit den Erkenntnissen der Kybernetik zweiter Ordnung, stellte sich – wie beschrieben – immer mehr die Frage, was unter der Wirklichkeit zu verstehen war und welche Auswirkungen dies auf die Grundannahmen des systemischen Handlungsmodells haben würde. Bateson hatte in seinen Untersuchungen deutlich gemacht, dass Information als eine grundlegende Variable für Entwicklung und Veränderung anzusehen ist und dass diese bei der epistemologischen Frage nach der Erkenntnis der Wirklichkeit an sich eine wichtige Rolle spielt. Informationsaustausch stellt demnach keine statische, einem Objekt innewohnende Eigenschaft dar, sondern gestaltet sich als ein Aspekt der Interaktion zwischen einem Sender und einem Empfänger. So definierte Bateson (1981) Information als einen Unterschied, der einen Unterschied bewirkt. Die Betrachtung lebender Systeme hatte gezeigt, dass sie sich zum einen autonom verhalten und zum anderen die Fähigkeit aufweisen, mit anderen Einheiten bzw. der Umwelt zu interagieren, ohne ihre Identität, das heißt ihre Organisationsform, zu verlieren. Von Sydow et al. (2007, S. 31) unterteilen lebende Systeme in »biologische Systeme, mit Kreislauf- und Austauschprozessen zwischen ihren verschiedenen Elementen wie Hormonen, Neurotransmittern, Muskeln etc.«, »psychische Systeme, mit Kreislauf- und Austauschprozessen zwischen ihren verschiedenen Elementen, Gedanken und Gefühlen« und »soziale Systeme, in denen Kommunikation ausgetauscht wird«. 4.2.3 Das Konzept der Autopoiese und der Selbstorganisation

Die Rolle des Therapeuten bei der Behandlung der Patientin sowie die gleichzeitige Berücksichtigung des jeweiligen Problemsystems im Rahmen einer psychi-

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schen Störung stellten einen weiteren Entwicklungsschritt im systemtherapeutischen Vorgehen dar. Von Bedeutung war zum einen die Person des Therapeuten bei der Hypothesenbildung zur Situation der Patientin, zum anderen die Vorstellung, dass psychische Probleme von Personen eigene (Problem-)Systeme hervorbringen, die weit über die Person hinausgehen können. Diese Systeme stellen nach Ludewig (1993) eigenständige Sozialsysteme dar, die ihrer eigenen Logik der Veränderung folgen. Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Autopoiese (wörtlich übersetzt: das Selbstgemachte, Selbstgestaltete und Selbsterzeugte) ergänzte diese Vorstellungen um die Erkenntnis, dass das jeweilige Patientensystem (einzelne Patientin, Familie, Paar oder Gruppe) als operational geschlossen anzusehen ist und über Möglichkeiten der Selbstorganisation verfügt. Danach sind diese Systeme einerseits abgegrenzt, verfügen aber über eine eigene spezifische Identität wie auch Autonomie (Unabhängigkeit von Umwelteinflüssen), um mit der Umwelt zu kommunizieren. Willke (1993, S. 65) formulierte in diesem Zusammenhang, dass eine Steuerung des systemspezifischen Operationsmodus von außen nicht möglich sei, ohne die Identität des Systems zu beeinträchtigen. Ein autopoietisches System wird als eine zusammengesetzte Einheit bezeichnet, die durch eine bestimmte Organisation ihrer Prozesse sowie durch ihre Struktur determiniert ist. Dabei sind Struktur und Organisation zu unterscheiden. Die Organisationsform ist stets geschlossen und invariant, Strukturveränderungen sind dagegen möglich, allerdings nur in einem durch die Organisation vorgegebenen Rahmen (vgl. Ludewig, 1993). Dadurch wird eine Unterscheidung, das heißt eine Grenze zwischen dem System und seiner Umwelt hergestellt und aufrechterhalten. Lebende Systeme mit komplexen Nervensystemen haben aufgrund ihrer Eigenschaft, sich selbst beobachten zu können, die Fähigkeit, Selbstbewusstsein zu entwickeln (vgl. Kapitel 4.2.7). Das zu behandelnde System der Patientin stellt sich als autonom und in diesem Sinne selbstverantwortlich für seine Handlungen dar. Alle Einwirkungen von außen, die auf das System treffen, werden durch die Struktur des autopoietischen Systems bestimmt. Der Umgang damit und die dadurch entstehenden Auswirkungen sind grundsätzlich nicht direkt beeinflussbar. Die Wirkung der von dem Therapeuten gegebenen Informationen für das Patientensystem ist nur in Teilen sichtbar und lässt daher keine Vorhersage für eine direkte Veränderung eines autonomen Systems zu. Die bis dahin favorisierte Rolle des Therapeuten als Experte verlagert sich daher auf die Rolle eines interaktiven Partners, der davon ausgeht, dass die Lösung der Probleme nicht durch ihn direkt, sondern nur durch die Betroffenen selbst gefunden werden kann. Ihm kommt dabei die Rolle eines interessierten nicht-

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wissenden Dialogpartners zu, der durch hilfreiche Anregungen der Patientin zu neuen Einsichten verhilft. Im therapeutischen Prozess zeigt sich, dass Veränderungen am Patientensystem dann effektiv sind, wenn die Patienten sich bereits in einem instabilen Zustand befinden und über die Transparenz der Behandlungsstrukturen sowie der therapeutischen Beziehungsqualität dem therapeutischen System zustimmen (Rufer, 2012). Durch diese Einstimmung in die Interaktion mit dem anderen System entwickelt sich die Basis für die Beziehung im Sinne eines konstruktiven Arbeitsbündnisses zwischen Patientin und Behandler (Joining). Bei operationaler Geschlossenheit der sozialen Systeme entscheiden sie jeweils selbst, ob sie eine Information als relevant einstufen oder nicht. Störungen können daher nicht von außen aufgebrochen werden, sondern werden im Idealfall im Bezug zu den inneren Veränderungen des Systems (Autopoiese) aufgelöst. Im therapeutischen Setting kommt der empfundenen Qualität der therapeutischen Beziehung eine besondere Bedeutung dadurch zu, dass sie die Voraussetzung für die therapeutischen Interventionen schafft und so eine Bearbeitung der aktuellen Situation der Patientin und der bestehenden psychischen Störungen ermöglicht. Da es sich aus systemischer Sicht immer um die Bearbeitungen von Selbstorganisationsprozessen handelt, kann die Dauer der notwendigen Veränderung nicht direkt eingeschätzt werden. Schiepek et al. (2013) sprechen daher im Rahmen von therapeutischen Veränderungsprozessen von »rapid early responses« oder »sudden gains«. Diese Phänomene waren ähnlich bereits bei Freud bekannt, der von plötzlichen Lösungen berichtet hatte (vgl. Kowalczyk, 2004). Veränderungen bei den Patientinnen treten daher für Außenstehende (und damit auch für Therapeuten) unerwartet und im zeitlichen Verlauf diskontinuierlich auf. Eine Nutzung von fest strukturierten Behandlungsplänen und Manualen ist aus Sicht der systemischen Therapie daher nur bedingt angemessen. So wurden, aufbauend auf dem Modell der Autopoiese, Frageformen und interaktive Dialogstrukturen bedeutsam, die sich mit der Beziehung von Wirklichkeit und Erkenntnis angesichts der Selbstbezüglichkeit von Erkenntnis beschäftigten. Auf der Grundlage eines sozialen Konstruktionismus, nachdem Wissen und Erfahrung erst in sozialen Bezügen entsteht, bildet der therapeutische Prozess den Rahmen für den Patienten, um seine Erfahrung und Erkenntnis sozial neu zu konstruieren und sich den für ihn relevanten Bedeutungsmustern in den wichtigen Lebensfeldern bewusst zu werden (Gergen, 2002; vgl. Kapitel 6.5). Die folgenden Beispielfragen sollen diesen Prozess exemplarisch verdeutlichen.

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Hintergrundfragen in einem systemischen Psychotherapieprozess: – Wie entwickeln einzelne Personen in einem sozialen System ihre unterschiedlichen subjektiven Wahrheiten und aus welchen Interaktions- und Kommunikationsmustern leiten sie diese ab? – Wie bestätigt jedes Systemmitglied durch sein Verhalten und seine Kommunikation die Wirklichkeitskonstruktion aller anderen? – Wie lassen sich diese Weltbilder und Interaktionsmuster verändern?

Das Konzept der Selbstorganisation entwickelte sich als ein bedeutsames Prinzip menschlicher Prozesse mit der Möglichkeit, sowohl sich langsam aufbauende als auch plötzliche und unerwartete Veränderungen zu erklären. Der Zufall sowie die Unvorhersehbarkeit sozialer Situationen bekommen somit eine entscheidende Bedeutung für eine längerfristige kontinuierliche Entwicklung. Anhaltende und dauerhafte Besserung gelingt auf der Basis eines selbstorganisierten Prozesses und lässt sich nicht durch vorübergehenden äußeren Druck herstellen. Im Veränderungsprozess geraten die Systeme (Patientinnen) zunächst aus dem Gleichgewicht, sodass sie in den Zwischenzuständen durch eine kritische Instabilität gekennzeichnet sind. Findet dies in den Formen der therapeutischen Interventionen Berücksichtigung, können die von den Patientinnen gewünschten Veränderungen erreicht werden. Da die Auswahl der Interventionen durch die Selbstorganisation des Patientensystems für den Therapeuten nie in Gänze bekannt und verstanden werden kann, kommt der Auswahl der Interventionen eine besondere Bedeutung zu. Aktuelle Auffassungen des Konstruktivismus verknüpfen die Grundlagen der Selbstorganisationstheorie, der Theorie nichtlinearer Systeme und der Autopoiese-Theorie mit dem Ziel, die Phänomene des bzw. der Patienten komplexitätsgerecht zu erfassen und die Unterschiedlichkeit menschlichen Lebens und Zusammenlebens so zu berücksichtigen, dass die Handlungsmöglichkeiten für die Patienten erhöht werden können (Bökmann, 2000; Schiepek et al., 2013; Haken u. Schiepek, 1983; von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Menschliche Probleme und psychische Störungen werden in ihrem wechselseitigen Bedingungsgefüge von biologischen, intrapsychischen und kommunikativen Zusammenhängen oder Systemen erfasst, ohne sie unnötig zu atomisieren oder mittels vereinfachter Kausalitätsannahmen übermäßig zu trivialisieren. So kann beispielsweise durch die Einbeziehung der mitbetroffenen Angehörigen und weiterer Beteiligter die gegenseitig entwickelte Beziehungs- und Lebensdynamik direkt erfahrbar gemacht werden. Dadurch kann eine Ab- bzw. Ausgrenzung von bedeutsamen Personen für die Patientin verhindert werden, ebenso wie eine dysfunktionale Loyalitätsbeziehung des Therapeuten zur Patientin in Bezug auf die mitbetroffenen anderen Personen (vgl. Fallbeispiel 9, S. 249).

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4.2.4 Die Entwicklung der familientherapeutischen Schulen

In den 1950er bis 1970er Jahren entwickelten sich unterschiedliche familientherapeutische Schulen, die heute die Grundlage für die bestehende Systemtherapie bilden. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang der strategische Ansatz von Jay Haley (1977, 1978), der strukturelle Ansatz von Salvador Minuchin (1977), der systemische Ansatz der Gruppe aus Mailand um Mara Selvini Palazzoli (Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata, 1977; Selvini Palazzoli, 1985), der transgenerationale Ansatz von Ivan Boszormenyi-Nagy (Boszormenyi-Nagy u. Spark, 1981) sowie Murray Bowen (1978) und Virginia Satir (1975) als Begründer des wachstumsorientierten Ansatzes. Für die Entwicklung in Deutschland waren mehrere Schulen und Strömungen bedeutsam, die hier im Einzelnen nicht genannt werden können (eine Übersicht geben von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Die wichtigsten Erkenntnisse der Familientherapie bestanden in der Übertragung des zirkulären Denkens auf das Verständnis der Interaktion und der transaktionalen Muster und Regeln im Familiensystem. Die Abkehr von linearkausalen Erklärungsmustern führte zu einer Verlagerung der pathologischen Phänomene des Einzelnen auf die Betrachtung zwischenmenschlicher Prozesse (Simon, 1988a; Stierlin, 1978, 2001a; Rieforth, 2007). Mittlerweile hat sich aus der Familientherapie die systemische Psychotherapie entwickelt, und die therapeutische Arbeit mit Familien gilt nicht mehr als eigenständiges Behandlungsverfahren, sondern als ein von mehreren möglichen Settings im Rahmen der systemischen Therapie. Dennoch stellt auch heute die therapeutische Arbeit mit Familien einen besonderen Ansatz dar, psychische Störungen in ihrem ursprünglichen Kontext beobachten und behandeln zu können, da das Sozialsystem Familie trotz der heutigen vielfältigen familialen Erscheinungsformen weiterhin als ein »existenziell bedeutsames Beziehungssystem« verstanden werden kann (Stierlin, 2001a). Das familientherapeutische Setting erweist sich therapeutisch auch heute noch als besonders hilfreich, wenn die Problematik eines Familienangehörigen in direktem Zusammenhang mit familiären Thematiken steht, die nicht offen kommuniziert werden können, wie dies beispielsweise im Fall einer eng miteinander verbundenen Familie sein kann. Das gilt auch bei familiärer Ko- und Multimorbidität oder für Einzeltherapien, in denen im Therapieverlauf neue Konflikte in der Familie deutlich werden oder sich verstärken. Die Einbeziehung von Familienmitgliedern fokussiert auf die Wechselwirkungen innerhalb des Systems, wodurch ein zusätzliches Verständnis für die bestehende Problematik entwickelt werden kann. Durch dieses therapeutische Vorgehen fühlt sich der Indexpatient (IP) häufig entlastet, und es ergibt sich eine Vielzahl von Interventionsmöglichkeiten, die Impulse anbieten, um festgefahrene Rollen und Inter-

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aktionsmuster in einem sozialen System zur Veränderung anzuregen (Scheib u. Wirsching, 2002, S. 146 f.). Aufbauend auf diesen Erkenntnissen entwickelte sich eine Vertiefungsrichtung in der Familientherapie, die ihren Blick auf eine mehrgenerationale Betrachtung von störungsspezifischen Wechselwirkungsprozessen in familialen Systemen lenkte. Psychische Symptome von Einzelpersonen wurden unter dem Blickwinkel sogenannter transgenerationaler Vermächtnisse betrachtet und als Ausdruck der Beziehungsqualität bzw. von Ereignissen in früheren Generationen bewertet. Die Dynamik zwischen Geben und Nehmen in sozialen Systemen stand dabei im Zentrum und das Therapieziel bestand vor allem darin, die Muster und Regeln dieser Austauschprozesse sowie die über die Generationen entstandenen ungeklärten Themen und Zusammenhänge transparent zu machen (Boszormenyi-Nagy u. Krasner, 1986). Der bekannteste Vertreter dieser Richtung war der ungarische Arzt, Hochschullehrer und Therapeut Ivan Boszormenyi-Nagy. Gemeinsam mit seiner Koautorin Geraldine Spark hatte er bereits 1973 mit seinem Werk »Invisible Loyalties« (dt. »Unsichtbare Bindungen. Die Dynamik familiärer Systeme«, 1981) auf die Bedeutungen dieser unsichtbaren Bindungen und familiären Verstrickungen hingewiesen. Er zeigte auf, wie bedeutsam es für den therapeutischen Prozess ist, die Loyalitätsbindungen der Familienmitglieder in ihren vielfältigen Erscheinungsformen zu betrachten. Er war überzeugt davon, dass Loyalitätskonflikte und empfundene Ungerechtigkeit größere Hindernisse für die individuelle Entwicklung darstellten als Interaktions- und Kommunikationskonflikte. Er betrachtete Familien unter diesem Aspekt und den daraus resultierenden Leitideen der Loyalität und Versöhnung ebenso wie Helm Stierlin, der die Dimensionen der Individuation und der Bezogenheit in sozialen Systemen als Hindernis und als Potenzial für die eigene Entwicklung beschrieben hat. Loyalität sahen beide als das wesentliche Band zwischen den Generationen an, das auf den Ausgleich der gegenseitigen Schuldigkeiten beruht. Diese Betrachtung des Einzelnen mit und in der Dynamik des Systems hat die Systemtherapie stark beeinflusst, auch wenn es zeitweise eher verpönt war, auf die Erlebensweisen des Einzelnen einzugehen und eine Veränderung allein über die Systemstruktur zu erreichen versucht wurde (wie beispielsweise im Mailänder Ansatz). Die Vorstellung, wie das persönliche Empfinden des Einzelnen mit dem systemischen Verständnis von Störungen verbunden werden kann, fasziniert heute ebenso wie früher und findet sich unter anderem in der Skulpturen- und Aufstellungsarbeit wieder (vgl. Weber, Schmidt u. Simon, 2005). Hier sind es vor allem die Empfindungen und Vorstellungen, die durch die Stellvertreterposition in einem bis dahin unbekannten System deutlich werden, indem das System nachgestellt wird. Auch die Arbeit mit Genogrammen ermöglicht

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eine intensive Form des Erlebens in einem sozialen System über mehrere Generationen (Reich, Massing u. Cierpka, 2003). So wie viele Systemtherapeuten, die von ihren psychoanalytischen Wurzeln beeinflusst waren, entwickelte Helm Stierlin als einer der wohl wichtigsten Begründer der Familientherapie in Deutschland sein Heidelberger Konzept auf diesen psychoanalytischen Wurzeln. Er hatte in Amerika die Weiterentwicklung der Psychoanalyse zu einem relationalen Verständnis in Form einer Gegenseitigkeit von Analytiker und Patientin aus erster Hand verfolgen können, ebenso die Vorstellung, die Psychoanalyse zu einer dialogischen Objektbeziehungspsychologie weiterzuentwickeln (Kutter, 1997; Mitchell, 2005; vgl. Stierlin, 2001b). Zunächst beherrschten Themen wie Gerechtigkeit, Delegation und bezogene Individuation in den 1970er Jahren das Konzept in der familientherapeutischen Praxis (Stierlin, 1978). Delegation als ein heute allgemein bekanntes Phänomen zur Struktur- und Aufgabenklärung stellte sich im Rahmen der familientherapeutischen Behandlung von auffälligen Kindern und Jugendlichen als eine unbewusste Beauftragung dar, die Lebensziele der Eltern zu vollenden, die diese nicht erreicht hatten. Stierlin unterschied zwei Formen, zum einen die gebundene Delegation als unbewusste Botschaft an die sich ablösenden Kinder und Jugendlichen, ihre Eltern zu versorgen, und zum anderen die ausgestoßene Delegation, in der die Ambivalenz für die selbst nicht erreichten Ziele bei den Eltern im Vordergrund steht. In diesem Fall bekommt das Kind die Aufforderung, die Dinge zu tun, die sich die Eltern nicht selbst getraut hatten, wird aber gleichzeitig dafür kritisiert. Das therapeutische Ziel bestand in der Entwicklung einer bezogenen Individuation, die sowohl eine eigene Individualität ermöglicht als auch gleichzeitig eine Verbundenheit mit anderen Personen (Stierlin, 1978; vgl. auch Simon, 2013, S. 100). Stierlin beschrieb damals zwei Störungen, die eine konstruktive Entwicklung nicht erlaubten. Dies waren beispielsweise bindende Familiensysteme, in denen die Abgrenzung des Einzelnen gegenüber der Familie und ihren Erwartungen nicht gelingt. Sichtbar wird dies entweder in einem Dauerkonflikt, in dem die Beteiligten zwar emotional Kontakt aufnehmen, aber gleichzeitig Angst vor dem Verlust der eigenen Autonomie haben, oder in Form einer Überanpassung an das System aus freien Stücken oder den Erwartungen des Systems zuliebe. Im Gegensatz zu den bindenden Systemen fehlt bei den ausstoßenden Systemen die Möglichkeit zur Identifizierung, sodass sich das Gefühl einstellen kann, allein zu sein oder gegen jemanden ankämpfen zu müssen (Simon, 2013, S. 100 ff.). Gleichzeitig entwickelte sich das wachstumsorientierte Familientherapiemodell, das in erster Linie mit der psychoanalytischen Sozialarbeiterin Virginia Satir verbunden war. Satir war bereits zu Beginn der familientherapeutischen

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Entwicklung mit der Forschungsgruppe um Watzlawick, Beavin und Jackson (1969) sowie Watzlawick, Weakland und Fisch (1974) zusammengekommen. Sie hatte damals den Mut, in der Behandlung einer jungen Erwachsenen die Mutter einzuladen, da diese sich während des therapeutischen Prozesses über die Therapeutin beschwert hatte, gerade, als die Tochter gute Fortschritte machte. Ihr Modell der wachstumsorientierten Familientherapie war geprägt von der Betonung des Wunsches jedes Einzelnen, innerhalb sozialer Systeme wachsen zu wollen. Diesen Wunsch, ein eigenes sicheres Selbstwertgefühl mit Hilfe kongruenter Kommunikation aufzubauen, galt es, auf unterschiedliche Weise zu unterstützen. Dazu entwickelte Virginia Satir eine Reihe von sehr handlungsund erlebnisorientierten Interventionen. Sie definierte neben der wachstumsfördernden kongruenten Kommunikation vier dysfunktionale Kommunikationsformen (beschwichtigend, anklagend, rationalisierend, irrelevant), die für den geringen Selbstwert mitverantwortlich waren und bei längerem Einsatz zu psychischen Störungen bei Betroffenen führen konnten (Satir, 1975). Virginia Satir – ursprünglich psychoanalytisch ausgebildet – hat bereits früh durch ihre besondere Form der Arbeit mit Familienskulpturen und intensiven Familienrekonstruktionen biografische Muster und transgenerationale Zusammenhänge bearbeitet bzw. auch eigene Persönlichkeitsanteile der Patientin mit dem Ziel der Veränderung und Integration sichtbar gemacht (»parts party«) und ihre Arbeitsweise weltweit bis Ende der 1980er Jahre vorgestellt. Zeitgleich entwickelte sich ein weiteres Verfahrensmodell, das die Phänomene Struktur, Grenzen und Macht in familialen Systemen in den Blick nahm. Hauptvertreter dieser strukturellen und strategischen Ansätze waren Minuchin (1977), Minuchin und Fishman (1981) und Jay Haley (1977, 1978). Der Fokus ihrer Betrachtung lag auf der Familienorganisation und einer gut funktionierenden Struktur. Zu den diagnostischen Kriterien zählten insbesondere die Ausprägung der Grenzen zwischen den Subsystemen und den unterschiedlichen Generationen, die Verteilung altersangemessener Aufgaben sowie die Rechte und Pflichten der einzelnen Personen und deren Bedeutung für das Gesamtsystem. Minuchin unterschied Verhaltensformen von einzelnen Familienmitgliedern zur Unterstützung des Gesamtsystems (Allianzen) sowie zu seiner Schwächung (Koalitionen) in Form von Konfliktumleitungen. Eine spezielle Konfliktform, bei der in der Regel ein Konflikt generationsübergreifend zwischen zwei Personen über eine dritte Person umgeleitet wird, wird als Triangulation bezeichnet und hat bis heute die Bedeutung von Triaden bei der Erkennung von Konfliktmustern beeinflusst (Simon, Clement u. Stierlin, 1999; Rieforth, 2006, 2012). Haley sprach damals von »perversen Dreiecken«, die es zu identifizieren und zu unterbrechen galt, um die Hierarchie wiederherzustellen (Haley, 1977).

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Es folgte der Mailänder Ansatz, der durch die Gruppe um Mara Selvini Palazzoli bekannt wurde, die, ursprünglich als Psychoanalytikerin ausgebildet, zunehmend Interesse an der Beobachtung von Beziehungen zwischen Patienten und ihren Bezugspersonen fand (Selvini Palazzoli et al., 1977; Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata, 1981). Bei diesem Ansatz wandelte sich das bis dahin bekannte therapeutische Setting in mehrfacher und äußerst ungewöhnlicher Weise. Zum einen fanden nur wenige Termine in langen Abständen mit dem Familiensystem statt, zum anderen waren an der Therapie mehrere Therapeuten beteiligt. Diese arbeiteten teilweise direkt mit dem Patientensystem, teilweise beobachteten sie aber auch hinter einer Einwegscheibe den Prozess. Während der Sitzung tauschten sich die behandelnden Therapeuten zu vereinbarten Zeitpunkten mit den Kollegen hinter der Einwegscheibe aus und kommentierten den Prozess. So waren in der ersten Phase des Mailänder Ansatzes die Abschlusskommentare des therapeutischen Teams berühmt, enthielten sie doch in der Regel ungewöhnliche oder sogar paradoxe Interventionen für die Patientinnen. Ebenfalls neu war die konsequente Entwicklung von Hypothesen zum problematischen Verhalten des Einzelnen im Gesamtsystem. Diese sogenannten systemischen Hypothesen hatten das Ziel, die Bedeutung der Krankheitssymptome für das beteiligte soziale System zu erfassen. Auf der Grundlage zirkulärer Prozesse ergaben sich ganz neue Verfahren und Ideen einer systemischen Fragetechnik für die Intervention in sozialen Systemen (Penn, 1983, 1986; Rieforth, 1997). In den Mittelpunkt des Interesses des therapeutischen Prozesses rückte die Betrachtung der gegenseitigen transaktionalen Muster und Regeln. Die therapeutische Haltung der Neutralität diente als Voraussetzung für die Wahrung der Autonomie der Patientinnen. Neu war auch, das Verhalten des Symptomträgers positiv zu konnotieren, um eine mögliche sinnvolle Absicht des Verhaltens für das beteiligte Gesamtsystem zu finden und die Leistung für den sozialen Kontext anzuerkennen. Die Bedeutung des Mailänder Ansatzes für das systemische Modell ist bis heute ungebrochen, und die drei Grundpfeiler des Ansatzes, Hypothesenbildung, Zirkularität und Neutralität (Selvini Palazzoli et al., 1981), stellen nach wie vor eine wichtige Identität systemtherapeutischen Handelns dar. Die hohe Kunst des Fragens sowohl nach Unterschieden als auch nach Wechselwirkungen im sozialen Kontext findet sich in anderen Therapiemodellen wieder, und insbesondere in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie hat diese Methode in den letzten Jahren kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Tom Andersen, ein norwegischer Psychiater und Psychotherapeut, hat maßgeblich in den 1980er und 1990er Jahren dazu beigetragen, dass zusätzlich zum Therapeut-Patient-System ein weiteres beobachtendes System eingeführt wurde,

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wodurch die Sicht und die Kommunikations- und Interventionsweisen des Therapeuten hinterfragt und der aktuelle Wechselwirkungsprozess mit der Patientin räumlich getrennt oder auch im Beisein aller Beteiligten reflektiert wurde. Seit vielen Jahren zählt dieses methodische Vorgehen des »Reflecting Team« (1990) zum Standard systemischer Arbeitsweisen. Therapeut und Patientin beobachten und nehmen dabei wahr, wie ein weiteres Therapeutenteam das bisherige Geschehen aus ihrer Sicht in einer hilfreichen und unterstützenden Art und Weise reflektiert. Daraus entsteht eine größere Vielfalt an Ideen und Anregungen für die Patientensysteme, die sich aus der Reflexion subjektiv lohnenswerte Inhalte herausfiltern und für ihre Veränderungsabsichten nutzen können. Als weiterer bedeutsamer neuer Ansatz im Kreis der systemischen Familie gilt die lösungsorientierte Kurzzeittherapie nach Steve de Shazer (2006) und Insoo Kim Berg (1992/2010). Von der Grundannahme ausgehend, dass jedes Erleben eine Aufmerksamkeitsfokussierung in sich trägt und die Patientin bereits über alle Ressourcen verfügt, um ihre Probleme zu lösen, ist es die Aufgabe des Therapeuten, möglichst viele Situationen zu etablieren, in denen die Patientin mit ihren Lösungs- und Kompetenzerfahrungen in Kontakt gebracht wird. Dabei besteht die Vorstellung, dass eine intensive Fokussierung auf alle Situationen in der Gegenwart und Zukunft den Zugang zu den verschütteten Ressourcen auch ohne detaillierte Exploration des Problems ermöglicht. Bekannt geworden ist dieser Ansatz auch über die Grenzen therapeutischen Handelns hinaus insbesondere durch die sogenannte Wunderfrage und den Fragen nach positiven Ausnahmen vom Problem. Durch die dabei mögliche Nichtbeachtung des Entwicklungsprozesses und der Bedeutung des Problems für die Patientin kommt es zu einer Reduktion auf eine reine Lösungsorientierung mit der Gefahr einer Symptombehandlung ohne Einsicht (vgl. Kapitel 6.6). 4.2.5 Die jüngeren Ansätze der systemischen Therapie: Die Patientin als Expertin ihrer Situation und Lebensgeschichte

Zu den jüngeren Ansätzen im Rahmen der systemischen Therapie zählt die narrative Therapie, in der davon ausgegangen wird, dass Menschen durch die Geschichten geprägt sind, die sie über sich erzählen. In Anlehnung an die Theorie Batesons (Bateson, 1981, 1984; Saß u. Bateson, 1969) und den Grundideen Focaults (Focault, 1978, 1991; Schweitzer, Retzer u. Fischer, 1994) entstehen Probleme nicht aufgrund von verborgenen Strukturen oder Dysfunktionen, sondern aufgrund der Bedeutungen, die den Gegebenheiten zugeschrieben werden und die so unser Verhalten bestimmen. Demnach geben Menschen ihrem Leben und ihren Beziehungen Bedeutung, indem sie Geschichten über ihre Erfahrungen und ihr Erleben entwickeln. Durch diese Erzählungen formen sie ihr Leben und

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ihre Beziehungen zu anderen Menschen. Aus Sicht des narrativen Modells geht es daher in erster Linie nicht um die Bearbeitung der Vergangenheit, sondern um die Integration der Geschichte der Patientin in ihr aktuelles Leben. Sprache bedingt unweigerlich die Wirklichkeit, und durch das Erzählen der Patientin wird eine für sie subjektive Wirklichkeit erschaffen. Im therapeutischen Prozess findet eine Dekonstruktion der störungsrelevanten Geschichten der Patientin statt, die die notwendige Neubedeutung der Geschichten ermöglicht. Der Australier Michael White hat in seinem Theoriekonzept (vgl. White, 2010; White u. Epston, 1992) dem Begriff der Erzählung eine hohe Bedeutung zugeschrieben. Konstruktivistisch betrachtet kann eine Erzählung als narrative Struktur angesehen werden, die verdeutlicht, wie Einzelne und Systeme ihre »Landkarten der Welt« wahrnehmen und interagieren. Als lösungsorientierte Intervention wird in einer respektvoll-interessierten Therapeut-Patient-Beziehung auf Augenhöhe die Anregung zum Neuerzählen der Lebens- und Zukunftssituationen gegeben. Die Externalisierung von Problemen und das Erfinden akzeptabler Problemdefinitionen spielen eine weitere wesentliche Rolle. Im narrativen Ansatz ist es das Ziel, die Patientin anzuregen, neue Dimensionen zu konstruieren wie zum Beispiel das Kommunizieren eines Wunsches mit den dazugehörigen Bedingungen und Zielen. So gelingt es der Patientin, sich eine alternative Wirklichkeit, einen ganz anderen Blick für das derzeitig Konflikthafte in ihrem Leben zu erschaffen. »Es sind nicht die Erfahrungen, die Menschen prägen, sondern die Geschichte, die er oder sie bzw. das jeweilige soziale Bezugssystem aus den Erfahrungen macht« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 60). Grundlegende theoretische Ansätze sind die des sozialen Konstruktionismus (Gergen, 1991) und des radikalen Konstruktivismus (Glasersfeld, 1987). Die therapeutischen Interventionen veränderten sich von der aktiven Unterstützung und Neuorientierung des Verhaltens hin zu den Ideen der Patientinnen. Persönliche wie auch kollektive Geschichtensysteme galt es zu dekonstruieren, um das Selbst in der eigenen Geschichte oder der Familie als »familienspezifisches internes Erfahrungsmodell« (Schneewind, 2010) und als Satz gemeinsam geteilter basaler Überzeugungen über die Welt bewusst werden zu lassen. Durch das wiederholte Erzählen werden diese inneren Bilder stabil gehalten, und dem Therapeuten kommt aus der Position des »Nichtwissens« (Anderson u. Goolishian, 1992a, 1992b; Dell u. Goolishian, 1981; White u. Epston, 1992) heraus die Rolle eines grenzenlos Interessierten zu. In der aktuellen Entwicklungsphase der systemischen Psychotherapie stehen neue Formen im Umgang mit der etablierten psychopathologischen Störungslehre und den gesellschaftlichen Gegebenheiten im Gesundheitssystem im Vordergrund. Dabei geht es um den Versuch der Integration und Teilhabe an bestehenden Konzepten psychotherapeutischer Heilbehandlungen bei gleich-

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zeitiger Achtsamkeit, um die Beobachter- und Reflexionsebene der Metasicht beibehalten zu können (Ludewig, 2013). Die Betrachtung des Problems durch die Geschichte über das Problem (Narration) schafft eine gewisse Trennung von Person und Problem und macht die Patientin zur Expertin ihres Lebens. Das daraus erwachsende Wissen und die damit verbundenen Kompetenzen und Fähigkeiten können der Patientin im therapeutischen Prozess zugänglich gemacht werden. In einer Atmosphäre der Neugier, des Respekts und der Klarheit kann der Therapeut auch die Zeiten in den Vordergrund stellen, in denen die Störung nicht existent war, um die Aufmerksamkeit der Patientin auf ihre bisherigen Lösungs- und Kompetenzerfahrungen zu lenken. 4.2.6 Zur Identitätsentwicklung der systemischen Psychotherapie

Wie bereits deutlich wurde, hat das systemische Modell unterschiedliche Entstehungsorte und -einflüsse sowie im Laufe seiner Entwicklung mehrere Phasen durchlaufen. Die wohl bedeutendsten stellen die Übergänge von der Kybernetik erster Ordnung zur Kybernetik zweiter Ordnung und die Diskussion über die Selbstorganisation sozialer Systeme (Autopoiese) dar sowie die Vorstellung, dass Ursache und Wirkung in sozialen Situationen nicht linear, sondern zirkulär verlaufen. Daher lässt sich ein Anfangspunkt für die Verursachung einer Situation nicht festlegen. Im systemischen Modell richtet sich stattdessen die Aufmerksamkeit auf die Beobachtung von Wechselwirkungsprozessen, die eine Situation (psychische Störung) aufrechterhalten bzw. deren Weiterbestehen begünstigen oder erschweren. Die sich daraus ergebende Wirklichkeit wird von allen Beteiligten immer wieder neu konstruiert und ist für jede Person von deren lebensgeschichtlichen und aktuellen Kontext abhängig. Realität stellt sich daher nicht objektiv gleich, sondern unterschiedlich dar und wird fortwährend durch Interaktionen ausgehandelt. Soziale Systeme (Patientinnen) organisieren sich selbst und sind von außen (Therapeut, Angehörige etc.) nicht in einem direkten Sinne zur Veränderung von Einstellungen und Verhalten instruierbar. Die Bedeutung eines sozialen Systems ergibt sich in erster Linie nicht durch die einzelnen Mitglieder, sondern insbesondere durch deren Verbindung untereinander, die das Ganze zu mehr macht als die Summe seiner Teile (Liebespaar, junge Familie mit Kind, Großeltern in Verbindung zu den Enkeln und damit in neuer Verbindung zu ihren Kindern jetzt als Eltern etc.). Bereits bei der Beobachtung eines Systems wirkt der Beobachter als ein Teil des Systems, und es finden beidseitig Austauschprozesse statt, die ein neues System kreieren. Zusammengefasst versucht das systemische Modell die Komplexität der einzelnen Systemstrukturen sowie deren vielfältige Austauschprozesse zu erfassen.

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Dabei geht es von der Annahme aus, dass in einem System alle alles gestalten können und grundsätzlich die Möglichkeit haben, autonom zu entscheiden, welche neuen Informationen aus der Umwelt für sie relevant sind. 4.2.7 Das Selbst im Rahmen des systemischen Modells

In den verschiedenen Phasen des systemischen Modells stellte sich die Auseinandersetzung mit dem Selbst der Patientin neben der Betrachtung der Wechselwirkungen im System sehr unterschiedlich dar. Die Faszination über die Veränderungsmöglichkeiten von größeren Systemen und der Umgang mit den beobachtbaren Mustern und Regeln hatte die Beschäftigung mit den inneren Empfindungen und Einstellungen in den Hintergrund gedrängt. Die einseitige Orientierung am System und die eher technischen Erklärungsversuche in der systemischen Therapie sind sicher mit dafür verantwortlich zu machen, dass psychodynamisch praktizierende Therapeuten sich lange Zeit nicht näher mit dem systemischen Modell beschäftigt haben, obwohl es immer eine Richtung im familien- und systemtherapeutischen Modell gab, die einen engen Bezug zu den psychodynamisch bedeutsamen Inhalten gehalten hat (Buchholz, 1990; Reich, 2010). So entwickelten sich bereits von Beginn an unterschiedliche Ansätze zur Integration von Selbst, Individuum und dem sozialen System als Fortentwicklung der damals bestehenden psychodynamischen Sichtweisen. So wies Bateson auf die Wechselwirkungen zwischen Personen und sozialen Kontexten hin, sah dabei aber die Grenzen des Individuums nicht als räumliche Grenzen an, sondern verortete das Selbst bzw. den Geist im Interaktionszirkel zwischen Mensch und Umwelt (Bateson, 1981, S. 146). Er fasste das Selbst als soziales Phänomen auf, das auf der Grundlage der Bedeutung des Dazwischen nur über die Interaktion von System und Umwelt zu erklären ist. Helm Stierlin (1994, S. 92 ff.) betonte in seinem Konzept zur Erklärung des Selbst, dass dieses nicht ohne die Integration von zeitlichen und situativen Kontexten darstellbar sei. Ebenso verwies er auf die Bedeutung des Selbst als Subjekt und Objekt von Geschichten im Sinne eines narrativen Selbst. Interessanterweise sprach er schon damals von dem Ressourcenselbst als Schatzkammer des Unbewussten im Sinne aller nichtvollzogenen Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Diese Vorstellungen entsprechen den heutigen Erfahrungen aus den Bindungstheorien und bestätigen die Ergebnisse von Daniel Stern zur Säuglingsforschung. Danach entwickelt sich das Selbst im Beziehungsgeschehen und auf verschiedenen Ebenen von Erleben und Handeln. Im Laufe der Entwicklung eines Säuglings tauchen unterschiedliche Aspekte des Selbstempfindens auf, die als eigenständige Bereiche über die Lebensspanne wirksam sind. Seine Annahme

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lautet: »Die Art und Weise, wie wir uns selbst in Beziehung zu anderen erleben, wird grundlegend für die Perspektive, unter der wir alle interpersonalen Vorgänge organisieren« (Stern, 1992, S. 18). Dabei wird das Selbst eben nicht als psychische Instanz im Sinne einer festgelegten Struktur oder Entität verstanden, auch nicht als Archiv abgespeicherter »Engramme« oder Ähnliches, sondern als ein sich kontextabhängig immer wieder neu und konkret (re-)aktualisierendes Potenzial, als eine dynamische Organisation subjektiver Interaktionserfahrungen mit den damit verknüpften Erinnerungen, Vorstellungen, Gedanken, Affekten etc. Ein Selbst in diesem Sinne ist individuell zuzuordnen, aber nur in konkreten Interaktionen (mit anderen bzw. mit sich selbst) aktualisierbar. Danach kann es ohne einen interaktiven, regulativen Vollzug von Interaktionen kein Selbst geben. Levold verweist auf die Qualität des Selbst als eine dynamische Organisation, die eine relative Kohärenz, Hierarchie und Konstanz aller Kognitionen und Affekte jeweils bezogen auf die aktuelle intrapsychische und interpersonelle Konstellation gewährleistet (Levold, 1999, S. 174). Das Selbstkonzept stellt somit den konstruktiven Kern für eine Person dar, um ihr eigenes Verhalten zu beobachten und zu bewerten (vgl. Rusch, 1987, S. 135). Dies beinhaltet nicht nur sprachlich-intentionale Konstrukte, sondern insbesondere auch eine Fülle bewusster und unbewusster nichtsprachlicher Selbstempfindungen. Untersuchungen im Rahmen der Säuglingsforschung unterstreichen, dass eine Reihe von Selbstempfindungen schon wesentlich früher als Selbstbewusstheit und Sprache vorhanden sind. Dazu gehören Empfindungen der Urheberschaft, körperlicher Kohäsion und zeitlicher Kontinuität sowie andere, ähnliche Erfahrungen. »Selbstreflexion und Sprache wirken zu einem späteren Zeitpunkt auf diese präverbalen, existenziellen Selbstempfindungen ein und lassen so nicht nur erkennen, dass sie nach wie vor Bestand haben, sondern wandeln sie auch in neue Erfahrungen um« (Stern, 1992, S. 19). Die Thematisierung des Selbst macht deutlich, wie komplex es einerseits und wie bedeutsam es andererseits für die Dynamik zwischen Erleben und Erzählen im Spannungsfeld von Gesagtem, Noch-nicht-Gesagtem und Nichtsagbarem ist (vgl. Levold, 1999, S. 174). Eine Erörterung des Selbstbegriffs zeigt auch, wie schwierig die Erfassung des Selbst in einem wissenschaftlichen Sinne ist, da die Erklärung auf den zu untersuchenden Begriff zurückwirkt. Im Sinne einer professionellen Praxis stellt es ein Ziel dar, jeweils individuelle Antworten auf spezifische Situationen zu finden. Da diese aus sich heraus komplex und vieldeutig sind, kann die Situation selbst und das Finden der Lösung nicht systematisch getrennt werden, zumal der Therapeut Teil der Situation ist, auf die er reagieren soll. Dies erfordert von ihm angemessene werteorientierte Entscheidungen, in denen er zwar über die gewählte Intervention mehr oder weniger

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direktiv Einfluss auf die Richtung des Gesprächs nimmt, aber keine Kontrolle über den inhaltlichen Verlauf des Gesprächs hat. Jede Therapiesitzung entwickelt daher ihre eigene, unverwechselbare Dynamik und Ordnung. Der während der Sitzung unter Handlungsdruck stehende Therapeut braucht, wenn er nicht nur seiner Intuition folgen will, einen anderen, nicht geradlinig hintereinander geordneten reflektierbaren Zugang zu der Theorie (vgl. Kapitel 6.6). In der Vergangenheit lag der besondere Nutzen der System- und Familientherapie vor allem darin, die Konflikte direkt mit den Personen zu klären, die an der Entstehung beteiligt und für deren Fortbestehen mitentscheidend waren. Durch die direkte Beteiligung der Mitbetroffenen wurden neue Beobachtungsund Interventionsformen entwickelt und mit Erfolg angewendet. Die Bearbeitung der Probleme in der Anwesenheit von und mit den für die Patientin real existenziell wichtigen Personen schuf neue Grundlagen für die Diagnostik und die Behandlung von Störungen Einzelner. Es ebnete den Weg für die Erfassung interaktioneller Zusammenhänge und die Bedeutung für psychische Störungen, die es bis dahin noch nicht gab (Schweitzer u. von Schlippe, 2006). Kriz (2011) setzt in seiner personzentrierten Systemtheorie den Fokus auf die Person und nicht in erster Linie auf Interaktions- bzw. Kommunikationsmuster. Danach bestimmen zwar im Wesentlichen biografische Entwicklungen die sozialen Prozesse mit, doch Entscheidungen, wie etwas als sinnvoll, als bedeutsam oder kohärent empfunden werden kann, laufen innerhalb einer Person durch »Sinnattraktoren« ab (Kriz, 2011). Er geht in seinem Modell von einer in Wechselwirkung stehenden Vernetzung sowohl ins Innere – durch die Interaktion von Wahrnehmen, Denken und Fühlen – als auch ins Äußere zu anderen Sozialpartnern bzw. sozialen Systemen aus (Kriz, 1999, 2011). 4.2.8 Das heutige Verständnis der systemischen Therapie

In erster Linie handelt es sich bei dem systemischen Modell um ein sprachorientiertes und dialogisches Verfahren, bei dem durch Konstruktion und Dekonstruktion der Ideen und Vorstellungen der Patientin im Rahmen des therapeutischen Prozesses neue Sichtweisen ermöglicht und dadurch neue Handlungsmöglichkeiten erschlossen werden. Systemische Therapie achtet in besonderer Weise auf die Wirkung von Sprache und den damit verbundenen Möglichkeiten, die Autonomie und die Ressourcen der Patientinnen zu fördern. So achten systemische Therapeuten auf eine entwicklungsorientierte und weniger defizitorientierte Beschreibung der psychischen Störung, da sie um die Wirkung von pejorativen Sprachmustern wissen (vgl. Kapitel 6.7.1). Sie bemühen sich um kooperationsfördernde und dialogische Sprachmuster, um die Rolle der Patientinnen als die Expertinnen für ihr eigenes Leben zu

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stärken und in einen konstruktiven Austausch darüber zu kommen. Zudem achten sie in besonderer Weise darauf, psychische Störungen nicht als feste Entitäten zu erfassen, die durch einseitige diagnostische Zuschreibungen oder als Ergebnis rigider sozialer Zuschreibungsprozesse aufrechterhalten werden, sondern als ein komplexes Gesamtgeschehen in einem Wechselwirkungsprozess zwischen der Patientin, der psychischen Störung und dem sozialen Kontext (z. B. Familie, Partnerschaft etc.), das aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann. Neben der Sprache kommen jedoch weitere, vor allem interaktive und handlungsorientierte Methoden zum Einsatz, die unterschiedliche Perspektiven, Zeiträume und Kontexte sichtbar machen können. Hier sind vor allem Aufstellungen von psychosozialen Systemzusammenhängen, die Arbeit mit dem Familienbrett, das Entwickeln von Zeitlinien, das Anfertigen von Systemzeichnungen, die Arbeit mit Symbolen und insbesondere das Genogramm als Darstellung familialer Zusammenhänge über mehrere Generationen zu nennen. Da die systemische Psychotherapie auf einem entwicklungsorientierten Menschenbild basiert, nach dem sich jedes Individuum eigenständig und selbstregulierend im sozialen Kontext verhalten kann, regt der Therapeut die Patientin ohne vorbereitete Lösungen zu neuen Interaktionen an. Diese Interventionen fördern die Autonomie und die Resilienzfaktoren der Patientin. Dies erfordert von dem Therapeuten die Kompetenz, bei der Patientin neben den defizitären (pathologischen) Aspekten ebenso genau die gesunden Persönlichkeitsanteile und Fähigkeiten zu erkennen und als Ressourcen in der Behandlung zu nutzen. Während früher fast ausschließlich im Familien- und Mehrpersonensetting behandelt wurde, finden systemische Therapien heute in vielen unterschiedlichen Settings und häufig auch als Einzeltherapie oder auch mit mehreren Familien gleichzeitig statt (Asen u. Scholz, 2009; Goll-Kopka, 2013). Unabhängig vom Setting werden die Grundideen zu den rekursiven Kommunikationsstrukturen und Feedbackschleifen genutzt und mittels unterschiedlicher Interventionsformen zur Anwendung gebracht. Bei einer Therapie mit mehreren Personen beobachtet der Therapeut die Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern direkt und nimmt die Aussagen der Betroffenen zu ihrem aktuellen Beziehungserleben und Befinden wahr. Gleichzeitig beobachtet und analysiert er die Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern und ihm als Therapeuten und nimmt im Prozess die durch seine Fragen und Interventionen beobachtbaren Rekonstruktionen erlebter und gemeinsam geschaffener Familiengeschichte wahr. Darüber hinaus sammelt der Therapeut Informationen über die objektive materielle und soziale Lebenslage der Familie.

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Durch den direkten Kontakt aller Mitglieder des Systems sinkt die Gefahr, zu einem einseitigen Bündnispartner der Patientin zu werden ohne ausreichende Wertschätzung der anderen Familienmitglieder. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass die Familien- bzw. Systemmitglieder als Beteiligte der Problemkonstellation aktiv den Veränderungsprozess mitgestalten können. Die Beobachtung der kommunikativen Transaktionsmuster erlaubt dem Therapeuten, zusätzliche Hypothesen zur Aufrechterhaltung der Problematik zu bilden und so geeignete Interventionsschritte zu entwickeln mit dem Ziel, Ressourcen für eine mögliche Bewältigung der Problemsituation der Patientin zu erschließen (vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 2012; Rieforth, 2007). Pinsof, Breunlin, Russell und Lebow (2010) weisen in ihrer Studie darauf hin, dass durch die Erstbehandlung im Rahmen einer System- und Familientherapie die Chance einer differenzialdiagnostischen Eingrenzung des Problems besteht, was eine Zuordnung für den weiteren therapeutischen Prozess und das angemessene Setting erlaubt. So hat es sich beispielsweise als sinnvoll erwiesen, bei Angststörungen eines Kindes zunächst alle Familienangehörigen einzuladen, um die kommunikativen Muster, die mit der Störung verbunden sind, zu erkennen und daraus den weiteren Behandlungsplan abzuleiten. Handelt es sich dagegen um Themen, die konkrete Auswirkungen auf die Kinder haben, sollten zunächst nur die Erziehungsberechtigten (Eltern bzw. Stiefeltern) eingeladen werden, um die Gefahr der Parentifizierung zu minimieren (ebenso sollte bei Fragen zur Paardynamik zuerst das Paar, bei Fragen, welche die eigene Person betreffen, dagegen nur der Patient eingeladen werden). Im Einzelsetting werden vor allem durch zirkuläre und hypothetische Frageformen und symbolhafte Darstellungen die Wechselwirkungen zum sozialen Umfeld des Patienten bewusst gemacht und somit ein Mehrpersonensetting immer mitgedacht und symbolisch integriert. Obwohl bereits seit den 1960er Jahren auch in Deutschland eine Vielzahl von Forschungen und Psychotherapien durchgeführt wurde und die systemische Psychotherapie seit 2008 als wissenschaftlich fundiertes Verfahren anerkannt ist (Guntern, 1979; Schiepek, 1991; Ludewig, 1993; von Schlippe u. Schweitzer, 2012; von Sydow, 2012; Schiepek et al., 2013), erfahren systemtheoretisch ausgerichtete Therapieverfahren in vielen anderen Ländern eine weitaus höhere wissenschaftliche Anerkennung. In all diesen Studien konnte die Wirksamkeit systemischer Therapieverfahren mit guten Langzeitresultaten belegt werden. So schnitt die systemische Therapie in störungsspezifischen Studien bei Erwachsenen besonders erfolgreich in den Bereichen Depressionen, Substanzstörungen (Alkohol und illegale Drogen), Essstörungen, Bewältigung körperlicher Krankheiten (insbesondere Krebs,

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Herzinfarkt, HIV/Aids) und bei Schizophrenie ab. Im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie konnten die besten Ergebnisse bei Störungen des Sozialverhaltens und Jugenddelinquenz, Substanz- und Essstörungen sowie bei körperlichen (Asthma und Diabetes) und affektiven Störungen einschließlich Suizidalität erzielt werden (von Sydow et al., 2007). Inzwischen bilden einige staatlich anerkannte Ausbildungsstätten für Psychotherapie systemische Psychotherapeuten aus (u. a. in Berlin, Essen und in der Eifel; auch die Universität Oldenburg ist für die Ausbildung in systemischer Therapie akkreditiert). Die Anzahl beschränkt sich allerdings noch auf wenige Institute, da die Anerkennung der Systemtherapie durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) als Verfahren im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung noch aussteht. 4.2.8.1 Systemische Diagnose und Hypothesenbildung

Der Begriff Diagnose leitet sich von dem griechischen Wort »diagignoskein« ab und bedeutet »genau erkennen, unterscheiden«. Während die klinische Diagnostik in der Psychotherapie in der Regel die Person in den Fokus der Betrachtung stellt, legt die systemische Diagnostik einen besonderen Fokus auf eine multiperspektivische und komplexe Beschreibung und Erklärung von Mustern, Strukturen, Situationen, Ereignissen und Beziehungsverhältnissen zwischen Personen. Im therapeutischen Prozess findet auf der Grundlage von Hypothesen, die kontinuierlich entwickelt werden, eine intensive Auseinandersetzung mit der psychischen Störung statt. Im Mittelpunkt steht eine informationsförderliche Unterscheidung zwischen Inhalt und Kontext, um Bedeutung und Inhalt der Störung für die Patientin im sozialen Kontext zu verstehen (vgl. Bateson, 1984). Hypothesen und Beschreibungen wechseln sich im Rahmen der systemischen Diagnose ab und führen zu immer weiteren Informationen über Sinn und Funktion des Verhaltens, der Gedanken und Gefühle. Die im therapeutischen Prozess entwickelten Hypothesen zum Sinn und zur Funktion einer psychischen Störung regen zu weiteren Fragen an, die ihrerseits wieder neue Hypothesen entstehen lassen (zirkulärer Prozess). Die Betrachtung der psychischen Störung im Kontext der sozialen Systeme macht die Bedeutung der unterschiedlichen Ereignisse, Personen und relevanten Aspekte sowie die durch gemeinsame Aufgabenstellung und Sinnbestimmung bestehende Verbundenheit deutlich. Die beteiligten Personen und sozialen Elemente stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander und schaffen durch den stetigen Austausch ihrer Muster und Regeln nach innen und außen soziale Wirklichkeiten. Sie werden als systemische Einheiten zwischen dem Individuum und seiner Umwelt verstanden.

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Im therapeutischen Prozess werden sowohl die Dynamik als auch die Formen dieser Muster und Prozesse, durch die Individuum und Umwelt miteinander verbunden sind, beobachtet und im Kontext beschrieben. Der daraus entstehende Sinnzusammenhang und die Bedeutung der psychischen Störung mit der Funktion, das System im Gleichgewicht zu halten bzw. es zu stabilisieren, ergeben sich durch die Betrachtung der Qualität des Dazwischen. Durch diese kommunikativen Rückkopplungsschleifen werden die Form der Verbindung der Subjekte und die gemeinsam leitenden Ideen deutlich, die oft nur zum Teil bewusst sind. Patientin und Therapeut bilden dazu gemeinsam ein System, in dem die systemische Diagnose nicht von der Intervention zu trennen ist. Bei der Entwicklung der systemischen Diagnose werden in besonderer Weise die Positionen, Rollen und Rollenbeziehungen (Subsysteme) der einzelnen Mitglieder des sozialen Systems berücksichtigt. Dabei ist von Interesse, wer wann und wo welche Erwartungen erfüllt hat und welche impliziten und expliziten Regeln und Muster zur Steuerung des Systems bestehen. Im Rahmen der kognitiv-affektiven Landkarte werden die zentralen Themen (Mythen, Botschaften, Ideen, Werte, Aufgaben und Bewältigungsstrategien) als Maßstab für die Mitglieder des Systems berücksichtigt und reflektiert. Der systemischen Diagnose liegt das Verständnis einer kausalen Zirkularität zugrunde, wonach Beziehungsprozesse durch kreisförmige Kommunikationsverläufe gestaltet werden, deren einzelne Prozesse sowohl in Richtung Vergangenheit als auch in Richtung Zukunft nicht abgeschlossen sind. Dazu gehört auch in jedem Fall, die Zusammenhänge für das Zustandekommen der Therapie in einer Kontext- und Auftragsklärung zu berücksichtigen. Da die psychischen Störungen neben der Bedeutung für die Patientin immer auch eine Entsprechung im sozialen Feld haben, ist es sinnvoll, auch den Kontext zu erfassen und damit die Dynamik im sozialen System. In der Auftragsklärung wird deutlich, ob die Patientin die alleinige Auftraggeberin im therapeutischen Prozess ist, ob andere Personen an der Aufnahme der Therapie mitbeteiligt sind oder ob es sich sogar um eine Form der Zwangstherapie handelt (vgl. Conen u. Cecchin, 2007). Möglich ist zudem, dass bedeutsame Personen im Umfeld der Patientin die Therapie boykottieren oder besser nicht davon wissen sollten. Entsprechend der vorliegenden Situation entscheidet sich, wie im therapeutischen Prozess die Konzentration auf die Wünsche und Ziele der Patientin gerichtet werden kann, um die Basis für eine wertschätzende therapeutische Beziehung zu legen, in der die Patientin die Expertin für ihre Ziele bleibt bzw. wieder wird, indem sie sich dieser zunehmend bewusst wird.

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4.2.8.2 Das Genogramm: Ein emotional-strukturierendes Diagnoseverfahren

In der systemischen Therapiepraxis stellt die Erstellung eines Genogramms eine unbestritten wichtige Methode dar, um einen besonderen Zugang zu einem (Familien-)System sowie einen Überblick über den Kontext zu erhalten und daraus Hypothesen in Bezug auf Ursache und Lösung einer psychischen Störung zu bilden (McGoldrick u. Gerson, 1990). Genogramme zeichnen in grafischer Form Informationen über eine Familie und andere soziale Systeme auf und ermöglichen einen sowohl ganzheitlichen und symbolischen Überblick über komplexe Familienstrukturen als auch eine Fokussierung auf einzelne Krisenoder bedeutsame Situationen im Entwicklungsverlauf (Beushausen, 2012). Die so entstehenden Bilder einer Familie (soziales System) geben stets Beziehungsmuster und Positionen eines Einzelnen in Bezug auf andere wieder und bleiben bei aller Konkretheit immer prozesshaft und veränderbar. Sie lassen sich je nach Fragestellung und auch psychischer Störung verändern und der jeweiligen Situation anpassen. Im Laufe des therapeutischen Prozesses können sie zudem ergänzt und aktualisiert werden. Die besondere Wirkung der Erstellung eines Genogramms ergibt sich aus der Verbindung von Sprache und Grafik und der daraus resultierenden Symbolik. Durch das Erzählen über die Personen und Situationen und die Strukturierung durch die Symbole entsteht eine besondere Form von Zeichnung, die als Bild eine ganz neue Perspektive auf das (Familien-) System ermöglicht. Die dabei deutlich werdenden Verbindungen zwischen den einzelnen Personen sowie Beziehungsmustern und einzelnen Subsystemen mit Allianz- und Koalitionsqualitäten schaffen Zusammenhänge zwischen Ereignissen und Personen, die bis dahin noch nicht bekannt bzw. bewusst, oft für die Patientin nicht einmal vorstellbar waren. Eine Beschäftigung mit der eigenen Geschichte in Form einer Zeitreise über teilweise drei Generationen eröffnet neue Fragen und emotionale Aspekte, die sich bei der Patientin hilfreich auf die Bearbeitung der psychischen Störung auswirken. Die Perspektive, sich als einzelne Person in einem Beziehungsnetz zu befinden, in dem alle Beteiligten eine Aufgabe und Rolle übernommen haben, ergibt eine neue Sichtweise für die Patientin. Verhaltensweisen einzelner Personen können bei der kontextuellen Betrachtung des Gesamtsystems und in der Beziehung zu den politischen und kulturellen Verhältnissen neu empfunden werden. Für die Patientin emotional besetzte Themen werden hierbei oftmals neu formuliert und auf eine neue Art authentisch erlebt. Genogramme können im Rahmen der therapeutischen Arbeit mit Einzelpatientinnen eine große Hilfe sein, um systemische Zusammenhänge für die Patientin herzustellen und sowohl die Bedeutung ihrer eigenen Rolle als auch anderen Personen gegenüber zu beleuchten. Auch im Paar- und Mehrperso-

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nensetting ist die Arbeit mit den Genogrammen von Vorteil, da beim anderen durch das Bewusstwerden der Hintergründe des Verhaltens das Verständnis gesteigert wird (vgl. Kapitel 6.9.3, Fallbeispiel 9). Mit Hilfe von Genogrammen können Informationen über Struktur, Beziehungsmuster sowie Funktionalität bzw. Dysfunktionalität eines Familiensystems sowohl auf der Ebene der Patientin (horizontal) als auch auf der Ebene der Eltern und Großeltern bzw. Kinder (vertikal) im Kontext mehrerer Generationen eines Systems gewonnen werden. Zu den Grundlagen einer Genogrammarbeit zählen vor allem folgende Daten, Hintergründe und transgenerationalen Zusammenhänge: Namen, Alter, Geburtsund Sterbedaten, Position in der Geschwisterreihe, Heimatort und Orts- bzw. Kulturwechsel, Beruf sowie berufliche Erfolge und Misserfolge, Stellenwechsel, Eheschließungen, Trennungen, Scheidungen, frühere wichtige Partner von Elternteilen, Geburten, Abtreibungen, Fehl- und Totgeburten, Krankheiten, Behinderungen, Unfälle, Grenzverletzungen der eigenen Person (Traumata) sowie Todesursachen. Hinzu kommen der ethnische und religiöse Hintergrund und bedeutsame Informationen, die einer Person oder einem Ereignis zugeordnet werden. Durch eine Genogrammarbeit kann sich die Patientin ihrer eigenen Geschichte bewusst werden, daraus neue Perspektiven für ihre heutige Situation entwickeln und eine Basis für die angestrebten Veränderungen in der Zukunft schaffen. Der Einstieg in die Familienthemen und biografischen Geschichten schafft die Möglichkeit, sich dysfunktionaler Loyalitäten bewusst zu werden und die Rolle der bis dahin scheinbar unbeteiligten Mitglieder im Zusammenhang zu sehen und dadurch zu neuen Bedeutungs- und Bewertungsmustern zu kommen. Die Reflexion gegenwärtiger Einstellungen auf der Grundlage der überlieferten Geschichten macht für die Patientin eine mögliche Verknüpfung mit Delegationen und transgenerationalen Vermächtnissen deutlich und vergrößert für sie die Alternativen, in Zukunft damit umgehen zu können. Der Therapeut unterstützt die Patientin darin, die Rolle der beteiligten Personen sowie die Qualität bzw. die Konfliktdynamik der Beziehungen untereinander im Zusammenhang zu sehen und sich der Auswirkungen auf ihre Person und ihre psychische Störung bewusst zu werden (vgl. Tietel, 2006). 4.2.8.3 Die Visualisierung und Aufstellung von Systemen

Die Visualisierung von Systemen hat das Ziel, einer Person die Informationen und Eindrücke, die sie über ihr System hat, sowie die eigene Rolle in diesem System in einer neuen metaphorischen Form bewusst zu machen. Dabei wird das System entweder von der Patientin selbst oder vom Therapeuten bildlich dargestellt. Die Person gewinnt aus dieser externalisierten Position neue Erkennt-

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nis- und Handlungsmöglichkeiten, da neben den bedeutsamen Inhalten vor allem die Verbindungen und Dynamiken zwischen den einzelnen Personen und Themenfeldern deutlich werden. Zur Illustration können für die Personen die Symbole aus der Genogrammarbeit sowie die Verbindungslinien für die Qualität der Beziehung zwischen den Personen genutzt werden (siehe Abbildung 4). Durch die Größe der Symbole, deren Positionierung in Bezug zur Patientin sowie den spezifischen Beziehungsqualitäten lassen sich soziale Muster und Regeln erkennen, die für die Patientin hilfreich sind. Eine metaphorische Darstellung des Systems kann auch durch Stühle oder andere Gegenstände im Raum erfolgen. In diesem Fall stellt die Patientin die Stühle bzw. andere Symbole in der Form auf, dass sie in der Auswahl und dem Abstand zueinander ihrem inneren Bild von der Situation entsprechen. Die Auswahl der Symbole beschränkt sich nicht auf Personen allein, sondern auch die psychische Störung, die Fragestellung und das damit verbundene therapeutische Ziel sowie weitere bedeutsame Themen können repräsentiert werden. Je nach Symbol und Situation kann die Patientin die einzelnen Positionen einnehmen und aus dieser Sicht ihre Empfindungen mitteilen oder auf die Fragen des Therapeuten eingehen. Direkt oder im Anschluss reflektieren Patientin und Therapeut gemeinsam über die Visualisierung hinsichtlich der folgenden möglichen Aspekte: – die Ausprägung von Nähe und Distanz bei den einzelnen Personen, – die Qualität des Kontakts innerhalb und zwischen den beteiligten Subsystemen, – die unterschiedlichen Positionen der Personen zur Fragestellung der Patientin in Beziehung zur psychischen Störung, – die Orientierung und Richtung der beteiligten Personen (Allianzen/Koalitionen), – die wahrgenommenen Wechselwirkungen zwischen den Beteiligten und die Auswirkungen darauf. Durch diese interaktive Phase der systemischen Therapie sammelt der Therapeut diagnostisches Material und setzt dieses gleichzeitig in Interventionen um, die ihm wieder diagnostisches Material liefern. Der Patientin wird durch diese Form der zirkulär-kausalen Betrachtung und Bearbeitung ein affektiv gerahmter Prozess ermöglicht, in dem ihr die eigene Situation und die Auswirkungen auf andere bewusst werden. Durch Ergänzungen oder räumliche Veränderungen kann die Patientin mögliche Alternativen im Sinne des So-tun-als-ob erleben und dabei den jeweiligen Bedeutungen für sich nachspüren (vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 2009, 2012; Weber u. Simon, 1987). Die Vorschläge zur Verände-

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rung können dabei auch vom Therapeuten kommen, um der Patientin Anregungen zu geben, ohne Lösungen vorzugeben. Das mögliche Probehandeln im therapeutischen Rahmen verschafft der Patientin Sicherheit für die Umsetzung in ihrer Lebenssituation. Auf die Frage der Aufstellung von Patienten oder Patientensystemen in Gruppen, indem Personen als Repräsentanten von Systemmitgliedern an subjektiv richtig empfundenen Positionen aufgestellt werden, um die wahrgenommenen Gefühle und das Beziehungserleben zu den anderen Stellvertretern zu bearbeiten, sei hier nicht näher eingegangen, da dies ein eigenständiger Bereich ist (zur Vertiefung siehe Weber, Schmidt u. Simon, 2005).

Mann/Frau Aktuelles Alter Geburtsjahr

47

50 1964–

1967–

//

Gemeinsamer Haushalt

Verstorben (Alter)

75 1938–2013

Patient

Ehe

Scheidung Kinder leben bei der Mutter Links: Ältestes Kind

//

12

7

Positive Beziehung

Konflikt (offen)

Konflikt (verdeckt)

Sehr konflikthafte Beziehung

2002– 2007–

Abbildung 4: Symbole für die Erstellung eines Genogramms

4.2.8.4 Eigenschaften von Systemen: Zur Struktur von Familiensystemen

Unter systemischen Gesichtspunkten werden Personen – Gesunde wie Kranke – immer in Bezug auf ihren sozialen Kontext gesehen. Jedes Individuum befindet sich demnach in unterschiedlichen Systemen mit eigener Ordnung und Struktur. Allgemeine Merkmale sind vor allem ihre Regelungsmechanismen, die Verarbeitung und Speicherung von Informationen, ihre Anpassungsfähigkeit gegenüber Anforderungen von außen, die Fähigkeit zur Selbstorganisation und die Entwicklung von Strategien für das eigene Verhalten. Diese Merkmale

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gelten ebenso für das System Familie, das auch in der heutigen Zeit mit seinen unterschiedlichsten Lebensentwürfen nach wie vor ein für die Sozialisation des Einzelnen entscheidendes System darstellt. In der Familie existiert eine Reihe von Regelungsmechanismen, die den Ablauf der Interaktionen der einzelnen Familienmitglieder untereinander gestalten. Durch die unterschiedlichen Rollen (Vater, Mutter, Kind, Großmutter, Großvater etc.) ergeben sich Aufgaben, Rechte und Pflichten, die das Zusammenleben prägen. Über die Familie hinaus bestehen weitere unterschiedliche soziale Systeme, die eine Gesellschaft prägen und ihrerseits wieder durch Werte, Normen und Regeln der Gesellschaft und ihres Kontextes beeinflusst werden. Die familiäre Kohäsion als Gradmesser für die emotionale Verbundenheit der einzelnen Mitglieder untereinander stellt einen bedeutsamen Maßstab für die Gesundheit des Systems dar. Wird die Kohäsion als zu stark erlebt, kann dies die Eigenentwicklung des Einzelnen ebenso behindern wie eine fehlende emotionale Bindung als Stütze in konflikthaften oder problematischen Situationen (Minuchin, 1977; Olson, Russell u. Sprenkle, 1983; Schneewind, 2010). Neben der gefühlten Verbundenheit stellt die Adaptabilität, die Fähigkeit, sich auf veränderte Bedingungen und Situationen einstellen zu können, einen weiteren wichtigen Faktor für das Sozialsystem Familie dar. Durch die individuelle Entwicklung aller Familienmitglieder wird im System Familie ein ständiges Sichanpassen an neue Realitäten gefordert. Ein zu geringes Maß an Anpassungsfähigkeit führt zu einer Auslassung notwendiger Veränderungen, während ein Übermaß chaotische Verhaltensweisen fördert, die das System überfordern. Jedes soziale System, so auch die Familie, zeichnet sich dadurch aus, dass es mehr ist als die Summe seiner Einzelmitglieder (Übersummation). Ähnlich eines musikalischen Werkes stellt etwa das Familiensystem in seiner Gesamtheit eine jeweils einzigartige Komposition dar, die sich aus der gesetzmäßigen Anordnung von Noten, Pausen und Vorzeichen ergibt und den für die Zuhörer unverwechselbaren Klang ausmacht. So lassen sich bestimmte Verhaltensweisen und Vorgänge nur mit der An- bzw. Abwesenheit einzelner Familienmitglieder verbinden. Gleiches gilt für besondere Verhaltensformen durch die zeitweilige Integration von außenstehenden Personen. Soziale Systeme differenzieren sich in verschiedene Teile. Diese lassen sich als Subsysteme auffassen, die durch unterschiedliche Aufgaben, Rollen oder Inhalte geprägt sind. Beim Familiensystem sind dies vor allem die Subsysteme Eltern, Paar, Kinder, Geschwister, Großeltern und gegebenenfalls neue Partner. Es kann sich dabei um beständige Verbindungen handeln oder um kurzzeitige Zweckbündnisse, um in einer bestimmten Situation nicht allein dazustehen. Oft lassen sich die Abläufe im Gesamtsystem aus der Konstellation der Subsysteme erklären.

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4.2.9 Die systemische Therapie in der aktuellen Anwendung

Das systemische Modell orientiert sich stark an den vorhandenen sowie zu entwickelnden Ressourcen. Menschen zeigen an sich kein »sinnloses Verhalten« und gerade hinter problematischem Verhalten liegt die Aufgabe, diesen Sinn zu entschlüsseln. Sinnlos wird ein Verhalten nur dann, wenn der Kontext, das System dahinter, keine Beachtung findet. Im Gegenzug wird das Verhalten erklärbar, wenn es in einem Kontext gesehen wird. So lassen sich beispielsweise über das Erfassen von Triangulationen Konflikte, die über Dritte umgeleitet werden, entdecken. Bei der systemischen Erfassung von psychischen Störungen ist es notwendig, die Wechselwirkungen mit den mitbeteiligten Personen zu beachten. Personen neigen dazu, Probleme und Konflikte zu personifizieren, indem das Problem an einer Person festgemacht wird. Dies führt häufig zu einer Schuldzuweisung und der Konsequenz, dass das Problem nicht gelöst werden kann. Aus systemischer Sicht drückt eine Person zwar das Konflikthafte aus, was jedoch nicht die Ursache des Konflikts bedeutet. Im Rahmen von Therapieprozessen stehen daher die impliziten Muster und Regeln, denen Patientinnen oftmals unbewusst unterworfen sind, im Fokus. Ein soziales System ist mit der Eigenschaft eines Mobiles vergleichbar. Ändert sich die Position oder das Verhalten eines Mitglieds des sozialen Systems, so wirkt sich diese innere oder äußere Bewegung auf die anderen Mitglieder aus (Rieforth, 2007). Das Tun des einen bedingt somit das Tun des anderen. So ist es sinnvoll, sich dieses Phänomen zu eigen zu machen und alle Mitglieder des Systems in den therapeutischen Prozess einzubeziehen, um jegliche Verkettungen, Verbindungen und Systemstellen zu durchdringen. In der systemischen Arbeit geht es nicht darum, soziale Systeme in einem direkten Sinne zu instruieren, sondern vielmehr darum, sie mit neuen Informationen anzuregen. Systemische Fragen zielen darauf ab, der Patientin die Möglichkeit zu geben, sich mit Inhalten und Themen zum Problem zu beschäftigen, die für sie bis dahin keine Rolle gespielt haben. Lässt sich die Patientin auf die Beantwortung der Fragen ein, so fängt sie zwangsläufig an, auf ihrer inneren Landkarte an neuen Punkten zu suchen. Dadurch wird eine Veränderung bei ihr angeregt, ohne eine Lösung vorzugeben. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, die Wirklichkeitsannahmen und Verhaltensmuster der Patientin bewusst zu machen. Mögliche Fragen, die er sich dabei stellen könnte, sind im Folgenden zusammengefasst. Fragen zu der Lebensgeschichte und den Bedeutungszusammenhängen für die Patientin: – Welche Hintergrundannahmen lassen die Patientin diese Geschichte als hilfreich bewerten?

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– Welche bisher von der Patientin ungenannten Hintergrundannahmen bestimmen diese Geschichte? – Welche Ideen der Patientin erklären aus ihrer Sicht, wie Menschen sprechen und handeln? – Welche Annahmen der Patientin über die Fragen, wie man lebt und wie man ist, tragen zur Behebung bzw. Linderung der Störung bei? – Welche Ideen hat die Patientin über gute und schlechte Beziehungen? – Wie haben sich diese Ideen bei der Patientin entwickelt? – Welche Ideen sind hilfreich für die Beziehung der Patientin zur Störung? – Welche Ideen hat die Patientin darüber, ob und wie ihre Sichtweise mit den Sichtweisen der anderen Mitglieder aus dem System übereinstimmt?

Ciompi beschrieb in seinem Modell der Affektlogik die gegenseitige Abhängigkeit von Kognition und Affekt (1982, 1997) und verwies auf deren Bedeutung für den Menschen als denkendes und fühlendes Wesen. Danach ist das Denken in Form der Logik unweigerlich mit dem Affekt, der Gefühlsregung verbunden. Diese Verbundenheit bewirkt, dass die Selbstorganisation des Menschen motiviert, geprägt, organisiert und gestaltet wird (von Sydow et al., 2007), und sie stellt eine wichtige Brücke für die Verbindung von tiefenpsychologischen und systemischen Ansätzen dar, um psychische Störungen nicht nur als Kommunikationsbeiträge zu sehen, sondern bei der Dekonstruktion von Krankheitsdiagnosen stets darauf zu achten, dass die damit verbundene Affektdimension für das Selbst (Patientin) erhalten bleibt. Gerade diese Möglichkeit, die Gefühle der Patientin zu berücksichtigen und in die therapeutische Beziehung einzubringen, stellt eine neue Qualität dar (vgl. Kapitel 5). Rahmenbedingungen für die Patientinnen zu schaffen, um ihnen die Klärung und Entfaltung ihrer persönlichen Zielsetzungen zu ermöglichen und innerhalb dieses Prozesses die Erprobung möglicher Lösungen durch Probehandlungen zu fördern, stellt eine Grundlage jedes therapeutischen Prozesses dar. Aus tiefenpsychologisch-systemischer Sicht bedeutet dies, der persönlichen Geschichte der Patientin wie auch der Person des Therapeuten eine besondere Bedeutung beizumessen. Daher wird die Beziehungsdynamik sowohl auf der Ebene des Realkontaktes der Patientin als auch auf der Ebene der Übertragungsbeziehung im Therapieprozess reflektiert. Durch diesen Prozess wird der Patientin die Gelegenheit zur Neubewertung und damit zur Distanzierung gegeben (vgl. Fürstenau, 2005). Auf der Grundlage eines entwicklungsorientierten Menschenbildes, wonach jedes Individuum sich eigenständig und selbstregulierend verhalten kann, interveniert der Therapeut und regt die Patientin im sprachlichen Dialog und mit

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weiteren angemessenen Interventionsmethoden dazu an, ihre Selbstautonomie zu stärken. Dies setzt die Kompetenz des Therapeuten voraus, bei der Patientin neben den defizitären (pathologischen) Aspekten mindestens ebenso präzise die gesunden Persönlichkeitsanteile und Fähigkeiten zu erkennen und als Ressourcen in der Behandlung zu nutzen. In einem Mehrpersonensetting gelten folgende therapeutische Grundhaltungen des Therapeuten: – Der Therapeut beobachtet die direkten Interaktionen zwischen den Systemmitgliedern (Familie). – Er nimmt die Aussagen der Betroffenen zu ihrem aktuellen Beziehungserleben und Befinden wahr. – Er beobachtet und analysiert die Interaktionen zwischen den Systemmitgliedern und ihm als Therapeuten. – Er nimmt die Rekonstruktionen erlebter und gemeinsam geschaffener Systemgeschichte wahr. – Er sammelt Informationen über die objektive materielle und soziale Lebenslage der Familie/des Systems. Um eine konstruktive therapeutische Beziehung in einem Mehrpersonensetting aufzubauen, ist es für den Therapeuten wichtig, aktiv zu allen Systemmitgliedern eine respektvoll wertschätzende Beziehung herzustellen. Dabei muss frühzeitig darauf geachtet werden, auch die bei der Therapie abwesenden Personen zu integrieren. Dies erfordert besondere Vorgehensweisen und Kompetenzen von dem Therapeuten, die in einer systemischen Haltung von Allparteilichkeit und Neutralität zum Tragen kommen. Die Grundhaltung der Allparteilichkeit sichert der Patientin die Annahme des von ihr Gesagten und Dargestellten ohne eine Bewertung zu. Bei der Teilnahme mehrerer Personen (Familie, Paar) fühlt sich der Therapeut temporär in die Sichtweise jeder Partei ein und nimmt die unterschiedlichen Meinungen, Perspektiven und Gefühle auf, um den Austausch zu fördern. Auf der Basis der Neutralität gibt der Therapeut zum Verhalten und zu den Aussagen der Patientin Rückmeldungen ohne eine Lösungsvorgabe, um die Autonomie und ihre Mentalisierungsfähigkeit im Umgang mit dem Problem bzw. der psychischen Störung zu unterstützen. So bleibt die Patientin Expertin ihres eigenen Problemerlebens und wird angeregt, sich auszutauschen und sich mit Aspekten ihrer Störung auseinanderzusetzen, die bisher nicht berücksichtigt wurden (vgl. Simon u. Weber, 1987). Der Umgang mit den unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen der Beteiligten und die Auswirkungen auf die transaktionalen Muster und Regeln des Systems stellt den Therapeuten vor eine große Herausforderung: Er darf

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nicht von den Beteiligten ins Problemsystem hineingezogen werden, um nicht die Voraussetzung für seine Intervention zu verlieren (siehe Abbildung 5).

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Abbildung 5: Die professionelle Systemgrenze im therapeutischen Prozess

Die Vorstellung, dass Patientinnen auf der Suche nach der Befriedigung ihrer Bedürfnisse sich immer wieder durch unangemessene Überzeugungen oder Einstellungen, Erwartungen an sich selbst oder an andere sowie durch unangemessene Beziehungs- und Umgangsformen hindern lassen, stellt den Ausgangspunkt eines jeden Therapieprozesses dar. Diese Situation drückt sich für den Therapeuten in transaktionalen Mustern und Regeln, Grundannahmen, Übertragungsmustern und Symptomen aus. Erkenntnisse aus der neueren Therapieforschung besagen, dass neben der notwendigen fachlichen Kompetenz auf dem Gebiet der Störungsmodelle die Fähigkeit des Psychotherapeuten, sich auf die jeweiligen Zielsetzungen der Patientensysteme einstellen zu können, eine Grundvoraussetzung für das Gelingen des Therapieprozesses bildet. Erst auf dieser Grundlage wird der Therapieprozess von den Patientinnen als förderlich erlebt und kann dabei helfen, durch bisherige Überzeugungen und Einstellungen hervorgerufene Behinderungen wahrzunehmen und zu überwinden. Aus den genannten Gründen kommt je nach Therapieauftrag der Kreierung eines angemessenen Settings eine besondere Bedeutung zu. Die Rolle des The-

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rapeuten ist geprägt durch eine aktive reflektierende Grundhaltung, die sich je nach Auftrag und Kontext unterscheidet. Fürstenau (2005) schlägt daher eine Aufteilung nach Einzelpersonen und weiteren Settings (Paar, Familie etc.) in Bezug auf die inhaltliche Zielsetzung vor. 4.2.9.1 Grenzen der systemischen Therapie und neue Möglichkeiten

Bei der Umsetzung des systemischen Modells in der psychotherapeutischen Praxis fällt auf, dass bis heute die unbewussten Fantasien der einzelnen Personen im Kontext der familiären Beziehungsfantasien weiterhin unberücksichtigt bleiben. Gleiches gilt für die Wiederholungstendenzen der Beziehungsfantasien von Patientinnen und Therapeuten im therapeutischen System. Die Nähe zur Psychoanalyse und den psychodynamischen Verfahren wird weiter eher zaghaft gesucht, stattdessen finden Annäherungen an die Verhaltenstherapie statt (Sturm, 2010). Dabei bietet insbesondere sowohl die Erweiterung durch die mehrgenerationale Ebene (systemische Biografie) als auch die Erweiterung um die unbewussten Phänomene sowie die Berücksichtigung von Übertragungsund Gegenübertragungsprozessen eine besondere Chance, die Komplexität menschlicher Erlebens- und Verhaltensweisen verstehbar und bearbeitbar zu machen. Vielleicht hat das teilweise manipulative und symptomorientierte Vorgehen in der Systemtherapie, wie es in einigen systemischen Ansätzen (Mailänder Ansatz zu Zeiten der Kybernetik erster Ordnung oder kurzzeitorientierte Ansätze, die einseitig lösungsorientiert sind) zum Ausdruck gekommen ist, das Auseinanderdriften psychodynamisch und systemisch orientierter Therapeuten mitbegünstigt, indem die Unterschiede zu groß geworden sind. Ebenso war es notwendig, dass die Familientherapie durch die systemische Therapie abgelöst wurde, um nicht auf die Interaktionsmuster in Familien reduziert zu werden und das System Familie gleichzeitig allein für die psychischen Störungen einzelner Mitglieder verantwortlich zu machen. Wichtig und hilfreich dabei ist, den jeweiligen Kontext als die Matrix der Bedeutungen zu erfassen und, falls möglich, mit Hilfe eines Reflektierenden Teams die Transparenz und Außensicht zu fördern (Weber u. Simon, 1987). Wertschätzende Rückmeldungen zu dem Beobachteten unterstützen die Entwicklung unterschiedlicher Wahrnehmungen und schaffen durch die Unterschiedlichkeit eine Vielfalt, die gleichzeitig daran erinnert, dass wir Beobachtende sind, die Beobachtende beim Beobachten beobachten. Dies macht deutlich, dass objektive Erkenntnis nicht unabhängig vom erkennenden Subjekt möglich ist und theoretisches Erkennen nicht ausschließlich rational sein darf. Da eine Wertneutralität nicht wirklich erreicht werden kann, liegt gerade in der Unterschiedlichkeit der Wahrnehmung eine Chance für die Bedeutsamkeit.

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Wie im Weiteren noch dargestellt wird, stellt dagegen der Rückgriff auf eine psychodynamische Klassifikation der Störungsbilder, die eine Integration der Erkenntnisse über soziale Interaktionsprozesse ebenso ermöglicht wie die Berücksichtigung zirkulär-kausaler Bedingungsgefüge und einer Kontextorientierung, einen entscheidenden Vorteil dar. Dies kann zu einem Verständnis der Erkrankung sowie zu der Entwicklung vielfältiger Formen therapeutischen Handelns beitragen. Diese Überlegungen sind nicht im Sinne einer objektiven Realität zu verstehen, sondern sie sind stets mitgeprägt durch beobachterabhängige Annahmen über die Komplexität menschlichen Verhaltens. Aus systemischer Sicht werden psychische Störungen demnach nicht nur als Eigenschaft mit einer charakterspezifischen Konstanz und einer linearen Entwicklungsgeschichte verstanden, sondern als kontextspezifische und für alle beteiligten Systemmitgliedern als mehr oder minder nützliche oder behindernde, konsensfähige oder hochumstrittende Phänomene des Zusammenlebens betrachtet (Guntern, 1979, 1980; Simon, 1990; Ludewig, 2013). Diese Grundannahme bietet die Möglichkeit, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und systemische Therapie in der Form zu verbinden, dass ein Höchstmaß an intraindividueller Klarheit über die Störung durch den gleichzeitigen Bezug zum jeweils angemessenen sozialen Bezugssystem gewährleistet ist. Darüber hinaus bietet die Haltung des systemischen Therapeuten und seine Form der Beziehungsgestaltung sowie seine Interventionsvielfalt bei wechselnder humorvoller, provokativer und fokussierter Prozessgestaltung weitere Erfolg versprechende Verbindungspunkte (Schwing u. Fryszer, 2006). Wie dies im Einzelnen erreicht werden kann, wird in den folgenden Kapiteln noch genauer dargestellt. 4.2.9.2 Zusammenfassung

Die systemische Therapie geht davon aus, dass das Störende nicht linear zu erklären, sondern zirkulär zu betrachten ist. Eine einseitige Verursachung wird vermieden, vielmehr wird allumfassend das ganze soziale System um das Problem herum fokussiert. Eine Schuldzuweisung wird zugunsten der Suche nach einer dahinterliegenden sinnvollen Absicht gewandelt. Die folgenden systemischen Fragestellungen können in diesem Zusammenhang hilfreich sein (dabei handelt es sich um eine Auswahl; zur Darstellung unterschiedlicher Frageformen siehe zur Vertiefung von Schlippe u. Schweitzer, 2012; Simon u. Simon-Rech, 2004; Tomm, 1988, 1994): – Wieso kommt die Patientin gerade zu diesem Zeitpunkt in die Therapie und welche Bedeutung kommt dem Überweisungskontext dabei zu? – Welche aktuellen Probleme und Beschwerden äußert die Patientin und wie lauten die einzelnen Erklärungsmuster der mitbetroffenen Personen (Fami-

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lienmitglieder oder andere Personen)? Wer leidet am meisten unter dem Problem, wer wäre am meisten betroffen, wenn es sich verändern würde? Was soll sich aus Sicht der mitbetroffenen Personen (System-/Familienmitglieder) verändern? Welche Bewältigungs- bzw. Lösungsversuche haben bereits stattgefunden? Welche Ressourcen zur Bearbeitung des Problems bringt die Patientin in den Therapieprozess mit und welche Ressourcen bestehen in ihrem sozialen Kontext? Woran lassen sich die Motivation der Patientin zur Veränderung und die Bereitschaft zur Mitarbeit erkennen und wie gegebenenfalls fördern? Welches Setting (Einzel-, Paar-, Familiensetting etc.) scheint am ehesten zur Störungsbehandlung geeignet zu sein?

Fasst man die Grundlagen des systemischen Modells zusammen, dann lassen sich folgende Grundideen ausweisen: Jedes Individuum ist immer auch Teil eines größeren Ganzen (Gruppe, Familie, Klasse, Staat). Soziale Systeme organisieren sich aufgrund von vorhandenen Mustern (Lebensstil, Team, Familie), die sich durch Wechselwirkungen des menschlichen Verhaltens unterschiedlich entwickeln können (z. B. erstarrt, losgelöst, verstrickt). Dieser Prozess ist jeweils spezifischen Regeln unterworfen, die nur aus dem Kontext heraus zu verstehen sind und den Beteiligten nur zum Teil bewusst sind. Diese Muster und Regeln geben menschlichen Beziehungen in der Gegenwart immer eine bestimmte Struktur bzw. Gestalt vor. Sie spiegeln sich in den Epistemen als Grundlage des Denkens, Erkennens, Verhaltens und Fühlens des Menschen wider und verleihen dem Handeln einen Sinn. Daher wird das Verhalten des Einzelnen sowohl von seinen Ideen und Vorstellungen als auch vom Verhalten der anderen Mitglieder eines Systems bestimmt. Je enger und verdinglichter diese sind, desto enger werden auch die Handlungsräume. Die Ideen darüber, was Realität darstellt, werden durch rekursive Prozesse bestätigt, erhalten und verändert. Oft führen sie zu selbsterfüllenden Prophezeiungen und halten damit das Problem aufrecht. Bei der Arbeit mit sozialen Systemen (Patientin) existiert keine vom Beobachter (Therapeut) unabhängige Wirklichkeit, da bereits der Vorgang der Beobachtung das ändert, was beobachtet wird. Im Therapiekontext zeigen sich die Beziehungsdimensionen zwischen Therapeut und behandeltem Patientensystem als Elemente, die in jedem Augenblick den therapeutischen Prozess mitgestalten. Durch die Vernetzung der Verhaltensabläufe wird die Entscheidungsfähigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen nicht aufgehoben. Im systemischen Modell wird davon

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ausgegangen, dass jeder Mensch seine Situation mitgestaltet und nicht (nur) Opfer innerer oder äußerer Umstände (z. B. einer Krankheit) ist. Auf der Basis eines wachstums- und entwicklungsorientierten Menschenbildes betont die systemische Theorie und Praxis bei psychischen Störungen und Problemen die Erkundung von Ressourcen, um Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten für den Umgang mit diesen Schwierigkeiten zu entwickeln. Das systemische Therapieverfahren zielt in erster Linie auf die Hilfestellung zur Reorganisation von Strukturen und Hierarchien in menschlichen Systemen ab. Das dabei entwickelte therapeutische Beziehungsangebot berücksichtigt insbesondere die innere Landkarte der Patientin (Wirklichkeitskonstruktion), um die Selbstorganisation zu stärken. Im Rahmen des systemischen Prozesses wird eine Veränderung und Entwicklung in eine größere Selbstständigkeit (Individuation) bei gleichzeitigem Kontakt und Austausch (Bezogenheit) mit anderen sozialen Systemen (Kinder, Partner, Kollegen) angeregt. Im therapeutischen Prozess werden die Ressourcen der Patientin (wieder) verfügbar gemacht, um auf diese Weise die Handlungsmöglichkeiten der Patientin zu erweitern.

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren: Mehr als die Summe der einzelnen Konzepte

Wie deutlich geworden sein dürfte, stellt die Psychoanalyse sowohl für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als auch für die systemische Therapie einen Teil der gemeinsamen Wurzeln dar. Aus diesen Wurzeln entwickelten sich beide Verfahren zu jeweils eigenen Identitäten mit Ideen und Konzepten, sodass die Informationen wirklich einen Unterschied machen (vgl. Bateson, 1981, S. 582). Die Ausgangsbedingungen für beide Verfahren waren sehr unterschiedlich. Während die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie lange als die »kleine Schwester« der Psychoanalyse galt und sich viele Jahre um ihre Eigenständigkeit bemühen musste, entwickelte sich die Systemtherapie in den 1950er Jahren eher als Gegenmodell zu den bestehenden Verfahren, insbesondere zur Psychoanalyse. Heute, mehr als 120 Jahre nach den konzeptionellen Ideen von Sigmund Freud, können beide Verfahren auf eine beeindruckende Entwicklung ihres jeweils eigenen Profils zurückblicken. Mit der Einführung des Psychotherapeutengesetzes im Jahre 1999 wurde die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie im Rahmen der Psychotherapie-Richtlinien als Verfahren anerkannt, die seit dieser Zeit eine größere Eigenständigkeit und inhaltliche Profilierung erkennen lässt. Ihr Fokus liegt auf der Ebene der aktuellen psychischen Konflikte und gerade nicht – wie bei der klassischen Psychoanalyse – auf der Ebene der Grundkonflikte unter Nutzung vertiefter Regression. Diese Entwicklung hat die Möglichkeiten für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die systemische Therapie vergrößert, sich wieder inhaltlich und auch in methodischen Teilbereichen anzunähern. In diesem Kapitel werden die heute bestehenden Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede beleuchtet und dargestellt. Bei dem Vergleich beider Verfahren soll die Qualität der Eigenständigkeit deutlich werden und darüber hinaus eine mögliche Qualitätssteigerung, die durch eine Neubeziehung und den dialogischen Austausch beider Verfahren zu erreichen wäre.

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

Im Folgenden sprechen wir im Rahmen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie stets von Psychodynamischer Psychotherapie, wie es im internationalen Sprachgebrauch üblich ist, und schließen uns damit auch dem für die wissenschaftliche Anerkennung von Psychotherapieverfahren (im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie) verantwortlichen Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie an. In seiner Stellungnahme zur Psychodynamischen Psychotherapie sieht er keine wissenschaftliche Grundlage für eine Unterscheidung zwischen tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie als zwei voneinander getrennte Verfahren (Deutsches Ärzteblatt, 2005). Nur in Situationen, die ausbildungsspezifische Thematiken beinhalten, verwenden wir weiterhin den Begriff tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie.

5.1 Psychodynamische und systemische Psychotherapie: Ein Methodenvergleich Aufgrund ihrer Entwicklungsgeschichte unterscheiden sich die Methoden der Psychodynamischen Psychotherapie und der systemischen Therapie deutlich voneinander. Ein Ziel der Psychodynamischen Psychotherapie ist es, der Patientin eine neue Einsicht in die ursächlichen (meist unbewussten) Zusammenhänge ihres Konflikts zu vermitteln. Durch die Analyse von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen wird die Beziehung zwischen Patientin und Therapeut explizit genutzt, um neue korrigierende Erfahrungen zu ermöglichen. Dieser Aspekt fehlt in der systemischen Therapie nahezu vollständig. Diese versucht vielmehr, der Patientin neue Einsichten in die zirkulär-kausalen Zusammenhänge ihrer eigenen Person im sozialen Kontext durch unterschiedliche Frageformen und -techniken zugänglich zu machen. Beide Verfahren entwickeln Hypothesen über die Hintergründe und Zusammenhänge zwischen den psychischen Störungen und den jeweils subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen der Patientin. Diese werden im Rahmen des psychotherapeutischen Prozesses stets auf ihre Bedeutung hin überprüft. Zur Bewusstmachung unbewusster Vorgänge, die mit der psychischen Störung in Verbindung stehen, nutzt die Psychodynamische Psychotherapie die Technik des Deutens im therapeutischen Prozess, beachtet dabei aber die Entwicklung im Beziehungsprozess. Ermann spricht in diesem Zusammenhang von einem intersubjektiven Beziehungsprozess und verweist auf die inhaltlichen Deutungen als Hauptdeutungsform, um den Patienten zu unterstützen, sich und sein Verhalten und Erleben besser verstehen und annehmen zu können (Ermann, 2004). Der Fokus liegt dabei auf den aktuellen psychosozialen und interpersonellen Alltagskonflikten bei Beachtung der Übertragungsprozesse innerhalb der therapeutischen Beziehung.

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Psychodynamische und systemische Psychotherapie: Ein Methodenvergleich

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In der klassischen Form stellt die Deutung eine Expertensicht des Therapeuten dar, in der die Sicht der Patientin unberücksichtigt bleibt. Dies birgt das Risiko, dass die Patientin sich nicht verstanden fühlt, was zu einem Abwehrverhalten führen kann. Durch dieses Patientenverhalten fühlt sich der Therapeut in seiner Deutung als Experte zwar oftmals bestätigt, allerdings kann dies in der Folge zu einer Verschlechterung der therapeutischen Beziehung führen und die Bereitschaft zur Bearbeitung konflikthafter Themen sinkt. Wird stattdessen die Deutung nicht nur in einer hypothetischen Form, sondern gleichzeitig als Frage an die Patientin formuliert, hat die Patientin bei der Rückmeldung des Therapeuten eigene Wahlmöglichkeiten. Im Vordergrund steht außerdem, im Rahmen eines gemeinsamen Dialogs mögliche Gründe und Zusammenhänge zu entwickeln und sich durch unterschiedliche Sichtweisen dem Thema zu nähern. In diesem Fall kommt der Patientin die Rolle der Expertin für die Bearbeitung des Problems zu, während der Therapeut die Rolle des Experten für die Unterstützung der Bewusstmachung übernimmt. Durch diese Interventionsform könnte die Patientin in beiden Verfahren angeregt werden, sich und ihr Verhalten und Erleben besser verstehen und annehmen zu können (inhaltsbezogene Hypothesenbildung). Im Rahmen der Systemtherapie kommt neben der allgemeinen Hypothesenbildung der Entwicklung von systemischen Hypothesen eine besondere Bedeutung zu. Mit Hilfe dieser Interventionsmethode wird das von der Patientin präsentierte Symptom im Gesamtzusammenhang der Situation betrachtet, um auf diese Weise Wechselwirkungen im Verhalten und Erleben sowie gegenseitige Abhängigkeiten zu erkennen, die für die Aufrechterhaltung oder Veränderung der Problematik mitentscheidend sind. Dabei ist die Anwendung von unterschiedlichen Frageformen zur Wirklichkeitskonstruktion, zur Problemsituation sowie zu unterschiedlichen Möglichkeiten, die Situation zu betrachten und damit umzugehen, sehr hilfreich (zur Vertiefung der Fragetechniken siehe von Schlippe u. Schweitzer, 2012; Schwing u. Fryszer, 2006). Diese unterschiedlichen Frageformen bieten umfangreiche Möglichkeiten, die Hypothesen zu operationalisieren und Unterschiede zu klarifizieren. Während in der Psychodynamischen Psychotherapie der Schwerpunkt auf der Erfassung und Bearbeitung unbewusster Anteile innerhalb der Person liegt, fokussiert die systemische Therapie die Bewusstmachung der Zusammenhänge zwischen den bedeutsamen Personen im System. Diese werden durch symbolische Interventionsmethoden wie beispielsweise dem Genogramm, der Aufstellung, Systemzeichnungen oder dem Familienbrett erarbeitet. In der systemischen Therapie stehen neben der Betrachtung der aktuellen Lebenssituation ebenfalls die Kontext-Ereignisse eines Systems im Interesse, und zwar unter der

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

Annahme, dass diese relevante Einflussgrößen (Impulse) für die Entwicklung der psychischen Störung gewesen sind bzw. sein könnten (im Hinblick auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). Aus systemischer Sicht steht nicht die Person allein im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern die Dynamik zwischen der Person und ihrem Krankheitssymptom innerhalb eines spezifischen Kontextes (Problemsystem). Bei aller Unterschiedlichkeit lässt sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten beider Verfahren finden. Beide sehen die Patientin nicht einseitig als Opfer ihrer Situation, sondern als aktive Mitgestalterin ihrer Lebensumstände und der damit verbundenen Kommunikationsformen und neurotischen Lösungsmuster. Ebenso sind beide Verfahren in ihrer heuristischen Form für unterschiedliche Prozesse und die Entwicklung individueller Lösungen offen. Die Psychodynamische Psychotherapie fördert die Bewusstmachung unbewusster Anteile innerhalb der Störungsdynamik der Patientin und nutzt diesen Prozess, um für die Patientin ein neues Verständnis des Symptoms zu entwickeln und daraus Handlungsoptionen abzuleiten. Die Bedeutung des Unbewussten für das bewusste Erleben und Handeln wird durch die Erkenntnisse der Hirnforschung unterstützt (vgl. dazu Kapitel 4.1.4) und stellt einen wesentlichen Faktor für die psychotherapeutische Arbeit dar (vgl. Juckel u. Edel, 2014). 5.2 Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung als Erkenntnisinstrumente In der Psychodynamischen Psychotherapie erfordert die Rolle des Therapeuten im Spannungsfeld von Übertragungs-, Real- und Aktualbeziehung die Kompetenz, sich sowohl in spezifischer und auch persönlicher Art und Weise auf den Prozess einzulassen als auch eine angemessene Abgrenzung vorzunehmen. In der systemischen Therapie spielt dagegen die Person des Therapeuten als aktiver Gestalter der Sitzung durch systemische Interventionen und Fragetechniken eine große Rolle, ohne die therapeutische Beziehung mit ihren Übertragungsund Gegenübertragungsphänomenen zu nutzen. Für ein affektiv tieferes Einlassen der Patientin auf ihre Thematik und eine entsprechende Passung der Interventionen durch den Therapeuten stellt die Arbeit mit der Beziehungsdynamik zwischen der Patientin und dem Therapeuten eine wichtige Grundlage dar (vgl. Ciompi, 1982, 1997). Diese Grundlage sollten beide Verfahren im therapeutischen Prozess nutzen, um die bisher unbewussten und von der Patientin nicht wahrgenommenen persönlichen intra- wie auch interpersonellen Zusammenhänge zu erkennen. Die sich daraus ergebende Beziehungsqualität zwischen Patientin und Therapeut

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Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung als Erkenntnisinstrumente

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könnte zusätzlich für die Erforschung der systemischen Hintergründe genutzt werden, beispielsweise durch die Arbeit mit der komplementären Gegenübertragung des Therapeuten. Das traditionelle Verständnis in der systemischen Therapie, der Patientin über den Therapeuten Anregungen für neue Sichtweisen zu geben, könnte durch die Integration dieser tiefenpsychologischen Kompetenz ergänzt werden. Demnach stellt sich der Therapeut als eine für die Patientin bedeutsame Person zur Verfügung – im Sinne eines wichtigen guten Objekts –, bei dem sich die Patientin so zeigen kann, wie sie fühlt und denkt, ohne befürchten zu müssen, den Therapeuten dadurch zu verlieren. Auf der anderen Seite könnte der psychodynamische Psychotherapeut im Rahmen der Nutzung von Übertragungsund Gegenübertragungsdynamiken vor allem die Bedeutung der Gegenübertragungsprozesse des sozial-emotionalen Netzwerks berücksichtigen, um die Bedeutung der Wechselwirkungen im sozialen Kontext der Patientin zu integrieren (siehe Fallbeispiel 4). Diese vielfältigen Wechselwirkungen sollen im Folgenden verdeutlicht werden. Fallbeispiel 4 Der Patient (51 Jahre) kam aufgrund einer depressiven Episode in die Therapiesitzung und berichtete zu Beginn von heftigen Auseinandersetzungen mit seinen Arbeitskollegen. Er fühle sich von diesen nicht ernst genommen und nicht wertgeschätzt. Alle konstruktiven Vorschläge seinerseits würden von den Kollegen zurückgewiesen und für unbrauchbar erklärt werden. Dies löse in ihm eine tiefe Enttäuschung und Minderwertigkeitsgefühle aus. In letzter Zeit sei es für ihn immer wieder zu Versagensängsten gekommen, die mittlerweile zu belastenden Schlafstörungen und ständigen beunruhigenden Gedankenkreisen geführt hätten. Der Therapeut fokussierte zunächst vor allem auf die Gefühle des Patienten mit den möglichen biografischen Hintergründen. Der Patient konnte sich jedoch nur schwer auf die emotional tieferen biografischen Hintergründe und Zusammenhänge einlassen und reagierte mit Abwehr, sodass der therapeutische Prozess ins Stocken geriet. Die Frage, wie seine Frau und seine zwei fast erwachsenen Kinder seine Problematik erlebt hätten, erstaunte und irritierte ihn zunächst, da ihm unklar war, was seine Familie damit zu tun habe. Im Anschluss entwickelte sich eine zunehmend lebhafte Darstellung über die unterschiedlichen Wahrnehmungen seiner Schwierigkeiten. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass vor allem seine Frau ganz anders mit diesen Schwierigkeiten umgehen würde. Da sie sich schon als Kind von ihren Eltern unterstützt gefühlt habe, sei sie schon früh in der Lage gewesen, Konflikte beispielsweise in der Schule gleich anzusprechen und gemeinsam zu lösen. Diese Erkenntnis erinnerte den Patienten an seine Nichtver-

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

setzung in der 6. Klasse. Als er damals nach Hause gekommen sei, habe ihn sein Vater an der Tür mit den Worten empfangen: »Deine Mutter hat wegen dir schon den ganzen Tag Migräne. Nun überleg’ dir mal, wie du das bei deiner Mutter wiedergutmachen kannst.« Die Reflexion dieser biografischen Situation, verbunden mit dem aktuellen Konflikt, machte dem Patienten deutlich, wie allein, minderwertig und schuldig er sich damals gefühlt hatte. Als ihm dies bewusst wurde, merkte er, wie tief dieses Erleben heute noch in ihm verankert war. Die Betrachtung dieser Situation im sozialen Kontext ergab darüber hinaus, dass er als Kind zwischen seinen Eltern gestanden hatte und als Partnerersatz für die enttäuschte Mutter herangezogen worden war (Parentifizierung). Die zusätzliche Frage des Therapeuten, was er glaube, wie es eigentlich seinem Vater in dieser Situation ergangen sei, überraschte ihn, da er sich bisher nur die Reaktion der Mutter bewusst gemacht hatte. Damit ergab sich für den Patienten die Erkenntnis, dass er durch das »Nichtverhalten« des Vaters hoch verunsichert war, da er nicht spüren konnte, was diese Situation für den Vater bedeutet hatte. Diese Verunsicherung hatte Auswirkungen auf sein Selbstwertgefühl und den Umgang mit Gefühlen in konflikthaften Situationen. Ähnliche Situationen mit seinem Vater hätten sich in seiner Kindheit und Jugend des Öfteren wiederholt. Diese Erkenntnis ermöglichte dem Patienten, die Verbindung zum aktuellen Konflikt zu sehen und zu verstehen. Die Intensität der dabei auftretenden Minderwertigkeitsgefühle und Verunsicherungen, wie sie bei den aktuellen Schwierigkeiten mit den Arbeitskollegen auftraten, konnte er als »wiederkehrendes Muster« im weiteren Verlauf der Therapie noch an vielen anderen Situationen auch in seinem privaten Bereich erkennen. Durch dieses »Neuverstehen« auf emotionaler intrapsychischer und systemischer Ebene veränderten sich die bisherigen Überzeugungen des Patienten und selbstbestimmte Handlungsalternativen konnten entwickelt werden.

Mit der Vorstellung einer stärkeren Bezogenheit der beiden Verfahren aufeinander erscheint es als sinnvoll, die Bedeutung der Persönlichkeit des Therapeuten, seine emotionale Präsenz und seine Subjektivität stärker ins Bewusstsein zu rücken (vgl. Kapitel 4.2.2). Dazu würde auch gehören, die Interventionen auf der Basis von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen zu reflektieren und so für den therapeutischen Prozess zu nutzen, um wertvolle Hinweise für die Zusammenhänge der psychischen Störung zu bekommen. Für den systemischen Therapeuten stellt das verstärkte Einfühlen in das Erleben der Patientin, ein Sichhineinversetzen und damit ein Sicheinlassen auf eigene Gefühle eine zusätzliche Chance dar, um in der therapeutischen Beziehung das von der Patientin Dargestellte auf der emotionalen Ebene zu erkennen. Für den systemischen

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Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung als Erkenntnisinstrumente

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Therapeuten bedeutet dies, sich auf seine eigene persönliche Betroffenheit im therapeutischen Prozess einzulassen, diese sowohl auszuhalten als auch aktiv zu reflektieren und zusätzlich als relevante Information für die Hypothesenbildung und die Interventionsangebote heranzuziehen. Die Grundlage für die Nutzung dieser Kompetenz der Gegenübertragungsanalyse wird in einem intensiven Selbsterfahrungsprozess erworben. Im Rahmen der Ausbildung zum approbierten tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeuten sind dies zum Beispiel an der Ausbildungsstätte der Universität Oldenburg im Einzelsetting 120 Stunden und zusätzlich 70 Stunden Selbsterfahrung in der Gruppe. Ziel dieser Selbsterfahrung ist das Erkennen der eigenen biografischen Anteile, deren intrapsychische Verarbeitung und dadurch die Möglichkeit, die Inhalte der Patientin von denen des Therapeuten zu unterscheiden. So können die bisherigen intersubjektiven Erfahrungen der Patientin in einem gemeinsamen, emotionalen System (Patientin/Therapeut) bewusst gemacht und bearbeitet werden. In dem therapeutischen Prozess, in dem als Erkenntnisinstrumente auch Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene genutzt werden, lässt sich der Therapeut in seiner Rolle auf eine Verstrickung ein, die für das Verstehen der Grundthematik hilfreich und für den Therapieprozess nützlich ist. So können Erfahrungen sowohl aus der Vergangenheit als auch aus der Gegenwart der Patientin, die sich in ihrer Darstellung der Konfliktsituation und ihren Beziehungsmustern zeigen, im direkten interpersonellen Kontakt bewusst gemacht werden. Dies erfordert von dem Therapeuten eine ständige Selbstreflexion seiner Gegenübertragungsgefühle, um die eigenen biografischen Anteile identifizierend einordnen zu können. Auch im tiefenpsychologisch fundierten Verfahren bekommt die Rolle des Therapeuten eine zunehmend aktivere Position. Die Anwendung und Integration von Interventionsmethoden aus anderen therapeutischen Verfahren und die therapeutische Arbeit an konkreten Veränderungszielen wirkt sich immer deutlicher aus (vgl. Wöller u. Kruse, 2010; Rudolf, 2010). So nutzen mittlerweile beide Verfahren ein aktives Vorgehen des Therapeuten, um die Geschichten und Perspektiven der Patientin zur psychischen Störung durch eine intensive Einbeziehung der Emotionen und Affekte zu erhellen. Auf der Grundlage dieser affektiven Bearbeitung kann eine Überprüfung der erinnerten Situationen und eine entsprechende Neubedeutung oder Neubewertung durch die Patientin vorgenommen werden. Die damit bewusst gewordenen Erinnerungen ermöglichen das Erkennen einer neuen Sinnhaftigkeit der Zusammenhänge und unterstützen die Dekonstruktion und Ablösung von Störungen und Problemen durch die Erzeugung alternativer Erzählungen und neuer Perspektiven zur Verantwortung der beteiligten Personen: »Durch diese Ablösung

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

entsteht ein Freiraum, in dem sie [die Patienten] ein anderes und ›besseres‹ Wissen über sich selbst erkunden können; ein Wissen, in dem ihr künftiges Leben seinen Platz finden könnte« (White u. Epston, 1992, S. 52). Auf diese Weise können die Patientinnen in die Lage versetzt werden, nicht mehr nur Passagiere ihres Lebens zu sein, sondern aktiv das Steuer in die Hand zu nehmen. Durch das Bewusstwerden der eigenen Lebensgeschichte sind sie nicht länger nur Protagonisten eines für sie geschriebenen Theaterstücks, sondern verfügen über Wahlmöglichkeiten bezüglich ihrer Lebenspraktiken und Lebensweisen. 5.3 Intrapsychisch, interpersonell, systemisch: Die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven Während die Psychodynamische Psychotherapie durch die gemeinsame Tradition mit der Psychoanalyse lange von der Vorstellung geprägt war, dass der therapeutische Schutz- und Entwicklungsraum nur durch die exklusive Beziehung zwischen Patientin und Therapeut gewahrt werden kann, hat die systemische Psychotherapie vor allem durch die Einbeziehung der für die Patientin emotional bedeutsamen und am Konflikt beteiligten Personen große Erfolge erzielt. Im Laufe der Zeit konnten unterschiedliche Modelle und Settings für den therapeutischen Prozess entwickelt werden. Die Verbindung zwischen intrapsychischen, interpersonellen und systemischen Ebenen und die Berücksichtigung ihrer Schnittstellen für die Bearbeitung psychischer Störungen drückt sich in der besonderen Qualität der Beziehung in beiden Verfahren aus. Die sich dadurch ergebenden unterschiedlichen Perspektivmöglichkeiten lassen sich folgendermaßen kurz zusammenfassen: – Perspektive: wie sich die Patientin selbst erlebt, – Perspektive: wie die Patientin andere erlebt, – Perspektive: wie andere die Patientin immer wieder erleben, – Perspektive: wie andere sich gegenüber der Patientin immer wieder erleben. Eine ähnliche Betrachtung findet sich auch im Rahmen der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) auf der Achse II (Beziehung) wieder (vgl. Kapitel 6.3). Da zwischenmenschliche Erfahrungen und Interaktionen nicht im Sinne einer objektiven Realität, sondern stets subjektiv verarbeitet werden, kann durch die reale Beteiligung emotional bedeutsamer Personen im Therapieprozess die Dynamik des Interaktionsgeschehens, die Bedeutung des Dazwischen transparent und bearbeitbar gemacht werden. Ergänzend zum traditionellen Verständnis der Psychodynamischen Psychotherapie kann die direkte Refle-

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Intrapsychisch, interpersonell, systemisch

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xion der Wechselwirkung zwischen den äußeren und inneren Repräsentanzen genutzt werden, um die Zusammenhänge und Hintergründe des psychischen Konflikts verstehbar zu machen. Insbesondere in den Fällen, in denen die Patientin einen engen Bezug zu weiteren Personen hat, hat sich die Einbeziehung solcher Personen als günstig erwiesen. Dies zeigt sich beispielsweise im Rahmen einer familialen oder häuslichen Gemeinschaft oder bei Konflikten, die einen großen Einfluss auf mehrere Beteiligte im sozialen System haben. Die Nutzung unterschiedlicher Therapiesettings könnte die Behandlungsformen der psychischen Störung erweitern und die jeweilige Patientin mit ihren Schnittstellen im sozialen Kontext berücksichtigen. Dies stellt für den tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeuten eine bisher eher ungewohnte Herausforderung dar, die aber insbesondere mit Hilfe der Systemtherapie gut bewältigt werden könnte, da hier eine Vielzahl von Erfahrungen für den Umgang mit Mehrpersonensettings vorliegt. Durch diese Begegnung der beiden Verfahren könnte eine neue Qualität der Therapie erreicht werden, um dem Umgang mit den komplexen Störungsbildern gerecht zu werden (vgl. Kapitel 6.9.3, Fallbeispiel 9). In der therapeutischen Praxis steht mit der Genogrammarbeit eine Methode zur Verfügung, in Situationen, in denen es nicht sinnvoll erscheint oder aus anderen Gründen nicht möglich ist, weitere Personen neben der Patientin in die Therapie einzuladen, den Blick auf die unterschiedlichen Perspektiven zu ermöglichen. Wie bereits dargestellt (vgl. Kapitel 4.2.8), ermöglicht das Genogramm in besonderer Weise, die Biografie der Patientin in ihrer komplexen Ausprägung zu erfassen, um sowohl positive Ressourcen als auch existenziell krisenhafte Lebensereignisse zu ermitteln, die sich familienübergreifend (mehrgenerational) ausgewirkt haben und bis in die Gegenwart hineinwirken. Die Betrachtung wichtiger Personen aus dem sozialen Kontext sowie der soziokulturelle Rahmen (politische Extremereignisse, Naturkatastrophen etc.) werden mit der aktuellen Störung in Beziehung gesetzt. Während in der Psychoanalyse der Schwerpunkt auf der Betrachtung des Individuums und der im Rahmen der therapeutischen Beziehung gewollten Übertragungsneurose liegt, stellen sowohl die Psychodynamische Psychotherapie als auch die systemische Therapie zwei Verfahren dar, die im dialogischen Gespräch Zusammenhänge und Hintergründe psychischer Störungen erarbeiten. Dabei handelt es sich um eine therapeutische Arbeit mit einer gemeinsam entwickelten Zielsetzung, in der sich der Therapeut bei Wahrung der therapeutischen Abstinenz auch in seiner realen Persönlichkeit zeigt (Jaeggi u. Riegels, 2008). Beide Verfahren betonen die Rolle des Therapeuten als inhaltsoffenen Begleiter, also als Unterstützer der Patientin im Rahmen der gemeinsam vereinbarten Ziele. Dies ermöglicht die Relativierung von objektiv richtigen und fal-

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

schen Entwicklungen hin zu Prozessen, die für die Patientin bedeutsam sind und als sinnvoll erlebt werden. Die Bearbeitung der aktuellen Situation als auch der prägenden Erlebnisse in der Vergangenheit, um zu verstehen, was die damalige Situation für die Patientin aus heutiger Sicht bedeutet, macht eine Betrachtung aus unterschiedlichen Perspektiven sinnvoll (siehe Abbildung 6).

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Abbildung 6: Die intrapsychische, interpersonelle und systemische Ebene des Patienten im psychotherapeutischen Prozess

Dabei berücksichtigt die intrapsychische Ebene die Bedeutung des subjektiven Gefühls der Patientin beispielsweise in Form einer Kränkung, Verletzung, Angst, Missachtung oder Ablehnung in einem direkten Zusammenhang mit der interpersonellen Ebene als Ausdruck der Beziehungsqualitäten zwischen Patientin und ihrer Beziehungsperson (Eltern, Partner etc.). Für die Erfassung dieser Zusammenhänge richtet sich die Aufmerksamkeit darauf, wie sich zum Beispiel Mutter oder Vater verhielten oder heute verhalten, wenn sich die Patientin als Kind oder heute von ihnen abwandte bzw. abwendet. Ebenso wird fokussiert, was das für die Beziehung zwischen Kind und Eltern bedeutet und welche Auswirkungen es auf die aktuelle Situation hat. Die systemische Ebene ergänzt den für die psychische Störung relevanten sozialen Kontext, indem der Fokus auf alle am Konflikt Beteiligten gerichtet wird, und schließt dabei den transgenerationalen Kontext und die damit verbundenen Wechselwirkungen innerhalb des sozialen Systems mit ein. Um diese unterschiedlichen Sichtweisen in ihrer Ganzheitlichkeit erfassen zu können, kommt dem Therapeuten die Aufgabe zu, die unterschiedlichen Ebenen sowohl in ihrer Konkretheit als auch in ihrer Interdependenz wahrzunehmen, sie zu beobachten und sich in die Situationen hineinzufühlen.

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Intrapsychisch, interpersonell, systemisch

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Zusammengefasst lassen sich folgende Aspekte für die Erfassung der Gesamtszene in dem therapeutischen Prozess festhalten: – das Erfassen der objektiven Daten (z. B. Alter, Geschlecht, Beruf, klinische Störung, ICD); – die Reflexion darüber, wie der Therapeut die Patientin erlebt; – die Reflexion darüber, wie der Therapeut die therapeutische Beziehung erlebt; – das subjektive Erleben der Patientin; – die Beziehung zwischen Patientin und Therapeut; – die Rekursivität der drei Ebenen (intrapsychische, interpersonelle und systemische Ebene) im Sinne zirkulärer Kausalität. Durch die gleichzeitige Beachtung der Übertragungs-, Real- und Kontextbeziehung werden die unterschiedlichen Kontexte der Patientin erfasst, wodurch die psychotherapeutische Arbeit intensiviert wird. Es eröffnet beiden Therapieverfahren die Möglichkeit, alle drei Bereiche für sich und in ihrer Wechselseitigkeit angemessen zu erfassen und für den therapeutischen Prozess nutzbar zu machen. Da Patientinnen sich selbst neu organisieren – und nicht selten zum Erstaunen des Therapeuten anders als gedacht –, arbeiten beide Verfahren mit dieser Theorie der Veränderung und der Bedeutung von Kooperation, um Veränderungsprozesse zu unterstützen. Dabei übernimmt der Therapeut zum Teil auch eine Hilfs-Ich-Funktion, indem er zu Veränderungen ermutigt, unterstützend bestärkt und Misserfolge auffängt. Das Erleben der korrigierenden Beziehungserfahrung im therapeutischen Prozess eröffnet der Patientin neue Möglichkeiten, sich auch außerhalb der Therapie selbststärkende, schützende und heilsame Selbstobjekterfahrungen zu verschaffen (vgl. Boessmann, 2006; Ijzendoorn, 1995). In beiden Verfahren wird durch die therapeutischen Interventionen versucht, die Kräfte der Selbstorganisation der Patientin (mit oder ohne Angehörige) zu aktivieren. Dies gelingt umso besser, je intensiver dabei die Empfindungen der Patientin (subjektive Instabilität) sowie ihre Möglichkeit, in ihrem sozialen System damit umzugehen (systemeigene Kompetenzen), erreicht werden können. Auch wenn die Vertreter der beiden Verfahren noch unterschiedlicher Auffassung darüber sind, wie viele Sitzungen dafür notwendig sind, geht man heute bereits in beiden Verfahren davon aus, dass die Berücksichtigung der unterschiedlichen Ebenen – intrapsychisch, interpersonell, systemisch – mit dafür angemessenen Interventionsformen die Grundlage für die Veränderung bei der Patientin ist. Da der Glaube an das eigene Tun und die Überzeugung von dem eigenen Vorgehen (»allegiance«) nach heutigen Erkenntnissen der Psychotherapieforschung eine größere Wirksamkeit als die Therapieschule oder die Manualtreue hat (vgl. Wampold, 2001; Ludewig, 2013), zeigt

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

sich auch aus dieser Perspektive die Möglichkeit einer Qualitätssteigerung durch die Verbindung und den Austausch der beiden Verfahren. 5.4 Die Konzeption des Selbst und die Bedeutung der Objektbeziehungen Sowohl die Psychodynamische als auch die systemische Psychotherapie betrachten soziale Beziehungen und die damit verbundenen interaktionellen Prozesse als essenziell für die menschliche Entwicklung. Der Trieb als primärer motivationaler Faktor, so wie es die Vertreter der klassischen Psychoanalyse verstehen, wird abgelöst von den umfassenden Erkenntnissen der Selbst- und Objektbeziehungstheorie. Die Einführung der Selbstpsychologie, auch als Ergänzung der Trieb- und der Ich-Psychologie sowie des Freud’schen Instanzenmodells vom Ich, Es und Über-Ich, stellt eine Erweiterung der vorwiegend intrapsychischen zu einer auch interpersonellen Sichtweise im Sinne der heutigen Psychodynamischen Psychotherapie dar (Milch, 2001). Durch diese Erweiterung kommt es zu einem Umdenken bezüglich der bis dahin vorherrschenden Idee des motivationalen Primats der Triebe. Zudem gewinnt die Beziehungspsychologie zunehmend an Bedeutung (Streeck u. Leichsenring, 2009; Heigl-Evers u. Heigl, 1983; Heigl-Evers u. Czogalik, 1993). Die Entwicklung des Selbst als übergreifende Instanz der Persönlichkeit kann als psychosoziale Grundlage für eine realitätsgerechte Vorstellung von sich selbst im Sinne der Selbstdefinition und der Entstehung des Selbstwertgefühls gesehen werden. In dieser Instanz repräsentieren sich sowohl ererbte als auch übernommene und erworbene Selbstbilder und Rollen. In einer selbstreflexiven Bedeutung präsentiert sich das Selbst als Repräsentant der ganzen Person im Ich (vgl. Hartmann et al., 1972). Nach Winnicott (1974) ist die Vorstellung von einem Selbst notwendig, um das Leben zeitübergreifend verstehen zu können. Kohut (1979) betont hier die Bedeutung eines gesunden Narzissmus im Sinne eines starken, angemessenen und sich selbst annehmenden Selbst zur Entwicklung eines realistischen gesunden Selbstwertes. Er beschreibt das Selbst als ein tiefenpsychologisches Konzept, in dem sich verschiedene Anteile zu einer kohärenten und weitgehend konstanten Struktur verbinden, die den Kern der Persönlichkeit bilden, aber im lebensgeschichtlichen Verlauf auch Veränderungen zeigen. Ebenfalls in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der modernen Säuglingsund Kleinkindforschung kann das Selbst als eine in ständiger Veränderung begriffene Struktur gesehen werden. Im Verlauf der weiteren Lebensspanne, in der Bezogenheit auf sich selbst und in beständiger Interaktion mit anderen muss sich diese Selbststruktur immer wieder neu überprüfen und organisieren.

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Die Konzeption des Selbst und die Bedeutung der Objektbeziehungen

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Die Entwicklung des Selbst ist eng mit den frühen Beziehungen des Kindes zu seinen Bezugspersonen (den Objektbeziehungen) verbunden. So konstituiert sich das Selbst als Konstruktion aus der Beziehung zu anderen im sozialen Umfeld, wobei nach Winnicott (1974) zunächst die hinreichend befriedigende Mutter-Kind-Beziehung im Vordergrund steht. Schon in diesen Frühphasen des Lebens entwickeln sich nach den Befunden der Säuglingsforschung (vgl. Lichtenberg, 1991) Grundformen der Beziehungsregulation. Bereits bei dem Säugling entsteht so eine rudimentäre Selbststruktur, die den Ursprung des Kernselbst bildet. In der affektiven Bindung zu den primären Bezugspersonen kann sich über diese frühen sozialen Erfahrungen allmählich ein innerpsychisches Repräsentationssystem entwickeln, welches ermöglicht, sich selbst durch andere verstehen zu lernen. Schon der Säugling spiegelt sich im Gesicht der Mutter und erlebt oder erkennt so in ihrer Reaktion auf ihn sich selbst. Diese Spiegelprozesse mit dem bedeutsamen Anderen bilden die Vorläufer für darauf aufbauende spätere reflexive Erfahrungen. Dieses erste Interaktionsgeschehen erweitert sich dann sukzessive auf folgende bedeutsame Bezugspersonen, die in ihrer förderlichen, spiegelnden, stützenden und stabilisierenden Funktion für das Selbst auch als Selbstobjekte bezeichnet werden. Aus diesen interaktiven Begegnungen leiten sich die intrapsychischen Selbstobjekterfahrungen ab, die von gravierender Bedeutung für die Entwicklung und Erhaltung der Selbstkohärenz sind. Dieses Erleben von Selbstobjekterfahrungen bleibt auch für das erwachsene Selbst wichtig und tritt in der gesamten Lebensspanne in vielfältiger Art auf. Aufgrund der gravierenden Bedeutung der frühen Selbstobjekterfahrungen für die Entwicklung von Selbstkohärenz und Selbstwertgefühl kann es in diesem Zusammenhang natürlich auch zu schädigenden und weniger förderlichen Erfahrungen und Entwicklungen kommen. Beeinträchtigende Erlebnisse wie zum Beispiel Verlusterleben, konfliktbeladene Beziehungen in der Familie, häufig wechselnde Beziehungen, wenig Verbundenheit oder gar Missbrauch und Misshandlung können traumatisierend wirken und die Verarbeitung der Erfahrungen mit der Umwelt und die Kommunikation gravierend beeinflussen. Solch eine Entwicklung fördert die Entstehung von Risikofaktoren im Hinblick auf spätere psychische Störungen. Dabei müssen diese frühen traumatisierenden Erfahrungen nach außen kein katastrophales Ausmaß darstellen; sie können für die Patientin im Bereich des Unbewussten stattgefunden haben und bis in die Gegenwart wirken. Diese unverarbeiteten Konfliktsituationen im Bereich des Beziehungserlebens können die weitere Lebensbewältigung bedeutsam beeinflussen. Wenn Patientinnen diese frühen Beziehungserfahrungen anhaltend negativ, vernachlässigend oder traumatisierend empfunden haben, können sich in der

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

Folge Störungsmuster in der Person entwickeln. Insbesondere in Bezug auf die Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen beschreiben unter anderen Kernberg und Steinmetz-Schünemann (2006) in ihren Ausführungen, dass Patientinnen auf der Grundlage hauptsächlich negativer früher Beziehungserfahrungen einen Zustand mit schwankenden Beziehungsmodi verinnerlichen. Danach können die belastenden negativen Erfahrungen im Kleinkindalter zu intra- und interpsychischen Spaltungstendenzen innerhalb der Selbst- und Verhaltensorganisation führen. Diese strukturieren sich häufig in besonders positiver oder negativer Form (Schwarz-Weiß-Denken/-Fühlen), ohne dass es zu einer angemessenen Integration aller Empfindungen kommt. Die Bedeutung der interpersonellen Prozesse wird auch in der Objektbeziehungstheorie explizit aufgegriffen (vgl. Fairbairn, 1952/2007; Sullivan, 1980; Mitchell, 2005). Als Ergänzung zur lange im tiefenpsychologischen Denken vorherrschenden Freud’schen Triebtheorie, die den Menschen primär als (triebgesteuertes) Einzelwesen betrachtet, ist auch hier die Beziehung des Menschen zu seiner sozialen Umwelt und insbesondere die frühen Beziehungen zu den primären Bezugspersonen mit den damit verbundenen Auswirkungen von großer Bedeutung. In den Objektrepräsentanzen organisieren sich die Beziehungserfahrungen als innere Abbilder. Aufgrund der Bedeutung früher Begegnungen kann davon ausgegangen werden, dass sich bereits pränatal, aber insbesondere im ersten Lebensjahr unbewusstes, implizites Beziehungswissen ansammelt. Im Zusammenhang mit Ergebnissen der Säuglingsforschung führte Bowlby (2006) das zwischenmenschliche Bindungsverhalten auf ein biologisch angelegtes Bindungssystem zurück, welches von traumatischen Verlust- und Trennungserfahrungen in der frühen Kindheit beeinflusst wird. Bowlby betont die Bedeutung einer sicheren Bindung und unterscheidet vier verschiedene Bindungstypen, die sichere Bindung, die unsicher-vermeidende Bindung, die unsicher-ambivalente Bindung und die desorganisierte Bindung, auf deren Grundlage sich Bindungsmuster bilden. Die schon in den ersten Lebensmonaten aus den Interaktionserlebnissen mit den frühen Bezugspersonen entwickelte Bindungsqualität ist als ein bedeutsames Fundament zu sehen. Dieses Fundament hat eine gravierende Auswirkung auf die spätere Bewältigung von belastenden oder traumatischen Lebensereignissen, was die Entwicklung von psychischen Störungen verhindern oder aber auch begünstigen kann (Grossmann u. Grossmann, 2003). In der Lebensspanne sind Veränderungen möglich. Zudem stellt die in der Psychotherapie mögliche korrigierende Beziehungserfahrung einen wichtigen Faktor und eine Chance für positive Veränderungen dar.

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Die Wechselwirkung der intrapsychischen und interpersonellen Dimension

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5.5 Die Wechselwirkung der intrapsychischen und interpersonellen Dimension als Basis für die Entwicklung eines gesunden Selbst Auch die Bedeutung der Bindung mit ihren Aus- und Wechselwirkungen in Bezug auf die interpersonellen Beziehungsmuster sowie die intrapsychischen Erlebensmuster findet sich in beiden Therapieverfahren. Dabei geht das Phänomen der Wechselwirkungen zwischen mehreren Generationen im Sinne eines transgenerationalen Geschehens weit über die Dynamik der direkten Kontaktpersonen hinaus. Bowlby sah das Bindungssystem als ein angeborenes, biologisch adaptives Bedürfnis an, um in engen Beziehungen emotionale Sicherheit zu suchen. Er fand heraus, dass der Bindungswunsch bei kleinen Kindern am stärksten ausgeprägt ist und ein Leben lang bedeutsam bleibt. Er erkannte, dass Menschen durch die gemachten Bindungserfahrungen sogenannte »innere Arbeitsmodelle« im Sinne »kognitiv-affektiv-motivationaler Schemata mit ihren primären Bezugspersonen« entwickeln (Bowlby, 1969, 1973, 1980, 2006). Demnach sind Bindungs- und Explorationsbedürfnisse angeboren und von vitaler Bedeutung für Menschen jeden Alters. Die jeweiligen Erfahrungen in den unterschiedlichen Beziehungs- und Bindungsqualitäten werden internalisiert und so zu zentralen Bestandteilen der (Beziehungs-)Persönlichkeit. Die im Kinder- und Jugendalter entwickelten inneren Arbeitsmodelle von Bindung sind in der Regel konstant, können jedoch beispielsweise durch therapeutische Prozesse verändert werden. Im weiteren Verlauf der Beschäftigung mit diesem Bindungssystem wurde deutlich, dass Bindung sowohl eine intrapsychische als auch eine interpersonelle Dimension aufweist (Schneewind, 2010). Dabei stehen die intrapsychischen Bindungsmodelle mit den interpersonellen Beziehungserfahrungen in ständiger Wechselbeziehung (Crowell, Fraley u. Shaver, 1999; Fonagy, 2003; Ijzendoorn, 1995). Bindungssicheres Verhalten und eine hohe Beziehungsqualität sind in den ersten Jahren eng mit psychischer Gesundheit verbunden. So zeigen Menschen, deren Beziehungsbedürfnisse erfüllt wurden, weniger Anfälligkeiten für soziale Ängste, fühlen sich sozial kompetenter und sind psychisch stabiler. Sie können ihre Bindungs- und Explorationsbedürfnisse erfolgreich leben. Untersuchungen mit dem Adult Attachment Interview (AAI) zeigen vier Bindungshaltungen im Erwachsenenalter, die Rückschlüsse auf das Bindungsklima zulassen (Dozier, Stovall u. Albus, 1999). Der Stellenwert der frühen Beziehungen zu bedeutsamen Bezugspersonen und die Spiegelprozesse mit dem bedeutsamen Anderen finden sich in der Mentalisierungstheorie schulenübergreifend wieder. »Die Wurzeln des Mentalisierungskonzeptes reichen in die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie von

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Bion, die französischsprachige Psychoanalyse, die kognitive Entwicklungspsychologie und die von der Bindungstheorie und Winnicott beeinflusste Entwicklungspathologie« (Happach, 2010, S. 216). Winnicott (1974) spricht in diesem Zusammenhang von drei Bereichen, nämlich der inneren psychischen Realität, der äußeren erlebbaren Realität und einem Raum, in dem beides miteinander in Beziehung gesetzt werden kann. Dieser dritte Raum entwickelt sich nach Winnicott aus dem Spielbereich kleiner Kinder auf der Grundlage einer möglichst sicheren Bindung: »In der frühen Kindheit ist dieser intermediäre Bereich für den Beginn einer Beziehung zwischen Kind und Welt erforderlich; möglich wird er durch eine hinlänglich gute mütterliche Betreuung in der frühen kritischen Phase« (Winnicott, 1979, S. 24). Die Bedeutung des sozialen Umfeldes formulierte auch der als Neo-Freudianer geltende Erikson: »Bei der Geburt lässt der Säugling den chemischen Austausch des Schoßes hinter sich und tritt dafür in das soziale Austauschsystem einer Gesellschaft ein, wo seine allmählich zunehmenden Fähigkeiten auf die Möglichkeiten und Einschränkungen seiner Kultur treffen« (Erikson, 1998, S. 92). Die sichere Bindungsbeziehung ist Voraussetzung für die gute Entwicklung einer sicheren Mentalisierungskompetenz im Sinne der Möglichkeit, das Verhalten anderer zu deuten und das eigene Erleben reflexiv zu erfassen. In dem Interaktionsgeschehen der ersten Lebensjahre, den Selbstobjekterfahrungen in der Beziehung mit den Bindungspersonen, entwickelt sich die Fähigkeit, die eigenen mentalen Zustände wahrzunehmen und sich auch in andere Personen hineinversetzen und deren Intentionen und Verhalten wahrnehmen und interpretieren zu können. Hierbei geht es auch um die Entwicklung unterschiedlicher Wahrnehmungsmodi, um die Fähigkeiten des Symbolisierens und des Fantasierens und um die sichere Differenzierung zwischen mentaler und physikalischer Welt sowie zwischen Vorstellungen, Überzeugungen und Handlungen. Nicht direkt sichtbare mentale Zustände müssen aus der Beobachtung unzähliger verhaltens- und situationsbezogener Informationen erschlossen werden. Fonagy, Gergely, Jurist und Target (2004, S. 274) sprechen von Mentalisierung als einem zentralen Mechanismus, der sich nicht plötzlich entwickelt, sondern im Sinne einer Entwicklungserrungenschaft kontinuierlich ausgebildet wird und auf das Vorhandensein mentaler Zustände bei Menschen hinweist. Die Mentalisierungsfähigkeit im Sinne der Wahrnehmung eigener mentaler Zustände wie auch des Sichhineinversetzens in andere mit der Möglichkeit der sozialen Perspektivübernahme hat eine wichtige Bedeutung für die interpersonale Kommunikation, für jede Art der Beziehungsgestaltung sowie für die emotionale und soziale Kompetenz und ist insgesamt unerlässlich für die Selbstregulation. Neben einem rein kognitiven Entwicklungskonzept verweist unter

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Das Beziehungsgeschehen in der Tiefenpsychologie und Systemtherapie

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anderen Fonagy (2003) hier auf eine sozialisationsabhängige Entwicklung und verbindet Grundlagen der Entwicklungspsychologie, der Bindungstheorie und der Psychoanalyse. So findet sich im Mentalisierungskonzept auch eine essenzielle Verbindung zwischen der systemischen Perspektive, der Beziehungsdynamik im bedeutungsvollen sozialen System und der psychodynamischen Perspektive, die die Bedeutung der Spiegelprozesse mit den frühen Bezugspersonen für die Konzeption des Selbst, für die Entwicklung der Grundlagen späterer reflexiver Kompetenzen und für die Entwicklung der sozialen und persönlichen Identität betont. Deshalb stellen sich Mentalisierungsstörungen später insbesondere in bindungsrelevanten Beziehungen dar, wo sie sich problematisch zuspitzen können. 5.6 Das Beziehungsgeschehen in der Tiefenpsychologie und Systemtherapie: Die therapeutische Haltung Psychotherapie stellt im Grunde vor allem ein Beziehungsgeschehen dar. Dabei gilt die Therapeut-Patient-Beziehung innerhalb der Psychotherapie als wichtiger Wirkfaktor, was auch schulenübergreifend unumstritten ist (Grawe, 1995, 1998; Wampold, 2001, 2010). Der therapeutischen Beziehung kommt weit mehr Bedeutung zu als der Frage nach Interventionen und Techniken. Diese Erkenntnisse stimmen mit der erlebten Qualität der »working alliance« als einem wesentlichen Faktor überein, den die Patientinnen im Anschluss einer gelungenen Therapie erinnern. Dies beinhaltet die neue Erfahrung, sich an einem sicheren Ort verstanden und akzeptiert gefühlt zu haben, um sich der eigenen Gefühle, Gedanken und Lebenserfahrungen bewusst werden zu können. Danach können die therapeutische Beziehung und die jeweilige therapeutische Intervention nur in ihrem Zusammenwirken gesehen werden. Ludewig empfiehlt in Übereinstimmung mit den Ergebnissen von Wampold (2010), auf experimentelle Designs zu verzichten und stattdessen allgemeine Faktoren wie die therapeutische Beziehung und die Person des Therapeuten zu fokussieren, im Umgang mit Manualen Gelassenheit zu üben und lieber auf Effektivität (Wirksamkeit unter realen Bedingungen) denn auf Effizienz (Wirksamkeit unter idealen Bedingungen) zu achten. Aus seiner Sicht ist in der Psychotherapie ein kontextuelles Modell angebrachter als das traditionelle medizinische Modell (Ludewig, 2013, S. 120). Ein Einlassen auf den therapeutischen Prozess setzt bei der Patientin voraus, sich sicher, akzeptiert, zugehörig und aufgehoben zu fühlen. Geht man von einer »Wiederholung« frühkindlicher Bindungsmuster aus, unterstreicht dies die Erkenntnis, dass therapeutische Effekte wesentlich auf adaptive Veränderungen limbisch-emotionaler Zentren zurückzuführen sind und sich nicht primär

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

auf »kognitive Umstrukturierung« reduzieren lassen. Daher liegt der Fokus im therapeutischen Beziehungsprozess zunächst auf dem Aufbau von Systemen zur Stressverarbeitung, Selbstberuhigung und Bindung. Der bindungsbezogenen Ausschüttung von Oxytocin, Serotonin (1A-R) und endogener Opioide kommt dabei eine stressreduzierende Rolle zu. Das komplexe Beziehungsgeschehen im Rahmen des therapeutischen Prozesses teilt sich in unterschiedliche Beziehungsmodi auf. Neben der schon erwähnten Übertragungsbeziehung wirken die reale Beziehung zum Therapeuten und die Beziehung der Patientin zu ihrem sozialen Umfeld. Die Realbeziehung zum Therapeuten hat die Aufgabe, einen respektvollen, interessierten, von Akzeptanz und Zugehörigkeit geprägten Raum zu entwickeln, um die Bereitschaft der Patientin zu fördern, neue Einsichten in ihrem Erleben und Verhalten zu ermöglichen. Diese sichere Grundlage dient der Patientin als Basis, um sich auf die Exploration der interpersonellen und intrapsychischen Beziehungswelten einzulassen. Im psychodynamisch-systemischen Vorgehen begegnen sich zwei Experten auf Augenhöhe: auf der einen Seite die Patientin, als Expertin ihres eigenen »Lebens« und »Erlebens« mit den ihr zugehörigen Ressourcen, um ihr Leben aktiv gestalten zu können, auf der anderen Seite der Therapeut als Experte für das Wissen um psychische Störungen und deren klinischer Zusammenhänge, um einen Rahmen zu schaffen, die Patientin bei der Entwicklung konstruktiver Sichtweisen für das Verständnis von biografischen Lebenszusammenhängen und den sich daraus ergebenden Handlungsoptionen zu unterstützen. Aus der systemischen Therapie sind als therapeutische Grundhaltungen die »Allparteilichkeit« und die »Neutralität« bekannt. Die Haltung der Allparteilichkeit ist insbesondere durch die Situation entstanden, im therapeutischen Prozess mit mehreren Personen oder sogar Familiensystemen generationsübergreifend zu arbeiten. In diesen therapeutischen Situationen war es besonders bedeutsam, jeder Person unabhängig von ihrer Rolle vorbehaltlos, respektvoll und neugierig zu begegnen, ebenso wie den Interaktionen zwischen den Personen. Für die Tiefenpsychologie ergab sich durch ihr Einzelpersonensetting eine andere Situation. Hier lag die besondere Herausforderung für den Therapeuten in vielen Fällen darin, die Sichtweise der Patientin gegenüber den Personen in ihrem sozialen Umfeld als ihre eigene Realität zu sehen und nicht mit der Patientin eine möglicherweise destruktive Koalition gegen diese einzugehen. Vor allem durch die neuere Praxis in der Psychodynamischen Psychotherapie, die Angehörigen der Patientin im Rahmen des therapeutischen Prozesses zeitweilig zu integrieren, lösen die Angehörigen beim Therapeuten oftmals Überraschungen aus angesichts der von der Patientin bisher vorliegenden Beschreibung ihres eigenen Erlebens (siehe Abbildung 7).

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Das Beziehungsgeschehen in der Tiefenpsychologie und Systemtherapie

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Systemische Beziehungsdynamik

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Abbildung 7: Die therapeutische Haltung in den Beziehungssystemen

In beiden therapeutischen Verfahren nimmt die Neutralität und Abstinenz in der therapeutischen Haltung einen hohen Stellenwert ein, indem der Therapeut sich gegenüber den Wünschen und Absichten der Patientin neutral verhält und sich gleichzeitig in der Verfolgung eigener, persönlicher Absichten abstinent zeigt. Auf dem Boden dieser Grundregeln entfaltet sich eine aktive Rolle des Therapeuten mit vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten. Die sich dadurch entwickelnde therapeutische Flexibilität kann für die Selbstorganisation der Patientin und die fokussierte kognitive und affektive Auseinandersetzung mit dem aktualisierten Konflikt genutzt werden. Die therapeutische Arbeitsbeziehung ist dabei getragen von einer Beziehungsdynamik des Mitfühlens, durch die für die Patientin eine authentische emotionale Beteiligung des Therapeuten an ihren Themen spürbar wird.

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

Die auf diese Weise sich entwickelnden therapeutisch-emotionalen interaktionellen Spiegelprozesse sind zur Herstellung und Festigung eines vertrauensvollen Arbeitsbündnisses und letztlich für das Erleben einer korrigierenden Beziehungserfahrung unerlässlich. Neben den im therapeutischen Prozess stets stattfindenden Übertragungsprozessen (vgl. Kapitel 4.1.8) entsteht auf diese Weise in beiden Verfahren eine therapeutische Realbeziehung zwischen Patientin und Therapeut mit einer abgewogenen moderaten »Offenheit« aufseiten des Therapeuten. Galt die »Selbstoffenbarung des Therapeuten« lange Zeit als Kunstfehler, hat sie sich bei kontrolliertem Maß, dem Stand der Therapie entsprechend eingesetzt, als hilfreich erwiesen (vgl. Deutsches Ärzteblatt, 2010). Eine solche Intervention verläuft immer vor dem Hintergrund, der Patientin einen Raum zu bieten, um ihre eigenen gewünschten Entwicklungsschritte und Veränderungen einzuleiten und selbstbestimmt fortzusetzen. Es versteht sich von selbst, dass in diesem Rahmen in einem besonderen Ausmaß die Selbstreflexion des Therapeuten gefordert ist. Aus tiefenpsychologischer und systemischer Sicht findet in der Therapie Veränderung durch Beziehung und durch Veränderung Beziehung statt. In dem therapeutischen Prozess spiegelt sich die Wechselwirkung zwischen miteinander in Beziehung stehenden inneren Objekten und den äußeren Objekten wider. In der therapeutischen Arbeitsbeziehung findet auch eine unbewusste Übertragung von Erwartungen, Gefühlen, Affekten, Wünschen und auch Befürchtungen statt. Dabei kommt es in der therapeutischen Beziehung zu freundlichen und zu feindlichen Übertragungsmustern. Während bei der positiven Übertragung die positiven Anteile früherer Beziehungen, wie Zuneigung und Vertrauen, im Vordergrund stehen, kommen bei der sogenannten negativen Übertragung negative Beziehungsanteile, wie Misstrauen, Abneigung, Wut oder auch Hass, im Zusammenhang mit früheren und frühen Beziehungserfahrungen zum Tragen. In der Psychodynamischen Psychotherapie wird die Übertragungsbeziehung zur Spiegelung und Reflexion aktueller Verhaltensmuster genutzt, indem der Therapeut der Patientin ihr Verhalten mit den für sie unbewussten Anteilen spiegelt, um sie so transparent zu machen. In diesem Prozess steht die Aufdeckung des aktuell Unbewussten im Fokus – im Unterschied zur traditionellen Übertragungsarbeit in der Psychoanalyse, in der mit Hilfe tiefer Regression das biografisch Unbewusste bearbeitet wird. Dabei nehmen auch die Gegenübertragungsphänomene des Therapeuten einen zusätzlichen Stellenwert ein, spiegeln sie doch das störungsrelevante innere und äußere Beziehungsgeschehen wider. Stierlin, ausgebildeter Psychoanalytiker, spricht Anfang der 1990er Jahre als Vertreter der systemischen Therapie nicht von Gegenübertragung, sondern von der »innerlich beteiligten Unparteilichkeit«. Er beschreibt dieses Phäno-

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Das Beziehungsgeschehen in der Tiefenpsychologie und Systemtherapie

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men als Abweichung von der therapeutischen Position, durch die der Kontakt zum Patienten blockiert wird (Stierlin, 2001a, S. 236). Diese Situation weist nach Stierlin auf Wachstumslücken und blinde Flecken beim Therapeuten hin, also auf Schwierigkeiten, die der Therapeut bei eigenen Wachstums- und Trennungsaufgaben in seiner Biografie hatte. Um diese Phänomene professionell einordnen zu können, wurde die Notwendigkeit eines geleiteten Selbsterfahrungsprozesses für den Therapeuten in der Ausbildung deutlich, um sich seiner eigenen Person und seiner Übertragungs- und Gegenübertragungssituationen bewusst zu werden. Aus psychodynamisch-systemischer Sicht wäre eine Reflexion sowohl auf der intrapsychischen als auch auf der systemischen Ebene sinnvoll. Dies könnte zum Beispiel in einer kombinierten Form im Einzel-, Familien- und Gruppensetting stattfinden. So liegen im Rahmen der Ausbildung zum tiefenpsychologisch fundierten sowie zum systemischen Therapeuten an der Universität Oldenburg langjährige vielfältige Erfahrungen zur Reflexion der therapeutischen Persönlichkeit und des eigenen Selbst vor. Während in der tiefenpsychologisch fundierten Ausbildung sowohl das Einzelsetting wie auch das Gruppensetting zur Anwendung kommen, besteht in der systemischen Ausbildung eine Kombination von Genogramm- und Skulpturenarbeit zur biografischen Analyse sowie eine Fokussierung auf die aktuelle soziale Beziehungssituation mit der Möglichkeit, eine Sitzung mit aktuellem Partner und Reflektierendem Team durchzuführen, bevor sich im dritten Teil der Lehrtherapie die konkrete Arbeit mit der Herkunftsfamilie anschließt. Dazu werden die Eltern und Geschwister des angehenden Therapeuten eingeladen, um die eigenen Erfahrungen im familialen System zu reflektieren und sich der Auswirkungen auf die aktuelle Situation als angehender systemischer Therapeut bewusst zu werden. In einem Abschlussseminar wird der gesamte Entwicklungsprozess aus der Sicht der Therapeutenpersönlichkeit betrachtet, und die wichtigsten Erkenntnisse für die Rolle als Psychotherapeut werden zusammengefasst. Die systemische Therapie betont insbesondere eine intensive ressourcenorientierte Haltung des Therapeuten zur Unterstützung der Entwicklungsmöglichkeiten der Patientin und legt einen besonderen Fokus auf ihre Ressourcen und Potenziale. Eine einseitige Orientierung allein auf die Ressourcen beinhaltet allerdings die Gefahr, psychische Störungen nicht in ihrer Tiefe zu erfassen und so den inneren Konflikten der Patientin nicht gerecht zu werden. Ludewig (2013, S. 156) führt dazu aus: »Zur Aktivierung von Ressourcen ist jedoch einschränkend zu bedenken, dass eine allzu einseitige und programmatische Sichtweise auf Ressourcen Gefahr läuft, das Problem begünstigende oder gar auslösende Bedingungen zu übersehen oder zu missachten«.

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

Teilweise hat sich in der systemischen Therapie eine einzig auf Ressourcen und Lösungen ausgerichtete Arbeitsweise entwickelt, die ohne eine angemessene Analyse der Probleme Realität nur eingeschränkt abbildet und damit die Situation des Patienten auch nur einseitig wiedergibt (von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Dieses Vorgehen wird der Bedeutung des von der Patientin empfundenen Konflikts aber nicht gerecht, zumal notwendige Zusammenhänge auf der organischen Ebene der Patientin oder vorhandene Störungen im sozialen Kontext dadurch unberücksichtigt bleiben können. Die einseitige Orientierung an Ressourcen, Zielen und Lösungen birgt die Gefahr, die Dynamik des Konflikts nur zum Teil zu erfassen und dabei nicht den Raum zu öffnen, der für eine integrative Konfliktbearbeitung notwendig ist. Dadurch kann es zu einer Eingrenzung der Wirklichkeitskonstruktion und insbesondere des emotionalen Erlebens der Patientin kommen, indem der innere Konflikt der Patientin vom Therapeuten positiver bedeutet wird, als es die Patientin für sich selbst erlebt. Auf der anderen Seite soll an dieser Stelle auch darauf hingewiesen werden, dass bei der Konzeptualisierung tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapieansätze eine ressourcen- und lösungsorientierte Wahrnehmungs- und Denkweise in der therapeutischen Haltung und Grundeinstellung Berücksichtigung finden sollte (vgl. Wöller u. Kruse, 2010; Fürstenau, 1979). Wöller und Kruse weisen auf die von Dührssen bereits 1988 erwähnte mangelorientierte Fachsprache in der Psychodynamischen Psychotherapie hin, die eine implizite Abwertung (pejorative Konnotation) enthält, indem die Patienten vor allem in ihren Defiziten zum Beispiel als beziehungsunfähig, narzisstisch oder infantil wahrgenommen und beschrieben werden: »Hier treffen sich negative Patientenerwartungen und defizitorientierte Therapeuteneinstellungen auf ungünstige Weise« (Wöller u. Kruse, 2010, S. 162). Die deutliche Berücksichtigung einer Ressourcen- wie auch Lösungs- und Zielperspektive veränderte die Situation in der Psychodynamischen Psychotherapie. Wurde in der traditionellen Tiefenpsychologie primär störungs- und pathologieorientiert gedacht und gehandelt (Wöller u. Kruse, 2010, S. 47), werden mittlerweile zunehmend sowohl gewünschte Ziele, Veränderungen und Alternativen als auch damit in Zusammenhang stehende pathogene Beziehungserfahrungen der Vergangenheit besprochen. Die therapeutische Bearbeitung psychischer Konflikte erfordert eine angemessene Würdigung konflikthafter biografischer Erfahrungen und Gefühle bei einem gleichzeitigen Aufbau einer respektvollen Berücksichtigung vorhandener und zu entwickelnder Ressourcen. Der Therapeut vermittelt der Patientin durch diese therapeutische Haltung die Sicherheit, den Konflikt gemeinsam im therapeutischen Prozess bearbeiten zu können, und übernimmt in schweren Krisenfällen auch den Part der stellvertretenden Hoffnung.

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Das Beziehungsgeschehen in der Tiefenpsychologie und Systemtherapie

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Im psychodynamisch-systemischen Vorgehen bekommt die Beziehungsqualität zwischen Patientin und Therapeut eine besondere Bedeutung, um sich den anstehenden Konflikten nähern zu können. Die dialogische Auseinandersetzung mit ihrer aktuellen Störung (intrapsychischer Aspekt) im Zusammenhang mit den für sie relevanten Bezugspersonen (systemischer Aspekt) steht dabei für die Patientin im Vordergrund. Die therapeutische Haltung ist geprägt durch eine Atmosphäre von Akzeptanz, respektvoller Neugier und Wertschätzung, um die emotionale Befindlichkeit der Patientin bestmöglich zu erfassen und gemeinsam zu verbalisieren. Um einen Raum für Skepsis und Ängste der Patientin freizuhalten und im Prozess aufgreifen zu können, ist es notwendig, die verletzliche Hülle der Patientin nicht zu beschädigen. Für den Therapeuten stehen einerseits die Sichtweisen der Patientin zur eigenen Situation im Fokus und andererseits die Reflexion des äußeren Raumes durch die Integration der objektiven, subjektiven und situativen Informationen. Diese ergeben sich aus den persönlichen Angaben, den gegebenen Diagnosen und den biografischen Fakten. Die subjektiven Informationen betreffen die Schilderungen der Patientin zum Symptomverlauf und den kognitiv-affektiven Bedeutungen, die die Patientin der Situation zuschreibt. Diese Bedeutungsgebungsprozesse werden in der gemeinsamen Arbeit mit der Patientin durch die Verarbeitung über die unterschiedlichen Wahrnehmungskanäle bewusst gemacht; sie zeigen sich aus dem Erlebnis der jeweiligen Situation heraus mit all den Gefühlsmomenten und Vorstellungsabläufen im verbalen als auch nonverbalen Modus. Die Hauptaufgabe und die Kompetenz des Therapeuten liegen in dieser Situation in der Erschließung der aktualisierten Szene. Das Gegenwarts-Unbewusste (Jaeggi u. Riegels, 2008, S. 66) und die Erfassung dieser Prozesse spielen dabei eine tragende Rolle. Der Therapeut gestaltet durch die unterschiedlichen Frageformen (zirkulär, hypothetisch, zukunftsorientiert etc.) oder symbolischen Interventionsmethoden (Aufstellung, Genogrammarbeit, Stuhlarbeit, Rituale, kreative Formen usw.) den Prozess und lässt sich dabei von den eigenen Gegenübertragungsimpulsen und systemischen Hypothesen leiten. Beide Therapieverfahren stellen somit die Qualität der Beziehung in den Fokus der therapeutischen Arbeit, bei gleichzeitiger Orientierung an den Veränderungszielen des Patienten (von Schlippe u. Schweitzer, 2012; Wöller u. Kruse, 2010). Während die Tiefenpsychologie und die Systemtherapie zunächst sehr unterschiedlich in ihrem Vorgehen erscheinen, sind sie sich in den übergeordneten Therapiezielen sehr ähnlich. Seit Beginn des psychodynamischen Modells durch Freud wurde als Ziel der Psychotherapie nicht in erster Linie die Symptombeseitigung angesehen, da allein durch eine Beseitigung der Konflikte nicht immer befriedigende Lösungen erreicht werden können. Ziel ist es stattdessen, dass

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

die Patientin zwischen einer für sie angemessenen Anzahl an Reaktionsmöglichkeiten frei entscheiden kann (vgl. von Foerster, 1999, 2000) und im Rahmen des therapeutischen Prozesses eine erweiterte Sinn- und Wahrheitsfindung erfährt (Kutter, 1997). Ein gegenseitiger Austausch über die unterschiedlichen Formen der Beziehungsgestaltung und der sich daraus ergebenden Interventionen stellt sich als nützlich und bereichernd für den therapeutischen Prozess dar. So findet beispielsweise in jeder genografischen Bearbeitung im therapeutischen Prozess eine vielfältige Bewusstwerdung unbewusster Zusammenhänge in der einzelnen Person, im Mehrpersonensetting auch zwischen den Personen und Generationen mit den dazugehörenden Emotionen und Affekten statt. Subjektive »Wahrheiten« und objektive Erfahrungen können in dieser Form zueinander in Beziehung gesetzt und so Veränderungen und aktuelle Handlungsmöglichkeiten in angemessener Form entwickelt werden. Die Integration des Unbewussten bei einer gleichzeitigen Konzentration auf den aktuellen Konflikt, einer begrenzten Form von Regression und auch im Sinne einer therapeutischen Verstörung stellt eine konstruktive Weiterentwicklung durch die Verbindung psychodynamischer und systemischer Inhalte dar. Die in den letzten Jahren weiterentwickelten und verfeinerten Interventionstechniken und die damit verbundenen Methoden zur Erlangung des von der Patientin gewünschten Ziels ermöglichen ihr, in einem überschaubaren Zeitraum neue Chancen zum Umgang mit den psychischen Störungen und zur Entwicklung eines starken Ich zur Verfügung zu stellen. So wies Fürstenau bereits im Jahre 2005 darauf hin, dass im Kontext der psychodynamischen kurzund mittelfristigen Therapien genügend Erkenntnisse vorliegen, um Übertragungsmuster schneller identifizierbar und für den Patienten nutzbar zu machen (Fürstenau, 2005). Eine Zielfokussierung ohne lange Regressionsprozesse bei gleichzeitiger Distanz zu einseitigen pathologischen Einstellungen vonseiten der Patientin oder des Therapeuten ermöglicht neue Sichtweisen sowie die Anwendung und Reflexion neuer, konstruktiverer Umgangsweisen, um mehr Zeit und Raum für ein selbstbestimmtes Leben zur Verfügung zu haben. Zur konzeptionellen Weiterentwicklung und Schärfung des eigenen Profils fand im Jahre 2002 der 1. Bundesweite Kongress zur Konzeptentwicklung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie an der Universität Oldenburg statt (vgl. Rieforth, 2004). In diesem Rahmen wurden mit Vertretern aus Wissenschaft und Politik und mit praktizierenden Psychotherapeuten die ersten Erfahrungen nach Umsetzung des Psychotherapeutengesetzes aus unterschiedlichen Perspektiven zusammengetragen und deren Bedeutung für die eigenständige Entwicklung dieses therapeutischen Verfahrens diskutiert.

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Sinn und Verständnis des Symptoms

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Die therapeutische Beziehung gestaltet sich je nach Störungsdynamik und Persönlichkeit der Patientinnen immer wieder neu und berücksichtigt die Diagnose der Störung in ihrem klinischen Erscheinungsbild sowie in ihren ätiologisch-pathogenetischen Wurzeln. Die Psychotherapie berücksichtigt dabei nicht nur die benachbarten Disziplinen der Entwicklungspsychologie, der Bindungsforschung und der Neurobiologie, sondern insbesondere auch die Erkenntnisse aus den Geistes- und Humanwissenschaften im Allgemeinen, um die komplexen Zusammenhänge von Kommunikation, Affekten und Kognition von Menschen zu erfassen. 5.7 Sinn und Verständnis des Symptoms in der Psychodynamischen und systemischen Psychotherapie In jeder Lebensgeschichte kommt es unweigerlich zu inner- und intrapsychischen Konflikten, die phasenweise entwicklungsbedingt sind. Je nach inneren und äußeren Gegebenheiten, dem Differenzierungsgrad der psychischen Struktur und der damit zusammenhängenden Lösungskompetenz der Patientin werden diese innerpsychischen Konflikte gelöst oder bleiben bestehen, sodass sie zu Krankheitssymptomen führen können. Dabei bleiben viele wichtige Anteile im Konfliktprozess unbewusst. Aus diesem Grund beschränkt sich die psychodynamisch-systemische Diagnostik nicht auf die Beschreibung der sichtbaren und bewussten Phänomene, sondern erweitert die Erkundung auf die darunterliegende »eigentliche Problematik« mit den Strukturen und der Dynamik der unbewusst ablaufenden innerpsychischen und systemischen Prozesse. Im Sinne der Psychodynamischen Psychotherapie stellt die Symptomentwicklung innerhalb einer psychischen Erkrankung eine Folge der zugrunde liegenden seelischen Prozesse dar und basiert auf lebensgeschichtlichen Erfahrungen vor allem im zwischenmenschlichen Bereich. Insbesondere Interaktionen und wechselseitige Beziehungserfahrungen mit den frühen Bezugspersonen im Sinne der Begegnung mit dem »frühesten Anderen« bestimmen die individuelle Psychodynamik. Sie zeigt sich in der spezifischen Wechselwirkung intrapsychischer bewusster und unbewusster Kräfte, die im Zusammenhang mit spezifischen inneren und äußeren Faktoren in Beziehung zu genetisch determinierten individuellen psychobiologischen Konstitutionen und Dispositionen stehen. Aus systemischer Sicht besteht zwischen der psychischen Störung und dem sozialen Kontext stets eine spezifische Bedeutung und Sinnhaftigkeit. Die Störung als Symbol für die Notwendigkeit der Behandlung wird im systemischen Therapieprozess durch die Arbeit mit Metaphern, der Umdeutung (Reframing),

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

Skulpturen oder weiteren symbolhaften Verfahren bewusst gemacht. Das tiefenpsychologische Modell fokussiert auf die verborgene, nicht bewusste Seite im Individuum. So führt Rudolf dazu aus: »Das Symptom ist nicht das Eigentliche, das Symptom hat einen Sinn, eine Bedeutung, das Symptom bringt etwas zum Ausdruck, das Symptom wird durch etwas aufrechterhalten; und darüber hinaus: Das Dahinterliegende ist schwer zugänglich, es ist unbewusst« (Rudolf, 1996, S. 113). Innerhalb der Psychodynamischen Psychotherapie lassen sich zunächst unverständliche neurotische Symptome zumeist auf frühe, mehr oder weniger traumatische Erlebnisse und Beziehungserfahrungen zurückführen. So kann sich ein intrapsychisch sinnvoller Zusammenhang ergeben, der die Symptomatik in einem sinnvollen biografisch-intersubjektiven Zusammenhang verstehbar werden lässt. Bestimmte Vorgänge, Abwehrmechanismen oder auch Über-Ich-Zensurmaßnahmen, die zur Ausbildung der Symptomatik beigetragen haben, können so identifiziert werden. Neben diesen intrapsychischen Aspekten weisen Symptome auch einen kommunikativen Aspekt auf, indem sie etwas mitteilen, was für die Patientin in dieser Form »unaussprechbar« ist. So lässt sich das Symptom »als ein Bedeutungsträger verstehen, der vor dem Hintergrund frühkindlicher Konflikte aus dem kommunikativen Vollzug herausgefallen und deshalb ›sprachlos‹ geworden ist« (Weiss, 1998, S. 356). Das Symptom der Patientin bzw. ihr Symptomverständnis stellt die »Übersetzung« des Symptoms und auch die adäquate Antwort auf die darin enthaltene Mitteilung dar, um den dahinterliegenden Konflikt zu erkennen. Psychische Symptome lassen sich psychodynamisch oft als berechtigte Symbole und Hinweise auf eine unbewältigte, belastende lebensgeschichtlich fundierte Thematik oder Problematik identifizieren und bekommen so eine gewisse »Berechtigung« im Sinne von Verstehbarkeit. Die infolge verdrängter Bedürfnisse und Affekte entstandenen starken inner- und intrapsychischen Spannungen führen zu einem Zusammenbruch der bestehenden Balance. Aus den gegensätzlichen Regungen des Konfliktes kann dann das Symptom im Sinne einer Kompromissbildung entstehen. Auch in den Psychotherapie-Richtlinien wird darauf hingewiesen, dass das Symptom nicht die Krankheit darstellt: »Seelische Krankheit ist grundsätzlich von ihrer Symptomatik zu unterscheiden« (Faber u. Haarstrick, 2012, S. 15). Während die systemische Therapie Symptome als sinnvolle, aus der kontextuellen bzw. transgenerationalen Sicht als notwendige Reaktionen des Organismus auf anders nicht mehr ertragbare, krank machende Lebensbedingungen betrachtet, liegt der Schwerpunkt im Rahmen der Psychodynamik in der Verbindung des aktuellen Konflikts mit dem aktualisierten Grundkonflikt.

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der aktuellen Anwendung

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Mit Hilfe der hypothetischen Erfassung des Symptoms öffnet sich ein Such- und Veränderungsraum, um die Bedeutung der psychischen Störung zu erfassen und die Kriterien für die Diagnose im therapeutischen Prozess zu verdeutlichen. Dies unterstützt auch die Auswahl des passenden Versorgungskontextes (ambulant, stationär) sowie das passende Therapiesystem (Einzelperson, Paar, Familie). So stellt sich in diesem Zusammenhang sowohl aus psychodynamischer als auch aus systemischer Sicht stets die Frage, worin gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Sinn und auch der »Nutzen« des Symptoms bestehen könnte und durch welche Faktoren die Symptome aufrechterhalten werden. 5.8 Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der aktuellen Anwendung Psychodynamisch-systemische Therapie setzt sich zum Ziel, der Patientin eine integrative bzw. adaptive Versöhnung mit sich selbst durch eine Form der Selbstentwicklung zu ermöglichen, indem die Patientin verantwortungsbewusst auswählt, was ihr persönlich wichtig ist, und diese neue Form der Fokussierung im therapeutischen Prozess reflektiert. Diese Fokussierung schafft den Rahmen, um mit den Dissonanzen, die aus der zwischenmenschlichen Vergangenheit der Patientin in Form von Fixierungen, Traumata und deren Folgen erwachsen sind, umzugehen. Die wertschätzende haltende Beziehung mit der strategischen Ausrichtung auf die Progression der eigenen Handlungsfähigkeit hilft dabei, sich von den inneren elterlichen Objekten (oder Objekt-Imagines) zu lösen, und schafft die Voraussetzung für gelingende Objektbeziehungen in der Zukunft. Im weiteren Sinne hat psychodynamisch-systemische Therapie das Ziel einer sinnvollen Neugestaltung, die alles einschließt, was durch den aktuellen Konflikt bearbeitungsfähig ist. Dies kann zum Beispiel einen schmerzhaften Trauerprozess beinhalten, in dem durch die Bearbeitung abgewehrte Wünsche, Kränkungen und Enttäuschungen deutlich werden sowie kindliche Wünsche an die Eltern, die nie erfüllt wurden und auch nicht mehr erfüllbar sind. Daraus kann eine angemessene Ablösung von einschränkenden inneren Repräsentanzen früherer Bezugspersonen möglich werden, um eine selbstbestimmtere Lebensgestaltung in Angriff nehmen zu können. Die Einbeziehung der systemischen Perspektive erlaubt eine komplexe Betrachtung, aus der weitere Gestaltungsmöglichkeiten hervorgehen können. Auf der Grundlage der ursprünglichen Idee von Hegel (Hegel, 1806/1952), dass das »Tun des einen das Tun des anderen« provoziert bzw. die Reifung des einen zur Reifung des anderen führt, berücksichtigt ein psychodynamisch-systemischer Therapeut die Bearbeitung anstehender Neugestaltungsaufgaben und

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

unterstützt bei deren Bewältigung im sozialen System. Dafür ist vor allem die direkte Einbeziehung der emotional wichtigen Bezugspersonen hilfreich, so wie es auch in der Psychotherapie-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses von 2013 ausdrücklich vorgesehen ist: »Im Rahmen einer Psychotherapie kann es notwendig werden, zur Erreichung eines ausreichenden Behandlungserfolges Beziehungspersonen aus dem engeren Umfeld (Partnerin oder Partner, Familie) der Patientin oder des Patienten in die Behandlung einzubeziehen« (Gemeinsamer Bundesausschuss, 2013, § 9). In diesen Sitzungen im Mehrpersonensetting gilt es, insbesondere durch das Konzept des gemeinsam geteilten Aufmerksamkeitsfokus, das ursprünglich von Lyman C. Wynne (1985) entwickelt wurde, einen Rahmen zu schaffen, in dem der Therapeut Patientin und Angehörige (Partner, Kinder, eigene Eltern) immer wieder darauf hinweist, das Gehörte aufeinander zu beziehen und die Gemeinsamkeiten und Differenzen wahrzunehmen. Durch diese Rolle wird der Therapeut zum Vermittler des Dialogs. Da die Psychodynamische Psychotherapie im Rahmen des bestehenden Krankenkassenverfahrens in der Regel überwiegend im Einzelsetting stattfindet, fokussiert sich die Betrachtung auf die Dynamik des Interaktionsgeschehens insbesondere durch die unterschiedlichen Möglichkeiten systemischer Fragetechnik. Hypothetische und zirkuläre Fragen an die Patientin ermöglichen, die unterschiedlichen Denk- und Erlebensweisen der am Konflikt der Patientin beteiligten Angehörigen transparent zu machen und die daraus entstehende Dynamik für die therapeutische Arbeit zu nutzen. Durch die Möglichkeit, die Situation in einer neuen Perspektive zu betrachten, können Reifungs- und Individuationsprozesse initiiert werden, die ohne die Berücksichtigung des psychosozialen Transaktionssystems nicht transparent und damit auch der Behandlung nicht zugänglich wären. Die Verknüpfung zwischen dem »kranken Mitglied« im System und den als »gesund« definierten Mitgliedern ist in vielfältigen Untersuchungen nachgewiesen worden und verweist auf die gegenseitige Abhängigkeit und Bedingtheit von beiden (von Schlippe u. Schweitzer, 2012; von Sydow et al., 2007). Aus unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen, beispielsweise Physik, Informationswissenschaften, Biologie und Geisteswissenschaften, sind ebenfalls Erfahrungen mit interdependenten und zirkulär-kausalen Prozessen bekannt. So verweist Stierlin (1975) in diesem Zusammenhang auf Hegel (1806/1952), der in seinem Werk »Phänomenologie des Geistes« von einem Transaktionssystem sprach, das geprägt ist durch zwei ungleich mächtige Personen, dem Herrn und dem Knecht. Liegt die Macht äußerlich betrachtet allein beim Herrn, so ist dieser gleichwohl abhängig von der produktiven Lebensart des Knechtes und wird so vom Knecht psychologisch abhängig und durch diesen verwundbar. Je mehr der Knecht sich knechten lässt,

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der aktuellen Anwendung

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umso größer wird dessen psychologische Macht. Auf die Realität der Patientinnen bezogen würde dies bedeuten, dass deren Angehörige (Partner, Eltern etc.) aufgrund ihrer eigenen Unreife und ihrer eigenen unbewältigten Konflikte als zusätzliche Belastung der Patientin wahrzunehmen sind. Das Ziel psychodynamisch-systemischer Therapie besteht daher darin, Patientinnen sowohl allein als auch, wenn möglich, im direkten Kontakt mit allen an der psychischen Störung Beteiligten eine größere Bewusstheit und psychologische Reifung zu ermöglichen, um Entwicklung auf verschiedenen Ebenen zu unterstützen. Während in der klassischen Psychoanalyse die Abstinenz des Analytikers eine Qualität der therapeutischen Beziehung ausmacht und in der systemischen Therapie zu Zeiten der Kybernetik erster Ordnung die Vorstellung vorherrschte, sich als Therapeut frei von »blinden Flecken« verhalten bzw. ohne eigene Beeinflussung soziale Systeme verändern zu können, setzte sich in der Psychodynamischen und systemischen Therapie die Grundeinstellung durch, dass die Beschäftigung, ja allein die Beobachtung eines Systems das System bereits verändert und dass dies ohne eine subjektive Beteiligung des Therapeuten nicht vorstellbar ist. Bereits Freud sprach von den Schwierigkeiten, die sich durch die Dazwischenkunft der Angehörigen ergeben: »[…] der kann auch als Analytiker nicht von der Wahrnehmung überrascht werden, dass die dem Kranken Nächsten mitunter weniger Interesse daran verraten, dass er gesund werde, als dass er so bleibe, wie er ist« (Stierlin, 2001b, S. 160). In diesem Zitat lässt sich ein Ansatzpunkt für eine systemische Betrachtung einer psychischen Störung erkennen, die allerdings in der Folge nicht weiter verfolgt wurde. Auch Freud war für seine Ansichten revolutionär, indem er der mechanistisch geprägten Physik und den weiteren Naturwissenschaften Erklärungsmodelle und Begriffe wie Verdrängung, Widerstand, Besetzung und Reaktionsbildung entgegenbrachte, um mit deren Hilfe das Verständnis von innerpsychischen Prozessen zu erneuern. Bateson stellte die neuen Erkenntnisse Freuds insoweit infrage, als dieser den Beobachtungs- und Erfahrungskontext – das heißt die für Freud mit Mühsal und Kampf verbundene psychoanalytische Zweierbeziehung – nicht gleichsam mitrevolutioniert hatte. Er ging stattdessen davon aus, dass Änderungen von verhaltens- und motivationsbestimmenden Grundannahmen nicht notwendigerweise die Folge eines hohen Energie-, Arbeits- und Zeitaufwands sein müssten, sondern durch entsprechende Anstöße anzuregen wären, um die Veränderungsprozesse aus eigener Kraft fortzusetzen. Nach Bateson ging es nicht mehr um den Kampf und die Überwindung von Widerständen, sondern um die Entwicklung von Kooperation, indem der Therapeut sich möglichst schnell auf die ganz individuellen Interessen und Bedürfnisse der Patientin einstimmt und sie somit optimal für die Informationen empfänglich macht.

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

Dies findet seine Entsprechung in den aktuellen Erkenntnissen der Psychotherapieforschung, nach der neben der Therapeuten- und Beziehungsvariablen vor allem auch die Patientenvariable zu berücksichtigen ist. Versteht man Psychotherapie als einen professionell gestalteten Prozess der Selbsthilfe bzw. der Selbstveränderung, kommt der Übernahme von Eigenaktivität und Initiative durch die Patientin eine größere Bedeutung zu. Danach wird die Patientin nicht mehr von einem Experten behandelt, sondern sie wird durch gezielte Fragen und Interventionen angeregt, ihre Befähigung zum selbstbestimmten Handeln unter Nutzung der Ressourcen und Möglichkeiten zu entwickeln. Dabei rücken die Kreativität, Aktivität und Reflektiertheit der Patientin in den Mittelpunkt des Geschehens. Über das Gelingen des psychotherapeutischen Prozesses entscheidet demnach auch die Kooperationsbereitschaft der Patientin, ebenso wie ihr Erleben der Therapiebeziehung und die damit verbundene Bestätigung, die der Therapeut durch die Patientin erfährt. Die Bereitschaft der Patientin, einen eigenen Beitrag zur Beziehungsqualität zu erbringen, entscheidet genauso mit über den Erfolg der Psychotherapie wie die Eignung und Passung des jeweiligen Therapieangebotes für die einzelne Patientin, um sich emotional und verbal öffnen zu können. In erster Linie stehen die Berücksichtigung komplexer Zusammenhänge und die Stärkung eines qualitativ-verstehenden Zugangs zur Patientin im Vordergrund des Therapieprozesses. In beiden Verfahren ist nicht eine rückhaltlose Annahme der Patientin das Ziel, sondern eine wertschätzende und für den Auftrag und die psychische Störung der Patientin inhaltlich angemessene Form der Beziehungsqualität, die auch kritische und musterverstörende Fragen beinhalten kann. Dies beinhaltet auch den Einsatz unterschiedlicher therapeutischer Settings, um eine erweiterte Betrachtung der psychischen Störung durch die Integration der Mitbeteiligten zu ermöglichen. Die von der Patientin initiierte Veränderung kann so in Richtung Heilung unterstützt werden, indem das Gesamtsystem (temporär) an der Veränderung teilhaben und mitwirken kann und nicht aus der eigenen Unsicherheit heraus die Einzelbehandlung zum Abbruch führt, indem in manchen Fällen Mitglieder des Systems versuchen, die Patientinnen zum Abbruch der Therapie zu bewegen. Diese Erfahrungen hatten sich im therapeutischen Alltag vielfach bestätigt und zunächst zur Entwicklung der Familientherapie und im zweiten Schritt zur Systemtherapie geführt (Satir, 1975; Minuchin, 1977). Der Wandel der Perspektiven fand mit dem Ziel statt, nicht nur zu der Patientin eine vertrauensvolle und kooperative Haltung aufzubauen, sondern zum gesamten Familien- bzw. Problemsystem (Goolishian u. Anderson, 1988). Die Familien- und die Systemtherapie hatten deutlich gemacht, wie mit einer Haltung der Allparteilichkeit zu allen Familien- bzw. Systemmitgliedern und Neu-

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der aktuellen Anwendung

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tralität im Sinne der Lösungsabstinenz therapeutische Veränderungsprozesse durchgeführt werden können. So wird in einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie mit Hilfe systemischer Hypothesen versucht, die komplexen Zusammenhänge der Störung bzw. des Problemverhaltens zu verstehen und die darin enthaltene sinnvolle Bedeutung des Symptoms im Gesamtkontext zu erkennen. Um dies zu erreichen, hat sich eine umfangreiche Kultur des Fragens und der Ausbildung symbolischer und interaktionsorientierter Interventionsformen entwickelt, welche die Zusammenhänge sowie die Muster und Regeln zwischen den Personen transparent machen kann. Eine systemische Intervention im Sinne der Qualitätssicherung könnte hier eine regelmäßige Triangulierung des dyadischen Prozesses durch Reflektierende Teams sein, die mit ihrer Grundstruktur des dialogischen Austauschs sowohl für die Patientinnen als auch für die Behandler eine Ressource darstellen. Das Verhalten des Therapeuten ist durch diese Interventionsformen sehr viel aktiver geworden als im klassischen psychodynamischen Setting, mit dem Vorteil, die Expertensicht des Therapeuten mit Deutungsanteilen für die Situation und die Biografie der Patientin zu einer Expertensicht der Patientin in Form einer eigenen subjektiven Einschätzung und Reflexion unter Mithilfe des Therapeuten zu erweitern. Gleichzeitig eröffnen sich durch die Interventionen des Therapeuten und die Rückmeldungen der Patientin in einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie neue Formen der Interaktion, die eine klassische Aufteilung in die Bereiche Diagnostik und Intervention zugunsten eines gesamttherapeutischen Prozesses auflösen. Die Informationen über die Zusammenhänge der psychischen Störung, ihrer Genese und der von der Patientin vermuteten weiteren Entwicklung eignen sich in der Kombination der Berücksichtigung aktueller Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene besonders, um die Verbindung zu den für die Patientin wünschenswerten Zielen und Veränderungen zu entwickeln. Eine richtungsweisende Intervention erreichte in diesem Zusammenhang die sogenannte »zirkuläre« oder auch »systemische« Frage, bei der eine Person über die vermutete Beziehung zwischen zwei anderen Personen befragt wird. Sie gibt in besonderer Weise die Bedeutung kommunikativer und mentalisierender Prozesse für soziale Systeme wieder und soll hier stellvertretend noch einmal hervorgehoben werden. Während mit der systemischen Therapie das Prinzip der Ankoppelung (Joining) und der provokativen Fragen (Verstörung) als Grundlage des therapeutischen Prozesses verbunden ist, ist die Psychodynamische Therapie vor allem durch die Identifizierung und Bearbeitung unbewusster Motive und Hintergründe (unbewusste reaktivierte Konfliktdynamik) geprägt. Nach einer intensiven Anfangszeit der heutigen Systemtherapie als familientherapeutisches Ver-

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

fahren, in der eine Behandlung zunächst strikt nur mit vollständigen Familien stattfand, werden aktuell immer mehr Einzelpatienten behandelt. Hier werden die Erfahrungen und Erkenntnisse aus den Mehrpersonen- und Familiensettings integriert, indem die Patientin in ihren Wechselwirkungen des aktuellen Lebens- und Bedingungsgefüges betrachtet wird und die bestehenden Begrenzungen sowie die vorhandenen Ressourcen berücksichtigt werden. Schaut man sich die Entwicklung der unterschiedlichen Modelle genauer an, so bestand in den 1950er Jahren eine Theorienwirrnis (Stierlin, 2001a, S. 114 ff.). Unterschiedliche psychoanalytische Theorien herrschten vor, wobei die Theorie von Fairbairn (1952/2007) für die systemische Entwicklung von besonderer Bedeutung war, da in diesem Modell die realen Beziehungen (Objektbeziehungen) eines Individuums von der Entwicklung, der Beschaffenheit und den Wechselfällen seiner innerpsychischen Dynamik her betrachtet wurden. Fairbairn sprach in diesem Zusammenhang von der »Suche des Menschen nach dem Objekt« als grundlegende Motivation für den Aufbau von Beziehungen. Er sah dies als den grundlegenden Antrieb menschlichen Verhaltens und nicht als Triebabfuhr, wie Freud es postuliert hatte. Freud entwickelte den Begriff »Neurose«, als man diese für eine Nervenkrankheit hielt, die vom Gehirn ausgeht. Durch diese diagnostische Einengung auf die Phänomenbereiche Organismus bzw. Zentralnervensystem blieb alles Innerpsychische bzw. Beziehungsproblematische außen vor. Freud erweiterte diese Sicht, und in den USA war es Sullivan (1980), der nicht zuletzt psychotische Störungen als Ausdruck und Folge bestimmter Beziehungsmuster angab. Neben dem Organismus und der Psyche wurde damit der interpersonelle Raum als dritter Phänomenbereich betrachtet und für die Diagnose genutzt, trotz aller Schwierigkeiten, ein medizinisches Diagnosemodell auf psychische Störungen anzuwenden. In die interpersonelle Richtung wiesen auch die Vorarbeiten von Bateson. Er zeigte auf, dass etwas in der bisherigen Diagnostik fehlte und richtete die Aufmerksamkeit auf die Muster der Konflikte, die Beziehungsregeln und die unterschiedlichen Formen von Kommunikation. Er appellierte, verstärkt auf das zu schauen, was es zu beobachten galt und nicht mehr auf das unbewusste Nichtbeobachtbare. So entwickelte sich eine neue Sensibilisierung für die Bedeutung des jeweiligen Beobachtungs-, des therapeutischen sowie des gesellschaftlichen Kontextes, um die Diagnose psychischer Störungen erfassen zu können, sowie des gesellschaftlichen Umgangs mit Norm und Abweichung. Es setzten sich Betrachtungsweisen durch, die der Bedeutung unterschiedlicher Phänomenbereiche wie der des Organismus, der Psyche und des sozialen Systems bzw. der Beziehungsmuster unterschiedliche Formen der Beobachtung, der Beschreibung und der Bewertung zugestanden (Simon, 1990; Altmeyer u. Hendrischke, 2012).

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Die Rolle des Therapeuten in einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie

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5.9 Die Rolle des Therapeuten in einer psychodynamischsystemischen Psychotherapie Da es sich bei beiden Verfahren um heuristische Zugänge zu den komplexen Zusammenhängen menschlicher Entwicklung und menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns handelt, haben alle Vorgehensweisen stets hypothetischen Charakter. Sie unterstreichen die unterschiedlichen Möglichkeiten, sich der psychischen Störung zu nähern. Die Kriterien sind dabei stets von der Vorstellung geleitet, welche Wechselwirkungen erkennbar sind und was von den Beteiligten als sinnhaft erlebt wird. Widerstand als Verhalten der Patientin kann als sinnvolle Verhaltensweise in Form von Schutz vor Verletzung oder Veränderung gedeutet werden. Ebenfalls ermöglicht die Arbeit mit Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen, die aktuelle Beziehung zwischen der Patientin und dem Therapeuten zu intensivieren. Indem der Therapeut sich der Patientin als ein vielschichtiges Objekt zur Verfügung stellt, kann er ihr hilfreiche Rückmeldungen über ihr Verhalten und darüber hinaus zur eigenen Wahrnehmung ihrer inneren Prozesse geben. Damit schafft eine psychodynamisch-systemische Therapie für die Patientin die Möglichkeit, in einem dialogischen Prozess sich selbst ihre eigene Deutung entwickeln zu lassen. Insbesondere die Gegenübertragung des Therapeuten könnte dafür genutzt werden, ein Modell für den Umgang mit schwierigen Situationen zu etablieren (vgl. Kapitel 6.9.3). Aus Sicht einer psychodynamisch-systemischen Therapie handelt es sich bei der Arbeit an den inneren Objekten und den Bildern zu den Bezugsobjekten und Selbstrepräsentanzen nicht um statische Bilder und innere Modelle, sondern um veränderbare Wirklichkeiten, die durch die aktuelle Ansprache des Interaktionspartners mitgesteuert werden. Genau genommen sind es weniger die Bilder des anderen, sondern eher Anteile von Selbstbildern (sogenannte Selbstrepräsentanzen), die durch die Handlungsweise des anderen angeregt (»excitation«) und in Formen von Interaktionsmodi kommunikativ untereinander ausgetauscht werden (zirkuläre Kausalität). Daher sollte man in diesem Zusammenhang eher von Resonanzen als von Repräsentanzen sprechen. Ein Beispiel für die Gefahr, aus einer linearen Sichtweise falsche Schlüsse zu ziehen, zeigt sich beispielsweise anhand der Diagnose Depression. So konnte nachgewiesen werden, dass gestörte Kognitionen die Folge des Störungsbildes und nicht deren Ursache sind, wie verschiedentlich angenommen worden ist. So verringern sich in Zeiten der Erholung die dysfunktionalen Einstellungen oder verschwinden sogar. Ebenso erweisen sich rational-kognitive Argumente in der Störungsphase oft als ineffektiv, obgleich die Patientin diese kognitiv

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

nachvollziehen kann. Darüber hinaus weisen Depressive oft realistischere Einschätzungen von ihrer Situation auf als Nichtdepressive. Die Berücksichtigung zirkulär-kausaler Prozesse und die Berücksichtigung der Wechselwirkungen zwischen affektiven und kognitiven Inhalten stellt eine wichtige Basis therapeutischen Handelns dar. In einer psychodynamisch-systemischen Therapie kommen unterschiedliche Bearbeitungsformen zum Einsatz. Neben der Bearbeitung von aktuellen Konflikten werden damit verbundene aktualisierte Konflikte aus der Biografie der Patientin durchgearbeitet und neue Möglichkeiten entwickelt. Damit stehen unterschiedliche Wege zur Erreichung des therapeutischen Ziels (Heilung) zur Verfügung. Fürstenau (2007) weist darauf hin, dass das Symptom von heute die Notlösung von gestern darstellt und erst im größeren sozialen Kontext seinen Sinn bekommt, in dem es auf die Zusammenhänge im System verweist und auf notwendige Veränderungen. So führt im Fall der Depression die Drosselung von zu starken Gefühlen und ein unangemessen harmonischer Umgang mit der Umwelt, statt die angebrachte und notwendige Aggression zu sehen, ins Dilemma – mit der Folge, dass der Patient sich nicht weiterentwickelt, sondern mit einem Potenzial von aufgestautem Ärger und verborgener Trauer auf der Stelle tritt. Eine psychodynamische Deutung als Hypothese formuliert, schafft aus systemischer Sicht die Freiheit für Therapeut und Patientin, Zusammenhänge als realistische Vorstellung zu betrachten, und eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit, sie ablehnen zu können, ohne die eigene Rolle zu gefährden. Der Therapeut behält seine Rolle als Experte für die klinischen Grundlagen der psychischen Störung und der Kompetenz, kommunikative Angebote über Zusammenhänge zwischen Verhalten, Denken und Fühlen im sozialen Kontext zu geben, wogegen die Patientin ihre Rolle als Expertin für ihre eigene Vorstellung über die Störungsdynamik behält, ohne die Vorannahme, dafür als widerständig eingestuft zu werden. Da zum Zeitpunkt einer psychischen Krise oft vielfältige Anforderungen und unterschiedliche Wert- und Normvorstellungen auf die Patientin einströmen, kommt es in der Regel zu einer Verdrängung nicht kompatibler Selbstrepräsentanzen, um die innere Einheit des Selbst aufrechtzuerhalten. Im Rahmen einer psychodynamisch-systemischen Therapie können durch wertschätzende und sinnhafte hypothesengeleitete Rückmeldungen zu den vermuteten Zusammenhängen unbewusste und bisher ausgeschlossene Selbstanteile wieder aktualisiert und in Handlungszusammenhängen neu integriert werden. Dabei übernimmt der Therapeut unter anderem Holding- (vgl. Winnicott, 1974) und Containing-Funktionen (vgl. Bion, 1992), die der Patientin ein emotio-

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nales Ankommen und Einlassen in den therapeutischen Prozess erleichtern. Der Therapeut bietet dadurch eine haltgebende Umgebung und einen psychischen Raum für die unterschiedlichen Empfindungen und Erfahrungen, insbesondere für unerträgliche negative Emotionen wie Angst, Schuldgefühle, Schamgefühle, ohnmächtige Wut oder Minderwertigkeitsgefühle, die von der Patientin noch nicht verstanden und teilweise zunächst auch noch gar nicht bewusst wahrgenommen werden können. Indem der Therapeut das alles zunächst in sich aufnimmt und bei sich »aufbewahrt«, bleibt ihm die Möglichkeit, dies zu gegebener Zeit über den zwischenzeitlich stattgefundenen therapeutischen Prozess angemessen an die Patientin zurückzugeben. Dies unterstreicht die respektvolle und wertschätzende Haltung, die auch im systemischen Verfahren zum Tragen kommt, und erweitert die Möglichkeiten, auch an intensiven Gefühlen der Verletzung und Kränkung therapeutisch arbeiten zu können. Gleichzeitig steht dieses Konzept nicht im Gegensatz zu den verstörenden Interventionen, wie sie in der systemischen Therapie zum Tragen kommen, da je nach konfliktoder strukturbedingter Problematik unterschiedliche Vorgehensweisen notwendig sind, um der Komplexität angemessen Rechnung zu tragen. Über die Errichtung eines »sicheren« Raumes ähnlich dem »intermediären Raum« bei Winnicott (1974) kann innere Realität und äußeres Leben einfließen und kreativ genutzt werden. Auch Angst machende Phänomene im Zusammenhang mit innerpsychischen Objektbeziehungen, Identifizierungen, Internalisierungen und Introjekten können im Laufe der Zeit wiederbelebt, auch im Winnicott’schen kreativen Sinne »durchgespielt«, bewusst gemacht, reflektiert und schließlich integriert werden. Die Vermittlung zwischen verschiedenen psychischen Positionen und Zuständen, zwischen innerer/individueller und äußerer/kultureller Realität und auch zwischen dem Ich und dem Gegenüber kann aus psychodynamischsystemischer Sicht viele Gesichter haben. Dabei kann auch das Alte und Vertraute aus der Biografie erinnert, betrachtet und vieles auch wertschätzend (wieder-)entdeckt, anerkannt und einbezogen werden, um eine angemessene und vor allem auch selbstbestimmte Verbindung zum Heute herstellen zu können, und damit eine neue Integration alter Erfahrungen ermöglichen. Betrachtet man die Kunst, sich in andere hineinzuversetzen und hineinzufühlen, als grundlegende therapeutische Kompetenz, dann bildet nicht die theoretische Wissensvermittlung den zielführenden Weg, sondern auch das Lernen am Modell.

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5.9.1 Was Psychodynamische und systemische Psychotherapie für wichtig empfinden und wofür sie sich einsetzen

Systemischen und psychodynamischen Therapeuten ist die Arbeit mit Hypothesen als Basis für den therapeutischen Prozess gemeinsam. So wird bei der Psychodynamischen Psychotherapie neben der Formulierung der Hauptproblematik und der Zielsetzung eine Hypothese über die unbewussten Hintergründe und die sich daraus ergebende Psychodynamik und über das Strukturniveau erhoben. Diese Hypothesen werden im Verlauf der Therapie immer wieder überprüft, bestätigt oder gegebenenfalls falsifiziert. Während die Psychodynamische Psychotherapie inhaltlich stärker intrapsychisch orientiert ist, kontextualisiert die systemische Therapie die jeweilige Störung mit ihren strukturellen und dynamischen Mustern und Regeln zwischen den Personen und Ereignissen – gemäß der Grundannahme, dass eine Kommunikation immer auch eine soziale Botschaft darstellt und ohne Kontext nicht vorstellbar ist. Neben der gemeinsamen Arbeit an und mit Hypothesen spricht auch die gemeinsame Orientierung am Auftrag und den damit verbundenen Zielen der Patientin für einen stärkeren Austausch der beiden Therapieverfahren. Eine im Rahmen der Psychodynamischen Psychotherapie mittlerweile deutlich modifizierte Form, das Unbewusste, den Widerstand, die Übertragung und die Gegenübertragungsprozesse als kooperative dialogische Grundlage für den therapeutischen Prozess zu nutzen, ermöglicht beiden Verfahren, die intrapsychischen und die systemischen Besonderheiten in den Blick zu nehmen und durch unterschiedliche Interventionsformen zu berücksichtigen. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, den therapeutischen Prozess sowohl zu begleiten als auch zu steuern und gleich von Beginn an den Fokus auf eine spürbare und nachhaltige positive Veränderung der heilkundlich psychischen Störung zu legen. Durch die Verbindung von systemischer und Psychodynamischer Therapie ergeben sich für beide Verfahren Vorteile, die sowohl zu einer Erweiterung der Interventionsmöglichkeiten als auch der inhaltlichen Grundlagen führen. Die Psychodynamische Psychotherapie integriert bei dieser Verbindung neue Vorgehensweisen, um mit den Patientinnen unterschiedliche Konstruktionen von Wirklichkeiten zu etablieren und dabei Modelle zu nutzen, um unter anderem auch in variierenden Live-Settings (Partner, Geschwister, Eltern, Peers und soziale Gruppen) therapeutisch zu arbeiten. Die systemische Therapie erfährt durch die inhaltliche Nutzung der Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse für die Gestaltung von Hypothesen die Möglichkeit einer sinnvollen Erweiterung, indem bei der Formulierung einer systemischen Hypothese bzw. einer daraus entwickelten Frage an die Patientin der Therapeut nicht nur als beteiligter Beobachter (Kybernetik zweiter Ordnung), sondern darüber hinaus

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als Übertragungsmodell in der therapeutischen Beziehung genutzt werden kann. Dies fördert eine bewusste Integration, bei der die persönlichen und emotional-affektiven Momente bei der Patientin intensiver bearbeitet werden können (vgl. Kapitel 6.9.3, Fallbeispiel 7). Die Situation, dass die Psychodynamische Psychotherapie von Beginn an methodisch etwas Eigenes war, erleichterte es, dieses eigene Profil weiter auszubauen (Rudolf, 2010). Daher kommt ihr im Rahmen der psychodynamischsystemischen Psychotherapie die Aufgabe zu, einen Raum zu schaffen, in dem die Patientin sich in ihrer Problemsicht sowohl verstanden als auch motiviert fühlt, über Alternativen und neue Sichtweisen nachzudenken, nachzufühlen, zu verstehen und sich mit Hilfe unterschiedlicher Interventionen weiterzuentwickeln. Der Therapeut schafft mit einer Haltung der Allparteilichkeit und Neutralität bezogen auf die Lösung des Problems eine konstruktive Basis. Durch das respektvolle Interesse an der subjektiven Sichtweise der Patientin und die Wertschätzung für ihre Autonomie entwickelt sich ein haltgebender Rahmen, um die psychische Krisensituation bearbeiten zu können (vgl. Rudolf, 2010; von Schlippe u. Schweitzer, 2012; Rieforth, 2006). Gerade in einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie sind die bewussten und unbewussten Intentionen und Einstellungen der Patientin sowie die entsprechenden Gegenübertragungsreaktionen des Therapeuten von Bedeutung. In einer dialogischen Form des Miteinanders werden die intersubjektiven Bilder, Empfindungen, Ideen und Vorstellungen zwischen Patientin (und ggf. ihren Bezugspersonen) und Therapeut entwickelt und in Beziehung gesetzt mit dem Ziel einer konstruktiven Verbindung zwischen bewusstem Verhalten und unbewussten Empfindungen bei gleichzeitiger Reflexion der eigenen Rolle als Therapeut (vgl. Rudolf, 2010, S. 201). Dieses Vorgehen hat sich in den letzten zehn Jahren im Rahmen des psychodynamischen Verständnisses weiter etabliert und eine Brücke zur systemisch-transgenerationalen Systemtherapie ermöglicht, so wie sie von verschiedenen Vertretern entwickelt wurde (Stierlin, 1975; Massing, Reich, Sperling u. Georgi, 2006; Buchholz, 1990). Aber auch Bion wies in seinen Tavistock-Seminaren in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre darauf hin, dass die Phänomene von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen erweitert werden müssten, da der Keim einer Idee weder im Patienten noch im Analytiker, sondern in deren Beziehungsmuster wurzelt: »In der Beziehung aber in diesem Zusammenhang von Übertragung und Gegenübertragung zu sprechen, halte ich für sehr unbefriedigend, weil uns solche Theorien trotz ihrer Vorteile doch auch behindern. – Sobald sich zwei Menschen in einem Raum befinden, von denen der eine analysiert werden und der andere der Analytiker sein möchte, wird sehr schnell etwas entstehen. Der Keim einer Idee gehört also

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tatsächlich zu beiden« (Bion, 2007, S. 32). Aus heutiger Sicht plädierte er bereits damals für ein systemtheoretisches Verständnis: »Es hat also den Anschein, als befänden sich nur zwei Körper im Zimmer, doch meiner Meinung nach müssen wir darüber hinaus auch diesen Dritten – mindestens diesen Dritten – entdecken und das, was dieser entdeckt. Der Analytiker wird von diesem Dritten die ganze Zeit über analysiert. Und wenn man Glück hat, wird sogar der Patient diesen Dritten nach einer Weile erfassen und sich seiner Existenz bewusst sein können« (Bion, 2007, S. 30). 5.9.2 Die Herausforderungen an den Therapeuten durch die aktuelle Entwicklung der Psychotherapieverfahren

Obwohl der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP) keine wissenschaftliche Grundlage für die Unterscheidung analytischer und tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie sieht, lassen sich in der Praxis jedoch unterschiedliche Anwendungsformen erkennen, die zu einer neuen Qualitätsentwicklung des psychodynamischen Behandlungsmodells beitragen können. Eine Erweiterung durch das systemische Verfahren und der Beziehungsaustausch zwischen beiden Verfahren könnte diese Entwicklung weiter vorantreiben mit folgendem Ziel: Der aktuelle Konflikt wird bei gleichzeitiger Integration des biografisch-aktualisierten Konflikts im Rahmen eines dialogischen und regressionsbegrenzenden Prozesses und unter Beachtung der Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse bearbeitet. Dabei werden bewusste und unbewusste Inhalte berücksichtigt, und die Patientin wird als die Expertin für ihre eigenen Lösungen betrachtet.

Danach bedeutet Therapie nicht, sich passiv in die Hände des Experten »Therapeut« zu begeben, sondern im dialogischen Prozess selbst neue Wege der eigenen Lebensgestaltung im Hier und Jetzt zu entwickeln. Dabei steht der Therapeut als Hilfestellung für die Bearbeitung der Konfliktlage zur Verfügung, um die Gefühle zu klarifizieren und eine »ergebnisoffene« Beleuchtung der konflikthaften Objektbeziehungen zu ermöglichen. Im Therapieprozess werden die verinnerlichten und die zu überarbeitenden Objektbeziehungen ebenso bewusst wie die vorhandenen und die zu entwickelnden Ressourcen, um die psychische Krise zu bewältigen und alternative Handlungsoptionen zu entwickeln. Eine Verbindung zwischen Psychodynamischer Therapie und systemischer Therapie würde für die Systemtherapie eine willkommene Erweiterung darstellen, um die Bedeutung des Unbewussten adäquater als bisher nutzen zu können. Obwohl viele wissenschaftliche Studien aus der Neuropsychologie und der Säuglingsforschung (vgl. Brisch, 2011; Stern, 1992) die Bedeutung unbewusster und vor-

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sprachlicher Erfahrungen bestätigen, findet sich auch in der aktuellen Fassung des Lehrbuchs für systemische Therapie und Beratung von von Schlippe und Schweitzer (2012) nur ein Hinweis darauf, dass die rein sprachliche Form der Intervention in vielen Fällen nicht ausreichend ist, um Veränderungen beim Patienten zu bewirken. Ein Hinweis auf unbewusste Phänomene und das Unbewusste fehlt dagegen im Verzeichnis völlig. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass gerade die Integration der unbewussten Anteile und ihre Erkennung für die Patientin von hohem Wert sind. Die erweiterte Kompetenz des Therapeuten zeigt sich dadurch, dass er seine Gegenübertragung in der Form transparent zu machen in der Lage ist, dass er die darin enthaltenen Informationen in angemessener und konstruktiver Form der Patientin dialogisch zur Verfügung stellen kann. Ebenso verhält es sich bei der Erfassung und Bewusstmachung der Übertragungsprozesse. Schaut man weiter, wieso die beiden Verfahren sich so lange nicht beachtet oder sogar teilweise abgelehnt haben, dann spielt vermutlich auch die Frage nach dem Widerstand der Patientin eine Rolle. Während in der Psychodynamischen Psychotherapie lange Zeit die Auffassung vorlag, es handele sich um ein rein persönlich bezogenes Phänomen der Patientin und sie stelle damit die Bremse in der Therapie dar, ging man beim systemischen Modell davon aus, bei der Patientin gäbe es gar keinen Widerstand, sondern im Falle einer Stockung des Prozesses nur unkreative Therapeuten ohne gute Ideen. In der aktuellen Konzeptionierung verstehen beide Verfahren mittlerweile Widerstand als ein interaktionelles Phänomen. Aus psychodynamischer Sicht handelt es sich bei Widerstandsphänomenen nicht um ein Agieren gegen die Therapie oder den Therapeuten, sondern um die Vermeidung einer Aktivierung negativer Emotionen innerhalb der Auseinandersetzung mit konflikthaften Beziehungsgeschehen. Dies kann im Alltag der Patientin nützlich sein, um sich zu schützen. Auf der anderen Seite können Widerstandsphänomene auch auf Therapeutenseite auftreten, wenn der Therapeut beispielsweise seine eigenen Gegenübertragungsgefühle nicht ausreichend erkennt und reflektiert und es zu unbewussten »Gegenübertragungswiderständen«, zu einem Gegenübertragungsagieren kommt (vgl. Wöller u. Kruse, 2010, S. 250 ff.). Danach geht es nicht einseitig um eine (Nicht-) Leistung der Patientin oder des Therapeuten, sondern um ein Beziehungsgeschehen zwischen Therapeut und Patientin, das sich im therapeutischen Prozess entwickelt (siehe Abbildung 3, S. 84). Die Aufgabe einer neuen Therapiegeneration besteht darin, kreative Wege zum Unbewussten zu entwickeln. Daher käme einem psychodynamisch-systemischen Verfahren die Aufgabe zu, unterschiedliche Wege zu entwickeln, um möglichst intensiv an der unbewussten Erlebniswelt der Patientin arbeiten zu

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können. Dies gelingt unter anderem durch neue Interventionsformen, wie zum Beispiel Metaphernarbeit, Aufstellungsarbeit, Raumskulpturen und aktives Inszenieren von triadischen Zusammenhängen. 5.9.3 Das Paradox der Zielorientierung

Mittlerweile sind sich tiefenpsychologisch fundierte und systemische Ansätze grundsätzlich einig im Umgang mit einer Zielorientierung als Grundlage heutiger Therapieverfahren. In den letzten Jahren hat hier sogar eine intensive Annäherung stattgefunden. Dabei ist entscheidend, dass der Therapeut zwar die Kompetenz zum Umgang mit den psychischen Störungen hat, das konkrete Vorgehen und die Zielorientierung aber mit der jeweiligen Patientin gemeinsam erforscht und entwickelt. Dies ist deshalb so wichtig, da zu Beginn einer Therapie der Patientin und damit auch dem Therapeuten die Ziele nur begrenzt bewusst sein können und sich aufgrund der Dynamik des Unbewussten erst im Prozess eine Reihe von Zielen und Bedürfnissen nach konkret angestrebten Veränderungen entwickelt. Obwohl die Zielorientierung in einer psychodynamisch-systemischen Therapie von Beginn an vorhanden ist, ist es leicht vorstellbar, dass die Ziele zu Beginn einer Therapie in der Regel nur einen sehr begrenzten Teil der Wünsche und Themen der Patientin beinhalten können. So besteht die besondere therapeutische Kompetenz darin, die Ziele gemeinsam mit der Patientin zu modifizieren, um die erst im Prozess bewusst gewordenen Bedürfnisse zu integrieren. Gerade die Verbindung von Zielorientierung und einer psychodynamischen Auseinandersetzung mit dem Unbewussten und somit teilweise Überraschenden führt zu einer neuen Kompetenz im Umgang mit der psychischen Störung im Rahmen einer selbstbestimmten Lebensgestaltung.

Eine wertschätzende und respektvoll neugierige Unterstützung durch den Therapeuten ermöglicht dabei der Patientin, die Ziele nicht nur im eng vorstellbaren oder im realistisch überzogenen Rahmen zu definieren, sondern insbesondere durch die haltgebende und kontinuierliche Beziehung im therapeutischen Prozess auch die bekannten Grenzen zu verlassen und etwas Neues auszuprobieren. Durch die Verbindung von psychodynamischen und systemischen Grundlagen könnten mit Hilfe einer prozessorientierten Diagnostik und der hypothetisierenden Fragetechnik neue Überlegungen zu einem kreativen Umgang mit der Zielorientierung von Patient und Therapeut entwickelt werden (Cecchin, 1988). Dies würde auch die Grundintervention der Deutung aus der Psychodynamischen Psychotherapie betreffen, indem aus der Aussage des Therapeuten

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eine Frage an die Patientin entwickelt wird wie beispielsweise: Angenommen, Sie würden diesen Aspekt der Sorge um die verlorene Autonomie noch einmal weiter vertiefen, was würde dies für Sie bedeuten und was fällt Ihnen dazu ein? Auch die Unterstützung der Patientin, sich vorzustellen, dass etwas ganz anders wäre, stellt eine Grundintervention systemischer Therapeuten dar, die erlaubt, die Arbeit an den operationalisierten Zielen mit der kreativen Entwicklung des Unbewussten zu verbinden (vgl. Kapitel 6.5). Wenn sich die Kernkompetenz der psychodynamischen Therapeuten, Übertragungsmuster schnell erkennen zu können, mit den Kompetenzen von systemischen Therapeuten, systemische Fragen und szenische Inszenierungen für die Entwicklung neuer Wirklichkeitskonstruktionen zu erzeugen, sinnvoll verbindet, dann stellt dies einen neuen, effizienten Weg dar, der der Patientin zugutekommt. Ziel dabei ist es, immer bezogen auf die aktuelle Konfliktlage, die damit zusammenhängenden internalisierten Affekte, abgewehrten Wünsche, Enttäuschungen und Kränkungen fokussiert so zu erinnern und durchzuarbeiten, dass es zu einem angemessenen Verstehen und Erfahren der inneren Konfliktdynamik und darüber zu der angestrebten Veränderung kommen kann. Durch das Bewusstwerden dieser internalisierten Denk- und Verhaltensmuster und der gleichzeitigen aktiven Form der Auseinandersetzung mit alternativen Denk- und Handlungsmöglichkeiten werden die Patientinnen darin unterstützt, sich so von den im Rahmen der eigenen Lebensgeschichte entwickelten pathologischen Einstellungen zu distanzieren und neue konstruktive Denk- und Umgangsweisen zu etablieren. Da beide Verfahren eine reflektierende Haltung als Ziel haben, stellt sich die Frage, wie man am hilfreichsten zuhören, denken und fühlen kann. Durch eine Stärkung des Zuhörens und dem aufeinander aufbauenden, unmittelbar erlebbaren Wechsel der Positionen von Selbstreflektieren und Hören von Reflexionen entsteht eine neue Qualität im therapeutischen Prozess. Durch die reflektierende Kommunikation kann der Therapeut sich selbst als Teil des größeren Zusammenhangs betrachten, sowohl als Teil der Lösung als auch als Teil der Nichtlösung (Andersen, 1990). So wird der therapeutische Prozess systematisch in die Beobachtung einbezogen, und es entsteht eine reflektierende Kommunikation über die Therapiekommunikation. Neben der zusätzlichen Erkenntnis über die Prozesse und die Muster und Regeln der Beteiligten fördert diese Methode eine respektvolle Art der Kommunikation und die klare Strukturierung des Wechsels zwischen reflektierender und zuhörender Haltung. Dabei ist nicht die Rückmeldung im Sinne einer durch den Beobachter vorgenommenen Reduktion auf (scheinbar) positive Aspekte gemeint, da diese in besonderer Weise die Eigenständigkeit der Patientin

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infrage stellt. Eine respektvolle Haltung zeigt sich am deutlichsten in der Wahrung der Autonomie der Patientin bei gleichzeitiger Beschäftigung mit ihren Problemen, Störungen und Konflikten einerseits und ihren Ansätzen zur Problemlösung andererseits. Während die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie aus der Tradition der Psychoanalyse eher auf die therapeutische Dyade ausgerichtet ist und jede Betrachtung von außen eher als Störung bzw. Eingriff in den Prozess begreift, ist die Systemtherapie hoch vertraut mit der Arbeit der sozialen Bezugssysteme der Patientinnen (Partner, Familie, soziale Netzwerke, Multifamilientherapie). Rudolf (2010, S. 207 ff.) weist in seinem Werk zur Psychodynamischen Psychotherapie auch auf die Gefahren der Dyade zwischen Patient und Therapeut hin, die neben der Gefahr einer ökonomischen oder in Einzelfällen auch emotionalen Abhängigkeit vor allem in der Gefahr eines narzisstischen Missbrauchs bestehen können. Bedingt durch die komplementäre Beziehung zwischen dem Therapeuten als Experten und dem Patienten als Hilfebedürftigen kann es zu therapeutischen Prozessen kommen, die den Patienten eher in Abhängigkeit halten als seine Selbstständigkeit fördern. Die Vorstellung, der Therapeut wisse über den Patienten besser Bescheid als dieser über sich selbst, verträgt sich nicht mit der Grundidee aktueller Psychodynamischer und insbesondere systemischer Therapie. Die Zeiten, in denen die Familien- und Systemtherapeuten noch davon ausgingen, durch ihre genialen Schlussinterventionen das System in die von ihnen gewünschte Richtung bringen zu können, sind (zum Glück) lange vorbei. Die aktuelle Entwicklung in der Psychodynamischen Psychotherapie rückt die autonome Rolle des Patienten und einen respektvollen Umgang mit seiner subjektiven Sicht auf das Problem, sein Ziel auf der Basis der Selbstorganisation im Rahmen der Therapie und die Nutzung aller vorhandenen Ressourcen in den Vordergrund. Rudolf (2010, S. 207 f.) führt dazu aus: »Ihr therapeutischer Ansatz zur Erklärung der Störung des Patienten und ihre behandlungspraktische Methodik zur Bearbeitung der Störung sind für sie dann nicht Instrumente, deren man sich probehalber bedient, sondern sie sind ich-syntone Überzeugungen, deren Richtigkeit und Zweckmäßigkeit außer Zweifel stehen«. In diesen Fällen lässt sich die historische Entwicklung aus der Psychoanalyse noch deutlich erkennen, wo mit festen Entitäten und Zuschreibungen gearbeitet wird, die sich dann sehr einschränkend sowohl auf den therapeutischen Prozess als auch auf die Verantwortungsübernahme der Ausbildungskandidaten auswirken können.

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5.9.4 »Es könnte auch ganz anders sein …«: Von der Kunst unterschiedlicher Wirklichkeitskonstruktionen

Die Kunst der systemischen Therapeuten, feste Entitäten zu verflüssigen und keine Zuschreibungen im Sinne von So-ist-es-Diagnosen, sondern beschreibende Erklärungen für beobachtbare und wahrgenommene Zusammenhänge in der Frage der psychischen Störung zu verwenden, schließt den Therapeuten als Beobachter mit ein und fokussiert stets auf die Wechselwirkungen im sozialen Kontext anstatt auf Charaktereigenschaften eines Einzelnen (Simon, 1988b). Diese Sicht- und Behandlungsweise stand lange Zeit im Gegensatz zu den ausdifferenzierten Klassifikationsschemata, die aus der psychoanalytischen Theorie stammen. Dies hat sich erfreulicherweise vor allem in den psychodynamischen Ansätzen in den letzten zehn Jahren geändert (Fürstenau, 2007). Die therapeutische Kompetenz, soziale Prozesse psychodynamisch zu verstehen, ist eine von vielen Kompetenzen, um neue und zuvor nicht bekannte einsichts- und veränderungsrelevante interpersonelle und intrapsychische Sachverhalte in sich artikulieren und in einer für die jeweilige Patientin angemessenen Weise formulieren zu können. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht mehr länger allein auf dem kompetenten Analysieren des von der Patientin generierten Materials, sondern auf der besonderen diagnostischen Kompetenz des Therapeuten durch seine professionelle Gestaltung des Beziehungsprozesses zwischen ihm und der Patientin. Hier zeigen sich die besonderen Vorzüge einer psychodynamisch-systemischen Vorgehensweise und die Möglichkeiten, neue Zugänge zu diagnostischen und interventorischen Methoden zu entwickeln. Unter Nutzung systemischer Grundlagen kann auf diese Weise in einer Psychodynamischen Psychotherapie die Situation der Patientin auch wie aus der Position einer dritten Person bearbeitet werden. Durch den Aufbau eines triadischen Settings können der Patientin ihre Verhaltensweisen, Gedanken und affektiven Impulse durch den Therapeuten angeboten werden, damit sich die Patientin ihrer Lebenssituation bewusst wird. Auch im Rahmen der therapeutischen Haltung, die nachweislich für den therapeutischen Erfolg eine entscheidende Rolle spielt (vgl. Schiepek et al., 2013), kommen sich Psychodynamische Psychotherapie und systemische Therapie immer näher, obwohl damals zur Gründerzeit der Familientherapie als Vorläuferin der systemischen Therapie insbesondere die unterschiedlichen therapeutischen Haltungen und die Vorstellungen über die Selbstorganisation der Patientinnen Gründe für die Trennung waren. So findet sich heute in den psychodynamischen Verfahren übereinstimmend die Idee wieder, dass es nicht nur die eine zweckmäßige Haltung gibt, sondern je nach Entwicklung der Störung unterschiedliche Haltungen und therapeutische Umgangsformen notwendig

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sind (Wöller u. Kruse, 2010; Rudolf, 2010), die sich am jeweiligen Einzelfall orientieren. Auch in der systemischen Therapie besteht Einigkeit darüber, dass auf der Grundlage der Selbstorganisationsprozesse und des sozialen Konstruktivismus eine Festlegung nur eingeschränkt möglich und sinnvoll ist. Die besondere Kompetenz psychodynamisch-systemischer Verfahren zeichnet sich durch eine therapeutische Beziehung aus, die durch Offenheit und Flexibilität in Bezug auf Prozessgestaltung und Hypothesenbildung sowie den daraus hervorgehenden Interventionsangeboten einerseits und einer strategischen Dosierung der Gegenübertragung andererseits reguliert werden kann. So kann bei einer positiven Übertragungsform der Therapeut die Patientin mit einer neuen Sichtweise erreichen, bei starker Abwehrorientierung regressive Tendenzen ermöglichen und bei gravierender struktureller Vulnerabilität und Tendenz zur Affektüberflutung die regressiven Aspekte begrenzen. Als besonders nützlich stellt sich die Beachtung der Gegenübertragung des Therapeuten dar, in welcher zwischen eigenen Anteilen, die auf die Patientin gerichtet sind, und Anteilen, die durch die Patientin und ihr Übertragungsangebot ausgelöst wurden, unterschieden wird. Gegenübertragung im aktuellen Sinne kann in einer psychodynamisch-systemischen Therapie als ein wertschätzendes Containment im Therapieprozess verwendet werden. Gelingt es, die psychodynamischen Erkenntnisse aus der Gegenübertragung im Sinne einer respektvollen und wertschätzenden Hypothese als zusätzliche Information zur Einsichtsvermittlung der Patientin zu nutzen, stellt dies eine der kraftvollsten Kombinationen von Psychodynamischer Psychotherapie und systemischer Therapie dar (vgl. Kapitel 6.9.3, Fallbeispiel 8). Eine psychodynamisch-systemische Therapie hat zum Ziel, die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstverantwortung zu stärken. Dies ist eine Fähigkeit, die sich darin zeigt, sich selbst zu steuern, sozial-emotionale Beziehungen zu entwickeln, diese zu pflegen und auszubauen und in einen wechselseitigen persönlichen Austausch zu gelangen, in dem nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen ihren Raum haben und mittels Empathie für die Beziehung bereichernd sein können. Dabei ist die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen und sich zu verbinden, also verantwortungsbewusst mit sich und anderen umzugehen (Stierlin, 1978; Mitchell, 2003) und dabei die Umwelt und Kultur sowie die zukünftige Entwicklung im Blick zu haben, von großer Bedeutung. Eine Veränderung ergab sich durch die Einbeziehung der mitbetroffenen Angehörigen der Patientin, wodurch sich die Betrachtung der psychischen Störung erweiterte. Insbesondere die Erfahrungen aus der psychodynamischen Behandlung von Patientinnen hatten gezeigt, dass die erwünschte Heilung die Problematik im Gesamtsystem nicht automatisch reduzierte. Diese Sorge, die

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bereits Freud beschäftigt hatte, griff die Familien- und Systemtherapie konstruktiv auf, um dieses Phänomen als Ressource für die Bearbeitung der psychischen Störung durch die Einbeziehung aller am Problem Beteiligten zu nutzen. Dadurch konnte beispielsweise die Dynamik dysfunktionaler Loyalität, Opferbereitschaft und Fürsorge direkt bearbeitet und so mögliche tiefere Spaltungen, Entfremdungen sowie Blockaden im Therapieprozess vermieden werden. Die Interdependenz aller an der psychischen Störung Beteiligten und die Wechselwirkungen zwischen dem intrapsychischen und dem kontextspezifischen Variablen sind mitentscheidende Größen im therapeutischen Prozess. Eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie berücksichtigt Theorien, die die Eigendynamik und die spontanen Musterbildungsprozesse von Systemen (Patientin, Paar, Familie) mit der Dynamik externer Prozesse (z. B. Kontext von Patientin und Therapeut) in Zusammenhang sehen. Der therapeutische Prozess orientiert sich in einem wesentlichen Ausmaß an der Kompetenz der Patientin und den dafür geeigneten psychotherapeutischen Methoden, um die Ordnungsbildung in der Psyche zu beeinflussen und so (nichtlineare) Veränderungsprozesse anzustoßen. Diese stehen nicht nur mit dem Störungsbild im Zusammenhang, sondern hängen mehr als gedacht auch von dem jeweils relevanten System (Patientin, Mitbetroffene, Behandlungskontext) sowie den Kompetenzen des Therapeuten ab, die unterschiedlichen Ebenen zu berücksichtigen (vgl. Stierlin, 2001b). Auf der Grundlage einer psychodynamisch-systemischen Vorgehensweise lassen sich zentrale Bedürfnisse vor allem im interpersonalen Raum befriedigen, ebenso wie das Selbst (Bewusstsein, Identität) sich durch aktives Handeln in sozialen Beziehungen entwickelt. Die Vorstellung von Martin Buber, dass das Ich durch den sozialen Kontakt mit dem Du (Buber, 1999) entstehe, wird heute durch das neurowissenschaftliche Verständnis über das Gehirn unterstützt, den menschlichen Geist und das menschliche Verhalten nur dann hervorbringen zu können, wenn der soziale und kulturelle Kontext einbezogen wird. So stellen Beziehungen gleichsam den Dreh- und Angelpunkt menschlicher Entwicklung dar und verweisen darauf, dass dysfunktionale, auch neurobiologische Prozesse letztlich nur in ihrem sozialen Kontext verstehbar sind und das Gehirn nur als »Beziehungsorgan« funktionstüchtig ist (Fuchs, 2008). Danach steht immer das Interaktionelle und das Interpersonale im Zentrum der Therapie (Grawe, 1998). Eine weitere Möglichkeit, diesen interaktionellen Raum zu entwickeln, zeigt sich in der Anwendung eines Genogramms, in welchem durch die Reinszenierung der mehrgenerationalen Zusammenhänge die unbewussten Fantasien, interpersonellen Zusammenhänge, Delegationen und Stellvertreterpositionen wieder bewusst und damit bearbeitbar werden. Dabei ist wichtig zu unterschei-

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den, dass es sich nicht um eine authentische Wiederholung einer vergessenen historischen Beziehung handelt, sondern um die Präsenz einer sozialen Konstruktion in Form eines transgenerationalen Unbewussten über eine Beziehung, die (aus der aktuellen Erinnerung heraus) so erlebt worden war und aufgrund ungünstiger Entwicklungsbedingungen bisher nicht aufgelöst werden konnte. Aus Sicht der heutigen Psychodynamischen Psychotherapie und den Erkenntnissen aus der Kommunikationstheorie vollzieht sich die Übertragung zusehends als symmetrischer Prozess, den die beiden Beteiligten gleichsam miteinander gestalten, wobei der psychotherapeutische Prozess als gemeinsame äußere Realität die Funktion von Übertragungsauslösern bekommt. Während Freud in seinen »Konstruktionen in der Analyse« noch davon ausging, dass der Analytiker von dem, worauf es ankommt, nichts erlebt und nichts verdrängt hat und es seine Aufgabe nicht sein könne, etwas zu erinnern (Freud, 1950, S. 45), kann aus heutiger Sicht dagegengestellt werden, dass der Analytiker gar nicht anders kann als mit seinen eigenen inneren Bildern zu reagieren und entweder konkordant oder komplementär (und wahrscheinlich gibt es aus systemischer Sicht noch weitaus mehr Varianten als nur diese beiden) unbewusst auf die Beziehungsangebote der Patientin einzugehen. In einer psychodynamisch-systemischen Therapie schafft der Therapeut mit dem Angebot einer gemeinsamen Beziehung einen Raum, in dem die unbewussten Fantasien, Ängste und Bedürfnisse in Szene gesetzt werden können, um aus der Verdrängung heraus zu neuer Lebendigkeit zu gelangen. Dies bedeutet aber gerade, unterschiedlichste Interventionstechniken zu nutzen, um diese Lebendigkeit zu entwickeln (siehe Abbildung 8).

T

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bew u Abbildung 8: Die professionelle Beziehung für die Betrachtung unbewusster Anteile

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Die Rolle des Therapeuten in einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie

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Wenn Übertragungsprozesse als gemeinsame Beziehungsgestaltung definiert werden, dann handelt es sich um Prozessdeutungen, um den aktuellen Prozess zu klarifizieren. Erweitert man den psychodynamischen Raum noch um den systemischen Blickwinkel, bietet diese Prozessdeutung eine Möglichkeit, um in Form von Hypothesen und entsprechenden Fragen neue Handlungsalternativen anzuregen. Ein kleiner Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass es bereits Ferenczi und Rank (1924) wichtig war, dass sich eine Deutung auf das Hier und Jetzt bezieht, um so neben der Einsicht bei der Patientin auch die therapeutische Beziehung zu stärken. Zusammengefasst besteht der Fokus im heutigen psychodynamischen Verfahren in Form eines gemeinsam reflektierten Übertragungsgeschehens, in der pathologische Überzeugungen und Einstellungen aufgegriffen und bearbeitet werden. Daneben kommen mit gleicher Bedeutung weitere Wirkfaktoren zum Einsatz, um gesündere Lösungen zu erreichen. Die Integration systemischer und salutogenetischer Behandlungskonzepte ermöglicht eine konkrete Behandlungsform, die es in den Therapieprozess zu integrieren gilt (Fürstenau, 2007). Das Verfahren einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie integriert den Schlüssel für das Verständnis biografisch begründeter Einschränkungen in Form eines gemeinsamen Such- und Verständnisprozesses von Therapeut und Patientin, ebenso die Erfassung der aktuellen Lebenssituation der Patientin, die individuelle Struktur des Umgangs damit und die Entdeckung vorhandener Ressourcen. Die Erfassung der Gesundungspotenziale der einzelnen Patientin wird dabei kontinuierlich für den seelischen Heilungsprozess genutzt. Der Therapeut steht vor der Aufgabe, einen Prozess zu gestalten, der von therapeutischer Fantasie und Struktur geprägt ist, um einen »neuen Raum« für die Lebendigkeit zu entwickeln (Ermann, 1993; Fürstenau, 2007). Dass dieser Raum sich im Sinne der Selbstorganisationsprozesse bei jeder Patientin nur individuell entwickeln kann, versteht sich von selbst. Dies unterstreicht noch einmal die Tatsache, dass es vor allem in der Ausbildung von Therapeuten nicht allein das jeweilige Verfahren zu »trainieren« gilt, sondern insbesondere das elementare Verständnis für die Mannigfaltigkeit menschlicher Entwicklungen, Verwicklungen und Gegenläufigkeiten, Reaktionen und Störungen in ihren bewussten wie unbewussten Aspekten ausgebildet werden muss (Fürstenau, 2007). Denn für einen Therapeuten aus einer psychodynamisch-systemischen Therapieschule bringt die Patientin ihre Lebensentwürfe und ihren Lebenskontext nicht allein mit, um ausschließlich die Eingrenzung der Beschwerden ihrer psychischen Störung durch einen Experten zu erreichen, sondern sie braucht und wünscht sich einen differenzierten Klärungsprozess. Einen Prozess, in dem ihr Einsichten und Optionen aufgezeigt werden, die ihre Sichtweise und ihre Handlungs-

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Neue Qualität aus der Begegnung der beiden Verfahren

optionen erweitern und in dem es für sie deutlicher wird, welche Wünsche und Bedürfnisse für sie von Bedeutung sind, wer welche Erwartungen im sozialen System an sie hat und in welchem Interaktionsfeld sie sich befindet. Die therapeutische Beziehung und die sich im therapeutischen Prozess entwickelnden Beziehungsmuster und Situationen bieten sich dafür als Reflexionsfläche an. Mögliche Fragen, die sich der Therapeut im Prozess stellen könnte: 1. Wer ist die Patientin und wie erlebt und gestaltet sie die Situation im Rahmen ihrer psychischen Störung? 2. Wer ist noch in den aktuellen Konflikt involviert und wer leidet außer der Patientin in der aktuellen Situation? 3. Welche Personen und welche Situationen und Kontexte bedingen die Probleme (zirkulär-kausale Wechselwirkungen) und welche störungsspezifischen Muster und Regeln zeigen sich? 4. Welche Interessen, Bedürfnisse, Bindungen oder Hierarchien sollten im sozialen Umfeld im Rahmen des Therapieprozesses besondere Beachtung finden? 5. Welche Ressourcen, salutogenetischen Faktoren und Kompetenzen lassen sich bei der Patientin (intrapsychische Ebene) im Rahmen der psychoemotionalen Beziehungsprozesse (interpersonelle Ebene) sowie im sozialen Umfeld (systemische Ebene) erkennen?

5.10 Zusammenfassung Psychodynamisch-systemische Therapie orientiert sich an prozessorientierten Konzepten und folgt damit der Dialektik zwischen Entwicklung von Einsicht und Bewusstwerdung und dem Ausbau von Kompetenzbereichen. Auf diese Weise entwickelt sich der Transfer in die Praxis über das Bewusstwerden und Verstehen und dem sich daraus ergebenden selbstbestimmten Handeln. Psychodynamisch-systemische Therapie orientiert sich nicht an monothematischen Ansätzen der Aufarbeitung von Vergangenheit ohne Zukunft oder einer Lösungsorientierung im Sinne einer Zukunft ohne Vergangenheit (vgl. Hildenbrand, 2011a, 2011b). Stattdessen verbindet sie in sinnvoller Weise Bewältigungsund Klärungsorientierung auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum (vgl. Kapitel 2.2) miteinander. Das Grundmuster der Therapie ist durch Kooperation geprägt und verbindet im Sinne eines koevolutiven Prozesses die inhaltliche Professionalität mit den Anliegen der Patientinnen. Im Fokus steht immer das Anliegen der Patientin mit der dazugehörigen Psychodynamik und nicht eine einseitig störungsspezi-

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Zusammenfassung

fische Diagnostik oder eine vordergründige Handlungs- und Lösungsorientierung (vgl. auch Rudolf, 2010). Eine psychodynamisch-systemische Therapie beruht auf der besonderen Qualität der therapeutischen Beziehung bei gleichzeitiger Öffnung der Perspektive hin zu den aktuell bedeutsamen Beziehungskonstellationen der Patientin. Durch die Entwicklung dieser triadischen Realität wird die Erfassung und Reflexion der Wechselwirkungen zwischen den relevanten Beziehungen gefördert, und die Rolle des Therapeuten profiliert sich als allparteilicher Mittler zwischen und mit den unterschiedlichen Systemen. Das therapeutische Handeln in einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie ist geprägt durch Perspektivenvielfalt und Kontextorientierung unter Berücksichtigung sowohl der intrapsychischen als auch interpersonellen Sichtweisen. In der Therapie findet sowohl die Problem- als auch die Ressourcenebene Berücksichtigung unter Nutzung der Übertragungsbeziehung. Der Therapeut ist gefordert, seine Interventionen je nach Patientin, Störungsbild und Therapiephase sowohl strategisch zu orientieren als auch adaptiv anzupassen (Wöller u. Kruse, 2010). Der Aufbau und die kontinuierliche Reflexion der Beziehung zwischen Therapeut und Patientin bilden in der psychodynamisch-systemischen Therapie das Fundament therapeutischer Arbeit. Insbesondere bei der Arbeit im Mehrpersonensetting ist es die Aufgabe des Therapeuten, aktiv eine respektvoll-wertschätzende Beziehung zu allen Systemmitgliedern und nicht nur zur Patientin herzustellen, um die Psychodynamik zwischen den Beteiligten transparent zu machen. Die unterschiedlichen Formen aktiver Bearbeitung, Visualisierung und Symbolisierung von Problemen und inneren Konflikten ermöglichen dem Patienten bzw. den Mitgliedern des sozialen Systems, seine bzw. ihre Probleme nicht nur zu besprechen, sondern diese auch physisch darzustellen. Durch die handlungsbezogenen sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten ergeben sich neue Sichtund Umgangsweisen mit der Problemlage. So können sich neue Entwicklungsräume öffnen. Ausgangspunkt eines jeden Therapieprozesses stellt bei der Patientin die Suche nach der Befriedigung der Bedürfnisse dar, die im aktuellen Konflikt stark eingeschränkt sind und in Zusammenhang mit ihrer biografischen Entwicklung stehen können. Gründe dafür können unangemessene Überzeugungen, Einstellungen oder Erwartungen an sich selbst oder an andere sowie unangemessene Beziehungs- und Umgangsformen, die biografisch entwickelt wurden, sein. Diese Situation wird im therapeutischen Prozess durch die interaktionellen Muster, Regeln und intrapsychischen Grundannahmen der Patientin sichtbar. Die im Laufe der Therapie identifizierten Übertragungs- und Beziehungs-

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muster einerseits und die Erkundung der sinnhaften Bedeutung der Symptome andererseits erlauben im Prozess neue Einsichts- und Handlungsmöglichkeiten. Die Qualität der therapeutischen Beziehung wird auf der Ebene der realen sozialen Kontakte der Patientin sowie auf der Übertragungsbeziehung im Therapieprozess reflektiert. In diesem Prozess wird der Patientin die Gelegenheit zur Neubewertung und damit zur Distanzierung gegeben (Fürstenau, 2005). Im psychodynamisch-systemischen Sinne ist die Bearbeitung des aktuellen Konflikts der Patientin im Zusammenhang mit ihrer persönlichen Geschichte unter Nutzung des therapeutischen Übertragungsraums in besonderer Weise möglich. Im Rahmen der psychodynamisch-systemischen Therapie findet eine kontinuierliche Bewusstmachung dieser Phänomene statt, um über die Reflexion dieser Beziehungsmuster Aspekte vertiefender Einsicht bei dem Therapeuten und der Patientin zu fördern und als Ressource für den therapeutischen Prozess zu nutzen (Wöller u. Kruse, 2010; Gemeinsamer Bundesausschuss, 2013). Während eine kontinuierliche Reflexion des therapeutischen Verhaltens durch den Therapeuten im gesamten Therapieprozess unerlässlich ist, kommt besonders in Situationen, in denen der Therapeut bei sich beobachtet, dass er von gewohnten, gut etablierten Verhaltensweisen oder strukturell professionellen Bedingungen abweicht, die Reflexion der Gegenübertragung in den Fokus. Dies schließt insbesondere die Bewusstmachung der Gefühle, Gedanken und körperlichen Zustände mit ein, die der Therapeut bei sich wahrnimmt. Auch Situationen, in denen der Therapeut zum Beispiel an sich selbst beobachtet, Patientinnen zu sehr zu bestätigen, oder Sitzungen, in denen er wenig empfindet bzw. müde oder aggressiv ist, stellen wichtige Impulse der Gegenübertragungsdynamik dar. Durch die Wahrnehmung und Reflexion dieser Phänomene kann der Therapeut seine eigene Rolle klären, indem er eigene Anteile und Anteile der Patientin differenzieren, integrieren und für den therapeutischen Prozess nutzen kann. So sucht eine psychodynamisch-systemische Therapie eine konstruktive Art, die Krise so zu steuern, dass durch deren Bearbeitung ein modifizierter Umgang mit der psychischen Störung und nach Möglichkeit eine persönliche Entwicklung im Sinne der Resilienz einsetzen kann (vgl. Kapitel 2.3). Während bei systemischen Therapeuten manchmal der Eindruck entstehen kann, dass in der therapeutischen Situation eine respektvolle und wertschätzende Beziehung mit einer technisierten Anwendung von positiver Konnotation oder Reframing verwechselt wird, besteht bei rein psychodynamisch orientierten Therapeuten die Gefahr einer vorwiegend störungsorientierten Betrachtung der Zusammenhänge. Wöller und Kruse (2010) sprechen in diesem Zusammenhang vom pejorativen Sprachmuster, in dem das Verhalten der Patientinnen stets nur negativ beschrieben wird. Keine der beiden Formen erzeugt eine angemessene

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Beziehung zwischen Patientin und Therapeut, und auch die Patientin fühlt sich in ihrem eigenen Problemverstehen unverstanden und nicht ernst genommen. Durch die Berücksichtigung der Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse ergibt sich die Möglichkeit, sowohl störungsspezifische als auch ressourcenorientierte Aspekte in ihrer jeweiligen Bedeutung angemessen zu betrachten. Therapeutische Kompetenz zeigt sich vor allem in der Integration problematischer und ressourcenorientierter Themen sowie in der Berücksichtigung einer individuellen wie auch kontextuellen Sicht, um den Prozess zu steuern (Grawe, 1998). Die Integration der moderaten Übertragungsbeziehung einerseits und der zu bearbeitenden Realbeziehungen der Patientin in ihrem sozialen Umfeld andererseits trägt dazu bei, die Intensität des therapeutischen Prozesses zu steigern. Triadisches Denken (Rieforth, 2006) ermöglicht die Betrachtung der Wechselwirkungen kommunikativer Muster und sozialer Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven. Es richtet den Fokus auf die unterschiedlichen Bedeutungen für die Beteiligten, wie auch von Weizsäcker (1947) betont, dass das, was in einem Menschen seelisch vor sich geht, nur aus seinem Verhältnis zu einem anderen Menschen bestimmbar ist. Daher ist es wichtig, im therapeutischen Prozess nicht aufzuhören zu fragen, um die Patientin ihre eigenen Antworten finden zu lassen (vgl. Kapitel 6.6). Als Grundlage psychodynamisch-systemischer Therapie setzt hilfreiches Fragen interessiertes Zuhören voraus und bewahrt vor mechanistischen und einseitigen Lösungsideen durch den Therapeuten. Stattdessen wird durch die aktive Auseinandersetzung der Patientin mit ihren Themen auf der inneren Landkarte der Veränderungsprozess auf der Grundlage der Selbstorganisation angeregt. Im Rahmen einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie steht das Erkennen des eigenen Selbst im jeweiligen sozialen Kontext im Mittelpunkt. Bei dem Ziel, äußere Eindrücke mit inneren Empfindungen in Einklang zu bringen, stellt sich die Selbstwahrnehmung als vielschichtig und komplex heraus. Demnach ist das menschliche Bewusstsein direkt verflochten mit den Beziehungen, in denen die Patientin mit ihrer Umwelt steht. Der Mensch ist, mit anderen Worten, in seinem ganz basalen »Selbst-Bewusstsein« ein Beziehungswesen.

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Teil B: Der therapeutische Prozess

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

Zu Beginn des therapeutischen Prozesses ist die Aufgabe der Therapeutin, eine Einschätzung über die Form der Störung und die möglichen Behandlungsschritte zu entwickeln. Das psychodynamische Psychotherapieverfahren und das systemische Therapiemodell ergänzen sich besonders gut aufgrund ihrer gemeinsamen Basis des heuristischen Zugangs zur Erklärung der psychischen Störung. In beiden Modellen wird mit Hilfe unterschiedlicher Hypothesen sowohl das symptomatische Geschehen als auch die dahinterliegenden Wechselwirkungen für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung bewusst gemacht, um sie bearbeiten zu können. Im psychodynamischen Konfliktmodell wird davon ausgegangen, dass Anteile eines Konflikts im Widerspruch mit den eigenen Selbstbildern stehen, wodurch störungsspezifische Affekte ausgelöst werden. Ungelöste und unerträgliche Inhalte werden ins Unbewusste verdrängt. Der innere Konflikt bleibt bestehen und führt zu maladaptiven Verhaltensmustern und Symptomen. Um eine innerseelische Bearbeitung der Problematik zu ermöglichen, bedarf es zunächst einer hinreichenden Stärkung des Ich. Die Akzentuierung der vorhandenen Ressourcen und gesunden Ich-Anteile spielt dabei in beiden Verfahren eine bedeutsame Rolle. Die Ausrichtung im systemischen Verfahren, in der Konfliktsituation besonders die möglichen seelischen Wachstumspotenziale in den Vordergrund zu rücken (hier ist bedeutsam, dass es sich dabei nicht um das Gute im Schlechten, sondern um das Sinnvolle im Schlechten handelt; vgl. Kapitel 5.7), hat die Bedeutung salutogenetischer Grundlagen für den psychotherapeutischen Prozess gestärkt. Da Veränderungen seelischer Prozesse am wirkungsvollsten über eine affektive Rahmung von Situationen, Einstellungen und Verhaltensmustern zu erreichen sind, besteht von Anbeginn der Therapie an die Aufgabe darin, die vorhandenen Affekte des Patienten zu erreichen. Da davon ausgegangen werden kann, dass dem Patienten immer nur ein Teil seiner Affekte und Sichtweisen zur aktuellen Störungssituation bewusst ist, braucht es Zugänge zu diesen unbewussten Anteilen, bei denen es sich nicht, wie lange

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angenommen, nur um abgewehrte Triebwünsche, sondern insbesondere um kreative Prozesse zur Selbstorganisation eines jeden Menschen handelt. »Selbstorganisation bezeichnet die spontane Entstehung und Veränderung von funktionellen und strukturellen Mustern in einem komplexen System« (Schiepek, 2011, S. 24). 6.1 Das Unbewusste aus psychodynamisch-systemischer Sicht Während frühere Vorstellungen über das Unbewusste sich in der Regel auf das pathologisch Verdrängte bezogen, geht der heutige Blick weit darüber hinaus. Neben dem dynamisch Unbewussten, das sich unbemerkt weiterentwickelt und weiterwirkt, wird das Phänomen heute viel weiter gefasst. So spricht Bohleber (2013, S. 810 ff.) neben dem dynamischen Unbewussten von einem »nicht-verdrängten Unbewussten« sowie einem »kreativen Unbewussten«. Wie bereits in Kapitel 4.1.4 deutlich wurde, lässt sich das Unbewusste als Phänomen nicht empirisch direkt erfassen, sondern nur über Erfahrungen erschließen. Während zu Beginn der analytischen Theorien mit dem Unbewussten häufig eine Metaphorik der Tiefe verbunden wurde, die sich heute beispielsweise noch in der Bezeichnung »Tiefenpsychologie« wiederfindet, hat bereits Melanie Klein (1983) diese vertikale Betrachtung von oben und unten um einen stärker horizontal orientierten Raum erweitert, in welchem sich die unbewussten Prozesse entfalten können. In ihrem Modell der projektiven Identifizierung finden demnach unbewusste Austauschprozesse in Gegenwartssituationen statt, indem Gefühle des eigenen Selbst vom anderen aufgenommen werden können, so wie auch Gefühle des anderen in das eigene Selbst assimiliert werden. Nach der Entwicklung der intersubjektiven Theorien im Rahmen der Psychoanalyse (Mitchell, 2003; Sandler u. Sandler, 1999) stellt die interpersonale Beziehung selbst ein Ort des Unbewussten dar. Dieser kann im therapeutischen Kontext in impliziter Form vom Patienten in der Beziehung zur Therapeutin ausgelebt werden, um sich der bis dahin nicht bewussten Wünsche und Bedürfnisse bewusst zu werden. Dieser geschützte Rahmen ermöglicht, sich diese Wünsche zu erlauben, sie zu fühlen und zu artikulieren. Dadurch werden sie sowohl in der therapeutischen Situation als auch im konkreten sozialen Feld verhandelbar oder zunächst gemeinsam mit der Therapeutin probehalber konstruierbar (vgl. Buchholz u. Gödde, 2013). Diese bewusste Bearbeitung der Ziele und Wünsche des Patienten fußt auf einem unbewussten Austausch zwischen Therapeutin und Patient (Enactment) als eine gemeinsame Leistung, die auf die Bedeutung hinweist, die die unbewussten Anteile des Patienten wie auch die der Therapeutin (vgl. Mertens, 2013) im Sinne einer Zwei-Personen-

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Das Unbewusste aus psychodynamisch-systemischer Sicht

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Unbewusstheit (»two-person unconscious«) beinhalten. Das Unbewusste lässt sich somit in einem hermeneutischen Zusammenhang sehen, um nach sinnhaften Gründen für ein bestimmtes Handeln zu suchen. Diese Grundannahme nimmt eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie heute auf, indem sie mittels Hypothesen und der Suche nach systemischen Zusammenhängen prozessorientierte Erklärungsversuche entwickelt, um nicht der Gefahr einer einseitigen Ursachenzuschreibung zu erliegen. Unbewusste Fantasien und imaginäre Szenarien können so als bildhafte Darstellungen des Wunsches wahrgenommen und zum Beispiel im Rahmen des Neun-Felder-Modells bewusst und transparent gemacht werden. Ähnlich einem primärprozesshaften Denken, in dem das Unbewusste vorherrschend ist und das in der frühen Kindheit bis etwa zum siebten Lebensjahr das ursprüngliche Denken ausmacht, wird der Patient in einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie aufgefordert, sich abermals mit seinen heute aktuellen Wunschregungen zu verbinden, um sein Selbstkonzept zu entwickeln. Während lange Zeit das dynamische Unbewusste als der Ort der nicht kontrollierbaren Triebwünsche galt, hat sich zwischenzeitlich eine differenzierte Betrachtungsweise entwickelt, nach der auch eine ganze Reihe anderer Wünsche und existenzieller Bedürfnisse dort beheimatet ist. Diese beinhalten beispielsweise Aufbau und Erhaltung der Autonomie der Person, das Sicherheitsempfinden oder die Vermeidung unangenehmer Affekte (Buchholz u. Gödde, 2013). Werden diese Wünsche dem Patienten im therapeutischen Prozess bewusst, dann entwickeln sie sich von einfachen, primitiven, frühen Fantasien zu stabilen, hochorganisierten, mit sekundärprozesshaftem Denken überformten Fantasien. Diese beinhalten häufig eine narrative oder szenische Qualität, in der die primärprozesshaften Dynamiken wiederzuerkennen sind (Sandler u. Sandler, 1999). Auch die heutige Erkenntnis, dass unbewusste Fantasien durch neue Erfahrungen verändert, überlagert und durch Abwehrprozesse transformiert werden können, macht das dynamische Unbewusste zu einem flexiblen, alles andere als nur dunklen, pathologischen und auszugrenzenden Phänomen menschlichen Seins. Vielmehr stellt es einen interessanten, für den therapeutischen Prozess hoch nützlichen Bereich dar, in dem zum Beispiel für den Patienten deutlich wird, wie sein bewusstes Verhalten durch unbewusste eigene Überzeugungen gesteuert wird. Diese Erkenntnis kann zu einer größeren Lebensqualität beitragen. Insbesondere die Bindungs-, Säuglings- (Stern, 1992; Brisch, 2011) und die Neurowissenschaften haben deutlich gemacht, dass ein großer Teil des Unbewussten nicht verdrängt ist und gleichzeitig eine bedeutsame Rolle für das menschliche Miteinander spielt.

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

Diesen interaktionellen Phänomenen wurde in der klassischen Analyse wenig Bedeutung beigemessen. Die Resonanz stieg erst nach der Entdeckung des impliziten und prozeduralen Wissens in Abgrenzung zum autobiografischen Gedächtnis an (Bohleber, 2013, S. 811). Dazu gehören beispielsweise die frühen Objektbeziehungen, die sich als Repräsentanzen oder als innere Objekte wiederfinden bzw. als körperlich verankerte (»embodied«) sensomotorische Koordinationen. Ebenso gehören Interaktions- und Handlungsschemata, Fantasien und Erwartungen sowie das jeweilige Bindungsverhalten dazu (Stern et al., 2012). Da diese implizit wirkenden interaktiven Prozesse symbolisch nicht repräsentiert, dafür aber intentional ausgerichtet sind, bekommen sie im sozialen Alltag einen besonderen Stellenwert. Eine Reflexion dieser Phänomene macht eine Verbindung von psychodynamischen und systemischen Modellannahmen sinnvoll. Aus psychodynamischer Sicht reicht es nicht mehr aus, die einzelne Person als den Ursprung des unbewusst Verdrängten anzusehen, sondern es sind in großer Zahl die nicht bewusst repräsentierten malignen sozialen Interaktionen, die Bindungsmodi, die frühkindlichen Erfahrungen mit und zwischen Personen, die den Patienten zum Patienten werden lassen. Ohne eine Ausweitung der Betrachtung von der Person hinein in den interpersonellen Raum zwischen den Personen und ohne eine Berücksichtigung der Qualität von sozialen Beziehungen würde man den Erkenntnissen aus der systemischen Beziehungsdynamik nicht gerecht werden können. Die Beschäftigung mit der Bedeutung der Muster und Regeln sowie der zirkulären Kausalität von Ereignissen galt lange Zeit als besonderes Merkmal der systemischen Therapie und macht hier im besonderen Maße den Mehrwert bei der Verbindung beider Verfahren deutlich. Gleichwohl profitiert die systemische Therapie in besonderem Maße von der Integration unbewusster Prozesse und der Möglichkeit, Beziehungsdynamiken nicht nur auf eine konstruktivistische Ebene zu beschränken, sondern das Feld auch auf die unbewussten Anteile auszudehnen und sie für die Erklärung und die Behandlung von psychischen Störungen anzuwenden. Gerade die frühkindlichen nicht verdrängten Erfahrungen und Interaktionen werden aus psychodynamisch-systemischer Sicht bedeutsam, wenn es zu Konflikten zwischen den interaktiven Intentionen des Selbst und denjenigen seiner Bezugspersonen kommt. So entfaltet sich ein »unthought known« als ein nichtgedachtes, aber uns bestimmendes Wissen, das im Mutterleib beginnt (Bollas, 1987). Dies unterstreicht die Vorstellung von Donnel B. Stern, der schon früh die Annahme Freuds anzweifelte, es handele sich beim Unbewussten um eine verborgene oder vergrabene Wirklichkeit, die es auszugraben gelte. Er spricht stattdessen von den »unformulated experiences« (Stern, 2003, 2009) und for-

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Das Unbewusste aus psychodynamisch-systemischer Sicht

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muliert dazu eine radikale hermeneutische Theorie, die sich insbesondere auf interaktive Erfahrungen zwischen und mit Personen bezieht und nicht auf eine einzelne Person beschränkt bleibt. Im Mittelpunkt des Unbewussten stehen flüchtige, nur vage erfassbare und nicht weiter formulierbare nonverbale Erfahrungen, die vom Bewusstsein dissoziiert sind. In der therapeutischen Reflexion können Formulierungen dafür gefunden und die Situationen für den Patienten so mit Bedeutungen versehen werden. Dadurch sind die frühen nonverbalen Objektbeziehungsstrukturen vermehrt in das Zentrum der psychodynamischen Aufmerksamkeit gerückt worden. Die Konzepte zu den unbewussten infantilen Triebwünschen haben an Bedeutung zur Erklärung von psychischen Störungen verloren. Aus psychodynamischsystemischer Sicht stehen die frühkindlichen unbewussten Interaktionsmuster und die damit verbundenen Selbst- und Objektrepräsentanzen folgerichtig im Mittelpunkt der Betrachtung. Da sie nicht bewusst, aber auch nicht verdrängt sind, weicht sich die Linie zwischen dem dynamischen Unbewussten und dem nicht verdrängten impliziten Unbewussten immer weiter auf, und die Bereiche sind nicht mehr so leicht voneinander abgrenzbar. Es ist leicht nachvollziehbar, dass für diesen Prozess des Bewusstmachens nicht nur das Gespräch zwischen Therapeutin und Patient hilfreich ist. Ebenso bedeutsam sind therapeutische Interventionen, durch die sich die Qualität der Beziehungsdynamik entfalten kann. Daher kommt in einer psychodynamischsystemischen Psychotherapie eine Reihe von interaktiven Interventionsformen zur Anwendung. Dadurch wird deutlich, dass es nicht um das Individuum allein, sondern um das interpersonale Feld und um die Beziehungen zwischen den Personen geht. Die aktuelle Beschäftigung mit dem Unbewussten geht jedoch noch einen Schritt weiter und wird daher besonders für das systemische Verfahren interessant. Aus psychodynamischer Sicht wird das Unbewusste zunehmend auch als eine wichtige Quelle für seelisches Wachstum angenommen. Bohleber (2013) formuliert diesen Teil als das kreative Unbewusste und greift dabei unter anderem Ideen von Bion (2007) und Grotstein (2009) in der Form auf, dass in sozialen Situationen durch symbolische Prozesse und Metaphern unbewusst Bedeutungen erzeugt werden, die für das Erleben und den Umgang damit einen Einfluss haben. So findet ständig und nicht nur im Schlaf, ähnlich dem Träumen als primäre Funktion des menschlichen Geistes, ein unbewusstes Prozessieren und Metabolisieren von Erfahrung statt (Bion, 2007). Die Vorstellung, dass das Subjektive, das persönliche Profil eines Menschen nicht unwesentlich durch das Unbewusste gespeist wird, macht es vor allem für therapeutische Kontexte bedeutsam und kann in einer Synthese psycho-

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

dynamischer und systemischer Verfahren zu einer neuen Bedeutung gelangen. Das Vorhandensein unbewusster Prozesse nicht nur mit verdrängten pathologischen und störungsspezifischen Inhalten gleichzusetzen, sondern auch mit schöpferischen Elementen, die dem Patienten durch den therapeutischen Prozess bewusst werden, schafft eine neue Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben ohne maladaptive Symptombildung. Eine Aufteilung in bewusst und unbewusst wäre damit dann nicht mehr an unterschiedliche psychische Orte gekoppelt im Sinne fester Entitäten, sondern als unterschiedliche Ausprägungen seelischer Inhalte auf einem Kontinuum ähnlich der prozessualen Vorstellung von Krankheit und Gesundheit. Die Dynamik der bewussten und unbewussten Prozesse spielt auch bei der Entscheidung des Patienten eine Rolle, sich über eine Psychotherapie Hilfe für die Bewältigung seiner psychischen Störung oder der krisenhaften Zuspitzung eines psychischen Konflikts zu suchen. Dadurch ergeben sich häufig verschiedene, auch persönliche »Hürden«, die einen direkten Zugang erschweren können, sodass der erste Schritt in die psychotherapeutische Praxis mit Vorbehalten verbunden sein kann. Dies soll im Folgenden aufgegriffen werden. 6.2 Schwellenangst und Stigma Ein Charakteristikum von Stigmatisierung ist die negative Definition eines Merkmals bei einer Person bzw. dessen Zuschreibung und Interpretation. So könnte letztlich unter bestimmten sozialen, gesellschaftlichen oder politischen Umständen praktisch jedes objektive Merkmal zu einem Stigma werden. Typischerweise geht es dabei um von den Normen abweichende Eigenschaften oder Merkmale wie zum Beispiel auch körperliche oder psychische Besonderheiten, Behinderungen, abweichendes Verhalten oder auch besondere Gruppenzugehörigkeiten. Dabei werden den entsprechenden Merkmalsträgern leicht weitere (negative) Eigenschaften zugeschrieben, die sich vor allem aus Vermutungen und der Übertragung eines Merkmals als generalisierend auf die gesamte Person entwickeln. Ein Abweichen von vorherrschenden gesellschaftlichen Normen im Zusammenhang mit einer psychischen Störung stellt die soziale Anerkennung infrage und kann vielfältige Formen von Diskriminierung zur Folge haben. Wie schon beschrieben, kann hier auch insbesondere die Definition von psychischer Krankheit eine Reihe von sozial diskriminierenden Konsequenzen haben. Neben dem für die Betroffenen ohnehin belastenden Umgang mit einer psychischen Störung kann eben auch die Klassifizierung als psychische Krankheit dergestalt stigmatisierend wirken, dass es bei Betroffenen zu einer Verheimlichung der

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Schwellenangst und Stigma

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Schwierigkeiten kommt. Dies kann die Aufnahme einer Psychotherapie behindern oder sogar verhindern. Aus der Angst, für »verrückt« gehalten zu werden, dem Vorwurf, nur zu simulieren, oder aus ähnlichen Vorurteilen und Urteilen ergibt sich oft eine massive Schwellenangst und Barriere für die Aufnahme einer Psychotherapie. Die Angst vor dem Stigma einer psychischen Störung sowie das damit verbundene Schamgefühl, mit der entsprechenden Abwehrhaltung in Form einer Verheimlichung und Leugnung der Schwierigkeiten, kann das Leiden verschlimmern und um Jahre verlängern. Dabei werden psychische Störungen durch die soziale Umwelt unterschiedlich bewertet. Während Menschen mit einer depressiven Störung häufig mit dem Vorurteil konfrontiert sind, dass es ihnen lediglich an Willenskraft und Disziplin fehle, sehen sich Menschen mit einer schizophrenen Störung häufig mit Unberechenbarkeit und Gewalttätigkeit in Verbindung gebracht. Diese Stigmatisierung kann eine außerordentlich diskreditierende Wirkung mit gravierenden Folgen im Freundes- und Bekanntenkreis haben und sich auch am Arbeitsplatz, in der Schule, bei der Stellensuche, auf dem Wohnungsmarkt oder sogar auch bei dem Abschluss von Versicherungen sehr negativ auswirken. Dagegen gilt der Zustand des Burn-out mittlerweile als sozial akzeptabel und wird im allgemeinmedizinischen Bereich häufig als sogenannte Diagnose vergeben. Das Stigma psychischer Erkrankungen kann auch als zweite Krankheit bezeichnet werden. Stigmata werden im Zusammenhang mit der eigenen Verantwortlichkeit unterschiedlich bewertet. So werden stigmatisierte Personen von Außenstehenden für körperliche Probleme wie zum Beispiel im Falle einer Alzheimer-Erkrankung, bei Rückenleiden oder Krebs weniger verantwortlich gemacht, während bei Verhaltensauffälligkeiten oder auch bei mentalen Problemen eher eine persönliche Verantwortung und sogar auch Schuld zugeschrieben wird. Zum Abbau von Vorurteilen und Stigmatisierungen sind vor allem ein offener Umgang mit psychischen Störungen und die Aufklärung über Ursachen, Behandlungsmöglichkeiten und den Verlauf psychischer Erkrankungen nötig. So sind zum Beispiel gerade Menschen mit Migrationshintergrund durch ihre gesellschaftliche Stellung mehrfach betroffen, und das Stigma einer psychischen Störung kann eine weitere Ausgrenzung beinhalten. Insgesamt bestehen hier neben kulturellen, religiösen oder auch sprachlichen Hemmnissen vielfältige Barrieren, die den Zugang zu einer Psychotherapie erschweren. Auch mangelhafte Informationen über das bestehende Angebots- und Versorgungssystem sowie Skepsis und Misstrauen gegenüber den sozialen und therapeutischen Einrichtungen insgesamt kommen an dieser Stelle zum Tragen.

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6.3 Diagnostik und Indikation: Die OPD als prozess- und kontextorientiertes Instrument Im Folgenden stellen wir mit der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD; siehe Arbeitskreis OPD, 2006) ein Verfahren zur Diagnostik von psychischen Störungen und zur Indikation einer Psychotherapie vor. Dieses Verfahren hat das Ziel, im Rahmen der Diagnostik der psychischen Störung gleichzeitig die Dynamik der Prozesse und den jeweiligen Kontext zu erfassen. Eine Besonderheit dieses Verfahrens besteht in der Möglichkeit, durch die Ausprägungen auf den unterschiedlichen Achsen sowohl intrapsychische als auch interpersonelle Prozesse berücksichtigen zu können. Da im tiefenpsychologischen Sinne eine rein deskriptive Beschreibung der Krankheitssymptomatik zu kurz greift, ist mit der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik ein Instrument entwickelt worden, um innerseelische Prozesse und Strukturen zu beleuchten und diagnostisch einzubeziehen. Der 1992 von Psychoanalytikern, Psychosomatikern und Psychiatern gegründete Arbeitskreis entwickelte eine multiaxiale psychodynamische Diagnostik, die auf den fünf Achsen »Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen«, »Beziehung«, »Konflikt«, »Struktur« und »Psychische und psychosomatische Störungen« nach Kapitel V (F) der ICD-10 basiert. Mit Hilfe der Kriterien dieser Achsen lässt sich nach einem ein- bis zweistündigen Erstgespräch die Psychodynamik des Patienten einschätzen und in Evaluationsbögen eintragen. Auf der Grundlage psychologischer Konstrukte der psychoanalytischen Theorie – unter Einbeziehung des Instanzenmodells (Ich, Es und Über-Ich), der Triebtheorie sowie der Ich-, Objektbeziehungs- und Selbstpsychologie – können im biografischen Zusammenhang Symptomatiken, psychische Funktionen und ihre Störungen sowohl auf psychodynamischer als auch auf phänomenologischer Ebene erfasst und beschrieben werden. Dies ermöglicht ein vertieftes Verständnis der Verbindung zwischen Symptomatik, auslösenden Konflikten, dysfunktionalen Beziehungsmustern und der Lebensgeschichte. Bei dieser psychodynamischen Diagnose kommen auch Beobachtungen innerhalb der Therapeut-Patient-Interaktion zum Tragen. Nach zehn Jahren Erfahrung mit der OPD-1 und entsprechenden Forschungsergebnissen ist die weiterentwickelte OPD-2 nun in stärkerem Maße auch auf therapeutische Prozesse ausgerichtet, konzeptualisiert stärker Schnittstellen zwischen den Achsen, versucht auch Ressourcen von Patienten zu erfassen und ermöglicht eine Therapieplanung durch die Bestimmung von Therapieschwerpunkten. Bei dieser Diagnostik geht es um die Beschreibung von kritischen und veränderungswürdigen Merkmalen, aber auch um die Erfassung

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von Ressourcen und Kompetenzen. »Die OPD-Diagnostik führt zur Identifizierung von dysfunktionalen Beziehungsmustern, inneren spannungsreichen Konfliktkonstellationen und strukturellen Bedingungen beim Patienten, die sich zur Ableitung von therapeutischen Foki anbieten, wenn sie im Zusammenhang mit der Symptomatik und dem Leiden des Patienten stehen« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 29). Psychotherapeutisch induzierte Veränderungen in den identifizierten OPD-Kategorien können im Prozess verfolgt und der Veränderungsprozess beschrieben werden. Diese psychodynamisch-psychotherapeutische Diagnostik ist kein Selbstzweck, sondern als Handlungsanweisung für die Therapie zu verstehen. So können über die Identifizierung bedeutsamer Aspekte eines unbewussten Konfliktes, einer strukturellen Einschränkung und/oder dysfunktionaler Beziehungsmuster Problemschwerpunkte verdeutlicht und fokale Ziele in der geplanten Behandlung formuliert werden. Bei der Fokusbestimmung soll sich das Gewicht der störungsauslösenden Struktur- oder Konfliktanteile widerspiegeln. Dabei wird davon ausgegangen, dass in unterschiedlicher Gewichtung meist sowohl Struktur- als auch Konfliktanteile von Bedeutung sind und sich die Foki im Verlauf des Therapieprozesses auch verändern können, was dann wiederum eine Modifizierung der Therapieplanung erfordern kann. 6.3.1 Achse I: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen

Achse I untersucht das faktische Krankheitserleben und veränderungs- sowie indikationsrelevante Aspekte der Krankheitsverarbeitung. Die individuelle Art des Krankheitserlebens, der Krankheitsverarbeitung und damit die Behandlungsvoraussetzungen werden hier beleuchtet. Von Bedeutung für die Indikationsstellung ist unter anderem der Leidensdruck, die Motivation und Einsichtsfähigkeit des Patienten in psychodynamische Zusammenhänge des Krankheitsgeschehens und ausreichende persönliche und soziale Ressourcen. Wichtige, in Wechselwirkung stehende Faktoren sind die Art und Schwere der vorliegenden Störung, das gesellschaftliche und psychosoziale Umfeld, die Therapeut-Patient-Beziehung und insgesamt die Behandlungs- und Veränderungsmotivation, die die emotionalen, kognitiven und handlungsbezogenen Prozesse des Krankheitserlebens beeinflussen. Dem gesellschaftlichen Kontext und der Therapeut-Patient-Beziehung kommt eine besondere Bedeutung zu, da der gesellschaftliche Bezugsrahmen die Sozialisationsprozesse und die individuelle psychosoziale Entwicklung prägt, was auch Einfluss auf die individuellen Krankheits- und Behandlungskonzepte, das Krankheitserleben sowie auf die Krankheitsverarbeitung haben kann. »Der Patient, der eine gegebene Therapie in Anspruch nehmen will, muss auf dem Hintergrund seiner vorangegangenen Behandlungserfahrungen gesehen werden« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 68). So

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ist es für die Indikationsstellung unerlässlich, dass die Therapeutin eine Vorstellung von dem auch kulturell geprägten Krankheitskonzept des Patienten hat. 6.3.2 Achse II: Beziehung

Achse II fokussiert das Beziehungsverhalten. Hier soll eine Einschätzung des vom Patienten immer wieder hergestellten zentralen dysfunktionalen Beziehungsmusters ermöglicht werden. Dabei kommen sowohl das vom Patienten selbst wahrgenommene eigene (problematische) Beziehungsverhalten als auch die in der therapeutischen Begegnung von der Therapeutin wahrgenommenen Beziehungsaspekte, das Beziehungsangebot des Patienten und die Gegenübertragungswahrnehmung der Therapeutin zur Beachtung. Individuelle Beziehungsmuster sind zum Beispiel im Hinblick auf Steuerungskompetenzen oder -schwächen auch ein Ausdruck der strukturellen Möglichkeiten des Patienten. So umfasst die Beziehungsdiagnostik ein komplexes Geschehen an der Schnittstelle der intrapsychischen und der interpersonellen Ebene. Der dysfunktionale Charakter des Beziehungsmusters soll über die Verknüpfung von vier interpersonellen Positionen (wie sich der Patient selbst erlebt, wie der Patient andere erlebt, wie andere den Patienten immer wieder erleben und wie andere sich gegenüber dem Patienten immer wieder erleben) nachvollziehbar und verstehbar werden. All dem liegen die verinnerlichten Beziehungserfahrungen, verinnerlichte Bilder im Kontext von subjekt- und objektbezogenen Gefühlen, Wünschen, Erwartungen, Befürchtungen und insgesamt subjektiv organisierte Erinnerungs- und Bedeutungsstrukturen zugrunde. Diese verinnerlichten Muster bilden vor allem die subjektive Verarbeitung zwischenmenschlicher Erfahrungen und Interaktionen ab und nicht die »objektive Realität«. Verfügen Patienten nur über inkonstante, widersprüchliche bzw. dichotome Beziehungsmöglichkeiten, kann eine adäquat flexible Wahrnehmung der situativen Rahmenbedingungen oder der Wünsche und Bedürfnisse anderer kaum gelingen und eine angemessene vielfältige und differenzierte Beziehungsgestaltung wird vielfach unmöglich, wie es bei schweren Persönlichkeitsstörungen der Fall sein kann. »Diese Flexibilität ist entscheidend von der Fähigkeit des Ich abhängig, zwischen den inneren Bedürfnissen des Individuums, den Anforderungen des Über-Ich und der Umwelt zu vermitteln; dies setzt eine ausreichend gute Integriertheit der Struktur voraus« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 86). 6.3.3 Achse III: Konflikt

Achse III beschäftigt sich mit den Konflikten. Konflikt ist hier im Sinne des ursächlichen Faktors bei der Entstehung von Neurosen als eine mit den Normen, Werten und Gedanken nicht zu vereinbarende Vorstellung zu verstehen.

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Diese Vorstellungen müssen aufgrund ihrer Unvereinbarkeit und »Gefährlichkeit« abgewehrt und verdrängt werden und sind damit weitgehend unbewusst. Auch hier ist wieder ein funktionsfähiges Ich gefragt, um zwischen den inneren und äußeren Ansprüchen zu vermitteln. Misslingt diese Vermittlung im Sinne einer Lösung oder eines akzeptablen Kompromisses, kommt es zur Verdrängung und damit zu unbewussten neurotischen Konflikten. Diese inneren verdrängten Konflikte wirken im Unbewussten weiter, was eine enorme (Abwehr-) Kraft erfordern, eine angemessene Entwicklung beeinträchtigen und auch ein befriedigendes zwischenmenschliches Zusammenleben stark behindern kann. Ein zeitlich überdauernder Konflikt führt zu einer neurotischen Fixierung, in der festgelegte Erlebnismuster in entsprechenden Situationen immer wieder zu ähnlichen Verhaltensmustern führen, ohne dass dieses rigide und unauflösbare Entweder-oder zu einer Lösung oder Entscheidung führt. Hier findet ein unbewusster Vorgang statt, der damit einer willentlichen Entscheidung nicht zugänglich ist. Die diagnostische Identifizierung dieser psychodynamischen Konflikte erschließt sich über die beobachtbaren Phänomene und über die sich wiederholenden Erlebens- und Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit der biografischen Geschichte und dem Verlauf der Erkrankung bzw. psychischen Störung zu verstehen sind. Diese Konflikte verdeutlichen sich auch noch einmal im Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen innerhalb des diagnostischen und therapeutischen Kontextes. Die OPD definiert sieben »zeitlich überdauernde Konflikte«: Individuation versus Abhängigkeit, Unterwerfung versus Kontrolle, Versorgung versus Autarkie, den Selbstwertkonflikt, Schuldkonflikt, ödipalen Konflikt und den Identitätskonflikt im Sinne Identität versus Dissonanz (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 111). Der Konflikt Individuation versus Abhängigkeit basiert auf der Spannung von einerseits Sehnsucht nach enger Beziehung und symbiotischer Nähe und andererseits dem Streben nach betonter Selbstständigkeit und ausgeprägter Distanz. Diese Spannung kann von existenzieller Bedeutung sein und die Lebensgeschichte entscheidend prägen. Dies kann pathologische Züge annehmen im Sinne des »Allein-sein-Müssens« bzw. »Zusammen-sein-Müssens« als eine existenzielle Notwendigkeit. So kommt es auf der einen Seite zur Herstellung sehr enger, Sicherheit bietender Beziehungen mit der Vermeidung von Verantwortung und Eigenständigkeit, mit Unterordnung und dem Verzicht auf eigene Bedürfnisse aus existenzieller Angst vor Verlust des Objekts und Trennung und Einsamkeit. Auf der anderen Seite kommt es zur Forcierung unbedingter Eigenständigkeit und Unabhängigkeit mit einer vehementen Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse nach Anlehnung, Nähe und Bindung. Leitaffekt ist hier eine existenzielle Angst vor Nähe, Verschmelzung und Vereinnahmung.

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Bei dem Konflikt Unterwerfung versus Kontrolle geht es um das zentrale Motiv, den anderen zu dominieren oder sich dem anderen unterzuordnen, »sich anleiten lassen« zu können bzw. »andere anleiten« zu können. Dabei spielen Erlebnisse von Macht, Ohnmacht und auch Beschämung eine Rolle. Der Konflikt Versorgung versus Autarkie fokussiert die konflikthafte Ausgestaltung des Grundthemas von »sich versorgen lassen« versus »andere versorgen können«, also im Sinne der zwischenmenschlichen Interaktionsmöglichkeiten etwas zu bekommen, sich einer Zuwendung und Geborgenheit sicher zu sein und diese auch geben zu können. Die konflikthafte Ausgestaltung bewegt sich zwischen völliger Selbstgenügsamkeit und exzessiver Ausbeutung anderer. Der Selbstwertkonflikt (auch »Selbst- versus Objektwert« genannt) bezieht sich auf die Pole »Sich-selbst-in-Frage-stellen-Können« und auf der anderen Seite »Sich-selbst-eine-Wertigkeit-zumessen-Können«. Dabei können die Anstrengungen zur Anerkennung des eigenen Selbstwertes biografisch und aktuell übermäßig stark erfolglos oder unzureichend und gescheitert erscheinen. Auf der anderen Seite können eine forcierte, übersteigerte Selbstsicherheit und auch eine »narzisstische Wut« zum Ausdruck kommen. Während bei Selbstwertproblemen die Schamgefühle dominieren, steht bei dem Schuldkonflikt das konkrete Erleben von Schuld im Vordergrund. Dies beruht auf dem Konflikt zwischen egoistischen und prosozialen Tendenzen. Dabei muss es sich nicht um reale Verstöße innerhalb der zwischenmenschlichen Interaktion handeln. Es kann auch um die Verletzungen von verinnerlichten Normen und Werten mit sich daraus ergebenden stark sozial und kulturell geprägten Schuldgefühlen gehen. »Jeder Verstoß, jedes (durch Selbstbezogenheit, Egoismus, aber auch Autonomie- oder Autarkiebestrebungen motivierte) Zuwiderhandeln gegen prosoziale Tendenzen wird durch Schuldgefühle signalisiert« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 238). Hier geht es vor allem um die Identifizierung der unrealistischen Fixierungen und Festlegungen im Sinne einer konstanten Tendenz zur Schuldabweisung oder auf der anderen Seite um die Tendenz zur konstanten unterwürfigen Schuldannahme. Auf der einen Seite kann es zu ständigen Selbstvorwürfen und zu einer unterwürfigen überangepassten Haltung mit Verlustängsten, Strafängsten und Traurigkeit kommen, während es auf der anderen Seite zu einer konstanten Abwehr des Schuldgefühls durch Verdrängung, Verschiebung, Umdeutung der Realität oder auch zu einer Projektion der Schuld auf andere kommt. Hier ergibt sich der konkrete Gegensatz, »die Schuld immer bei sich selbst« versus »die Schuld immer bei dem anderen« zu suchen. Im passiven Modus des Schuldkonflikts können Verbesserungen nur schlecht angenommen werden, da das unter anderem auch einen Loyalitätskonflikt mit sich bringen kann: anderen, beispielsweise wich-

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tigen Bezugspersonen, geht oder ging es möglicherweise schlecht oder noch schlechter. Beim ödipalen Konflikt geht es im realen Leben oder in der Fantasie um eine Dreierkonstellation, um die reale oder fantasierte Präsenz von drei Personen im Spannungsfeld von Anerkennung, Rivalität und Erotik. Dabei steht nicht die Anerkennung des Selbstwertes im Vordergrund, sondern die geschlechtsspezifische Aufmerksamkeit und Anerkennung im Zusammenhang mit körperlich sinnlichem und sexuellem Genuss. »Hierzu gehören sowohl das genital-sexuelle Erleben als auch die Gesamtheit der Strebungen und Gefühle, sich anderen Menschen zeigen zu wollen, bei anderen etwas gelten zu wollen, sowie den Kontakt zu anderen erotisch-zärtlich gestalten und genießen zu wollen« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 244). Diese Wünsche nach spezifischer Zuwendung und Beachtung können sich auf vielfältige Weise auch zum Beispiel über eine besondere seelische und/oder körperliche Klagsamkeit äußern, worüber dann die besondere Zuwendung erreicht werden kann. Der Konflikt kreist um die Anerkennung oder auch Umsetzung dieser spezifischen Bedürfnisse und den entgegengesetzten Strebungen und Hemmungen. Bei dem »Identitäts-(Selbst-)Konflikt« (Identitätsdissonanz) schließlich geht es um die Gesamtheit der inneren Bilder eines Menschen von sich selbst und um (gelungene) Identitätsbildung mit hinreichender Kontinuität und Kohärenz. Die Konflikte hier entstehen durch konflikthafte Dissonanzen der Selbstbereiche im Sinne widersprüchlicher Selbstrepräsentanzen mit Unsicherheits- und Unlustgefühlen. Das muss differenzialdiagnostisch streng von der Identitätsdiffusion abgegrenzt werden, die sich als »strukturelles Problem« in der OPD-Achse »Struktur« findet. »Patienten mit strukturellen Ich- und Selbststörungen (z. B. Borderline, Persönlichkeitsstörungen) werden in der Struktur-Achse abgebildet, dagegen wird im Bereich der Identitäts-(Selbst-)Konflikte abgehoben auf Menschen, bei denen Selbst- und Objektrepräsentanzen mit hinreichend intakten Ich-Funktionen vorliegen, deren Bild von sich selbst jedoch zu Konflikten führt« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 250). Die OPD verweist insbesondere auf Störungen im Bereich der Teilidentitäten Körper-, Geschlechts- und Familienidentität, ethische, religiöse, soziale, politische, emotionale und berufliche Identität. »In Konflikt geraten können so zum Beispiel die Identität als Vater eines Kindes und als Sohn seines Vaters oder die Herkunft aus einer auswärtigen Familie und der Wunsch, integriert zu sein (national dazugehören), oder der Wunsch, auf (männliche Weise) erfolgreich zu sein und weiblich zu bleiben, oder ein sozialer Aufstieg mit Übernahme neuer Identität in Widerstreit zur Loyalität mit sozialer Herkunft und Verbundenheit« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 250).

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6.3.4 Achse IV: Struktur

Die OPD beschreibt die psychische Struktur auf vier Dimensionen, die jeweils im Bezug zum Selbst und im Bezug zu den Objekten stehen. So geht es auf der Dimension der Selbstwahrnehmung und der Objektwahrnehmung einerseits um die Fähigkeit, sich selbstreflexiv wahrzunehmen, und andererseits um die Fähigkeit, andere ganzheitlich und realistisch wahrzunehmen. Bei den Steuerungsfähigkeiten des Selbst und der Beziehungen findet die Fähigkeit, eigene Impulse, Affekte und den Selbstwert zu regulieren und andererseits auch den Bezug zum anderen regulieren zu können, Beachtung. Die dritte Dimension betrifft die Kommunikation nach innen und außen und hier sowohl die Fähigkeit zur inneren Kommunikation mittels Affekten und Fantasien wie auch die Fähigkeit zur Kommunikation mit anderen. Die vierte Dimension beleuchtet die innere und äußere Beziehung, die sich auf die Fähigkeit bezieht, gute innere Objekte zur Selbstregulierung zu nutzen, und auch die Fähigkeit, sich zu binden und sich zu lösen, berücksichtigt (vgl. Arbeitskreis OPD, 2006, S. 118). Aus entwicklungspsychologischer Sicht beginnt das Ich sich schon in den frühen Entwicklungsabschnitten (der Säuglingszeit), in den frühesten Interaktionen mit den verfügbaren, emotional fördernden Objekten zu organisieren. Durch die Erfahrung, in einer wechselseitigen Vertrauenswürdigkeit empathisch verstanden und angemessen behandelt zu werden und zu behandeln, findet die Einübung und damit die Entwicklung der strukturellen Funktionen statt. In der Auffassung von Struktur als Ergebnis eines Reifungsprozesses mit zunehmender Differenzierung und Integration, unter Einbeziehung des Aufbaus der intrapsychischen Repräsentanzen der äußeren Objektwelt, der Objektrepräsentanzen und der Erfahrungen und Einstellungen des Selbst im Umgang mit den Objekten (Selbstrepräsentanz), kann strukturelle Störung bedeuten, dass im Sinne eines Entwicklungsdefizits bestimmte strukturelle Differenzierungen und Integrationsschritte nicht in angemessener Weise erfolgt sind. So kann sich eine strukturelle Vulnerabilität ergeben, was bei entsprechenden inneren und äußeren Belastungen zu gravierenden affektiven Spannungszuständen und Desintegrationszuständen führen kann. Bei der Bestimmung des Strukturniveaus geht es um die zeitlich überdauernde typische Funktionsweise der Struktur und die zeitlich überdauernden habituellen strukturellen Fähigkeiten, was differenzialdiagnostisch von temporären Auffälligkeiten in extremen, real akuten Belastungssituationen zu unterscheiden ist. Die OPD unterscheidet hier in vier Stufen Graduierungen des strukturellen Niveaus. Die allgemeine Charakteristik eines guten strukturellen Integrationsniveaus beinhaltet das Vorhandensein eines psychischen Innenraumes, in dem psychisches Erleben mit den zugehörigen Kognitionen, Affekten, Fantasien, Erin-

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nerungen, Entscheidungen usw. differenziert wahrgenommen und auch über regulierende Funktionen weitgehend in angemessener Form be- und verarbeitet werden kann. Die Kriterien für die Einschätzung eines gut integrierten Strukturniveaus sind nach der OPD: »relativ autonomes Selbst; strukturierter psychischer Binnenraum, in dem sich intrapsychische Konflikte abspielen können; Fähigkeit zur Selbstreflexion und realitätsgerechte Wahrnehmung des anderen; Fähigkeit zur Selbststeuerung; Empathiefähigkeit; ausreichend gute innere Objekte; zentrale Angst: die Zuneigung des Objekts zu verlieren« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 258). Das gut integrierte Strukturniveau basiert auf der Grundlage eines realistischen Vertrauens in die Entwicklung von Selbst- und Fremdakzeptanz auch in Bezug auf die Zuneigung des Objektes. Die allgemeine Charakteristik eines mäßig integrierten Strukturniveaus beinhaltet eine prinzipielle Verfügbarkeit der genannten Fähigkeiten und Funktionen, die aber herabgesetzt ist. Das kann sich in der Gegenübertragung als ein punktuell schwer aushaltbares Erleben zeigen, was aber durch konsequente therapeutische Selbstreflexion immer wieder in Bezug zu den relevanten Beziehungserfahrungen des Patienten gesetzt werden kann. Kriterien für die Einschätzung eines mäßig integrierten Strukturniveaus nach der OPD sind: »die intrapsychischen Konflikte sind destruktiver; selbstentwertende und autodestruktive Tendenzen; Schwierigkeit, Selbstbild und Identität zu gewinnen; Übersteuerung und eingeschränkte Selbstwertregulierung; Objektbilder sind auf wenige Muster eingeengt; wenig empathiefähig; dyadische Beziehungen sind vorherrschend; zentrale Angst: das wichtige Objekt zu verlieren« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 258). Ein geringes strukturelles Integrationsniveau ist gekennzeichnet durch eine deutlich geringere Verfügbarkeit regulierender Funktionen. Die Kriterien nach der OPD sind: »wenig entwickelter psychischer Binnenraum und geringe Differenzierung psychischer Substrukturen; Konflikte sind interpersonell statt intrapsychisch; Selbstreflexion fehlt; Identitätsdiffusion; Intoleranz für negative Affekte; Impulsdurchbrüche und große Kränkbarkeit; Abwehr: Spaltung, Idealisierung, Entwertung; fehlende Empathie und eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit; innere Objekte sind vorwiegend verfolgend und strafend; zentrale Angst: Zerstörung des Selbst durch den Verlust des guten Objekts oder durch das böse Objekt« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 258). Auf der vierten Stufe des Strukturniveaus findet sich schließlich das desintegrierte Integrationsniveau mit folgenden Kriterien: »Die fehlende Kohärenz des Selbst und die überflutende Emotionalität werden durch Abwehrmuster im Sinne postpsychotischer, posttraumatischer, perverser Organisationsformen überdeckt. Selbst- und Objektbilder erscheinen konfundiert. Empathi-

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sches Objektwahrnehmen so gut wie unmöglich. Verantwortung für eigenes impulsives Handeln wird nicht erlebt (die Dinge geschehen einfach). Zentrale Angst: symbiotische Verschmelzung von Selbst- und Objektrepräsentanzen mit der Folge des Selbstverlustes« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 258). Der Arbeitskreis OPD weist darauf hin, dass die Beschreibung von Persönlichkeitsstrukturen immer vorläufig und unabgeschlossen ist. »Auf der Hintergrundannahme von potenziell lebenslang möglichem Wachstum der Persönlichkeit beinhaltet der Strukturbegriff auch Aspekte von Entwicklungsdynamik mit einem zeitlichen, wenn auch langsamen Veränderungspotenzial« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 114). 6.3.5 Achse V: Psychische und psychosomatische Störungen

Achse V bezieht sich auf die syndromal-deskriptiven Diagnosen nach der ICD10, in welcher psychische Störungen anhand beobachtbarer oder explorierbarer Daten auf der Grundlage vergleichsweise einfach definierter psychopathologischer Zeit- und Verlaufskriterien operationalisiert werden. Eine Kompatibilität mit dem operationalisierten DSM-Konzept wird berücksichtigt. Die ICD-10 ordnet unter theoretischen oder phänomenologischen Aspekten nach verschiedenen Störungsgruppen mit der Möglichkeit, so viele Diagnosen zu verschlüsseln, wie für die Beschreibung des klinischen Bildes notwendig sind, einschließlich Zusatz- oder Nebendiagnosen. »Als Hauptdiagnose soll dabei die Kategorie verschlüsselt werden, der die größte aktuelle Bedeutung oder die als sog. ›Lebenszeitdiagnose‹ die höchste Relevanz besitzt« (Arbeitskreis OPD, 2006, S. 127). Letztlich muss festgehalten werden, dass das komplexe Geschehen im Zusammenhang mit psychischen Störungen eine Verabsolutierung der diagnostischen Kategorien verbietet und ein vertiefendes Verständnis der individuellen Biografie sowie das Erleben innerhalb der therapeutischen Begegnung nicht ersetzen kann. 6.4 Indikation für psychodynamisch-systemische Psychotherapie Eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie hat aufgrund ihrer angemessenen flexiblen Behandlungsarrangements, die im Zusammenhang mit dem individuellen Krankheitsbild und der aktuellen Lebenssituation des Patienten stehen, ein breites Indikationsspektrum. Dieses Behandlungsverfahren kann bei allen psychischen Störungen angewandt werden, deren Entstehung einen psychodynamisch-systemischen Hintergrund hat oder deren Verlauf durch psychodynamische Faktoren mitbestimmt wird. Dies sind insbesondere Störungsbilder mit akuten Symptombildungen, die sich durch die Aktualisierung unbewusster Konflikte im Zusammenhang mit psychodynamisch relevanten Auslösungssitu-

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Indikation für psychodynamisch-systemische Psychotherapie

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ationen (Lebensveränderungen oder psychosoziale Ereignisse) entwickelt haben. Dieses Verfahren zeigt sich vor allem in Belastungs- und Konfliktsituationen erfolgreich, in denen das bisher bestehende seelische Gleichgewicht erheblich labilisiert wurde und sich unter der Belastung ein bis dahin entwickeltes neurotisches Muster destabilisiert hat. Aber auch bei strukturellen Störungen (Persönlichkeitsstörungen) kann eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie indiziert sein, um die Patienten neben der intrapsychischen Thematik auch im interaktionellen Bereich zu unterstützen. Die Auseinandersetzung mit den als ich-synton erlebten Persönlichkeitsanteilen, in denen der Patient sein maladaptives Verhalten als zu ihm gehörig und die Ursache der Störung bei den anderen sieht, stellt die Basis für eine Differenzierung seiner Selbstwahrnehmung und der Bildung neuer Einstellungen und Bewältigungsmöglichkeiten dar. Diese neuen Formen der Impulsund Affektregulierung ermöglichen im therapeutischen Prozess einen Zuwachs an Kommunikations- und Empathiefähigkeit ebenso wie einen angemesseneren Umgang mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Die Behandlung sowohl auf der Ebene der aktuellen psychosozialen und interpersonellen Konflikte als auch auf der intrapsychischen personalen Ebene unterstützt die Entwicklung rekursiver Prozesse und zeigt sich in der strukturellen Verbesserung des Patienten. Im Umgang mit psychosozialen Ereignissen oder durch Lebensveränderungen aktualisierten neurotischen Konflikten mit einer Labilisierung der kompensatorischen Strukturen reicht die therapeutische Zielsetzung von stabilisierender Krisenintervention bis zu fokal aufdeckender Konfliktverarbeitung. Dabei steht die aktive Bearbeitung der abgewehrten Konflikte wie auch die Erarbeitung von neuen Bewältigungsstrategien im Fokus des therapeutischen Prozesses. Für die Indikation einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie braucht es einen aktuellen Fokus, eine akute Konflikt- und Belastungssituation und eine auslösende Situation, durch die bisher funktionierende Bewältigungsmechanismen zusammengebrochen sind. Durch diese Situation wird eine relevante unbewusste Konfliktkonstellation so stark reaktiviert, dass für den Patienten eine angemessene Bewältigung der anstehenden Anforderungen stark behindert oder sogar unmöglich geworden ist. Dabei kann die jeweilige symptomauslösende Situation von außen betrachtet auch als geringfügig erscheinen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die subjektive Bedeutung für den Patienten, die vor dem Hintergrund seiner biografisch gewachsenen Struktur gesehen werden muss. Insgesamt ist eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie immer dann indiziert, wenn unter den Bedingungen der zeitlichen Begrenzung und unter Nutzung der Einsichtförderung, der positiven

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Beziehungserfahrung und der Ressourcenaktivierung von einer wesentlichen Besserung der Symptomatik oder der interpersonellen Strukturen ausgegangen werden kann. Da eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie davon ausgeht, dass für den Patienten ein tieferes Verständnis seiner Beschwerden und deren Entstehung eine Grundlage zur Symptombesserung oder -heilung ist, stellt ein Mindestmaß an Introspektionsfähigkeit aufseiten des Patienten eine grundlegende Voraussetzung dar. Dabei muss ein deutlicher Veränderungswunsch und eine nicht nur vordergründige Veränderungsbereitschaft vorhanden sein, um die Mitarbeit des Patienten und seine Bereitschaft zu reflexiver Tätigkeit zu sichern. Auf dieser Grundlage gilt es zu prüfen, ob der Patient bereit ist, sich im Hinblick auf seine innere Einstellung auf eine mögliche neue Bewertung, Deutung oder Bewältigung seiner Lebensrealität einzulassen. So werden neben Strukturniveau und sekundärem Leidensdruck zu Beginn einer psychodynamischsystemischen Psychotherapie die jeweils subjektiven Therapieerwartungen, die Therapieziele und die Therapiemotivation des Patienten bewusst gemacht (vgl. Faber u. Haarstrick, 2012). Im Rahmen der Psychotherapie-Richtlinien stehen im Bereich der nicht genehmigungspflichtigen Leistungen zunächst bis zu fünf probatorische Sitzungen zur diagnostischen Klärung und Indikationsstellung für das Psychotherapieverfahren zur Verfügung. Das Erstgespräch dient zur Abklärung des Behandlungsanlasses. Dies verlangt eine Beschreibung der Symptomatik, der aktuellen Situation und des Leidensdrucks des Patienten. Abschließend erfolgt die beidseitige Entscheidung, weitere Sitzungen über das Erstgespräch hinaus zu führen und daran vertiefende probatorische Sitzungen anzuschließen. In diesen ersten Sitzungen zeigen sich bereits die relevanten psychodynamischsystemischen Grundannahmen in Form der Psychodynamik des Unbewussten sowie in den Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen. Außerdem offenbart sich die Objektbeziehungsdynamik samt der internalisierten Muster, Identifizierungen und Introjekte in der therapeutischen Beziehung. Bei aufmerksamer Beobachtung können diese bereits für den Therapieprozess berücksichtigt werden. So kann besonders das Erstgespräch außerordentlich aufschlussreich sein und wertvolle Hinweise für später zu überprüfende diagnostische Hypothesen und für den Therapieplan geben. Hier kommen sowohl deskriptivphänomenologische, biografische als auch die beobachtbaren szenischen Komponenten zum Tragen. Während einerseits Fakten und Daten gesammelt werden, kommt andererseits dem kommunikativen Aspekt zwischen Therapeutin und Patient eine große Bedeutung zu, um ein erstes Verstehen der Gesamtsituation und der sich im therapeutischen Erstkontakt inszenierenden Szene zu erreichen.

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Indikation für psychodynamisch-systemische Psychotherapie

Das szenische Verstehen bezieht sich auf das Kommunikations- und Beziehungsmuster der aktuellen Situation, welches sich bewusst und unbewusst in der Interaktion des therapeutischen Erstkontaktes darstellt. Dieses steht in Zusammenhang mit der aktuellen Situation, der Lebenssituation, aber auch mit den internalisierten und teilweise maladaptiven Interaktions-, Beziehungs- und auch Abwehrmustern (siehe auch Cierpka u. Buchheim, 2001; Abbildung 9).

SZENE T

Abbildung 9: Die therapeutische »Szene« in einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie

So kann besonders diese erste sich inszenierende Szene auch unter Einbeziehung nonverbaler Signale einen wertvollen Aufschluss über grundsätzliche Lebenszusammenhänge des Patienten geben. Vor allem konflikthafte Beziehungserfahrungen können sich schon im ersten Kontakt widerspiegeln und im Übertragungsprozess reinszenieren (Mertens, 2013). Erste Hinweise sowie einen ersten Eindruck über Besonderheiten der spezifischen Störung und die zu erwartende Art der Interaktion im therapeutischen Prozess kann im Vorfeld des Erstgesprächs schon die Art und Weise der telefonischen Kontaktaufnahme geben. So kann sich diese allererste Kontaktaufnahme seitens des Patienten zielstrebig motiviert, ambivalent zögerlich oder auch latent vorwurfsvoll gestalten. In den weiteren probatorischen Sitzungen sollten neben einer differenzierteren Erhebung der biografischen Anamnese auch der aktuelle Leidensdruck sowie die Therapie- und Veränderungsmotivation erfasst werden. Aus psychodynamischer Sicht kommt dem Grad der Kompatibilität von Therapeutin

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

und Patient, also der Passung zwischen den beiden Akteuren, eine besondere Bedeutung zu, da die Kooperations- und Beziehungsfähigkeit sowie die Verlässlichkeit des Patienten davon beeinflusst wird. Im systemischen Modell hat sich eine Aufteilung in drei Kategorien etabliert, die je nach Art der Darstellung der Problematik zwischen »Kunden«, »Klagenden« und »Besuchern« unterscheidet. Während der Kunde eine Vorstellung von den eigenen Möglichkeiten der Veränderung hat (dies entspricht einem Patienten mit Eigenmotivation im klassischen Sinne), erwartet der Klagende die Veränderung oder die Lösung seiner Probleme eher von anderen (Patient ohne Eigenmotivation; sieht Partner, Angehörige, Kollegen oder den Chef in der Pflicht). Dem Besucher fehlt in der Regel die Einsicht in die psychische Störung, und er beginnt häufig die Therapie aufgrund einer Überweisung durch andere (vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 57). Dies bedeutet für eine psychodynamisch-systemische Therapie, dass die Therapeutin die Motivationslage des Patienten in den ersten Sitzungen erfasst und davon eine Indikation für eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie abhängig macht. Im Fokus steht zunächst die Frage, welche Problematik den Patienten zu einer Therapie veranlasst und weshalb gerade zu diesem Zeitpunkt. In den probatorischen Sitzungen werden Informationen auf verschiedenen Ebenen gesammelt. Aus psychodynamisch-systemischer Sicht besteht keine klare Trennung zwischen objektiver und subjektiver Information, da auch die Schilderung der konkreten Entwicklung des Symptoms, der auslösenden Situation, der persönlichen Angaben und der biografischen Fakten sowie des Beziehungsgeschehens im sozialen Umfeld immer von der subjektiven Wahrnehmung des Patienten geprägt ist. Die Kompetenz der Therapeutin zeigt sich dabei in der Wahrnehmung und Reflexion der verschiedenen Ebenen, der Gewichtung der Erklärungsversuche des Patienten sowie in all seinen Informationen, Erinnerungen und Erfahrungen, die mit den Symptomen des Patienten in Zusammenhang stehen. Die Art und Weise des Austauschs zwischen der Therapeutin und dem Patienten schafft die Grundlage für die Bereitschaft des Patienten, sich auf die therapeutische Beziehung einzulassen und sich dem eigenen Problem zu nähern. Aus systemischer Sicht besteht in dieser probatorischen Phase durch unterschiedliche systemische Fragen oder Reflexionsangebote die Möglichkeit, diagnostische Informationen und Interventionen zirkulär zu verbinden. Da die explorierten Daten und Vorkommnisse in der Lebensgeschichte des Patienten eine anfängliche Reflexion auslösen, wirken sie als erste Interventionen für den Patienten. Daraus können sich für den Patienten neue Ideen für Veränderungen und Zielformulierungen ergeben. Dieses Vorgehen verbindet die Erfassung der szenischen und situativen Informationen mit der konkreten Handlungsebene und stärkt dadurch

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Indikation für psychodynamisch-systemische Psychotherapie

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den therapeutischen Kontakt. In einem zirkulär interaktiven Prozess erkundet die Therapeutin die Dynamik der beteiligten Strukturen und Prozesse, um die Symptomatik in schlüssiger Weise in einem übergreifenden psychodynamischsystemischen Zusammenhang erklärbar und verstehbar werden zu lassen. In diesem Prozess werden möglichst differenzierte Bilder von der Persönlichkeit und der Persönlichkeitsentwicklung des Patienten mit seinen bisher nicht befriedigend gelösten und für die aktuelle Störung bedeutsamen inneren und äußeren Konflikten entwickelt. Diese Vorstellungen über die Person, die interpersonellen Wechselwirkungen und die relevanten sozialen Kontexte schaffen die Grundlage für eine Arbeitsdiagnose mit der daraus resultierenden Indikationsstellung und dem Behandlungsplan. Bereits in der Phase der Anamneseerhebung lassen sich hinsichtlich der Indikation für eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie erste Hypothesen zur Reflexionsfähigkeit des Patienten sowie zu seiner Bereitschaft, diese im therapeutischen Prozess zu nutzen, entwickeln. Dies ermöglicht eine erste Prognose für den Therapieprozess und für das einzuschlagende therapeutische Setting. Denn im Rahmen einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie rückt neben den bekannten Aspekten zur Interaktion zwischen Patient, Therapeutin und der aktuellen psychischen Störung die Frage nach der Gestaltung des Settings in den Mittelpunkt. Demnach sollte bereits zu Beginn überlegt werden, ob es sinnvoll ist, Mitglieder des sozialen Systems des Patienten in den Therapieprozess zu integrieren und wann und wie dies geschehen könnte. Im probatorischen Prozess stellen sich Fragen nach wichtigen oder eigentlich unwichtigen Ereignissen in Bezug auf die definierten Ziele, nach mehr oder weniger ausgeprägten Traumata, der bisherigen Beziehungsgestaltung in den unterschiedlichen sozialen Systemen, dem Verhältnis zu den Bezugspersonen, außerfamiliären Sozialkontakten, dem Umgang mit Anforderungen, Werten und Normen sowie dem Selbstbild in unterschiedlichen Entwicklungsphasen. Selbstverständlich müssen auch Fragen nach somatischen Vorerkrankungen, Vorbehandlungen, Medikationen oder nach latenten oder manifesten Suchtphänomenen berücksichtigt werden. Die Art und Weise, wie sich der Patient während der psychodynamischsystemischen Anamnese erlebt, einbringt und auf die Therapeutin und deren Interventionen eingeht, gibt wichtige Anhaltspunkte und Hinweise darauf, ob und inwieweit der Patient von dem spezifischen Angebot einer reflektierenden Form von Gespräch und symbolischen Aktionen profitieren kann. Ist bei dem Patienten zu Beginn die Reflexionsfähigkeit und die Bereitschaft, Konflikte und Emotionen zu verbalisieren und in den therapeutischen Prozess einzubringen, noch nicht in ausreichendem Maße vorhanden, kann die Therapeutin diese Ver-

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

änderungs- und Therapiemotivation durch respektvolle und systemische Fragen zum Problem und zur aktuellen Situation unterstützen. Gelingt es, eine hinreichende Beziehungsfähigkeit zu entwickeln, kann die therapeutische Arbeitsbeziehung im Sinne einer stabilisierenden und hilfreichen Beziehung wirken. Insgesamt stellt sich in den probatorischen Sitzungen die Frage nach der Passung von Therapeutin, Patient und Störungsbild. Dabei zeigt sich auch die Notwendigkeit, ein gemeinsames Sprachniveau zu finden, um einen Dialog führen zu können, der bei dem Patienten dazu führt, sich unterstützt und verstanden zu fühlen. Dies mündet in eine gemeinsame Einschätzung darüber, in welchen Bereichen Patient und Therapeutin den Hauptkonflikt sehen, der in einer möglichen Therapie bevorzugt bearbeitet und behandelt werden soll. Schließlich soll in den probatorischen Sitzungen ebenfalls im Sinne der Vermittlung von Klarheit das Vorgehen innerhalb der psychodynamisch-systemischen Psychotherapie verdeutlicht und transparent gemacht werden. Dazu gehört der Hinweis auf die nötige Mitarbeit des Patienten sowie auf möglicherweise auftretende Schwierigkeiten und Mühen in Zusammenhang mit emotionalen und kognitiven Anforderungen. Diese können sich unter anderem bei der Bearbeitung von belastenden Erlebnissen, Ereignissen oder Erinnerungen mit den zugehörigen schmerzhaften und auch unangenehmen Gefühlen ergeben und auch über die in der Therapie bearbeiteten Themen hinausgehen (Trennung vom Partner, Arbeitsplatzveränderung etc.). Die Benennung der Handlungskompetenz des Patienten dient einer ersten Ressourcenaktivierung, die im Laufe der Therapie gesteigert wird, um das allgemeine Ziel einer Psychotherapie im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe zu erreichen. Um eine angemessene Therapieplanung zu ermöglichen, werden klare, begrenzte und erreichbare Therapieziele formuliert, die folglich den Therapiefokus bestimmen. Eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie verfolgt die im Vorfeld der Therapie von Patient und Therapeutin gemeinsam festgelegten Ziele. Die damit verbundenen Themen werden im therapeutischen Prozess in unterschiedlicher Form bearbeitet. Die Orientierung an den Zielen beinhaltet therapeutisch eine immer wieder aktive Hinlenkung auf die im Fokus stehenden, definierten Konfliktbereiche. Das Anliegen des Patienten und seine damit verbundenen Wünsche sind dabei maßgeblich für die therapeutische Richtung (Fürstenau, 1999). Gleichzeitig ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass Patienten sich zu Beginn eines therapeutischen Prozesses häufig noch nicht bewusst sein können, welche persönlichen Ziele hinter dem von ihnen genannten Fokus stehen. Diese Situation stellt die Therapeutin vor eine besondere Herausforderung und unterstreicht gleichzeitig den Umstand, dass jeder einzelne Prozess subjektiv einzigartig verläuft, was die Bedeutung individualisierter Vorgehensweisen unter-

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Die Bedeutung der Mentalisierung

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streicht, um den selbstorganisierten Prozessverläufen eine entsprechende Entfaltung zu geben. Die Rahmenbedingungen einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie und die damit verbundene therapeutische Arbeitsbeziehung stehen zwar grundsätzlich fest, werden aber in jedem Therapieprozess neu überprüft, gegebenenfalls modifiziert und den aktuellen Gegebenheiten angepasst. Allgemein gilt, dass eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie im Gegenübersitzen mit Blickkontakt stattfindet und einen dialogischen Gesprächsstil anwendet. Die Sitzungsfrequenz umfasst üblicherweise (auf Grundlage der Psychodynamischen Psychotherapie) eine Sitzung von 50 Minuten pro Woche. Durch dieses Setting werden die regressiven Tendenzen begrenzt und gleichzeitig die Grundlage für eine kontinuierliche therapeutische Beziehung gelegt. Der Patient wird auf Augenhöhe von der Therapeutin angesprochen und auch gefordert. Während eine Kurzzeittherapie 25 Stunden beinhaltet, umfasst eine übliche tiefenpsychologisch fundierte Langzeittherapie im ersten Bewilligungsschritt 50 Stunden. Diese kann in einem zweiten Bewilligungsschritt mit 30 Stunden fortgeführt und in begründeten Fällen noch einmal um 20 Stunden erweitert werden (Faber u. Haarstrick, 2012). Eine Einteilung in ein Stundenkontingent für Kurz- und Langzeittherapie inklusive Verlängerungsmöglichkeiten steht für die systemische Therapie aktuell noch aus, da der Gemeinsame Bundesausschuss dieses Verfahren bisher noch nicht in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen hat. In beiden Settings wird der Patient nicht in einer passiv-rezeptiven Haltung behandelt, sondern aufgefordert, selbst zu handeln und im Rahmen der therapeutischen (Zusammen-)Arbeit Verantwortung zu übernehmen. 6.5 Die Bedeutung der Mentalisierung für eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie Die Förderung des effektiven Mentalisierens von und zwischen Personen bezeichnet die Fertigkeit, Affekte zu unterscheiden, zu verstehen und zu kontrollieren sowie die eigene Aufmerksamkeit zu steuern (Fonagy et al., 2004). Diese Fähigkeit erlaubt, geistige Vorgänge zu sehen, die dem Handeln zugrunde liegen, sowie die eigenen Vorgänge reflexiv zu erfassen, um die Hintergründe für die persönlichen Überzeugungen, Wünsche und Gedanken zu verstehen. Dazu braucht es eine grundlegende Vorstellung von dem Mentalen und die Erkenntnis, dass es sich bei Gedanken »lediglich« um Repräsentationen der Wirklichkeit handelt. Aus dieser Sicht kommt es im Entwicklungsverlauf zu Metakognitionen oder, wie von Fonagy et al. (2004) vorgeschlagen, zu sogenannten Metareprä-

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

sentationen, da diese bereits vor dem Erlernen der Sprache vorhanden waren und daher nicht allein kognitiver Struktur sind. Ist die Fähigkeit zum Mentalisieren bei dem Patienten hinreichend entwickelt, unterstützt sie die Orientierung und Kontrolle in der Beziehungsgestaltung. So dient sie der eigenen Emotions- und Selbstregulation und erweitert die emotionale und soziale Kompetenz. Nach heutiger Forschungslage wird davon ausgegangen, dass diese Fähigkeit im Laufe der ersten Lebensjahre im Austausch mit den Hauptbezugspersonen entwickelt wird. Bei Kindern zeigt sich entwicklungsgemäß zunächst ein sogenannter Als-ob-Modus, in dem die Realität gewissermaßen für diese Zeit aufgehoben wird. In diesem Modus kann sich das Kind verhalten oder sich vorstellen, so zu tun, als ob es eine andere Person wäre. Verhält sich die Bezugsperson in dieser Situation angemessen, so muss das Kind nicht befürchten, dass die Situation real wird (Fonagy, 2003). Im Rahmen einer psychodynamisch-systemischen Therapie kann diese Form des So-tun-als-ob für den Patienten genutzt werden, damit dieser sich seiner noch nicht bewussten bzw. nicht geäußerten Wünsche oder Ideen für die Veränderung seines Verhaltens bewusst wird. In der haltgebenden therapeutischen Beziehung und der Semi-Realität einer therapeutischen Situation kann die Bereitschaft des Patienten, sich auf diese alternativen Konstruktionen der Wirklichkeit einzulassen, auf unterschiedliche Arten unterstützt werden. Durch die im systemischen Verfahren übliche Form neuer Möglichkeitskonstruktionen und Perspektivenwechsel durch entsprechende Frageformen kann die Mentalisierungskompetenz des Patienten gesteigert werden. Aus Sicht der Psychodynamik ermöglicht der Mentalisierungsprozess dem Patienten, sich frei zu äußern und ohne gedankliche Sperren zu denken, zu fühlen und sich auch Fantasien zu erlauben. Aus psychodynamisch-systemischer Sicht wird der Patient von der Therapeutin durch aktive Fragen und Interventionen dazu angeregt, sich auf das Ungewöhnliche einzulassen (vgl. Kapitel 6.9.3, Fallbeispiel 8). Dieses Vorgehen ermöglicht Formen der biografischen Arbeit (Vergangenheit) mit einer hohen affektiven Beteiligung des Patienten. Zugleich bietet es dem Patienten durch die aktiven Formen der Bearbeitung (Gegenwart) Zugänge zu seinen heutigen Ressourcen und ermöglicht einen Ausblick auf sein Therapieziel (Zukunft). Durch diese Form des So-tun-als-ob kann der Patient neue Sichtweisen entwickeln und seine inneren Zustände extern darstellen. Diese Form des hypothetischen Umgangs mit der Realität stellt bis heute im systemischen Therapieverfahren ein Hauptpfeiler des therapeutischen Tuns dar. Die Position der Therapeutin ist dabei von großer Bedeutung, obliegt es ihr doch, auf die Rückmeldungen und Verhaltensweisen des Patienten mit eigenen Reaktionen einzu-

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Die Bedeutung der Mentalisierung

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gehen und dem Patienten seine unterschiedlichen affektiven Empfindungen zu spiegeln. Analog der Situation des Kindes und der unterstützenden Rolle der Eltern (Fonagy u. Target, 2005; Brisch, 2011) stellt im therapeutischen Rahmen die Therapeutin diese entscheidende Spiegelungsinstanz dar, die den Patienten in der Mehrdimensionalität von Wirklichkeit und dem eigenen Umgang damit begleitet. In diesem Zusammenhang spielt die Bewusstmachung der Gegenübertragungsprozesse für eine angemessene Interventionsführung bei der Therapeutin eine bedeutsame Rolle. Aufgrund der Erkennung dieser Gefühle und Reaktionen kann die vom Patienten intrapsychisch gefühlte und systemisch mögliche Komplexität fokussiert und durch entsprechende Interventionen für den therapeutischen Prozess genutzt werden. Die therapeutische Situation zum einen, die Dynamik des aktuellen und biografischen Unbewussten des Patienten zum anderen sowie die störungsspezifischen Besonderheiten in der aktuellen Lebenssituation erfordern eine spontane, der jeweiligen Situation angemessene Reaktion der Therapeutin, die nur bedingt manualisierbar ist. Diese Form des therapeutischen Handelns kann nur im Rahmen einer entsprechenden inhaltlichen Ausbildung und Supervision erlernt werden. Diese Kompetenz erfordert eine intensive Form der Selbsterfahrung sowie Reflexion der eigenen Person, was auch die familiale Biografie der Therapeutin mit einschließt. Die Reflexion über einzelne Situationen oder auch deren Inszenierung ermöglicht dem Patienten, sich seiner Mentalisierung bewusst zu werden, um den eigenen Affekt nicht mehr allein als passive Emotion, sondern ihn mit einer individuellen psychischen Entsprechung zu erleben. Erst durch die Reflexion über sein emotionales Erleben kann der Patient die Entstehung und Bedeutung des Affekts reflektierend begreifen und in Form einer emotionalen Selbstkontrolle neu regulieren. Die dadurch entstehenden Repräsentationen erlauben eine bewusste Wahrnehmung des eigenen Erlebens und werden so zu Inhalten des eigenen Selbst. Die Grundannahmen der Mentalisierung führen zu einer differenzierten Herangehensweise an zwischenmenschliche Beziehungen. Das Bewusstsein über die inneren Zustände anderer Menschen und die damit verbundenen Sichtweisen, Bedürfnisse und Gefühle intensivieren den therapeutischen Prozess. Ebenso schaffen sie die Grundlage für eine therapeutische Haltung als eine respektvolle, nachforschende und neugierige Einstellung zum inneren Befinden anderer Menschen bei gleichzeitiger Bewusstheit über die Grenzen des eigenen Wissens. So stellen die Gedanken, Gefühle, Ziele und Überzeugungen des Patienten die Basis dar, auf der es für die Therapeutin gilt, mitzuschwingen, um möglichst viele nützliche Hypothesen entwickeln zu können. Der dabei entste-

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hende kreative Interaktionsprozess, in dem der Art der Fragestellung durch die Therapeutin eine große Rolle zukommt, unterstützt den Mentalisierungsprozess und entspricht dem Vorgehen im systemischen Psychotherapieverfahren. Der Vorteil dieser Situation liegt darin, dass die Therapeutin nicht als »Wissende« deutet, sondern der Patient durch die Fragen der Therapeutin die Möglichkeit bekommt, sich der Bedeutung seiner Situation bewusst zu werden, indem er sich damit auseinandersetzt und seine eigenen Antworten findet. Beispielfragen könnten folgendermaßen lauten: – »Was bedeutet es für Sie, dass Ihr Partner sich so eindeutig gegen Ihren Wunsch entschieden hat?« – »Was würde es für Sie aufgrund Ihrer geschilderten Lebenserfahrungen bedeuten, wenn sich Ihre Angst durch die Therapie verringern würde?« – »Was würde es für Sie bedeuten, wenn Sie wieder mehr freie Zeit mit Ihren Freunden verbringen würden?« – »Was, glauben Sie, würde es für Ihren Partner bedeuten, wenn Sie in den nächsten Tagen doch dem gemeinsamen Urlaub zustimmen würden?«

Das eigene Selbsterleben sowie das Erleben im sozialen Umfeld bietet die Fähigkeit, mentale Zustände erspüren, lesen oder interpretieren zu können. Da die Mentalisierungsfähigkeit auch die Darstellung eigener mentaler Zustände wie zum Beispiel Vorstellungen, Sehnsüchte und Gefühle umfasst, kann sie auch als natürliche Resilienz bezeichnet werden, die ebenfalls als protektiver Faktor gegenüber psychosozialem Stress dienen kann. Die direkte Beziehung von Emotionen zu eigenen Wünschen und Zielen sowie zu den Erwartungen und dem jeweiligen positiven oder negativen Erleben von Situationen macht den Mentalisierungsprozess so bedeutsam. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass die Bindungstheorie und die Mentalisierung in einem Zusammenhang stehen (Fonagy u. Target, 2005; Fonagy, 2003). Verletzungen von Bindungsbeziehungen können in der Folge zu einer Verletzlichkeit der Entwicklung von komplexen metarepräsentativen Funktionen führen. Es kommt somit zu einem zirkulär-kausalen Kreislauf. Eine gestörte Bindungsbeziehung kann die Unfähigkeit, mentale Zustände des eigenen Selbst zu erkennen, nach sich ziehen. Dies löst in der Regel auch Aufmerksamkeitsprobleme und Schwierigkeiten bei der Reflexion der mentalen Zustände anderer Menschen aus. Die daraus entstehenden beeinträchtigten oder gestörten Bindungsbeziehungen führen ihrerseits wiederum zu gestörten Bindungsbeziehungen mit der Folge einer weiteren Schwächung des natürlichen Entstehens der Fähigkeit zu mentalisieren. Damit schließt sich der negative Kreislauf (zirkulärer Prozess).

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Das Neun-Felder-Modell

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Das Mentalisierungskonzept spannt eine Brücke zwischen systemischen und personalen Bedingungen und hat dabei folgende Ziele: – Reflexion der inneren Zustände: Befinden und Erleben des Patienten aus intrapsychischer Sicht oder im Mehrpersonensetting zum Aufbau einer Vertrauensbasis, um so die interpersonelle Beziehung zwischen den Personen für den therapeutischen Prozess zu stärken. – Berücksichtigung rekursiver Prozesse in sozialen Situationen: Schafft eine Brücke zwischen der intrapsychischen und der systemischen Betrachtung durch die Integration von Erkenntnissen aus der Bindungstheorie und den selbstreflexiven Modellen (Selbstorganisation) im Hinblick auf die Veränderungsprozesse. – Bedeutungszuwachs durch psychodynamisch-systemische Hypothesen: Integration bedeutsamer Sichtweisen von Personen aus dem Gesamtsystem (generationsübergreifende Familienmitglieder, Partner, soziales System), um die Denk- und Verhaltensmuster für den Patienten verstehbar zu machen. – Wahrnehmung der mentalen Befindlichkeit aller an der psychischen Störung Beteiligten als Aufgabe der Therapeutin: Die differenzierte Wahrnehmung der mentalen Zustände des Patienten und aller beteiligten Personen sowie der eigenen Gegenübertragung verhilft zu neuen und unterschiedlichen Perspektiven. Eine kontextbezogene und veränderungsunterstützende Konnotation ermöglicht einen rekursiven Änderungsprozess. – Mentalisierung zur Entwicklung sozial-emotionaler Kompetenz: Die Förderung eines wechselseitigen Austausches über Einstellungen, Gedanken und Gefühlszustände wirkt ressourcensteigernd und erlaubt die Bearbeitung dysfunktionaler Mentalisierungsbeispiele. 6.6 Das Neun-Felder-Modell Das Neun-Felder-Modell (NFM) wurde vom Autor gemeinsam mit Bernd Kuhlmann (Kuhlmann u. Rieforth, 2004, 2006; Rieforth, 2012) mit dem Ziel der Operationalisierbarkeit und Transparenz von Beratungs- und Therapieprozessen entwickelt. Im therapeutischen Rahmen eignet sich dieses Modell insbesondere für die Bewusstmachung der vom Patienten erlebten Problem- und Störungsbereiche und den damit verbundenen Wünschen und Bedürfnissen sowie den eigenen Möglichkeiten, Veränderungen zu erreichen. Bei einem Einsatz in der psychodynamisch-systemischen Therapie kann dieses Modell in Form einer Manualisierung zur Orientierung dienen; gleichzeitig erlaubt es eine offene und dynamische Gestaltung des Therapieprozesses, wodurch die Selbstorganisationsprozesse des Patienten im Rahmen der therapeutischen Ziele unterstützt werden (Fischer, 1996; Beutel et al., 2010).

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

Eine Manualisierung therapeutischer Prozesse sollte dabei nicht wie ein Kochbuch verstanden werden, sondern durch die Darstellung des therapeutischen Gestaltungsrahmens die Kompetenzen der Therapeutin erhöhen (vgl. Beutel et al., 2010, S. 110). Sie ersetzt keine ausgewogene klinische Ausbildung, und das Gelernte muss in die therapeutische Identität des Therapeuten integriert und verinnerlicht werden, damit dieser frei genug bleibt, seine übliche Qualität des Beziehungsaufbaus entwickeln zu können. Das Neun-Felder-Modell besteht aus zwei Triaden, die sich gegenseitig ergänzen und in ihrer Anwendung gemeinsam genutzt werden. Zum einen handelt es sich um die Triade »Problem – Ressource – Wunsch/Bedürfnis«, zum anderen um die Triade »Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft«. Verbindet man diese zwei Triaden zu einer zweidimensionalen Matrix in Form des Neun-FelderModells, so ergibt sich ein Modell zur Orientierung und Interventionsplanung therapeutischer Prozesse, mit dessen Hilfe die Umgangsformen des Patienten mit seiner Erkrankung unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Zeit- und Kontextdimensionen betrachtet werden können. Abbildung 10 zeigt das Modell mit seinen prozesssteuernden Ebenen, die durch entsprechende Interventionen und Fragen fokussiert werden können und so zur Erhellung der unterschiedlichen Perspektiven des Patienten führen.

Wunsch/ Bedürfnis (Ebene 3)

Wie haben Sie Ihren Wunsch/Ihr Bedürfnis damals erlebt?

Welche Veränderung wünschen Sie sich?

Was würde die gewünschte Veränderung für Sie bedeuten?

Ressource (Ebene 2)

Welche Fähigkeiten waren damals hilfreich – und was haben Sie damals getan?

Was wäre für Sie jetzt hilfreich? Was wollen Sie jetzt dafür tun?

Wie wollen Sie dies auch in Zukunft sicherstellen – und was wollen Sie für diese Veränderung tun?

Problem (Ebene 1)

Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Problem?

Was genau erleben Sie momentan als Problem?

Wie, glauben Sie, wird sich das Problem in der Zukunft entwickeln?

Vergangenheit (Ebene 4)

Gegenwart (Ebene 5)

Abbildung 10: Das Neun-Felder-Modell (NFM)

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Zukunft (Ebene 6)

Das Neun-Felder-Modell

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Das Modell gliedert sich in drei Ebenen, die mittels unterschiedlicher Interventionen und Fragetechniken und weiterer symbolischer und kreativer therapeutischer Impulse angesprochen und aktiviert werden können. Im Einzelnen handelt es sich um die Ebene des Problems in Bezug auf die psychische Störung (Ebene 1), die Ebene der Ressourcen als Kompetenzen und positive Anteile des Patienten für den Gesundungsprozess (Ebene 2) und die Ebene des subjektiven Wunsches bzw. Bedürfnisses und des damit verbundenen Interesses nach Veränderung (Ebene 3). Auf allen drei Ebenen kann die Situation des Patienten in der aktuellen Situation (Gegenwart), in der Historie (Vergangenheit) sowie in der vorgestellten weiteren Entwicklung (Zukunft) betrachtet werden. Das Neun-Felder-Modell eignet sich für die Therapeutin zur Optimierung des therapeutischen Prozesses und dient dem Patienten zur Selbstreflexion und Bewusstmachung seiner Bedürfnisse, Wünsche und Interessen. Die Fokussierung auf die inneren Bedürfnisse, die häufig nur zum Teil bewusst sind und die im therapeutischen Rahmen um die oftmals verborgenen, noch unklaren, impliziten oder unbewussten Wünsche ergänzt werden, ermöglicht eine Zentrierung auf die Inhalte, die für den Patienten von Bedeutung sind. Die Therapeutin fördert durch die unterschiedliche Nutzung der drei Ebenen des Modells die Entwicklung von neuen Umgangsformen des Patienten mit seiner psychischen Störung. Dies bewirkt sie durch eine intensive Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation (Ebene 5, Gegenwart), der Bewusstmachung wichtiger biografischer Zusammenhänge (Ebene 4, Vergangenheit) sowie mit der vorgestellten Entwicklung in der Zukunft (Ebene 6). Mit den neu gewonnenen Erkenntnissen kann der Patient seine vorhandenen Problemlösungsfertigkeiten differenzierter nutzen und zusammen mit der Entwicklung neuer Ressourcen eine Erweiterung seiner Handlungsmöglichkeiten erreichen. Das Neun-Felder-Modell wurde als ein Handlungsmodell entwickelt (Rieforth, 2006), das sowohl diagnostische Rückschlüsse auf den jeweiligen Stand im therapeutischen Prozess zulässt als auch die Unterstützung für die Entscheidung von angemessenen Interventionen im therapeutischen Handeln ermöglicht und so zur Qualitätsentwicklung des therapeutischen Prozesses beitragen kann. Für den Patienten schafft es einen Rahmen zur Klärung und Entfaltung seiner persönlichen Zielsetzungen, der im therapeutischen Prozess immer wieder neu überprüft werden kann. Dabei stärkt die Möglichkeit, die aktuelle Situation zu reflektieren und sich innerhalb des therapeutischen Prozesses durch Handlungen zu erproben, die eigenen Ressourcen. Da die Reduktion der psychischen Störung und das Streben nach Befriedigung der eigenen persönlichen Bedürfnisse stets die Grundlage einer Psychotherapie für den Patienten ist, stellt die intensive Auseinandersetzung und das Bewusstwerden eigener Bedürfnisse

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

und Wünsche einen wichtigen Fokus dar. Anliegen für therapeutisches Handeln entwickeln sich immer dann, wenn die Erfüllung dieser Bedürfnisse nicht gegeben ist. Mögliche Gründe können unangemessene Überzeugungen, Einstellungen oder Erwartungen an sich selbst oder an andere sein sowie unangemessene Beziehungs- und Umgangsformen, die der Patient im Rahmen seiner Biografie bisher entwickelt hat. Die Ergebnisse aus der Psychotherapieforschung zeigen, dass die Kompetenz der Therapeutin, sich auf die jeweiligen Zielsetzungen des Patienten einstellen zu können, für das Gelingen von Therapieprozessen von großer Bedeutung ist (vgl. Grawe, 2004; Fürstenau, 1999). Diese inhaltliche Fokussierung des Therapieprozesses findet sich in den neuen Ansätzen sowohl des psychodynamischen wie auch des systemischen Verfahrens wieder. Der starke Bezug auf die Zielorientierung des Patienten drückt neben einer allgemeinen Wertschätzung der Person die Vorstellung aus, dass der Patient für die Art der Lösung seiner Probleme der Experte ist; dadurch wird gleichzeitig der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung unterstützt. In diesem Beziehungsrahmen kann sich der Patient seiner bisherigen Überzeugungen und Einstellungen und den dadurch hervorgerufenen Einschränkungen bewusst werden, sie überprüfen und im therapeutischen Prozess überwinden. Das betrifft sowohl die bewussten als auch die für alle Beteiligten unbewussten Handlungen und Reaktionen in der Gegenwart, aber auch aus der Vergangenheit, die sich teilweise über mehrere Generationen erstrecken. Therapeutisches Handeln ist demnach geprägt durch eine Perspektivenvielfalt und Kontextorientierung, die eine psychische Störung einerseits aus einer intrapsychischen und interpersonellen Perspektive, andererseits aus der Perspektive der aktuellen Real- und der Übertragungsbeziehung sowie einer Problem- und Ressourcenperspektive sieht (Wöller u. Kruse, 2010). Dies erfordert von der Therapeutin, nicht nur die störungsauslösenden (pathologischen) Aspekte des Patienten zu erfassen, sondern ebenso präzise die gesundheitsförderlichen (salutogenetischen) Persönlichkeitsanteile und Fähigkeiten zu erkennen und diese als Ressourcen in der Behandlung zu nutzen. Durch die Logik dieser Sowohl-als-auch-Betrachtung können einerseits die wesentlichen gesunderhaltenden, andererseits auch die krank machenden Faktoren im Modell erfasst und dargestellt werden. Dies sichert eine umfassende Perspektive der komplexen Wechselwirkungen zwischen Krankheit und Gesundheit. Diese Dynamik findet im Rahmen des Neun-Felder-Modells Berücksichtigung und wird im Folgenden erläutert.

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Das Neun-Felder-Modell

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6.6.1 Die Bedeutung des Neun-Felder-Modells in der Therapie

Ein Patient, der sich in eine Therapie begibt, erlebt seine Lebenssituation aus seiner Sicht als Problem. Er sucht nach neuen Möglichkeiten, die für ihn problematische Situation zu verändern. Der hinter der Problemsituation stehende Wunsch bzw. sein Interesse an einer Veränderung kann dem Patienten dabei bewusst sein. Dies ist jedoch nicht immer der Fall, obwohl ein vermeintlicher Wunsch nach Veränderung der Situation vorliegen muss, damit die Situation von dem Patienten als problematisch empfunden wird. Erkennt der Patient sein Problem, kann er sich den dahinterstehenden Wunsch nach Veränderung oder ein nicht erfülltes Bedürfnis bewusst machen. Kommt beispielsweise ein Patient niedergeschlagen und lustlos in die Therapie (entsprechend der diagnostischen Kriterien für eine depressive Episode), so sind bei ihm damit unterschiedliche (teilweise nicht bewusste) Wünsche nach Veränderung der Situation bzw. des Erlebens verbunden. Das Bewusstwerden seines Problems dient als Grundlage, sich seiner subjektiv gewünschten Veränderung bewusst zu werden. Je nach Patient drückt sich dies zum Beispiel in dem Wunsch nach mehr Lebensfreude, nach gefühlter Akzeptanz in der Beziehung, sinnhafter Erfüllung im Beruf, mehr freier Zeit für sich oder nach der inneren Erlaubnis für die eigene Weiterentwicklung aus. Der Patient, der das Problem erlebt, ist somit auch der Experte für die von ihm angestrebte Lösung. Die Rolle der Therapeutin besteht daher darin, den Patienten auf diesem Weg zur Lösung zu unterstützen und ihm seine Interdependenz zwischen Problem und Wunsch bewusst zu machen, ohne eine konkrete Richtung für die Veränderung vorzugeben. Nach Fürstenau (2005) erfolgt eine Aufarbeitung seelischer Strukturen nur im Zusammenhang mit den jeweils persönlichen Zielen des Patienten, die im Rahmen einer Zielorientierung bewusst werden. Durch diesen Bezug erhalten die Interventionen der Therapeutin, einschließlich der Erfassung unbewusster Zusammenhänge, einen Sinn für den Patienten. Der Therapeutin kommt somit die Rolle einer Prozessbegleiterin zu, die den Patienten beim Entwickeln seines Gesundungsprozesses unterstützt. Als psychodynamisch-systemische Therapeutin nimmt sie zunächst die Rolle der verstehenden Partnerin durch die Annahme aller affektiven Äußerungen ein, um bei dem Patienten ein Gefühl von Vertrauen und Hoffnung zu entwickeln. Sie hält sich mit inhaltlichen Bestätigungen oder Einschätzungen zurück, zeigt jedoch Interesse an der gegenwärtigen Lebenssituation. Sind im therapeutischen Prozess die für den Patienten bedeutsamen Ziele bewusst geworden, ist die Grundlage für eine effektive Therapiesituation geschaffen und damit die Voraussetzung, den Patienten auf seinem Weg von der als problematisch wahrgenommenen Lebenssituation zu seinen gewünschten Ziel-

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

veränderungen zu unterstützen. Im Rahmen dieser therapeutischen Zielarbeit ist stets darauf zu achten, die Ziele positiv zu formulieren, um die Dynamik der Veränderung und damit die Entwicklung des eigenen Profils zu fördern. Negative Ziele in Form von Situationen oder Verhaltensweisen, die vermieden werden sollen (z. B. »Ich möchte keinen Streit mehr mit meinem Partner« oder »Ich möchte nicht mehr so viel grübeln«), fördern stattdessen die Orientierung auf das, wovon der Patient sich abgrenzen will (vgl. Storch u. Krause, 2007). Weiterhin sollten die Zielthemen so definiert werden, dass sie sinnlich überprüfbar und so für den Patienten und den Therapeuten konkret nachvollziehbar sind. Den entscheidenden Faktor bei der Entwicklung von Zielen stellt die Sicherstellung der Umsetzung der gewünschten Veränderung durch den Patienten dar (selbstständige Erreichbarkeit). Dadurch erlebt sich der Patient wieder als Handelnder in der Situation und nicht weiter in der Rolle als Abhängiger (Opfer) seiner Umstände. Eine Berücksichtigung dieser Kriterien stellt sich für den Therapieprozess als sinnvoll dar, um sowohl die Bedeutung der Ziele für den Patienten als auch ihre Umsetzbarkeit überprüfen zu können. Daran anschließend unterstützt die Therapeutin den Patienten, sich seiner eigenen Ressourcen bewusst zu werden, um neue Handlungsalternativen zu entwickeln und damit den Weg vom Problem zur gewünschten Veränderung zu gestalten. Im therapeutischen Prozess einer psychodynamisch-systemischen Therapie stellt neben der Reflexion der aktuellen Beziehungsdynamik zwischen Therapeutin und Patient der Umgang mit geeigneten Fragen an den Patienten (die Kunst des Fragens) eine wichtige Grundlage für die Anregung neuer Sichtweisen und Zusammenhänge dar. Dies spielt für den am aktuellen Konflikt orientierten therapeutischen Prozess eine bedeutsame Rolle, um die unterschiedlichen Perspektiven angemessen zu berücksichtigen und sie entsprechend auf die vom Patienten geäußerten Ziele zu bündeln (Tomm, 1994; Simon u. Rech-Simon, 2004). Die psychodynamisch-systemische Psychotherapie zeichnet sich somit als konkreter einsichts- und bewusstseinsfördernder Prozess aus mit einem besonderen Fokus auf die Ressourcenidentifizierung und Ressourcenmobilisierung bei dem Patienten. 6.6.2 Die Triade zwischen Problem, Wunsch und Lösung

Ausgehend von der Annahme, dass ein psychisches Problem einen für den Patienten gänzlich bekannten oder zum Teil unbewussten Wunsch beinhaltet, erlaubt die Struktur des Neun-Felder-Modells, das Anliegen des Patienten und seinen Umgang mit dem bestehenden Problem auf den unterschiedlichen Ebenen zu erfassen. Die Möglichkeit, durch die Auswahl der Fragen den Prozess

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Das Neun-Felder-Modell

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bewusst steuern zu können, bietet der Therapeutin eine Basis, die unterschiedlichen Ebenen konkret zu berücksichtigen. Adressiert die Therapeutin die Fragen auf der Ebene des Problems (Problemebene), erhält sie eine differenzierte Rückmeldung des Patienten zum Erleben mit seiner psychischen Störung. Fragen auf der Ebene des Wunsches (Wunschebene) ergeben bedeutsame Rückmeldungen des Patienten zu seiner angestrebten Veränderung und öffnen den Raum für die noch nicht transparenten Wünsche und Bedürfnisse. Fragen auf der Ebene der Ressourcen (Ressourcenebene) ergeben dagegen Erkenntnisse über die Fähigkeiten und Möglichkeiten, die sich der Patient zur Veränderung zuschreibt bzw. zu welchen Veränderungen er aus eigener Initiative bereit ist. Das strategischstrukturierte Fragen stellt einen Teil der engagierten Aktivität der Therapeutin dar. Die Auswahl der Fragen orientiert sich an der impliziten Logik des Modells und ist gleichzeitig abhängig von der aktuellen Situation im Therapieprozess. Die Berücksichtigung der drei Ebenen (Problem, Wunsch, Ressource) erlaubt der Therapeutin während des gesamten Therapieprozesses eine Strukturierung ihrer Gesprächsführung mit dem Ziel, die aktuelle Situation des Patienten zu erfassen (diagnostischer Aspekt) und dabei immer wieder mögliche Veränderungsoptionen (Interventionsaspekt) entstehen zu lassen, die von den Wünschen und Interessen des Patienten getragen sind und die vereinbarten Therapieziele berücksichtigen. Dabei dienen die Fragen zur Anregung des Patienten, um sich gedanklich und gefühlsmäßig mit den eigenen Wünschen auseinanderzusetzen. Es entstehen Gedanken-, Gefühls- und Einsichtsräume, in denen sich die Therapeutin mit dem Patienten bewegen kann, ohne inhaltliche Vorgaben machen zu müssen, aber gleichzeitig die Führung für den therapeutischen Prozess behalten kann. Dem Patienten wird durch diese Vorgehensweise das eigene innere Erleben in seiner problematischen Situation bewusst, und er kann dadurch seine (un-)bewussten Wünsche und Bedürfnisse nach Veränderung erkennen. Der Therapeutin kommt damit die Aufgabe zu, die aktuelle Situation mit dem Patienten im Prozess zu reflektieren und mit Hilfe angemessener Anregungen durch Fragen und weitere psychodynamisch-systemische Interventionen Zusammenhänge und Wechselwirkungen aufzuzeigen. Für die Anwendung des Neun-Felder-Modells ist es ganz entscheidend, dass die Therapeutin nach der Exploration der Problemsituation (Ebene 1) auf die Ebene des Wunsches (Ebene 3) wechselt und dort zunächst die vom Patienten gewünschte Veränderung bewusst macht und durch die Erarbeitung der drei Zeitzonen konkretisiert. Erst im Anschluss bringt sie den Patienten über die Ressourcen (Ebene 2) in Kontakt mit seinen Überlegungen zur Umsetzung seines Wunsches. Dies ist deshalb so wichtig, weil eine Bearbeitung von möglichen Veränderungsschritten ohne eine Klärung der Richtung, in die es gehen

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soll (Ebene 3), nicht zielführend ist und als zusätzliche Belastung erlebt wird. Steht stattdessen für den Patienten fest, was genau sein Wunsch und Bedürfnis ist, wirkt sich dieses Empfinden beim Patienten positiv auf den Veränderungsprozess aus und damit auf seine Bereitschaft, sich dafür einzusetzen. Das folgende Beispiel erläutert dies. Ausgangssituation: Der Patient berichtet von seinen Gefühlsschwankungen und der aktuellen Niedergeschlagenheit in dem letzten halben Jahr, die ihm sowohl in seinem Berufsfeld als auch in der Beziehung sehr zu schaffen machen. Die Therapeutin erfragt das vom Patienten erlebte Problem durch unterschiedliche Fragen zur Problemebene (Ebene 1): – »Wie fühlt sich die Niedergeschlagenheit genau an?« – »Was bedeutet niedergeschlagen für Sie?« – »Wie gehen Sie damit um?« – »Wer oder was ist an Ihrer Niedergeschlagenheit beteiligt?« – »Welche Situationen lösen bei Ihnen die Niedergeschlagenheit besonders stark aus?« – »In welchen Situationen geht es Ihnen gut?«

Fragen dieser Art führen den Patienten zu den von ihm empfundenen Problemen. Durch die Beantwortung intensiviert sich für den Patienten sein Erleben der Probleme mit all den damit verbundenen Affekten und Kognitionen. Wie hier exemplarisch verdeutlicht, findet auf der Problemebene eine Beachtung und Würdigung der Probleme aus einer intrapsychischen, interpersonellen und systemischen Perspektive statt. Die Herausarbeitung der Beziehungsmuster, die mit den Beschwerden und Problemen verbunden sind, erleichtert es dem Patienten, sich vertrauensvoll auf den Prozess einzulassen. Die Berücksichtigung der vom Patienten empfundenen Intensität, Dauer und Unterschiedlichkeit der Problematik sichert den Respekt gegenüber der Selbstorganisation des Patienten und seinem bisherigen Umgang mit den empfundenen Konflikten. Die interessierte Form der Erkundung durch die Therapeutin schafft den Aufbau einer wertschätzenden und hoffnungsvollen Beziehung im Rahmen des therapeutischen Prozesses. Gleichzeitig wird durch die Erarbeitung der konflikthaften Zusammenhänge der Weg zu den vom Patienten gewünschten Veränderungen vorbereitet, indem das erlebte Problem ausdrücklich im Therapieprozess genutzt wird, um den Beziehungsaufbau zu gewährleisten und aus dem Problemerleben heraus den Unterschied für die gewünschten Veränderungen ableiten zu können. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich von einem allein lösungsorientierten systemischen Zugang, wie er in der Kurzzeittherapie zum

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Einsatz kommt (vgl. de Shazer, 2006). Die Darstellung des Problems bietet aus psychodynamisch-systemischer Sicht die Voraussetzung für das Erkennen und Empfinden der nicht erfüllten eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Gleichzeitig fühlt sich der Patient in seinem Konflikterleben respektvoll begegnet und in seiner subjektiven Wahrnehmung verstanden. Entscheidend dabei ist, dass die Intervention nicht dem Problem allein dient, sondern vor allem der Entwicklung und Bewusstmachung des dahinterliegenden Wunsches. Erst wenn dieser entwickelt werden konnte, ist die Richtung auf die im konkreten Alltag mögliche Lösung erkennbar. Problem und Wunsch sind miteinander verbunden und weisen gemeinsam im Sinne des zu erreichenden Ziels auf die Lösungsvarianten hin. Im nächsten Schritt entwickelt der Patient mit Hilfe anregender Fragen durch die Therapeutin sinnlich-konkrete Vorstellungen über die von ihm gewünschten Veränderungen (Ebene 3). Der Fokus auf die Vorstellungen und Fantasien des Patienten bei Erfüllung seiner Wünsche und Bedürfnisse ist von großer Bedeutung für den therapeutischen Prozess. Die intensive Beschäftigung mit den inneren Bildern, Affekten und Einstellungen ermöglicht dem Patienten, ein Bild von der gewünschten Situation in sich zu erzeugen. Da dies in der Wirkung analog einer konkreten Zielerreichung erlebt wird, können so motivierende und sinnstützende Wirkungen beim Patienten ausgelöst werden. Die Bewusstmachung der eigenen Wünsche fördert die Einsicht in die aktuelle Problemsituation und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Gleichzeitig kann sich im Sinne des So-tun-als-ob ein neues Erleben beim Patienten entwickeln, das sich positiv und sinnvoll anfühlt und die Bereitschaft steigert, sich für den Veränderungsprozess mit seinen Möglichkeiten einzusetzen. So kann im Rahmen des Neun-Felder-Modells durch die Vorstellung der Wünsche und Interessen aus der Vergangenheit und der gedachten Zukunft die für den Patienten gefühlte Bedeutung (Qualität) des Wunsches genutzt werden. Gelingt es auf der Wunschebene, über das Feld des Wunsches in der Vergangenheit den Patienten mit früheren Situationen in Kontakt zu bringen, in denen er die von ihm aktuell gewünschte Veränderung bereits erlebt hatte (z. B. freudige, lebensfrohe Momente mit gutem Kontakt zu sich und anderen), kann diese Erinnerung für den Patienten die Wichtigkeit seines Wunsches unterstreichen. Je konkreter die Therapeutin über bereits erlebte Situationen nachfragt und sich diese schildern lässt, umso mehr spürt der Patient, welche Empfindungen er damit verbindet und wie bedeutsam für ihn ein Wiedererleben wäre. Die intensive und bewusste Befragung nach seinen inneren Bedeutungsprozessen stärkt den Patienten in seinem intrapsychischen Erleben, und er kann sich so seines Wunsches in der aktuellen Situation sicherer werden. Um die Bedeutung seines Wunsches in der Zukunft zu erkunden, wird der Patient danach befragt,

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was er glaube, wie es für ihn in der Zukunft sein werde bei der Vorstellung, dass der Wunsch nach Veränderung sich erfüllt hätte. Auf diese Weise lässt sich die Bedeutung des Wunsches des Patienten in der Gegenwart mit Unterstützung seiner Erfahrungen aus der Vergangenheit und der vorgestellten Zukunft intrapsychisch und interpersonell bewusst machen. Der Fokus auf das Bewusstwerden von Wunsch und Bedürfnis entspricht einem psychodynamisch-systemischen Grundverständnis, in welchem die Dynamik zwischen Wunsch-, Handlungs- und Ressourcenaspekt im Mittelpunkt steht. Durch diesen Zusammenhang hat der Autor das Modell zwischenzeitlich weiterentwickelt und dabei die früher als Lösungsebene definierte Ebene 3 (Kuhlmann u. Rieforth, 2004, 2006) als Ebene des Wunsches bzw. des Bedürfnisses spezifiziert. Die Zielorientierung im Rahmen des Therapieprozesses ist nicht mit einer Lösungsorientierung gleichzusetzen. Von besonderer Bedeutung ist stattdessen, zunächst alle Wünsche und Bedürfnisse zu erfassen, unabhängig von einer realistischen Umsetzung. Das Verstehen der Verbindung zwischen erlebtem Problem (Symptom) und dem dahinterliegenden Bedürfnis (Wunsch) erlaubt dem Patienten, ohne eine Reduktion auf rein realistische Größen sich bewusst zu werden, was für ihn wirklich bedeutsam ist. So kann sich mehr Bewusstheit in die Zusammenhänge der Störung und der damit verbundenen Veränderungen im sozialen Kontext entwickeln, um die aktuelle Situation besser integrieren oder respektieren zu können. Eine Lösung im Sinne eines konkreten pragmatischen Umgangs mit der Veränderung würde in diesem Fall zu kurz greifen. Zurück zum obigen Beispiel: Nachdem der Patient von seinen Gefühlsschwankungen und der aktuellen Niedergeschlagenheit in dem letzten halben Jahr berichtet hat, die ihm sowohl in seinem Berufsfeld als auch in der Beziehung sehr zu schaffen machen, erfragt die Therapeutin die vom Patienten erwünschte Veränderung durch unterschiedliche Fragen auf der Bedürfnis-/Wunschebene (Ebene 3): – »Was würden Sie sich anders wünschen, was sollte Ihrer Meinung nach anders sein?« – »Was ist Ihr Bedürfnis/Wunsch in Ihrer aktuellen Lebenssituation?« – »Was wäre für Sie konkret anders, wenn Sie sich wieder fröhlich fühlen würden?« – »Was für eine Veränderung wünschen Sie sich?« – »Angenommen, Sie fühlten sich morgen besser, woran würden Sie dies merken?« – »Wer würde sich noch darüber freuen, wenn es Ihnen besser ginge?«

Auf dieser Ebene unterstützen die Fragen der Therapeutin bei dem Patienten eine Intensivierung des Erlebens im Sinne der gewünschten Veränderung. Ana-

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log zur Mentalisierung bilden die unterschiedlichen Fragetechniken die Grundlage für die Bewusstmachung der gefühlten Bedeutung der Interessen, Wünsche und Bedürfnisse des Patienten. Oft steigt in dieser Situation die Ambivalenz bei dem Patienten zwischen dem Spüren des Wunsches und der gefühlten inneren Erlaubnis. Bei den meisten Patienten ruft eine Fokussierung auf die Interessen und Bedürfnisse zunächst eine deutlich wahrnehmbare Reaktion hervor, indem die Stimme lauter und klarer und die Körperhaltung gespannter wird. Oft folgt auf diese Reaktion allerdings das innere Verbot, diese Wünsche fühlen zu dürfen, sodass die Patienten abermals auf die Ebene des aktuellen Problems gelangen. Mit Hilfe des Neun-Felder-Modells kann die Therapeutin diesen Schritt leicht erkennen und ihrerseits durch neue gezielte Fragen zu den Wünschen und Bedürfnissen den Patienten in den Veränderungsbereich bewegen. Findet dort abermals eine ganzkörperliche Reaktion statt und spürt die Therapeutin, dass der Patient mit den für ihn sinnvollen Themen in einem engen Kontakt ist, kann sie dies als Motivation für den Einsatz zur Veränderung nutzen. Gelingt es der Therapeutin durch gezielte Fragen, den Patienten immer wieder aktiv auf die Ebene 3 zu führen, so entwickelt sich bei diesem eine wachsende Bereitschaft, sich für eine Veränderung einzusetzen. Diese reflektierende Form des Fragens unterstützt eine wertschätzende respektvolle Beziehungsgestaltung zwischen Therapeutin und Patient und dient als Grundlage für die Bearbeitung der auftauchenden Ambivalenzen. Aus psychodynamisch-systemischer Sicht kommt der Bearbeitung von Ambivalenz-Prozessen bei der Entscheidung, auf der Störungsebene zu bleiben oder die Entwicklung sinnvoller neuer Alternativen zu erlauben, eine besondere Bedeutung zu. Gelingt diese Form der Ambivalenz-Bearbeitung im Therapieverlauf, werden die Ressourcen des Patienten gesteigert. Um dies nutzen zu können, ist es Aufgabe der Therapeutin, durch gezielte Fragen zu der Ressourcenebene (Ebene 2) die individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen des Patienten zu aktivieren. Dadurch werden vorhandene Handlungsoptionen erkennbar, und die innere Bereitschaft des Patienten, an diesem Veränderungsprozess mitzuarbeiten, wird deutlich. In der Anwendung der Ressourcen bekommen die entwickelten Wünsche und Interessen eine machbare Größe. Damit stellt das therapeutische Ziel eine realistische Form des Wunsches dar (Rieforth, 2012). Das Feld Ressourcen in der Vergangenheit bietet dem Patienten eine besondere Möglichkeit, sich seiner eigenen Qualitäten bewusst zu werden. Sowohl im Sinne des Erlebens als auch speziell im Sinne des eigenen erfolgreichen Handelns kann er sich mit diesen Situationen aus der Vergangenheit identifizieren. Die Reflexion von Ereignissen auf der Ebene des eigenen Erlebens und Gestaltens von Ereignissen führt dem Patienten die eigene Handhabbarkeit (Kohä-

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renzfaktor) vor Augen und steigert seinen Selbstwert. Im Sinne des Wiedererlebens sowie der Erinnerung an das eigene Tun und erfolgreiche Handeln bieten diese Situationen Potenzial für die vom Patienten gewünschte Entwicklung. Zur Illustration sei noch einmal das Beispiel angeführt, in dem der Patient sich niedergeschlagen fühlt: Nach Darstellung seines Problems (Ebene 1) und der Bewusstmachung seines dahinterliegenden Bedürfnisses und Wunsches nach Veränderung (Ebene 3) fragt die Therapeutin im nächsten Schritt den Patienten nach eigenen Ideen und Möglichkeiten (Ebene 2), sich für die gewünschte Veränderung einzusetzen. Mögliche Fragen für die Ressourcenebene (Ebene 2) könnten sein: – »Was können (wollen/werden) Sie tun, um die gewünschte Veränderung zu ermöglichen?« – »Was bräuchten Sie, um diese Veränderung zu erreichen?« – »Was wäre Ihrer Meinung nach hilfreich, damit Ihre Bedürfnisse berücksichtigt würden – und was können Sie dafür tun?« – »Was wollen Sie im therapeutischen Prozess entwickeln, um das für Sie bedeutsame Ziel zu erreichen?« – »Wer könnte Sie bei Ihrem Zielvorhaben unterstützen und wie könnten Sie diese Unterstützung erhalten?« – »Wie sind Sie in früheren Situationen damit umgegangen und wie könnten Sie diese Kompetenzen auch heute zur Zielerreichung nutzen?«

Die Bedeutung dieses Modells liegt nicht in erster Linie in der richtigen Abfolge der einzelnen Schritte, sondern in der Vorstellung, dass durch die Verbindung zwischen der aktuellen Problemsituation, den damit verbundenen (abgewehrten) Bedürfnissen und Wünschen und dem Aufbau eigener Möglichkeiten, damit auf eine neue Weise umzugehen, für den Patienten ein therapeutischer Rahmen entwickelt werden kann, in dem Veränderungen für ihn möglich sind. Da Therapiesitzungen nie linear in einzelnen Schritten ablaufen, sondern in einem koevolutiven Prozess zwischen Patient (Patientensystem) und Therapeutin, der nur begrenzt vorhersehbar ist, bietet dieses Modell vor allem einen allgemeinen Rahmen. In diesem Rahmen unterstützt die Therapeutin mit ihren interaktiven Interventionen den Patienten darin, immer wieder seine Problemsituation zu schildern, und fördert dabei gleichzeitig sein subjektives Erleben, um sich seiner Wünsche und Bedürfnisse bewusst zu werden. Dadurch kann der Patient die Motivation schöpfen, die notwendig ist, um neue Ressourcen zum Umgang mit der von ihm empfundenen problematischen Situation zu entwickeln.

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Die einzelnen Felder des Modells ermöglichen der Therapeutin, sich im therapeutischen Prozess jederzeit bewusst zu machen, auf welcher Ebene und in welcher Zeitzone sich der Patient gerade befindet. Durch entsprechende Fragen kann sie den Prozess in dem Feld verstärken, in dem der Patient sich gerade befindet, zum Beispiel, um die positiven Erfahrungen mit der gewünschten Veränderung aus der Vergangenheit (Feld: Wunsch/Vergangenheit) zu aktivieren oder durch Fragen oder alternative Interventionen den Patienten mit seinem Wunsch bzw. seinem Bedürfnis in Kontakt zu bringen, wenn er auf die Problemebene zurückgeht und das therapeutische Ziel dabei in den Hintergrund zu geraten droht. Durch die Orientierung an dem Modell lässt sich im Therapieprozess eine Reihe neuer und angemessener Ideen entwickeln, die den Patienten darin unterstützen, das von ihm gewünschte Ziel zu erreichen. Dabei geht es nicht zwingend um konkrete Verhaltensänderungen, sondern auch – und in vielen Fällen ganz besonders – um das Entwickeln von neuen Einsichten und das Bewusstwerden von Zusammenhängen, um sowohl das eigene Verhalten als auch das Verhalten anderer zu verstehen. Daraus ergibt sich fast unwillkürlich die eine oder andere neue Handlungsweise, die im konkreten Alltag integriert wird. 6.6.3 Zusammenfassung

Das Neun-Felder-Modell ermöglicht der Therapeutin, die Reihenfolge der Fragen auf das erlebte Problem und die gewünschten Ziele des Patienten zu beziehen. Fällt es dem Patienten schwer, Bedürfnisse und Ziele für sich zu benennen oder Ressourcen für die Veränderung zu finden, so kann durch entsprechendes kreativ-behutsames Fragen in dem spezifischen Feld dieser Prozess aktiviert werden. So verstanden stellt sich das Neun-Felder-Modell wie eine Landkarte dar, um sich in komplexen therapeutischen Prozessen zurechtzufinden. Es gibt Hinweise darauf, auf welcher Ebene sich der Patient in seinem Veränderungsprozess befindet, sodass die Therapeutin ihn individuell unterstützen kann. Darüber hinaus hilft das Modell der Therapeutin, bei der Interventionsplanung durch klare Fragen die intendierte Richtung (Diagnose- und Interventionsplanung) einzuschlagen. Der Therapieprozess entspricht daher im Sinne einer umfassenden Behandlungskonzeption den folgenden psychodynamisch-systemischen Grundideen: – Klärung und Entfaltung der persönlichen Zielsetzungen (Problem- und Wunschraum) bei gleichzeitiger Identifizierung der bisherigen Übertragungsmuster – Förderung der schrittweisen Erprobung möglicher Lösungen durch Handlungen – Neubewertung gängiger Erlebensmuster (Ressourcenraum).

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

In Anlehnung an die Grundlagen psychodynamisch-systemischer Therapie verfolgt ein Therapieprozess die Absicht, bei dem Patienten Bedingungen zu schaffen, die es ihm ermöglichen, das Bisherige – durch ihn selbst Konstruierte – neu empfinden und gestalten zu können. Im Prozess der Therapie soll der Patient sich der eigenen Wahlmöglichkeiten bewusst werden und so die eigenen Handlungsalternativen erweitern. Grundlage jeder Therapie ist stets der Respekt vor den Potenzialen des Patienten, was sich in der Beziehungsgestaltung und Behandlungsführung niederschlägt. In diesem Sinne eignet sich das Neun-Felder-Modell in besonderer Weise zur Anregung des Patienten, sich seiner Situation auf den unterschiedlichen Ebenen (Problem, Wunsch, Ressource) bewusst zu werden, da durch die Gestaltung der Fragen und die direkte Umsetzung durch den Patienten ein intensiver Bewusstseinsprozess in Gang kommt, der je nach dem aktuellen und dem aktualisierten Konflikt und dem entsprechenden Ziel unterschiedlich bearbeitet werden kann. Während in den eher lösungs- oder rein verhaltensorientierten Settings in der Regel die Ebene der konkreten Umsetzung und der Lösung von Konflikten auf der pragmatischen Ebene im Vordergrund steht, kann innerhalb des Neun-Felder-Modells durch die gezielte Frage- und Beziehungstechnik der Therapeutin der Fokus entsprechend verändert werden. Das Modell lässt dem Patienten die Freiheit, angeregt durch die Fragen und Interventionen der Therapeutin, sich entsprechend der eigenen Motivation auf den neuen Such-, Empfindungs- und Denkprozess einzulassen. Die Therapeutin bekommt ihrerseits eine direkte Rückmeldung über die eigene Intervention und ihre Wirkungen auf den Therapieprozess. 6.7 Aspekte einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie Bei der Behandlung psychischer Störungen sind stets unterschiedliche Ebenen und Perspektiven zu berücksichtigen. Je nach Art des psychischen Konflikts und den Auswirkungen auf die persönliche Struktur des Patienten kommen unterschiedliche Ansätze zum Tragen, und es ist die Aufgabe der Therapeutin, mit Hilfe einer psychodynamisch-systemischen Hypothese eine Einschätzung über die Form der Störung und die möglichen Behandlungsschritte zu entwickeln. So stellt sich bei Störungsmustern, deren Ausgangsbasis in biografisch frühen Belastungssituationen angenommen wird, nach dem Modell der Entwicklungspathologie (frühe Störung) die Frage nach dem Umfang der tragenden und vertrauensgebenden Beziehungen als Grundlage für den Umgang mit Nähe und Distanz sowie der Entwicklung von Selbstständigkeit und Verbundenheit (Bin-

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dungsperspektive). Liegen nur wenige sichere Bindungserfahrungen vor und stattdessen Ansammlungen ambivalenter oder vermeidender Beziehungsformen, repräsentiert sich dies nicht nur in sprachlichen, sondern auch in körperlichen Ausdrucksformen. Je nach Ausprägung des Strukturniveaus besteht bei dem Patienten ein Unterschied in der Betrachtung einer Krisensituation. Patienten mit einem geringen Strukturniveau fehlt häufig die Möglichkeit, einen Konflikt auf die Situation zu begrenzen und ihn in seiner Intensität mit seinen Abstufungen wahrzunehmen. Tritt ein Konflikt auf, bedeutet das folglich für den Patienten eine Problematik »auf ganzer Linie«, die es schon immer gab und auch immer geben wird. Er erlebt somit eine eigentlich harmlose Krisensituation nicht als Konflikt in der Beziehung, sondern als Problem mit der Beziehung. In dieser Situation steht mit Hilfe der vertrauensvoll kommunikativen therapeutischen Beziehung vor allem die Entwicklung und Stabilisierung von Selbstkohärenz, Selbstabgrenzung und Selbststeuerung im Vordergrund (Rudolf, 2006). Die Berücksichtigung des Beziehungsraumes und der Beziehungskontakte findet sich auch in dem systemischen Therapieverfahren wieder. Die fokussierte Berücksichtigung des psychosozialen Kontextes mit den sich daraus ergebenden Wechselwirkungen ermöglicht vor allem über die transgenerationale Bearbeitung neue Einsichten und ein Verständnis sowohl für die eigene als auch die Situation der Mitbeteiligten (vgl. Kapitel 6.9.3, Fallbeispiel 8). Dies macht eine Neubedeutung von Verhalten, Umgang und Auswirkungen auf den Patienten und weitere Beteiligte möglich. Mit Hilfe psychodynamisch-systemischer Hypothesen und eines heuristischen Wirklichkeitsverständnisses gelingt eine neue Positionierung auf intrapsychischer, interpersoneller und systemischer Ebene. Aus der heutigen Sicht der Psychotherapieforschung und der Erkenntnisse der Bindungsforschung bedeutet ein sicherer Bindungsprozess die Grundlage, um bei Konflikten mit der eigenen Person (intrapsychisch) oder bei Konflikten mit einer anderen Person (oder anderen Personen; interpersonell) die notwendige Kränkungstoleranz zu entwickeln und eine differenzierte Affektwahrnehmung zu etablieren. Gelingt dies nicht und entwickelt die Person stattdessen Ärger über sich selbst oder über andere, kann dies zu Widerstandsphänomenen führen, die eine gesundheitsförderliche Entwicklung gefährden. In diesem Fall sinkt das Selbstwertgefühl und die Akzeptanz gegenüber der eigenen Person. Auch das Verhalten anderer Personen wird abgewertet. So entsteht eine Problemschleife, die sich bis zu dem Ausmaß einer psychischen Störung entwickeln kann. In dieser konflikthaften Situation stehen häufig nur unreife Abwehrformen zur Verfügung, da eine hinreichende Selbst-Objekt-Differenzierung fehlt (Brisch, 2011; Wöller u. Kruse, 2010).

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Aus Sicht des systemischen Selbstorganisationsmodells (Schiepek et al., 2013) ist es bedeutsam, nicht automatisch zu erwarten, dass sich alle Personen mit schwierigen Bindungserfahrungen zwangsläufig in dieser Art und Weise verhalten. Stattdessen ist eine Reihe von Personen trotz intensiver Risikofaktoren in der Lage, dies im späteren Leben zu kompensieren. Das Phänomen der Resilienz zeigt eindrücklich, dass letztlich jede Person auf individuelle Weise die erlebten Erfahrungen aus der eigenen Geschichte individuell verarbeitet. Die Bewertung der problematischen Situationen von außen reicht allein nicht aus, um das Verhalten von Personen vorherzusagen. Kommt es in der aktuellen Situation zu einem Konflikt, der nicht mehr bewältigt werden kann, müssen alle Faktoren im therapeutischen Prozess entsprechend Berücksichtigung finden. Innerhalb dieses Prozesses spielt eine respektvolle und individuelle Erfassung der erlebten Wirklichkeit des Patienten eine zentrale Rolle, damit dieser sich der entscheidenden Faktoren bewusst werden kann und auf diese Weise Motivation für ein verändertes Vorgehen entwickelt. Gelingt es dem Patienten dann, die Steuerung wieder selbst in die Hand zu nehmen, entwickelt sich in der Folge ein stabiles Selbstwertgefühl, das sich durch die positiven Erfahrungen und gegebenenfalls Feedback aus dem sozialen Umfeld weiter verstärkt. Die Bearbeitung der Konfliktthemen mit Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen des Patienten erfordert ein breites Interventionsspektrum für die Therapeutin, damit sich der Patient durch neue Perspektiven die Bedeutung des Konflikts für seine aktuelle Lebenssituation bewusst machen kann. Dieser Prozess schließt in einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie die erlebte Problematik in der Vergangenheit ein und erachtet das Empfinden, die Wahrnehmung und die Handlung von damals als bedeutsam. Gerade durch das Wahrnehmen des Kontrastes der Situation von damals (Problemerleben) und der heutigen Lebenssituation kann durch eine affektive Bearbeitung im therapeutischen Prozess eine Integration erreicht werden. Das Verstehen im Zusammenhang von heute und damals sowie zwischen der eigenen Person und den noch am Konflikt Beteiligten ermöglicht dem Patienten einen Zugang zu der eigenen inneren Situation und die Entwicklung neuer Bewältigungsoptionen. 6.7.1 Spezifische Aspekte der Wirklichkeitskonstruktion innerhalb des therapeutischen Geschehens

Die aktuelle Lebenssituation des Patienten ist immer als Folge unterschiedlicher vorangegangener Prozesse im Zusammenhang mit äußeren und inneren Bedingungen zu verstehen. Zunächst versucht der Patient seine äußere Realität nach dem Muster seiner inneren Objektbeziehungen zu organisieren. Je nach Reifegrad der Ich-Funktionen stehen mehr oder weniger »reife« Abwehr- und

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Copingmechanismen zur Verfügung. Abwehrleistungen dienen der affektiven Spannungsreduktion, schützen das Ich vor der Dekompensation und wirken einer Unsicherheit der Identität bis hin zu deren Verlust im sozialen Kontext entgegen. Im Zusammenhang mit einer schweren vitalen Bedrohung (Traumata), die keine angemessene Bewältigung im Sinne einer reifen Adaption zulässt, kann es zum Einsatz von unreifen Bewältigungsformen wie zum Beispiel massive Verleugnung, Selbstgefährdung oder starke Affektisolierung (reduziertes Gefühlsempfinden) kommen, um eine relative innerpsychische Balance zu erhalten, die die psychische Störung aufrechterhält bzw. verstärkt. Alle Formen der Abwehrmechanismen erfüllen den Sinn, die dahinterliegende und den Patienten quälende Grundproblematik erträglicher zu machen. Daher achtet die Therapeutin im Rahmen einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie im Besonderen auf die natürliche Ambivalenz des Patienten, einerseits die Muster des Abwehrverhaltens aufrechtzuerhalten und andererseits neue Verhaltensmuster zu etablieren, um die maladaptive Symptomatik aufzulösen. Die sich dadurch ergebenden Suchprozesse führen teilweise zu unbewussten Widerständen, wenn der Patient sich mit den im therapeutischen Ziel enthaltenen Veränderungen überfordert fühlt. Wie schon dargestellt, handelt es sich bei dem Widerstandsphänomen nicht um eine bewusste Absicht des Patienten, die Mitarbeit zu verweigern oder sich gegen die Therapeutin zu wenden. Widerstand stellt also nicht die Verhinderung des Therapieerfolgs oder einen Kampf gegen die Therapie dar, vielmehr versucht der Patient in spezifischen Situationen wie auch im Alltag Affekte und schmerzliche Situationen zu vermeiden. Deshalb obliegt es der Therapeutin, immer wieder einfühlend auf die wichtigen Themen zurückzukommen. Greenson (1981) vertrat die Idee: »Bewegt der Patient sich auf Bedeutsames zu, sollte man ihn lassen, bewegt er sich davon weg, sollte man eingreifen«. Um diese subjektiven und den Patienten beängstigenden Gefühlsreaktionen besprechbar zu machen, ist eine besondere Form von therapeutischer Beziehungsqualität erforderlich. Gelingt es der Therapeutin, zu verstehen und sich empathisch in die Lage einzufühlen, dass Patienten in bestimmten Situationen unangenehme Affekte vermeiden und vom bedeutsamen Konflikt ablenken, ist dies eine wichtige Grundlage für den Umgang mit dem Widerstandsphänomen. Widerstand im therapeutischen Prozess stellt immer ein interpersonelles Phänomen dar und hat dadurch einen beziehungsregulierenden Einfluss. Der Widerstand richtet sich stets auf das Therapieziel sowie auf den Weg dorthin mit all seinen schwierigen Herausforderungen und gilt nicht der Therapeutin (vgl. Abbildung 3, S. 84). Die Analyse der Widerstandsphänomene schließt alle Verhaltensweisen des Patienten mit ein, da sie sich aus den jeweiligen Zielprozessen ergeben. Geht

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man beim psychotherapeutischen Prozess von einem interaktionellen Geschehen aus, so entsteht für die Therapeutin eine Vielzahl von Möglichkeiten, mit den Widerständen des Patienten umzugehen. Aufgrund der dargestellten Zusammenhänge handelt es sich beim Widerstand nicht allein um eine Einstellung oder ein Verhalten des Patienten, sondern um ein interaktionelles Phänomen, das es zu ergründen gilt. Um die Widerstandsphänomene so gering wie möglich zu halten, ist auf die Etablierung einer wertschätzenden und vertrauensvollen Arbeitsatmosphäre zu achten, die das Auftreten von Widerstandsphänomenen weniger wahrscheinlich macht. Dies kann auch in Form einer angemessenen Mitteilung der therapeutischen Gegenübertragungsgefühle sowie der gemeinsamen Betrachtung der gerade konkret auftretenden Übertragungsphänomene stattfinden. Im Rahmen einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie gibt es vielfältige Möglichkeiten, den Patienten mit den therapeutisch bedeutsamen Themen in Kontakt zu bringen. Neben den bereits genannten kann es im Einzelfall sinnvoll sein, den Patienten mit seinen Widerstandsphänomenen zu konfrontieren oder den Patienten anzuregen, die Situation aus einer anderen Perspektive im Sinne des So-tun-als-ob oder einer Kontexterweiterung zu betrachten. Interventionsformen, die den Patienten unterstützen, seine eigenen Antworten zu seinem Widerstandserleben zu finden, bieten die Möglichkeit, seine Selbstbestimmung zu stärken und den therapeutischen Prozess darüber wieder zu aktivieren. Aus dem systemischen Therapieverfahren sind unterschiedliche Fragetechniken bekannt, die sich auch für den Umgang mit unbewussten Widerstandsphänomenen eignen. Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass gerade in der systemischen Psychotherapie mit der Deutung unbewusster Widerstände durch systemische bzw. humorvolle Fragen gearbeitet wird. Dies geschieht beispielsweise, wenn durch wertschätzend gemeinte respektlose Fragen der Patient verstört oder durch eine humorvolle Verschlimmerungsfrage die Aktivität des Patienten angeregt werden soll. Entscheidend dabei ist, dass die Therapeutin wahrnimmt und reflektiert, ob die von ihr gewählte Interventionsform für den Patienten angemessen ist und der Patient darüber einen Zugang zu den als bedrohlich erlebten Affekten findet. Das Ausmaß der Angst, das bei der Widerstandsanalyse ausgelöst wird, ist eng daran gekoppelt, wie weit die aktuellen sozialen Beziehungen durch die freiwerdenden Emotionen betroffen sind. Können belastende Konflikte, Enttäuschungen und Ängste in ihrer Entstehungsgeschichte eindeutig der Vergangenheit zugeordnet und verstanden werden, verlieren sie oft ihren Schrecken. Eine gute Einbindung in ein soziales Netzwerk wirkt sich

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auch angstreduzierend aus, soweit der Patient nicht in negativer Abhängigkeit zu wichtigen Personen steht (Angstmobilisation bei der Widerstandsanalyse). Jede zwischenmenschliche Beziehung wird durch Gefühle, Gedanken, Erwartungen und Verhaltensweisen beherrscht, die nicht allein aus der aktuellen interpersonellen Interaktion erklärbar sind, sondern nur mit den ergänzten Wiederholungen früher Beziehungsformen verstehbar werden. Diese teilen sich durch die starke Aktivierung von Vorstellungen signifikanter Beziehungen aus der Vergangenheit in einen kognitionspsychologisch unbewussten Aspekt der sozialen Kognition und eine zum großen Teil dem prozeduralen Gedächtnis angehörende Grunderwartung, die sich auf aktuelle Beziehungen richtet. Edelmann und Tononi (1990) sprechen hier von erinnerter Gegenwart. Aus psychodynamisch-systemischer Sicht ist es wichtig, nicht von einer unangemessenen Wahrnehmung im Sinne einer Verwechslung von Gegenwart und Vergangenheit zu sprechen (vgl. Greenson, 1981), sondern die Betonung auf die im interpersonellen Feld gemeinsam konstruierte Realität zu legen. Jede Realbeziehung enthält auch Übertragungselemente und jede Übertragung wird durch Aspekte der Realität der Therapeutin ausgelöst. Daher ist eine konkrete Unterscheidung zwischen Übertragungsbeziehung und Realbeziehung nicht möglich, sodass heute von einer gemeinsamen Übertragungs-Gegenübertragungs-Inszenierung gesprochen wird (Strupp u. Binder, 1991). Da in einem Mehrpersonensetting (Familie, Paar etc.) durch die Anwesenheit mehrerer Personen eine vielfältige Form des Austausches möglich ist und dadurch die Bearbeitung der Beziehungsmuster auch zwischen den therapeutischen Sitzungen besonders angeregt wird, hat es sich hier als sinnvoll herausgestellt, die Zeitabstände zwischen den Sitzungen zu vergrößern. Eine systemische Therapie im Einzelsetting verfügt nicht über diese Möglichkeiten, und auch wenn durch zirkuläre Fragen der soziale Kontext eine größere Rolle einnehmen kann, kommen die Antworten vom Patienten selbst, ohne aktive Teilnahme der anderen Mitglieder des Systems. Kürzere Abstände zwischen den einzelnen Sitzungen können den Veränderungsprozess dadurch intensivieren und beschleunigen, um die Gefahr eines Rückfalls in alte Muster zu vermeiden. Durch die Nutzung von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen kann individuell die Entstehung der Übertragungsphänomene beleuchtet werden. Hier ergibt sich die Fragestellung, wodurch diese Prozesse ausgelöst wurden und welche Rolle dabei die Wahrnehmungen aus der Realbeziehung oder auch die bei der Therapeutin bewusst oder unbewusst entstandenen Gegenübertragungsprozesse spielen (vgl. Abbildung 7, S. 143). Zur Reflexion dieser Gegenübertragungsgefühle tragen für die Therapeutin Supervisionssitzungen bei, in denen das persönliche Empfinden der Therapeu-

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tin während der therapeutischen Sitzung transparent und dadurch verstanden werden kann. Auch die Gegenübertragungen des Patienten sind mitentscheidend für das Übertragungsgeschehen. Die interaktionellen Prozesse wirken stets zirkulär-kausal und sind nicht auf lineare Abläufe reduzierbar. Ebenso beeinflussen subtile pejorative Kommunikationen seitens der Therapeutin die Therapieergebnisse nachhaltig (Wöller u. Kruse, 2010, S. 162). Eine psychodynamisch-systemische Therapie ermöglicht die Bearbeitung aller Affekte und Emotionen als Grundlage für die Unmittelbarkeit des subjektiven Erlebens, wie sie für therapeutische Veränderungen unverzichtbar sind. Im Rahmen eines wohlwollenden klärenden, konfrontierenden und deutenden Umgangs mit diesen Phänomenen ergibt sich die Grundlage für eine affektive Einsicht und gleichzeitig eine neue positive Beziehungserfahrung. Gelingt es, den Konflikt und den zugehörigen Affekt zu benennen, entwickelt sich beim Patienten eine neue Einsicht und die therapeutische Beziehung festigt sich. Unbewusste Konflikte werden in der Psychodynamischen Psychotherapie in Kernkonflikte sowie davon abgeleitete Konflikte oder Fokalkonflikte unterteilt, mit der Idee, dass es sich dabei um Abkömmlinge der unbewussten, meist in der Kindheit angelegten Kernkonflikte handelt. Dabei wandelt das Gegenwarts-Unbewusste die infantilen Kernkonflikte in abgeleitete Konflikte um. Durch Bewusstwerdung und Einsicht in das Gegenwarts-Unbewusste (Sandler u. Sandler, 1984) können Einstellungen des früheren Unbewussten so verändert werden, dass sie im aktuellen Kontext des Patienten angemessen sind. Affekte, und hier insbesondere Ängste, Schuld- und Schamgefühle, sind Wegweiser für die bewussten und unbewussten Konflikte. Sie zeigen signalhaft das Auftauchen bedrohlicher, das Sicherheitsgefühl gefährdender Wünsche und Impulse. 6.7.2 Biografische Zuschreibungen und genografische Analysen: Der sinnvolle Umgang mit der Wirklichkeit des Patienten

Im therapeutischen Prozess kommt es zu einer selbstorganisierten, nur zum Teil vorhersehbaren Entwicklung von neuen Erkenntnissen über die psychische Störung sowie deren Verlaufsgeschichte und den damit verbundenen sozialen Kontext. Diese Erkenntnisse finden unablässig sowohl beim Patienten als auch bei der Therapeutin statt. Die Aufgabe der Therapeutin besteht in besonderer Weise darin, möglichst viele Interventionsformen zu nutzen, die dem Patienten einen aktiven Umgang mit den bedeutsamen Themen ermöglichen. Während eine einseitig durch die Therapeutin festgelegte biografische Zuschreibung sie gegenüber dem Patienten in eine Expertenposition in Bezug auf die Geschichte des Patienten bringt, wird durch eine genografische Arbeit wie auch durch vertiefende Frageformen der Patient zum Experten seiner eige-

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Aspekte einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie

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nen Geschichte gemacht. Dies unterstützt seine Motivation, sich mit seiner psychischen Störung und den damit verbundenen Besonderheiten, Widersprüchen, Begrenzungen, aktuellen und biografischen Konflikten und auch den Ressourcen auseinanderzusetzen. Für die biografische Arbeit kommt der Genogrammanalyse in der psychodynamisch-systemischen Vorgehensweise ein hoher Stellenwert zu (McGoldrick u. Gerson, 1990; Hildenbrand, 2011a). Eine psychodynamisch-systemische Therapie intensiviert die eigene Beteiligung des Patienten in einem sicheren Rahmen. Durch unterschiedliche Interventionsformen können verschiedene Erlebnisräume beim Patienten erreicht werden; sie stellen daher eine effektive Form dar, dem Patienten neue Erfahrungen zu ermöglichen. Die erlebte Konfliktspannung bei dem Patienten kann durch die Betrachtung aus unterschiedlichen Perspektiven besser verstanden werden und beinhaltet gleichzeitig die Möglichkeit, Handlungsalternativen mit dem Ziel der Hilfe zur Selbsthilfe zu entwickeln. Zusätzlich kann die Therapeutin durch eine eigene Wahrnehmungsanalyse bewusst und unbewusst eingesetzte Bewegungen des Patienten, sich spontan veränderndes Ausdrucksverhalten, unbewusste Mitbewegungen sowie eine szenische Exploration mit Verbalisierung der Körpersensationen erkennen und gegebenenfalls benennen. So können dem Patienten die von ihm multimodal gespeicherten Interaktionserfahrungen auf allen Ebenen erlebbar und die aktuell inadäquaten Konfliktlösungsstrategien sowie die Zusammenhänge bewusst werden. Die Erfassung der direkten Erlebnisebene mit den konkreten Raum-, Zeit- und Intensitätskonturen hat sich als sehr hilfreich erwiesen und gibt dem Patienten eine wichtige Orientierung (Wöller u. Kruse, 2010, S. 279). Aus psychodynamisch-systemischer Sicht lässt sich dies auch auf Systemzeichnungen sowie Systemzusammenhänge mit dem Familienbrett (vgl. Ludewig, 2000) und weitere Skulptur- und Aufstellungsverfahren erweitern. 6.7.3 Ziele einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie

Die Ausrichtung auf die Ziele des Patienten, die zeitliche Begrenzung des Therapieprozesses und die Aktivierung und der Ausbau der Selbstheilungskräfte kennzeichnen den Rahmen einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie. Die Erfahrung zeigt, dass sich das Reservoir zu erhellender Konflikte nicht ausschöpfen lässt und daher das Ziel nicht sein kann, am Ende der Therapie völlig konflikt- und störungsfrei zu sein, sondern neue Ideen, Einsichten und Verhaltensmöglichkeiten für die gewünschten Veränderungen und Handlungsalternativen zu entwickeln, sodass sich die beklagte Störungssymptomatik auflösen kann.

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Als gelungen kann ein Therapieprozess dann angesehen werden, wenn neben der Erreichung der vom Patienten gewünschten Ziele auch die im Rahmen der Aktualbeziehung zur Therapeutin deutlich gewordenen positiven und negativen Übertragungsmuster mit den damit verbundenen Faktoren zur Auslösung und Aufrechterhaltung des Konflikts bewusst geworden sind. Der zu Beginn der Therapie gefühlte Leidensdruck sollte remittiert oder zumindest deutlich reduziert sein, ebenso die belastenden Symptome. Durch neue Einsichten in die aktuelle Situation und die Bewusstheit über die eigenen Anteile und die Wechselwirkungen mit den noch beteiligten Personen kann der Patient in der Regel selbstbewusster, gelassener und sachlicher mit seinem Alltag umgehen und fühlt sich der Bewältigung seiner Lebensaufgaben besser gewachsen. Für eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie stellt eine reine Symptombeseitigung nicht das Ziel dar. Dies ist bereits in der probatorischen Phase, vor der Entscheidung für eine Psychotherapie mit dem Patienten, zu besprechen, um ihn auf diese Arbeitsweise aufmerksam zu machen und auch auf Alternativen im Sinne weiterer Therapieverfahren hinzuweisen. Unabhängig davon, dass Konflikte nicht immer zu einer für den Patienten befriedigenden Lösung geführt werden können, soll es dem Patienten im Rahmen des therapeutischen Prozesses ermöglicht werden, sich zwischen einer tragfähigen Anzahl an Reaktionsmöglichkeiten frei entscheiden zu können. Kutter und Müller (2008) sprechen in diesem Zusammenhang von einer Sinn- und Wahrheitsfindung als das am weitesten reichende Ziel der Psychotherapie. Eine psychodynamisch-systemische Therapie orientiert sich weder an linearen Vorstellungen, nach denen Patienten zielgerichtet und von außen gesteuert verändert werden können, noch an radikal-konstruktivistischen Positionen, nach der keine objektive Welt unabhängig vom Bewusstsein existiert. Auch wenn die objektive Welt nur über persönliche Erfahrung zugänglich und die Erkenntnis mittlerweile Allgemeingut geworden ist, dass der Beobachter das Beobachtete mitbestimmt, so werden psychische Störungen auf einem Kontinuum von Krankheit und Gesundheit im Rahmen einer kulturspezifischen Objektivität konkretisiert, die eine Vergleichbarkeit möglich macht. Auch wenn am Ende der Therapie Therapeutin und Patient den Eindruck haben, wieder an den Anfang angekommen zu sein, besteht der entscheidende Unterschied darin, dass nun aus einer gewissen Entfernung auf den Einstieg geschaut werden und die Situation von damals jetzt sowohl im intrapsychischen als auch kontextuellen Zusammenhang verstanden werden kann. Dies schafft für den Patienten neue, im aktuellen Kontext angemessene Handlungsmöglichkeiten, sodass die beklagten psychischen Störungen sich auflösen, verringern oder ihre Bedeutung verlieren.

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Die therapeutische Haltung im psychodynamisch-systemischen Handlungsdialog

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6.8 Die therapeutische Haltung im psychodynamisch-systemischen Handlungsdialog In der systemischen Therapie kamen unterschiedliche und teilweise deutlich disparate Stile zur Anwendung. Während in der Frühphase eine kongruente und offene Beziehung eine Heilung durch Begegnung ermöglichen sollte, um die bis dahin vermiedenen Themen aus der Familiengeschichte besprechbar zu machen, wurden im Rahmen der radikal-kybernetischen Ansätze der Mailänder Schule Beziehungsaspekte wie Kongruenz und Empathie skeptisch betrachtet mit der Sorge, dadurch die therapeutische Position zu verlassen (von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Im Gegensatz dazu standen die Begegnungsmodelle mit dem Konzept der Heilung durch Systemveränderung mit dem Ziel, das bestehende Spiel der Familie unmöglich zu machen. Klassische Vorstellungen über Beziehung wurden vielfach skeptisch bis spöttisch kommentiert und Manipulation durch Kommentare der Therapeutinnen oder des therapeutischen Teams ausdrücklich gebilligt. Aus dieser Zeit könnte auch die heute noch bestehende Skepsis gegenüber systemischer Therapie stammen, sie lasse mit ihrer kalten, eher technisch und zielorientierten Art eine respektvolle Beziehungsqualität vermissen und sehe den Patienten eher als Gegner denn als Kooperationspartner. Hätte sich nicht in der Folge ein neues Modell entwickelt, das heute auch als Grundlage für die Annäherung der beiden Verfahren dient, wäre der Kontakt zwischen den Vertretern der psychodynamischen und systemischen Verfahren sicher ausgeblieben. So treffen sich jetzt die Vertreter der Enkelgeneration in dem kooperativen Modell eines narrativen hermeneutischen Prozesses auf der Grundlage der Selbstorganisation lebender Systeme wieder (Simon, 1988a; Willke, 1988; Schiepek et al., 2013). Nun stehen die Wahrnehmung des Patienten und das Verstehen seiner Wünsche und Bedürfnisse im Fokus der therapeutischen Arbeit. Da selbstorganisierte Systeme bei Veränderungen eine Phase der Labilisierung eingehen, kommt dem stabilisierenden Fundament in Form einer vertrauensvollen Beziehung eine besondere Bedeutung zu, um eine affektive Neurahmung zu ermöglichen (Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 2012). Diese Neurahmung schließt in einer psychodynamisch-systemischen Therapie alle Affekte des Patienten mit ein, um den mit der malignen psychischen Symptomatik verbundenen Sinn aus dem Gesamtsystem zu erkennen. Da in den 1970er Jahren der Mailänder Ansatz die größte Gefahr darin sah, das aktuelle psychische Problem einseitig mit dem Verhalten oder der Persönlichkeit eines einzelnen Systemmitglieds linear zu verknüpfen, entwickelten deren Vertreter ein aus heutiger Sicht eher technisches Vorgehen, nach dem jedes Verhalten, insbesondere das des Indexpatienten, positiv umgedeutet wurde,

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auch wenn dadurch der Sinn entstellt war. Dies führte in der Folge der einseitig lösungsorientierten Ansätze zu einer Reduzierung des therapeutischen Handlungsfeldes, die dann keinen Sinn mehr ergibt, wenn die Suche nach positiven Lösungsszenarien das subjektive Erleben des Patienten nicht respektierend wahrnimmt. Von Schlippe und Schweitzer (2012, S. 310) empfehlen daher, nicht mehr von positiver Konnotation, sondern von wertschätzender Konnotation zu sprechen. Nicht die einseitige (positive) Bewertung durch die Therapeutin steht im Vordergrund, sondern die Unterstützung des Patienten bei der Suche nach eigenen sinnvollen Zusammenhängen. Die Wertschätzung für die erlebte und gelebte Form der Wirklichkeit des Patienten integriert die schwierigen und konflikthaften problematischen Aspekte und gibt die Erlaubnis, gerade diese in einem therapeutischen Kontext ausdrücken zu dürfen. Die Haltung einer Therapeutin in einer psychodynamisch-systemischen Therapie orientiert sich an dem jeweiligen Patienten und seiner psychischen Störung mit intensiver Aufmerksamkeit auf die Konfliktaufdeckung und -bearbeitung. Durch die Einbeziehung einer Ressourcenorientierung in einer wertschätzenden therapeutischen Beziehung kann eine selbstbestimmte Einsichts- und Handlungserweiterung mit den damit verbundenen zusätzlichen Möglichkeiten für die Lebensgestaltung entwickelt werden. Aktives Übertragungsgeschehen ermöglicht Bewegung. Die Therapeutin stellt sich zur Verfügung, damit der Patient seine verinnerlichten Beziehungsmuster erkennen, verstehen und sich an dieser Beziehung entwickeln kann. Innerhalb der therapeutischen Arbeitsbeziehung ergeben sich interpersonelle Räume, Spielräume für Probehandlungen sowie für intra- und interpsychische Entdeckungen und Erkenntnisse, die sowohl in direktem Zusammenhang mit dem aktuellen Kontext als auch mit der biografischen Geschichte stehen und psychodynamisch bearbeitet in den aktuellen Alltag zurückfließen. Innerhalb des interpersonellen Prozesses im therapeutischen Raum kann über direkt erlebtes, emotional bedeutsames Geschehen scheinbar Widersprüchliches und Unerklärliches aufgedeckt, in einen sinnvollen Kontext gefügt und bearbeitet werden. Eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie verfügt über rationale, emotionale und handlungsorientierte Aspekte. Bei der Bearbeitung des Unbewussten liegt der Fokus auf der aktuellen Situation (Gegenwart). Ebenso stellt die Arbeit mit Metaphern und Bildern einen kraftvollen Zugang dar. Bei Lob, Wertschätzung und respektvoller emotionaler Zuwendung und dem besonderen Augenmerk auf die Ressourcen (keine pejorativen Äußerungen) findet eine Verbindung mit dem kognitiven System statt. Im Rahmen einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie besteht die Möglichkeit, keine Deutungen im klassischen Sinne, sondern Hypothesen

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(»Könnte es sein, dass …«) und Angebote im Sinne des So-tun-als-ob an den Patienten zu geben, um seine kognitiven und affektiven Grenzen zu erweitern. Durch diese Fragestellung findet der Patient selbst eigene Antworten. Auf diese Weise wird die Autonomie des Patienten gestärkt, innere Widerstände können sich auflösen und erlauben, neue Erkenntnisse, Gedanken und Gefühle wahrzunehmen. Sowohl durch die Perspektiv- und Kontexterweiterung als auch die Konfrontation mit der Biografie und den daraus entstandenen Konfliktmustern ist eine aktive Bearbeitung möglich, die sowohl die intrapsychische als auch eine transgenerationale systemische Sichtweise integriert. Dadurch relativiert sich die Annahme, dass nur durch eine langwierige einseitige Auseinandersetzung mit den Ursachen der Störung eine Heilung möglich ist. Seit der Entwicklung des sozialen Konstruktivismus und den Grundsätzen der Kybernetik zweiter Ordnung ist in jedem psychotherapeutischen Prozess die subjektive Welt der Therapeutin zu berücksichtigen, die einen mitentscheidenden Einfluss darauf hat, wie durch sie die Erfahrungen und Ideen anderer Menschen interpretiert werden. Da in diesem Sinne Neutralität nicht als objektive Größe besteht, sondern immer einen Prozess darstellt, den es in der Regel durch die Therapeutin zu reflektieren gilt, kommt dieser Kompetenz eine besondere Bedeutung zu. Aus psychodynamisch-systemischer Sicht stellt sich die Therapeutin im Übertragungsprozess zwar als Projektionsfläche zur Verfügung, sie ist dabei aber keine leere Leinwand für die Aktionen und Empfindungen des Patienten, die dort sichtbar werden können. »Es wird immer ein Film gezeigt, der zwei Autoren hat: den Patienten und den Therapeuten« (Jaeggi u. Riegels, 2008, S. 37). So ist die Therapeutin auch als eigenes Individuum im therapeutischen Geschehen an allen Reaktionen des Patienten mitbeteiligt. Hier zeigt sich ein wechselseitiges, intersubjektives Interaktionsgefüge. Um sich dieser Wechselwirkungen bewusst zu werden, arbeitet die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in der Ausbildung von Psychotherapeuten mit einem intensiven Selbsterfahrungsprozess, der durch die Verbindung mit dem systemischen Therapieverfahren noch um die Erfahrung mit dem aktuellen sozialen System (Paar, Familie) und dem Herkunftssystem ergänzt werden kann. Im Rahmen der Qualitätssicherung sieht die Ausbildungs- und Prüfungsordnung des Psychotherapeutengesetzes einen intensiven Selbsterfahrungsprozess sowie einen Supervisionsprozess für Psychotherapeuten vor. Danach sind neben 150 Stunden Supervision auch mindestens 120 Stunden Einzel-Selbsterfahrung nachzuweisen. Im Rahmen der psychodynamischen Ausbildungsinstitute mit Schwerpunkt auf den tiefenpsychologisch fundierten Verfahren finden neben der Selbsterfahrung im Einzelsetting häufig zusätzlich Selbsterfahrungssitzungen in der Gruppe statt, sodass sich insgesamt etwa 200 Stunden Selbsterfahrung

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summieren können. Neben den biografischen Anteilen aus früheren Entwicklungsphasen hat sich aus psychodynamisch-systemischer Sicht eine intensive Analyse der transgenerationalen Zusammenhänge bewährt. Insbesondere für die Bewusstwerdung systemkultureller Hintergründe der verschiedenen Familiengenerationen bietet sich eine Mehrgenerationen-Systemanalyse an. So finden an der Universität Oldenburg regelmäßig in der Ausbildung von Familienund Systemtherapeuten Intensivseminare mit den eigenen Herkunftsfamilien der Ausbildungsteilnehmer statt. Dafür nehmen die Eltern und die Geschwister der angehenden Therapeutinnen an einer lehrtherapeutischen Sitzung teil. Die verbleibenden Teilnehmer der Gruppe stellen das Reflektierende Team dar. Vor allem im Rahmen der Mehrgenerationen- bzw. Mehrpersonentherapien nimmt die Gegenübertragungsreaktion der Therapeutin einen besonderen Stellenwert ein. Ist ohnehin bei der Gegenübertragungsreflexion für die Therapeutin auch immer eine Aufarbeitung der eigenen intrapsychischen Anteile unerlässlich, kommt dieser Reflexion im Rahmen eines Mehrpersonensettings eine besondere Bedeutung zu. Bei der Aufarbeitung der person- und systemgeprägten Anteile der Gegenübertragungsphänomene ist aufseiten der Therapeutin die Bereitschaft, sich sowohl intellektuell als auch emotional von vertrauten Normen und eigenen Wertvorstellungen zu distanzieren und sich im Sinne der Allparteilichkeit auf zunächst unvertraute und hoch unterschiedliche Vorstellungen und Denkweisen einzulassen, erforderlich. In diesem Zusammenhang soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass in einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie sowohl mit Übertragungsphänomenen, also mit den sich unbewusst oder bewusst in der therapeutischen Beziehung wiederholenden Erlebens- und Verhaltensmustern der Vergangenheit, als auch mit der realen Beziehung im Hier und Jetzt gearbeitet wird. »Immer gehen die realen Bedingungen, die reale Person des Therapeuten und sein reales Verhalten ebenso in die Beziehung ein« (Doering u. Schüßler, 2004, S. 5). 6.9 Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Praxis: Haltung und Intervention Die Einbeziehung unterschiedlicher Methoden und Techniken, die Nutzung interaktioneller Interventionsformen, szenischer Darstellungen, Aufstellungen und der Wechsel von Einzel- zu Mehrpersonensettings und umgekehrt macht eine psychodynamisch-systemische Psychotherapie zu einem mehrdimensionalen Verfahren, in dem sich nicht nur über die Sprache ein Dialog zwischen Patient und Therapeutin entwickeln kann. Der Fokus auf interaktive, bewegungs-

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und beziehungsorientierte Verfahren schafft weitere Möglichkeiten, die psychische Störung aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. 6.9.1 Strategische Orientierung des therapeutischen Prozesses unter Berücksichtigung der Individualität des Patienten

Psychodynamisch-systemische Psychotherapie integriert die Ebenen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Die Arbeit in der Gegenwart wird bestimmt durch die Thematisierung und Darstellung des aktuellen Konflikts. Die Bedeutung des Konflikts und die Entstehung werden durch die Vergangenheit (mit-) bestimmt. Die sich aus den Einsichten ergebenden neuen Ideen für die angestrebten Veränderungen im Umgang mit den psychischen Störungen fokussieren auf die Zukunft. In diesem therapeutischen Prozess werden unterschiedliche Analyse- und Interventionsebenen integriert: – intrapsychischer Fokus: Welche Gedanken und Gefühle beschäftigen den Patienten? – interpersonaler Fokus: Wer ist an dieser Situation direkt oder indirekt beteiligt? – systemischer Fokus: Welche Hypothesen lassen sich im Gesamtkontext entwickeln, um dem Verhalten bzw. Empfinden des Patienten einen Sinn zu geben? – Fokus der Übertragung: Welche verinnerlichten früheren Beziehungserfahrungen werden unbewusst auf die aktuelle Beziehungssituation übertragen (unbewusst wiederholt)? – Fokus der Gegenübertragung: Welche Gefühle, Gedanken und inneren Bilder löst der Patient bei der Therapeutin aus? Wie kann die Qualität der Zusammenarbeit insbesondere am Anfang sorgfältig eingeschätzt und optimiert werden? Im Rahmen einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie ist es nicht die Fragestellung allein, die den Unterschied macht, sondern die Intervention durch die Therapeutin stellt für den Patienten eine Anregung dar, sich mit neuen Einsichten und Perspektiven zu beschäftigen. Auf die bis dahin unbewussten Anteile der mit der psychischen Störung verbundenen Problematik kann der Patient auf diese Weise aufmerksam werden und sie in sein Leben integrieren. Die unterschiedlichen Formen der Anregung durch die Therapeutin haben das Ziel, den therapeutischen Prozess zu fokussieren und den Patienten darin zu unterstützen, seine Situation – zu klarifizieren, – sich der eigenen Verbindung zur psychischen Störung bewusst zu werden, – den Zusammenhang zum sozialen Kontext zu verstehen.

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Um diesen Prozess zu unterstützen, ist es hilfreich, diese Erkenntnisse so weit wie möglich mit konkreten Erfahrungen zu verknüpfen. Zur Bewusstmachung dieser Beziehungsdynamiken bieten sich daher insbesondere interaktive Interventionen wie beispielsweise Stuhlarbeit, Skulpturen, Aufstellungen, Arbeit mit Stühlen, Lebenslinien und weitere aktivierende Formen an (vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 2009; Schwing u. Fryszer, 2006). Gleichzeitig lässt sich auch die Therapeutin emotional auf den therapeutischen Prozess ein, um für den Patienten als gutes Objekt zur Verfügung zu stehen und ebenfalls eine korrigierende Beziehungserfahrung zu unterstützen. Zur Verdeutlichung wird im Folgenden eine kleine Auswahl von möglichen Interventionsformen vorgestellt. 6.9.1.1 Interventionen auf der sprachlichen Ebene

Hier können Sie beispielsweise fragen: – Wie erklären Sie sich, dass die Problematik gerade so verlaufen ist und nicht anders? (Wieso gerade das? Wieso gerade jetzt? Wieso gerade so?) – Welchen Problemgeschichten erlauben Sie, Ihr Leben zu bestimmen? Wann haben Sie es das letzte Mal geschafft, sich davon nicht dominieren zu lassen? Was haben Sie gemacht, um die jeweilige Problemgeschichte nicht wirksam werden zu lassen? So könnte zum Beispiel in einer Situation, in der der therapeutische Prozess dadurch stockt, dass der Patient sich weiter in seinen bekannten maladaptiven Mustern und Vorstellungen bewegt und die psychodynamischsystemische Therapeutin in ihrer Gegenübertragung ein wesentliches Gefühl oder einen Eindruck zu dieser Szene bekommt, die sie nicht direkt benennen möchte, die Therapeutin eine zirkuläre Frage in den Prozess einbringen. Bei einem Patienten, der sich über längere Zeit über seine Partnerin ereifert, könnte sie ihn auf seinen möglichen unbewussten Widerstand folgendermaßen ansprechen: »Was, glauben Sie, was würde sich verändern, wenn es Ihnen gelänge, dass Ihre Partnerin Ihre Sicht der Dinge verstünde?« Ein Patient, der ohne große Affektbeteiligung über seine Störungen berichtet, könnte sich beispielsweise durch folgende Frage seiner unbewussten Abwehrmuster bewusster werden: »Wer wäre darüber am meisten überrascht, wenn Sie deutlich machen würden, wie Sie diese Situation persönlich erleben und welche Gefühle Sie dabei empfinden?« 6.9.1.2 Interventionen auf der symbolischen Ebene

Wie bereits dargestellt, dient das Genogramm als ein strukturierendes und zugleich emotionalisierendes Element in einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie. Die Besonderheit ist, dass durch diese Arbeit eine Verknüpfung zwischen

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den Zeitzonen erfolgen kann. Die aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte (biografische Arbeit der Vergangenheit) findet in der Gegenwart statt. Es erfolgt eine Reise in die Geschichte des Patienten, die immer wieder unterbrochen werden kann, um die Auswirkungen auf die aktuelle Situation zu prüfen: – Wenn Sie die Zusammenhänge jetzt neu erkennen, was bedeutet dies für Ihre aktuelle Konfliktsituation? – Was denken Sie, waren damals die Beweggründe Ihrer Eltern, sich so zu entscheiden und nicht anders? – Wenn Sie Ihre aktuelle psychische Störung unter dem Blickwinkel der transgenerationalen Verstrickungen betrachten, was wird Ihnen dann deutlich und was folgt für Sie daraus? (mehrere Generationen umfassendes Genogramm) – Wenn Sie Ihre aktuelle Situation in einer Systemzeichnung ausdrücken würden, wie sähe diese aus? In diesem Fall zeichnet der Patient auf der Grundlage der Symbole und Beziehungsformate ein Bild von der aktuellen Situation, indem er sich selbst in die Mitte des Bildes zeichnet und die mitbeteiligten Personen oder Situationen (Objekte wie Wohnort, Haus, Arbeitsstelle etc.) in der Form hinzufügt, wie sie sich für ihn aktuell darstellt. Dabei zeigen Größe, Entfernung vom Symbol des Patienten und die Verbindungsqualität (positiv, konflikthaft etc.) auf die Dynamik zur psychischen Störung. Eine weitere Möglichkeit stellt die folgende Interventionsform dar: – Wenn Sie eine Darstellung der Situation durch die vorhandenen Symbole (Aufstellungs- oder analoge Figuren wie z. B. Playmobil sowie weitere Symbole wie z. B. unterschiedliche Knöpfe) vornehmen würden, wie sähe die aktuelle Situation aus Ihrer Sicht aus, wer gehört dazu, wer ist mitbeteiligt und wenn, in welcher Form? Weitere Abwandlungen dazu wären Karten oder Hinweiszettel, die beschriftet und auf den Boden gelegt werden, oder Lebenslinien bzw. »time lines«. Diese Formen dienen alle dem Ziel, die psychische Störung in Verbindung zur zeitlichen Situation zu verdeutlichen und die Handlungsmöglichkeiten durch den Patienten bewusst zu machen (zur Übersicht siehe von Schlippe u. Schweitzer, 2009; Schwing u. Fryszer, 2006). In diesem Zusammenhang sind auch gestalterische Möglichkeiten, wie sie unter anderem auch im katathymen Bilderleben eingesetzt werden, zu nennen (Rosenberg, 2009). Diese Interventionsformen unterstützen den Patienten strukturell und ermöglichen ihm, im Rahmen des therapeutischen Prozesses frühere Konflikte bewusst und verstehbar zu machen. Diese Verfahren eignen sich auch für Konfliktsituationen im vorsprachlichen Raum, die sprachlich nicht oder

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nur begrenzt erfassbar sind und auf rekursive transaktionale Kommunikationsprozesse hinweisen. Der Patient kann sich über die Bedeutung der damaligen Situation sowie deren Internalisierung im Laufe seiner Geschichte bewusst werden und so eine neue Einsicht in die maladaptiven Prozesse gewinnen als Voraussetzung für eine eigenständige Neuentwicklung der Situation in der Gegenwart. 6.9.2 Mentalisierungsbasierte Interventionskonzepte: Hypothesengeleitete Strategien

Wie schon deutlich geworden ist, besteht eine psychodynamisch-systemische Therapie in einem ständigen angemessenen Wechsel zwischen aktiven strukturierenden und interaktiven Elementen sowie Phasen freier Entfaltung bewusster und unbewusster Prozesse als Intervention in einem assoziativen Raum zwischen Patient und Therapeutin. Die Entscheidung für die Intervention geht von der Therapeutin durch achtsame Erfassung der aktuellen Situation mit der Möglichkeit einer Fokussierung des therapeutischen Prozesses aus. Bei der Anwendung von mentalisierungsbasierten Interventionskonzepten nutzt die Therapeutin die Interpunktion zur Gestaltung des Therapieprozesses und entwickelt dazu triadische, mentalisierende oder aufdeckende Fragen. Dadurch können die vom Patienten eingebrachten Ereignisse und Themen mit den begleitenden mentalen Zuständen erkundet und der interpersonelle und emotionale Kontext erfasst werden. Dies führt zu einer zwischen Patient und Therapeutin erarbeiteten Sprache über Affekte, um die Möglichkeit einer neuen Perspektive zu eröffnen. Durch die bewusste Interpunktion wird der Patient ermutigt, sich über die Mentalisierung vertiefend auf die Situation einzulassen. Der Patient wird angeregt, spontan einen Begriff, ein inneres Bild oder ein Gefühl zu benennen, das er mit der dargestellten Situation bzw. Szene verbindet. Im therapeutischen Prozess kann sich der Patient über das Verstehen und die Differenzierung zwischen internalisierten maladaptiven Verhaltensmustern und den zugrunde liegenden persönlichen Motiven sowohl im biografischen als auch aktuellen Kontext selbstbestimmt positionieren. Erst im Anschluss können alternative Umgangsweisen und eigene Handlungsoptionen entwickelt werden. In diesem Mentalisierungsprozess sind drei Ebenen zu berücksichtigen: 1. Der Patient wird sich bewusst, was die Situation für ihn selbst bedeutet (Selbstmentalisierung). 2. Der Patient wird sich bewusst, was die Situation für den/die anderen bedeutet (interpersonelle Mentalisierung). 3. Der Patient wird sich bewusst, was die Situation für die Beteiligten im Gesamtkontext bedeutet (Systemmentalisierung).

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Dabei kann die Therapeutin weitere Vorschläge als Anregungen in Form von Hypothesen geben. Das Ziel ist, herauszufinden, an welchem Punkt die Mentalisierung des Patienten beeinträchtigt wurde bzw. verloren ging. Die sich daraus ergebende neue Perspektive kann der Patient im weiteren Verlauf als Einstieg in die Situation und den Umgang außerhalb der Therapiesituation nutzen. Im Rahmen des persönlichen Mitschwingens kann die Therapeutin ihre Gegenübertragungsimpulse hilfreich einbringen, indem sie diese als hypothetische Frage dem Patienten zur Verfügung stellt, wenn sie den Eindruck hat, dass dies für den Patienten förderlich ist. Dieses Vorgehen zeigt, wie im Rahmen einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie immer wieder bewusst Anregungen gegeben werden können, um die Aufmerksamkeit des Patienten sowohl für die eigenen als auch für die Beweggründe der anderen im sozialen Kontext zu sensibilisieren. 6.9.3 Erfassung der Komplexität: Wahrung der Autonomie und Orientierung an den Zielen des Patienten

In der therapeutischen Arbeit mit Patienten wird immer wieder deutlich, wie hoch komplex und wie wenig linear und kausal sich die psychosozialen Zusammenhänge darstellen. Veränderungen im Erleben und Verhalten finden in nachvollziehbaren Schritten, aber auch in sprunghaften und von außen nicht vorhersehbaren Situationen statt. Schiepek spricht in diesem Zusammenhang von »early sudden changes« oder »sudden gains« (Schiepek et al., 2013, S. 19) und verweist auf die Bedeutung der Selbstorganisation und der eigenen Muster des jeweiligen Patienten. Psychotherapie betont die Bedeutung des Kontakts zu anderen Menschen, um sich in kritischen Lebenssituationen eigener Ressourcen und Möglichkeiten wieder bewusst zu werden. Auch in Anlehnung an Martin Bubers (1999) Sichtweise, dass der Mensch am Du zum Ich wird, wird deutlich, wie wichtig das dialogische Prinzip für die menschliche Entwicklung ist. Beziehungen sind gleichsam der Drehund Angelpunkt menschlicher Entwicklung. Neuere Forschungen zur »social neuroscience« (Schiepek, 2011) wie auch Erfahrungen aus psychotherapeutischen Prozessen zeigen, dass dysfunktionale, reale und auch neurobiologische Prozesse letztlich nur in ihrem sozialen Kontext verstehbar sind und dass das Gehirn nur als »Beziehungsorgan« funktionstüchtig ist (Fuchs, 2008). Mit den Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften erfährt die Psychotherapie eine wesentliche (systemische) Erweiterung und unterstreicht die wachsende Bedeutung des Interaktionellen und des Interpersonalen im therapeutischen Prozess (Grawe et al., 1994). Die therapeutische Beziehung ist durch eine professionelle Zuwendung gekennzeichnet, um Kooperation zu initiieren. Die Qualität der Beziehung

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stellt die Voraussetzung für die Intervention dar und wird als ein starker Prädiktor für den Outcome einer Behandlung erachtet. Flückiger, Grosse Holtforth, Znoj, Caspar und Wampold sprechen von einem »confident commitment« als Kern der Arbeitsbeziehung, was so viel wie eine vertrauensvolle Selbstbindung an die gemeinsame Arbeit während des Therapieprozesses bedeutet. Mit seiner Arbeitsgruppe entwickelte Flückiger folgende Definition: »Psychotherapy uses innate human interpersonal skills such as language and other communications to change the mental representations of the individual as well as his or her interpersonal behaviors, cognitions, emotions and needs« (Flückiger et al., 2013, S. 1). In einer psychodynamisch-systemischen Therapie entwickelt sich ein Prozess, der die Bedingungen dafür schafft, dass die Patienten sich selbst über ihre bedeutsamen Fragen und Konfliktthemen im Zusammenhang mit der psychischen Störung bewusst werden, um sie dann in einem gemeinsamen (koevolutiven) Prozess mit der Therapeutin zu bearbeiten. Neue Forschungsergebnisse unterstreichen dabei neben dem konstruktiven Arbeitsbündnis die Wichtigkeit einer zusätzlichen Erklärung (»adjunctive instruction«), durch die der Patient eingeladen wird, im Rahmen der Behandlung eine proaktive Rolle (»proactive role«) einzunehmen, um die Zusammenarbeit zu verbessern und das Outcome der Behandlung zu steigern. Daher bedeutet die Zielorientierung einerseits und die Bewusstwerdung der eigenen Situation andererseits eine wichtige Orientierung im therapeutischen Prozess. Handlungsoptionen, die sich aus diesem Zusammenhang ableiten lassen, werden vom Patienten als sinnvoll erlebt und steigern sein Zutrauen, diese in seinem sozialen Kontext umzusetzen. Um dies zu erreichen, kommt der Therapeutin die Aufgabe zu, die Komplexität der intrapsychischen, interpersonellen und systemischen Zusammenhänge zu erfassen und sie gleichzeitig in reduzierter Form weiterzugeben, um durch für den Patienten angemessene Interventionen, kombiniert mit der Integration des Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehens, die Voraussetzungen für eine heilsame Entwicklung zu schaffen. Zu Beginn der Therapie gilt es, die innere Erfahrung von Patienten mit den interpersonellen Erfahrungen in Verbindung zu bringen, damit die unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Verhaltensebenen bewusst werden. Die therapeutische Kompetenz zeigt sich in der Fokussierung auf die spezifischen Details und Aspekte der Behandlung ebenso wie auf die allgemeinen Zusammenhänge im sozialen Kontext des Patienten. »The holistic/contextual picture of the whole therapy embedded in the patient’s life conditions« (Buchholz, 2012). Für den Prozess der Psychotherapie ergibt sich dadurch sowohl eine Abkehr von mechanistischen Vorstellungen, nach denen Menschen zielgerichtet und gesteuert verändert werden können, als auch die Aufgabe von radikal-konstruk-

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tivistischen Positionen. Werden psychische Störungen im Rahmen eines dynamischen Systems von Krankheit und Gesundheit erfasst und wird der Patient als eine an Kooperation interessierte Person gesehen, so lassen sich auf der Basis einer respektvollen und konstruktiven Haltung der Therapeutin Prozesse entwickeln, die in der störungsspezifisch instabilen Phase des Patienten über psychodynamisch-systemische Interventionen gesundheitsförderliche Veränderungen anregen. Psychotherapie berücksichtigt damit den Patienten als ein komplexes, sich selbst organisierendes System mit nichtlinearer Dynamik. Jede Interaktion mit der Umwelt und die Sammlung aller sozialen Erfahrungen im Lebensverlauf bis hin zum gesprochenen Wort beeinflussen die Muster des Denkens und Fühlens nachhaltig mit der Möglichkeit, sie langfristig zu ändern. Im Sinne einer Komplexität des psychischen Systems ist immer auf die Passung zwischen aktueller Störung und Umweltsituation zu achten und gleichzeitig die stetige Veränderung des Wechsels der äußeren und inneren Gegebenheiten zu berücksichtigen. Selbstorganisierende Systeme zeichnen sich durch kritische Instabilität aus, wenn sie aus dem Gleichgewicht geraten. Da die im System vorhandenen Gesetzmäßigkeiten sowohl dem Patienten als auch der Therapeutin nur zum Teil bewusst sind, dienen Interventionen als Anregungen von außen, um das System zu einer Reaktion zu veranlassen. Mögliche Auslöser für Veränderungen können Interventionen sein, die eine Sinnhaftigkeit der psychischen Störung für das Gesamtsystem des Patienten in den Vordergrund stellen. Auch die Anwendung wechselnder Personensettings im therapeutischen Prozess mit unterschiedlichen Mitgliedern des sozialen Systems des Patienten können den therapeutischen Prozess intensivieren. Um von dem Patienten bzw. seinem sozialen System akzeptiert zu werden, müssen die Behandlungsstrukturen transparent, interaktiv, nachvollziehbar und zeitlich angemessen sein. Da das System des Patienten operational geschlossen ist, stellt die Beziehungsqualität zwischen Patient und Therapeutin die Grundlage für die Intervention dar. Der Patient entscheidet autonom, ob er eine Information als relevant einstuft oder nicht. Störungen werden danach nicht von außen aufgebrochen, sondern in Bezug zu inneren Veränderungen des Systems (Autopoiese) aufgelöst. Interventionen, die der Patient für seine Lebensentwürfe, Wünsche, Bedürfnisse und Möglichkeiten als bedeutsam einstuft, werden von ihm wahrgenommen und verarbeitet. Daher sollten diese zu seinen bisherigen Überlegungen und Einsichten einerseits hinreichend unterschiedlich sein und andererseits nicht zu fremd, damit die Angst vor der Veränderung nicht zu groß wird und in ein Abwehrverhalten umschlägt. Da Veränderungen im therapeutischen Prozess nicht nur nach einem festlegbaren Plan, sondern auch diskontinuierlich ablaufen, ist ein Einsatz von linear strukturierten Behandlungsplänen

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

und Manualen aus Sicht des psychodynamisch-systemischen Selbstorganisationsprozesses nicht vorstellbar. Am Ende dieses Kapitels und zur Illustration einer Verbindung der beiden Verfahren sollen die nächsten Fallbeispiele einen Einblick in den therapeutischen Prozess ermöglichen. Fallbeispiel 5

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1927–2005

1930–

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1957–

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1963–

1965–

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1972–

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Abbildung 11: Genogramm des Patienten

Der 49-jährige Patient kam zum wiederholten Male in die Stunde und berichtete davon, dass ihn immer wieder der Mut verlasse, seine berufliche Arbeit aufzunehmen, und dass er auch zu Hause bei innerhäuslichen Aktivitäten nicht zielorientiert arbeiten könne. Durch Umstrukturierungsmaßnahmen in seiner Firma war er in eine andere Abteilung versetzt worden, hatte seinen Kontakt zu den vertrauten Kollegen verloren und fühlte sich in der neuen Abteilung allein und überfordert. Seitdem litt er unter zunehmender Schlaflosigkeit, Gedankenkreisen und Ängsten bezüglich seiner beruflichen und privaten Zukunft. Seine Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung hatten sich im Verlauf immer weiter gesteigert. Nach einer anfänglichen Stabilisierung des Patienten schloss sich eine intensive Bearbeitung seiner biografischen Entwicklung an. Hier wurde besonders deutlich, wie wenig die beiden Eltern ihn in seiner Entwicklung positiv gespiegelt und in den einzelnen Lebenssituationen unterstützt hatten. Immer wieder war es zu Szenen gekommen, in denen die Kinder der Familie und insbesondere der Patient

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Praxis

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auf seine Unfähigkeit und Fehlerhaftigkeit hingewiesen worden waren. Diese Brüskierung fand auch vor Fremden oder Freunden des Hauses statt, was dazu führte, dass der Patient sich zunehmend abkapselte und sich schon früh in eine Innenwelt zurückzog. In dieser, seiner eigenen Welt stellte er sich eine gute Mutter und einen guten Vater vor, die ihn versorgten und sich über sein Dasein freuten. Dies schilderte er in der Therapiestunde in einer beeindruckenden Art und Weise, so, als ob es aktuell stattfände, obwohl es zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 40 Jahre zurücklag. In diesen Therapiesitzungen konnte sich der Patient durch die Schilderung der Situationen sichtbar entlasten, jedoch nutzte er seine eigenen Ressourcen dennoch nicht im beruflichen Feld. Eine Erweiterung und Konkretisierung der Kontextperspektive durch eine Symbolskulptur zeigte einen systemischen Blick auf den entwürdigenden Umgang mit allen Kindern der Familie (der Patient hat fünf Geschwister). Dieser Blick auf die Gesamtsituation des Familiensystems ermöglichte dem Patienten eine neue Perspektive und gab den Anstoß, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen. So bat der Therapeut den Patienten in einer der nächsten Stunden, seine Herkunftsfamilie und die wahrgenommenen Beziehungsmuster anhand der vorhandenen Stühle im Raum zu symbolisieren. Der Ort und die Abstände zwischen den Stühlen gaben dabei die Dynamik und die Bedeutung der einzelnen Personen für den Patienten und für das Gesamtsystem wieder. Insgesamt sieben Stühle stellte der Patient für seine Eltern und Geschwister auf und verdeutlichte im Anschluss mit Hilfe verschiedener Bänder die jeweiligen Beziehungsmuster (bzw. Verstrickungen). Dabei wurde deutlich, dass die Stühle der Geschwister untereinander nur durch wenige Bänder und teilweise gar nicht verbunden waren. Dies galt auch für den Stuhl des Patienten. Dagegen fielen mehrere Bänder von den Kindern zum Stuhl der Mutter und auch einige zu seinem Vater auf. Auch zwischen den Eltern hatte der Patient Bänder gespannt. Nach einer intensiven Bearbeitung der einzelnen Positionen und Rollen durch interaktive Interventionen (Rollenübernahme) durch den Patienten, verbunden mit zirkulär-systemischen Fragen zum Bedeutungszusammenhang aller Beteiligten, wurde deutlich, dass alle Kinder Angst vor der Abwertung durch die Eltern gehabt hatten und gleichzeitig stets darauf achteten, den Kontakt zu ihnen so weit zu halten, dass sie gefährliche Übergriffe oder Kritik möglichst früh bemerken konnten. Im therapeutischen Prozess schnitt der Patient zuletzt die Schnüre zu den Stühlen von Mutter und Vater durch. Dabei formulierte er symbolisch seinen heutigen Anspruch, seinen eigenen Weg gehen zu wollen und dies auch aktiv umzusetzen. Die systemische Betrachtung des Gesamtsystems mit der Bearbeitung seiner intrapsychischen Perspektiven zeigte dem Patienten die Verbindungen zwischen der damaligen und der heutigen Situation auf, wie die Eltern durch die kontinuier-

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liche Abwertung der einzelnen Kinder in unregelmäßiger Folge von ihrer eigenen Problematik als Paar und als Person abgelenkt und ihre eigene Unzufriedenheit und Unsicherheit auf die Kinder projiziert hatten. Obgleich diese Situation bereits seit langer Zeit in dieser Form nicht mehr gegeben war, da der Patient seit vielen Jahren nicht mehr in seinem Elternhaus wohnte und zwischenzeitlich selbst Vater geworden war, hatte er diese Verstrickung immer noch in sich gespeichert. Im Nachgang der psychodynamisch-systemischen Bearbeitung wurde ihm zudem bewusst, wie er in den vergangenen Jahren bei den Besuchen seiner Mutter im Anschluss einerseits stets eine deutlich erhöhte Verstrickung mit ihr und andererseits stets eine deutlich höhere eigene Inkompetenz gespürt hatte. Nach dieser therapeutischen Bewusstwerdung und der Einsicht über die damalige eigene Rollengestaltung als sinnvollen Beitrag zur Erhaltung des Gesamtsystems und zur Sicherung des eigenen Überlebens (psychodynamisch-systemische Hypothese) wurde dem Patienten deutlich, wie diese Erfahrungen bis zu diesem Zeitpunkt dazu beigetragen hatten, seine Kompetenzen nur zum Teil bzw. nur innerhalb eines beschränkten Rahmens wirksam werden zu lassen. Dies war insgesamt auch mit einem Trauerprozess verbunden, der im therapeutischen Verlauf bearbeitet werden konnte. Fallbeispiel 6

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1960–

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1987–

Abbildung 12: Genogramm des Patienten

Der 27-jährige Patient berichtete von intensiven depressiven Episoden und aktueller Schlaflosigkeit, die ihn tagsüber schnell reizbar machten. Obwohl eine Suizidalität auszuschließen war, bestand das aktuelle therapeutische Ziel vorrangig in einer strukturellen Stärkung des Patienten. Erst nach einer Reihe von Sitzungen schloss sich eine intensive genografische Analyse im therapeutischen Prozess an. Dabei wurde deutlich, dass der Patient eine zweieinhalb Jahre ältere Schwester hatte und

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dass er mehrere Jahre eher erfolglos studiert hatte, sodass anzunehmen war, dass er die von seinem Vater gesetzten Ziele, die berufliche Karriere betreffend, nicht erreichen würde. Vor kurzer Zeit hätten daher seine Eltern entschieden, die finanzielle Unterstützung zu beenden, und der Patient sei, um Geld zu sparen, wieder in sein Elternhaus zurückgezogen und bewohnte nun im Dachgeschoss eine Wohnung, in der er früher als Jugendlicher bereits gewohnt hatte. In dem Nachbarhaus der Eltern wohnten zudem die Eltern seiner Mutter. Diese hatten damals den Bau des Hauses unterstützt und dadurch dazu beigetragen, dass die junge Familie aus dem Rhein-Main-Gebiet wieder zurück in den Norden zog. Er sei schon in diesem Haus geboren und für ihn wäre es lange Zeit normal gewesen, dass seine Großeltern sehr dicht bei ihnen wohnten. Die ältere Schwester habe seit längerer Zeit das Haus verlassen und sei mittlerweile gut in ihrem Beruf angekommen. Seine Mutter war während seiner Jugendzeit wiederholt durch depressive Episoden und sozialen Rückzug aufgefallen, hatte dies aber stets mit seinen zeitweiligen Schulproblemen und der Schwierigkeit, in ihrem Beruf arbeiten zu können, erklärt. Ein glückliches Leben sei ihr daher schwergefallen. Die ältere Schwester lebte mittlerweile in einer eigenen Beziehung. Ihre Besuche wurden von den Eltern regelmäßig dazu genutzt, um über die schwierige Situation mit ihm zu sprechen. Zusätzlich zu den depressiven Episoden der Mutter hatten sich zwischenzeitlich auch aggressive Auseinandersetzungen zwischen seinem Vater und ihm entwickelt, in denen die gefühlte Enttäuschung und der Ärger des Vaters auf den Sohn deutlich zum Vorschein kamen. Der Vater sei der Meinung, der Sohn strenge sich nicht genügend an und müsse endlich einmal lernen, Verantwortung für sich zu übernehmen. Auch seine ältere Schwester war zwischenzeitlich sehr wütend auf ihn und ließ ihn dies in allen möglichen Situationen spüren. So hatte sie unter anderem auch darauf gedrängt, dass er endlich eine Psychotherapie beginnen solle. Zeitweilig hatten sie und die Mutter für ihn sogar eine Aufnahme in einer psychiatrischen Klinik erwogen. Nach einer Stabilisierung des Patienten und dem Aufbau einer sicheren Arbeitsbeziehung entschied sich der Therapeut zu einer transgenerationalen Analyse der familiären Verhältnisse, um die Frage einer dysfunktionalen Loyalität und der Wirkung unbewusster Vermächtnisse aus früheren Generationen zu klären. In dieser genografischen Analyse wurde deutlich, dass die damalige Rückkehr der Eltern aus dem Rhein-Main-Gebiet in den Norden keineswegs nur positiv von ihnen empfunden worden war. Insbesondere die Mutter fühlte sich moralisch gedrängt, ihre Eltern zu unterstützen und ihnen den Gefallen zu tun, in ihre Nähe zu ziehen. Die finanzielle Unterstützung wirkte damals als zusätzliches Druckmittel, worüber aber nicht gesprochen werden konnte. Für den Vater kam diese Entscheidung einer Amputation seiner gefühlten Selbstständigkeit gleich, und er empfand

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1963–

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1987–

Abbildung 13: Erweitertes Genogramm des Patienten

vom ersten Tag an, dass er nicht wirklich als Partner seiner Frau anerkannt wurde. Diese Einschätzungen erfuhr der Patient durch getrenntes Nachfragen bei Mutter und Vater. Im Rahmen des therapeutischen Prozesses entstanden die Ideen bzw. Hypothesen, dass der Sohn sich entsprechend der Missachtung des Vaters loyal verhalte. Durch seine Misserfolge im Studium und in seiner gesamten Lebensführung erlange er keine positive Beachtung und stehe damit dem Vater auf einer Bindungsebene sehr viel näher, als dies von außen erkennbar war. In dem Streit zwischen Vater und Sohn wird der eigentliche Konflikt zwischen dem Vater und dessen Schwiegereltern sowie der verdeckte Konflikt zwischen dem Vater und dessen Frau deutlich, der durch die starke Bindung seiner Frau an ihre Herkunftsfamilie entstanden war, die stärker ist als zwischen ihnen als Paar und als Eltern der gemeinsamen Kinder. Diese neuen Einsichten und Erkenntnisse lösten bei dem Patienten eine Entlastung für seine Verhaltensweisen aus, und er war in der Lage, das sehr negative Bild seinem Vater gegenüber zu relativieren und dessen Rolle im Gesamtsystem als eine ähnliche Rolle wie seine eigene zu verstehen. Nachdem der Patient zu Beginn der Therapie den Ärger über seinen Vater deutlich gemacht hatte, spürte er zu diesem Zeitpunkt zunehmend auch Trauer über die Situation. In mehreren Sitzungen standen die vielfachen unerfüllten Wünsche und emotionalen Bedürfnisse unter intensiver emotionaler Beteiligung des Patienten

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im Fokus. Diese Erkenntnisse und Erfahrungen auf der kognitiven und emotionalen Ebene entlasteten den Patienten gleichzeitig von seiner Rolle als Alleinschuldiger bzw. Verursacher für die familiären Probleme und gaben ihm eine neue Einsicht in seine eigene Problematik sowie in die Problematik innerhalb der Gesamtfamilie. Er konnte die Überlegung, dass sich hier soziale Muster und Wechselwirkungen transgenerational wiederholten, nachvollziehen, und ihm wurde die ungelöste Dynamik zwischen der Herkunftsfamilie und seiner Mutter als ein wenig förderliches Modell für die eigene angemessene Ablösung bewusst. Ähnlich wie für seine Mutter damals die Situation ihrer Eltern mitentscheidend für ihre Rückkehr gewesen war, hatte der Patient sich jetzt entschieden, nach Hause zurückzukehren. Im therapeutischen Zusammenhang konnte er die Dynamik erkennen und die Situation seines Scheiterns im Studium neu bewerten. Er entschied sich, seine Erkenntnisse den Eltern zu berichten, um seine Rolle als Sündenbock verlassen zu können. Der Patient berichtete, dass vor allem der Vater sich darauf einlassen konnte und sich auch in seiner Rolle verstanden fühlte. Seiner Mutter seien dadurch die eigenen Verstrickungen mit ihren Eltern und den Auswirkungen für sie als Frau und Mutter bewusster geworden. Der Patient konnte in der weiteren psychodynamisch-systemischen Psychotherapie seine biografisch erworbenen psychischen Störungen bearbeiten und war nach circa einem Jahr in der Lage, auszuziehen und in einer Umschulungsmaßnahme einen handwerklichen Beruf zu erlernen. Die Eltern veränderten ihre Lebensmuster nach außen nicht, doch für den Sohn hatte sich die Bedeutung verändert. Er konnte die Situation loslassen und seine Ressourcen für die eigene Entwicklung nutzen. Die Eltern und auch die Schwester betrachteten ihn nicht mehr als denjenigen, den es zu therapieren galt, sondern akzeptierten seine persönliche Entwicklung.

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

Fallbeispiel 7

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1989–

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Abbildung 14: Genogramm der Patientin

Die 49-jährige Patientin war über die Empfehlung eines Psychiaters nach einem längeren Klinikaufenthalt in die ambulante Therapie gekommen. Diagnostisch war eine schwere depressive Störung mit somatoformen Merkmalen attestiert worden. Zu Beginn der Therapie tat sie sich schwer, über ihre aktuellen Probleme, die auch ihren jetzigen Mann und ihren Sohn aus erster Ehe betrafen, zu berichten. Ihre Schilderung war gekennzeichnet von wiederkehrenden wechselnden Schuldzuschreibungen gegenüber Mann und Sohn als auch indirekten Anfragen an den Therapeuten nach konkreten Ideen für den Umgang mit der Situation. Zwischen ihrem Ehemann und der Patientin bestanden intensive Partnerschaftsprobleme, da sich dieser nach ihrer Einschätzung nicht auf ihre Bedürfnisse einstelle und sie mit der schwierigen Situation allein lasse. Auch in der Phase, in der die Probleme mit dem ersten Sohn bestanden hatten, habe er sie ihrer Wahrnehmung nach damit allein gelassen und kaum unterstützt. Der Sohn war mittlerweile 25 Jahre alt und momentan dabei, seine zweite Ausbildungsstelle durch Kündigung zu verlieren. Bedingt durch sein gesetzwidriges Verhalten war eine strafrechtliche Verfolgung nicht auszuschließen. Ihre Paarbeziehung sei aktuell so angespannt, dass sie plane, aus dem gemeinsamen Schlafzimmer auszuziehen und sich ein eigenes Zimmer einzurichten. In dieser Phase des therapeutischen Prozesses spürte der Therapeut sehr deutlich die Verwirrungen der Patientin und die für sie nicht geklärten Gefühle der Wut, Verzweiflung und Traurigkeit und ihre Schwierigkeit, zu sich selbst und auch

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Praxis

zu ihrem Partner in Beziehung zu gehen. Diese Impulse aus der in diesem Fall konkordanten Gegenübertragung des Therapeuten als eine gleichartige, mit dem Erleben der Patientin übereinstimmende, aber von ihr zu diesem Zeitpunkt nicht gefühlte emotionale Reaktion schuf eine gute Basis für die weitere Klarifizierung der inneren Gefühle der Patientin. Die aktuellen Konflikte konnten im weiteren Verlauf betrachtet und ihre momentane Gefühlslage in Verbindung mit der Reaktualisierung früherer Konflikte in Erwägung gezogen werden. Die Nutzung der Gegenübertragungsgefühle erleichterte dem Therapeuten die Entwicklung zielfördernder hypothetischer und zirkulärer Fragen und Rückmeldungen an die Patientin, um mit ihr gemeinsam die äußere Situation und ihr inneres Erleben zu beleuchten. Daraus entwickelte sich ein intensiver emotionaler Prozess, in dem die Patientin zunehmend in die Lage kam, ihre Gefühle in einer Tiefe zu erleben, was für sie neu und überraschend war, da sie sich dies bisher nicht erlaubt hatte. Dazu gehörte in dieser Situation auch immer wieder ihr Wunsch, in den Sitzungen in ihr eigenes Erleben weit eintauchen zu dürfen, auch ohne konkrete Berücksichtigung ihrer aktuellen Lebenssituation. Durch die Bereitschaft des Therapeuten, einerseits diesen intrapsychischen Prozess zu fördern und andererseits durch seine allparteiliche

Freundin Soziale Kontakte

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1965–

1961–

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Abbildung 15: Erweitertes Genogramm der Patientin

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

Haltung alle an der sozialen Situation der Patientin beteiligten Personen immer wieder zu integrieren, wurde auch der interpersonelle und systemische Kontext genutzt. Insbesondere die Arbeit an den Ressourcen der Beziehungsdynamik zu ihrem Ehemann, ihren Kindern und ihren Freundinnen war für die Remittierung der psychischen Erkrankung bedeutsam. In dieser therapeutischen Phase wurde deutlich, dass der Kontakt der Patientin zu ihrer Tochter sich sehr positiv gestaltete. Die Tochter hatte nach erfolgreicher Loslösung vom Elternhaus zwischenzeitlich mit großem Erfolg ein Studium begonnen. Auch mit ihrem Mann hatten bedeutsame Gespräche stattgefunden, nachdem sie sich räumlich abgegrenzt und ihm nicht mehr direkt von ihren Erfahrungen in der Therapie erzählt hatte. In der therapeutischen Reflexion wurde darüber hinaus deutlich, dass diese Form der Abgrenzung in ihrer Herkunftsfamilie nie erlaubt gewesen wäre. Nach dieser Einsicht war es der Patientin möglich, die mit ihren biografischen Erfahrungen verbundenen und bisher abgewehrten Gefühle von Trauer und Wut zu spüren und im therapeutischen Prozess auszudrücken. Dies erlaubte ihr die Integration dieser Gefühle und die Erkennung ihrer Wünsche und Bedürfnisse für ihren aktuellen Lebensalltag. Die Benennung ihrer Gefühle und Bedürfnisse mit der gleichzeitigen Möglichkeit, mit dem anderen in Kontakt bleiben zu können, stellte für sie eine extrem neue Erfahrung dar. Dies erlaubte ihr auch die Vorstellung, ihre Zukunft nicht alleine bestreiten zu müssen, um zu ihren Bedürfnissen stehen zu können. Die Möglichkeit, dies im therapeutisch haltgebenden Raum entwickeln zu können, empfand sie als außerordentlich hilfreich. Fallbeispiel 8 Die Patientin kam in die Therapie, um ihre quälenden Gedanken und ihre bedrängenden Unruhezustände bezüglich ihrer weiteren Zukunftsperspektive zu bearbeiten. Im direkten Kontakt erschien sie innerlich erregt und unruhig. Sie schilderte, dass sie seit circa eineinhalb Jahren frühberentet sei. Dies belaste sie sehr, da sie sich noch fit fühle. Außerdem wisse sie nicht, wie sie mit der Wut, die immer wieder in ihr hochkomme, umgehen solle. Sie berichtete zudem, dass sie bereits umfängliche Vorerfahrungen mit Psychotherapien habe, in denen ihre Situation und auch die Beziehung zu ihrer Mutter immer wieder Thema waren. Ihre Scheidung von ihrem ersten Ehemann und die Rolle als alleinerziehende Mutter eines Sohnes sei ebenfalls Gesprächsinhalt gewesen. Vor der Berentung habe sie zehn Jahre lang in der Verwaltungsabteilung eines Industriebetriebes gearbeitet und sei dort auch mehrere Jahre für den Betriebsrat tätig gewesen. In dieser Funktion sei es vermehrt zu Schwierigkeiten mit männlichen Kollegen und Vorgesetzten gekommen. Sie habe sich oft übergangen und ausgenutzt gefühlt. Die Rolle zu ihrem mittlerweile erwachsenen Sohn, den sie

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Praxis

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1954–

1956– /

32 1982–

Abbildung 16: Genogramm der Patientin

überwiegend alleine erzogen habe, sehe sie weitestgehend als geklärt an. Auf die Frage, wie sie sich selbst die Wut erklären würde, sagte sie, dass sie diese vor allem ihrer Mutter gegenüber empfände, da sie in der Kindheit gewalttätige Übergriffe durch sie habe ertragen müssen. Aktuell wisse sie nicht, wie sie mit dieser Wut umgehen und sie bewältigen könne. Im Rahmen der genografischen Bearbeitung wurde schnell deutlich, dass bei den Überlegungen der Patientin zur Entwicklung ihrer Wut die Rolle ihres Vaters bisher unberücksichtigt geblieben war. Durch die Integration seiner Rolle und einer psychodynamisch-systemischen Betrachtung gelang es der Patientin, weitere Zusammenhänge für das Erleben ihrer Wut zu erkennen. So wurde deutlich, dass die gewalttätigen Übergriffe der Mutter auf die Patientin im Zusammenhang mit der Abwesenheit des Vaters und der damit gefühlsmäßig überforderten Mutter standen. In der therapeutischen Bearbeitung konnte sie erkennen und nachfühlen, wie sie damals mit ihrer Mutter eine Notgemeinschaft gebildet hatte, in der beide überfordert gewesen waren: ihre Mutter mit der alleinigen Erziehung der Tochter und ihrer eigenen Unzufriedenheit und dem Ärger über die Abwesenheit des Ehemanns sowie die Tochter aus dem Unverständnis der Abwesenheit des Vaters heraus und der Empfindung, als Projektionsfläche für die grundsätzlichen Ärgernisse der Mutter zu dienen. Die Erweiterung um die triadische Sichtweise, die Verbindung der konflikthaften Beziehung

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

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1915–2004

1917–2002

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78 1936– /

60 1954–

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1956–

1953–

/

32 1982–

Abbildung 17: Erweitertes Genogramm der Patientin

zwischen den Eltern und Eheleuten mit den Wutausbrüchen der Mutter, zeigte der Patientin die Bedeutung des Vaters für ihren Konflikt mit der Mutter. In den Folgesitzungen konnte sie zum ersten Mal Wut auf den Vater entwickeln. Seine Rolle als bis dahin eher Unbeteiligter veränderte sich für die Patientin emotional dramatisch, und sie konnte zum ersten Mal auch die Verbindung zwischen dem noch offenen Wutempfinden gegenüber ihrem Vater und den vielen Stellvertretern in Form der männlichen Kollegen und Vorgesetzten erkennen, mit denen sie in den letzten Jahren immer wieder gekämpft hatte. Durch diese emotionale Bearbeitung und die neue Einsicht in die gegenseitige Bedingung der Verhaltensweisen ihrer Eltern konnte sie sich das Verhalten ihrer Mutter besser erklären. Ihr Ärger auf sie reduzierte sich und sie drückte mehrfach aus, wie sehr diese neue Sicht sie beruhige, da sie jetzt nicht mehr den Eindruck habe, weiterhin allein auf ihre Mutter wütend sein zu müssen. Dies habe sie in den letzten Jahren zunehmend belastet, da sie in konkreten Kontakten ihr gegenüber häufig ärgerlich und abweisend geworden sei. Das habe im Nachhinein bei ihr stets ein schlechtes Gewissen ausgelöst, und sie habe sich dann noch mehr über die Situation, die Mutter und sich

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Praxis

selbst geärgert. Jetzt könne sie aus ihrer heutigen Position, in der sie nicht mehr von der Mutter abhängig sei, sowie durch die Erkennung der Zusammenhänge wohlwollender mit ihr umgehen. In weiteren Sitzungen konnte sowohl die Herkunftsgeschichte der Mutter als auch des Vaters noch näher beleuchtet werden. Dadurch schaffte es die Patientin, immer mehr Zusammenhänge für die Verhaltensweisen der beteiligten Personen nachzuvollziehen und sich selbst als ein Teil des Gesamten zu betrachten. Es gelang ihr, die Unterschiede zwischen der damaligen Situation und ihrer heutigen Lebenssituation zu erkennen sowie die Situationen zu benennen, in denen sie bisher aufgrund der Unbewusstheit auch mit ihrem heutigen zweiten Mann gekämpft hatte, wenn sie sich wieder ungerecht behandelt fühlte. Nach einer Reihe von weiteren Sitzungen berichtete sie von einer Begegnung mit ihrer Mutter, in der sie sich zum ersten Mal entspannt und nicht in Gefahr empfunden habe, abermals gegen diese kämpfen zu müssen. Nach intensiver Reflexion mit dem Therapeuten, ob es überhaupt sinnvoll sei, der Mutter ihre neuen Ansichten mitzuteilen, entschied sie für sich, die Mutter bei einem der nächsten Treffen, die regelmäßig stattfanden, noch einmal über ihr damaliges Erleben als verlassene Frau und alleinerziehende Mutter zu befragen. Dies sei für sie vor Beginn der Therapie nicht vorstellbar gewesen. Fallbeispiel 9

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1971–

1973–

14 2000–

Abbildung 18: Genogramm des Patienten

Der Patient kam mit starken sozialen Ängsten (soziale Phobie) und einer belastenden Magenproblematik (somatoforme Störung) in die Therapie. Er war Prokurist in einer Bank und hatte aufgrund seiner Ängste und der Magenbeschwerden im vergangenen Jahr mehrfach seine Arbeitsstelle nicht aufsuchen können.

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

Die Zeiten, in denen er zur Arbeit gegangen war, waren für ihn geprägt von heftigen Angstattacken, die er nur mit Mühe vor den Kollegen und Kunden verbergen konnte. Eine Abklärung der Symptome bei seinem Haus- und Facharzt hatte keinen somatischen Befund ergeben, und er war schließlich von seinem Hausarzt auf eine Psychotherapie hingewiesen worden. Er käme jetzt mit dem Ziel, seine körperlichen und psychischen Empfindungen besser verstehen und seine Arbeit wieder in angemessener Form ausführen zu können. Außerdem würden die mit seiner Symptomatik verbundenen Verzweiflungszustände zunehmend sein Familienleben extrem belasten. Er lebe mit seiner Frau, die als freie Mitarbeiterin im Marketing beschäftigt sei, und dem gemeinsamen 14-jährigen Sohn zusammen, der die 8. Klasse einer Realschule besuche. Im letzten Jahr habe die Beziehung zu seinem Sohn sehr gelitten, da dieser sich abwertend darüber äußere, dass sein Vater Angst habe, zur Arbeit bzw. aus dem Haus zu gehen, wodurch der Patient seine Rolle als Vater dramatisch gefährdet sah. In den ersten Sitzungen schilderte der Patient ausgeprägt seine empfundenen Störungen mit den sich daraus ergebenden schwierigen sozialen Situationen sowie seiner Sorge um eine weitere Verschlechterung. Im Rahmen der Erfassung des sozialen Kontextes und der interpersonellen Beziehungsstrukturen wurde deutlich, dass seine Frau zunächst Verständnis für sein Verhalten und die Beschwerden im somatischen Zusammenhang aufgebracht hatte. Im zeitlichen Verlauf befürwortete sie jedoch zunehmend eine Psychotherapie, da ihr eine alleinige somatische Behandlung insbesondere der Magenschmerzen nicht sinnvoll erschien. Diese der Psychotherapie gegenüber aufgeschlossene Einschätzung der Ehefrau wertete der Therapeut als Ressource und bot dem Patienten die Einbeziehung seiner Frau in den therapeutischen Prozess an. Dies könne sich für die Behandlung der psychischen Störung insoweit positiv auswirken, als auf diese Weise die hilfreichen und weniger hilfreichen (vermeidenden) Muster und Denkweisen zwischen dem Patienten und seiner Frau den Beteiligten bewusst und dadurch bearbeitbar würden. In den drei gemeinsamen Therapiesitzungen des Patienten mit seiner Frau wurden die Fragen des Umgangs mit seiner Erkrankung, die Rolle der Ehefrau und die bisher unausgesprochenen Empfindungen und Erwartungen sowie die dahinterliegenden Wünsche von beiden Seiten thematisiert. Dies führte zu zusätzlichen Erkenntnissen über die Wechselwirkungen in ihrer Paarbeziehung sowie der Bedeutung der psychischen Symptomatik des Patienten für das Gesamtsystem einschließlich ihres Sohnes. Mit Hilfe zirkulär-hypothetischer Fragen zu dem vermutenden Bild des Sohnes über die Situation in der Familie konnten beide Eltern sich ihrer unterschiedlichen Wahrnehmungen bewusst werden.

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Praxis

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1939–

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1971–

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Abbildung 19: Erweitertes Genogramm des Patienten

Die Einbeziehung der generationsübergreifenden Informationen aus der Geschichte des Patienten führt zu einer besonderen Anregung der Neuorganisation des Paarund Elternsystems. Ausgelöst durch die Frage des Therapeuten, wie der Patient seinen Vater erlebt habe, als er so alt gewesen sei wie sein Sohn heute (14 J.), wurde deutlich, wie tief diese Erfahrungen beim Patienten inhaltlich und gefühlsmäßig verschüttet waren. Da es für den Patienten kaum möglich war, die Frage zu beantworten, er gleichzeitig aber durchaus Bereitschaft signalisierte, sich mit diesem Thema auseinandersetzen zu wollen, schlug der Therapeut dem Patienten vor, seine anwesende Frau über die Zusammenhänge in seiner Herkunftsfamilie zu befragen. Da auch seine Frau bereit war, über seine familiäre Situation zu berichten, entwickelte sich bald eine intensive Geschichte über die Familie des Patienten. Der Eindruck des Therapeuten, dass es für die Frau aufregend, aber gleichzeitig entlastend war, endlich einmal über die Situation der Herkunftsfamilie ihres Mannes reden zu können, wurde von der Ehefrau am Ende der Sitzung bestätigt. Um diese Situation emotional und für die Erkennung von Mustern und Strukturen zu intensivieren, bot der Therapeut in diesem Fall ihr die Möglichkeit einer Aufstellung der Herkunftsfamilie des Patienten durch entsprechende Symbolfiguren an (Abbildung 20). Diese symbolhafte Darstellung der Personen- und Beziehungsdynamiken machte deutlich, dass der Patient als Kind kaum Kontakt zum eigenen Vater hatte, da dieser sich sehr früh von seiner Mutter getrennt habe. Wechselnde Partner der Mutter hätten, nach Kenntnis seiner Ehefrau, damals mehr oder weniger die Rolle

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Psychodynamisch-systemische Psychotherapie in der Anwendung

Abbildung 20: Darstellung der Herkunftsfamilie mit Symbolfiguren

seines Vaters übernommen. Häufig sei er von den Partnern seiner Mutter nicht ernst genommen worden, teilweise hätten sie ihm auch Angst eingeflößt und er habe sich als störend empfunden. Seine Mutter habe den Kontakt zu seinem leiblichen Vater nicht unterstützt und in der Pubertät oft schlecht über ihn geredet (in dem Alter, in dem sich sein Sohn heute befindet), so wie sie insgesamt abwertend über Männer geredet habe. Nachdem der Patient zunächst der Aufstellung seiner Herkunftsfamilie durch seine Frau und ihren Schilderungen zugehört hatte, schaltete er sich ein und berichtete emotional bewegt, dass ihm dadurch jetzt klar geworden sei, wie ängstlich und wie allein er sich damals gefühlt habe. Er könne die Parallelen zu der heutigen Situation sehen. Seine Ängstlichkeit habe dazu geführt, dass er sich bei der Berufswahl den Wünschen seiner Mutter angepasst hatte. Nach der Banklehre habe er in seinem Vorstandsvorsitzenden über viele Jahre einen väterlichen Mentor gehabt, der ihn bei Schwierigkeiten unterstützt und immer an seine Fähigkeiten geglaubt hatte. Dieser sei vor zwei Jahren in den Ruhestand gegangen, und ein halbes Jahr später wären seine Ängste belastend in Erscheinung getreten. Auch in der heutigen Beziehung fühle er sich mittlerweile allein und minderwertig, da seine Frau angstfrei und erfolgreich ihren Job bewältige und die Abwertungen seines Sohnes ihn zusätzlich in seinem Selbstbild schwächen würden. Trotz der durch diese transgenerationale Analyse deutlich gewordenen extrem schwierigen Lebensbiografie des Patienten erlebte der Patient es nun als sehr hilf-

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reich, dass er dies im Beisein seiner Frau aussprechen konnte und sich von ihr auch in der Art der Darstellung und der gemeinsamen Teilnahme an der Sitzung unterstützt fühlte. Seine Frau bekräftigte ihre Bereitschaft zur Unterstützung ihres Mannes und erlebte es ebenfalls als positiv, an der Bearbeitung der Herkunftsfamiliensituation teilnehmen zu können. In der letzten gemeinsamen Sitzung entwickelte der Patient gemeinsam mit seiner Frau die Idee, nach einer therapeutischen Vorbereitungszeit auch allein mit seinem Sohn einige gemeinsame Sitzungen durchzuführen, um auch hier die gegenseitigen Erwartungen und Wünsche anzusprechen und sich der gemeinsamen Situation mit ihrer Beziehungsdynamik bewusst zu werden. Auch wenn dadurch nicht alle Schwierigkeiten zwischen dem Patienten als Vater und seinem Sohn gelöst werden konnten, führte dies in der Folge bei dem Patienten zu einer Klärung seiner Rolle und einem entspannteren Umgang im familialen Kontext. In der sich anschließend fortsetzenden Einzeltherapie konnten im therapeutischen Dialog die Integration der biografischen Erfahrungen und die sich daraus entwickelten intrapsychischen Muster und Erlebensmodelle des Patienten bearbeitet werden. Die Verbindung zu der aktuellen Lebenssituation und die Bedeutung für die Partner- und Elternschaft konnte von ihm durch die Einbeziehung seiner Frau und den dadurch geteilten Einsichten und Erkenntnissen über biografische Zusammenhänge leichter vollzogen werden. Dadurch fühlte er sich ihrer Unterstützung sicherer, was sich positiv auf die Entwicklung der Verantwortungsübernahme für seine eigene Situation und damit der Bearbeitung seiner Ängste auswirkte.

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Psychotherapie entwickelt sich ständig weiter, greift Anregungen ihrer Zeit auf und modifiziert Therapieverfahren gemäß dem jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext. So hat sich seit der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes im Jahre 1999 die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie intensiv zu einem eigenständigen psychodynamischen Verfahren entwickelt. Diese Entwicklung ist mit einer Vielzahl von Modifikationen verbunden, die eine deutliche Annäherung an die Grundlagen der systemischen Psychotherapie beinhalteten. Die Möglichkeit eines flexibleren Settings (vgl. Kapitel 5.8) und die Entwicklung neuer mehr oder weniger strukturierter Interventionstechniken hat das Profil erweitert. Dabei ist es notwendig, im psychotherapeutischen Verlauf sowohl eine strategische Orientierung zu entwickeln und diese im Prozess zu verfolgen als auch die Interventionsformen konsequent am Bedarf und an der Reaktion des Patienten zu orientieren und im Bedarfsfall zu modifizieren (vgl. Wöller u. Kruse, 2010; Rudolf, 2001). Während die Psychodynamische Psychotherapie zunächst ihren Fokus auf die innerpsychischen Verarbeitungsmuster und die Bewusstmachung der unbewussten Vorgänge legte, richtete die systemische Therapie lange Jahre den Fokus vor allem auf die Kommunikationsmuster, Ressourcen und triadischen Zusammenhänge im sozialen System. Durch die Verbindung beider Verfahren eröffnen sich heute neue Möglichkeiten. Wenn es gelingt, im Rahmen einer psychodynamisch-systemischen Psychotherapie sowohl die intrapsychischen Prozesse differenziert zu bearbeiten als auch den kontextuellen (systemischen) Zusammenhang zu integrieren, ergibt sich eine mehrperspektivische Betrachtung, die einer konstruktiven Behandlung der psychischen Störung zugutekommt. In diesem Rahmen kann den komplexen Entstehungs- und Aufrechterhaltungskreisläufen am ehesten entsprochen werden, was vor einer zu schnellen eindimensionalen Begründung in Form eines einseitig intrapsychischen oder eines einseitig beziehungsorientiert-systemischen Problems schützt. Stattdessen ermöglicht die Verbindung einer biografischen Orientierung mit

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einer zukunftsorientierten Zielentwicklung dem Patienten ein vertieftes Verstehen seiner psychischen Störung. Dies geschieht hinsichtlich der Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung sowie der Entwicklung neuer Handlungsoptionen im Rahmen einer selbstbestimmten Lebensgestaltung zur Heilung oder Linderung der Symptomatik. Ein psychodynamisch-systemischer Psychotherapieprozess integriert die Frage nach dem Warum der Störung ebenso wie die Frage danach, was für eine angestrebte Veränderung notwendig ist. Dabei wird der Patient grundsätzlich als selbstkompetent angesehen, als selbsterfahren im Sinne eines Experten für seine eigene Lebenswelt. So kann im therapeutischen Prozess für den Patienten deutlich werden, welche neuen Sicht- und Handlungsweisen zu sich selbst, zum Problem und zum Kontext dazu führen, dass es des Symptoms nicht mehr bedarf. Bei der Lösungsfindung hinsichtlich psychischer Probleme und Konflikte steht nicht nur eine pragmatische Anpassung an den sozialen Kontext, sondern immer auch die Bewusstheit der eigenen intrapsychischen Bedeutung der Situation für den Patienten im Mittelpunkt. Durch die respektvolle Ankoppelung der Therapeutin an den Patienten, bei gleichzeitiger Anreicherung mit neuen und für den Patienten teilweise auch irritierenden Ideen bei Nutzung der Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene, bekommt der Patient den Raum, sich sowohl mit seiner psychischen Störung auseinanderzusetzen als auch seine Ressourcen für eine von ihm gewünschte Veränderung weiterzuentwickeln und zu nutzen. Um den Patienten in seinem aktuellen Lebens- und Bedingungsgefüge mit all seinen Begrenzungen und Ressourcen wahrzunehmen, hat sich die Anwendung unterschiedlicher therapeutischer Settings als sinnvoll erwiesen. Dabei ist ein Mehrpersonensetting genauso denkbar wie eine Einzeltherapie, die sich im Verlauf phasenweise zu einem Mehrpersonensetting öffnen kann, so wie sich aus dem Mehrpersonensetting auch im weiteren Verlauf eine oder mehrere Einzeltherapien entwickeln können. Diese Flexibilisierung sehen die PsychotherapieRichtlinien des GBA ausdrücklich vor. Sowohl im psychodynamischen als auch in dem systemischen Modell sind die wechselseitigen Kommunikationsmuster in sozialen Systemen entscheidend für die Entwicklungsräume des Einzelnen, insbesondere für den Interaktionsraum einer Psychotherapie. So postulierte bereits Kohut (1979, S. 255): »Wie ich zuvor schon sagte, kann der Mensch in einem psychologischen Milieu, das nicht empathisch auf ihn reagiert, ebenso wenig psychologisch überleben wie physisch in einer Atmosphäre, die keinen Sauerstoff enthält«. Weiterhin verweist er in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des »emotionalen Widerhalls« als Grundlage therapeutischer Interaktionsprozesse (Kohut, 1979, S. 255).

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Ein Verständnis psychischer Störungen im biografischen, familiären und weiteren sozialen Kontext ermöglicht die Erfassung in ihrer Gesamtheit und kann sich auf die Individualität jedes Patienten einstellen. Die Berücksichtigung des Patienten als Person bei gleichzeitiger Berücksichtigung seines Problemsystems und des relevanten Umfelds findet direkt (Mehrpersonensetting) oder hypothetisch (Einzelsetting) statt. Ein psychodynamisch-systemischer Psychotherapieprozess integriert sowohl haltgebende Interventionsformen wie zum Beispiel das Holding und Containing als auch verstörende, herausfordernde Interventionsformen (Perturbation) zur Überprüfung der bisherigen Wirklichkeitssicht des Patienten (Paar, Familie etc.), um dadurch neue Entwicklungen anzuregen. Die Einbeziehung bewusster und unbewusster Phänomene unterstützt den Aufbau einer veränderten Erzählung, Betrachtung und Bedeutung der alten Geschichte des Patienten. Unter Nutzung des Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehens wird im Rahmen der psychischen Störung der auslösende Konflikt aktuell und im biografischen Verlauf klarifiziert, verstanden und der Patient angeregt, sich auf folgende Optionen einzulassen: »Auch wenn es damals so war, so habe ich heute andere Möglichkeiten …« oder »Was würde sich für mich verändern, wenn ich die Situation aus einer anderen Perspektive betrachte?«. Dies unterstützt die Entwicklung neuer Erkenntnisprozesse beim Patienten mit der Integration sowohl belastender und bisher verdrängter als auch ressourcenvoller Anteile, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der psychischen Störung bedeutsam sind. Dieser Prozess stärkt die Erkenntnis- und Autonomieprozesse des Patienten und aktiviert seine Selbsthilfepotenziale und die Entwicklung neuer Handlungsoptionen. Die psychodynamisch-systemische Psychotherapie bietet mit ihren theoretischen Grundlagen und ihren methodischen Interventionsformen eine besondere Möglichkeit, die psychische Störung nicht einseitig als objektivierbare Krankheit zu betrachten, die von Diagnosesystemen immer kleinteiliger, differenzierter und vor allem pathologisierend erfasst wird. Stattdessen steht neben der diagnostischen Erfassung der Störung besonders ihre subjektive Bedeutung für den Patienten und damit der individuelle Sinn des Symptoms und die individuelle sinnvolle Bedeutung im sozialen Kontext im Vordergrund therapeutischen Handelns. Psychotherapie in einer psychodynamisch-systemischen Form erfasst psychische Störung in ihrer Gesamtbedeutung und entwickelt in einem gemeinsamen Prozess Potenziale für die angestrebte Veränderung. Für Psychotherapeutinnen stellt sich dadurch ihre Arbeit in jedem Therapieprozess als herausfordernd dar, da es nicht nur um die Anwendung theore-

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tischer und praktischer Grundlagen geht, sondern immer auch um eine angemessene Berücksichtigung der individuellen Besonderheit jedes Patienten in seinem lebensgeschichtlichen und aktuellen Konflikt. Am Schluss der Begegnung der beiden Verfahren wäre es wünschenswert, dass es auch in Zukunft zu einer stetigen Überprüfung, Reflexion und Weiterentwicklung psychotherapeutischer Verfahren und Methoden kommt, um die psychotherapeutischen Möglichkeiten für den Patienten zur Entwicklung eines möglichst störungsfreien selbstbestimmten Lebens zu vergrößern.

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Literatur

Winnicott, D. W. (1974). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Gießen: Psychosozial-Verlag. Winnicott, D. W. (1979). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta. Wittmann, W. W., Lutz, W., Steffanowski, A., Kriz, D., Glahn, E. M., Völkle, M. C., Böhnke, J. R., Köck, K., Bittermann, A., Ruprecht, T. (2011). Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie: Modellvorhaben der Techniker Krankenkasse nach § 63 Abs. 1 SGB V – Abschlussbericht. Zugriff am 28. 01. 2014 unter http://www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/342002/ Datei/83051/TK-Abschlussbericht2011-Qualitaetsmonitoring-in-der-Psychotherapie.pdf Wöller, W., Kruse, J. (Hrsg.) (2010). Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie: Basisbuch und Praxisleitfaden. Stuttgart: Schattauer. Wustmann, C. (2004). Resilienz: Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim u. a.: Beltz. Wynne, L. C. (1985). Some indications and contraindications for exploratory family therapy. In I. Boszormenyi-Nagy, J. L. Framo (Hrsg.), Intensive family therapy (S. 289–322). New York: Brunner/Mazel.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404546 — ISBN E-Book: 9783647404547

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Eine systemische Perspektive ist in allen Lebenslagen hilfreich

Rainer Schwing / Andreas Fryszer Systemische Beratung und Familientherapie – kurz, bündig, alltagstauglich 3. Auflage 2014. 168 Seiten, mit Illustrationen von Luise Rombach, kartoniert ISBN 978-3-525-45376-6 eBook (PDF) ISBN 978-3-647-45376-7 eBook (epub) ISBN 978-3-647-99550-2

Ein Buch für interessierte Menschen auch ohne fachliche Vorbildung, die wissen möchten, wie systemische Beratung funktioniert und wo sie angewandt wird. Mit vielen Fallbeispielen und wertvollen Tipps für den Alltag! Systemische Beratung und Therapiewirkt und ist weltweit verbreitet. Rainer Schwing und Andreas Fryszer plaudern aus dem Nähkästchen ihrer jahrzehntelangen Erfahrung mit systemischen Ansätzen und erklären deren grundlegende Prinzipien. Störungen und Krankheiten werden als Lösungsversuche gesehen, die irgendwie danebengeraten sind. Die zahlreichen konkreten Tipps aus dem systemischen Handwerkskoffer haben sich im Alltag bewährt und können direkt umgesetzt werden, um Probleme zu lösen oder überraschende neue Antworten auf lebenspraktische Fragen zu erhalten. »lnsgesamt ein Buch, das einen sehr gut verständlichen und leicht lesbaren Einblick in systemisches Denken und Handeln gibt und dabei den Fokus auf viele praktische Anregungen legt.« systhema (Andreas Klink)

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»Didaktisch klar und inhaltlich überzeugend.«Deutsches Ärzteblatt (Christian Maier)

Stavros Mentzos Lehrbuch der Psychodynamik Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen 6. Auflage 2013. 302 Seiten, mit 8 Abb. und 3 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-40123-1 eBook (PDF) ISBN 978-3-647-40123-2 eBook (epub) ISBN 978-3-647-99519-9

Für den Psychiater und Psychoanalytiker Stavros Mentzos genügt eine deskriptive Herangehensweise an die Diagnostik psychischer Störungen nicht – er blickt hinter die Erscheinungsbilder und erforscht die zugrunde liegenden psychodynamischen Prozesse. In seinem Gegenentwurf zum medizinischen Klassifikationssystem ICD-10 spielen intrapsychische Konflikte und ihre Verarbeitungsmodi die zentrale Rolle. Grundlegende Annahme ist, dass psychische Symptome nicht nur defizitäre Ausfallserscheinungen darstellen, sondern gleichzeitig als dynamische Gebilde mit einer eigenen Funktion zu begreifen sind. So bringt beispielsweise selbstverletzendes Verhalten den Betreffenden zunächst emotionale Entlastung. Das Lehrbuch enthält psychodynamische Erklärungen zu den verschiedenen Störungsbildern wie Phobien, Zwängen, Depressionen, Manien, Persönlichkeitsstörungen, Psychosen. Gegliedert nach der gebräuchlichen psychiatrischen Diagnostik, gelingt Mentzos eine ergänzende wie auch psychodynamisch kontrastierende Darstellung. Das Lehrbuch richtet sich sowohl an angehende wie an erfahrene Psychotherapeuten und Psychiater.

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