»Tief in Neukölln«: Soundkulturen zwischen Improvisation und Gentrifizierung in einem Berliner Bezirk [1. Aufl.] 9783839423219

Stadträume werden für und durch Musik erobert und transformiert. Dieser Band bietet Erkenntnisse über die symbolischen K

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»Tief in Neukölln«: Soundkulturen zwischen Improvisation und Gentrifizierung in einem Berliner Bezirk [1. Aufl.]
 9783839423219

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
I. Musikräume im Reuterquartier
1. Vereine und Kneipen im Reuterquartier
2. Erste Spuren des Quartiersmanagements im Kiez
3. Die Weserrakete
4. Konzerte im Reuterquartier
5. Zusammenfassung: Gemeinschaft im Reuterquartier?
II. Neuköllner Zonen. Lokale und ästhetische Dispositionen
1. Von Kreuzberg über Mitte und Prenzlauer Berg bis ins ›tiefe‹ Neukölln
2. Ästhetisierungen Neuköllns
3. ›Andere‹ Orte in Neukölln
4. Zusammenfassung und Diskussion
III. Räume des Dubstep
1. Musikalische Raumeroberung
2. Dubstep-Party und Zukunftsmusik in Neukölln
3. Dubstep als Neuköllner Subkultur und die Frage nach Authentizität
4. Dubstep in Space. Dislokalisierte Identitäten und imaginierte Musikräume
5. Lokale Repräsentationen von Berliner Clubkulturen aus der Sichtweis von Kulturwissenschaftlern und Journalisten
6. Zusammenfassung und Diskussion
IV. Räume der Experimentalmusik und Improvisation in Neukölln
1. Die Neuköllner Fluxus-Performance Candle Piece for Radios
2. Gegen Akademismus, Institutionen und Determination
3. Experimentelle, elektronische Kammermusik
4. Künstleridentitäten in Neukölln
5. Experimentalmusik-»Szene« in Neukölln?
6. Zusammenfassung: Neukölln Haven. Idealisierung eines Ortes
V. Medialer Raum Neukölln
1. Neukölln als sogenannter Problemkiez
2. Kiez der Vielfalt oder die Eventisierung von Differenzen
3. Neukölln in Transformation. Über Gentrifierung, kreative Spannungen und subkulturellen Imperialismus
4. Branding, Empowerment und der Wert von Kunst für Neukölln
5. Wissensgesellschaft in Neukölln
6. Zusammenfassung: Raum ›urbaner Regeneration‹
Fazit und Ausblick
Epilog
Literatur
Anhang

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Christina M. Heinen »Tief in Neukölln«

Studien zur Popularmusik

Christina M. Heinen (Dr. phil.) ist Musikethnologin sowie Künstlerin.

Christina M. Heinen

»Tief in Neukölln« Soundkulturen zwischen Improvisation und Gentrifizierung in einem Berliner Bezirk

»Tief in Neukölln« wurde als Dissertation von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln 2012 angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Collage »Neukölln« von Chrizzi Heinen, 2012. Material: Wolle, Pailetten, Reißverschluss, fotografiert von Sabine Herresbach. Lektorat & Satz: Christina M. Heinen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2321-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 Einleitung | 9 I.

Musikräume im Reuterquartier | 47

1. 2. 3. 4. 5.

Vereine und Kneipen im Reuterquartier | 47 Erste Spuren des Quartiersmanagements im Kiez _ 54 Die Weserrakete _ 58 Konzerte im Reuterquartier _ 62 Zusammenfassung: Gemeinschaft im Reuterquartier? _ 80

II.

Neuköllner Zonen. Lokale und ästhetische Dispositionen | 85

1.

Von Kreuzberg über Mitte und Prenzlauer Berg bis ins ›tiefe‹ Neukölln | 85 Ästhetisierungen Neuköllns _ 93 ›Andere‹ Orte in Neukölln _ 102 Zusammenfassung und Diskussion _ 110

2. 3. 4. III.

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Räume des Dubstep | 115 Musikalische Raumeroberung _ 115 Dubstep-Party und Zukunftsmusik in Neukölln _ 120 Dubstep als Neuköllner Subkultur und die Frage nach Authentizität | 126 Dubstep in Space. Dislokalisierte Identitäten und imaginierte Musikräume | 139 Lokale Repräsentationen von Berliner Clubkulturen aus der Sichtweise von Kulturwissenschaftlern und Journalisten | 150 Zusammenfassung und Diskussion | 153

IV.

Räume der Experimentalmusik und Improvisation in Neukölln | 161

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Neuköllner Fluxus-Performance Candle Piece for Radios | 161 Gegen Akademismus, Institutionen und Determination | 173 Experimentelle, elektronische Kammermusik | 190 Künstleridentitäten in Neukölln | 207 Experimentalmusik-»Szene« in Neukölln? | 214 Zusammenfassung: Neukölln Haven. Idealisierung eines Ortes _ 221

V.

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Medialer Raum Neukölln | 231 Neukölln als sogenannter Problemkiez | 232 Kiez der Vielfalt oder die Eventisierung von Differenzen | 235 Neukölln in Transformation. Über Gentrifierung, kreative Spannungen und subkulturellen Imperialismus _ 244 Branding, Empowerment und der Wert von Kunst für Neukölln | 267 Wissensgesellschaft in Neukölln | 275 Zusammenfassung: Raum ›urbaner Regeneration‹ _ 284

Fazit und Ausblick | 293 Epilog | 311 Literatur | 315 Anhang | 345

Danksagung

Besonderen Dank schulde ich meinen insgesamt mehr als 65 Interviewpartnern, die mir freimütig ihre Gedanken mitteilten und zum Teil auch für spätere Nachfragen bereitwillig zur Verfügung standen. Herzlich danken möchte ich auch meinem Doktorvater Prof. Lars-Christian Koch, der meinen wissenschaftlichen Gedanken den gebotenen Freiraum ließ, aber trotzdem jederzeit für mich erreichbar war und mich dazu anhielt, bei aller Detailarbeit die Struktur des gesamten Projekts im Auge zu behalten. Daneben danke ich vor allem meiner Freundin Cordula Meisig. Sie war die Erste, die lange Parts aufmerksam und kritisch las, mit mir am Telefon diskutierte und einzelne Thesen in vielen Gesprächen auf den Punkt bringen konnte. Sie hat mich bis zum Ende der Fertigstellung des Textes – sogar aus dem Urlaub – mit vielen konstruktiven Anmerkungen versorgt. Auch bei meinen Freundinnen und Freunden Sophia Könemann, Andrea von Kameke, Gudrun van Rissenbeck, Valérie Heinen, Peter-Paul Heinen und Florian Kappeler möchte ich mich für die sorgfältige Auseinandersetzung mit meinem Text bedanken. Jutta Heinen danke ich für hilfreiche Beratung bei der Herstellung der Collage für das Titelbild, Sabine Herresbach für die scharfe Fotografie, Mike O’Toole für ergiebige Unterhaltungen, Mitch Fuhr für lustige und interessante Telefonate sowie Maurice Mengel für die Hilfe beim Inhaltsverzeichnis. Meine Forschung erhielt von ihren Anfängen bis heute keine finanzielle Unterstützung durch Institutionen. Den genannten Freunden sowie meinen Eltern danke ich deshalb auch für die Aufmunterungen, die mir bei meinem unabhängigen Forschungsprojekt eine wichtige Stütze waren. Schließlich danke ich Markus und Dimitri, ohne deren Rückhalt ich diese Arbeit wahrscheinlich niemals geschrieben hätte. Ich führte aufschlussreiche Interviews, die aufgezeichnet und im Anschluss transkribiert wurden. Auf Wunsch erscheinen einige Gesprächspartner unter einem Pseudonym. Anonymisierte Interviewpartner sind in der Auflistung im Anhang durch ein Sternchen* gekennzeichnet.

Einleitung »Sound occupies a space, and the instruments of existence. The spatialisation of musical time cannot be deemed a betrayal. Perhaps music presupposes a unity of time and space, an alliance. In and through rhythm?« LEFÈBVRE 2004: 60 »Bleibt als Fazit: Den Komponenten von Urbanität als Faktoren nachzuspüren, die Musik konstituieren, erweist sich als ebenso schwierige wie spannende Aufgabe.« RÖSING 1999: 33

Im Oktober 2008 begann ich meine musikethnologische Feldforschung in Neukölln. Der Schwerpunkt lag dabei auf den hörbaren und ästhetischen Eigenschaften der Musik von Akteuren, die in den letzten vier Jahren in den Kiez gezogen waren. Ausgangsfrage dieser Forschung waren beobachtete städtische Transformationsprozesse: Inwiefern waren Zusammenhänge herzustellen zwischen den musikalischen und ästhetischen Praktiken in Neukölln und dem Strukturwandel im Kiez? Der Begriff »Szenen [...] als genuin städtischer sozialer Raum« schien mir »als Verortung von Handlungsmöglichkeiten analytisch besonders geeignet«, auch weil Szenen sich dadurch auszeichneten, »politisch motivierten, gegenkulturellen Lebensstilen und -entwürfen Ausdruck zu verschaffen« (Färber 2005: 16).1 Welche Subkulturen bzw. Szenen entstanden also im Zuge dieser Prozesse und was charakterisierte die Lebens- und die Musikstile jener Newcomer in Neukölln? Mit wem teilten sie ihre Interessen und von welchen anderen gesellschaftlichen Gruppen

1

Färber bezieht sich in ihrer Aussage auf Alan Blum: »Scenes«. In: Janine Marchessault/Will Straw (Hg.), Public. City/Scenes. 22/23 (2001). Toronto: York University, S. 7-35.

10 | »T IEF IN N EUKÖLLN «

grenzten sie sich ab? Diese Fragestellungen begleiteten die Anfänge meiner musikethnologischen Erhebungsphase in Neukölln und hatten sich aus der Geschichte meiner eigenen Beziehung zu meinem Forschungsfeld ergeben. Das Berliner Viertel Neukölln lernte ich 2006 kennen. Kurz zuvor hatte ich mein Studium in Köln beendet und war in eine Sechser-WG in Berlin-Wedding gezogen, die ich aber schon bald in Richtung Neukölln verließ. Hier gründete ich eine Zweier-WG am Weigandufer entlang des Schifffahrtskanals, der den vormals WestBerliner Bezirk Neukölln vom ehemaligen Grenzgebiet Alt-Treptow trennt.2 Meine Freunde, von denen viele im angrenzenden Kreuzberg wohnten, besuchten mich hier selten. Sie bezeichneten meine Wohngegend als »blinden Fleck«, womit sie wohl eine gewisse Ödnis meinten. Trotz der etwas ungepflegten Bürgersteige und einer ständig aufs Neue demolierten Telefonzelle neben unserem Haus empfand ich die Gegend mit der Nähe zum Wasser als pittoresk und liebte es, wenn Tanker an meinem Balkon vorbeischipperten. Nach Auflösung der WG zog ich in eine kleine Altbauwohnung in der nahe liegenden Weserstraße, Ecke Wildenbruchstraße. Die kopfsteingepflasterte Weserstraße liegt parallel zur Sonnenallee und dem Landwehrkanal und zieht sich vom Kottbusser Damm bis hin zum Neuköllner Finanzamt quer durch den Reuterkiez. Dass sich diese Straße bis 2010 zu einer beliebten Ausgehmeile in Neukölln mausern würde, wusste man damals noch nicht. Das Schild mit dem Namenszug Zigarre über dem leer stehenden Ladenlokal im Erdgeschoss meines Hauses in der Weserstraße 59 ließ erahnen, dass sich dort einmal ein Bordell befand.3 200 Meter südlich stieß man schon auf die Sonnenallee mit verschiedenen arabischen Ladenzeilen – von Lebensmittelläden über Imbisse bis hin zu Bäckereien. Noch eine Hauptstraße weiter erreichte man die Karl-MarxStraße4, die sich vom Hermannplatz über die Gegend um das Rathaus Neukölln bis zum S-Bahnring erstreckt. Im Kontrast zur Sonnenallee, die durch arabische Geschäfte dominiert ist, gilt die Karl-Marx-Straße als »international besetzt«: In einem Shopping Guide des Bezirksamts Neukölln wird diese Aussage mit der 2

Manche Bekannte bezeichnen die Gegend um Kiehl- und Weigandufer auch als das

3

Vgl. auch URL: http://www.hurenforen.to/forum5/25885-bar-zigarre-ii-weserstrasse-59-

»Dreiländereck«, da hier die Treptow, Kreuzberg und Neukölln aufeinander treffen. berlin.html (letzter Zugriff am 23.03.2013). 4

»Die heutige Karl-Marx-Straße folgt dem Verlauf einer wichtigen nordsüdlichen Verbindungsstraße, die von der Residenzstadt Berlin über Britz nach Königs Wusterhausen führte. Ausgehend von einem nördlichen Kreuzungspunkt – heute liegt hier der Hermannplatz – verlief sie zunächst in großem Bogen nach Osten und führte dann nach mehrfachem Richtungswechsel nach Süden bis zur Rixdorfer Grenze. […] Östlich der Straße lagen Wiesen und Äcker und das aus einer deutschen und einer böhmischen Siedlung bestehende Dorf Rixdorf. Das Dorf lag damals noch ein wenig abseits der großen Ausfallstraße […].« (Hüge 2010: 23f.)

E INLEITUNG

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»Vielfalt« der Einwohner, Gewerbetreibenden und Besucher begründet.5 Ich schätzte die nahe gelegenen Einkaufsmöglichkeiten auf den beiden Hauptstraßen ebenso wie die entspannten Spaziergänge am Ufer. Mit dem Bus erreichte man nach nur drei Stopps die S-Bahn, mit der man schnell die inneren Stadtbezirke erreichen konnte. Und mit dem Fahrrad war ich in Windeseile bei Freunden in Kreuzberg, da, wo ich am liebsten gewohnt hätte. Berlin war insgesamt betrachtet immer noch günstiger als jede andere deutsche Großstadt, doch hatte ich in Kreuzberg keine Wohnung in einer mit Neuköllner Verhältnissen vergleichbaren Preisklasse finden können. Kiezgrenzen waren sichtbar und konnten erspürt werden. Zwar befand sich Neukölln innerhalb des S-Bahn-Rings, doch galt der Kiez im Vergleich zu anderen beliebten Kiezen, wie Kreuzberg, Friedrichshain oder Mitte, eher als Randlage. Die Entscheidung für oder gegen einen Kiez übernahm als Akt der Abgrenzung in Berlin eine wichtige Rolle. Aber dass persönliche Entwicklungsprozesse und die Identifikation mit dem Ort in einem engen Zusammenhang stehen könnten mit städtischen Transformationsprozessen, wurde mir erst später bewusst. Dass auswärts lebende Bekannte Neukölln als »heißes Pflaster« bezeichneten und Medienberichte ihn als Problemkiez präsentierten, bestätigte mich in einem Gefühl des Unangepassten gegenüber den sicherheitsliebenden Leuten, die ihre bürgerlichen Nester in Prenzlauer Berg bauten. Solange die negativen Bilder über Neukölln bestünden, würde ich hier meine Ruhe haben ohne das Gefühl, Partys oder gute Konzerte in Berlin zu verpassen. Musikalisch war ich aktiv als Bassistin und Sängerin in einer unbekannten Popband sowie in einer Post- oder besser NeoPunk-Band. Letztere hatte es trotz ihrer laschen Organisation und nahezu keinen Auftritten geschafft, die Rolle der deutschen Vorzeigeband eines kleinen amerikanischen Labels zu übernehmen, das Schallplatten presste und vertrieb – der kommunikative und globalisierende Cyberspace6 im Internet machte zu dieser Zeit

5

»Anders als beispielsweise die Sonnenallee, wo arabische Geschäfte dominieren, ist die Karl-Marx-Straße international besetzt. Geschäftsleute aus Deutschland, der Türkei und Polen, aus arabischen und mittlerweile auch afrikanischen Ländern, aus China, Indien und weiteren Regionen betreiben hier ihre Läden. Die Mischung ist ausgesprochen bunt und spiegelt in ihrer Zusammensetzung die Vielfalt und den in den letzten Jahren deutlich gesunkenen Altersdurchschnitt der Bewohner und Besucher […] wider.« (Bezirksamt Neukölln 2009a nach Hüge 2010: 43)

6

»Cyberspace is a key term to understand commercial global pop music and alternative escapism [...]. At the same time, it symbolizes the observe of the pursuit of happiness, limitless paranoia, the craving to be noticed [...].« (Reck 2007: 44) »Das Neue Jerusalem des Cyberspace kann überall und nirgends sein.« (Böhme 2005: 146)

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vieles möglich.7 Neben einigen virtuellen, internationalen Musikerkontakten spielte sich das Musikleben auch auf lokaler Ebene für mich außerhalb Neuköllns ab. So besuchte ich Konzerte zu dieser Zeit zumeist in Kreuzberg oder in den letzten unsanierten Räumen in Mitte. Anfang 2008 eröffneten auf der Weserstraße neben dem Kulturverein Gelegenheiten zwei gemütliche Kneipen,8 in denen ich bei unaufdringlicher Musik und friedlicher Atmosphäre mein Bier trinken konnte und auf Leute traf, die ähnliche Interessen zu haben schienen wie ich. Dies verstärkte eine gewisse Identifikation mit dem Viertel, vielleicht ein ›Kiezgefühl‹, da ich nun plötzlich in der Nachbarschaft abends ausgehen konnte. Das Gebiet außerhalb des Reuterkiezes, südlich der Karl-Marx-Straße, wird von vielen Berlinern als das ›tiefere‹ Neukölln bezeichnet, so auch vom im Kiez lebenden Musiker Momus, der diesen Bezirk in seinem Blogeintrag 2009 als das »deeper Neukolln«9 in die Köpfe seiner Leser eingeschrieben hat. Ich besuchte dort zu diesem Zeitpunkt keine Kneipen oder Veranstaltungen, doch traf ich mich einmal in der Woche mit zwei Freunden zum Musikmachen in der Kindl-Brauerei in der Neuköllner Rollbergstraße. Hier teilten wir uns mit anderen Bands einen ehemaligen Lagerraum zum Proben. Der große Hauptraum im Erdgeschoss der Brauerei wurde bald darauf für Kunstausstellungen und Partys genutzt. Im Sommer 2008 zog ich zu meinem Freund in den ehemaligen Ostberliner Bezirk Friedrichshain. Unsere Straße lag nicht in der seit den frühen 1990er Jahren vollkommen umgekrempelten Gegend am Boxhagener Platz, sondern im nördlichen Teil, der neben seniorenfreundlichen Supermärkten auch noch alte ›Ostbäckereien‹ bot. Gegenüber unserer Friedrichshainer Wohnung war ein vietnamesischer Imbiss, in dessen Hinterraum ein kleiner Gemischtwarenladen integriert war. Bei geöffnetem Fenster konnte man die Geräusche eines schnellen Bratenwenders bei der Herstellung eines Wokgerichts hören. Außerdem war unsere Wohnung nur 10 Minuten von der Rigaerstraße entfernt, wo abends noch Hausbesetzer, Punks und Schäferhunde auf den Bürgersteigen vor den besetzten Häusern saßen.10 Auf der davon abzweigenden Liebigstraße befand sich eines der letzten besetzten Häuser 7

Im Internet konnte man in Foren verfolgen, wie amerikanische Studenten versuchten, mit viel Fantasie die deutschen Texte unserer Band zu enträtseln.

8

Die Kneipen Ä und das Freie Neukölln bezogen Ladenlokale auf der Weserstraße.

9

Momus (2009a): »Deeper into Neukolln«. Blogeintrag vom 12.07.2009. URL: www.imomus.livejournal.com/471981.html (letzter Zugriff am 22.01.2013).

10 Etwas desillusioniert reagierte ich auf meine eigene Naivität, als einem weiblichen Punk – mehr mit Lumpen als mit schicken Edelpunkklamotten bekleidet – beim wilden Pogotanz im Lauschangriff auf der Rigaerstraße im Winter 2008 aus Versehen ihr iPhone aus der Jackentasche auf die abgeranzte Tanzfläche fiel. Die Punkdisko war kein widerspruchsfreier Raum – auch nicht in Friedrichshain!

E INLEITUNG

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Berlins. Die Räumung des alternativen Wohnprojekts Liebig 14 schien zu dieser Zeit noch ungewiss.11 Vor dem Getränkemarkt unter unserer Wohnung stand fast jeden Tag ein Mann mit einer braunen Bierflasche in der Hand, der mir mit glasigen Augen ein »Tach’chen« entgegenraunzte. Hier sei alles irgendwie ›deutscher‹ als in Neukölln oder zumindest ›ostdeutscher‹. Aus der Perspektive in Westdeutschland aufgewachsener Endzwanziger erschien diese Ansicht nicht allzu verwunderlich. Der Umzug nach Friedrichshain begünstigte die wissenschaftliche Perspektive auf mein Forschungsfeld Neukölln, da ich nun nicht mehr nachbarschaftlich eingebunden war dadurch mehr Distanz zum Feld gewann. Ein- bis zweimal täglich fuhr ich mit dem Fahrrad von Friedrichshain nach Neukölln, um Musiker für Interviews zu treffen, zum Zweck der teilnehmenden Beobachtung abends Konzerte anzuhören oder einfach nur zum Herumflanieren12 und um die sich entwickelnde Gegend auf mich wirken zu lassen. Im Herbst 2008 konnte schon ein erster Umbruch in Neukölln beobachtet werden: Junge, geschäftige Leute bezogen die Ladenlokale des an Kreuzberg grenzenden Reuterquartiers, renovierten die Räume und schmückten die Schaufenster. Auch sah man immer mehr Graffitis oder kleinere Sticker-Kunstwerke an den Häuserwänden im Kiez, an denen plötzlich auch Werbeplakate für Veranstaltungen klebten. Die Weserrakete, ein Event, auf dem alle neuen Kneipen, Galerien und andere Orte in und um die Weserstraße herum zu Konzerten oder Performances einluden, feierte den Reuterkiez zum zweiten Mal auf ausgelassene Weise bis in die frühen Morgenstunden. Hier wurde offensichtlich neuer Raum gestaltet, erobert und transformiert – langsam, aber sicher. Veränderungen in Neukölln wurden vor allem deutlich durch bauliche Maßnahmen auf der KarlMarx-Straße.13 Auch die Bauzäune um den Kanal ließen darauf schließen, dass der 11 Der RBB berichtet über das »Großaufgebot«, welches das besetzte Haus in der Liebigstr. im Februar 2011 räumt, sowie über eine daraus resultierende »Eskalation«: »Nicht einmal Linke und Grüne wollen die Szene verteidigen. Nur der Grüne Bezirksbürgermeister […] bedauert die Räumung als einen Verlust: Es müsse auch in Zukunft in Berlin Platz für Alternativen geben.« URL: www.rbb-online.de/themen/dossiers/berlin_wahl_2011/wahl/ rueckblick/beitraege/hausbesetzung__Grossaufgebot_raeumt_Liebigstrasse_14.html (letzter Zugriff am 19.03.2013). 12 Zum Begriff des Flaneurs als literarische Figur ab Mitte des 19. Jahrhunderts sowie dem Flanieren als Beobachtungswerkzeug der stadtethnologischen Methode siehe auch Wildner 2003: 69-70. 13 »Im Zuge vielfältiger Maßnahmen zur Steigerung ihrer städtebaulichen, gestalterischen und funktionalen Qualität, soll die Straße erneut zu einem ›vitalen und starken Stadtzentrum‹ werden. Grundlage der Um- und Neugestaltung ist ein im Auftrag des Bezirksamt Neukölln erarbeitetes Entwicklungskonzept, das als übergeordnete Zielsetzungen drei große Themenfelder benennt: die Stärkung der Handels- und Dienstleistungsstruktur, eine

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Uferweg hier ausgebessert werden sollte. Am Neuköllner Schifffahrtskanal, welcher vor einem Jahr noch vor Ödnis strotzte, konnte man plötzlich unter Sonnenschirmen des neuen Cafés Zimt und Zucker sitzen und Kaffee trinken. Im Sommer wurde dieses Café zu einem Treffpunkt, an welchem ich verschiedene Musiker aus dem Kiez für Interviews traf. An sonnigen Tagen setzten wir uns gerne ans Neuköllner Ufer. Doch wurden die Gespräche mit Kanalblick nicht selten durch Baustellenlärm gestört, welcher sich auch auf den MP3-Dateien der Interviewaufnahmen abzeichnete. Dafür strahlte die früher ständig demolierte Telefonzelle in neuem Glanz. Die Berliner Gazetten erkannten recht bald die Veränderungen im Kiez, die mit jenen Aufwertungs- oder Gentrifizierungsprozessen verglichen wurden, die man für Prenzlauer Berg konstatiert hatte. Die Diskussionen um Kriminalität im Problemkiez Neukölln gerieten gleichermaßen in den Fokus wie die Debatten um sogenannte Parallelkulturen und Integration in der Stadt. Rückbezüge auf Neukölln als ehemaliger Arbeiterkiez fungierten dabei als beliebtes Paradigma. Die Beiträge, die auf eine gewisse ›Vielfalt‹ oder eine ›multikulturelle Nachbarschaft‹ verwiesen, orientierten sich an den zentralen Themenschwerpunkten um Herkunft, Ethnizität sowie Differenz. Innerhalb dieser globalen Koordinaten sollte auch der Begriff »Kosmopolitisierung«14 für Neukölln eine Rolle spielen. Im Juni 2008 stellten Berliner Stadtsoziologen eine Statistik über einzelne Neuköllner Quartiere zur Verfügung,15 welcher im November desselben Jahres eine dazugehörige Trendanalyse der untersuchten Orte folgte.16 Neben einer realistischen Darstellung der Gesellschaft im Kiez beabsichtigten die soziologischen Untersuchungen auch den Nutzen der dortigen Quartiersmanagements zu unterstreichen. Insbesondere das Neuköllner Reuterquartier wurde durch seine Attraktivität als AusnahmeVerbesserung der Aufenthaltsqualität sowie die Weiterentwicklung der urbanen Vielfalt […].« (Hüge 2010: 39) 14 »Kosmopolitisierung« heißt Beck zufolge, dass »eindeutige Grenzen durchlässiger werden. Also Grenzen, die Märkte, Staaten, Religionen oder auch die Lebenswelten der Menschen trennen. Infolgedessen bedeutet Kosmopolitisierung aber auch, dass wir unfreiwillig mit dem fremden Anderen überall auf der Erde konfrontiert werden. Mit dieser Realität müssen wir uns intensiver auseinandersetzen.« Vgl. »Ulrich Beck über die Zukunft des Nationalstaats und die Türkei«. Beck im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. URL: www.sueddeutsche-zeitung.de/politik/gespraech-mit-ulrich-beck-europaist-in-grosser-gefahr-1.442117-2 (letzter Zugriff am 18.03.2013). 15 Vgl. Häußermann/Kapphan/Förste: Die Entwicklung der Verkehrszellen im Bezirk Neukölln 2001 – 2006. Berlin: Bezirksamt Neukölln 2008. 16 Vgl. Häußermann/Dohnke/Förste: Trendanalyse der Entwicklung von Neukölln und Neukölln-Nord im Vergleich zu Berlin insgesamt und zu anderen Teilgebieten in Berlin. Berlin: Bezirksamt Neukölln 2008.

E INLEITUNG

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erscheinung gegenüber den anderen Vierteln im Bezirk herausgestellt. Auch Zeitungen und Internetblogs erkannten jenes nördlich gelegene Reuterquartier – wegen seiner Nähe zu Kreuzberg auch »Kreuzkölln« genannt – als den neuen Berliner Szenekiez, was die diversen Autoren unter anderem durch eine gewisse Authentizität des Ortes sowie durch die Kreativität der Bewohner des Kiezes erklärten. Unter der Schlagzeile »Let’s move to Kreuzkölln, Berlin. It’s the epicentre of cool«17 informierte so zum Beispiel der Guardian im März 2011 über Mietpreise im Reuterquartier sowie die Vor- und Nachteile der Wohnlage. Ab Sommer 2009 probte ich aus privaten Gründen nicht mehr mit der Band in der Neuköllner Kindl-Brauerei. Anfang 2011 erfuhr ich, dass die Bands, die dort bislang geprobt hatten, eine fristlose Kündigung für den Probenraum erhalten hatten. Dabei hatten sie sich den kargen Lagerraum in den letzten zwei Jahren zu einem praktikablen und freundlichen Musikzimmer umgestaltet. Kommunikationsversuche mit dem Vermieter, in welchen es um die Erhaltung des Probenraums gehen sollte, schlugen fehl. So hatten die Musiker und auch die Künstler, die andere Räume in der Brauerei gemietet hatten, das Feld innerhalb von zwei Monaten zu räumen. Mit Ausnahme einer Agentur, die ihre Räumlichkeiten in der Brauerei behalten konnte, wurde »das ganze Gebäude ›weg-gentrifiziert‹, und nach der Kündigung gab es noch Stress mit dem Vermieter wegen der »vielleicht größten illegalen Party, die Neukölln je gesehen hat«, so der Bericht meines ehemaligen Bandkollegen im Sommer 2011. In der Diskussion um den Probenraum in der Neuköllner Kindl-Brauerei erfuhren die Bands den Kampf um städtischen Raum am eigenen Leibe. Aber waren jene Erfahrungsberichte schon als Vorzeichen städtischer Verdrängungsprozesse zu deuten, die aus Sicht der Stadtsoziologen in Abhängigkeit stehen mit gewissen urbanen Regelmäßigkeiten? Im Kontext stadtsoziologischer Perspektiven unternimmt Bruce Cohen eine Untersuchung zum Musikverhalten von Schülern in verschiedenen Berliner Kiezen. Er stellt fest, dass die lokale Identität, welche die Jugendlichen mittels Musik zum Ausdruck bringen, in den einzelnen Berliner Kiezen eine große Rolle spielt. Die an Musik gekoppelten Identifikationsmuster sind ihm zufolge gebunden an ethnische und gesellschaftliche Gruppen im urbanen Raum.18 Bei der Betrachtung von lokalen 17 Tom Dyckhoff: »Let’s move to Kreuzkölln, Berlin. It’s the epicentre of cool.« Artikel im Guardian am 19.03.2011. URL: www.guardian.co.uk/money/2011/mar/19/move-tokreuzkolln-berlin (letzter Zugriff am 22.03.2013). 18 »With the unified Berlin moving from a divided to fragmented city, music behaviour is becoming increasingly important to local identity formations for young people. This has been demonstrated through a brief overview of a number of different kieze (localities) in Berlin. Such patterns of music identification appear to be bound with space, ethnic and/or social group, and locality.« (Cohen 2008: 103)

16 | »T IEF IN N EUKÖLLN «

Identitäten gerät Berlins Transformation von der geteilten zur fragmentierten Stadt in den Fokus. Dabei wird die Beziehung zwischen kiezeigener Musik und der Konstruktion von lokalen Identitäten als dynamischer Prozess deutlich. Städtische Milieus können als Feld von Wechselwirkungen zwischen sozialen und materiellen Ressourcen sowie als Räume verschiedener Musikstile und musikalischer Lebenswelten verstanden werden. Vice versa spielt Musik im Kontext städtischer Transformationsprozesse eine bedeutende Rolle für das lokale Selbstverständnis der Bewohner:19 Spezifische Migrationsmuster und soziokulturelle displacements führen dazu, dass ethnische Minderheitengruppen Wege finden müssen, sich selbst in neuen Umgebungen zu verorten. Die Analyse von musikalischen Praktiken liefert deshalb Erkenntnisse über spezifische communities an bestimmten Orten und über das sogenannte local knowledge.20 Cohen verweist auf den Nutzen weiterer detaillierter Forschungen in den Berliner Bezirken, um herauszufinden, inwiefern Musik und Musikverhalten als Indikator für lokale Identität fungiert (vgl. Cohen 2008: 103). Im Sinne seiner Erkenntnisse geht die vorliegende Arbeit von spezifischen Musikkulturen in Neukölln aus. Anhand der Studie über das Musikverhalten von Musikern, die seit 2004 nach Neukölln zogen, sollen lokale und translokale Dynamiken deutlich werden, die den Ort durchdringen. Dabei ist zu erwarten, dass Musik als Untersuchungsfeld in Neukölln Erkenntnisse über die symbolischen Konstruktionen von sowohl sozialen als auch geographischen Grenzen in Neukölln/Berlin/Deutschland/der Welt und anderen imaginierten Räumen liefern wird. Transkulturelle Migrationsmuster in der Stadt können als Katalysator für musikalische Kreativität erkannt werden. Die Beziehung zwischen Musik, Orten und der Konstruktion lokaler Identitäten ist ein dynamischer Prozess. Musik selbst fungiert als Ressource, welche es Individuen ermöglicht, aktiv Räume zu konstruieren, in welchen sie leben (vgl. Bennett 2000: 195). Sara Cohen zufolge spiegelt Musik die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Aspekte eines bestimmten Ortes wider, in welchem sie geschaffen wird. Der Wandel von Orten beeinflusst ihr zufolge auch Veränderungen in Musikstilen und Klängen (vgl. Cohen 1995: 444). Somit kann von der These ausgegangen werden, dass neue Musikräume in Neukölln auch Transformationsprozesse im Kiez veranschaulichen. 19 »The relationship between music, the ›local‹ and the construction of local identities is a dynamic process. On the one hand, music informs ways of being in particular social spaces, on the other hand, music functions as a resource whereby individuals are able to actively construct those spaces in which they live.« (Bennett 2000: 195) 20 »Thus, for example, work on local music-making processes has demonstrated how the act of music-making becomes invested with a series of rich discourses concerning the impact of local cultures on collective creativity, even to the point that the actual sounds and timbres produced by musicians in given local settings are deemed to result from their sharing of particular forms of local knowledge and experience.« (Whiteley 2005: 2)

E INLEITUNG

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Dabei ist Musik nicht als Markierung in einem vorstrukturierten sozialen Raum zu verstehen, sondern ist für den Wandel des urbanen Raumes von Bedeutung, (vgl. Stokes 1994: 4) der sowohl sichtbar als auch hörbar wird. Vom fragmentierten Berlin zum gentrifizierten Neukölln »[…] Michael Kuppisch, der in Berlin in der Sonnenallee wohnte, erlebte immer wieder, daß die Sonnenallee […] sentimentale Regungen auszulösen vermochte [und] konnte sich gut vorstellen, daß auch auf der Potsdamer Konferenz […] die Erwähnung der Sonnenallee etwas bewirkte. [...] Die Straße mit dem so schönen Namen […] wollte Stalin nicht den Amerikanern überlassen […]. […] Stalin war so zuvorkommend, ihm [Churchill] Feuer zu geben, und während [er] seinen ersten Zug auskostete und sich über die Berlin-Karte beugte, überlegte er, wie sich Stalins Geste adäquat erwidern ließe. Als Churchill den Rauch wieder ausblies, gab er Stalin einen Zipfel von sechzig Metern Sonnenallee und wechselte das Thema.« THOMAS BRUSSIG IN SEINEM BUCH AM KÜRZEREN ENDE DER SONNENALLEE 1999: 7-8

Brussig beschreibt in seinem Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) das Leben der Einwohner des Bezirks um den Ostteil der Sonnenallee in den späten 1970ern bis Anfang der 1980er Jahre. In unmittelbarer Nähe zur Berliner Mauer war jener Ostberliner »Todesstreifen« durch Schießbefehle gekennzeichnet. Die Neuköllner Sonnenallee als Ort von Spannungen zwischen Ost und West schreibt sich so als symbolträchtiges Grenzgebiet in die Berliner Geschichte und Geographie ein (vgl. Escher 1988: 90). Neben den Bezirken Wedding und Spandau wird Neukölln traditionell als Arbeiterkiez des Westteils der Stadt beschrieben, also als einer der Bezirke, in denen sich schon vor dem zweiten Weltkrieg die Berliner Industrie konzentrierte (vgl. Krätke/Borst 2000: 226). In diesem Zusammenhang symbolisiert die Benennung der ehemaligen Bergstraße in Karl-Marx-Straße marxistische Zukunftsvisionen einer damaligen Arbeiterbewegung in Neukölln.21 Doch die Betrachtung 21 Auch nach der sowjetischen Besetzung am 25. April 1945 kam es »[n]och während der folgenden drei Tage […] infolge deutschen Widerstands zu schweren Straßenkämpfen im

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Neuköllns als reines ›Arbeiterquartier‹ reicht nicht aus, um die Entwicklung von 1870 bis 1990 adäquat zu beschreiben, da sich spätestens in der Nachkriegszeit solche traditionellen Milieubildungen fast vollständig auflösten.22 Bereits in den 1930er Jahren prägten Bildberichte über Arbeitslosigkeit die Außendarstellung Neuköllns im In- und Ausland: Infolge der Weltwirtschaftskrise 1929 wurde das Neuköllner Arbeitsamt »Süd-Ost« auf der Sonnenallee zum Symbol der schlechten Wirtschaftslage Deutschlands.23 Die Namensänderung des Kiezes von »›Rixdorf‹ zum Modernität suggerierenden ›Neukölln‹ […] als ein Versuch der Imageverbesserung« änderte nichts an der überwiegend negativen Fremdeinschätzung Neuköllns (Escher 1988: 56). Im Kontext der Machtergreifung im Zweiten Weltkrieg wird Neukölln überdies als »widerständiger Kiez« vermerkt, in welchem die NSDAP trotz ihrer sonstigen Wahlerfolge keinen Durchbruch erreichen konnte.24 Zynisch und etwas belustigt beschreibt Brussig im Auftakt zu seinem Buch im oben angeführten Zitat seine Version der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945, Bezirk. Das Neuköllner Rathaus, in dem sich eine SS-Einheit verschanzt hatte, wurde zum Hauptschauplatz der letzten Kämpfe, die noch einmal zahlreiche Menschenleben forderten. […] Eine kurzlebige politische Konstellation im Rathaus, noch geprägt von der Erfahrung des nationalsozialistischen Terrorregimes und verbunden mit der Tradition der marxistischen Arbeiterbewegung, versuchte, mit dem Namenspatron Karl Marx Zukunftsvisionen zu formulieren. Die politischen Konstellationen und die Visionen zerfielen, der Name blieb.« (Hüge 2010: 32ff.) 22 Zwar sei jene lokale Kiezidentität verschränkt gewesen »mit einer überregionalen Identifikation mit dem von der Sozialdemokratie politisch dominierten Arbeitermilieu«, doch »lockerten sich bereits in der Weimarer Zeit diese traditionellen Milieubildungen, um sich in der Nachkriegszeit schließlich fast vollständig aufzulösen« (SchmiechenAckermann 1998: 72). 23 »Die Arbeitslosenquote lag 1933 in Neukölln bei 33 Prozent der Erwerbsfähigen.« (Escher 1988: 72ff.) Zur Arbeitslosigkeit Berliner Industriearbeiter vgl. Krätke 2005: 83. 24 »Auch der Versuch der NSDAP, mit Hilfe der SA den Straßenterror nach Neukölln hineinzutragen, scheiterte hier an dem Widerstand der gut organisierten Arbeiterparteien. Lediglich in Randgebieten […] gelang es, Stützpunkte einzurichten. Während in anderen Stadtteilen Straßenkämpfe tobten, blieb es in Neukölln relativ ruhig,« was sich mit dem Verbot der KPD änderte (Escher 1988: 74-76). SPD und KPD hatten ab 1935 Widerstandsgruppen, die sich aus der Rütli- sowie der Gemeinschaftsschule zusammensetzten. »Die Ablehnung des Nationalsozialismus hatte in Neukölln trotz der hier wie überall feststellbaren Gleichgültigkeit und des Opportunismus eine vergleichsweise breite Grundlage, was auch von höchsten Stellen mit einiger Aufmerksamkeit beobachtet wurde. […] Heinrich Himmler sowie […] Hermann Göring […] behandelten Neukölln schon vor dem Zweiten Weltkrieg wie ein fremdes, erobertes Gebiet.« (Escher 1988: 80-82)

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auf welcher Berlin von den Siegerstaaten in vier Sektoren aufgeteilt wurde. Neukölln wurde in diesem Zuge am 25. April 1945 durch sowjetische Truppen besetzt. Ende der 1940er Jahre erfolgte schließlich die Teilung des Stadtraums in zwei getrennt verwaltete Bereiche mit gegensätzlichen politischen Systemen. Die territoriale Besetzung Berlins steht auch für eine geographische Fragmentierung, die durch die deutsch-deutsche Wiedervereinigung nicht aufgehoben werden konnte und bis heute das Stadtbild prägt (Häußermann/Kapphan 2002: 57).25 Die Wiedervereinigung führte zu einem Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsstadt, der in Berlin große Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt nach sich zog (ebd., 2). Die postfordistische Deindustrialisierung resultierte in der Ausweitung des Berliner Stadtkerns.26 Vor dem Hintergrund der Globalisierung lösten sich tradierte, lokale und ökonomische Strukturen auf. Neben den Transformationsprozessen im Ostteil der Stadt brachte der ökonomische Wandel auch sozialräumliche Konsequenzen für Berlin mit sich: Eine wachsende Polarisierung des Lohneinkommens führte im Kontext der Langzeitarbeitslosigkeit zur Schaffung einer neuen Unterklasse und damit zu einer sozialen und räumlichen Ausgrenzung, die die Stadtsoziologen als Segregation bezeichnen (vgl. Häußermann/Kapphan 2002: 26) und die in den Berliner Bezirken anhand einer »ungleichmäßigen räumlichen Konzentration verschiedener Sozialgruppen« erfasst wird (Krätke/Borst 2000: 223 [Herv. i.O.]) Die Haushalte, »die aufgrund ihrer materiellen Situation eine Wahlfreiheit bei der Wohnstandortwahl haben, sorgen für den beständigen Prozess einer feinkörnigen sozialen Sortierung«, während die Haushalte, denen es nicht möglich ist, »ihre eigenen Wohnwünsche« zu realisieren, »in den weniger beliebten Quartieren« zurückbleiben, was sowohl zu einer sozialen als auch erzwungen Homogenisierung jener »überflüssigen Bevölkerung« führt (Häußermann/Kapphan 2002: 20ff.). So konzentrieren sich Menschen mit geringem Einkommen und Sozialhilfeempfänger Krätke zufolge »in den traditionellen Arbeiterbezirken der westlichen Innenstadt«, wozu er auch Neukölln zählt (ebd. 2005: 83). Im Kontext einer zunehmenden Ökonomisierung und des Eintritts in die postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft gebrauchen Häußermann/Siebel den Begriff Neue Urbanität (1987) zur Beschreibung des segregierten städtischen 25 Zum Beispiel thematisiert Poulain die deutsch-deutschen Grenzerfahrungen in der Region zwischen Treptow und Neukölln und fasst das ehemalige Mauergebiet als Ort der Begegnung zusammen (vgl. ebd. 1898: 311-327). 26 Dieses zuerst am Beispiel von nordamerikanischen Städten festgestellte Entwicklungsmodell kann Schmid zufolge übertragen werden auf europäische Beispiele: In den neuen US-amerikanischen Städten zog also nicht mehr nur die wohlhabende Bevölkerung in die Vororte, »sondern auch Dienstleistungsunternehmen und sogar Hauptsitze von globalen Unternehmen, die sich ursprünglich in der City […] konzentriert hatten. […] Nach der Explosion der Metropole erfolgte nun die Explosion des Zentrums.« (Schmid 2005: 56ff.)

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Raums. Parallel zu den Prozessen städtischer Segregation konstatieren sie den Zuzug einer alternativen Szene, die durch höhere Bildung, künstlerische Neigungen und Ansprüche an Selbstverwirklichung charakterisiert ist und durch diese spezifischen Lebensstile und einen kreativen Umgang mit ihrer Umgebung27 »kulturelles Kapital« in ebendiese Quartiere bringen, in denen vormals jene Benachteiligten lebten.28 Der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung hatten den Status Berliner Bezirke per se neu definiert: Ehemalige Randbezirke wurden plötzlich als zentrale, innerstädtische Loci sowohl für Immobilienspekulanten als auch für eine alternative Szene interessant, was Barbara Lang 1998 in ihrem Buch Mythos Kreuzberg verdeutlicht.29 Im Kontrast zum »benachbarten Kreuzberg, wo geradezu der Prototyp eines alternativen ›Szene-Stadtteils‹ entstand,« werde in Neukölln »nur selten eine ungebrochene Identifikation mit dem Wohnquartier zur Schau getragen«, so Schmiechen-Ackermann in demselben Jahr (ebd. 1998: 73).30 Als Konsequenz der Wiedervereinigung konstatiert Hüge für Neukölln, dass »[g]ut Situierte […] in den 1990er Jahren mehr und mehr Neuköllns Innenstadt 27 »Dies äußert sich in einer lockeren Haltung gegenüber konformistischen Ansprüchen und schlägt sich in einem offensiven und kreativen Umgang mit der Wohnung und ihrer Umgebung nieder. Da der Wohnbereich realer Lebensmittelpunkt und nicht nur Raststätte für ein fremdbestimmtes Arbeitsleben ist, können sich die schöpferischen Kräfte stärker auf dieses Feld richten – sofern es Hausordnungen und Mietverträge zulassen.« (Häußermann/Siebel 1987: 18ff.) 28 »Aus den Quartieren, in denen die Benachteiligten leben, werden benachteiligende Quartiere.« (Häußermann/Kapphan 2002: 21f.) 29 So konstatiert Barbara Lang: »Mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands war der Locus, aber auch der Status Kreuzbergs neu definiert. Aus dem ehemaligen Randbezirk im Windschatten der Mauer war City geworden und das bisherige Auffangbecken für […] Underdogs, Lebenskünstler und Weltverbesserer sah sich mit einem Mal mit neuen Interessenten konfrontiert: Dienstleistungsunternehmen, höheren Angestellten, Investoren und Immobilienspekulanten, all denen also, die es wegen der neuen Aufgaben und Tätigkeitsfelder, die Berlin als Haupt- und Weltstadt zu übernehmen sich anschickt, in die Innenstadt der Metropole lockt.« (Ebd. 1998: 37) 30 Schmiechen-Ackermann verweist 1998 auf die Unterschiede zwischen Identifikationsmustern der Bewohner Neuköllns mit ihrem Wohnort und der Fremdwahrnehmung des Bezirks »Knüpft ein Teil der Bewohner mit einer spezifischen Kiez-Identität bewußt an die Traditionen der sozialistischen Arbeiterbewegung, die Reformpolitik der Weimarer Zeit oder die lokale Ausprägung der 68er-Bewegung an, so assoziieren quartiersfremde Betrachter oftmals eher eine Kontinuitätslinie vom traditionell ›vergnügungssüchtigen Armeleuteviertel‹ und ›schmuddeligen‹ Arbeitervorort Rixdorf zum heute noch unterprivilegierten Bezirk.« (Binder 1991: 7 nach ebd. 1998: 39ff.)

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[verließen] und sozial Schwache und Migranten […] nach[zogen]« (ebd. 2010: 38).31 Nach Hartmann/Hörsch/Neujahr waren es »Migranten, die die Geschichte Rixdorfs wesentlich mitbestimmten« (ebd. 1998: 355). In der Sichtweise der Autoren zeigt sich Neukölln als ein »klassisches Beispiel für den Zusammenhang von Bebauungsstrukturen und türkischem Zuzug« (ebd. 1998: 330). Eine »weitgefächerte ethnische Infrastruktur« und »die Präsenz türkischer Einwohner und Gewerbetreibender« sei ihnen zufolge »auch im Straßenbild kaum mehr zu übersehen« (ebd. 1998: 332). In diesem Zusammenhang erkennt Çil, dass mit dem Mauerfall der gesellschaftliche Ausschluss von Einwanderern in den ehemals westdeutschen Bezirken – darunter Neukölln – noch sichtbarer wird.32 Parallel zur Ausgrenzung spezifischer Gesellschaftsgruppen werden die Quartiere auch mit einem starken Zugehörigkeitsgefühl der Bewohner zu ihren Kiezen verbunden – wie es Brussig in seinem Roman anhand des Mikrokosmos‹ Sonnenallee schildert. Aus Sicht der Stadtsoziologie gewinnt »[m]it der zunehmenden räumlichen Segregation, dem Ausschluss vom Arbeitsmarkt und steigender Arbeitslosigkeit […] die ethnische Identität und das Wohnquartier als Lebensraum an Bedeutung für Kontakte und die soziale Identifikation«, was auch »Folgen für die ethnische Gemeindebildung« habe.33 Die Entwicklung eines Konzepts »für eine multikulturelle Zukunft der Stadt« fungiert in ebendieser Sichtweise als Antwort auf die Frage nach einer sozialen Integrationskraft Berlins.34 31 Einem »fortschreitenden Niveau-Verlust« der neu eröffneten Läden folgte nach Hüge »bald auch eine zunehmende Verwahrlosung des Straßenraums.« (Hüge 2010: 38). 32 Çil konstatiert die soziale und ökonomische Verschlechterung in der westdeutschen Gesellschaft bereits in den 1980er Jahren, »die zu Ausschluss und Ausgrenzung von Einwanderern führte. [...] Schließlich unterstützte die Diskussion in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik um das kommunale Wahlrecht, also ein Wahlrecht ohne Wechsel der Staatsbürgerschaft, die Sichtweise, dass eine soziale und politische Partizipation und somit Inklusion möglich sei. […] Die Ereignisse von 1989/90, die zu einer Suche nach Einheit stiftenden Elementen führten, haben so den bereits zuvor existierenden Ausschluss von Einwanderern bestätigt.« (ebd. 2007: 11) 33 »Bei zunehmendem Ausschluss vom Arbeitsmarkt werden sich die Konzentrationen und ethnischen Gemeinden verfestigen und abschotten. Die Gefahr besteht also, dass die ethnischen Kolonien ihre Brückenfunktion verlieren und sich aus den Gebieten der Ausländerkonzentration Räume der Segregation und Benachteiligung entwickeln.« (Häußermann/Kapphan 2002: 219) 34 »Die traditionellen Formen der Integration in der europäischen Stadt stehen damit auf dem Prüfstand. Das Ende der fordistischen Stadt ist sicher nicht gleichbedeutend mit der Auflösung der Stadt als einer sozialen Veranstaltung, aber mit ihm setzt ein tiefgreifender Wandel ein, der auch die sozialräumlichen Strukturen betrifft.« (Ebd., 199) »Die ökonomische und kulturelle Zukunft der Stadt hängt zu einem nicht geringen Teil davon ab, ob

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Als »Instrument zur Erhaltung bzw. Förderung zivilgesellschaftlicher Umgangsund Beteiligungsweisen«35 werden von der Berliner Stadtplanung seit 1998/1999 sogenannte Quartiersmanagements36 (QM) in einzelnen Kiezen eingerichtet, in welchen »die sozialen Probleme besonders groß sind« (Häußermann/Kapphan 2002: 269, 262). Zu diesen zählen die Berliner Stadtplaner auch die einzelnen Quartierszellen Neuköllns. Wurde die symbolische Politik des Quartiersmanagements eingeführt, »um lokale Strukturen in Gebieten mit besonders deutlichem sozialräumlichen Niedergang zu unterstützen«, bleiben die »Entwicklungsbedingungen, die der Ausbreitung städtischer Armut zugrunde liegen,« nach Krätke zu hinterfragen (Krätke/Borst 2000: oS nach Krätke 2005: 83). Während Stadtpolitik früher darauf ausgerichtet war, »einen gewissen Ausgleich zwischen einzelnen Quartieren zu schaffen bzw. die Unterschiede regulativ abzufedern«, schreitet eine »Segmentierung in aufgewertete innerstädtische Luxusstadt, zunehmend vom Zentrum abgetrennte Vororte, alte Arbeiter- und Mieterquartiere sowie Gettos« gegenwärtig weiter fort (Scharenberg/Bader 2005: 11).37 Jene als erzwungen dargestellten Segregationsprozesse wurden erstmals 1964 für London unter dem Begriff Gentrification38 zusammengefasst, der »zu einem sie zu einem integrativen Ort der – sicher konfliktreichen – Koexistenz verschiedener Lebensstile und verschiedener ethnischer Gruppen wird« – so die Perspektive der Stadtsoziologen (ebd., 272). 35 Vgl. IfS/S.T.E.R.N. 1998: oS nach Häußermann/Kapphan 2002: 262 36 »Der Prozess von Marginalisierung und Exklusion in den Gebieten soll gestoppt werden. Dafür ist es wichtig, die Bewohner an Entscheidungen zu beteiligen und ihre Handlungskompetenzen zu stärken. […] Oftmals hat es an diesem Punkt schon Missverständnisse gegeben, wenn unter dem neuen Label ›Quartiersmanagement‹ gerade wieder die aktiven Gruppen zusammenkommen und Ressourcen statt Aktivierung verlangen. […] [Das QM] ist ein Instrument zur Erhaltung bzw. Förderung zivilgesellschaftlicher […] Beteiligungsweisen in den Stadtteilen. Statt Kontrolle setzt es auf Moderation, Vernetzung [und] Aktivierung […]. [Es] hat […] die Aufgabe, die Vernetzung von Strukturen, Initiativen, Projekten […] zu unterstützen. […] nicht die Beseitigung von Armut und der Arbeitslosigkeit, auch wenn dies ein erwünschter Nebeneffekt in den Quartieren ist.« (Häußermann/Kapphan 2002: 262-265) 37 »Peter Marcuse [...] argues that the modern city has become ›quartered‹, the […] form of contemporary urban divisions being significantly different and more alarming than those in the past.« (Marcuse 2000: oS nach Cohen 2008: 91) 38 In einer Untersuchung zu London 1964 erklärte Ruth Glass erstmals den Begriff gentrification wie folgt: »One by one, many of the working-class quarters of London have been invaded by the middle classes – upper and lower. Shabby, modest mews and cottages – two rooms up and two down – have been taken over, when their leases have expired, and have become elegant, expensive residences. Larger Victorian houses, down-

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theoretischen wie ideologischen Kampffeld um die Frage des Städtischen« geworden ist (Smith 1996: 41f. nach Schmid 2005: 56). Im Kontext städtischer Transformationsprozesse in den 1990er Jahren erfolgte anhand der Analyse von Machtverhältnissen am Beispiel des Bezirks Prenzlauer Berg eine erste Einführung des Begriffs Gentrifizierung in der Bundeshauptstadt.39 2010 konstatiert Holm auch für Teile Neuköllns sogenannte Gentrifizierungstendenzen.40 Creative Berlin Charles Landry (2000) und Richard Florida (2002) versuchen, städtische Steuerung über die Ressource Kreativität zu formulieren (vgl. Lange 2007: 68). »[I]m Zuge der Ausbreitung Neuer Medien« sowie im Kontext der »vormals ideologisch stabilen Subkulturen in Ost- wie West-Berlin« entstanden auch in Berlin »vielfältige Arbeits- und Beschäftigungsfelder im Bereich der sogenannte »›Creative Industries‹« (ebd., 12). Daher setzt die Stadtpolitik Berlins, das als frühe Industriemetropole mit dem postfordistischen Strukturwandel zu kämpfen hatte, auf jene »Kreativindustrien – und hier insbesondere die Branchen der New Economy und den Tourismus« (Scharenberg 2005: 189). Außerdem positioniert sich die deutsche Hauptstadt mit begrifflichen Marketingmaßnahmen als »global city«, Metropole sowie als Wirtschafts- und Kulturzentrum.41 In diesem Sinne erkennt auch Bottà graded in an earlier or recent period – which were used as lodging houses or were otherwise in multiple occupation – have been upgraded once again. [...] Once this process of ›gentrification‹ starts in a district it goes on rapidly until all or most of the original working-class occupiers are displaced and the whole social character of the district is changed.« (Glass 1964: xviii nach Schmid 2005: 56) 39 Vgl. Andrej Holm: Die Restrukturierung des Raumes. Stadterneuerung der 90er Jahre in Ostberlin: Interessen und Machtverhältnisse. Bielefeld: Transcript 2006. 40 So schreibt Holm 2010: »Die Dynamik der städtischen Aufwertung hat sich in den vergangenen 20 Jahren einmal im Uhrzeigersinn durch die Berliner Innenstadt bewegt. Über die Stationen Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain ist die Bugwelle der Gentrification nun wieder in Kreuzberg und sogar Teilen von Neukölln angelangt.« (Holm 2010: 7) 41 »Tatsächlich haben sich nach 1990 einige bedeutende Unternehmenszentralen in Berlin niedergelassen, doch im Vergleich zu den Metropolregionen Westdeutschlands ist Berlin nach wie vor nur schwach mit Headquarterfunktionen ausgestattet.« (Krätke/Borst 2000: oS nach Krätke 2005: 75) Dabei sei der Begriff »Metropole«, wie er in Formen der städtischen Selbstdarstellung in »Industrie«- und »Kulturmetropole« als Image-Konstruktion auftritt, »nüchtern« zu hinterfragen, da jener Hauptstadt-Bauboom und die damit in Verbindung stehenden wirtschaftlichen Entwicklungen seit der Wende viele Erwartungen unerfüllt lässt (Krätke/Borst 2000: 19-21, 223, vgl. Häußermann/Kapphan 2002: 51).

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Berlins Rolle als »Kreativstadt« sowie als Pionier in der Mode- und IT-Branche, wofür er auch jene »peculiar and political situation of West Berlin« verantwortlich macht, die auch als Inselcharakter bezeichnet wird.42 »Trotz einer allgemeinen negativen Wirtschaftsentwicklung« habe »die Bedeutung Berlins innerhalb des Netzwerks der Medienstädte in den letzten zehn Jahren erheblich zugenommen«, was auch führende Unternehmen der Musikindustrie nach Berlin zieht (Krätke 2005: 77-78), so dass sich »Popmusik« als eines der Hauptsymbole urbaner Kreativität manifestiert (vgl. Bottà 2008: 298-300).43 Im Kontext von empirisch untersuchten Kreativszenen betont Lange, dass die Akteure der Kreativwirtschaft das Label »›Berlin‹ […] als Ort für atmosphärische und symbolische Aufladung ihrer eigenen Identität sowie ihrer Produkte« brauchten und »auf das geographisch-symbolische Kapital des Topos Berlin angewiesen sind, wie sie wiederum in der Lage sind, dieses reflexiv für ihre Unternehmensstrategie in Wert zu setzen und dabei zu formen« (ebd. 2007: 16). Mit der Ökonomisierung von Ortsbezeichnungen wie Berlin (vgl. ebd.) werden unter den kreativwirtschaftlichen und kulturellen Unternehmungen speziell auch die musikalischen Praktiken an diesen Orten wichtig.44 Scharenberg/Bader konstatieren, dass es die »von der Deindustrialisierung beförderten Prozesse der sozialräumlichen Segregation« seien, welche die Entwicklung von sowohl HipHop als auch Techno in Berlin maßgeblich beeinflussten (ebd., 2005: 11). Neben HipHop fungiert Techno als traditionsreicher Markenname für die Bundeshauptstadt (Bader 2005: 112). Kurz nach dem Fall der Mauer wurden die leerstehenden Gebäude und Fabriken im ehemaligen Grenzgebiet als Locations für Partys entdeckt und Techno dadurch an versteckten Orten im »Niemandsland« Berlins lokalisiert (vgl. Vogt 2005a, vgl. Hegemann 2005: 133-145). Bald darauf transformierten Akteure des sogenannten kreativen Milieus die Industriekultur in den Ostberliner Arbeiterstadtvierteln in eine selbst regulierte Kulturindustrie: In der Technoszene ermöglichte eine Organisationselite den Aufbau lokaler Szenen, Plattenlabels, kleiner Firmen und Multimedia-Agenturen, die sich auf den Verkauf von allen möglichen Lifestyle-Produkten bezogen (vgl. Vogt 2005b: 48). Diese Ent42 Berlin als Insel: Zwar ist die Stadt ein autonomes Land der BRD, jedoch zugleich umgeben von der DDR, von welcher Berlin seit 1961 getrennt wurde (vgl. Bottà 2008: 298). 43 Auch Cohen sieht Verbindungen zwischen der Entwicklung kommerzieller Popmusik im 20. Jahrhundert und einer wachsenden Urbanisierung und fragt, wie der globale Kapitalismus, der insbesondere in den Städten stattfand, das Entstehen moderner Popmusik bedingte. Andererseits möchte sie klären, wie die Besonderheiten von Popmusik ihrerseits einen Einfluss nehmen auf Städte (vgl. ebd. 2007: 3-4). 44 Binas zufolge kristallisiert sich der Fokus auf die Zusammenhänge von Kultur, Wirtschaft und Stadtentwicklung gerade für die Untersuchung von Musik als besonders geeignet heraus (vgl. ebd. 1999: 199).

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wicklungen betrafen vor allem die Berliner Bezirke Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Doch die temporären und sich ständig transformierenden Aktivitäten der Musiker stellen die soziale, kulturelle und auch wirtschaftliche Stabilität in Frage (vgl. Binas 1999: 201). Berlin übernimmt mit seinem Status als »creative city« eine starke Stellung in den wissensintensiven Branchen und versucht sein Image als »Musikhauptstadt Deutschlands« zu pflegen. Doch bleiben die ökonomischen Potenziale aus Perspektive einer »global city« dabei zu hinterfragen.45 Trotzdem verzeichnen zentrale Stadtbezirke eine hohe Konzentration künstlerischer Industrien und öffentlicher Räume, die insbesondere für den Tourismus und spezifische Aspekte des Städtischen entwickelt und kultiviert werden (vgl. Krims 2007: xxvi). Neben den Kreativ- und Kulturindustrien sind es Klein zufolge deshalb insbesondere sogenannte Subkulturen, die sich als Pioniere in den städtischen Raum einschreiben: So »waren es schon immer Städte, in denen Subkultur und Mainstream, Underground und Overground sich entwickelten und nebeneinander und miteinander existierten« (ebd. 2004: 132). In ihrem Buch Die kreative Stadt. Zur Neuerfindung eines Topos betont Heßler die »Rolle der Stadt für die Entstehung des Neuen, Kreativität, für Innovation und Wissen«, die »ihre Realität in der Bedeutung wissenschaftlicher Institutionen, von Clubs oder Assoziationen in den Städten« [fand] (ebd. 2007: 43).46 Ihr zufolge werden neben Kreativität und Subkulturen auch Avantgardekulturen »zumeist in bestimmten Vierteln lokalisiert« (ebd.). So sind es auch aus der Sicht von Florida vor allem sogenannte »authentic urban neighbourhoods«, in denen sich eine »truly Creative Community« ansiedelt.47 In Bezug auf Medienunternehmen stellt Krätke in diesem Zusammenhang fest, dass auch diese innerstädtische Loci bevorzugten, »da die Akteure der Medienwirtschaft selbst die ›sexy‹ Standorte der Innenstädte« vorzögen (ebd. 2005: 79). Jene Newcomer, bei denen Krätke »eine relative Konzentration von Menschen mit höherer Bildung« indiziert und die er im Sinne Floridas als »kreative Klasse« zusammenfasst, suchten sich bewusst subkulturell geprägte Viertel, welche die besten Möglichkeiten und Orte dafür böten, andere Kreative zu treffen (ebd.). Diese Viertel dienten den Mitgliedern jener kreativen Klasse auch

45 Krätke/Borst konstatieren »[e]in Wegschmelzen von Arbeitsplätzen […] nicht nur in traditionellen Industriebranchen, [sondern] auch in den Sektoren der Kultur-Produktion […], d.h. in Sektoren, die gewöhnlich als ›Hoffnungsträger‹ bzw. zukunftsfähige Branchen einer spezifisch metropolitanen Regionalökonomie gelten.« (Ebd. 2000: 286) 46 »Städte, vor allem Handelsstädte, waren seit dem Mittelalter Umschlagplätze für Wissen.« (Vgl. Burke 2002: 50, 77f. nach Heßler 2007: 43) 47 Florida stellt die Frage danach, wie eine »truly Creative Community« geschaffen werden kann: »[…] my focus groups and statistical research tell me that Creative Class people increasingly prefer authenticity to this sort of generica.« (Ebd. 2002: 282-283)

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»als erweiterte Bühnen für ihre Selbstinszenierung in der Freizeit«, wodurch dortige Gentrifizierungsprozesse unterstützt würden (ebd., 79).48 Erscheinen die Prozesse des urbanen Strukturwandels zunächst als ungesteuert, identifiziert Krims diese vielmehr als ›kulturelle Wiederbelebungsmaßnahmen‹,49 die mit dem konkreten Ziel verbunden sind, Städte und einzelne Stadtbezirke als lebendig und kreativ darzustellen (vgl. ebd. 2007: xxvif.). Die systematische Beschreibung vermeintlich innovativer Milieus dient in diesem Zusammenhang zur »Erneuerung urbanen Kapitals in Form von Attraktivität« und steht für Marktstrategien, die sich im Wettkampf zwischen unterschiedlichen Stadtteilen zeigten (Guelf 2010: 280). Wie von Häußermann/Siebel unter dem Begriff Neue Urbanität beschrieben, wird parallel zum Ausschluss von Minderheiten im segregierten Stadtraum also eine bewusste Ansiedelung von einer anderen Bevölkerungsgruppe konstatiert, die sich aus Künstlern und Kreativen bildet und die für die Konsumption des Städtischen interessant wird (vgl. Florida: oA nach Guelf 2010: 281). Unter dem Titel »KippCity Neukölln« benennt Hentschel den Kiez in ihrem gegenwärtigen Forschungsvorhaben als Achse zwischen »Berlin’s no-go-zone of failed integration or its new alternative hub of creativity«.50 Zwar bleiben die demokratisierende Wirkkraft der Kulturwirtschaft sowie der integrative Nutzen künstlerischer Praktiken im Kontext einer kapitalistischen Gesellschaft zu hinterfragen.51 Mit Bezug auf die »ethnische Vielfalt als Ressource der Stadtentwicklung« thematisieren die Sozialwissenschaftler Merkel/Eckardt

48 »So gibt es in speziellen innerstädtischen Vierteln von Berlin eine direkte Verbindung zwischen der Clusterbildung kreativer Unternehmen und bestimmten Lebensstilformen der kreativen Klasse, was zu einer Überschneidung ihrer Geographien von Produktion und Konsumption führt.« (Krätke 2005: 79ff.) 49 Übersetzung durch CH. Krims verwendet den Begriff »cultural regeneration« analog für den Term Gentrifizierung. 50 Vgl. die Kurzfassung ihres Projektvorhabens URL: www.ici-berlin.org/profile/hentschel (letzter Zugriff am 23.03.2013). 51 »To what extent have they decentralised and democratised culture? To begin to answer these questions, we need to understand the dominant ways in which the Internet and Web were frames during the crucial early years of their development (the 1980s and 1990s). [...] Cultural markets under capitalism tend to combine centralising and decentralising forces, but, in general, there is a tendency for structural inequalities of class, gender, ethnicity and so on to be exacerbated unless resolute governmental action is taken to counter them [...].« (Hesmondhalgh 2007: 246, 247) »Eines der zentralen Kennzeichen der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft ist die offensichtliche Konvergenz, die sich zwischen dem Bereich des Ökonomischen auf der einen Seite und dem Bereich des Kulturellen auf der anderen Seite vollzieht.« (Scott 2005: 14)

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2010 jedoch die Rolle Nordneuköllns als sogenanntes »Kreativquartier« (vgl. ebd. 2010: 83-102). Selbstreflexion und Methode: Die Ethnologin mit dem Aufnahmegerät in der Hand »Ethnographers overlooked the fact that it was actually their own methodological needs and strategies which generated the result, e.g. the use of the village as a manageable unit for purposes of eliciting information and for providing a convenient focal point from which to contruct a picture of an entire culture.« (CLIFFORD 1992: 100)

Mit dem Fokus auf neue Musikkulturen in Neukölln soll der Schwerpunkt der vorliegenden Ethnographie auf den hörbaren und ästhetischen Eigenschaften der musikalischen Praktiken im Kiez liegen. Doch ziele ich dabei nicht auf die Dokumentation von urbanen Soundscapes im Sinne Murray Schafers52 ab. In dessen soundökologischer Tradition beabsichtigte das Hamburger Kunstprojekt Die Stadt Hören im Jahre 2009 auf das Verschwinden von Sounds in Neukölln aufmerksam zu machen: Mit Hilfe eines Online-Soundarchivs sollten sogenannte Gentrifizierungsprozesse im Kiez »klanglich verdeutlich[t]« werden.53 Etwa zeitgleich machte 52 Schafer erforschte im Sinne einer »Akustikökologie« den Zusammenhang zwischen dem Menschen und der hörbaren Umwelt (Werner 1995: 38). In Anlehnung an das Wort »landscape« schuf er Ende der 1960er Jahre den Begriff »Soundscape«. Während er damit zum einen elektroakustische Musikkompositionen meint, bezieht sich Soundscape zum anderen auf eine »real existierende Schallumwelt mit all ihren Geräuschen, ihrer Technik, ihrer Musik« (Schafer 1993: 10ff.). Sein World Soundscape Project (WSP) wurde in den frühen 1970er Jahren an der Simon Fraser University in Kanada gegründet. Es bestand aus Spezialisten verschiedenster Fachgebiete, wie Architekten, Soziologen, Psychologen und Akustikern und hinterlässt ein Archiv von über 300 Kassetten aufgenommener Klanglandschaften sowie als geschriebene Dokumente, siehe URL: www.sfu.ca/~truax/wsp.html (letzter Zugriff am 10.03.2013). 53 Das Hamburger Projekt Die Stadt hören »ging von der Frage aus, wie sich eine Ökonomie des Verschwindens repräsentieren lässt, um ein Sound-Archiv vergessener und verschwindender Klänge zu entwickeln. Dafür wurden in einer Spurensuche zunächst umkämpfte Orte kartiert und dort Soundscapes aufgenommen. In einem nächsten Schritt wurden die Soundfiles auf eine Website geladen und archiviert. […] So lässt sich an einer Stelle an der Grenze von Kreuzberg zu Neukölln akustisch nachvollziehen, wie sich im

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auch ein US-amerikanischer Internetblog den Zuzug von Kunst- und Kulturschaffenden in spezifische Stadtteile für die gesellschaftlichen Transformationen verantwortlich und beschrieb die Rolle von Künstlern als sogenannte gentrifier in den betreffenden Quartieren.54 Vor diesem Hintergrund erscheint das Projekt der Hamburger Künstler, die mit ihren Aktivitäten auf »Gentrifizierungsprozesse« aufmerksam machen wollen, ambivalent.55 Außerdem kann Kritik geübt werden an dem vielmehr »modischen Charakter« jenes Künstlerprojekts, das in der Frage nach einem urbanen Sound die Klangumwelt erforschte.56 Aber auf welche Weise kann akustische Wahrnehmung im Kiez als Erkenntnisinstrument für die musikethnologische Forschung in Neukölln dienen? Wie sind ästhetische Klangphänomene wahrgenommen durch das »ethnographic ear« (Clifford 1986: 12) zu untersuchen? Degen kritisiert nach Zukin die Reduktion der Stadt auf den visuellen Sinn und schlägt ausgehend von einer »multi-sensuous city« eine Wahrnehmung der Stadt mit allen Sinnen vor (vgl. Zukin 1995: 10 nach Degen 2008: 36ff.).57 Dabei konstatiert sie, dass empirische Untersuchungen den »ästhe-

Laufe weniger Monate das Areal von einer ruhigen Wohngegend in ein Ausgehviertel verwandelt« (Brunow 2011: 40). 54 O.A. (2008): »How Artists Act as Gentrifiers. From TriBeCa to SoHo to Dumbo.« URL: www.123helpme.com /view.asp?id=54005 (letzter Zugriff am 10.03.2013). 55 »Gerade dort, wo Künstler/innen sich mit Hilfe ethnographischer Methoden, also auf der Basis von Felderkundungen, Interviews und Archivmaterialien, Elemente gegenwärtiger oder vergangener Lebensweisen aneignen und gestaltend transformieren, geht es ihnen – wie Ethnograph/innen auch – um das Sichtbarmachen von (marginalisierten) Lebensformen, um das Infragestellen kultureller Selbstverständlichkeiten, um die Verflüssigung verfestigter Vorstellung von der nur einen möglichen Welt(-ordnung), um die Darstellung von Konfliktlagen und das Ausloten von Möglichkeitsräumen.« (Binder 2008: 11) Die Kritik der Hamburger Künstler an Gentrifizierungsprozessen erscheint problematisch: Erst aus der durch »Gentrifizierung« konstatierten Veränderungen der sogenannten Soundscape Neuköllns schöpfen die Künstler die Motivation für ihre künstlerischen Praktiken. 56 Lindner verweist auf einen »modischen Charakter« der Praktiken von Künstlern als »Sound-Flaneure«, die »das neue Interesse und die neue Lust an der Stadt« widerspiegeln und äußert sich kritisch zu Disziplinen der UDK sowie Veranstaltungen, auf denen »Musikjournalisten darüber diskutieren, ob es so etwas wie den Sound einer Stadt gibt« (ebd. 1999: 171ff.). 57 »It is important to highlight that these discussions on visuality and the city do not critique the visual sense per se, but rather denounce the hegemony of a specific sort of visuality in defining late modern urban experience.« (Degen 2008: 37)

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tisierenden Effekten«58 einer urbanen Landschaft noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätten (vgl. Degen 2008: 38). Sie betont den Erkenntnisgewinn durch sinnliche Wahrnehmung bei der Untersuchung von Prozessen städtischen Strukturwandels folgendermaßen: »Neighbourhoods that are experiencing intensified spatial restructuring in the form of urban regeneration schemes are particularly interesting case studies for analysing these links between the social and material world. The introduction of a new element in the urban environment is conductive to a range of transformations in the spatial experience of place in which certain ›rhythms‹ prevail over others, some disappear, new ones emerge and others continue simultaneously. Of course exactly what or who is seen, heard, touched, tasted and smelled is connected to questions about what is included or excluded on the experience of public space.« (Degen 2008: 72)

Degen zufolge können urbane Machtverhältnisse auch sinnlich wahrgenommen werden.59 Jedoch stellt die Wahrnehmung kein transparentes oder neutrales Medium dar, da sie durch spezifische gesellschaftliche Ideologien beeinflusst ist: Die Konstruktion städtischen Raums ist Degen zufolge nicht nur eine geographische, politische und ökonomische Angelegenheit, sondern verschränkt sich mit soziokulturellen Erwartungen, insbesondere mit den gesellschaftlichen Wahrnehmungsformen der Sinne, die geformt werden durch spezifische soziale Ideologien, die nicht nur die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen sich und andere wahrnehmen, sondern auch, was eine Umgebung für sie bedeutet (vgl. ebd. 2008: 72). Im Kontrast zu den Sound-Interventionen der Hamburger Künstler in Neukölln betrachtet die musikethnologische Untersuchung in Neukölln das gesellschaftliche Milieu als Ressource und Voraussetzung für verschiedene Musikstile. Da keine feststehende Definition für musikalische Ideologie existiert, wird dieser Term im Sinne Geuss’ vorerst »im rein deskriptiven Sinn«60 betrachtet: Die musikalischen Lebenswelten der Musiker im Kiez werden somit vor dem Hintergrund ihrer

58 Unter Ästhetisierung versteht Degen die Wahrnehmung der Außenwelt durch alle Sinne: »[...] the aesthetization of the urban landscape encompasses as much a visual landscaping as a conscious orchestration of particular sounds, smells, tastes and feelings in the urban environment.« (Ebd. 2008: 38) 59 David Howes macht am Beispiel von Werbebroschüren über Wien auf Marketingmethoden aufmerksam, die auf der Basis eines »sensory capital« sinnliche Charaktereigenschaften der Stadt hervorheben (ebd. 2011: 63-75). 60 Zum Ideologiebegriff siehe Raymond Geuss: Die Idee einer kritischen Theorie. Bodenheim: Syndikat 1983, S. 1-25.

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»Diskurskategorien«61, also ihrer verwendeten Begriffe, Einstellungen und ästhetischen Wertvorstellungen, untersucht. Geraten somit Künstler und Musiker im Kontext der Transformation von Stadtbezirken ins Visier, muss auch nach der Rolle der Musikethnologin im urbanen Untersuchungsfeld gefragt werden. Wenige Monate nach dem Interview mit einem Neuköllner Klangkünstler erhielt ich von diesem eine E-Mail, in welcher er mich dafür verantwortlich machte, dass sich die Gegend um seine Wohnung herum so verändere, seitdem ich forschte. Ähnlich reagierte ein anderer im Kiez lebender Musiker, der eine E-Mail-Anfrage für ein Interview mit folgender Absage beantwortete: »Erst kommen die Feldforscher, dann kommen die Bagger« (E-Mail am 15.07.2008). Die Kritik der Neuköllner Musiker bezog sich auf die allgemeine mediale Berichterstattung über ihren Wohnort, welche den Stadtteil aus der Sicht der beiden verändert hatte. An diesem Beispiel zeigen sich Parallelen zur Kritik an den frühen Forschungsmethoden der interpretativen Ethnologie: Mit der Untersuchung von Musikkulturen in Neukölln würden Kulturen im Sinne von »bounded sites« an bestimmte Orte gebunden und dadurch in räumlichen Begriffen konstruiert, ganz wie es zum Beispiel Clifford den Ethnographen vorwirft.62 Die Betonung des Lokalen oder eines »local flavours«, also die Produktion lokaler Musik, dient im Globalisierungsdiskurs zur Idealisierung von Orten (vgl. Stokes 2004: 59, vgl. Biddle/Knights 2007: 3). Damit in Zusammenhang stehen ideologische Vorstellungen von ›authentischer‹63 oder ›verwurzelter‹ Musik, also Taxonomien, die in den Bereich

61 Mit Foucaults Diskurskategorie werden Machtstrategien des Wissens im sozialen Raum thematisiert. »Die Diskurskategorie […] bezieht sich immer auf eine Menge von bereits gemachte[n] Aussagen, die einen Objektbereich des Wissens für eine historische Zeitspanne […] erfassen lassen. Das Entscheidende ist nun, dass mit dem Begriff Aussage oder Aussagesystem niemals Sprechakte, Kommunikationsinhalte oder die Proposition von Äußerungen gemeint sind, [aber] dass ›die Sprache […] als Konstruktionssytem für mögliche Aussagen existiert‹.« (Foucault 1973: 124 nach Jung 2007: 167). 62 Die Perspektive auf Kulturen an »bounded sites [...] yielded a view on which the natives appeared to be imprisoned […] ›through a process of representational essentialising‹« (Clifford 1992: 100 nach Kennedy/Roudometof 2002: 9). 63 »The identification of authentic elements ideologically justifies, naturalizes, and cements the hierarchical and exploitative relationships that (continue to) pertain between centers and peripheries, dominant and subaltern groups. The perpetuation of notions of authenticity through an authenticating discourse of hybridity is one of the means by which world music discourse continues to mediate Northern metropolitan hegemony.« (Stokes 2004: 59ff.)

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von Diaspora64 fallen.65 Demgegenüber werden Zusammenhänge zwischen einem Ort und den nur vermeintlich objektiven Analysen seiner klanglichen oder musikalischen Phänomene und Praktiken im Rahmen der »writing culture«-Debatte66 kritisch hinterfragt. Insbesondere Wohnviertel werden zu wirkmächtigen Metaphern für die Organisation des Alltaglebens gegenwärtiger Kulturen, durch welche sich Beziehungen zwischen geographischen Regionen, physischen Strukturen sowie gesellschaftlichen Organisationen abzeichnen (vgl. Stahl 2003: 36). Bereits 1978 problematisiert der Musikethnologe Bruno Nettl in der Einleitung zu seinem Buch Eight Urban Musical Cultures: Tradition and Change Aspekte der urbanen Musikethnologie. Neben ungleichen Besitzverhältnissen nennt er auch Diskrepanzen im Bildungsstand der städtischen Populationsgruppen. Aus beidem resultieren ihm zufolge Machtkonstellationen, welche mit Einfluss nehmen auf Musik in der Stadt (vgl. Nettl 1978: 6). Durch den Fokus auf »musical tourism and travel; musical migration and diaspora«67 offenbart sich die Vorstellung von »Globalization of Musics in Transit« als ein Hauptaspekt des gegenwärtigen Forschungskanons der Musikethnologie. 64 »Study of musical hybridity in the past decade provides evidence of diasporic cultural and political strategies in which migrants, refugees, and diaspora populations detached from nation-states situate themselves in global flows and build new homes for themselves.« (Erlmann 2003: oS nach Stokes 2006: 59) 65 »Many of these contradictions can be seen as somewhat magnified forms of those at work in Western rock discourse, complicated by increasing self-consciousness about hybridity and the increasingly dispersed nature of global music production.« (Stokes 2006: 59) 66 Im Rahmen dieser Debatte werden seit Anfang der 1980er Jahre die interpretative Ethnologie und die damit verbundene Rolle des Ethnologen sowie die Autorität vertextlichter Feldsituationen hinterfragt, die sich explizit auf die Repräsentation nicht-westlicher Kulturen in europäischen und US-amerikanischen Schreibgenres bezieht. Äußerungen, die sich auf »Kulturen« beziehen, werden abgelehnt (vgl. Barnard 2000: 169, vgl. Marcus 1996: 1384-1386). Um Anzeichen machtpolitischer Verbindungen zu entlarven, fordert die sogenannte Dekonstruktion der Postmoderne die Enthüllung von Sprache und Begriffen, mit denen Ethnographen »das Fremde« bisher so leicht beschrieben hatten (vgl. Stellrecht 1993: 36-57). »Wenn man behauptet, dass das Schreiben ethnographischer Werke mit dem Erzählen von Geschichten [und] dem Ausdenken von Symbolismen […] zu tun hat, so stößt das oft auf heftigen Widerstand.« (Geertz 1990: 136) 67 So ruft die International Association for the Study of Popular Music für die 2013 erscheinende Ausgabe der Zeitschrift »Research in Ethnomusicology Series« auf zur Einreichung von Beiträgen zum Thema »The Globalization of Musics in Transit: Musical Migration and Tourism«. URL: www.iaspm.net/the-globalization-of-musics-in-transitmusical-migration-and-tourism/ (letzter Zugriff am 18.03.2013).

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Bauman kontrastiert ein »[b]eing on the move« marginalisierter Migranten, die mit existentiellen Unsicherheiten konfrontiert sind, mit der Situation von privilegierten oder globalen Kosmopoliten (ebd. 1998: 4, 97ff.).68 Keller überprüft diese Theorie am Beispiel von Migranten in Berlin (vgl. Keller 2005: 73). Städte gelten als Austragungsorte gesellschaftlicher und symbolischer Konflikte sowohl bei der Integration als auch bei der Marginalisierung von Geschlechtern, Klassen, Ethnizitäten und anderen identitätsbezogenen Differenzen (vgl. Berking u.a. 2006: 9). Sie »können verstanden werden als Kristallisationsorte sozialer und damit ästhetischer, räumlicher, politischer etc. Entwicklungen, die Auswirkungen auf umgebende und vernetzte Orte haben […]« (Löw/Steets/Stoetzer 2007: 11). Andererseits müssen Großstädte als »favorisierte Objekte der Mythenbildung [sowie] eine beständige Quelle für Fiktionen und Erzählungen« erkannt werden.69 Mit dieser Einsicht konstruierte Lefèbvre Anfang der 1970er Jahre in seinem Werk »Die Revolution der Städte« den Begriff des Urbanen und einer »urbanen Gesellschaft«, womit er ein »virtuelles Objekt« meint, das sowohl für städtisches Leben und städtische Wirklichkeit steht als auch für eine Möglichkeit, ein Potential (Lefèbvre 1990: 23 nach Schmid 2005: 129).70 Unter dem Aspekt der Möglich68 Van Amersfoort/Doomernik verdeutlichen dies anhand des Beispiels von türkischen Migranten in den Niederlanden: »When studying immigrant communities in modern societies we often see that they enter at the bottom of the social ladder. The boundaries of the group are clearly defined by citizenship, language and religion. From the side of the immigrants these boundaries are maintained by bringing over institutions from the homeland to ensure continuation of the valued aspects of the home culture. In the course of the generations both the social position and the boundaries generally become more diffuse. In such case we regard the group as ›emancipating‹ and becoming ›assimilated‹. However, not all groups develop along these lines. Some remain confined to a limited social role and stay on the margins of the society.« (Ebd. 2002: 56ff.) 69 »Planerische Entwürfe, politische Konzepte und populäre Darstellungsweisen tragen dazu bei, den städtischen Raum zu kennzeichnen und ein lokales Selbstverständnis herzustellen […]. […] Entweder galt die Stadt als Ort der Angst und Unsicherheit oder als Ort des Vergnügens, der Unterhaltung und der Stimulation. Folgt man den aktuellen Debatten über Kriminalität, Verwahrlosung und Gettos, so scheinen die Metropolen wieder kurz vor ihrem Untergang zu stehen.« (Ronneberger 2000: 324) 70 Vergleichbar mit Appadurais imaginären Welten erkennt Lefèbvre Utopien über die Stadt: »Wir dürfen die U-Topie nicht vergessen: den Nicht-Ort, den Ort dessen, was nicht stattfindet und keine Statt hat, den Ort des Anderswo. Auf dem Plan von Paris […] ist die U-Topie weder sichtbar noch lesbar; trotzdem ist sie dort prachtvoll vorhanden, sie ist der Ort des Blicks, der über die Stadt hinweggeht, ein kaum bestimmter, aber gut konzipierter und (bildlich) vorgestellter Ort, […]. Meistens befindet sich dieser vorgestellte und wirkliche Ort […] in der Tiefe, wenn der Romanschriftsteller oder der Dichter sich die

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keiten und verschiedenartiger Repräsentationen einer Stadt definiert auch Krims einen »urban ethos«, macht dadurch auf die imaginären Eigenschaften des Städtischen aufmerksam und spricht sich im Kontext der Analyse dortiger Musikkulturen und deren Sounds für die Untersuchung von urbanen Ideologien aus.71 Lefèbvre veranschaulicht, dass Ethnologen wie untersuchte Akteure gleichermaßen an der sozialen Produktion des städtischen Raumes teilhaben – wenn auch auf verschiedenen Ebenen.72 Doch räumliche, lokale und damit auch urbane Begrifflichkeiten sind stets zu hinterfragen (vgl. Connell/Gibson 2003: 15), da sie auf zu dechiffrierende Ideologien verweisen.73 Gerade bei der Untersuchung von lokalen und urbanen Musikszenen wird die mediale Dokumentation der Orte, an denen sie sich abspielen, relevant, da diese Aufbereitung sich mit Klischees kultureller und musikalischer Praktiken vermischt (vgl. Stokes 1994: 4). Mit dem Aufnahmegerät in der Hand, welches das Interview aufzeichnete, konnten die Praktiken der Musikethnologin leicht als die einer Zuarbeiterin für die urbanen Medien interpretiert werden. Manche Musiker begegneten mir in den Interviews meinem Empfinden nach mit einem Gemisch aus Neugier und Misstrauen. Der explizite Vorwurf in den E-Mails der beiden Musiker bestand darin, dass ich mich in die Lage brächte, durch eine spannende Berichterstattung über Musikkulturen in Neukölln lokale Szenen zu konstruieren und damit den Ort, im Sinne der Kritik an »writing culture«, zu verändern. Die stetig wachsende Sammunterirdische Stadt, wenn sie sich die der Verschwörung, die dem Verbrechen zugängliche Kehrseite der Stadt vorstellen.« (Lefèbvre 1970: 140) 71 Vgl. Adam Krims: Music and Urban Geography. Routledge: New York/London 2007. 72 »That the lived, conveived and perceived realms should be interconnected, so that the ›subject‹, the individual member of a given social group, may move from one to another without confusion – so much is a logical necessity. Whether they constitute a coherent whole is another matter.« (Lefèbvre 1991: 40) Lefèbvre zählt die Erfahrungen der Ethnologen unter den Raum des Erlebten, also als repräsentierten Raum (vgl. ebd., 41). »Die Stadt ist ein Produkt, das erst im komplexen Zusammenspiel von räumlicher Praxis, Repräsentation des Raumes und Räumen der Repräsentation bzw. von Wahrgenommenem, Konzipiertem und Erlebtem entsteht.« (Schmid 2005: 20) 73 »Der spezifische Code des Urbanen ist eine Modulation davon, […]. Es genügt nicht, diesen Text zu untersuchen, ohne auf den Kontext zu rekurrieren, […] das oberhalb und unterhalb des urbanen Textes zu dechiffrieren bleibt: auf der einen Seite die Institutionen, die Ideologien, auf der andere Seite das Alltagsleben, das […] Familienleben, das Unbewusste des Urbanen, das […] sich in den bewohnten Räumen versteckt. Die Stadt lässt sich deshalb nicht als ein Bedeutungs-, Sinn- oder Wertesystem erfassen: Die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit verbieten jede Systematisierung.« (Lefèbvre 1974: 62f., 70 nach Schmid 2005: 167)

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lung an Interviews konnte mit kulturellem Kapital verwechselt werden, das noch ausgewertet werden musste. So entstand bei mir das Gefühl, meine Arbeit vor voreiliger Rezeption schützen zu müssen, damit sie nicht unwissenschaftlich und durch Medien aufbereitet würde.74 Aber wie sind der urbane Bezirk Neukölln und dortige (Sub-)Kulturen aus Perspektive der Musikethnologie zu erforschen? Aus soziologischer Sicht bleibt die Position des Forschers, in meinem Fall also die der Musikethnologin, innerhalb seines Feldes zu hinterfragen.75 Dadurch gerät auch das Verhältnis der Musikethnologin zum journalistischen Feld in den Fokus.76 In Bezug auf die Anthropologie argumentiert Rabinow für eine starke Abgrenzung vom Journalismus und verweist auf den Umstand der Wissenschaftler, nicht immer erreichbar zu sein, welchen er mit einem isolierten Zustand vergleicht.77 Dies erklärt meine Empfindung, als Feldforscher vorerst undercover arbeiten zu müssen.78 74 Selbst jenes kulturelle Kapital sogenannter »purest journalists«, die für die Printmedien arbeiten, liefert Bourdieu zufolge nicht selten die Vorgabe für in TV-Shows abgehaltene Debatten (vgl. Bourdieu 2005: 42ff.). 75 »[…] der Soziologe hat […] selbst eine Position inne: zunächst als Inhaber eines bestimmten, ökonomischen und kulturellen Kapitals im Feld der Klassen; dann als Forscher mit einem spezifischen Kapital innerhalb des Feldes der kulturellen Produktion und, genauer, innerhalb des Feldes der Soziologie. Alles das muß er stets vor Augen haben […].« (Bourdieu 1993: 22) 76 Bourdieu stellt enge Zusammenhänge fest zwischen dem politischen, dem journalistischen und dem sozialen Feld und analysiert den jeweiligen Grad an Autonomie. Dem journalistischen Feld ist durch die Abhängigkeit von Zuschauer- oder Leserraten wenig Autonomie beizumessen, doch übernimmt es eine dominante Position (vgl. ebd. 2005: 33, 42). Die Eigenständigkeit des wissenschaftlichen Feldes ist demgegenüber mit der Absicht des Aufdeckens von Wahrheiten verbunden (vgl. ebd. 1993: 21-22). 77 »Still, I don’t think that anthropology is doing the same thing [as journalism] [...]. […] We should not forget that journalism is a method of policing new ideas as well. We [anthropologists] have the duty [...] not to be always already accessible. [...] the conceptual work of anthropologists is more lonely and isolated. Few journalists offer analyses at odds with the conventional wisdom.« (Rabinow 2008: 56-57) 78 Ich hielt meine Informationen und Gedanken zunächst geheim. Diese Arbeitsweise vermittelte den Rückschluss, dass Wissenschaft selbst eine Art Subkultur zu sein hat, die vor zu viel Informationsfluss zu schützen ist. In diesem Kontext hält Langewiesche fest, dass »Forschung, in der der Einzelne bestimmt, worüber er forschen will […] in der Politik, aber auch im Wissenschaftsmanagement nicht mehr gern gesehen [ist] und nicht mehr in die Universität der Zukunft [passt], deren Markenzeichen ein scharfes Profil sein soll« (ebd. 2008: 228). So gesehen erschien es eher als günstig, dass ich meine Forschung in keinem fest angesiedelten institutionellen Rahmen – bspw. im Kontext eines Graduier-

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Außerdem muss davon ausgegangen werden, dass auch Musiker selbst spezifische Bilder von Orten generieren, an denen sie zu hören sind und aufgeführt werden (vgl. Connell/Gibson 2003: 14f.). Lindner macht darauf aufmerksam, dass Interviews »im Medienzeitalter keine außeralltäglichen Ereignisse mehr« seien und der im Forschungsfeld Befragte nicht nur wisse, was ihn erwarte, sondern auch, was man von uns erwarte (ebd. 1995: 39). Deshalb müssten Medien als integraler Bestandteil des Selbstbildes der Musiker in den Interviewsituationen betrachtet werden (vgl. Goldman/Whalen 1990: 85-107 nach ebd.). In diesem Kontext seien auch sogenannte »subkulturelle Codes« schon längst zum Allgemeinwissen geworden (Lindner 1995: 39).79 Szene, Community und Subkultur gelten als die gebräuchlichsten Modelle, die bis dato genutzt wurden, um die Bedeutung von Musik im Alltag abzubilden,80 und fungierten auch in meiner frühen Erhebungsphase als begriffliches Werkzeug zur Orientierung im Kiez und zur Unterscheidung der interviewten Akteure. Doch entpuppen sich diese Kennzeichnungen als problematisch: Thornton verweist auf den Umstand, dass Reportagen, die über subkulturelle Kulturen berichten, für ebendiese konstitutiven Charakter einnehmen. Im Sinne der Kulturwissenschaftler der frühen 1970er Jahre des »Center for Contemporary Cultural Studies« (CCCS) waren Subkulturen primär Kulturen, die gegen Gramscis Auffassungen einer »dominanten Kultur« Widerstand leisteten.81 Demgegenüber kritisiert Thornton die Perspektiven der britischen Subkulturforscher dahingehend, dass sie den durch die Medien generierten Etikettierungen von Subkulturen keine systematische Aufmerksamkeit schenkten. Stattdessen hätten sie die widerständigen Merkmale der Jugendmusik, Kleidung und Rituale in einem medienfreien Moment tenkollegs – durchführte, in welchem ich meine gemachten Ergebnisse vorab hätte publik machen müssen. Auch Sue Middleton diskutiert die Rolle von Ethnologen im wissenschaftlichen Feld (vgl. ebd. 2003: 37-55). 79 »In vielen Magazinen finden sich immer noch ganz selbstverständlich Verweise auf ›Theorie‹. […] Der strategische Konsum, der in den Cultural Studies einmal herausgearbeitet wurde, und der sich einmal als ›popular culture‹ von marginalisierten Gruppen gegen den gesellschaftlichen Mainstream artikulierte, hat sich hier verallgemeinert. Man könnte also […] von einer seltsamen ›Cultural Studisierung der Gegenwart‹ sprechen […].« (Terkessidis 2006: 150) 80 Will Straw problematisiert die Debatte um Szenen und Communities in Pop-Musik (vgl. ebd. 2004: 268-288). Allen Modellen ist der Versuch gemein, die ›kulturellen‹ Eigenschaften von Musik zu verstehen, das bedeutet, wie spezifische Musikstile von individuellen Gruppen angeeignet und als Mittel genutzt werden, um sich kollektiv von anderen sozialen Gruppen abzugrenzen (vgl. Bennett 2005: 119). 81 So bezieht sich Dick Hebdige in dem 1979 veröffentlichten Hauptwerk über Subkulturen Subculture: The Meaning of Style auf Antonio Gramscis Selections from the Prison Notebooks von 1971.

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dargestellt, als ob subkulturelles Leben eine medienfreie Wahrheit darstelle (vgl. ebd. 1995: 119-122). In diesem Sinne spricht sich Muggleton 1997 gegen die Authentizität von Subkulturen aus und beschreibt sie als Kopien ohne Original und damit ohne jegliches widerständiges Potenzial (vgl. ebd. 1997: 167-185). Auch Diederichsen zufolge stellt sich die Frage nach Authentizität für eine kritische Auseinandersetzung mit jenen subkulturellen Bewegungen als ungeeignet heraus (vgl. ebd. 1995: 126). Konnte im Sinne der Vertreter des CCCS somit von bestimmten Subkulturen auf dazugehörige sichtbare Merkmale oder Lebenseinstellungen von Akteuren geschlossen werden, konstatiert Diederichsen demgegenüber 2000 eine erschwerte Lesbarkeit der Merkmale und Absichten von Teilnehmern vermeintlicher Szenen (vgl. ebd. 2000: 15-36). Dennoch werden Subkulturen im populären wie auch kulturwissenschaftlichen82 Diskurs nach wie vor als sogenannte Verweigerungskulturen stilisiert oder an untergründigen Orten lokalisiert, zum Beispiel im Sinne von ›Nischen‹83 oder eines urbanen ›undergrounds‹84, was den Sichtweisen früher Subkulturtheorien entspricht. So konstatiert Schwanhäußer in Bezug auf Berlin, dass lokale Subkulturen die Bundeshauptstadt »erst zu dem Standort der globalen Musikindustrie gemacht [haben], der er heute« sei (ebd. 2005a: 160, vgl. Scharenberg 2005: 102-118). Die Verankerung von Popkultur im Raum des Urbanen zu reflektieren, scheint gerade angesichts globaler Kulturindustrien von besonderer Relevanz zu sein (vgl. Klein 2004: 132). Doch lokale Praktiken und deren mediale Repräsentationen können nicht getrennt werden, sondern durchdringen einander (vgl. Lefèbvre 1991: 34). Auch Krims stellt den »urban ethos« als »regime of representation« heraus und stellt fest, dass diese mit den Strukturen von »real cities« interagieren (vgl. ebd. 2007: 9). Aber wie »real« sind urbane Repräsentationen und welchen Einfluss haben sie auf 82 »Eines der Anzeichen dafür, daß die Krise zumindest schon halbbewusst wurde, zeigt sich daran, wie sehr Bohème, Subkultur, Gegenmilieu und Hipster-Welten in den 90ern zum Thema außerhalb ihres gewachsenen Einzugsbereiches geworden sind: Kulturwissenschaften entdecken sie unter allen möglichen Aspekten.« (Diederichsen 1999: 41) So erklärt auch die Kulturwissenschaftlerin Schwanhäußer im Kontext der Methoden von Stadtforschern: »In der Tat wird ja nicht die Stadt als Ganzes beschrieben, sondern gerade jene Orte, die Phantasien und auch Ängste stimulieren und an die sich der Durchschnittsstädter nicht hinwagt.« (Ebd. 2004: 48) 83 Unter dem Titel »Blühende Nischen« veröffentlicht die Zeitschrift Testcard 2010 ihre Jahresausgabe und thematisiert darin gegenwärtige musikalische Subkulturen. Vgl. Atlanta Athens [u.a.] (Hg.), »Blühende Nischen«. Testcard #19. Mainz: Ventil Verlag 2010. Testcard habe sich Terkessidis zufolge »als unabhängiges Forum einer alternativakademischen Musikrezeption etabliert« (ebd. 2006: 150). 84 Beispielsweise konstatiert Poschardt den Nischen- und Undergroundcharakter von DJMusik (vgl. ebd. 1999: 143-149).

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klangliche Eigenschaften? Lindner und Diederichsen äußern sich kritisch in Bezug auf Vorstellungen eines Klangs der Stadt und benennen einen vielmehr utopischen Charakter des Diskurses (vgl. Diederichsen 2000: 182-196, vgl. Lindner 1999: 171). Andererseits widerstehen beide nicht der Versuchung der Vorstellung von einem spezifischen urbanen Sound und diskutieren die lokale Einbettung von Musikgenres in die Stadt (ebd.). Auch die beiden Musikethnologen Stokes und Bohlman machen am Beispiel türkischer Arabeskmusik das problematische Verhältnis von Musik und ihrer städtischen Einbettung deutlich. So passt Arabesk nicht in das gängige Bild eines realen, urbanen Umfelds, während andere Genres wiederum als typisch städtische Musikformen erkannt werden (vgl. Stokes 2000: 213233, vgl. Bohlman: 187-212). Insbesondere Ortsnamen übernehmen eine determinierende Funktion, spezifische Szenen oder vermeintliche Subkulturen zu generieren (vgl. Maxwell 2008: 79-103, vgl. Luckman 2008: 65). Innerhalb der musikethnologischen Forschung in Neukölln muss jener »Verselbständigung des Subkulturbegriffs«85 und einer damit einhergehenden Romantisierung einer städtischen Untergrundkultur sowie der unhinterfragten Selbststilisierung durch die Musiker selbst begegnet werden.86 Eine wissenschaftliche Untersuchung vermeintlich urbaner Neuköllner Musikkulturen konnte somit allein mit Einbeziehung der Analyse einer medialen Außendarstellung Neuköllns erfolgen. Neben dem Begriff der Subkulturen fungiert auch der Term der städtischen Transformation als beliebtes Zuschreibungsmerkmal: Färber zufolge kann für das globale Berlin in Bezug auf sogenannte Transformationsprozesse eine »allgegenwärtige Selbstthematisierung« der Stadt »in jedweder medialer Form und jedwedem medialen kulturellen Feld« konstatiert werden (ebd. 2005: 7). Als zentralen Gegenstand vermerkt sie »das Ineinandergreifen globaler und lokaler Transformationsprozesse, was auch die Frage nach dem Status von Migranten und ihren Alltagspraxen in der Stadt einschließt« (ebd., 8). In diesem Sinne berücksichtigt das 85 »Es gibt vor allem die Verselbständigung des Subkulturbegriffes, der erst um 1945 in den Sozialwissenschaften entstanden ist. Der hat eine Karriere genommen, die dazu geführt hat, dass sich Gruppen selber als Subkulturen konstituiert haben. Bestimmte Begriffe führen also dazu, dass sie sich wie in einer self-fulfilling prophecy selber verwirklichen. Das ist etwas, was man auch nicht verhindern kann. Oder man müsste ein Verwendungsverbot erteilen: nie wieder von Subkulturen oder von Kultur zu reden. Stattdessen muss man dem Rechnung tragen, dass solche Konzepte ein Eigenleben gewinnen und die Artikulation und Formation von Gesellschaft vorantreiben.« (Lindner 2004: 164) 86 Diese Einsicht erweckte ein Gefühl von Ernüchterung oder – im Sinne Bourdieus – von »Entzauberung«: »[…] daß die [Soziologen] sich vor dem fürchten, was sie finden könnten. Die Soziologie konfrontiert den, der sie praktiziert, fortwährend mit höchst harten Realitäten; sie entzaubert.« (Ebd. 1993: 21)

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vorliegende Buch auch »die Produktion ethnischer Repräsentationen als Struktur in der urbanen Gesellschaft und ihre spezifische Ausformung in Berlin« (Färber 2005: 8) berücksichtigt werden. Auf der Basis musikethnologischer Theorien und der Idee von Immigration als integralem Bestandteil von Urbanität gehe ich in meiner Forschung von Lefèbvres sozialer Produktion des Raumes87 aus. Ab Ende 2008 bis zum Frühjahr 2010 unternahm ich eine Feldforschung auf Mikro-Ebene88 in Neukölln. Bei der Erhebung der empirischen Daten wurden möglichst viele verschiedene Perspektiven einbezogen:89 Die Grundlage bilden unstrukturierte Interviews mit Musikern, Musik- und Kulturproduzenten sowie Komponisten, die ab 2005 nach Neukölln gezogen und an klanglicher oder musikalischer Gestaltung und der Organisation von Veranstaltungen in ihrem Kiez beteiligt sind. Hierbei geht es um die Selbstverortung der Musiker, die den Neuköllner Raum für musikalische und andere kulturelle Praktiken nutzen. Die Perspektiven der Musiker fallen nach Lefèbvre in den Bereich der »erlebten« Dimension, die er als »Räume der Repräsentationen« bezeichnet und die Untersuchungsgegenstand von Ethno-

87 Henri Lefèbvre: The Production of Space. Oxford/Cambridge: Blackwell 1991. Lefèbvre entpuppte sich zur Zeit meiner Forschung auch im Zusammenhang mit städtischen Protestbewegungen als beliebter Theoretiker, die sich unter dessen Slogan »Recht auf Stadt« (1967) formieren (Dell 2011: 10). So bezieht sich auch der Theoretiker und Komponist Christopher Dell in der Methodik seines Buches Replay City. Improvisation als Urbane Praxis, das ich Ende 2012 lese, auf Lefèbvre (vgl. ebd., 10-20). 88 »Auf mikro-soziologischer Ebene, in der Alltäglichkeit, perpetuieren sich unmittelbare Beziehungen von Person zu Person (Verwandtschaftsverbände, Beziehungen der Nachbarschaft und der gesellschaftlichen Nähe), […]. […] Die ambivalente Mikro-Ebene ist auch diejenige, auf der die Frage nach der Authentizität noch einen Sinn hat; das Unmittelbare kann authentisch werden, sei’s in der Spontaneität, sei’s in der Wahrheit – zumindest erwartet und verlangt man es von ihm.« (Lefèbvre 1975: 396ff.) »Das ›Makro‹ determiniert das ›Mikro‹ nicht. Es umhüllt es; es kontrolliert es; es durchdringt es und unterwirft es Regulierungen, die selber verschiedene Grade von Tiefe und Effizienz haben: […].« (Ebd., 397) 89 Terkessidis benennt nach Grossberg »Selbstreflexivität« als einen der wichtigsten Punkte der Cultural Studies, was aber nicht bedeute, »parteilich die Perspektive der Marginalisierten« einzunehmen »zumeist weil sie selbst Arbeiterkind, Mod, Frau, schwarz oder lesbisch waren«. Vielmehr fordert Grossberg: »Ich glaube, dass dies nicht so sehr eine Frage der Identität oder der Politik des Standortes ist, sondern eine der Reflexion der eigenen Beziehung zu den verschiedenen Linien und Dimensionen, Orten und Räumen, zum Kontext den man erforscht und darlegt, und zwar theoretisch, politisch, kulturell und institutionell«. (Grossberg 1999: 77 nach Terkessidis 2006: 159)

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logen werden.90 Aus der teilnehmenden Beobachtung auf Konzerten und anderen Events in Neukölln ergibt sich ein weiterer Teil der empirischen Daten. Die Interviewpartner fanden sich mit Hilfe eines konstruktiven Schneeballverfahrens und durch direkte Kontaktaufnahmen nach Konzerten im Kiez. Bis zum Ende der Erhebungsphase im Januar 2010 sammelte ich insgesamt etwa 55 Interviews mit Akteuren auf etwa doppelt so vielen Stunden Tonmaterial sowie einen unübersichtlichen Haufen an Notizen diverser Feldsituationen. Bei der bisherigen wissenschaftlichen Erforschung des Kiezes spielen sozialwissenschaftliche Theorien rund um Transformation, Segregation, Globalisierung und nicht zuletzt Gentrifizierung eine grundlegende Rolle.91 Dabei interessiert, welche neuen Erkenntnisse die Untersuchung von Musik in Neukölln in Bezug auf diesen stadtsoziologischen oder -planerischen Begriffsapparat liefert. Im Sinne Lefèbvres ist der gelebte Raum der Musiker also mit dem »konzipierten Raum«92 zu konfrontieren (vgl. ebd. 1991: 41ff.). In diesem Zuge sind auch die Mediascapes93 zu Neukölln – seien es Zeitungsartikel, Blogs, Internetvideos oder andere Medien – als urbane Vorstellungswelten zu betrachten und stellen somit einen 90 »Die Räume der Repräsentationen sind […] von Imaginärem und von Symbolismen durchdrungen und haben die Geschichte als Ursprung, die Geschichte eines Volkes und die Geschichte von jedem Individuum, das zu diesem Volk gehört.« (Lefèbvre 1991: 41ff. nach Schmid 2005: 222ff.) »Ethnologists, anthropologists and psychoanalysts are students of such representational spaces, whether they are aware of it or not, but they nearly always forget to set them alongside those representations of space which coexist, concord or interfere with them; they even more frequently ignore social practice.« (Lefèbvre 1991: 41 [Herv. i.O.]) 91 »Academic musicology, for its part, has not always welcomed the insights, methods, and technical vocabularies of social science. Many ethnomusicologists, anthropologists, and popular music scholars writing on musical globalization are conscious of a gap and seek to overcome it, with various consequences.« (Stokes 2004: 51) 92 Konzipierter Raum oder »Representations of space: [...] the space of scientists, planners, urbanists, Technocratic subdividers and cosial engineers, as of certain type artist with a scientific bent – all of whom identify what is lived and what is perceived with what is conceived. [...] This is the dominant source in any society (or mode of production). Conceptions of space tend, with certain exceptions to which I shall return, towards a system of verbal (and therefore intellectually worked out) signs.« (Lefèbvre 1991: 39) 93 »[...] these mediascapes [...] provide [...] complex repertoires of images, narratives, and ethnoscapes to viewers throughout the world, in which the world of commodities and [...] of news and politics are profoundly mixed. What this means is that many audiences around the world experience the media themselves as a complicated and interconnected repertoire of print, celluloid, electronic screens, and billboards. The lines between the realistic and the fictional landscape they see are blurred.« (Appadurai 1996: 35)

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weiteren wichtigen Teil des analysierten Datenmaterials dar. Außerdem offenbaren die Interviewaussagen der Neuköllner Kulturamtsleiterin, einer Stadtplanerin im Reuterquartier sowie einem Mitglied des Organisationsteams des Kunstfestivals »48 Stunden Neukölln« Vorstellungen vom Kiez aus Sicht von städtischen Institutionen. Ein genaues Zuhören fungiert als wichtiges Werkzeug der teilnehmenden Beobachtung auf Konzerten im Kiez.94 Die Thematisierung von Klang, rhythmischen Strukturen sowie Noise erfolgt auf der Basis subjektiver Hörerfahrung sowie musikwissenschaftlicher Methoden. Die Interpretation der wahrgenommenen Klänge verifizierte die vorab gemachten Aussagen der Musiker über ästhetische Vorstellungen. Damit werden Sounds in ihrer Funktion für die akustische Raumproduktion in Neukölln untersucht. Musik spielt sowohl im Prozess der Lokalisierung der Newcomer als auch in den medialen Beschreibungen des Kiezes eine Rolle. So wie sich das Label »Berlin« als rentabel für kreative Praktiken herausstellt, (Lange 2007: 16) kann auch gefragt werden, welchen symbolischen Wert Neukölln für die im Kiez wohnenden Musiker hat. Außerdem soll geklärt werden, inwieweit jene medial vermittelten Vorstellungen von Neukölln konstitutiv sind für die musikalischen Identitäten der Akteure im Kiez sowie für deren ästhetische Ideen. Die Frage nach der Lokalisierung der Newcomer in Neukölln zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Arbeit. Hierbei stehen die Interessen der musikalischen Lebenswelten sowie die spezifischen Charakteristiken ihrer Musikstile in Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Gruppen im Fokus. Dabei ist Verortung im weitesten Sinn zu betrachten, so dass eine private Plattensammlung beispielsweise für eine Anzahl spezifischer Orte und Grenzen stehen kann.95 Die Aussagen der hinzugezogenen Musiker spiegeln die Vorstellung von einem »Herkunftsort«96 wider, der nicht selten als Prüfstein zur eigenen Verortung der Musiker im momentanen Wohnort Neukölln dient. In diesem Zusammenhang stellt sich 94 »Today it is not transcription but fieldwork that constitutes ethnomusicology. Fieldwork is no longer viewed principally as observing and collecting (although it surely involves that) but as experiencing and understanding music. The new fieldwork leads us to ask what it is like for a person (ourselves included) to make and to know music as lived experience.« (Titon 1997: 87) 95 »People can equally use music to locate themselves in quite idiosyncratic and plural ways. A private collection of records, tapes or CDs, for example, articulates a number of highly idiosyncratic sets of places and boundaries. A moment’s reflection on our own musical practices brings home to us the sheer profusion of identities and selves that we possess.« (Stokes 1994: 4) 96 Sei es ein anderer Kiez, eine andere deutsche oder europäische Stadt, ein Ort auf einem anderen Kontinent oder eine andere soziale Gemeinschaft.

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Appadurais Frage »Was bedeutet Örtlichkeit als gelebte Erfahrung innerhalb einer globalisierten, enträumlichten Welt?« (ebd. 1998: 19) für die Musiker in Neukölln. Welche Rolle spielt Musik bei der Identifikation mit oder der Abgrenzung von dem Wohnviertel? Lefèbvre zufolge sind Zeit und Raum eng verknüpft, so dass bei räumlichen Analysen der zeitliche Aspekt immer mit berücksichtigt werden muss.97 Zeit ist für ihn »lokal«.98 Er kritisiert den statischen Charakter ethnologischer und anthropologischer Arbeiten, bei denen der Raum unmittelbar wahrgenommen und die kulturelle Sphäre als Kategorie der »repräsentativen« Räume fungiere und nicht deren konstruierter Gehalt erkannt werde.99 Statt der Untersuchung von vermeintlich fixen und statischen Eigenschaften der Kulturen des untersuchten Raumes fordert Lefèbvre Zeitlichkeit als Forschungsgegenstand, was sich als Schlüsselproblem von Ethnographien herausstellt.100 Historische Zeitsprünge im städtischen Raum werden kontinuierlich medial aufbereitet. Sub- und Avantgardekulturen repräsentieren den urbanen Raum und markieren Zeitlichkeit, nicht selten durch Begriffe wie ›Innovation‹ oder ›urbane Gegenwart‹. Die vorliegende Arbeit beabsichtigt nicht, historische Prozesse im 97

Nach Lefèbvre sind Raum und Zeit nicht universal. Und da diese gesellschaftlich produziert werden, können sie nur im Kontext einer spezifischen Gesellschaft verstanden werden: »In diesem Sinne sind Raum und Zeit nicht nur relational, sondern fundamental historisch!« (Schmid 2005: 29) Die räumliche Analyse muss deshalb Wirkmächte und Konflikte, die in jeder Situation relevant sind, beinhalten (ebd.).

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»Time is distinguishable but not separable from space. [...] Times, of necessity, are local; and this goes too for the relations between places and their respective times. [...] Temporal cycles correspond to circular spatial forms of a symmetrical kind. [...].« (Lefèbvre 1991: 175)

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»This static conception was countered by another – equally static – according to which space as directly experienced was indistinguishable from a set of conditioning factors and could be defined in terms of reflexes. At least this theory did not place a desiccated abstraction, namely culture, in the foreground. It even went so far as to assign the cultural sphere to the category of ›representational spaces‹, so indirectly raising the question of the relationship between ideology and metaphysics.« (Lefèbvre 1991: 306)

100 Paul Rabinow und George E. Marcus diskutieren dies im Kontext von Methoden der Ethnologie: »Temporalizing is thus a key problem for ethnography. How to slow things down, but not be belated, how to avoid all too easy historicization that makes what is happening in the time of ethnography all too dependent on a past.« (Marcus nach Rabinow 2008: 55) »Untimeliness perhaps was built into traditional anthropology through ›the Other.‹ You didn’t have to worry about being timely because whatever you were doing was in the ethnographic present, a rather enduring temporality, even if, it now seems, an imaginary one.« (Rabinow 2008: 60f.)

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Forschungsfeld nachzuvollziehen und chronologisch aufzubereiten. Stattdessen wird gefragt, was mit zeitlichen Kategorien beabsichtigt wird und inwiefern diese spezifische musikalischer Ästhetiken widerspiegeln. Im Laufe der empirischen Erhebungsphase in Neukölln geraten insbesondere die Vertreter von zwei Formen von Musik in den Fokus: Zum einen zeichnen sich Ende 2008 Spuren des Dubstep in Berlin ab, einem elektronischen Musikgenre, dem der Kulturjournalist Simon Reynolds im Mai 2012 einen ›extremen‹, ›neuen‹ und ›absolut angesagten‹ Sound zuschreibt.101 Dieser Musikrichtung widmen sich zum Zeitpunkt meiner Feldforschung auch einige Neuköllner Musikproduzenten, die ich für Gespräche traf. Währenddessen wurden die leerstehenden Räume vermehrt von Akteuren der Experimental- und Improvisationsmusik genutzt. So konnte ich parallel zu meiner Erhebungsphase von Winter 2008 bis Frühjahr 2010 beobachten, dass die Anzahl an Experimentalmusikern, die in den Kiez zogen, fortwährend anstieg. Dadurch wuchs auch die Anzahl der Interviews mit diesen Musikern. Deshalb macht Kapitel IV mit der Analyse dieses umfangreichen Materials zu Experimental- und Improvisationsmusik in Neukölln einen großen Teil der vorliegenden Arbeit aus. Die Vorstellung des Forschungsfeldes Neukölln beginnt im ersten Kapitel mit der Untersuchung von musikalischen Räumen im Reuterquartier. Musikalische Veranstaltungen – vor allem im Kulturverein Gelegenheiten – stellen sich hier als soziale Knotenpunkte des Kiezes heraus. Somit kommen ein Mitglied des Vereins wie auch Musiker zu Wort, die an Konzerten und Veranstaltungen im Reuterquartier beteiligt sind. Anhand der Analyse eines Konzerts der Band Ferne im Gelegenheiten wird das Verhältnis zwischen Musikern, Zuschauern und dem Schallereignis untersucht. Am Beispiel des Kiezfestes Weserrakete, der analysierten Konzertsituation sowie anderen Aktionen der Läden im Reuterquartier wird im Sinne Appadurais (vgl. ebd. 1996: 181) schließlich geklärt, wie die Identifizierung mit dem Wohnviertel, also ein gemeinschaftliches ›Kiezgefühl‹, produziert wird und welche Rolle Musik für dieses Raumbewusstsein spielt. Spezifische Ortsbezeichnungen und geographische Orientierungshilfen verdeutlichen imaginäre Grenzziehungen innerhalb Neuköllns sowie dessen Abgrenzung von anderen Berliner Bezirken, die mit symbolischen und ästhetischen Merkmalen besetzt werden. Besonders deutlich wird dies in Kapitel II, das die Sichtweisen der 101 »Die Entwicklung von Dubstep in Amerika finde ich spannend, weil es zwar extreme Musik und ein neuer Sound ist, aber dennoch nicht lediglich Musik für den Kopf. Außerdem ist es absolut angesagt. Meine sechsjährige Tochter kommt aus dem Sommer Camp zurück und sagt: ›Daddy, das ist der Dubstep-Tanz‹ und bewegt sich dazu wie ein Monster, wie Godzilla. Normale Vorstadtkinder lernen sowas in den Ferien. In Amerika kennt jeder Dubstep. Naja, Mitt Romney wahrscheinlich nicht. Ich finde es aufregend, dass ein so merkwürdiger […] Sound derart angesagt ist […].« (ebd. 2012:5)

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Musiker vertieft, die sich auf die topografischen Merkmale im Kiez beziehen. Diese lokalen Dispositionen werden schließlich konfrontiert mit Aspekten von Ästhetisierungen und Verortungen des ›Anderen‹ in Neukölln. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den Akteuren, die sich neben der Produktion von Dubstep-Tracks auf die Organisation von Partys im Kiez konzentrieren. Hierbei werden Fragen der akustischen Raumeroberung in Neukölln diskutiert. Am Beispiel der lokalen Verortung des elektronischen Genres Dubstep werden Fragen um eine vermeintliche Authentizität des Genres konkret. Welchen Stellenwert nimmt der Ort ein für eine angestrebte Authentifizierung des Genres und den damit in Zusammenhang stehenden Lebenswelten der Akteure? Außerdem kommen in diesem Kapitel Musikjournalisten sowie Kulturwissenschaftler zu Wort, die um eine urbane Einbettung der elektronischen Musikgenres bemüht sind. Anschaulich werden diese Prozesse insbesondere im Umgang mit globalen Kommunikationstechnologien, die Einfluss nehmen auf die Wahrnehmung und die Reichweiten von musikalischen Räumen der Dubstep-Akteure. Andererseits kann im Zuge der Globalisierung die Auflösung tradierter, lokaler regionaler Strukturen konstatiert werden (vgl. Häußermann/Kapphan 2002: 20). Wie gehen die Neuköllner Musiker mit dieser Dichotomie »Global«/»Lokal« um und inwieweit werden sie dadurch in der Wahrnehmung von Musik und in ihren Produktionsweisen beeinflusst? Welche Bedeutung erhält der Ort Neukölln angesichts Appadurais Vorstellung, dass Gruppenidentitäten nicht mehr räumlich gebunden sind?102 In Kapitel IV wird am Beispiel der Experimental- und Improvisationsmusiker untersucht, wie die Besonderheiten des Neuköllner Raumes musikalisch artikuliert werden. Anhand der Analyse einer Neuköllner Fluxus-Performance wird die Lokalisierbarkeit der verwendeten Radiosounds untersucht. Außerdem gerät die Frage nach der Teilnahme des Neuköllner Publikums an dieser intermedialen Performance in den Fokus. Auch am Beispiel eines experimentellen Noise-Konzerts wird das Verhältnis zwischen Stilistiken des Instrumentalspiels, Sounds, performativen Elementen und zuhörenden Zuschauern offengelegt. Kapitel V beschäftigt sich mit der Außendarstellung Neuköllns und klärt, welche Bilder globale und lokale Medien von Neukölln produzieren. Das vielschichtige und ambivalente mediale Gesamtbild des Kiezes ergibt sich aus der Sammlung von Blogeinträgen, Zeitungsartikeln, Internetseiten sowie stadtsoziologischen Artikeln, die sich mit dem Kiez befassen. In diesem Kapitel kommen auch die Vertreter städtischer Institutionen zu Wort, die ich in Neukölln interviewte. Das 102 »[T]he landscapes of group identity – the ethnoscape – around the world are no longer familiar anthropological objects, insofar as groups are no longer tightly territorialized, spatially bounded, historically unselfconscious, or culturally homogenous.« (Appadurai 1991: 191)

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Potenzial von Neuköllner Kunst, Kultur sowie einem vermeintlich kreativen Milieu für sogenannte Partizipation im Kiez wird zum Diskussionsgegenstand. Weiteres Quellenmaterial bieten Sichtweisen von Stadtsoziologen sowie Sozialwissenschaftlern, durch die auch Transformations- und sogenannte Gentrifizierungsprozesse in Neukölln in den Fokus der Diskussion geraten. Im Fazit werden die Erkenntnisse zu den Erlebniswelten der Musiker (Kapitel IIV) anhand der Außendarstellung Neuköllns verifiziert. Was charakterisiert die untersuchten Sounds aus diesen unterschiedlichen Perspektiven? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen urbanen Vorstellungswelten der Musiker bezüglich ihres Kiezes und den Neuköllner Mediascapes und wie sind deren musikalische Praktiken vor dem Hintergrund der medialen Außendarstellung und den Aktivitäten städtischer Institutionen zu bewerten? Mit der Frage nach ästhetischen Darstellungen und einem spezifischen Image Neuköllns geraten Fragen nach der lokalen Identifikation der Musiker in den Fokus. Städte sind Lefèbvre zufolge nicht allein ausgerichtet auf Wohlstand, sondern auch auf Wissen, Techniken und sogenannte kreative Œuvres.103 Lewitzky interpretiert Lefèbvres Begriff Œuvre als »Aspekte von Kreativität, Dynamik und die gewachsene Stadtstruktur durch Begegnung und nichtkommerzielle Interaktion der Nutzer« (Lewitzky 2005: 56 nach Lefèbvre 1996: 147). Welche Konsequenzen hat der medial und durch die Stadtplaner konzipierte Raum für ein explizit unkommerzielles Œuvre der Neuköllner Musiker? Welchen Wert hat ein avantgardistisches oder subkulturelles Gesamtbild für Neukölln und Berlin? Nach Degen zielt die gesellschaftlich eingebettete Analyse ästhetischer, also auch auditiv wahrgenommener Merkmale darauf ab herauszufinden, wie Machtverhältnisse konstruiert und ausgeübt werden (ebd. 2008: 72).104 Auch Sara Cohen zufolge ist die Produktion von Orten durch Musik gleichsam ein politischer Prozess, in dem es um den Kampf um Identität von Zugehörigkeit, Macht sowie Prestige geht (vgl. ebd. 1995: 445). Im Kampf um die Kontrolle von urbanem Raum produzieren Gruppen exklusive Räume und benutzen die Grenzen, die sie dadurch geschaffen haben, um sich zu definieren (vgl. Berking 2006: 9). Im Kontext des Kampfes um öffentlichen und privaten städtischen Raum entpuppen sich auch musikalische Räume als umkämpft (vgl. Connell/Gibson 2003: 15). 103 »In short, [cities] are centres of social and political life where not only wealth is accumulated, but knowledge […], techniques, and oeuvres (works of art, monuments). This city is itself ›oeuvre‹, a feature which contrasts with the irreversible tendency towards money and commerce, towards exchange and products. Indeed, the oeuvre is use value and the product is exchange value.« (Lefèbvre 1996: 66) 104 Degens Methode der Untersuchung von Ideologien und diesen generierenden Machtverhältnissen spiegelt Geuss’ dritte Form von Ideologie, die in seinem Sinne beitragen zu einer »Stabilisierung einer gewissen Herrschaft« (ebd. 1983: 25).

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Das Fazit von »Tief in Neukölln« beabsichtigt daher auch die Dispositionen der Musiker in den Kontext von Machtverhältnissen und versucht ihre Stellung innerhalb des Kiezes zu klären. Wie sind die untersuchten musikalischen Praktiken im Kontext städtischer Verdrängungsprozesse zu beurteilen, die aus Sicht der Stadtsoziologen gewissen urbanen Regelmäßigkeiten unterliegen? Welches Interesse haben städtische Institutionen an einer durch Musik generierten Identifikation mit dem eigenen Wohnviertel? Wie sind die musikalischen Lebenswelten der befragten Musiker in Neukölln vor dem Hintergrund einer gegenwärtigen kosmopolitischen Welt zu beurteilen? (Vgl. Rabinow 1986, vgl. Appadurai 1996)

I. Musikräume im Reuterquartier »Die Existenz der Mikro-Ebene impliziert und erfordert Nachbarschaftsbeziehungen […] in einem gesellschaftlichen Raum.« LEFÈBVRE 1975: 398

1. V EREINE

UND

K NEIPEN

IM

R EUTERQUARTIER

Der Verein Gelegenheiten Etwa 300 Meter von meiner alten Neuköllner Wohnung entfernt auf der Weserstraße treffe ich mich an einem Vormittag im November 2008 mit Katharina im Kulturverein Gelegenheiten zu einem Gespräch. Mit ihr möchte ich mich über die Organisation des Ladens unterhalten und darüber, wie es zur Gründung des Vereins kam. Sie ist ein aktives Mitglied von Gelegenheiten und muss heute ein wenig für Ordnung im Ladenlokal sorgen, welchen sich der Verein angemietet hat. Genau genommen gehört das Stück der Weserstraße, auf welchem sich der Laden befindet, zu dieser Zeit noch nicht zum Einzugsgebiet des beliebten Reuterquartiers, sondern zu einer noch nicht näher bestimmten Neuköllner »Quartierszelle«.1 Nach Gründung des Gelegenheiten 2006 öffnete eine Reihe von Kneipen auf der Weserstraße, die sich dadurch zur Ausgehmeile Neuköllns entwickelte. Gelegenheiten nutzt das Ladenlokal einer ehemaligen Fleischerei. Da über dem Eingang des Ladens kein Schild angebracht ist, kann man ihn leicht übersehen. Katharina zieht die alten Rollläden am Eingang hoch, um mich in den Laden zu lassen. Sie wohnt wie alle anderen aktiven Mitglieder von Gelegenheiten seit rund zwei Jahren in Neukölln und kommt eigenen Angaben nach »grundsätzlich nicht

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Die Bezirke sind ihrerseits unterteilt in einzelne Quartiere, die von den Stadtplanern auch als »Quartierszellen« bezeichnet werden. Das Reuterquartier und das Flughafenquartier sind somit zwei Zellen Neuköllns (vgl. Häußermann/Kapphan/Förste 2008).

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mehr aus dem Kiez heraus«. Ursprünglich stammt sie aus dem Westerwald und steckt gerade mitten in den Vorbereitungen zu ihrer Diplomarbeit in Graphikdesign. Ich habe sie in der Musenstube2, einer Art Bürogemeinschaft für Graphikerinnen und Illustratorinnen hier im Kiez, kennengelernt, wo sie sich einen Arbeitsraum mit anderen teilt. Abgesehen von den gemütlichen Sofas ist das Gelegenheiten vergleichsweise karg eingerichtet und düster; die weißen Fliesen an den Wänden und der graue Steinboden lassen noch alte Zeiten der Fleischerei erahnen. Abends nehme ich die Räumlichkeit jedoch anders wahr: Das Lokal wird dann bei feierlicher Beleuchtung von der Geräuschkulisse eines munteren Publikums erfüllt. Die 100 qm Gesamtfläche des Ladens teilen sich in drei Räume auf, von denen der vordere zwei mal in der Woche ab 20 Uhr als Konzert- und Veranstaltungsraum genutzt wird. Im Vorderraum wurde aus einfachen Brettern eine Theke gebaut, an der man dann Flaschenbier und Limonaden kaufen kann. Katharina bietet mir eine Bionade an und lädt mich ein, es mir auf dem alten Sofa im hinteren Zimmer gemütlich zu machen. Sie strahlt Zufriedenheit aus und lacht viel, während sie mir vom Kulturverein erzählt. Im Juli 2006 wurde Gelegenheiten von acht befreundeten Studenten als Verein gegründet. Seitdem wurde die erste Besetzung von neuen aktiven Mitgliedern abgelöst, weil einige wegzogen oder in einen regulären Arbeitsalltag eingebunden waren. Gegenwärtig leiten acht Studierende verschiedener Fachrichtungen den Laden, wobei die Anzahl der Geisteswissenschaftler überwiegt. Alle Aufgabenbereiche – von der Veranstaltungsplanung über den Thekendienst bis hin zur Steuererklärung – werden unter den Mitgliedern aufgeteilt. Dafür können diese die Räume für ihre Interessen nutzen, was Katharina wie folgt beschreibt: »Der Laden soll eine Plattform sein für die Leute, […] die sich hier austoben können auf was sie Lust haben, die einfach einen größeren Rahmen brauchen. […] Ich habe das mal ganz banal als Büro genutzt […]. Ich genieße das einfach, dass das mein verlängertes Wohnzimmer ist, dass ich hier Leute treffe; S. organisiert hier gelegentlich Lyrik-Lesungen, T. mag es gerne, hier Sachen zu bauen. […] Es ist halt eine ganz andere Sache als eine Kneipe zu eröffnen; das ist reines Hobby hier. […] Wir waren ja recht früh hier, bevor es so einen Boom gab und so viele Läden entstanden sind, und die Hausverwaltung war sicher auch froh, dass wir hier was Sinnvolles machen wollten und die wollten uns auch nicht rauswerfen.« (Katharina in einem Interview am 14.11.2008)

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Die Musenstube, ein Atelier in der Tellstraße, existiert seit 2008 und wird von verschiedenen Grafikern oder anderen Medienaktiven – wie zum Beispiel Ruth und Katharina – als Arbeitsplatz genutzt wird. Bei Kiezfesten fungiert das Atelier auch als kleiner Konzertraum. URL: www.musenstube.de (letzter Zugriff am 12.03.2013).

M USIKRÄUME

IM

R EUTERQUARTIER

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Katharina betont den eher privaten Charakter des Ladens und der Veranstaltungen, die sich aus den persönlichen Interessen der Mitglieder ergibt. Dadurch grenzt sie die Aktivitäten des Vereins deutlich von den Kneipen auf der Weserstraße ab, die sie im weiteren Verlauf des Interviews als »kommerziell« beschreibt. Zum Zeitpunkt der Gründung wusste man noch nicht, dass sich die Weserstraße durch die vielen Kneipen zu einer Ausgehmeile entwickeln würde. Somit hatte man nicht damit gerechnet, dass das Gelegenheiten einmal regelmäßigen Zulauf haben würde. Im Kontrast zu den Kneipen beschreibt Katharina das Gelegenheiten als eine »Programmgeschichte im Empfinden der Leute« (ebd.). Im Reuterkiez haben sich viele Läden für ein Vereinsmodell entschieden, da es den Getränkeausschank auch ohne Gewerbeschein möglich macht. Damit in Verbindung stehen somit jene »unkommerziellen« oder »unabhängigen« Praktiken, die nicht primär auf Gewinn für den Verein abzielen (ebd.). Die Konzertbesucher unterstützen den Laden durch den Kauf von Getränken, werden dadurch zu inaktiven Mitgliedern des Gelegenheiten (ebd.). Mit der günstigen Miete von 400 Euro im Rahmen eines unbegrenzten Mietvertrags, den geringen Stromkosten und den Einnahmen durch den Getränkeverkauf auf Veranstaltungen trage sich der Laden Katharinas Angaben nach »von selbst« (ebd.). Dennoch kann Gelegenheiten auftretenden Musikern keine Gagen zahlen und fordert von den Besuchern auch kein Eintrittsgeld. Deshalb ist Gelegenheiten allein auf Spenden der Konzertbesucher angewiesen, welche die Künstler oder Musiker unterstützen. Doch trotz dieser Konditionen sind Künstler bereit, hier aufzutreten. Darüber hinaus achten die Vereinsmitglieder darauf, dass bei Aufführungen keine GEMA-pflichtige Musik gespielt wird,3 wodurch das musikalische Programm beeinflusst wird. Weitere Einschränkungen der Veranstaltungen im Gelegenheiten beschreibt Katharina folgendermaßen: »Wir haben starke Einschränkungen, weil wir mit der Hausverwaltung und den Nachbarn strenge Absprachen haben, die wir einhalten müssen, zum Beispiel müssen wir immer vor 22 Uhr fertig sein, und die Musik darf nicht laut sein. […] Die [Hausverwaltung] war auch wirklich sehr freundlich als es Ärger gab mit der Nachbarin […], so dass sie schon um 21 Uhr hier stand und sich beschwert hat, und als […] die um ein […] weiteres Gespräch mit der Verwaltung gebeten hat, da hat die Hausverwaltung gesagt, dass es nun mal reicht. […] Schon komisch, so als ob die wollen, dass hier so Läden reinkommen statt ›normaler Bewohner‹. Wobei: Wir sind ja harmlos, um zehn Uhr ist ja immer zappe, Zimmerlautstärke, keine

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»Ich wundere mich da selbst immer drüber: Es gibt trotzdem Bands, die hier ohne Bezahlung spielen wollen. […] Wir achten jetzt auch darauf, dass es keine GEMApflichtigen Künstler sind, oder […], dass sie nur Stücke spielen, die sie nicht bei der GEMA gemeldet haben.« (Katharina in einem Interview am 14.11.2008)

50 | »T IEF IN N EUKÖLLN « Konzerte [und] Partys auch nur in Absprache mit der Nachbarin.« (Katharina in einem Interview am 14.11.2008)

Konflikte über Lärmbelästigungen mit Nachbarn wurden von allen befragten Kneipen und Clubs in Neukölln thematisiert. Der Betreiber der Kneipe Ä auf der Weserstraße fasst die Auflagen für Bands, die sich für einen Auftritt in seinem Laden interessieren, in einem Motto zusammen: »Kein Schlagzeug, keine Bläser!« Damit seien für ihn erste Konditionen abgeklärt (Franz, Inhaber der Kneipe Ä, in einem Gespräch am 04.12.2008). So benennt auch Katharina spezielle Lautstärkeregelungen, die bei Konzert- oder Partyabenden im Gelegenheiten eine Rolle spielen. In diesem Zusammenhang kam es bereits zu Konflikten mit einer Nachbarin, deren Wohnung genau über dem Verein liegt. Die Hausverwaltung fungierte als Vermittler zwischen Anwohnern und dem Verein und ergriff in dem Streit mit der Nachbarin eindeutig Partei für die Veranstaltungen des Vereins. Somit bewertet die Hausverwaltung die Konzerte der Gelegenheiten als positiv und unterstützt den Verein in seinen Vorhaben. Katharina betont, dass Gelegenheiten in einem friedlichen Verhältnis mit der Nachbarin bestehen möchte. Deshalb halten sich die Studenten auch an die Absprachen, die zusammen mit der Hausverwaltung getroffen wurden. Während Katharina die Selbstzuschreibung »harmlos« auf das Einhalten der Abmachungen und das korrekte Verhalten bezieht, kann der Begriff auch als Charakterisierung der Konzertatmosphäre im Laden betrachtet werden (siehe das Konzert der Band Ferne in diesem Kapitel). Valentinstüberl – nachbarschaftliche Bierstubenatmosphäre An einem Winterabend 2008 treffe ich Robert in seiner Kneipe Valentinstüberl4 auf der Donaustraße, welches er vor ein paar Monaten erst eröffnete. Er ist bereits seit sieben Jahren im Reuterquartier und berichtet aus seiner Perspektive über Veränderungsprozessen im Kiez, die er als positiv betrachtet.5 Zuletzt führte er die

4

Vgl. URL: www.valentinstueberlneukoelln.de (letzter Zugriff am 12.03.2013).

5

»Vor zwei Jahren ging es los, und das Freie Neukölln [eine Kneipe im Reuterquartier]. Als wir das Ä aufgemacht haben […] gab es halt auch so ein paar alte Eckkneipen, die halt auch kein Spaß gemacht haben; man konnte nicht so wirklich weggehen, und es war arg zipfelmäßig […]: Dieses Aufplustern von heranwachsenden jungen Männern, die halt so gangmäßig unterwegs waren, das hat sich nun auch schon was nivelliert. Die gibt’s schon auch noch, nur dass sie sich nicht mehr so aufzipfeln, weil es gibt auch ›ne Gegenströmung dazu. Kurz danach war dieser Hype, wenn du einkaufen gegangen bist, da waren plötzlich andere Menschen.« (Robert in einem Interview am 04.12.2008)

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Kneipe Ä6 auf der Weserstraße. Wie das Gelegenheiten befindet sich auch das Valentinstüberl streng betrachtet nicht innerhalb der geographischen Grenzen des Reuterquartiers,7 doch identifiziert Robert sich stark mit dem Kiez. So berichtet Robert von einer starken Kooperationen mit Projekten anderer Kneipen im Reuterkiez, die das Programm in seinem Laden mitgestalten.8 Während sich das Stüberl auf keine speziellen musikalischen Stilrichtungen fokussiert, möchte man ein »breites Spektrum« anbieten. Wichtig sei ihm die »Qualität« der Musik, sowie die des gastronomischen Angebots, das thematisch an der »Stüberlkultur« angelehnt ist.9 Die Lebensmittel für seinen Betrieb bezieht er von den Nachbarn, weil dies nicht nur praktisch sei, sondern auch die »gegenseitige Befruchtung« begünstige (Robert in einem Interview am 04.12.2008). Obwohl sich sein Stüberl finanziell auch gut allein durch den Gastronomiebetrieb tragen würde, sieht Robert dennoch ein Musikprogramm vor und versucht die Kontakte zu Musikern und Künstlern zu pflegen. Das Valentinstüberl hat Robert bewusst als Vorder- und Hinterstube konzipiert, die ihm zufolge auch unterschiedliche Funktionen einnehmen, da er »diese zwei Welten interessant« findet: Vergleichbar mit dem hinteren Raum des Gelegenheiten fungiert das Hinterzimmer des Stüberls als »Wohnzimmer und so sollte der Raum auch bespielt werden« (ebd.). Robert setzt mit dem Konzept der Hinter- und Vorderstube somit Goffmans Vorstellung von Vorder- und Hinterbühne um.10 Er 6

Vgl. URL: www.ae-neukoelln.de (letzter Zugriff am 10.03.2013).

7

»Selbst das Ä [sein erstes Lokal im Kiez] war so an der Grenze zum Reuterkiez und wird auch bald eingebunden, weil es nun einen Namen hat. Aber am Anfang [fragte man sich]: ist das jetzt eigentlich Reuterkiez oder was ist das jetzt eigentlich? Und das [Stüberl] hier, ist irgendwie noch dazwischen […].« (Robert in einem Interview am 04.12.2008)

8

Die Kneipe »Freies Neukölln« produziert eine wöchentliche Soap, die im Kiez spielt. Diese kann man sich im Online-Stream anschauen, jedoch zeigt Robert einzelne Episoden der Serie wöchentlich auch im Valentinstüberl (ebd.).

9

In Roberts Valentinstüberl kann eine richtige Brotzeit bestehend aus Leberkässemmeln, Brezeln und Bier bestellt werden., was er folgendermaßen erklärt: »Ich möchte kein bayrisches Getüdel haben, [aber] so bestimmte Sachen finde ich gut: Die Brotzeit [ist] eine schöne Ergänzung zum Döner [und] Leberkässemmeln gabs hier halt nicht […]. Das Bier, das bei mir aus dem Zapfhahn läuft, das ist auch hohes Niveau […].« (Ebd.)

10 Erving Goffman beobachtet Orte, die entweder den Charakter von Vorder- oder Hinterbühnen einnehmen und begründet ein dazugehöriges Verhalten der Gesellschaft (vgl. ebd. 1983: 99-128). »Aber in allen Klassen […] besteht die Tendenz, die vorderen Räume von den hinteren Räumen der Wohnungen zu trennen. Die Front ist im allgemeinen verhältnismäßig gut ausgestattet, in gutem Zustand und sauber; die Rückseite ist meist weniger einnehmend. […] Sind die Werte einer bestimmten Gesellschaft bekannt, so wird offensichtlich, daß der Hinterbühnen-Charakter bestimmter Orte ihnen materiell

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betont, dass das Hinterstüberl ein ehemaliger Darkroom war, was die Vorstellung des Hinterbühnencharakters verstärkt. Das Hinterzimmer wurde nun völlig ausgebaut und die Wände mit einem Lack mit Alupigmenten veredelt. Auch fanden dort bis vor kurzem noch lautere Konzerte statt, doch dürfen hier wegen Lautstärkeeinschränkungen keine »fetten Bands« mehr spielen (ebd.). Nach dem Gespräch mit Robert schaue ich mir das Hinterstüberl genauer an. In dem kleinen, abgedunkelten Raum treffe ich später Torsten (siehe auch Kapitel III) für ein Interview. Er ist heute Abend DJ und legt dort gerade ruhige Musik auf. Eine angestrahlte Diskokugel projiziert kleine Lichtpunkte auf die Wände, welche die Pigmente zum Schimmern bringen. Den vorderen Raum hat Robert als rustikales Bier-Stüberl mit Holzbänken und -tischen ausgestattet. Entgegen einer »coolen« Lounge-Atmosphäre entschied er sich hier für eine zünftige Bierbank-Atmosphäre, was er folgendermaßen erklärt: »Ich habe auch ganz bewusst keine Sofas rein gestellt, so lounge-mäßig, sondern die Bierbänke: Man muss sich zusammensetzten, wenn es hier eng und voll wird. Dann muss man sich auch wo hinsetzen, wo auch andere Leute sitzen, es gibt eben nicht dieses Separieren.« (Robert in einem Interview am 04.12.2008)

Ohne separierende Armlehnen sitzen die Gäste des Valentinstüberls bei vollem Haus eng nebeneinander. Roberts Bierbank-Konzept kann sicherlich als Maßnahme zum Platzsparen interpretiert werden. Mit dem Aspekt der körperlichen Nähe zum Sitznachbarn impliziert Robert auch eine damit in Verbindung stehende Gemeinschaftlichkeit der Besucher des Valentinstüberls. Ich empfinde die im Hintergrund im Vorderraum laufende Musik11 als etwas zu laut, um Unterhaltungen mit dem Sitznachbarn zu führen. Doch komme ich nach dem Interview automatisch mit einem Banknachbarn ins Gespräch, der im Reuterquartier wohnt. Er erzählt mir, dass er seine Abende nach der Arbeit im Valentinstüberl verbringt und hier auch oft zu Abend isst. Zwar spricht sich Peter bewusst gegen ein »bayrisches Getüdel« aus (ebd.), doch ein Funke Heimatverbundenheit kann ihm – der mit bayrischem Akzent redet – nicht abgesprochen werden. Auch der Namenspatron des Stüberls – Karl Valentin – symbolisiert die Achse Berlin-München. Roberts Aussagen nach steht Karl Valentin »als künstlerisches Vorbild für das kreative Verwirklichen im Kiez«, denn auch Valentin hätte immer viele Projekte gemacht, mit denen er aber »auch immer

inhärent ist […]. Der hintere Teil eines Gebäudes bleibt dunkel und unverputzt, die Vorderfront dagegen präsentiert sich in weißem Stuck.« (Goffman 1983: 114) 11 Es handelt sich um das zurzeit vorletzte Album von Björk.

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mal wieder auf die Schnauze gefallen« sei (ebd.).12 Auch Robert habe des Öfteren Probleme im Kiez insbesondere mit »Nachbarn, die dreißig oder vierzig Jahre im Kiez wohnen und sich gegen Veränderungen sträuben« (ebd.). Die zünftig gesellige Stimmung mit den Bierbänken und das kulinarische Angebot symbolisieren zwar »Bayern« und verorten dieses Bundesland in einem Neuköllner Teilraum. Doch die Reproduktion traditioneller, lokaler Kultur ist zu hinterfragen. Im Gegensatz zu den visuellen Phänomenen im Laden gibt die Hintergrundmusik keine bayrische Stüberl-Ästhetik wider. Die Beschallung durch Björk statt durch Bierstubenmusi’ und nicht zuletzt der Mangel an blau-weißen Servietten beweist den gewollten Stilmix einer Neuköllner Stube.13

12 Karl Valentin ist laut Robert »mehr als wie man ihn so kennt, mehr als [ein] Komödiant, einer der ersten, der sich mit Film beschäftigt hat, war für mich auch immer anarchistisch unterwegs, […] hat auch immer so einige Projekte gemacht, wo er sich verwirklicht hat, wo er auch immer mal wieder auf die Schnauze gefallen ist. Er hat sein ganzes Geld hineingesteckt [und] dann haben sie es wieder zugemacht vom Ordnungsamt oder was weiß ich.« (Robert in einem Interview am 04.12.2008) Robert sieht darin Parallelen zu seinen eigenen Projektorganisationen, die nicht immer so reibungslos verliefen, wie er an einigen Beispielen anschaulich macht. 13 »Bayrisch gesprochen: Nicht das Zelebrieren von »Weißwurst«, »Löwenbräu« und »Lederhose« rettet beim Übergang in die globale Ära. […] Kurz gesagt, findet eine nichttraditionalistische Renaissance des Lokalen statt, wenn es gelingt, lokale Besonderheiten global zu verorten und in diesem Rahmen konfliktvoll zu erneuern. Bayerisch und ironisch gesprochen, geht es, wenn schon um die (Weiß-)Wurst, dann um Weißwurst Hawaii.« (Beck 1997: 87-88 [Herv. i.O.]) Dennoch erinnert mich das Phänomen der Bayrischen Ästhetik an das Bayrische Wirtshaus im Europa-Center im Berliner Westen, das dort schon seit Vorwendezeiten eine beliebte Anlaufstelle für Touristen ist, die ›echt deutsche‹ Köstlichkeiten erleben möchten. Im Kontext eines sich im Zuge der Globalisierung transformierenden Kiezes wird die Vorstellung von einer inhärent ›deutschen‹ Signalwirkung des Valentinstüberls interessant.

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2. E RSTE S PUREN

DES

Q UARTIERSMANAGEMENTS

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K IEZ

»Dein[en] Wohnsitz hast du in mein[en] Kiez verlagert, weil da geht so einiges, das findest du spannend. Du bist Quartiermanager, [...] Boutiquen-, Cafe- Galerieverschieber. Ich komm’ auf die Party, seh’ nach dem rechten, die Netzwerker woll’n mich an Konzepte fesseln. Du laberst mir mein Ohr voll mit deinen Projekten. Willst mein’n Bildungsstand dabei auschecken. [...] Du erklärst mir, was mich an meinem Bezirk noch stört. Bedenkst aber nicht, wie sich das auswirken wird.« XBERG

DHIRTY6

CRU

IN

DEM

TRACK

»QUARTIERSMANEGE« 2009

Das Blog für den Kiez – Reuterblog Plakate, Anschläge an den Fenstern der Läden sowie Flyer informieren die Nachbarschaft über Konzerte im Reuterquartier. Des Weiteren sorgt ein täglicher Beitrag im Reuterblog14 für den nötigen Informationsfluss im Kiez und gibt Ausgehtipps, die sich auf das lokale Umfeld beziehen. Der Reuterblogger Felix ist ursprünglich aus Krefeld und kam für das Studium der Kommunikationswissenschaften nach Berlin. »[E]her zufällig«15 zog er vor ein paar Jahren aus Britz in den Reuterkiez. Weshalb er sein Reuterblog begann, erklärt er folgendermaßen: »Ich hab im Ori

16

vor einem Jahr einen alten Bekannten wieder getroffen. Er meinte, er

würde hier so ein Projekt machen. […] Nach meinem Umzug [in den Reuterkiez] habe ich

14 Der letzte Eintrag dieses Blogs ist am 31.12.2009. URL: www.reuterkiez.net (letzter Zugriff am 18.03.2013). 15 »Ich bin gar nicht absichtlich hier hingezogen. Wir haben allgemein nach Wohnungen in Kreuzberg nach einer guten Verkehrsanbindung geschaut.« (Felix in einem Interview am 08.05.2009) 16 Das Ori im Reuterquartier existiert seit 2008 und beschreibt sich selbst als Galerie, Bar und Projektraum. Die Mitglieder des gleichnamigen Vereins veranstalten neben Lesungen kleine Festivals und kleinere Konzerte. Arbeitsräume wie eine Dunkelkammer werden für die aktiven Vereinsmitglieder zur Verfügung gestellt. (Vgl. Interview mit Mitgliedern des Ori am 18.12.2008)

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gemerkt: ›Ach hier machen die ja irgendetwas‹. Ich kannte das nur, weil eine Freundin von mir hier in der Ecke wohnte. Dann habe ich das mit dem Blog einfach angefangen. […] Das war eher so eine Art Experiment. Blog ist ja ein sehr weiches Medium, in der Art und Weise, dass es keine Vorgaben gibt: […] Mit den ganzen Sachen im Internet, wo Leute was für andere umsonst machen. Und ich habe mir gedacht: ›Warum schreibt denn keiner darüber‹. Ich denke, ich scheine da so eine Nische genutzt zu haben. […] Ich habe eine Zeit lang nur so Internetkram gemacht, immer so parallel [zum Studium]. Jetzt gerade mache ich mit dem Quartiersmanagement so eine Art lokales Quartiersmarketing. Zum Quartiersmanagement hattest du, glaube ich, auch schon mal hingeschrieben.« (Felix in einem Interview am 08.05.2009)

Felix erkannte seinen neuen Wohnort, den Reuterkiez, als ideales Feld zum Bloggen. Da noch niemand über den Kiez schrieb, nahm er den Ort auch als Nische wahr. Mittlerweile kooperiert er mit dem Quartiersmanagement (»QM«, vgl. Einleitung) für ein »lokales Quartiersmarketing«. Er weiß darüber Bescheid, dass ich dem Quartiersmanagement im Kiez eine Anfrage für ein Gespräch sendete, welche diesem aber abgeblockt wurde.17 Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive werden die Aufgaben und Absichten von Quartiersmanagements folgendermaßen umrissen: »[Das QM] hat […] die Aufgabe, aktuelle und künftige städtische Prozesse so zu gestalten und zu organisieren, dass die Totalität von Stadt optimal berücksichtigt wird. Zwar gehört die Belebung der Innenstadt zu einem der so zu definierenden Aufgabenfelder, jedoch kann dies nicht geschehen, ohne die Menschen, die schließlich zu dieser Belebung beitragen sollen, in ihren Wohnquartieren einzubeziehen. […] Obwohl seit einiger Zeit Kommunen und Interessengemeinschaften beginnen, StadtmanagerInnen einzustellen, ist mithin überhaupt nicht klar, was ein Stadtmanager […] sein […] bzw. machen soll.« (Hochstadt 2005: 1, 7)

Felix schildert seine Aktivitäten als Reuterblogger als eher zufällig und persönlich im Zusammenhang mit seinem Wohnort. Geleitet durch das Interesse an einem »Experiment« wirken seine Praktiken selbstorganisiert und unabhängig. Im Kontext der Kooperation mit dem Quartiersmanagement, die das erwähnte »Kiezmarketing« verfolgt, erscheint sein Reuterblogging jedoch abhängig von der städtischen Institution, für die er arbeitet. Die Arbeit für das Quartiersmanagement ist somit nicht unbedeutend für Felix’ Aktivitäten und wirft ein neues Licht auf sein Schreiben am

17 In einer Rückantwort via E-Mail erklärte das Quartiersmanagement, dass es für mein Vorhaben der musikethnologischen Feldforschung nicht hilfreich sein würde.

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Reuterblog, der allein durch seinen Namen (»Reuter«) die Idee einer lokalen »corporate identity« des Neuköllner Quartiers impliziert.18 Künstlerischer Zwischennutzen im Reuterquartier Beziehungen zum kiezeigenen Quartiersmanagements schildern auch die Schweizer Künstler Carola und Simon. Sie kamen 2008 in den Reuterkiez, um ihren multimedialen Geräuschladen Ohrenhoch19 in der Weichselstraße zu gründen. Ihre zumeist in Charlottenburg lebenden Künstlerfreunde rieten den beiden zuvor von Neukölln ab, da man nicht wusste, dass der Stadtteil »im Kommen« sei (Simon in einem Interview am 19.10.2008). Mit Hilfe von Workshops möchte Simon den Bereich der experimentellen und elektroakustischen Musik in seinem Geräuschladen insbesondere für das nachbarschaftliche Umfeld öffnen (ebd.). Neben den Workshops für Kinder und Erwachsene, in denen mit elektronischem Instrumentarium Musik gestaltet wird, finden im Ohrenhoch regelmäßig kleinere elektroakustische Konzerte statt, bei welchen nichtalkoholische Getränke verkauft werden (ebd.). Durch Erfahrungen mit Veranstaltungsorganisationen in der Schweiz und durch ein internationales Netzwerk war der Aufbau des Geräuschladens für Simon nicht neu (ebd.). Das Konzept für Ohrenhoch zog eine günstige Miete als eine Hauptbedingung mit ein.20 Gerade für künstlerische Zwecke bot das Reuterquartier günstige Konditionen: Wie der Arbeitsraum Musenstube21 wurde auch das Ladenlokal von Ohrenhoch durch die Zwischennutzungsagentur im Reuterkiez vermittelt. Im Auftrag des Quartiersmanagements macht diese Agentur seit drei Jahren Räume im Kiez ausfindig, die »relativ bezahlbar« sind und überzeugt die Hausveraltungen, die leerstehenden Räume für künstlerische Zwecke zu nutzen (Carola 18 Auf seinem Reuterblog setzt er sich zwar auch kritisch mit der Tatsache auseinander, dass der Bürgermeister Buschkowsky einen »Imagefilm« über Neukölln drehen möchte. Doch sind Felix’ eigene Absichten im Kontext einer Kiezvermarktung zu betrachten. Daher erscheint seine Kritik an Buschkowskys Vorhaben eher paradox. 19 Ohrenhoch,

der

Geräuschladen URL:

www.ohrenhoch.de (letzter Zugriff am

26.03.2013). 20 »In Neukölln … das hat sich alles ganz schnell entwickelt. Der Raum, der Name ›Ohrenhoch, der Geräuschladen‹, das hat sich so innerhalb Wochen entwickelt und aus dem ist eine Plattform entstanden, wo verschiedene Dinge passieren können [und] es musste sehr günstig sein. Diese Gratwanderung war sehr intensiv, hat aber für mich sehr gut geklappt.« (Simon in einem Interview am 19.10.2008) 21 »Renate hat [die Musenstube] vor 2 Jahren gestartet und das von einer Zwischennutzungsagentur übernommen. Der Zwischennutzungsvertrag ist auch günstiger und die Kündigungsfrist geringer.« (Ruth in einem Interview am 10.10.2008)

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in einem Interview am 19.10.2008). Außerdem teilen mir die beiden Schweizer ihre Kooperation mit dem Neuköllner Verein »AG Kultur«22 mit, in welchem auch der Reuterblogger Felix aktiv ist. Diese durch das Quartiersmanagement ins Leben gerufene Arbeitsgemeinschaft, welche die Künstler im Kiez vernetzt, bringt einen monatlichen Veranstaltungsflyer für das Reuterquartier heraus, auf welchem somit auch die Events des Geräuschladens Ohrenhoch vermerkt und beworben werden. Nächstes Wochenende werden Carola und Simon auch an der Weserrakete, einem Fest im Kiez, (vgl. drittes Unterkapitel) teilnehmen. »Neighbourhood Symphony« Der Experimentalmusiker Tyler erzählt mir vom Adventsparcours23, der in den nächsten Tagen im Reuterquartier stattfinden und von der Quartiersorganisation finanziell getragen wird. Für dieses Kiezevent plant er gemeinsam mit einem weiteren Akteur, den ich zuvor interviewt hatte,24 eine Soundintervention. Er beschreibt die noch nicht ganz ausgereiften Pläne dafür folgendermaßen: »On Sunday there is the Adventsparcours […] in the neighbourhood, and there is the opportunity to do a sound intervention, we have to write a proposal for it. [...] We try to do a minimalist type of symphony in this empty space near Maybachufer. Theoretically […] if we had a group of musicians in the middle who would make a really minimal composition: just two or three tones [er macht ein dröhnendes Geräusch], so that the whole place starts humming. And we would transmit by radio to that local area certain tones. Everybody [would] open their windows and turn on their radios to these certain tones, so that the whole space would become a neighbourhood symphony. Or we would be playing and it would be transmitted on the radio and the peple could hear it on their radio, amplified in realtime, theoretically they could play it back from their window. That could be complicated, [because] radio transmission is illegal. [Or] the second idea: [...] We do a walking composition in that area.« (Tyler in einem Interview am 04.11.2009)

Den beiden Künstlern schwebt die Idee vor, die gesamte Nachbarschaft des Reuterquartiers zum Klingen zu bringen. Sowohl die durch die Musiker auf der Straße ge22 Siehe auch www.kulturnetzwerk.de (letzter Zugriff am 24.03.2013). 23 Der Adventsparcours ist ein vorweihnachtliches Festival in verschiedenen Läden und Galerien im Reuterquartier, das mit organisiert wird von der »AG Kultur« bzw. von »Kunstreuter«. URL: www.kunstreuter.de/events/advents-parcours-2011/ (letzter Zugriff am 30.03.2013). 24 Dieser entwickelte auch die software für das Konzept des in der Einleitung erwähnten Hamburger Künstlerprojekts Die Stadt hören, das den Sound des Kiezes untersuchen wollte (siehe Einleitung).

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spielten Sounds als auch dieselben durch die Radios übertragenen Klänge würden durch den Kiez schallen. Mit ihrem Konzept zählt der Musiker auf die Teilnahme der Gemeinschaft im Kiez, die man mit Hilfe des Radiosounds erreichen möchte.25 Außerdem spiegelt ihr Vorhaben einer experimentellen und minimalen »neighbourhood symphony« Wagners Idee des Gesamtkunstwerks wider, welches als universelles Event für jeden Menschen erreichbar sein sollte.26 Dabei stellt sich die Frage, wen die derartigen Veranstaltungen im Kiez tatsächlich erreichen und welchen Wert eine derartige künstlerische Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Absichten der kommunalen Quartiersorganisation hat.

3. D IE W ESERRAKETE Mit der Weserrakete27 organisieren die Mitglieder von Gelegenheiten seit 2006 ein abendliches Straßenfest im Reuterkiez, was Katharina folgendermaßen darlegt: »Weserrakete – das hat alles super geklappt. Es war H.’s Idee. […] Da neue Läden aus dem Boden gesprossen sind und man sich mal kennenlernen konnte. Bei der ersten Weserrakete waren ja nur sechs [Läden], bei der zweiten […] waren es gleich zwanzig Läden: […] Es explodiert richtig. Und deswegen war da ja auch so viel los. […] Die Zusammenarbeit mit dem Quartiersmanagement brauchen wir eigentlich gar nicht. Die hatten uns ein wenig unterstützt mit einem kleinen Betrag für die Weserrakete, so für Auslagen, und haben uns dann in den Vertrag geschrieben, dass wir uns mit der AG Kultur zusammensetzen sollen. [Sie lacht]. Mit Kunstreuter,

28

haben wir auch nichts zu tun. […] Wir sind so unabhängig.«

(Katharina in einem Interview am 14.11.2008)

Da die Gelegenheiten die Entwicklungen und Neueröffnungen im Kiez mitverfolgen konnten, entstand die Idee eines gemeinsamen Festes in der und für die Gegend um die Weserstraße. Während jedes Jahr neue Räume, Läden und Kneipen im Kiez eröffneten, erweiterte sich auch der Rahmen des Festivals. Somit nehmen Katharina zufolge neben einigen als Galerie, Bar oder Installationsraum getarnten Vereinen nun auch viele »kommerzielle« Kneipen an der Veranstaltung teil (ebd.). 25 Da sich das Vorhaben durch die Radioübertragung als kompliziert und dazu illegal entpuppt, wird es an jenem Adventsparcours nicht umgesetzt. 26 »The goal of participatory art within the tradition of the Wagnerian [G]esamtkunstwerk [...] [resides] in creating universally accessible art events, here and now, beyond education, professionalization, and specialization.« (Frieling 2008: 29) 27 Vgl. URL: www.weserrakete.blogspot.com (letzter Zugriff am 21.02.2013). 28 Katharina bezieht sich auf den von der »AG Kultur« erstellten Kunstflyer (siehe Kapitel V). URL: www.kunstreuter.de (letzter Zugriff am 24.03.2013).

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Die Grafikerin und Musikerin Ruth von der Musenstube äußert sich zu der Organisation der Weserrakete im Reuterquartier folgendermaßen: »Es gibt hier [im Kiez] sehr viele Kontakte untereinander. Der Anlass dieses Weserfest war auch, dass untereinander auch wieder Verknüpfungen entstehen, und das funktioniert auch echt ganz gut.« (Ruth von der Musenstube in einem Interview am 10.10.2008)

Auch Simon freut die Möglichkeit der Teilnahme an der Weserrakete: »Und ich bin auch eher ein Typ, der für alles offen ist, aber […] auch gerne bei sich bleibt. Zum Beispiel am 25. Oktober ist die Weserrakete. Das hat mich auch gefreut. [Es] kann auch sein, dass das nicht unbedingt die Klientel ist, aber [ich] dachte, wir machen da [mit]. Das ist 29

nun etwas, was sich wirklich in Kreuzkölln

abspielt.« (Simon in einem Interview am

19.10.2008)

Der Sinn des gemeinsamen Fests wird in der Kontaktpflege zu anderen Kiezbewohnern gesehen. Der Kiez erscheint als ein Ort, dem sich die Akteure verpflichtet fühlen. Unterschiedliche Klangdarbietungen werden im Rahmen der Weserrakete repräsentiert und vereinen die dazugehörigen musikalischen Kontexte der Akteure. Während Ruth für die Weserrakete halbakustische Konzerte in der Musenstube organisiert, wird Simon das Straßenfest mit einer elektroakustischen Installation in seinem Raum Ohrenhoch bereichern. Ruths und Simons Vorschläge erscheinen mit etwa zwanzig weiteren Programmpunkten auf einem großen Flyer für die Weserrakete am 24.10.2008. Für dieses Flugblatt hat Gelegenheiten aus dem Ausschnitt des Stadtplans des Gebiets um die Weserstraße eine Art »Kiez-Landkarte« entworfen. Auf dieser sind alle an der Weserrakete beteiligten Räume markiert und durchnummeriert. Eine dazugehörige Legende informiert über die jeweiligen Veranstaltungen an diesen Orten. Mit diesem Orientierungsplan kann der Kiez mit seiner vielfältigen Programmierung an diesem Abend erforscht werden.

29 Simon benennt den Reuterkiez, also den Teil Neuköllns, der sich an der Grenze zu Kreuzberg befindet, auch als »Kreuzkölln« (vgl. Einleitung sowie Kapitel II und V).

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Eine Nacht im Reuterquartier »Eine Nacht in Berlin. Ausflug zum falschen Kiez? […] Und um uns herum nur Dunkelheit. Die ha’m hier kein Geld für Diskolight […]. Eine Nacht in Berlin. Ausflug zum falschen Kiez?« YUKON ORANGE IM SONG »DISKOLIGHT« 2011

An einem nasskalten Oktoberabend nehme auch ich an der Weserrakete teil und begehe mit der Kiez-»Map« in der Hand die Läden um die Weserstraße, die für das Fest nach dem Motto »Rakete« dekoriert wurden. So gut wie alle Betreiber der Läden tragen außerdem Hüte, so wie es mit dem Organisationsteam des Gelegenheiten abgesprochen wurde. Ich beginne den Abend in der Ori-Galerie, wo fünf Astronauten auf selbstgebastelten analogen Instrumenten eine Performance liefern, deren Sounds an die Geräusche früher Sci-Fi-Filme erinnern. Begleitet werden diese schrägen Klänge aus dem All von der Geräuschkulisse einer nostalgischen Ariola-Schallplatte mit einer alten, männlichen Vorleserstimme, die sich auf einem roten Schallplattenspieler dreht. Es ist sehr gemütlich hier, doch wechsele ich über zur Musenstube in der Tellstraße, wo eine ruhige Menschenmasse den deutschsprachigen Texten einer jungen, selbstbewussten Sängerin lauscht, die durch fetzige Rhythmen eines Cajónspielers begleitet wird. Ich finde noch einen Platz auf dem Fußboden und sehe an der Wand einen Sticker mit der Aufschrift »I Ɔ REUTERKIEZ«30 kleben. Die Zuhörer sind aufmerksam, lachen an einigen Stellen der Songtexte und fordern »Zugabe«, als das letzte Lied angekündigt wird. Vor der Zugabe muss ich weiter, weil ich gehört habe, dass schräg gegenüber, in der PopoBar31, eine Techno-Party stattfinden soll. Ich betrete den ehemaligen Friseursalon, der als Bar umfunktioniert wurde und stehe inmitten einer Gruppe von Menschen, die sich zu minimalen Technosounds bewegt. Die Tanzbewegungen sind nicht ganz flüssig, so als müssten sie sich in den Ort noch eingewöhnen, oder als hätten alle einfach zu wenig Platz. 30 »I Ɔ REUTERKIEZ« kann in Anlehnung betrachtet werden an das New Yorker Logo »I Love New York« betrachtet werden, das sowohl als Songtitel als auch als Basis einer Werbekampagne seit Mitte der 1970er Jahre den Tourismus in New York City und später auch im Staat New York ankurbeln sollte. Die Schutzmarke ist in den Souvenirläden New Yorks zu finden und hat aufgrund seiner Popularität Nachahmer in anderen Städten gefunden. Artikel auf URL: http://en.wikipedia.org/wiki/I_Love_New_York (letzter Zugriff am 23.03.2013). Die Übernahme des Logos auf das Reuterquartier veranschaulicht somit den Kiez als Markenprodukt. 31 Vgl. URL: www.popobar.de (letzter Zugriff am 10.03.2013).

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Vielleicht mangelt es auch einfach an der untergründigen, düsteren Kelleratmosphäre, die für ein kathartisches Tanzgefühl vonnöten ist und die hier – vor der offenen Friseurfensterfront – einfach keine Chance hat. Auf den Bürgersteigen der Weserstraße stehen die jungen Leute schon in Trauben mit ihren Bierflaschen und feiern draußen weiter, weil man in die Kneipen wegen Überfüllung nicht mehr rein kommt. Im Gelegenheiten wurde die Musik schon etwas leiser gestellt und das Licht angeschaltet, so als sei die Party eigentlich schon zu Ende. Doch frage ich mich, wann wohl die Polizei in den Kiez einmarschiert, um auf der Weserstraße für Ruhe zu sorgen. Gegen 2 Uhr fahren im Ballungsgebiet der Veranstaltung, Weserstraße/Ecke Friedelstraße, erste Polizeiwagen ein. Die jungen Feierwütigen freuen sich, als die Polizisten aus ihren Wagen steigen, so als würde der Partyfaktor von der Präsenz der grünen Autos abhängen. Doch die Polizisten scheinen eher gelangweilt und betreten nur kurz die Läden, in denen ein mahnendes Wort vonnöten ist. Polizeiwannen werden hier heute sicher nicht mehr einfahren müssen, denke ich mir, steige auf mein Fahrrad und fahre heim. Felix vom Reuterblog lobt die »Weserrakete von den Gelegenheiten [als] unser Lieblingsbeispiel dafür, wie man auf diese Strukturen verzichtet. […]« (Felix in einem Interview am 08.05.2009). Auch die Hausverwaltung von Gelegenheiten schätzt die Aktionen des Ladens und nimmt diese vor einer anderen Mieterin im Zusammenhang mit Lautstärkeabsprachen in Schutz. Repräsentiert sich das Organisationsteam der Weserrakete als unabhängig, führt es andererseits den Gedanken des Quartiersmanagements aus und arbeitet im Sinne städtischer Institutionen am Aufbau einer nachbarschaftlichen Struktur.32 So erkennen die aktiven Mitglieder des Vereins die Räume, die sich um das Gelegenheiten ansiedeln, als wichtige Ressourcen zur Kooperation und erschließen durch die Weserrakete das nachbarschaftliche Territorium. Das durch nachbarschaftliche Praktiken geschaffene Erlebnis dieser Gemeinschaft erzeugt ein »Kiezgefühl«, das an die Erinnerungen an die Veranstaltungsorte gebunden ist. Durch die Einbeziehung aller Galerien und Kunst- und Musikräume wird dieses Gefühl automatisch auf den kreativen Output der Gegend gelenkt. Die geographischen Grenzen werden verbindlich. Anschaulich wird dies durch die »Kiezmap«, die an dem Abend das aktive und kreative Gesamtbild der Wesergegend aufzeigen soll. Auch Besucher von außerhalb, denen manche Straßennamen noch kein Begriff sind, wird das lokale Setting des Neuköllner Reuterquartiers auf einfache Weise mit seinen markierten Punkten nähergebracht.

32 Offenbar bekundet auch die Hausverwaltung des Gelegenheiten Interesse am Aufbau dieser nachbarschaftlichen Struktur.

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Der Kiezplan, der alle neuen Räume miteinander verknüpft, suggeriert dem Besucher des Kiezes, das Reuterquartier sei ein »konsumierbares Ganzes«33. Durch die Weserrakete wird der Kiez im Sinne einer »Festivalisierung der Stadt« (Zukin 1995: 3) in Szene gesetzt. Die unterschiedlichen Konzerte und Veranstaltungen, die in den Teilräumen des Kiezes stattfanden, schienen individuell, vielleicht durch eine »Unübersichtlichkeit«34 charakterisiert und in ihren Genres und Stilen nicht homogen. Doch wirken die sozialen Praktiken und die Motivation der Akteure für das Weserfest verbindend und generieren ein kollektives Gefühl für den Ort.

4. K ONZERTE

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Akustische Konzerte Auf dem Reuterblog unterrichtet Felix die Bewohner täglich über anstehende Veranstaltungen im Quartier – auch über Konzerte im Gelegenheiten. So kann sich der musikinteressierte Kiezbewohner über wöchentliche Reihen oder Änderungen in den Programmen informieren.35 Jeden Freitag findet im Gelegenheiten die »Offene Bühne«36 statt, die aus einem bunt gemischten Programm verschiedener mutiger Musiker besteht. Diese sei besonders für die Musiker geeignet, »die noch keinen ganzen Abend füllen können« (Katharina ebd.). Im Umgang mit musika-

33 Alexa Färber konstatiert anhand von Farías’ Analyse von Programmen von Hauptstadtund Tourismus und Marketing-Gesellschaften die Suggestion, Berlin sei ein »konsumierbares Ganzes« (vgl. Farías 2005: 22-31 nach Färber 2005: 9). 34 Schulzes Untersuchung geht davon aus, dass »neue Gemeinsamkeiten unter der Bedingung der Individualisierung« existieren (vgl. Schulze 1993: 39). Er identifiziert eine Erlebnisorientierung als allgemeines Schema zur Erklärung sozialer Konstruktionen und benennt eine »neue Unübersichtlichkeit« und eine »Vielfalt« die »aus einer grundlegenden Gemeinsamkeit« hervorgeht (vgl. ebd., 35). Die Gemeinsamkeit besteht im Fall des Kiezfestes im nachbarschaftlichen Kontext, der ein Gefühl von Gemeinschaft vermittelt. 35 Diese ist nicht zu verwechseln mit Leanders experimentellen open stage (vgl. Kapitel IV). Oliver von der Band Ferne liest das Reuterblog täglich und hat es unter den Favoriten seines Browsers abgespeichert. Außerdem weiß er, »dass die Cafés und Kneipen im Reuterquartier feste Konzerttermine haben. […] Wenn im Gelegenheiten Donnertags ein Konzert ist, weiß man das einfach. Der Laden hat eh nur zweimal in der Woche auf.« (Oliver in einem Interview am 22.11.2008) 36 »Ich war jetzt bei der vorletzten Offenen Bühne im Gelegenheiten, […] ein wenig enttäuscht, weil da nur Typen mit Gitarren saßen. Das war bei der letzten ein wenig durchmischter. Ich gehe relativ oft ins Gelegenheiten und schaue, was da ist.« (Oliver ebd.)

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lischen Neulingen zeigt sich Gelegenheiten dadurch offen. Ähnlich wie der Acoustic Wednesday in der Kneipe Ä oder den Krümelkonzerten an Sonntagnachmittagen im Klötze und Schinken37 wird die »Offene Bühne« regelmäßig von der Nachbarschaft frequentiert. Daneben organisieren zwei aktive Mitglieder des Gelegenheiten noch ein weiteres Konzert pro Woche. Im Kontrast zu der »Offenen Bühne«, die vielmehr durch Künstler in der Nachbarschaft bestritten wird, benennt Katharina aber auch internationale musikalische Beziehungen: »Einmal hatten wir hier Leute aus Schweden […]. Manchmal haben wir keine Ahnung, wie die hier hinkommen.« (Ebd.) Katharina wundert sich über die E-Mail-Zuschriften der internationalen Musiker, besonders deshalb, weil man keine Myspace-Seite habe, über welche die Kommunikation zu Musikern im Allgemeinen funktioniere. Um auftretende Künstler müsse man sich nicht mehr kümmern, da die Musiker sich mittlerweile selbst via E-Mail beim Laden melden. Insgesamt kommt es doch immer häufiger vor, dass eine Band, die einmal in Neukölln angekommen ist, innerhalb der Läden des Kiezes »weitergereicht« werde (ebd.). Diese internationale Dynamik im Kiez wird von Tove, einer Musikerin, die zum Zeitpunkt des Interviews wieder in ihrer Heimatstadt in Schweden wohnt, veranschaulicht. 2008 zog sie mit Anfang 20 aus einer kleinen Stadt in Schweden nach Berlin, wo sie die letzten Monate in Neukölln wohnte. Dort gründete sie mit ihrer schwedischen Freundin Frida das Musikduo To All My Friends38, das sie so umschreibt: »I play the guitar and also banjo. Frida just started to play the accordion [and] we both sing. To describe the music: I guess it’s a lot about the lyrics and feeling kind of pop, some folk or country touch. I’m raised with a lot of country and bluegrass. [...] Neukölln is a romantic place, but maybe not for bluegrass. I wanna be in Louisiana in the real sweaty summer, so the only thing you can do is sit still and play [...].« (Tove in einem Internet-Interview am 30.06.2009)

Erste Konzerte der schwedischen Formation fanden im Neuköllner Reuterkiez statt: »Our first gig was at the Ä, then [we had] some small apartment gigs at a friend’s birthday and then at dumplings snack bar in Neukölln, then Gelegenheiten [...]. We didn’t really know how it would work, but it did. Apart from the birthday all [gigs] were in Neukölln. We didn’t 37 K&S im Reuterquartier bezeichnen sich als Café/Galerie. URL: www.kloetzeundschinken.de (letzter Zugriff am 18.03.2013). Die Musikerin Regina schildert Konzerterfahrungen dort: »Krümelkonzerte am Sonntagnachmittag mit einem Haufen Kinder und so. Ich fand es superschön, […] eine Superatmosphäre, da zu spielen oder Konzerte da zu hören.« (Regina, Neuköllner Gitarristin diverser Bands, in einer E-Mail am 07.07.2009) 38 Siehe auch URL: www.toallmyfriends.se (letzter Zugriff am 23.02.2013).

64 | »T IEF IN N EUKÖLLN « try so hard to get to play in other places. [...] We’ve been carrying stuff on our backs and it’s not so much, so it works. But sometimes it’s kind of anoying because it can be heavy and all the people on the U-Bahn and stuff. [...] I guess people are in Neukölln because there is so much to develop there and its affordable and not far away from anything.« (Ebd.)

Die Orte im Kiez ermöglichten den jungen Frauen ein erstes Sich-Erproben vor Publikum. Die Instrumentierung bestehend aus Banjo und Akkordeon – also keinem Schlagzeug und keinen Bläsern – stellte sich für die Kiezkneipen auch als unproblematisch heraus, da diese mit Rücksicht auf die Nachbarschaft Lautstärkeregelungen einzuhalten hatten. Des Weiteren konnten die beiden Schwedinnen GEMA-freie Musik garantieren und verlangten keine hohen Gagen. Die Läden zeigten sich offen gegenüber ersten Auftrittsversuchen der beiden jungen Schwedinnen, was deren musikalischer Entwicklung zugute kam. Tove strahlt Dankbarkeit für die Zeit im Kiez aus und erwähnt nicht den Umstand, dass es als Gage im Gelegenheiten nur einen »Tip«, also Spenden aus dem Publikum, gab. Vielmehr stellt sie in den Schilderungen der Auftritte das gemeinschaftliche Musik- und Auftrittserlebnis in den Vordergrund, das innerhalb eines Freundeskreises und dem WG-Leben stattfindet und dadurch erst möglich wurde. Auch der Bandname To All My Friends spiegelt Toves idealistische Haltung der Musik als »Geschenk für Freunde« wider. Durch den Umzug aus der schwedischen Kleinstadt nach Neukölln erhoffte sich Tove eine persönliche Neudefinition, die sie für sich vor allem durch die Identifikation mit ihrer eigenen Musik umsetzen konnte. Sie benennt Neukölln auch als »the place to be«, welchen sie auch gerne zu ihrer »homebase« machen würde, von dem aus sie an andere Orte tourt.39 So reist sie mindestens einmal im Jahr für eine Woche in den Kiez, um alte Freunde zu besuchen und um mit ihrem Frauenduo an verschiedenen Orten aufzutreten. Das Gelegenheiten ist für sie eine verlässliche Anlaufstelle geworden, die immer wieder aufs Neue offen für sie und ihre Musik ist. Ihrer Auffassung nach ist in Neukölln »so much to develop«. Die Vorstellung jenes ›Unentwickelten‹ oder ›Undefinierten‹ des Kiezes entpuppt sich für die junge Musikerin als Qualitätsmerkmal, das so auch von anderen Singer-Songwritern und anderen akustischen Projekten empfunden wird.40 Die sich entwickelnde Kiez39 Tove wohnt wieder dauerhaft in Schweden, da sie ihre Heimat vermisst und ihr Deutsch ihren Aussagen nach nicht ausreicht, um sich mit der Berliner Gasag und mit Vattenfall auseinanderzusetzen (Tove in einem Internet-Interview am 30.06.2009). 40 Die Singer-Songwriterin Henrike ist für zwei Monate von ihrem Studium in Brasilien in ihre Wohngemeinschaft im Reuterquartier zurückgekehrt. In diesen zwei Monaten hat sie vor, »erst einmal alle Läden hier in der Gegend abzuklappern« und das Repertoire an Songs vorzustellen, das sie in den letzten Monaten in Fortaleza entwickelt hat (Henrike in einem Interview im 08.06.2009).

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struktur scheint aber auch die eigenen Lebensverhältnisse der schwedischen Musikerin widerzuspiegeln. Das Musikprogramm von Gelegenheiten unterliegt keinen strengen Auswahlkriterien spezifischer Genres oder Geschmäcker, was Katharina folgendermaßen umschreibt: »Eine Zeitlang hatten wir […] eine Gemeinschaft von Experimentalmusikern, die sich das untereinander weitersagt. […] Es ist gar nicht so, dass das allen gefällt, aber es gehört zum Konzept dazu, dass wir offen sind für solche Sachen, das ist ja das Gute, dass wir nicht kommerziell sind.« (Katharina in einem Interview am 14.11.2008) Experimentalmusik wird von Katharina in einen engen Zusammenhang mit »nicht kommerziellen« Faktoren gestellt. Auch wird betont, dass spezifische Musikrichtungen nicht immer allen aktiven Mitgliedern des Ladens gefallen. Für Experimentalmusik »offen zu sein« wird als positiv betrachtet und erhält eine soziale Komponente zum einen gegenüber dem Kiezbewohner, der sich mit seinen künstlerischen Praktiken im Laden mit einbringen möchte, zum anderen aber auch auf musikalischer Ebene gegenüber Genres, denen in anderen Räumen keine Auftrittsmöglichkeiten geboten werden. Diese experimentellen Möglichkeiten im Gelegenheiten werden aus Sicht des US-amerikanischen Musikers und Komponisten Jeffrey Treviño41, der seit Januar 2009 in Neukölln lebt und wirkt, beschrieben: »[Wir] haben als Fluxus Group [...] geguckt, wo wir Auftritte machen können, und Gelegenheiten war der einzige Auftrittsplatz in Berlin, der gesagt hat: ›Du willst jede Woche im Februar einen Auftritt machen, […] jeden Donnerstag – Du kannst das machen!‹ Deshalb hatte ich im Februar 2009 das Gefühl, dass Neukölln der einzige Platz [ist], wo man neue Sachen ausprobieren kann und dass andere Plätze zu etabliert und voll und hoch geworden sind, dass sich alle dafür interessieren, was dort genau aufgeführt wird. [...] That has proven to be true.« (Jeffrey in einem Interview am 26.08.2009)

In Neukölln fand Jeffrey kurz nach seinem Umzug in den Kiez die passenden Räumlichkeiten für seine Performances: Im Neuköllner Gelegenheiten konnten die Projekte seiner Fluxus-Gruppe – sogar in regelmäßigen Abständen – umgesetzt werden. Gelegenheiten bietet den Freiraum für Ideen, die schwieriger in ein Raster zu fassen sind und die teilweise völlig unerprobt sein mögen. In diesem Zusammenhang vergleicht er auch etablierte Veranstaltungsorte in Prenzlauer Berg, die seiner Ansicht nach einem spezifischen Publikum gerecht werden müssten (ebd.) mit Gelegenheiten. Im Gegensatz zu Locations in anderen Kiezen sei man ihm hier im Kiez seinen musikalischen Fluxus-Vorhaben entgegen gekommen. Für Jeffrey startete also in Neukölln der Testballon von Veranstaltungsreihen, die er zukünftig 41 Siehe auch URL: www.jeffreytrevino.com (letzter Zugriff am 23.02.2013).

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weiterentwickeln kann. Er bringt dem Kiez gegenüber ein spezifisches Empfinden zum Ausdruck, sich in seiner künstlerisch-musikalischen Identität verstanden zu fühlen, was er in Kapitel IV vertieft. Bekannte Bands in ›inoffiziellen‹ Räumen Jeffrey machte deutlich dass er als Berliner Newcomer im Reuterquartier mehr Chancen hatte zu spielen als in anderen etablierten Räumen in anderen Bezirken, die ihm Auftritte verwehrten. Veranstaltungsorte außerhalb Neuköllns, die sich bereits einen ›Ruf‹ gemacht haben, bestehen demnach auch für eher berühmte Musiker.42 Doch vice versa sind Auftritte von ›bekannteren Bands‹ in Neuköllner Veranstaltungsräumen gar nicht selten43 und haben ihre eigene Dynamik: So erklärt Robert, dass es in seinem Valentinstüberl auch Auftritte von Bands gegeben habe, »die normalerweise in großen Hallen spielen« und am Folgetag in der Volksbühne44 aufgetreten seien (Robert in einem Interview am 04.12.2008). Die Volksbühne in Mitte und das Neuköllner Valentinstüberl bestehen seiner Sichtweise nach als antagonistische Größen. Robert benennt jene »idealistischen« Absichten der Musiker, hier im Kiez zu spielen: »Wenn diese nur wegen des Geldes spielten, dann würden die hier auch nicht auftreten«, erklärt er (ebd.). Dadurch impliziert er, dass Neukölln für »bekanntere« Musiker eigentlich nicht das richtige Pflaster sei und die Musiker trotz geringer Einnahmen hier spielten. Aber welchen Stellenwert hat ein Konzert im Reuterquartier für Bands, die gewöhnlich in größeren Hallen oder an renommierteren, bekannteren Orten spielen? Welche Funktion übernimmt das Reuterquartier als Location in diesen Konzerkontexten? Ronald von Maria Hilff erläutert die Gründe für den spontanen Auftritt in der Kneipe Ä im Reuterquartier folgendermaßen: 42 Dieser Themenbereich wird in Kapitel III anhand elektronischer sowie in Kapitel IV am Beispiel experimenteller Musik in Berlin thematisiert. 43 Ein weiteres Beispiel stellt gegenwärtig auch der Heimathafen Neukölln dar, der sich jedoch primär auf »Volkstheater« konzentriert. URL: www.heimathafen-neukoelln.de (letzter Zugriff am 12.03.2013). 44 Die renommierte Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte wurde 1913 erbaut. In regelmäßigen Abständen finden hier Konzerte statt. URL: www.volksbuehneberlin.de/ (letzter Zugriff am 12.03.2013). 45 Der Pressetext über Maria Hilff: »Über dem Gewitter aus Mandolinen und Matrosengesang schwebt die zartschräge […] Stimme von Lars Rudolph und ruft theatralisch zu Zerrissenheit, Künstlerromantik und grenzgängerischem Größenwahn auf. Ergebnis: eine herzergreifend spröde wie direkte Kommunikation der Stimmen und Instrumente.« URL: www.amazon.de/Mariahilff/dp/B00279Q09C (letzter Zugriff am 12.03.2013).

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»Das Konzert im Ä, das war die Nullnummer sozusagen. Wir hatten uns breitschlagen lassen, in der Bar jeder Vernunft

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unsere Premiere zu machen […]. Und weil das uns wirklich ein

bisschen zu fett war – vorher haben wir halt nur zwei Jahre lang geübt – haben wir uns überlegt, bei uns in der Nähe [aufzutreten]. Was Kleines für Freunde und quasi heimlich. Pressetechnisch war das in der Bar jeder Vernunft als Premiere angekündigt. […] Damals hießen wir Mann und Maus und für dieses allererste Konzert [in Neukölln] haben wir uns ›Liebe Oma‹ [genannt]. In den Annalen vom Ä findest du dann nur Liebe Oma. […] Mit einer Booking Agentur, mit entsprechenden Verträgen […] willst du keine Nullnummer schieben, aber es ist nicht gesagt, dass wir da nicht noch ’mal spielen. Das war im Ä ein bisschen blöd, weil die Probleme mit den Nachbarn haben, und wir mussten unheimlich leise spielen. Damit haben wir auch nicht gerechnet, wir hatten den Mixer und Anlage dabei, und dann durften wir das gar nicht anschließen, das war wirklich Zimmerlautstärke […]. Man konnte sich unterhalten, haben die Leute aber auch nicht gemacht. … Das ist halt einfach so ’ne Terminsache in so ’nem Tourneekontext. Wenn du da einen Fuffi kriegst und dann am nächsten Tag wieder mehr. Da musst du eine gute Mischung finden. In Erlangen da haben wir vor acht Leuten gespielt, aber neun CDs verkauft.« (Ronald in einem Interview am 27.08.2009)

Wollte man in der Bar jeder Vernunft nichts riskieren, verlegte man sein erstes Konzert als Art Generalprobe oder »Nullnummer« in die Neuköllner Kneipe. Außerdem bestanden spezifische Vorannahmen über ein Neuköllner Publikum, das demnach keine hohen Erwartungen an den Auftritt haben würde. Dies wurde verstärkt durch die Tatsache, dass die Zuhörer für das Konzert auch nichts zu zahlen hatten. Außerdem fungiert die Neuköllner Umgebung im Vergleich zu dem Bezirk Tiergarten um das Kanzleramt, wo die Bar jeder Vernunft angesiedelt ist, als untergründige geheime Location. Zwar legt die Musikgruppe sich primär aus vertraglichen Gründen für die Premiere einen anderen Bandnamen zu. Doch der Aspekt des »Heimlichen« des Konzerts im lokalen Kontext des Kiezes charakterisiert auch den spielerischen Umgang der Band mit neuen Bandnamen. Die Konditionen und vor allem das Equipment in der Neuköllner Kneipe bewertet er als eher negativ, denn das Musikprogramm konnte nicht in der Weise präsentiert werden, wie die Band es in anderen Sälen über die Bühne gebracht hätte. Mit Bezug auf das sehr aufmerksame Publikum und hinsichtlich persönlicher Belange, die den Freunden der Band ein kostenloses Konzert ermöglichten, betont Ronald andererseits den sozialen Aspekt des Konzerts in Neukölln. Lücken in den Terminplänen einer Tournee führten Bookingagenturen nicht selten zu der Organisation von Konzerten in kleinen Locations. Doch die Erfahrungen, die er auf dem Konzert in der Kneipe Ä machte, haben Konsequenzen für die Entscheidung, ob die 46 Wie aus ihrer Website hervorgeht behält die Bar jeder Vernunft durch die Nähe zum Kanzleramts ein gewisses Renommee und steht für »feine Unterhaltung«. URL: www.bar-jeder-vernunft.de/de/ueber-uns/ (letzter Zugriff am 24.03.2013).

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Band ein weiteres Mal in Neukölln spielen wird. Kneipen in spezifischen Teilräumen der Stadt werden somit ebensolche Konditionen zugeschrieben, die in Ronalds Perspektive als Aspekte des Ausschlusses bewertet werden. Wann Konzerten im Reuterquartier demgegenüber Vorderbühnencharakter47 zugestanden wird, ist eine Frage der Zeit. Das Duo Ferne und das Reuterquartier »Außerdem dürfen Fremde nicht

sofort

das

Stammes- oder Dorfterritorium betreten […]; sie müssen aus der Ferne ihre Absichten zu erkennen geben und eine erste Phase der Kontaktaufnahme durchlaufen, deren bekannteste Form das langwierige afrikanische Palaver ist.« VAN GENNEP 1986: 36

An einem Dezemberabend 2008 treffe ich Johannes und Oliver, die ursprünglich aus West- und Süddeutschland stammen, im Kiez. Beide sind Ende zwanzig, gründeten 2003 das Pop-Duo Ferne und leben seit 2006 im Reuterquartier. Ich habe sie vorletzte Woche bei der Weserrakete in der Ori-Galerie gesehen, wo sie an der Astronauten-Performance und dem Bau der hierfür benötigten Instrumente beteiligt waren. Wir sitzen an einem Tisch im Mamma, einer lebendigen Kneipe, die vor etwa einem Jahr eröffnete und in der ein Soundtrack eines Films von Emir Kusturica gespielt wird. Die jungen Männer trinken Starkbier, und ich beginne an meiner Feldmethode und an der Glaubwürdigkeit der Aussagen zu zweifeln angesichts der Tatsache, dass die befragten Musiker unter Alkoholeinfluss stehen. Trotz des Starkbiers wird sehr konzentriert und vor allem sehr viel geredet, und ich erfahre mehr als die Feldforscherin vorgab wissen zu wollen. Die Gespräche der Musiker kreisen um die unmittelbare Nachbarschaft hier im Quartier, in welche die beiden seit ihrem Umzug nach Neukölln auch durch ihre musikalischen Praktiken eingebunden sind. Ihre Erzählungen erweitern den mir noch als recht konstruiert erscheinenden Begriff »Kiezgefühl«. So schildern Oliver und Johannes ihre ersten Annäherungen mit dem Kiez folgendermaßen: »Ich kenne den Kiez seit zehn Jahren, von Besuchen. Es gibt einen Markt, einen Bäcker und einen Friseur […] in meiner Straße. Es gab [ei]ne Zeit, da hab’ ich fünf Läden um mich 47 »Wenn auch mancher Ort leicht als Vorderregion oder Hinterregion zu identifizieren ist, so gibt es dennoch viele Orte, die in einem Sinne und zu einem anderen Zeitpunkt als Hinterregion fungieren.« (Goffman 1983: 116)

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[he]rum gehabt, und dachte: ›Das ist ein Dorf‹. […] So authentisch, halb eingesessen, auch 48

das Eckbert , das fand ich geil.« (Oliver in einem Interview am 22.11.2008) »Das Wasser und der Markt, hier bin ich schon relativ häufig hingefahren, als ich hier noch nicht gewohnt habe. […] Man hatte aber keinen Bezug zum Reuterkiez, und es wurde noch nicht so genannt. Dass hier ständig was Neues aufmacht [führte zu dem Gefühl: ›Was ist denn jetzt schon wieder‹? Manchmal fanden wir das auch voll toll und sind da hin, aber haben nicht bei allen Sachen gesagt ›Ahh, da müssen wir jetzt mitmachen‹. Aber wenn, dann war das auch immer gut.« (Johannes in einem Interview am 22.11.2008)

Die beiden Mittzwanziger bewegen sich neugierig durch ihren Wohnbezirk, welchen Oliver als »Dorf« wahrnimmt. Die beobachteten Veränderungen des Kiezes durch die Eröffnung von neuen Kneipen, Galerien und Cafés stößt mehr auf Interesse als auf Abschätzung. So verläuft auch die Begegnung und Kontaktaufnahme zu den Betreibern der neuen Gewerbe ohne größere Berührungsängste: Die neuen Räume werden alsbald als nah gelegene Räume für eigene, musikalische Zwecke erkannt. Täglich käme man demnach an einem neu eröffneten Laden vorbei und könne persönlich Kontakte knüpfen (Johannes: ebd.). Auf Konzerte außerhalb der Stadt legen die beiden insgesamt nicht viel Wert, weil Oliver als Student und Johannes als Doktorand ihren universitären Pflichten in Berlin nachgehen. Ab 2005 spielten die beiden auf Konzerten in Kreuzberg, Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Charlottenburg und im Wedding. Seit sie 2006 nach Neukölln zogen, hatten sie jedoch kein Konzert außerhalb des Kiezes, was sie folgendermaßen erklären: »Das Neukölln-Ding: Als wir hierher kamen, kannten wir das Ä, da haben wir beim Acoustic Wednesday gespielt […] vollkommen akustisch, das war lustig, weil wir ja auch so nur picken und nicht schrammeln und unsere Stimmen dann leise dazu [gesungen haben]. Die erste Reihe fand es ganz gut [weil die überhaupt was gehört haben]. Dann haben wir im Gelegenheiten, im Ori, in der Musenstube, im total art space, dann wieder im Gelegenheiten, dann wieder im Ori gespielt. Und am 12.12.[08] spielen wir wieder im Gelegenheiten. Und in Neukölln war’s immer so, dass wir gesagt haben nach den Konzerten: ›So macht’s Spaß‹.« (Johannes in einem Interview am 20.11.2008) »Es war auch nicht so, dass wir uns […] um Konzerte außerhalb bemüht haben, es lief so, dass wir durch den erweiterten Kiez getigert sind. […] Wir proben halt auch nicht wirklich. […] Aufnahmen machen wir bei mir im Schlafzimmer […]. Da kommen Schlagzeug, Streicher, Bass und Bläser dazu. Zu zweit hatten wir diese Komponenten nicht. Die beiden

48 Wirtshaus in Neukölln mit Außenterrasse am Maybachufer.

70 | »T IEF IN N EUKÖLLN « anderen Bandmitglieder spielen dann Keyboard, Glockenspiel. […] Cello mussten wir dann bei Johannes im Flur einspielen.« (Oliver in einem Interview am 20.11.2008)

Seit 2006 spielte die Band also ausschließlich im Reuterquartier Konzerte, die sich hier wie von selbst organisierten. Die Entwicklungen im Kiez mit seinen vielen Neueröffnungen von Läden ermöglichte auch viele Auftritte der Band. Johannes schildert die Stimmung des ersten Konzerts im Ä als sehr intim. So spielte die Band nicht für einen großen Kreis, sondern für die erste Reihe. Die Vorgaben des Acoustic Wednesday, die dem Duo das vollakustische Spiel auf ihren Instrumenten vorgibt, werden nicht als Einschränkung bewertet, sondern vielmehr aus einer selbstironischen Sichtweise betrachtet. Die Instrumentierung ihrer Band bestand anfangs aus zwei Gitarren.49 Später erweiterte man die Besetzung um programmierte Elektronik, weshalb man die Musik am ehesten mit »elektronischer Independentmusik« umschreiben könne (Johannes: ebd.). Eine offizielle Veröffentlichung hätte man schon angepeilt, und ein süddeutsches Label namens Schinderwies hätte schon Interesse für das nächste Album bekundet (ebd.). »Für mich stand Schinderwies immer für exklusive, feine Independentmusik«, werfe ich ein. Wir unterhalten uns noch über ein paar Labels und Ferne machen deutlich, dass sie »eigentlich doch lieber gar nicht veröffentlicht werden wollen als auf irgendeinem Label zu landen« (Oliver: ebd.). Durch die sich vordergründig ausschließenden Merkmale von Anspruch und Bescheidenheit sowie einer freundlichen Natürlichkeit verkörpern sie Eigenschaften, welche Eisewicht/ Grenz im Sinne sogenannter subcultural studies noch im Jahre 2010 für Independent-Bands als ›authentisch‹ festhalten,50 was jedoch – wie aus der Diskussion in der Einleitung hervorging – kritisch zu hinterfragen bleibt.51 49 Diese Besetzung begünstige auch – wie in Toves Fall – die Mobilität der Band und den Transport des Equipments. 50 Eisewicht/Grenz fassen Merkmale einer Szene der Anhänger von Independent-Musik im Jahre 2010 folgendermaßen zusammen: »Essenziell ist hierbei der Wert der Natürlichkeit. Dieser impliziert in der szenetypischen Auffassung auch Offenheit und emotionale Zugänglichkeit. Authentizität ist daher das Maß aller Dinge. Die Konstruktion der Authentizität ist jedoch ein Prozess, dem offenbar in jeder Szene mit einer gewissen alltagsweltlichen Bedeutung eine bedeutende Rolle zukommt. Zusätzlich orientiert sich der Indie aber auch am Erleben und dem Erleben von Unabhängigkeit.« (Ebd. 2010: 204) Weiterhin konstatieren sie eine Unabhängigkeit vom Mainstream und das »Anders-Sein« als bedeutende Merkmale jener Szene (vgl. ebd. 2010: 91). 51 Diese Zuschreibungen müssen kritisch hinterfragt werden, da die Akteure sich der allgemeinen Außendarstellung einer vermeintlichen Indie-Szene bewusst sein mögen und stereotype Charakteristika zu inszenieren und reproduzieren wissen (vgl. Frith 1992: 181182, siehe Einleitung)

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Die Aufnahmen von Ferne finden in sogenannten home studios in den Wohnungen der beiden im Kiez statt. Befreundete Musiker spielen separate Spuren in den Zimmern oder Fluren der Studenten ein und sorgen dadurch für eine breitere Instrumentierung der Tracks, deren Bearbeitung Oliver an seinem Computer übernimmt (Oliver: ebd.). Diederichsen begreift Indierockbands sowie sogenannte Singer- Songwriters als Weiterführung einer »Kinderzimmer-Kultur« im Gegensatz zu Straßen- sowie Clubsounds.52 Vergleichbar damit vermitteln auch die Beschreibungen des Aufnahme-Prozesses der Band Ferne einen heimeligen Charakter. Auch die Einstellungen der beiden Musiker und ihre entspannte Konzertorganisation im Kiez drücken eine gewisse Gemütlichkeit im Kiez aus. Johannes bestätigt diesen Eindruck wie folgt: »[Ja, es ist] schon gemütlich. Das Alter […] und das nach Neukölln ziehen, wo man nun auch weggehen kann, […] hat das Leben und uns auch musikalisch […] so verändert, weil wir nun in der Nähe spielen [können]. […] Wenn hier wer spielt, den ich kenne, dann geht man da hin. Das hat viel zu tun damit, dass man sich mit den Leuten trifft und sich mit denen unterhält. Ich war […] ewig nicht mehr auf einem größeren Konzert außerhalb des Kiezes seit ich hier wohne.« (Ebd.)

Johannes und Oliver besuchen Konzerte im Kiez, bleiben aber weiterhin interessiert an größeren Konzerten außerhalb, auch, wenn man da nicht mehr so häufig hingehe (ebd.). Die Band hat Freundschaften mit einigen Betreibern und aktiven Mitgliedern von Galerien und Vereinen im Quartier geschlossen und empfindet ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber den Veranstaltungsorten im Kiez. Weitere Berührungspunkte zu gleichaltrigen Kiezbewohnern werden wie folgt deutlich: »Bevor ich in die Friedelstraße gezogen bin, habe ich im Internet nach meiner Hausnummer gesucht, dann kam ich irgendwie auf den Blog [über das Reuterquartier] von Felix, weil er in dasselbe Haus gezogen ist, und ich habe ihn auf der Straße getroffen und an der Uni, weil er dasselbe studiert wie ich. […] Ich nutze den Reuterblog schon jeden Tag.« (Oliver: ebd.) 52 »Bis vor ca. 15 Jahren stellte auch die Linie von dieser Singer/Songwriter-Musik zum Indie-Rock ungebrochen ein Kontinuum der behüteten Kinderzimmer-Kultur dar, der verschiedene Straßen- und Club-Sounds gegenüberstanden. Das änderte sich spätestens in den 90er Jahren. Einerseits wurde das Produzieren in elektronischer Einsamkeit, also ohne Band und Studio, allein im Schlaf- oder Kinderzimmer, aber umgeben von allen denkbaren Soundquellen, Zitiermaschinen und einem endlos nachgiebigen digitalen Klangmaterial zum Normalfall. Andererseits ließ das Dub- und Remix-Paradigma ein endloses Hin- und Herschieben niemals abgeschlossener Klangteile zur musikalischen Maxime werden.« (Diederichsen 1999: 57)

72 | »T IEF IN N EUKÖLLN « »Ich habe auf Felix’ Seite gesehen, dass er eine Buttonmaschine hat, und wir kamen auf die Idee, Buttons für unseren Auftritt zu machen. [D]a saßen wir dann plötzlich bei Felix in der Küche und haben das erste Mal mit ihm geredet. Er hat ein Netzlabel […]. [Wir] haben auch vor, ein Stück [von uns] auf einen Sampler zu machen. […] Felix meinte: ›Ihr braucht ein [neues] Lied und Ori macht Weserrakete‹. Und dabei kam dann [unser Song] spacy [heraus]. … In der Siebdruckwerkstatt, da wollten wir unsere T-Shirts machen für die Record-ReleaseParty.« (Johannes: ebd.)

Olivers vorab gemachte Beschreibung des Reuterquartiers als »Dorf« entpuppt sich für die zugezogenen jungen Männer als selbsterfüllende Prophezeiung. Sind es primär die vielen Konzerte in Neuköllner Veranstaltungsräumen, können weitere Faktoren im Kiez festgestellt werden, die das kreative Output der Musiker und die Einbettung in den Kiez begünstigen: Sei es die kiezeigene Siebdruckwerkstatt zum Gestalten der Band-T-Shirts, die Ausleihe der Buttonmaschine von Felix oder die Veröffentlichung eines Tracks auf dem Netlabel. Johannes und Oliver bewegen sich durch den Kiez, informieren sich via Reuterblog über den neuesten Klatsch und Tratsch im Quartier und wissen die Angebote und Kooperationen zu schätzen. Sie investieren aber auch soziales Engagement, um ihre Umgebung kennenzulernen und den Kiez binnen zwei Jahren zu erobern. Johannes erklärt mir zum Ende des Abends noch den Anlass des nächsten Konzerts, das im Gelegenheiten stattfinden wird: »Am 16. Dezember spielen wir zum Einjährigen [zur einjähriger Beziehung] von A. und S. Die haben sich da in der WG kennengelernt und sind seitdem zusammen.« (Johannes in einem Interview am 22.11.2008) Etwas peinlich berührt über den romantisch anmutenden Beweggrund geben mit die beiden dann zu verstehen, dass das weniger terminlich genau abgestimmt wurde, sondern eher Zufall sein. Es ist anzunehmen, dass viele Freunde der Band auf dem Konzert erscheinen werden, und es kann davon ausgegangen werden, dass hier in Zukunft noch auf vielen Hochzeiten von Freunden im Kiez getanzt werden wird.

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Ferne spielt im Gelegenheiten »The indie gig is a ritual about producing adults who believe that being overwhelmed by emotional sentiment is a merely youthful thing, a phase that people go through. […] the emotional world is given shape and encouraged by participation.« FONAROW 2006: 202

Felix kündigt das Ferne-Konzert im Gelegenheiten auf seinem Reuterblog als Tagestipp an: »Meine immer wieder gern gehörten und gesehenen Freunde namens Ferne spielen heute abend im gelegenheiten. ab 20 uhr ist geöffnet. das konzert ist aus lärmschutzgründen um 22 uhr vorbei, also nicht zu spät kommen!« (Felix auf Reuterblog am 16.12.2008 [sic i.O.])

Um Punkt 20 Uhr tauche ich an diesem Abend im Gelegenheiten auf. Vielleicht erklärt die herzliche und persönliche Einladung auf dem Reuterblog den Andrang im Laden, dessen Vorder- und Hinterraum von etwa 45 jungen Leuten gefüllt ist. Bis auf eine etwas ältere Minderheit schätze ich die Leute auf Anfang bis Mitte zwanzig. Im Hintergrund läuft leise Musik, so dass sich die Leute noch unterhalten können – und dies wider anderen Erfahrungen bei Veranstaltungen im Kiez – in deutscher Sprache. Jeder Gast kennt mindestens eine andere Person, mit der er eine angeregte Unterhaltung führen kann. Die Besucher, die dicht an dicht nebeneinander stehen, achten beim aneinander Vorbeigehen auf ihre Bewegungen, so dass man kein Rempeln sieht. Die Stimmung ist nicht aufgeheizt, sondern sozial verträglich und achtsam. Vielleicht spiegeln diese Beobachtungen das Verhalten wider, das Katharina auch als »harmlos« umschrieb. Diese vertraulichen Praktiken werden im Laufe des Abends beibehalten und scheinen einem unbewusstem Regelwerk zu entstammen.53 Man sitzt auf weichen Sofas, dicht an dicht in Körperkontakt mit anderen, mit denen man zwangsläufig in Gesprächskontakt kommt. Ich kaufe mir eine Flaschenlimonade und finde auf der weichen Armlehne eines alten Sessels54 noch einen Platz. Auch ein paar Stühle wurden aufgestellt, damit noch 53 Giddens identifiziert »Regeln des gesellschaftlichen Lebens als Techniken oder verallgemeinerbare Verfahren« und verdeutlicht, »daß viele scheinbar triviale Verfahrensregeln, denen im täglichen Leben gefolgt wird, eine nachhaltige Wirkung auf den größten Teil des sozialen Verhaltens haben« (ebd. 1988: 73-74). 54 »In der Aufklärung wurden die Sessel bequemer und spiegelten eine allmähliche Abkehr von den höfischen Mustern von Versailles wider. Die Rückenlehne des Sessels wurde so

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mehr Leute sitzen können. Die junge Frau links neben mir kennt Johannes von Ferne ihren Aussagen nach aus einem Doktorandenkolloquium von Historikern und ist aus Schöneberg heute hierher gekommen. Der Junge und das Mädchen zur Rechten entpuppen sich als das besagte Pärchen, dessen Jubiläum hier heute inoffiziell mitgefeiert wird. Sie erzählen, dass ihre Beziehung exakt vor einem Jahr hier im Gelegenheiten bei einem Konzert von Ferne ihren Anfang nahm. Die beiden kennen die Band schon länger und baten auch darum, das Konzert auf den heutigen Termin zu legen, das pünktlich um 21 Uhr beginnt. Das Stimmengewirr angeregter Unterhaltungen verstummt. Auf gleicher Ebene mit den Zuschauern sitzt die Band auf Stühlen in der vorderen Ecke des Raumes, so dass eine Grenze zwischen Musikern und Zuschauern beinahe aufgehoben ist. Johannes hält ein Schüsselchen in der Hand, das Zettel enthält, auf denen die Liedtitel der Band stehen, wie er erklärt: Die Schüssel solle nach jedem Song rumgereicht werden und jeder, der möchte, könne dann den Titel für das nächste Lied ziehen. Die Zuhörer selbst sind also für die Abfolge der Songs, für die Setlist, verantwortlich, was das Verhältnis zwischen Band und Zuhörern von Anbeginn des Konzerts verbindlich macht. Heute Abend haben sich Oliver und Johannes zu ihren Gitarren und ihrem Gesang noch zwei weitere Musiker hinzugeholt. Der eine unterstützt die Band mit akustischen und elektronischen Drumsets sowie an anderen Stellen mit Glockenspiel oder Keyboard, der zweite spielt im Wechsel Bass oder Keyboard. Die Soundanlage ist nicht laut, so dass man als Zuhörer fast gezwungen ist, genau zuzuhören, also zu lauschen. Zwischen den Liedern treten die Zuhörer in Aktion, die aus der Urne Zettelchen ziehen und den nächsten Liedtitel angeben. Anderen Zuhörern ist diese Aktion eher unangenehm, und sie geben die Urne einfach an ihren Sitznachbarn weiter. Einige rufen ungefragt Songvorschläge in den Raum. Dies ist freundlich gemeint und verdeutlicht das Interesse dieser eingefleischten Ferne-Fans an dem eher unbekannten Repertoire der Band. Gebauchpinselt und offen kommuniziert die Band zurück ins Publikum.

wichtig wie der Sitz, die Lehne neigte sich, so dass der Sitzende sich in sie hineinlehnen konnte; die Armlehnen wurden niedriger, so dass der Sitzende sich freier bewegen konnte. […] Die Stühle des 19. Jahrhunderts veränderten diese Erfahrung des geselligen Sitzens auf subtile […] Weise; das ging vor allem auf neue Formen und Polsterung zurück. […] Bei all diesen Sesseln sank der Körper tief in die Polster und verlor viel an Bewegungsfreiheit.« (Sennett 1983: 417, 420) Die Sitzgelegenheiten im Gelegenheiten sind somit sowohl durch die Merkmale der Sessel zur Zeit der Aufklärung als auch durch die des 19. Jahrhunderts charakterisiert.

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Zirfas/Wulf betonen den performativen Charakter von Ritualen, durch welche sich Gemeinschaften bilden.55 Gemeinschaftsbildende Rituale entstehen ihnen zufolge sowohl durch verbale als auch non-verbale Interaktion und Kommunikation (vgl. ebd. 2001: 101). Die Inszenierungen des sozialen Handelns werden durch »mimetische Prozesse« körperlich angeeignet.56 Des Weiteren sind diese Rituale auch mit der ästhetischen Wahrnehmung aller Sinne verbunden (ebd., 100). Deshalb muss neben anderen Medien oder verbalen Kommunikationsformen auch die Musik erforscht werden, die auf Ritualen zum Einsatz kommt (vgl. Tambia 2002: 83). Vergleichbar mit einem Ritual können auch auf dem Konzert der Band Ferne Interaktions- und Kommunikationsmuster zwischen Musikern und Zuschauern beobachtet werden, die einen gemeinschaftlichen Charakter beider Akteurstypen veranschaulichen. Auch die Musik spielt bei diesem Prozess der Vergesellschaftung eine Rolle. Der eher süßliche und saubere Gesang der beiden Männerstimmen setzt eine zarte Begleitung durch die anderen Musiker voraus. Das sorgfältige Zusammenspiel der Band spiegelt sich in der Aufmerksamkeit der Zuhörer auch körperlich wider. Die Bewegungen der Musiker auf ihren Instrumenten sind sanft und kleinteilig. Keine ausholende Rocker-Attitüde schwingt im Zusammenspiel der Band mit.57 Auch die Zuhörer bewahren ihre Haltung, soweit das in den weichen Polstern der Sessel möglich ist. Die Gesichter sind nach vorne zum musikalischen Geschehen hin gerichtet. Es wird nicht geraucht, was die Aufmerksamkeit gegenüber der Musik begünstigt oder zumindest nicht einschränkt.58 Eine »Lust am 55 »Rituale sind institutionelle Muster, die kollektiv geteiltes Wissen und kollektiv geteilte Handlungspraxen inszenieren und so eine Selbstdarstellung und Reproduktion der institutionellen bzw. gemeinschaftlichen Ordnung bestätigen.« (Wulf/Zirfas 2000: 97) Rituelle körperliche Aufführungen haben umgekehrt betrachtet auch die Steigerung der Kommunikation einer Gemeinschaft zum Ziel (vgl. ebd., 94). 56 Ausgehend von der Tatsache, dass Performativität sozialer Aufführungen eine Folge zielgerichteter Bewegungen des Körpers ist, legt Wulf dar, wie Körperbewegungen mimetisch gelernt werden und wie der Körper mit Hilfe von Gesten vergesellschaftet wird: »[…] soziale Handlungen [sind] als mimetisch [zu] bezeichnen, wenn sie als Bewegung Bezug auf andere Bewegungen nehmen, wenn sie sich als körperliche Aufführungen oder Inszenierungen begreifen lassen und wenn sie eigenständige Handlungen sind, die aus sich heraus verstanden werden können und die auf andere Handlungen oder Welten Bezug nehmen.« (Ebd. 2001: 254 [Herv. i.O.]) 57 Es können klare Kontraste zu Körperbewegungen auf Konzerten anderer Genres festgestellt werden. So üben hier weder die Zuhörer noch die Band zackige Bewegungen aus, wie sie zum Beispiel im gewollt unkontrollierter Pogo-Tanz auf Punkkonzerten deutlich werden. 58 Rauchen kann durch das Fragen nach Feuer und dem Schnorren nach Blättchen oder Tabak als kommunikatives Mittel zwischen Zuhörern betrachtet werden. Andererseits

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Körper«, welche Klein für Anhänger von Techno- und anderen Tanzbewegungen feststellt, (ebd. 2004: 13) beschränkt sich am heutigen Abend auf das körpernahe Zusammensitzen. Die Zuschauer reagieren interessiert auf die Moderation der Band, kommentieren die Einwürfe der Musiker höflich und machen auf diese Weise deutlich, dass sie genau zuhören. Wie bei einem Treffen unter Freunden ›flachsen‹ ein paar Zuhörer mit der Band, was das restliche Publikum nicht stört, weil die Kommunikation den Humor der Masse trifft und deshalb auch konstruktiv ist. Manchmal geht die Tür des Ladens auf, und ein weiterer Zuhörer steht im Laden, der die besinnliche Atmosphäre im Raum schnell erfasst und sich aus Platzmangel auf den Boden hockt, um nicht weiter aufzufallen. Dieser Anpassungsprozess59 ist auch innerhalb der Gruppe der Zuhörer zu beobachten: Das Publikum stimmt seine Bewegungen – auch aufgrund des Platzmangels im Raum – aufeinander ab. Somit bestimmt ein »taktvolles Verhalten«60 die Konzertsituation. Oliver zieht in der Mitte des Konzerts seinen Pullover aus. Johannes kommentiert dies mit den Worten: »Das sind unsere Visuals«. Mit subtilem Humor thematisiert er dadurch auch das schlichte Interieur des Ladens, der außer den eierschalweißen Fleischerfliesen und dem Schild mit der roten Aufschrift Gelegenheiten keine visuellen Attraktionen oder Dekors zu bieten hat. Man kann fast dankbar sein für den originellen und spontanen Spruch, der in der fast intimen Stimmung im Raum wieder etwas Distanz zwischen den Menschen schafft. Zwar scheint der Vergleich mit einer Lagerfeuerstimmung angebracht, doch wird hier nicht mitgesungen, denn der künstlerische Ausdruck bleibt den Musikern vorne vorbehalten. Der Aufbau der Melodien der eher kurzen Songs ist ausgeklügelt, die Strophen fließen sanft in die Refrains über, die – im Gegensatz zu autonomen Entitäten wie mag dies die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Geschehen – der Musik und Performance einer Band – ablenken. So verlassen Raucher auf Konzerten nicht selten den Raum, um draußen zu rauchen. Raucher empfinden das Ziehen an der Zigarette während eines Konzerts als inspirierend und konzentrationsfördernd. Der Einfluss des im Jahre 2008 eingeführten Rauchverbots in Kneipen und anderen Orten auf das aufmerksame Zuhören und eine damit in Verbindung stehende spezifische Atmosphäre auf Musikveranstaltungen bleibt zu untersuchen. 59 »Mimetische Prozesse führen dazu, Ähnlichkeiten zu empfinden und Korrespondenzen zu der sozialen Umwelt herzustellen.« (Wulf 2001: 260) 60 »Taktvolles Verhalten des Publikums den Darstellern [oder den Musikern, der Band] gegenüber ist entweder dadurch motiviert, dass sie sich mit ihnen identifizieren, oder es ist durch den Wunsch motiviert, eine Szene zu vermeiden oder sich eigennützig bei den Darstellern einzuschmeicheln.« (Goffman 1983: 211) Die Zuhörer schmeicheln sich zwar auch ein, indem sie die Songtitel reinrufen, doch erfolgt dies mehr auf eine charmantfreundliche als auf eigennützige Weise.

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sogenannten ›Brüllern‹ – nicht zum Mitsingen animieren. Die Saiten beider Gitarren werden zart gezupft und ergeben eine durchsichtige Harmonik, die den gesamten Raum erfüllt, sich aber nicht wie der Sound ›geschrammelter‹ Wandergitarren aufdrängt. Dazu erklingt der sehr saubere zweistimmige Gesang von Johannes und Oliver. Auf den vorab gehörten Aufnahmen der Band erschien mir die höhere der beiden Stimmen beinahe wie eine weibliche Gesangsstimme. Nun entpuppt sie sich als Olivers Gesangslinie, die sich wie eine Flöte mit Johannes‹ nicht viel weniger hohen Stimme verwebt. Die englischen Songtexte befassen sich mit Beziehungsthematiken, beinhalten aber keine abgedroschenen Begrifflichkeiten wie »love« oder »relationship«, sondern verarbeiten subtilere Metaphern des Alltags. Der Vergleich der Band mit Simon & Garfunkel, den Johannes im Interview anbrachte, wird durch eine Sensibilität von Ferne deutlich, die der jener Folkmusiker aus den 70er Jahren ähnelt. Doch im Kontrast zum bekannten amerikanischen Duo wird die Trockenheit der Holzgitarren in der Musik von Ferne um weitere Sounds erweitert und aufgelockert: Die elektronischen Synthies61 schaffen eine zarte Verbindung zwischen Stimmen und Gitarren. Durch die Begleitung der »Synthie-Effekte«, welche die Band im Interview als »spacy sounds« umschrieb, erscheint der Sound fraglos ›zeitgemäßer‹ als die Musik Simon & Garfunkels. Auch das Schlagzeug spielt keinen einfachen Beat, sondern ist aus einzelnen elektronischen Samples zusammengetüftelt. Diederichsen versteht Pop-Musik als kulturellen Raum, »in dem innere Zustände und Gefühle direkter als anderswo in nachvollziehbare [...] Zeichen übersetzt oder ›geprägt‹ werden« (ebd.1999: 54). Somit habe der Sound »nicht nur eine Bedeutung im urbanen Alltag [...], sondern stellt eine Verbindung zu einer inneren Dimension meiner Existenz her« (ebd.). Umgekehrt veräußerlicht sich die privat anmutende Musik von Ferne und tritt mit der zuhörenden Gemeinschaft im Kiez in Beziehung.62 Wulf konstatiert im Timbre, im Tonus und in der Intensität der Stimme eine »expressive und soziale Seite«.63 Folglich spielen auch die Stimmen der Musiker 61 »Es wurde auch für uns langweilig [und] ein wenig selbstgebaute Elektronik reingebracht, obwohl wir mit Akustik angefangen haben, teilweise ein wenig fluffiger, teilweise wie Synthies.« (Johannes in einem Interview am 22.11.2008) 62 »Andererseits spielt der Sound daheim, ganz innen, nur für mich. [...] Diese Intimität mit dem Sound und der Stimme ist aber auch wiederum Voraussetzung für die Vergesellschaftung der inneren Zustände, denn die Pop-Musik muß immer an beiden Fronten arbeiten: öffentliches Territorium markieren und sich als privat-intimes Gegenmittel zur Verfügung halten.« (Diederichsen 1999: 54) 63 »Über den Hörsinn vernehmen wir nicht nur von anderen an uns gerichtete Wörter. In der Art und Weise, in der die Worte gesprochen werden, hören wir mehr als ihre Bedeutung; wir erfahren etwas vom Sprecher, das sich nicht im Inhalt seiner Worte, sondern im Sprechen selbst ausdrückt. […] Stimme und Ausdruck sind mit den vegetativen Pro-

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von Ferne auf dem Kiez-Konzert im Gelegenheiten eine Rolle: Neben ihrer Funktion als Gesangsstimmen führen sie die Zuhörer auch durch das Programm und drücken durch einen freundlichen Ton Respekt gegenüber dem Publikum aus. Wulf bezieht die Theorien der Mimesis schließlich auch auf akustische Phänomene. Für die soziale Konzertsituation kann ihm zufolge eine »Anähnlichung des Hörers an die Musik«64 konstatiert werden. Wulfs abstrakte Umschreibungen einer »akustischen Mimesis« beziehen sich somit auf eine starke Identifikation der Zuhörer mit der Musik: Das Gehörte wird verinnerlicht, bleibt dort jedoch nicht, sondern wird in Form von Freude am ästhetischen Erlebnis nach außen gekehrt. Zum einen kommt es im gemeinsamen Zusammenspiel und durch ein genaues Hören auf die anderen Instrumente und Stimmen innerhalb der Musiker zu mimetischen Prozessen. Auf der anderen Seite stehen auch die Verhaltensweisen der Zuschauer in Wechselwirkung mit den anderen Akteuren an den Instrumenten und dem Hörerlebnis. Goffman macht auf Situationen aufmerksam, in denen spezifische Musikrichtungen »nicht passen« (ebd. 1983: 50f.). Musik kann somit als eine Geste betrachtet werden, die mit den anderen »symbolisch bedeutsamen Handlungen« der anderen Interagierenden übereinstimmen muss (ebd.). Gemeinschaften bilden sich auch durch Rituale (vgl. Wulf/Zirfas 2001: 101). Durch das Wissen darüber, welches Verhalten angebracht ist, können die Handlungsweisen der Akteure während des Konzerts als ritualisierte Inszenierungen betrachtet werden, über welche die Akteure situativ verfügen.65 Aus Sicht Wulfs Klanganthropologie wird dem Hörsinn auch bei der »Entfaltung eines Verortens, eines Raumgefühls und

zessen des Körpers verbunden und entziehen sich weitgehend der Beeinflussung durch das Bewußtsein. Hierin ähnelt die Stimme der Graphie, deren Zugehörigkeit zu einer Person ebenfalls kaum verheimlicht Werden kann.« (Wulf 1993: 2) 64 Wulf geht hierbei aus von der »Mimesis der Natur, [die sich über das] ›Hören‹ der menschlichen Stimme durch das ›Ohr‹ der Natur [vollzieht]« (ebd. 1993: 5). »Es folgt eine Ausweitung auf die Musik hin, in der sich der Hörende darum bemüht, ihre Synthesis […] nachzuschaffen und sich ihr dabei ›ähnlich‹ zu machen. Im mimetischen Hören wird vermieden, Sprache und Musik auf den Horizont des Hörenden zu reduzieren; vielmehr weitet der Hörende durch Anähnlichung an das Gesprochene und an die Musik seinen Horizont aus, Vorrang haben […]. In diesem Prozeß der Anähnlichung bleibt eine Differenz, an der sich ästhetische Freude und Lust bilden.« (Ebd., 7) 65 In diesem Sinne erarbeiten sich Rituale […] körperlich-habituell oder in der sprachlichen Interaktion, im szenisch-mimetischen Mit- und Nachvollzug (mimesis, methexis). Eine Gemeinschaft im Sinne des Performativen konstituiert sich wesentlich über körperliche und sprachliche, unbewusste expressive Anerkennungsprozesse. Der Glaube an das Ritual […] ist wesentlich unbewusst (Bourdieu 1997: oS nach Wulf/Zirfas 2001: 98).

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Raumbewusstseins« eine besondere Stellung eingeräumt.66 Der Raum Gelegenheiten strahlt insgesamt Gemütlichkeit und Sicherheit aus, die zarte Musik stimmt mit den Gesten der Zuhörer im Gelegenheiten überein. Erscheint das Publikum auf den ersten Blick passiv, da es lediglich zuhört und sich ›irgendwie verhält‹, schafft es doch aktiv eine Atmosphäre im Raum: Zuhörer und Zuschauer ergeben eine geschlossene Gesellschaft. Was außerhalb des Raums – beispielsweise auf der Weserstraße – vonstatten geht, interessiert in diesem Moment nicht. Neben den Handlungs- und Bewegungsstrukturen der sozialen Akteure verortet auch die Musik der Band Ferne eine Form von Gemeinschaft im Gelegenheiten. Das gemeinsame akustische Erlebnis steht also für den Prozess einer sozialen Raumproduktion. Der gesamte Abend in seinem Ablauf vom Einlass bis zum Ende kann als Ritual bezeichnet werden, welches das Gefühl des sozialen Zusammenhalts im Gelegenheiten bewirkt. Die räumliche, zeitliche, aber auch musikalische Rahmung67 des Konzerts bietet den Beteiligten Orientierungshilfen, nach denen sie ihre Verhaltensweisen und Handlungsstrukturen ausrichten. Gegen 22 Uhr erklärt Tobias, der immer noch hinter der Theke steht, dass das Konzert gleich sein Ende finden müsse. Der zeitliche Rahmen sieht vor, dass spätestens um 22 Uhr »zappe ist« (vgl. Katharina im ersten Unterkapitel). Zwar geht ein zartes Raunen durch die Menge, doch zeigt das Publikum Verständnis für das zeitige Ende des Konzerts. Das musikalische Ritual wird beendet mit Geldspenden, die in einem Gefäß gesammelt werden, das durch die Zuschauerreihen gereicht wird. Diese ›Kollekte‹ kann als eine von vielen »rituellen Inszenierungen« an diesem Abend betrachtet werden. Sie markiert den Übergang vom Ende des Konzerts zum Nachhauseweg.68

66 Wulf erklärt dies mit der Perspektive auf die Sozialisation kleiner Kinder, die sich durch die akustische Umwelt in dieser vertraut machen und sich in und durch diese in der Welt verankern. Im Vergleich zu einem »zweidimensionalen Sehsinn« betont er eine »Dreidimensionalität« des Hörsinns, die auch das Erfassen von Klängen möglich macht, die sich hinter dem Kopf befinden (vgl. ebd., 2-3). »Über das Hören ›verorten‹ wir uns im Raum, sichern wir den aufrechten Gang und das Gleichgewicht. Hören ist an zeitliche Abfolgen gebunden. Gehört werden lautliche Veränderungen, Differenzen zwischen Geräuschen, Tönen und Klängen.« (Ebd, 3) 67 Zum Begriff »Framing« siehe Goffman 1977: oS nach Bausch 2001: 208. 68 Wulf/Zirfas analysieren »rituelle Inszenierungen« von Schülerklassen vor dem Pausengong: »Um die Tür und andere territoriale Grenzen herum entstehen rituelle liminale Situationen mit Differenzeffekten, Übergangsphasen und Wiederangliederungsprozessen, die den Übergang von der Pause zum Unterricht […] gestalten […].« (Ebd. 2001: 97 [Herv. I. O.])

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5. Z USAMMENFASSUNG : G EMEINSCHAFT IM R EUTERQUARTIER ? Andy Bennett konzentriert sich am Beispiel seiner ethnologischen Forschung von Musik in »local pubs« in zwei englischen Städten auf das Verhältnis zwischen Performern und Zuschauern. Er stellt fest, dass sich Zuschauer und Musiker auch außerhalb des Konzertkontexts bekannt sind (vgl. ebd. 2005: 129).69 Dieses geteilte Erlebnis einer lokalen Nachbarschaft macht auch den integralen Teil der Musikperformance von Ferne im Reuterquartier aus. Die Zuschauer zeigen untereinander und in Bezug zu den Musikern ein kollektives Wissen darüber, wie sie sich in dieser Konzertgemeinschaft zu verhalten haben. Musik ist neben der verbalen Kommunikation der Interagierenden das Medium, welches das gemeinschaftliche Erlebnis im Gelegenheiten generiert. Die Analyse stellte Zusammenhänge zwischen dem ästhetischen Klangereignis und den teilnehmenden Akteuren fest. Gelegenheiten kann als Territorium betrachtet werden, welches Menschen – wenn auch für die kurze Zeitspanne von 20 bis 22 Uhr – als ihren gemeinsamen Lebensraum ansehen, der – wie es schien – von einer »homogenen Gruppe«70 geteilt wird. Diese Gruppe ist eingebettet in einen lokalen Kontext, der wiederum Einfluss nimmt auf Merkmale der musikalischen Performance, sei es durch Einschränkungen in der Lautstärke oder eine genaue zeitliche Rahmung. Das gemeinschaftliche Verhalten wurde im Kiez anhand der Weserrakete festgehalten und zeigte sich schließlich in einer Musikperformance der Band Ferne im Gelegenheiten. In diesem Zusammenhang gestaltet auch Robert das Interieur seiner Kiezkneipe bewusst mit der Absicht sozialer Interaktionen der Nachbarschaft. Auch Ronald betont das soziale und aufmerksame Verhalten der Zuhörer auf dem Konzert seiner Band in einer Neuköllner Kneipe. Von der zum Zeitpunkt der Interviews eher unbekannten Stellung der Neuköllner Läden profitieren die Musiker. Die Läden werden demgemäß auch’ als

69 Bennett erklärt dies folgendermaßen: »[...] as primary locus for forms of local social exchange, the pub, perhaps more than any other venue in which music is featured, acts to particularise processes of musical production and consumption, particularly in cases where band and audience are already linked by common local roots. [Here] local musicians and their audiences become highly attuned to the commonality of social experience which bonds them together […].« (Ebd. 2005: 169) 70 »Eine homogene Gruppe von Menschen teilt die Annahme, in einem gemeinsamen Raum zu leben. Dieser gemeinsame Raum stellt den Aktionsradius der Handelnden dar. Er ist damit sowohl das Resultat der Aktivitäten der Menschen eines Milieus als auch milieukonstituierend, weil der gemeinsame Raum die Bewohnerinnen und Bewohner an die Gruppe und deren Habitus bindet.« (Schulze 1994: oS nach Löw 2001: 255)

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Geheimtipps bewertet. Durch den beschriebenen Nischencharakter eines Auftrittsorts im Reuterquartier kann sich Ronalds Band Maria Hilff eine eher geheime Aktion an Land ziehen, so dass das darauffolgende Konzert in der viel renommierteren Bar jeder Vernunft immer noch als Premiere Geltung hat. Zugleich repräsentieren sich die Akteure des Kulturvereins Gelegenheiten sowie Robert vom Valentinstüberl als ›offen‹ gegenüber diversen Musikgenres, darunter auch improvisierter Musik. Jene Aufgeschlossenheit für musikalische Neuversuche wird aus der Sichtweise der Musiker des Weiteren mit dem ›unbesetzten‹ oder ›unetablierten‹ Charakter des Reuterquartiers in Verbindung gebracht. Die dankbare Einstellung der Musiker gegenüber den Läden verdeutlicht das Gefühl, sich auf Orte und Menschen verlassen zu können. Am Beispiel der Aktionen des Kulturvereins Gelegenheiten wurde deutlich, wie ein Kiezbewusstsein der neuen Bewohner für ihren Raum »Reuterquartier« geschaffen wird – selbst in den Fällen, in denen das Bewusstsein für den Ort noch gar nicht klar umgrenzt war. So ist auch mit der Weserrakete ist eine starke Identifizierung der Musiker mit dem lokalen Umfeld zu beobachten, das zu der Schaffung einer Nachbarschaft im Reuterquartier führt und mit einer Eroberung des städtischen Raumes verbunden ist. Auch das Reuterblog informiert als Kommunikationsmedium über den Kiez und produziert das Quartier als nachbarschaftliche, gemeinschaftliche Entität. Als gewisse »cultural brokers«71 haben die aktiven Mitglieder von Gelegenheiten den »Kiez«-Gedanken und damit die Eroberung des städtischen Raumes früh verstanden. Daneben verzeichnet die als »unkommerziell« konzipierte Weserrakete auch ökonomische Erfolge in den Kneipen und Läden im Kiez.72 Jene ›Unabhängigkeit‹ der Akteure der Gelegenheiten kann vor dem Hintergrund der institutionellen Anbindung in Frage gestellt werden. In diesem Kontext sind auch die Vorstellungen von einem ›undefinierten‹ oder ›undeterminierten‹ Reuterquartier, welche insbesondere in den Aussagen der SingerSongwriter in Bezug auf spontane Konzerte zur Sprache kam, zu diskutieren: Der 71 Sogenannte Cultural Brokers werden in einem spezifischen Milieu aktiv, das Landry so beschreibt: »[It] is a physical setting where a critical mass of entrepreneurs, intellectuals, social activists, artists, administrators, power brokers or students can operate in an openminded, cosmopolitan context and where face-to-face interaction creates new ideas, artefacts, products, services and institutions and as a consequence contributes to economic success«. (Ebd. 2001: 133) 72 Dies wird bestätigt durch das Feedback der Kneipen- und Ladeninhaber, deren Einnahmen auf der Weserrakete von Jahr zu Jahr steigen, zum Beispiel durch die Aussage Karls, Inhabers der Kneipe Schilling, am 21.09.2009. Tobias von Gelegenheiten berichtet im Interview: »Eigentlich sind alle dankbar, bei der ersten Weserrakete hatten [die Kneipen] Ä, Schilling und Raumfahrer den größten Umsatz. Und nun haben die den noch mal getoppt!« (Ebd., am 14.11.2008)

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selbstverständliche Zugriff auf die Räume im Kiez symbolisiert das Abstecken eines spezifischen Territoriums und impliziert eine Art musikalische Etablierung oder Institutionalisierung der Neuköllner Lokale als Räume für Akustikgitarren. Selbst die unvermittelt aufgezogenen Konzerte durch Singer-Songwriter benötigen ein nachbarschaftliches Rahmenwerk und produzieren es durch ihre musikalischen Praktiken gleich mit.73 Appadurai zufolge kann einer Nachbarschaft erst durch die soziale Praxis in Form von »Gemeinschaft« Wert beigemessen werden (vgl. ebd. 1996: 178). Die Akteure im Kiez arbeiten an sozialen Praktiken in ihrem Wohnort, mit dem sie sich identifizieren. Im Sinne Appadurais erhält die geographische Entität »Reuterquartier« erst durch die sozialen, kulturellen, musikalischen Praktiken ihren Wert. Das Gelegenheiten leistet einen wichtigen Beitrag für das Gemeinschaftsgefühl der Bewohner des Reuterquartiers. Bauman stellt zweifellos fest, dass das Wort Gemeinschaft ein gutes Gefühl erzeugt (ebd. 2001: 9).74 Der Raum Gelegenheiten pars pro toto für den gesamten Kiez stellt sich für die Nachbarschaft als schützender Raum dar. Ruth Finnegan untersuchte in den frühen 1980er Jahren »urban local music«75 in der englischen Stadt Milton Keynes, die sie als »real place« mit »real people experiencing and creating musical forms which they themselves value and to which they are prepared to commit a great deal of their lives« (ebd. 1989: xii [Herv. i.O]) festhielt. Ihr geht es also um die Herausarbeitung sozialer Praktiken, welche sie als bedeutend für lokale Beziehungen sowie als signifikant für die fundamentale Erfahrung einer Wahrheit des Menschen herausstellt.76 So mag auch das gesamte 73 »The central dilemma is that neighbourhoods both are contexts and at the same time require and produce contexts. Neighbourhoods are contexts in the sense that they provide the frame or setting within which various kinds of human action (productive, reproductive, interpretive, performative) can be initiated and conducted meaningfully. Because meaningful life-worlds require legible and reproducible patterns of actions, they are textlike and thus require one or many contexts.« (Appadurai 1996: 184) 74 »Wer wollte nicht unter freundlichen und wohlwollenden Menschen leben, denen er vertrauen und auf deren Worte und Taten er sich verlassen kann? Gerade für uns – die wir nun einmal in unbarmherzigen Zeiten leben, Zeiten des Wettbewerbs, in denen man dem anderen stets um eine Nasenlänge voraus sein muß, in denen sich keiner in die Karten schauen läßt […] – klingt das Wort ›Gemeinschaft‹ süß.« (Bauman 2001: 9) 75 Finnegan erforschte sowohl Praktiken von sogenannten professionellen als auch von »Amateurmusikern« und stellt Überschneidungen deren Praktiken fest (vgl. Ebd. 1989: 13). Sogenannte »local music« bleibt ihrer Meinung nach oft unbeachtet, da sie oft als »grass-roots musical activities« unterschätzt werden (vgl. ebd., xxi). 76 »Are there wider implications that can be drawn out from this system of local musicmaking? This part builds on the earlier ethnographic material to explore such questions as

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Konzertgeschehen der Band Ferne im Gelegenheiten an Steven Felds Wunschbild einer homogenen »Acoustic Community«77 erinnern, welche durch einen offenen Umgang mit Emotionen charakterisiert ist.78 In diesem Sinne stellt auch Fonarow für sogenannte Indie-Musik ein »emotional feeling of community and connectedness« als zentral heraus, was sie jedoch schließlich als Ideologie enttarnt (ebd. 1997: 364). Vorstellungen von einer akustischen, homogenen Gemeinschaft, wie sie auch am Beispiel des Konzerts der Band Ferne im Gelegenheiten konstruiert werden können, sowie Sichtweisen von wahrhaften Orten mit authentischen Akteuren, wie sie anhand der Indiebewegung durch Eisewicht/Grenz angesprochen wurden, bleiben in Bezug auf Musikkulturen im Reuterquartier zu hinterfragen.79 So erkennen auch Krais/Gebauer, dass »[k]eine Tätigkeit in der Gesellschaft […] so sehr davor geschützt wird, in soziale Zusammenhänge eingeordnet zu werden, wie die Tätigkeiten, die im Zeichen des Ästhetischen stehen« (ebd. 2002: 11).80 Während Zukin nach den Folgen von städtischen Imagebildungen fragt,81 konstatieren Wulf/Zirfas, dass »institutionelle und individuelle Bedingungen die

what local music practice and its pathways mean for those who live out their lives in the urban (perhaps impersonal?) of modern society or for the rituals and functioning of our society and many small acts and decisions of music-making of any wider significance for the fundamental experience and reality of humankind.« (Finnegan 1989: 295) Während diese Wahrhaftigkeit zum einen auf die sozialen Praktiken hinweist, versteht Finnegan darunter des Weiteren eine Alltäglichkeit von Musik als eine natürliche, normale Praxis von Musik von Amateuren, die sich als Musiker bezeichnen (vgl. ebd. 1989: xxi). 77 Feld untersucht in Sound and Sentiment (1992) eine sogenannte »acoustic community« in Papua Neuguinea. 78 Auch Frith begreift eine durch das musikalische Erlebnis geschaffene »Community« als zentralen Aspekt von Rockmusik (vgl. ebd. 1981: 167). 79 Nach Clifford garantiert keine wissenschaftliche Methode oder kein ethischer Standpunkt die Wahrheit der Bilder solcher akustischen Gemeinschaften: Vielmehr werden in diesen Sichtweisen abstrakte und ahistorische »others« konstruiert (vgl. ebd. 1988: 23). Veit Erlmann versucht in diesem Zusammenhang zu klären, wie es zu derartigen Auffassungen kommt und verweist auf Kants Begriff der »ästhetischen Gemeinschaft«, die aus der »Hoffnung auf Einstimmigkeit […] und Einheit auf der Basis ihres momentanen schönen Zustands« entstand (vgl. ebd. 1998: 13ff.). 80 Entgegen der Ideologie einer »reinen Ästhetik« erklären sie nach Bourdieu, dass ästhetische, also kulturelle Objekte eine eigene innere Logik haben, die an die soziale Welt gebunden sind (Bourdieu 1987: oS nach Krais/Gebauer 2002: 11). 81 »Those who create images stamp a collective identity. Whether they are media corporations like the Disney Company, art museums, or politicians, they are developing new spaces for public cultures. [...] By accepting these spaces withouth questioning their

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Art der Aufführung« eingrenzen und determinieren.82 Durch institutionalisierte Vereine (»AG Kultur«, »Reuterkunstflyer«) sowie der quartierseigenen Zwischennutzungsagentur, die für die Vermittlung des Geräuschladens zuständig ist, zeichnet sich das städtische Konzept des Quartiers als »Künstlerquartier« ab. Durch dieses Label und damit in Verbindung stehende kulturelle, musikalische und gemeinschaftliche Ressourcen soll der Kiez an Bedeutung gewinnen. Vorab kann davon ausgegangen werden, dass ästhetische und damit auch musikalische Praktiken des Kiezes determiniert werden von städtischen Institutionen und dem medialen Außenbild des Kiezes. Im fünften Kapitel werden diese Aspekte anhand der Außendarstellung über Neukölln weiter vertieft. Neben Presseartikeln kommen in diesem die Neuköllner Kulturamtsleiterin, eine Stadtplanerin im Reuterquartier sowie ein Initiator Kunstfestivals »48 Stunden Neukölln« zu Wort. Wie sind die Vorstellungen einer musikalischen Gemeinschaft oder einer »neighbourhood symphony« im Reuterquartier also in diesem Kontext zu bewerten? Im folgenden Kapitel werden zunächst die lokalen Merkmale und topographische Vorstellungen über ästhetische Charakteristika des Kiezes aus der Perspektive der Neuköllner Musiker vertieft.

representations of urban life, we risk succumbing to a visually seductive, privatized public culture.« (Zukin 1995: 3) 82 »[…] wenn Gemeinschaften sich im wesentlichen durch ritualisierte Sinn- und Handlungsformen auszeichnen, so sehen wir den Fokus unserer Arbeit […] [in den Fraugen:] wie entsteht soziales Verhalten, […] welches sind die ihm zugrunde liegenden Muster […]? Wie wird Verhalten aufgeführt und welche institutionellen und individuellen Bedingungen bestimmen die Art der Aufführung?« (Wulf/Zirfas 2001: 93) »[Es] kommt uns nicht nur darauf an, Institutionalisierungsprozesse zu untersuchen, sondern zugleich deren Grenzen deutlich zu machen, die von jenen ritualisierten Praktiken vollzogen werden, […] Intentionen, die weniger auf das Institutionelle, sondern auf das Milieu […] mit einem Wort: auf die Gemeinschaft bezogen sind.« (Ebd., 100)

II. Neuköllner Zonen. Lokale und ästhetische Dispositionen

1. V ON K REUZBERG ÜBER M ITTE BIS INS › TIEFE ‹ N EUKÖLLN

UND

P RENZLAUER B ERG

»[...] neighbourhoods are inherently what they are because they are opposed to something else and derive

from

other,

already produced

neigh-

bourhoods.« APPADURAI 1996: 182

Neukölln und Kreuzberg Zu Beginn meiner empirischen Erhebungsphase von Winter 2008 bis ins Frühjahr 2009 trat die Vorstellung des Reuterquartiers als pulsierendes Herzstück oder Zentrum Neuköllns für die interviewten Musiker hervor. Die Neueröffnungen von Kneipen verdeutlichen somit eine vermeintliche Renaissance dieses Quartiers. Demgegenüber schildert Oliver Konzertplanungen für seine Band Ferne ›außerhalb‹ des Reuterquartiers: »Wir haben jetzt auch vor, im Valentinstüberl zu spielen. Das ist noch jenseits der Sonnenallee, in der Donaustraße, ich weiß gar nicht, ob der Kiez schon [ei]nen Namen hat, Donaukiez?« (Oliver in einem Interview am 22.11.2008)

Oliver erscheint es beinahe befremdlich, ein paar hundert Meter abseits der Weserstraße und jenseits der Sonnenallee einen Auftritt zu haben. Dieses Gebiet ist zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht in derselben Weise durch Kneipen und Veranstaltungsorte erschlossen wie die Straßen im Reuterkiez. Die Einteilung Neuköllns in spezifische Quartiere und die damit verbundene Namensgebung der einzelnen Kieze (»Reuter-«, »Flughafen-« oder »Boddinkiez«) vermittelt Sicherheit

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und Orientierung in Neukölln, die auch für die Konzertplanung der Musiker eine Rolle spielen. Neukölln zeigt sich in den Sichtweisen der Musiker im starken Kontrast zu Kreuzberg. Der Musiker Willi Mars beschreibt seinen Umzug mit dem ursprünglichen Ziel Kreuzberg folgendermaßen: »Ich bin 2004 nach Berlin gezogen mit meiner damaligen Band. Wir wollten in [ei]ne Stadt, wo man sich großstädtischer fühlt und die Musik am richtigen Ort [ist im Vergleich] zu Darmstadt. [Ich] bin zufällig in Neukölln gelandet, weil die Wohnung als [in] Kreuzberg [gelegen] beworben [wurde], und [wir] auch nach Kreuzberg wollten. [Aber dann] waren wir beleidigt [und meinten]: ›Das ist ja gar nicht Kreuzberg! Was soll das! Warum sagst du uns das, obwohl das Neukölln ist?!‹ […] Aber fand es dann auf einmal sehr schön, besonders die Ecke mit dem Kanal und so.« (Willi Mars in einem Interview am 14.07.2009)

Die Berliner Immobilienfirma bezeichnete die Gegend im Reuterquartier auf ihrer Website fälschlicherweise als Kreuzberg, was den jungen Musikern erst nach Einzug in die Wohnung klar wurde. Willi Mars ist nicht der einzige, der auf diesem Weg nach Neukölln kam: »Eigentlich« habe man ja nach Kreuzberg gewollt, aber nun fände man Neukölln auch »sehr schön und lebenswert«, weil die Mieten hier noch günstig seien – so beginnen viele Berichte von Musikern über die Wohnungssuche in Berlin. Lang untersucht, wie der ehemalige Außenseiterbezirk Kreuzberg der Vorwende im Zuge sogenannter Gentrifizierungsprozesse seine »Projektionsflächen für utopische Bildwelten am Rande« aufrecht erhalten kann (ebd. 1998: 28): Günstige Mieten und Freiräume hatten zur Zeit der Vorwende neben Einwanderern auch Bohème-Milieus nach Kreuzberg geführt, so dass es schon in den 1960er Jahren mit dem Pariser Montmartre oder dem New Yorker East Village verglichen wurde und als etwas Besonderes galt, was sich in den 1970er Jahren intensivierte (vgl. Lang 1998: 119 nach Lanz 2007: 97). Die Bilder, die sich auf Kreuzberg als »AussteigerMekka« des unbürgerlichen Lebens und für die Utopie eines besseren Lebens stehen, laufen Langs Untersuchung nach jedoch ins Leere (vgl. Lanz: 28, 35). Trotzdem können aus Perspektive der befragten Musiker in Neukölln 2010 wieterhin Utopien über Kreuzberg beobachtet werden. Der junge Musiker Willi äußert das Bedürfnis, nach Kreuzberg zu ziehen, ohne dort vorher gewesen zu sein. Im Kontrast zur Kleinstadt Darmstadt gilt Kreuzberg für ihn als wahrhafterer Ort für seine musikalischen Vorhaben. In mehr als der Hälfte der geführten Interviews spielt der Bezirk Kreuzberg für die Neuköllner Musiker eine Rolle. Klingt die berühmte Kreuzberger Oranienstraße für Johannes von Ferne »nach einem nie

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eingelösten Versprechen« (Johannes in einem Interview am 22.11.2008), so bezeichnet der Großteil der Musiker Kreuzberg als »cool«1. Prekariat und Kreativität Die vermeintlich coole Umgebung in Neukölln spielt bei den vielmehr pragmatischen Aussagen des Klangkünstlers Paul keine Rolle. Vor seinem Umzug nach Neukölln vor ein paar Monaten wohnte er in Hamburg, wo er zumeist unbezahlt als Sounddesigner arbeitete. Ihn treffe ich eine Woche später auf einer seiner Performances im Neuköllner Staalplaat.2 Nachdem er mir eine Stunde lang Möglichkeiten und Probleme der Mikrofonierung erörtert, spricht er offen über die günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Neukölln, die sich ihm als lebensnotwendig darstellen: »Berlin hat mich überhaupt nicht interessiert, [aber] ich habe dann dementsprechend Prioritäten gesetzt, [denn] mit Hartz IV in Hamburg – da kannste dich nicht selbständig machen. […] Ich bin ja über das Amt selbständig. Das ist auch ein Grund, warum ich in Neukölln bin. Die vom [Neuköllner] Jobcenter haben genug zu tun. Wenn dann einer dabei ist, der sich selbständig macht, dann lassen die einen in Ruhe. Ich kriege Einstiegsgeld, 170 Euro. Ich habe im ersten halben Jahr von meinem Geld gelebt, das konnte ich dann in meinem Konzept, das ich einreichen musste, aufschreiben, und deswegen habe ich die Selbständigkeit bekommen.« (Paul in einem Interview am 26.05.2009)

Paul erlebt sich selbst als »kreativ prekär«3 und begründet damit seinen Ortswechsel nach Neukölln, wo seine Existenz als Künstler zumindest für einen kurzen Zeitraum gesichert scheint. Die niedrigen Lebenshaltungskosten und eine weniger strikte Arbeitsweise des Neuköllner Jobcenters bilden somit die Voraussetzung für das Dasein als selbständiger Soundartist – ein Umstand, der sich auch in der Lebenswelt vieler anderer Berliner Künstler in Neukölln wiederfindet.

1

»Das Adjektiv ›cool‹ begann seine Karriere als Bezeichnung popkultureller Phänomene, fand schnell Eingang in die Umgangssprache besondern von Jugendlichen und gilt heute von der Werbung bis zur Politik als vage Umschreibung für etwas positive Lässiges. […] ›Cool‹ wurde zu einem der beliebtesten Komplimente.« (Poschardt 2000: 9)

2

Dazu siehe vor allem Kapitel IV.

3

Ich übernehme dieses Begriffspaar von Bernadette Loacker, die ihr gleichnamiges Buch Arbeits- und Lebensformen von Künstlern widmet. Die prekären Arbeitsformen, in denen die in ihrer empirischen Studie untersuchten Künstler tätig sind, »verursachen eine Vielzahl an Zwängen, die sie keineswegs freiwillig wählen« (ebd. 2010: 141).

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Soft vs. Deep Die geographische Nähe des Reuterquartiers führte zu der umstrittenen Begriffskreation »Kreuzkölln«. In diesem Sinne erklärt auch der im Reuterquartier lebende französische Soundkünstler Stéphane: »It’s fine, I like Neukölln, I am really close to Kreuzberg anyway, ten minutes from Hermannplatz. I don’t know if I really know the deep Neukölln. I only know the soft Neukölln.« (Stéphane in einem Interview am 24.02.2009)

Stéphane bezeichnet das Reuterquartier somit als sanft. Die geographische Nähe dieses Kiezes zu Kreuzberg stellt sich für ihn als beruhigender Faktor heraus. Im Gegensatz zum ›soften‹ Neukölln steht für Stéphane ein ›tiefes‹ (»deep«) Neukölln, also der Bereich des Kiezes, der sich außerhalb des Hermannplatzes und südlich der Karl-Marx-Straße befindet. Neben einer geographischen Dimension impliziert die Bezeichnung »deep« für den vom Kiezkern entfernten Teil des Bezirks auch eine Rauheit oder Härte Neuköllns. In diesem Sinne identifiziert auch der Experimentalmusiker Jaap die geographische Lage und beschreibt den Reuterkiez und sein Verhältnis zu den außerhalb liegenden Gebieten Neuköllns folgendermaßen: »Ich denke, das Allergrößte ist das Wasser, die Räume und das Pflaster, […] und dass alles ein wenig dicht ist. Aber es wird ein bisschen zu soft. […] Das erste mal als ich […] in die Gegend [jenseits] der Karl-Marx-Straße gegangen bin, [entlang der] Boddinstraße, [war es] auch sehr schön. [Das] hätte ich überhaupt nicht erwartet. [Da ist es] kräftiger, erwachsener, als ob hier der Campus ist und dort das Leben der Erwachsenen. Es wird hier [im Reuterquartier] ein bisschen zu petittrig. Ich weiß nicht ob das die Kuscheljugend ist. […] Ich find[e] es okay, wenn das alles wie ein Wohnzimmer aussehen soll […]. Aber irgendwie hat alles was von Joghurt: […] das kann man alles in dreißig Farben kriegen, aber letztendlich schmeckt das doch alles gleich, Bananenjoghurt oder Tausendfrüchte […] immer dasselbe.« (Jaap in einem Interview am 22.10.2008)

Sowohl Jaap als auch weitere Musiker schreiben dem Reuterquartier mit seinen mit Kopfstein gepflasterten Straßen sowie der Nähe zum Kanal einen pittoresken Charakter zu.4 Nach Moravánszky gilt das pittoreske5 »als großstädtische Betrachtungsweise der ländlichen Kultur« und bezeichnet eine »bildhafte, ästhetisierte 4

So äußert sich die schwedische Musikerin Tine beispielsweise folgendermaßen: »It is like a small village or smalltown with all the cobble stone streets in the middle of a huge city.« (Tine in einem Internetchat am 06.07.2009)

5

Moravánszky spricht von »picturesque« (ebd. 2002: 7).

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Erscheinung der Natur«, wie es Moravánszky für die Perspektiven niederländischer Landschaftsmaler auf »imaginäre[] Landschaften« festhält (ebd. 2002: 7). Jaap schafft dadurch einen Gegenentwurf zu dem, was er im städtischen Raum sucht.6 Mit dem benannten Dorfcharakter des Reuterquartiers ist ihm zufolge auch ein harmonisches Miteinander der jungen Einwohner des Kiezes (»Kuscheljugend«, »Campus«) verknüpft. Neben einer vermeintlichen Naivität unterstellt Jaap den Bewohner des Reuterkiezes auch spezifische Beziehungsstrukturen, also moralische Werte des Miteinanders, die gemeinhin der Dorfbevölkerung zugeschrieben werden.7 Bewusst grenzt sich der aus Holland stammende Soundkünstler von dem gesellschaftlichen Kontext jener »Kuscheljugend« im Reuterquartier ab, die in seinen Beschreibungen an Tönnies’ Auffassung von Gemeinschaft erinnern.8 Eine übertriebene Harmonie und der Dorfcharakter des Reuterquartiers stehen seiner Wahrnehmung nach im Kontrast zu den Eigenschaften eines Neuköllns außerhalb der Karl-Marx-Straße. Somit drückt er Langeweile gegenüber den blassen (»Joghurt«ähnlichen) und damit ausdrucksschwachen Räumen des Reuterkiezes aus, die ihm 6

»In der Landschaft ist der Raum der Natur für den Stadtbewohner inszeniert, der in ihr das Gegenbild zu dem ihn umgebenden urbanen Raum sucht. Die Umwandlung der Natur in Landschaft zeigt eindeutig ideologische Elemente, sie wird als Karte der nationalen Geschichte lesbar.« (Moravánsky 2002: 7)

7

»Auf der imaginären Landkarte der mitteleuropäischen Intellektuellen verkörperte das Dorf Werte, die allgemein geschätzt wurden: Auch diejenigen, die seine Zurückgebliebenheit kritisierten, bezweifelten nie die unbedingte Moralität seiner Bewohner und das gleichfalls angeborene ›ästhetische Gefühl‹, das jedes Objekt des Alltagslebens auszeichnete.« (Moravánszky 2002: 7ff.)

8

In seinem einflussreichem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) charakterisiert Ferdinand Tönnies Gemeinschaft (»community«) als »emotional« durch eine Nähe von Beziehungen, die sich in Mitgliedschaften oder Kooperationen am deutlichsten in Familien- oder Verwandtschaftsverbindungen oder in der Ehe zeigen. Gemeinschaft als lokaler Ausdruck für Nachbarschaft, weckt Assoziationen eines ländlichen oder volkstümlichen Lebens (»rural life«/»folk life«). Im Gegensatz hierzu sind die Beziehungen in der modernen Gesellschaft rational statt emotional und basieren auf Verträgen und Vereinbarungen. In der modernen Gesellschaft sind Menschen individualisiert und stehen im Wettstreit zueinander, statt kollektiv und kooperativ zusammen zu leben. Moderne Gesellschaft wird aus der Ferne vom Staat regiert durch kapitalistische Bürokratie, durch Legislation und Konvention. Im Kontrast zur unpersönlichen modernen Gesellschaft, die zu Erfahrungen der Entfremdung führen statt zu einem Sinn des sich dazugehörig fühlen, betrachtet Tönnies gesellschaftliche Beziehungen in der Gemeinschaft als »natürlich« und »authentisch« und als einen organischen Ausdruck gesellschaftlicher Zugehörigkeit (vgl. Gelder 2007: 25).

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mittlerweile alle gleichförmig erscheinen. Demzufolge signalisiert er den Entdeckergeist, neue Räume außerhalb des Reuterquartiers für seine musikalischen Zwecke zu erforschen, die »erwachsener«, »kräftiger« und dadurch weniger ›kuschelig‹ sind. Auch in vielen anderen Interviews mit Neuköllner Musikern kam jene Sichtweise, die ein vermeintlich härteres Neukölln geographisch außerhalb des Reuterkiezes im ›tiefen‹ Neukölln verortet, als selbstverständliche Topografie zur Sprache. Das Gebiet außerhalb der Sonnenallee oder der Karl-Marx-Straße steht im Kontrast zu Vorstellungen über das Reuterquartier, mit dessen ›Sanftheit‹ auch eine Harmlosigkeit verbunden wird, die sich in den Vorstellungen über gemeinschaftliche Praktiken der Kiezbewohner wiederfinden, wie sie in Kapitel I dargestellt wurden. Neukölln, Mitte und Prenzlauer Berg In der frühen Interviewphase im Winter 2008/2009 genießt Kreuzberg einen beliebten Status und übernimmt in den Sichtweisen der Musiker im Vergleich zu Neukölln eine Vormachtposition. Doch auch die anderen Bezirke Berlins eignen sich als Prüfsteine, mit denen die Charakteristika Neuköllns abgeglichen werden. Andere Orte, von denen sich abgegrenzt wird, werden somit aufschlussreich sind für die symbolische Darstellung Neuköllns. Stefan vertieft die Perspektive auf den Bezirk Prenzlauer Berg im Kontrast zu Neukölln folgendermaßen: »Wir sind vor etwa einem Jahr nach Neukölln gezogen, nachdem ich im Herbst 2004 ungeplanter Weise in Prenzlauer Berg gelandet bin, bis wir gesagt haben: ›Wir müssen [hier] weg! […] Die gesellschaftliche soziale Veränderung war für mich […] nur noch unerträglich […]. Ich versuche schon auch in der Stadt zu leben und nicht zwischen Eberswalderstraße und Rosenthalerstraße zu vegetieren, in meinem Ghetto. Es gibt gute Gründe, warum ich von Wien weggezogen bin, und mittlerweile ist [es in] Prenzlauer Berg vielleicht schlimmer als in Wien. Es gibt in Berlin eine unsichtbare Altersgrenze: [Im Alter von] dreißig, vierzig [Jahren] […] ziehen die sich dann zurück […]. … Die festen Familienstrukturen, [das] Revival der 50er Jahre, der ökonomische Aufstieg [existieren in Prenzlauer Berg]. Der Lebensentwurf, der mit der Musik Hand in Hand geht, ist schwerer kompatibel mit einem gesettleten, kleinbürgerlichem Leben. Vor zwei Jahren gab’s noch keine kulturellen Gründe, [in Neukölln] zu wohnen. [Aber bezüglich] Ausgehen hat sich viel nach [Neukölln] verlagert: Ich gehe hier fast ausschließlich auf experimentelle Konzerte […], wenn was Seltsames ist. Auch Loophole 9

und Staalplaat. Das NK ist schon ein bisschen spezieller als die anderen Orte, weil es ist der

9

NK bezeichnet sich selbst als »independent non-profit organization that is dedicated to Sound Arts«. Vgl. URL: www.nk-projekt.de (letzter Zugriff am 10.03.2013). Dieser Veranstaltungsort befindet sich auf der Elsenstraße. Die Mauer trennte die Elsentraße in

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erste und der einzige Ort hier in der Gegend, der nicht nur zero budget macht, sondern mit den Workshops noch einen anderen Bereich abdeckt. Nächstes Jahr haben die ihren Status in der Stadt, wenn die dran bleiben, was die Qualität und Quantität betrifft.« (Stefan in einem Interview am 08.08.2009)

Stefan ist es fast peinlich in Prenzlauer Berg gelebt zu haben und äußert sich auch zu den höheren Mietpreisen seines ehemaligen Kiezes. Er bezeichnet das Gebiet zwischen dem schicken, aufgewerteten Teil des Bezirks Mitte bis ins Herz Prenzlauer Bergs als »Ghetto«. Damit meint er kein Armutsquartier10, sondern im umgekehrten Sinn die Ansiedlung von besser verdienenden Menschen. Diese identifiziert er in einer Aufwertung der Stadtteile Prenzlauer Berg und Mitte11, welche für ihn eindeutig negativ konnotiert sind. Verkörpert der Begriff »Ghetto« die »zentrale Metapher des Ausländers als gesellschaftlichem Fremdkörper« (Lanz 2007: 71), nutzt Stefan diesen um die Homogenität der Bewohner der Bezirke Mitte und Prenzlauer Berg auszudrücken. Andererseits bleibt zu hinterfragen, ob die einkommensstarken Haushalte, die im Sinne der Stadtsoziologen in aufgewertete Bezirke vordringen, tatsächlich als gesellschaftliche Fremdkörper ausgegrenzt werden, wie es Stefan mit der Bezeichnung »Ghetto« in Bezug auf Prenzlauer Berg impliziert. Seine Workshops finden im Neuköllner Veranstaltungsort NK statt. Stefan streift in seinen Schilderungen auch den finanziellen Einbruch der TechnoSzene Mitte der 1990er Jahre, von dem er unmittelbar betroffen war. Stefan zog 1989 von Wien nach Westberlin und war seit Anfang der 1990er Jahre als Produzent in einem berüchtigten Techno-Projekt aktiv. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre »war es dann schon wieder vorbei mit dem Wohlstand« und er begann, Softwareprogrammierung zu unterrichten (Stefan in einem Interview am 08.08.2009). Die wirtschaftliche Verschlechterung der Technowelt führte nach Ostberlin (Bezirk Treptow) und Westberlin (Neukölln). Das NK – auf der ehemals westlichen Seite – liegt somit im Mittelpunkt des vormaligen Neuköllner Grenzgebiets. 10 Im Sinne des Stadtsoziologen Häußermann hat sich in Bezug auf vermeintliche Ghettos der Begriff »Ausgrenzung« […] durchgesetzt, der sich auf eine »Marginalisierung am Arbeitsplatz und die Schwächung der sozialen Bindungen« bezieht, die »mit einem weitreichenden Verlust von materiellen, kulturellen und politischen Möglichkeiten, am Leben der Gesellschaft teilzunehmen« einhergehen (ebd. 2004: 21). Die Segregation, ein »Vordringen von einkommensstarken Haushalten in aufgewertete Innenstadtbezirke« führt allmählich zu einem »Armutsmilieu, das selber benachteiligende Wirkungen entfaltet. Die Armutsquartiere werden dann zu Orten sozialer Exklusion« (ebd., 13). 11 Während Veränderungsprozesse aus stadtsoziologischer Sicht insbesondere in BerlinMitte zur Ansiedlung eines »kreativen Milieus« führten, siedelten sich auch Firmengruppen aus den alten Bundesländern an, was unzählige Sanierungsvorhaben und damit die Aufwertung der Ostberliner Altbauviertel förderte (Vogt 2005: 47, siehe Einleitung).

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Vogt zu einer »Neuorientierung der Szene, was häufig in einer Flucht in die Professionalisierung resultierte«, wobei aus Freizeitaktivitäten professionelle Berufe wurden (ebd. 2005: 48). Die Veränderungen der Techno-Szene betrachtet Stefan im Sinne der Stadtsoziologie also parallel zu Transformationen des Ostberliner Stadtteils Prenzlauer Berg sowie der Ansiedlung sogenannter Yuppies12. Er zog von Wien direkt nach Prenzlauer Berg, welches sich unmittelbar nach der Wende durch viel Freiraum und günstige Mieten als attraktive Wohngegend für Musiker darstellte (vgl. Häußermann/Siebel 1987: 18ff., siehe Einleitung). Jene Veränderungen, die dieser Bezirk im Zuge jenes städtischen Strukturwandels in den 1990er Jahren durchmachte, sind für Stefan jedoch nicht mehr haltbar. Deshalb grenzt er bewusst von seiner Generation in Prenzlauer Berg ab, da er dort bürgerliche Einstellungen der Bewohner vermutet, welche seinen gegenwärtigen Lebensentwurf kontrastieren. Er hofft, jene Klientel in Neukölln nicht anzutreffen. In Prenzlauer Berg fühle er sich in seinen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt, die er auf musikalische Aktivitäten bezieht.13 Die »kulturellen Möglichkeiten«, die er diesem Viertel abspricht, erklärt er an spezifischen Orten in Neukölln zu finden, in denen er auch selbst aktiv ist. Mein Vergleich seines Umzugs nach Neukölln »als eine Art Verjüngungskur« (CH) bestreitet er nicht. Positiv bewertet er die Organisation des Veranstaltungsraumes NK, der sich nicht wie andere Neuköllner Läden aus low budgetFinanzierungen trage und einen »Status in der Stadt« einnähme. Diese Wertung stellt sich im Kontext seiner Aussagen als auffällig heraus: Kann jener »Status in der Stadt«, den er für den Veranstaltungsort konstatiert, doch als Zeichen für ebendiese jungen, urbanen und professionellen Methoden gedeutet werden, die er in den Bezirken Mitte und Prenzlauer Berg vorzufinden kritisierte.

12 »Young Urban Professionals«: »Insbesondere in ihrer Wirkung für die Umnutzung oder Aufwertung von Altbauquartieren arbeiten Alternative und Yuppies Hand in Hand. In der Regel sind es junge Leute, die gezwungenermaßen oder bewußt kein ›normales‹ Leben führen, die zuerst in die Altbauquartiere eindringen, wo Wohnungen zu relativ günstigen Preisen zu haben sind. Neben dem Mietpreis machen die innenstadtnahe Lage und besonders die Wohnungsgrundrisse die Attraktivität aus.« (Häußermann/Siebel 1987: 17) 13 »Eine dritte Dimension der Wirkungen stellt das negative Image eines Quartiers dar, das aufgrund eigener Erfahrungen oder aufgrund von Vorurteilen dem Quartier aufgestempelt wird, und das dann nach innen (gegenüber seinen Bewohnern) und nach außen (als Stigmatisierung der Bewohner) Effekte entfaltet, die die Handlungsmöglichkeiten der Bewohner erheblich einschränken.« (Häußermann 2004: 29)

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2. ÄSTHETISIERUNGEN N EUKÖLLNS »They find beauty in the dirt we tread on and ignore. They turn our trash upside down and use it for something else. […] They show that there is another way, a different narrative to live.« FONAROW 2006: 249

›Authentisch‹ und ›seltsam‹ Die Musikerin Kerstin teilt sich ihre große Wohnung auf der Karl-Marx-Straße mit einem anderen Musiker. Vor zwei Jahren kam die 23jährige aus Stockholm nach Berlin.14 Nachdem sie in Friedrichshain, Prenzlauer Berg und Kreuzberg wohnte, zog sie vor kurzem nach Neukölln. Die Frage, ob sie oft in Reuterquartier geht, beantwortet sie folgendermaßen: »Nee, aber meine Lieblingskneipe ist am [Neuköllner] Herrmannplatz [und] heißt Bar One. Sie spielen [dort] Spreeradio [und] haben immer geöffnet. […] Diese neuen Bars [im Reuterquartier] sind eher für so ein jüngeres Publikum, ich hab immer ein bisschen Angst vor diesen Leuten […]. [Und] in Prenzlauer Berg gibt’s nur so kleine Kinder und so Bioläden, aber Kreuzberg ist nett. Ich find’s schön, dass hier [in Neukölln] immer so Leute in den Straßen sind, und dass es ganz gemischt ist, mit Karstadt ein bisschen schick sein soll und ganz viele Penner und Drogensüchtige und junge Türken und nun ganz viele Amerikaner und Schweden, das fühlt sich so großstädtisch an […].« (Kerstin in einem Interview am 04.05.2009)

Zwar ist sie im selben Alter wie die Studenten, welche die neu eröffneten SzeneKneipen15 im Reuterkiez besuchen, doch distanziert sich Kerstin von diesen. Stattdessen trinkt sie ihr Bier lieber in der in der Nähe des Hermannplatzes befindlichen Bar One, die eher als Quartiers- oder Eckkneipe16 charakterisiert werden kann, in der man Darts spielen kann und in der Spielautomaten stehen.

14 Als 19jährige kam sie einmal für einen Sprachkurs nach Berlin. Wir unterhalten uns auf deutsch. 15 Im Kontrast zur traditionellen Eckkneipe mit älterem Stammpublikum existiert die »Szenekneipe« für ein junges Publikum zwischen 18 und 40, »das relativ offen, ungebunden und konsumfreudig ist« (Starzinger 2000: 169). 16 Nach dem zweiten Weltkrieg wurde in den 1950er und 1960er Jahren die »Quartierskneipen« populär, die sich durch eine Homogenität der Status- und Berufszugehörigkeit des jeweiligen Milieus auszeichneten und aus der Perspektive der wohlhabenderen

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Wie sie zum Produzieren von Musik in Berlin kam, schildert Kerstin so: »Ich habe hier angefangen, Musik zu machen, weil es Spaß macht. Das hätte ich wahrscheinlich in Stockholm nicht gemacht, weil es da nicht so offen [ist]. Hier ist es besser, Musik zu machen, weil es hier punkiger und DIY ist. Vorher habe ich immer so gezeichnet, so verschiedene, künstlerische Sachen gemacht und dann hat eine Freundin von mir ein Mac17

book mit Garageband

gekauft und wir haben so rumgespielt […] und wenn sie bei der

Arbeit war, habe ich den Rechner zu mir gebracht und damit gearbeitet […]. Jetzt habe ich einen eigenen.« (Ebd.)

Auf die Frage, ob sie eine bestimmte Atmosphäre benötige, um Musik zu machen, antwortet sie: »Ja, ich will in der Stadt wohnen, brauche Geräusche, Licht und Menschen, zum Angucken, nicht zum Reden, nichts Soziales.« (Ebd.) Im Vergleich zur Ödnis der schwedischen Hauptstadt stellt sich Berlin für Kerstin als »offener« dar.18 Sie vermutet, dass sie ohne den »Do-It-Yourself«19-Charakter Berlins auch nicht zum Musikmachen gekommen wäre. Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich Pappen, die darauf warten zu CD-Verpackungen gefaltet zu werden. Es ist ihre erste Veröffentlichung, für die sie auch ein eigenes Label gründen möchte und die auch noch auf Vinyl erscheinen soll (ebd.). Ihre selbständige Arbeitsweise im Sinne des DIY und die Absicht einer Labelgründung veranschaulichen vermeintlich authentische Musikpraktiken unabhängig von bestehenden Musikmärkten und dem Mainstream.20 Kerstin zieht die ältere Schichten als »Aufenthaltsräume für die unteren Schichten und den Pöbel« existierten (Wedemeyer 1990: 29 nach Starzinger 2000: 26, 35). 17 Software zur Musikproduktion 18 In meiner Feldforschung wurde Schweden auch in anderen Fällen als »langweilig« und »öde« beschrieben. Martin, ein schwedischer Musikproduzent, der seit 2008 in Neukölln lebt, vergleicht Göteborg mit Berlin folgendermaßen: »[I]n Sweden after six`o clock no one goes out. The cafés are empty, there are no DJs playing, nothing is happening [in Gothenburg]. It is good if you are working in a shop [...] or in a factory: It is great, everything works, [...] but if your interests are different, there is no – how you say – Lebensraum. There’s nothing, you don’t socialize, nothing goes on, something goes on, but it is just so small.« (Martin in einem Interview am 12.03.2009) 19 Als Effekte der riotgrrrl-Bewegung fungiert insbesondere DIY als »feminist tool of communication and expression [...] that include the production of not just music, but zines, stickers, [...] mixed tapes [...]. Distribution of these products through mail order or the Internet (….) has resulted in a high-tech DIY scene.« (Piano 2003: 254) 20 »This attempt at demonstrating ›distinction‹ occurs through the construction of a commercialized subcultural or mainstream ›Other‹ as a symbolic marker against which to define one’s own tastes as ›authentic‹«. (Piano 2003: 257)

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Eckkneipe den neuen Szene-Kneipen vor und betont auch den Radiosender Spreeradio, der dort gespielt wird. Als Formatradio21 richtet sich Spreeradio an ein Hörerpublikum, das weniger auf Nachrichten und Kulturvermittlung als auf einfache Unterhaltung setzt. Somit grenzt sich Kerstin von einem vermeintlich kulturellen, hippen und damit für studentische Verhältnisse eher konventionellen Treiben des Reuterkiezes ab. Vielmehr zieht sie die Gegend um den Herrmannplatz mit »Pennern« und »Drogenabhängigen« vor. Außerdem vermittelt sie, dass ihre Musik und eine damit verbundene Karriere weniger mit klaren Absichten oder Plänen zusammenhingen, sondern sich eher zufällig einstellten. Durch eine vom DIY-Gedanken geleitete Herangehensweise stilisiert sie sich stereotyp als unangepasst ›punkig‹22 und individuell.23 Ferner gibt sie vor, ansonsten soziale Kontakte eher zu meiden und betrachtet die Menschen ihres Umfeldes mit einem gewissen Abstand (»zum Angucken, nicht zum Reden«). Durch den entfernten Blick auf den Kiez, also einer beabsichtigten ›Nicht-Identifikation‹ mit dem Ort, behält Kerstin das Fremde, Abstruse des Umfeldes in ihrer Vorstellung bei. Ihre Aussagen spiegeln die Begeisterung für die eher abseitige Klientel des Kiezes und die weniger schönen Merkmale wider. Sie schildert den Alltag im Kiez als ideale Ausgangslage für ihre kreative Arbeit, die sie als beiläufig und zufällig beschreibt. Seibt stellt nach Bürger einen Zusammenhang her zwischen den alltäglichen Verhaltensweisen der Künstler des Surrealismus und dem »Seltsamen«, das der Künstler in der Stadt verortet und welches er für seinen kreativen Prozess benötigt.24 In Kerstins Wahr21 »Mit Aufkommen des Formatradios verschärfte sich das kulturpolitische Problem der Sinngebung in der Medientätigkeit. Es begann ein Kampf […] um ein spezifisches Hörerpublikum, mit Formatradio für Volksmusik, für Klassische Musik, für Pop/Rock etc.«, womit der Zuhörer zu einem ihm überschaubaren Lebensraum zurückgeführt wurde. (Engeler 1996: 144, 147) »Das Motto ›Für jeden etwas‹ und zwar auf getrennten Kanälen, reflektiert die heutige Tendenz zum sog. kulturellen Pluralismus, der aber oft verbunden ist mit einem sterilen Individualismus.« (Ebd., 144) 22 Punks »played up their Otherness, ›happening‹ on the world as aliens, inscrutables« (Hebdige 1979: 130). 23 »Erweist sich also die gezielte Nicht-Darstellung (Negation) von Kreativität, Intellektualität und ›Authentizität‹ in ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung und Deutung als letztlich geeignete Darstellungsform ›autonomer‹ Individualität?« (Müller 2007: 216) 24 »Das ziellose Umherstreifen durch die Straßen der Stadt, das Kokettieren mit der eigenen Untätigkeit – Ausdruck der Verweigerung gegenüber dem […] kapitalistischen Arbeitsethos […] und die Langeweile als Voraussetzungen für die surrealistische Begegnung mit dem Wunderbaren – was im Gewand einer Passivität suggerierender Terminologie daherkommt, ist absichtsvoll und hat Methode […].« (Seibt 2010: 70f.) »Der durch die Stadt streifende Surrealist überlässt sich nicht dem Lauf der Dinge, sondern wendet sich vorsätzlich »dem Unnützen, […] Fremden, Abstrusen und Seltsamen mit der gleichen Inten-

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nehmung werden die alltäglichen Neuköllner Gegenstände somit für künstlerische Zwecke umgedeutet oder ästhetisiert. Kiezkneipen-Ästhetik Im Kontrast zu den neu eröffneten »Szenekneipen« im Kiez stellen sich die Eckkneipen als Vorboten heraus. Diese Kneipen mit zumeist dunkelbraunem Bierthekeninterieur, Dartscheiben oder Spielautomaten bieten eine ideale Projektionsfläche für nostalgische Zuschreibungen vergangener Zeiten und der Kultur einer vermeintlichen Arbeiterklasse.25 Somit erfüllen sie Klischeevorstellungen eines authentischen und ursprünglichen Arbeitermilieus Neuköllns. Aus diesem Blickwinkel werden die Eckkneipen für neu zugezogene, jüngere Kneipenbesucher attraktiv.26 Auch die Künstlerin Stefanie macht deutlich, dass ein paar dieser älteren Kneipen trotz vieler Schließungen nach wie vor existieren und gegenwärtig für das neu zugezogene Publikum interessant werden. Stefanie, die auch den »Reuterkunstflyer« (siehe Kapitel I) gestaltet, lebt seit knapp zwanzig Jahren im Reuterquartier und beschreibt die Frequentierung der Neuköllner Eckkneipen folgendermaßen: »Als [hier] weniger los war, waren die Eckkneipen die einzigen, die überhaupt da waren, so dass man auch nicht das Gefühl hatte, dass gar kein Mensch da ist. […] [Die Kneipe] Blauer Affe ist in die Sanderstuben [andere Kneipe] gezogen. [Insbesondere] bei den Sanderstuben fällt mir auf, dass es so einen Eckkneipentourismus gibt, weil bestimmte Leute es lustig finden, weil es keine Szene-Kneipe ist. […] [D]a sitzen dann die Damen mit ondulierten Haaren und trinken ihr kleines Pils. […] Die sind halt geöffnet, und schon seit Jahrzehnten.« (Stefanie in einem Interview am 02.03.2009)

sität [zu], mit der der tätige Bürger all diese Momente aus seinem Dasein verbannt« (Bürger 1980: 128 nach Seibt 2010: 71). 25 »Es ist anzunehmen, […] daß besonders in den Arbeiterbezirken […] eine große Zahl politischer Kneipen existierten, da hier die Arbeiterbewegung traditionell besonders fest verankert war. […] Anhand der historischen Analyse zur Funktion der Kiezkneipe konnte ihre besondere Bedeutung für die Arbeiterbewegung herausgearbeitet werden. Entscheidend war die Verknüpfung der Lebensbedingungen des Proletariats vom Beginn des Frühkapitalismus bis zum Nationalsozialismus.« (Straßer 1986: 28, 37) 26 Schwibbe verweist auf die Komplexität der Kneipenkultur und warnt vor »Klischees des Kneipenidylls, [der] Stammtischphilosophie und [der] populären Alkoholpoesie«, doch interessiere »der soziale Handlungsraum, der durch eigene Kommunikationsstile, […] Rituale und Symbole bestimmt« werde (Gyr 1991: 98 nach Schwibbe 1998: 1f.).

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Das gegensätzliche Verhältnis von Szene- und Eckkneipe macht den Kiez aus einer touristischen Sichtweise umso ›exotischer‹. In diesem Zusammenhang genießt auch Toby, ein amerikanischer Experimentalmusiker, der seit 2005 im Reuterkiez wohnt, die vielfältige Kneipenlandschaft in Neukölln. Er spricht über ein thailändisches Bierlokal auf der Weserstraße, dessen Hinterraum alle Anzeichen auf die Existenz eines Bordells aufweist: »You have to ring to get in [and] it is very kitschy. There is Karaoke, TV and Thai Pop. The only woman that works there, is an older Thai. Beer is three Euros.« (Toby in einem Interview am 26.03.2009) Trotz des eher geschlossenen Charakters des Ladens wagte sich Toby in das Lokal, das er als zwielichtig beschreibt. Wie ein Abenteurer erklärt er seine Freude am Entdecken und schildert die kuriose Atmosphäre des Lokals. Er und Kerstin suchen gezielt die eher abseitigen Seiten Neuköllns, das ›Fremde‹, ›Andere‹.27 Schöne dreckige Straßen Neuköllns Oliver von der Band Ferne schildert die Vorstellungen von Berlin im Vergleich zu Perspektiven auf die Kleinstadt folgendermaßen: »Ich finde der Kiez passt ganz gut […] Ich hab mit Berlin immer so … nicht wirklich Baustellen, aber so abgerissenes Zeug, Häuserlücken [und] so Verrottetes und Dreckiges [verbunden]. Das hat mich irgendwie angezogen, das fand ich irgendwie schön. Ich kannte noch so andere Städte wie Freiburg, [aber] das fand ich immer so`n bisschen Freizeitparkmäßig: […] ziemlich durchgekehrt und nett, [aber] da konnte ich nie mehr als ein paar Tage bleiben. Und als ich das erste mal so länger in Berlin war und ein wenig rumgelaufen bin, [da] habe [ich] so Müll auf der Straße gesehen [und mir gedacht]: ›Ahh‹. [...] Das fand ich total schön.« (Oliver in einem Interview am 22.11.2008)

Seine Wunschvorstellung, in Berlin Dreck und Verrottung zu finden, wird laut Oliver in Neukölln erfüllt. Die konventionelle Auffassung davon, dass eine saubere Stadt eine attraktive Stadt ist, wodurch auch der Slogan »Berlin muss sauberer werden« vor knapp zehn Jahren begründet wurde,28 greift aus Olivers Perspektive 27 Toby ist in diesem Zusammenhang vergleichbar mit einem Touristen: »Der Tourist verfolgt mit seiner Reise in die Großstadt ein Ziel: Er sucht das divertissement, den vordergründigen Effekt; er sucht Lust ohne Gefährdung, worin er sich vom Abenteurer unterscheidet, der sich dem Unheimlichen und Fremden aussetzt.« (Kuhnle 2000: 148) 28 »›Berlin has to become cleaner‹ had been a slogan two years ago, whole political consequences made ›social sense‹: displacing migrants, the jobless, alcoholics, junkies, and street gangs from central buildings and places. And it means, in general, organizing new strategic concepts of difference. But that is no ›master planning‹ in its basic parlance, because the concepts and discussions are plurivocal: not even the ›voice of order‹ sounds

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nicht. Vielmehr steht Dreck seinem Empfinden nach in Verbindung mit großstädtischen Merkmalen und im Kontrast zu der Vorstellung einer kleinstädtischen Sauberkeit. Der beschriebene Müll in den Neuköllner Straßen stellt sich somit als reizvoll, sinnlich und schön dar. Auch der Musiker Bob (siehe auch Kapitel III) beschreibt angenehme Nebeneffekte der Neuköllner Straßen: »[...] in Neukölln everyone is very happy finding stuff, tables, wood to make tables, stereos [and] speakers [that] work fine. We found plants; it is amazing. [...] I saw so many places renovated in this area. It is so easy to find a place here, so whenever somebody moves out, they make it really out. I had to question myself whether I wanted to live there or not, [...] but it mainly felt dirty thinking about me living in such a luxurious place. With one place I had a really big problem. It was in the Sonnenallee, a Dachgeschoss. Something like that would be at least 5000 Dollars in New York. I could afford it, but I would feel strange, if I get home and everything feels so fancy. This [apartment] would make more sense in Mitte. [But here] surrounded by all of these people, that could never afford something like this [and] who live in the same building [with] a shitty backyard, and you would be on a different level than everybody else [it would make no sense]. And I wanted to live on the same level with people that I am living with. I saw these nice, renovated places and they were surrounded by things, that weren’t so nice and I kind of liked the things that weren’t so nice more than the very pretty things. That is another reason why I moved here also because everbody that was around felt similar. It is obvious, that they don’t care about money so much, [...] and seeing [...] people, that are more interested in art and culture here. So the gentrification process is obvious, but it is inevitable. Even on my street I have kind of seen something, that I have seen in Mitte. It is less about galleries and shopping places, but icecream cafés and coffee bars, that play minimal quiet techno. [...] I like ice cream and good coffee – but so many, is this necessary?« (Bob in einem Interview am 23.09.2009)

Vergleichbar mit einem Schlaraffenland für Möbel-, Pflanzen- und HiFi-Geräte bieten die Straßen Neuköllns für Bob Einrichtungsutensilien, die seinen Erfindungsreichtum anspornen: Halb vergammelte Topfpflanzen päppelt er wieder auf, findet für alte Lautsprecher Gebrauch und bastelt mit aufgefundenen Holzplatten. Zwar sagt er aus, dass er sich eine sanierte, luxuriöse Wohnung hätte leisten können, doch fühlte er sich schlecht bei dem Gedanken daran, eine herausgeputzte Wohnung zu bewohnen, deren Umfeld seinem Empfinden nach größtenteils eben nicht schön ist. Er betont, dass er die eher ›unschönen‹ Dinge schätzt und stellt die Praktiken des Sammelns und Wiederverwertens im Kiez in einen Zusammenhang mit den Ansichten der Kiezbewohner, von denen er annimmt, dass Geld für sie keine Rolle spielt. consensual, because the social and political elites are as heterogeneous as their city.« (Kaschuba 2006: 241)

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Vielmehr schreibt er ihnen ein Interesse an Kunst und Kultur und einen damit in Verbindung stehenden kreativen Umgang mit ihrer Neuköllner Nachbarschaft zu. Im Zusammenhang mit beobachteten Gentrifizierungsprozessen, die er an den vielen neu eröffneten Cafés und Ladenlokalen festmacht, die durchweg Minimal Techno spielten, kritisiert er eine allgemeine Homogenisierung des Bezirks, wie sie auch Stefan und Takanori in Bezug auf Mitte beobachten. Recycling Spaces In seinem Insekteum29 in Neukölln treffe ich den Musiker, Künstler und Insektenforscher Inox Kappell.30 Der Laden wird ruhig beschallt von der Musik des Projekts Reval31, welches sphärisch-elektronische Klänge mit Aufnahmen von Grashüpfern, Heuschrecken und Sumpfzikaden vermischt, wie er mir erklärt. Die Klänge der Insekten haben sich auch auf den Aufnahmen des Interviews abgezeichnet, das ich ein paar Wochen später transkribiere. Er schildert die Einbettung seiner Lebenswelt in die Umgebung Neuköllns: »Am liebsten würde ich schon hier in Neukölln bleiben. Das hat ja auch damit zu tun, dass ich so Brachräume suche, wo ich selber was gestalten kann oder wo Innenräume noch bezahlbar sind. […] Ich arbeite wie eine Termite [und] habe ’mal zugeschlagen: Ein Anzugsladen hat zugemacht, und dann stand das brach, und dann habe ich das für 1000 Mark abgekauft, verändere die Klamotten [mit] so Ösen, weil das so insektoid ist. […] Es ist ja auch naheliegend, es nicht wegzuschmeißen, sondern es noch mal zu nutzen, und die Qualität war damals einfach viel besser. Heute kannste [Kleidung] nach wenig Tragen wegschmeißen und dann unterstützt das noch irgendwelche Kinderarbeit.« (Inox Kappell in einem Interview am 18.12.2008)

29 Das Insekteum, ursprünglich ein Insektenmuseum, gründete Inox in Wiesbaden. Nach dessen Schließung in der Kreuzberger Katzbachstraße existiert es zum Zeitpunkt des Interviews in einem Ladenlokal im Reuterquartier, das ehemals als Bordell genutzt wurde und das ihm über die Zwischennutzungsagentur vor ein paar Jahren vermittelt wurde. Im gut isolierten Keller finden kleine und auch laute Konzerte statt, die mit Hilfe eines E-Mail-Verteilers ankündigt werden. Im Ladenlokal, wo er auch selbst gestaltete, recycelte Kleidung verkauft, hält er Vorträge über die Lebenswelt von Insekten. Außerdem tritt er in Insektenhappenings auf, in denen auch seine eigene Musik verarbeitet. Seine elektronische Musik vertreibt er sowohl auf einem japanischem als auch auf seinem eigenen Label namens Urknall. 30 URL: www.inoxkapell.de, www.morph-music.com (letzte Zugriffe am 23.02.2013). 31 URL: http://home.pi.be/~spk/spktheinsectmusicians.htm (letzter Zugriff am 23.03.2013).

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Inox sieht in der Lebenswelt der Insekten ein Vorbild für seine eigene Lebensgestaltung: Kleidung wird aufgeputzt und wiederverwertet, so dass einerseits ein ökologischer Kreislauf beibehalten wird. Um die Stücke mit einer insektenähnlichen Ästhetik auszustatten, werden sie mit Ösen dekoriert. Den Recyclingcharakter der Lebenswelt der Termiten, den er für sich als Vorbild betrachtet, überträgt er auf den Kiez, der nach seiner Sichtweise durch die Brachlandschaft noch Raum zur Selbst- und Umgestaltung bietet. Sowohl Oliver, Bob und Inox als auch weitere Musiker32 erkennen die Attraktivität und Schönheit in Gegenständen, die andere wegwerfen oder als abstoßend empfinden würden. Doch mit der Sperrmüllästhetik sind kreative Prozessen verbunden, die in einen Zusammenhang mit ihrem Wohnort Neukölln gestellt werden. Der Gebrauch von Abfall in Kunstwerken geht seit den 1960er Jahren einher mit einer ironischen und nostalgischen Haltung gegenüber Materialien, die als wertlos betrachtet wurden sowie einer allgemeinen Abwehrhaltung gegenüber Konsum (vgl. Vergine 2007: 9-12, vgl. Windmüller 2002: 242).33 Aus Sicht der Kunstgeschichte wurde Müll34 als Symbolträger für das Schöne im Hässlichen erkannt und fungierte als Zeichen für Kreativität.35 Unter dem Begriff »scrounging«36 stellt

32 Auch als ich den Experimentalmusiker Jeffrey (Kapitel I sowie IV) das erste Mal für ein Interview treffe, erklärt er mir als erstes, dass er die Hose und die Brille, die er gerade trägt, sehr billig in einer Trödelhalle in Neukölln erstanden hätte. 33 Mit dem Begriff Upcycling werden gegenwärtig Praktiken der künstlerischen Wiederverwertung von Abfall durch Objekt- und Modedesigner beschrieben. Schleicher konstatiert: »Aus Wegwerfprodukten teure Werke zu erschaffen, gehört in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts zu einer der beliebtesten Strategien. Die Dadaisten Kurt Schwitters, Arman, Joseph Beuys oder Tony Cragg beschäftigten sich mit dem Kehricht der Konsumgesellschaft.« (Ebd. 2012: 4) 34 »We also know, that trash is a welter of symbols; it is risk and fascination, foretold catastrophe and seduction, the beauty of the ugly and the memory of the human. Sometimes trash is the sign of a creativity that is as threatening as it is ambiguous, since rubbish is unpredictable and therefore inescapable.« (Vergine 2007: 12f.) 35 Windmüller schreibt dem Müll »sensuales und ästhetisches Potenzial« zu und stellt ihn in einen Zusammenhang mit Wolfgang Welschs Begriff der Anästhetik, welcher nicht als Gegensatz zur Ästhetik zu sehen ist, sondern als »Kehrseite der Ästhetik«, die durch die »massive (ästhetische) Präsenz des Abfalls« hervorgerufen wird (Welsch 1991: 68 nach Windmüller 2002: 242, 284). 36 Ferrell portraitiert in seiner Ethnographie Menschen, deren Alltag bestimmt ist vom Sammeln, dem Finden wertvoller Gegenstände und dem Einlösen von Pfandflaschen, was er als »scrounging« zusammenfasst, für welches ein »street knowledge« vonnöten ist. Er bezeichnet diese Tätigkeiten auch als »[i]mprovisations on the Everyday [...] to undermine

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Ferrell den Lebensstil heraus, der in einem »harvesting«, also einem ›Abernten‹ von in den Straßen aufgefundenen Gegenständen, besteht (vgl. ebd. 2002: 73). Diese Praktiken stehen in einem eindeutigen Zusammenhang mit Autonomie und einer Neuerfindung sowie kreativen Gestaltung des Alltags, die er in seiner Ethnographie abschließend mit improvisiertem Jazz vergleicht (vgl. ebd., 204). Sind Ferrells »scroungers« für eine Sicherung eines ausreichenden Lebensstandards mehr oder weniger abhängig von dem noch brauchbaren Abfall, den sie in den Straßen der Stadt finden, spiegeln die sperrmüllorientierten Praktiken und die recyclingfreudigen Ansichten der Musiker im Gegensatz dazu lediglich ästhetische Ansätze der Lebensgestaltung innerhalb ihres Umfelds Neukölln wider. Die Begeisterung Olivers für Müll, Kerstins Perspektive, die das Drogenmilieu um den am Hermannplatz als anziehend empfindet, Bobs Sammelleidenschaft für Sperrmüll auf den Straßen, sprich: alle Gefühle, welche die interviewten Musiker gegenüber einer vorgestellten Straßenkultur Neuköllns zum Ausdruck bringen, beziehen sich auf Ästhetisierungen des scheinbar Hässlichen. Diese sind charakterisiert durch eine sanfte Form der Subversivität und spiegeln ein vermeintlich authentisches Moment stilistischer Kreativität wider, das im Sinne früher Subkulturforschungen einer kommerziellen Diffusion zu entgehen scheint (vgl. Brown 2003: 213 nach Whelan 2006: 60, vgl. Hebdige 2005: 121).

the carefully constructed cultural status of consumption and consumer goods [...]« (ebd. 2002: 203).

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3. ›ANDERE ‹ O RTE

IN

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Heimatlos in Neukölln Der US-Amerikanische Filmkünstler und Improvisationsmusiker Tim Blue37 beschreibt seine gegenwärtige Heimat Neukölln folgendermaßen: »My hometown in California is more home, than everywhere else I have ever lived. But look at this neighbourhood! Eighty percent of this neighbourhood don’t feel at home. That’s just part of life, and there’s just something very beautiful about it, when you think about what people make, when they are not at home: [Not being at home] makes me much more productive, because it’s like – I don’t want to say ›my work is my life‹ or something – but it’s in some ways. Making work is the closest I feel to being home; in making music, I’m someway going home in my head, you know.« (Tim Blue in einem Interview am 15.09.2009)

Zweifelsohne ist sein kalifornischer Geburtsort seine Heimat. Seiner Beobachtung nach leben viele Menschen gegenwärtig in Neukölln, ohne das Gefühl, dort ›verwurzelt‹ zu sein. Darin sieht er etwas sehr Wunderbares. Die Frage nach einer Heimat ist ihm zufolge mehr an Möglichkeiten des kreativen Ausdrucks gebunden als an einen konkreten Ort, weshalb ihn seine gegenwärtige Situation in Neukölln seiner Wahrnehmung nach auch produktiver mache.38 Er geht davon aus, dass seine eigenen positiven Erfahrungen von Kreativität auf die Erfahrungswelt der Bewohner Neuköllns übertragen werden können, die er gleichsam heimatlos betrachtet.

37 Siehe auch www.naturespunk.blogspot.com (letzter Zugriff am 21.03.2013) 38 Dieses Empfinden spiegelt die in Kapitel III untersuchten Perspektiven der DubstepAkteure im Kontext dislokalisierender Erfahrungen wider.

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Weniger angenehm empfand der japanische Multimediakünstler Takanori39 seinen Umzug von Tokyo nach Neukölln 2002, was er folgendermaßen beschreibt: »Erstens wollte ich nicht in Japan sein, und ich fand Berlin nach [dem Fall der] Mauer interessant, [zum Beispiel sehr viele] squats. Es gab einen Artikel im Kunstmagazin über die Szene. […] Bereits in Japan bestand ein bestimmtes Bild zu Berlin, das sich auf besetzte Häuser der Nachwende der deutschen Hauptstadt beziehen. [...] In Neukölln war in der Nacht niemand auf der Straße; [es herrschte eine] komische Atmosphäre. Manche deutsche Freunde haben gesagt, dass hier Ghetto ist, und die wollten hier niemals leben. Jetzt wohnen viele Japaner, die früher in Prenzlauer Berg gewohnt haben, [hier]. [Es] hat sich hier sehr schnell [ver]ändert, [seit] ich […] hier hingekommen bin. […] Und mein erster Eindruck war, hier sieht es aus wie im Ausland, auch wegen der vielen anderen Migranten; also ein asiatischer Ausländer im Ausland im Ausland. Ich habe mich damals irgendwie einsam gefühlt und konnte hier nicht wohnen. […] Für mich ist Neukölln noch immer angenehm, […] aber in fünf Jahren? Berlin ist immer noch interessant, viele interessante Leute […], aber ich glaube nicht, dass sie in zehn Jahren noch sein werden. Ich habe das in New York auch gesehen: [Da], wo Stadt etabliert ist, […] gehen die Künstler weg. Wenn Neukölln [sich] verändert hat, gehen Künstler in einen anderen Kiez, aber zum Schluss noch weiter. [Ich] kann mir vorstellen, wie interessant Mitte [kurz nach der Wende] war. Neukölln wird vielleicht auch wie Mitte. Und Berlin insgesamt [betrachtet] wird irgendwann auch capital city. Im Vergleich zu London geht das noch. Bukarest ist sehr interessant, Rumänien ist seit 2007 [in der] EU und langsam […] gibt’s da auch [ei]ne Bewegung.« (Takanori in einem Interview am 10.12.2008)

Durch japanische Medien, die über die Berliner Hausbesetzer- und einer damit in Zusammenhang stehenden Kunstszene berichteten, hatte sich Takanori bereits vor seiner Ankunft in der Bundeshauptstadt ein Bild von Berlin gemacht. Das kurz nach der Wiedervereinigung kursierende Idealbild des Bezirks Mitte als Eldorado für

39 Er wurde 1971 in Japan geboren und studierte dort Musikwissenschaften. In Berlin begann er im Sinne eines intermedialen Ansatzes zu zeichnen, zu malen und Klangkunst in Form von Installationen zu gestalten. Zu seiner Existenz als Künstler sagt er: »Manche Leute denken, dass ich Musiker bin, aber ich finde selber nicht. Ich kann Musiker sein, aber mache auch Videos und Zeichnungen [...]. Damals wollte ich mit schwachem Licht arbeiten. Das, was ich mache, sieht dunkel aus, aber wenn man genau [hin]sieht, wird es immer weniger dunkel. Auch mit Klang [ist das] so, wenn man genau hört […]. Das wollte ich auch für die Augen, [also visuell] machen, deswegen habe ich [die Installation] mit dem Licht gemacht.« (Takanori in einem Interview am 10.12.2008) Takanori hat durch Radio Aporee, einen Laden in der Lenaustraße, O Tannenbaum, total artspace, den damaligen Plattenladen le petit mignon sowie das Kunstfestival »48 Stunden Neukölln« direkte Kontakte zum Kiez herstellen können – primär zum Reuterquartier (ebd.).

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freie Kunst veranlasste seinen Umzug nach Berlin. Seine Stilisierung des Quartiers als »Ausland« veranschaulichen Eriksens Definition des »othering«40. Des Weiteren identifiziert Takanori Neukölln ausdrücklich als Ort interessanter künstlerischer Praktiken und vergleicht den Kiez mit dem Bild, das er vom Bezirk Mitte der Nachwende hat. Demzufolge prognostiziert er auch, dass sich Neukölln als Teil der Metropole Berlin zu einem »etablierten« Bezirk entwickelt. Er liefert eine transparente Darlegung der Regelmäßigkeit jener städtischen Transformationsprozesse, die er als selbstverständlich erachtet. Mit der Etablierung der einzelnen Berliner Bezirke ist ihm zufolge auch die Verdrängung künstlerischen Freiraums sowie schließlich der Wegzug der Künstler verbunden. Diese Prozesse werden in Takanoris Perspektive auch Neukölln treffen, weshalb er sich bereits Gedanken über einen Umzug nach Rumänien macht.41 Race und class in Neukölln Der US-amerikanische Kontrabassist und experimentelle Komponist Christopher Williams (siehe auch Kapitel IV) zog im Sommer 2009 in den Reuterkiez, den er mit einem Bezirk in Barcelona folgendermaßen vergleicht: »It reminds me a lot of my neighbourhood in Barcelona in the sense that you do have lots of young people and artists, but you have also other elements: Older Berliners, you have the market and immigrants, it is a really nice mix, it seems sustainable, so it’s cheap a lot of fun places to hang out, I like to hang out in the park I like to go to a bunch of bars in the Reuterkiez, I like going to the Turkish market, I like exploring: It seems there is enough mysterious corners, that keep me entertained.« (Christopher in einem Interview am 06.08.2009)

Christopher schätzt somit das junge, künstlerische Umfeld, das mit anderen Elementen ein »really nice mix« ergebe. Als jene anderen Elemente benennt er ältere Berliner und Immigranten, die in einem Atemzug mit dem türkischen Wochenmarkt am Neuköllner Maybachufer genannt werden. Außerdem geht mit der Vorstellung des Marktes die Idee des Entdeckens einher. Christopher ist erst ein paar Wochen in Neukölln. Vergleichbar mit Toby bekennt er sich als Entdecker und vermutet, dass es in Neukölln genug geheimnisvolle Ecken zum erkunden gibt. Empfand Takanori die Neuköllner Gegend bei seiner Ankunft 2002 als unangenehm, wirkt sie auf Christopher im Jahre 2008 anziehend, inspirierend und unterhaltsam.

40 »[It] continued the ›othering‹ enterprise of colonialism by maintaining an indefensible, asymmetrical ›distinction‹ between ›Us‹ and ›Them‹.« (Eriksen 2001: 138) 41 Der Umzug nach Rumänien wird von ihm auch deshalb in Erwägung gezogen, da seine Freundin, die er in Berlin kennen lernte, aus Bukarest stammt. Auch sie ist Künstlerin.

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Am Beispiel experimenteller Musik liefert der studierte französische Künstler Stéphane42 einen Erklärungsansatz für die Einbettung künstlerischer Praktiken in Neukölln: »I think, making art in Neukölln is also keeping this gap between the Turkish surrounding and experimental music, it is strange. It is for me the most interesting thing about [...] moving [to] Neukölln and why I keep distance, mostly [to] Neukölln, I love this Turkish ambience, this place, [but] I don’t know what to think about it.« (Stéphane in einem Interview am 24.02.2009)

Stéphane drückt Unsicherheit aus bei der Formulierung des Verhältnisses zwischen experimenteller Musik und einer Neuköllner Umgebung und verdeutlicht eine klare Trennung zwischen türkischen Immigranten und den neuzugezogenen Künstlern sowie deren ästhetischen Ausdrucksformen. Ähnliche Zusammenhänge schildert die Klangkünstlerin Monica. Vor etwa einem Jahr zog mit ein paar anderen bildenden Künstlern und Klangkünstlern von einem Friedrichshainer Atelierhaus nach Neukölln. Dort bezogen sie ein Hinterhaus in der Elsenstraße, das Arbeitsräume für Künstler und Workshops bietet und sich als beliebter Veranstaltungsort für experimentelle Konzerte gemausert hat.43 Monica beschreibt ihr Verhältnis zu ihrer Nachbarschaft folgendermaßen: »I was born in Iran [and] left when I was eleven. Then I went to the US, then I studied there. [...] In New York I studied for five years something similar to media art, but it was kind of like performance art and then I started to make interactive sound installations [...].I also lived in Harlem, which was like the black neighbourhood. I really liked it. [But] pretty soon the rents go up and they get pushed out. [...] I think it is partly the case also here, [...]. But I think, [that] the Turkish people are somehow more rooted than other people were. So I don’t know, if it is so easy to push them out like it has happened in other places in Berlin. But if you see in Kreuzberg there are still so many Turkish people. [...] But there [in Harlem] it was kind of a 42 Stéphane ist Ende 20 und zog nach seinem Kunststudium in Nancy für ein Auslandsstipendium 2005 nach Berlin. 2006 zog es ihn zusammen mit seiner Freundin, die auch Künstlerin ist, in die Neuköllner Weserstraße. Er erklärt den Umzug aufgrund der günstigen Mieten und vieler dort ansässiger Freunde. Neben seinem Fokus auf bildender Kunst widmet er sich in seiner Freizeit mehreren Experimentalmusikprojekten. Daneben benennt er auch »sense of place« als ein wichtiges künstlerisches Konzept für seine Installationen. Zwar spielt dieses Konzept eine Rolle bei seinen Installationen, jedoch bringt er dies nicht in eine direkte Verbindung mit seinem gegenwärtigen Umfeld, Neukölln, sondern bezieht es auf jeweilige Kontexte von Galerien, in denen er seine Kunstwerke installiert (vgl. Stéphane in einem Interview am 24.02.2009) 43 Infos über den Veranstaltungsort NK vgl. Stefans Aussagen zuvor in diesem Kapitel.

106 | »T IEF IN N EUKÖLLN « different interaction, because most of the work that I made was about this kind of gentrification of Harlem. But here I have a harder time to do it. It is partly like a language barrier and a cultural barrier, which wasn’t in Harlem, where I was doing a radio station for the internet seven years ago, that put out a call for people in the neighbourhood to come on the radio station. And people did. There it was not a cultural or not a languare barrier. I can understand working class Americans better than working class Germans and also the racism is really kind in reverse, at least for me that I am not really white: [...] The people, trusted me more than they do here [...]. The neighbours who live here in this courtyard [...] don’t want us [and] don’t understand, what we do [and] are not interested in what we do, because somehow they feel threatened by the fact that there are foreigners who moved in: Italiens, and freaks [...]. There are a lot of Turkish people, but mostly [...] working class Germans. [...] They don’t know, what is going on here, and I would find it really interesting if they stepped in just once and attend one gig or so. It would be a funny dream or so. [...] Have you seen the garden in the front. [...] I thought about making a film about this. I am sure, that this is his art project, he spends every day in there, it is important for him. It is not really so different from what I do. In a sense. I don’t feel it is really so different. So for me it would be kind of interesting out of all people from the front to talk to him and ask him, what is so important for him. … It is not to make fun. I should ask him […].« (Monica in einem Interview am 23.06.2009)

Ihr Leben im New Yorker Bezirk Harlem vergleicht die im Iran geborene Künstlerin mit ihrer gegenwärtigen Situation und erklärt die Gemeinsamkeiten zwischen Harlem und Neukölln in einer multiethnischen Bevölkerung sowie in der Ausgrenzung spezifischer Einwanderungsgruppen.44 Vergleichbar mit Andrews Perspektive überträgt sie ihre städtischen Erfahrungen eines US-amerikanischen Bezirks mitsamt dessen spezifischen Gentrifizierungsprozessen auf Neukölln, was zu hinterfragen bleibt und in Kapitel V diskutiert wird. War es in Harlem die amerikanische Arbeiterklasse und die afro-amerikanische Bevölkerung, mit der Monica in Interaktion treten wollte, ist es in Neukölln nun die türkische Bevölkerung und die deutsche Arbeiterklasse, die sie beschäftigt. Insbesondere in Bezug auf die Interaktion mit der deutschen Arbeiterklasse benennt sie Schwierigkeiten. Neben sprach44 Russell Sharman leitet sein Buch mit der Schilderung der multiethnischen Bevölkerung und der Transformationsprozesse Harlems ein: »By the 1980s and 1990s East Harlem had become one of the most stigmatized communities in the city. With the introduction of crack cocaine to the informal urban economy [...] 40 percent of its residents lived below the poverty line [...]. [...] A decade later East Harlem continues to attract new immigrants who slowly transform the community in the subtle, ongoing work of putting down roots. Mexicans join the well-entranched Puerto Ricans to radically realign the nationalist divisions of the Latino community. […] And, finally, the gradual appearance of downtown money and upwardly mobile but cash-poor whites signals the latest and most pervasive migration yet.« (Ebd. 2006: xii)

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lichen Barrieren zwischen ihr und ihrer unmittelbaren Umgebung identifiziert sie kulturelle Aspekte als Hinderungsgründe. So erfährt sie in Neukölln Rassismen und fühlt sich – im Kontrast zu ihren Erfahrungen in Harlem – aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert. Trotzdem würde sie sich gerne auf künstlerische Weise ihrem nachbarschaftlichen Neuköllner Kontext annähern. Sich über ihren Nachbarn lustig zu machen, liegt ihr dabei fern. Trotzdem erscheint ihre Idee, die vermeintliche Arbeiterklientel ihrer Nachbarschaft in ihren künstlerischen Praktiken zu portraitieren konstruiert. Monica verallgemeinert die Vorstellung einer deutschen Arbeiterkultur, die sie in Neukölln lokalisiert. Doch als authentische Konstante ihres Umfelds inspiriert die Vorstellung von einer fest verwurzelten Neuköllner Arbeiterklientel Monica auch zu künstlerischen Praktiken und stellt sich als persönliche Herausforderung für die Klangkünstlerin dar. Der US-amerikanische Klarinettist und Saxophonist Andrew (siehe auch Kapitel IV) kam 2009 nach Neukölln, nachdem er ein paar Jahre in Prenzlauer Berg wohnte. Zu seinem neuen Wohnort sagt er: »The market at the Maybachufer – it was a mission to go there. [...] I am kind of stunned about the affordability of this neighbourhood, and the quality of things; [...]. I was living in a Hispanic neighbourhoofd in the US, so to come here and be around Arabic people, Turkish people and people from Africa, it’s great. I don’t have any Arabic friends, but we are just around in the same way. Prenzlauer Berg is very international, but in a very Euro[pean] way.« (Andrew in einem Interview am 30.07.2009)

Wie fast alle befragten Musiker bezeichnen Andrew und Christopher den Wochenmarkt am Maybachufer als Hauptreferenzpunkt des Kiezes. Als studierter Experimentalmusiker suchte Andrew von Los Angeles aus bewusst eine Residenz in Europa45 und kam nach einem Stipendium in Stuttgart nach Berlin. In Los Angeles lebte Andrew in einem lateinamerikanischen Stadtbezirk. Der dortige kulturelle Wohnort entspricht seiner Auffassung nach seinem gegenwärtigen Leben in Neukölln mit arabischen, türkischen und afrikanischen Einwohnern. Andrew zog ausdrücklich nach Europa, um hier experimentelle Musik zu machen und sich mit anderen Musikern auszutauschen. Er schätzt eine allgemeine Internationalität seines ehemaligen Wohnbezirks Prenzlauer Berg, die er im Kontrast zu Neukölln jedoch 45 »I was living in Los Angeles. The experimental music scene in the world circulates pretty well now, esp. with the interent, and so I was pretty aware of what was happening in Germany and in Berlin in particular. [...] I was actually looking for residence in Europe, and I lived in Holland, and then I applied for [ein Stipendienprogramm]. I had a greater interest in Germany than in Holland, […] and then I was in Stuttgart, but even when I was there, Berlin was the city I visited the most outside of Stuttgart [...].« (Andrew in einem Interview am 30.07.2009)

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als »europäisch« empfindet. Andrew verdeutlicht ein klares Bedürfnis nach einem anderen Umfeld als jenes in Prenzlauer Berg. ›Andere‹ Klanglandschaften in Neukölln Die Brasilianerin Anna46 fühlt sich in den dreieinhalb Jahren in Berlin, von denen sie die letzten zwei Jahre in Neukölln wohnt, immer wohler. Zuvor lebte sie in Wien, wo sie Komposition und Dirigieren studierte. Gegenwärtig arbeitet sie in erster Linie mit aufgenommenen Fieldrecordings. Dieser künstlerische Ansatz schlägt sich auch in der Wahrnehmung des Kiezes nieder, welche sie folgendermaßen schildert: »Das passiert bei mir […], dass ich mich aufgrund der Geräusche orte. Das muss sehr schnell passieren […]. Dann erkenn‹ ich das an und denke mir ›passt schon‹, aber wenn dann was Komisches klingt, dann sage ich: ›Das gehört nicht dazu, was ist das?‹ […] Ich könnte mit geschlossenen Augen Straßen überqueren, […] vertraue meinen Ohren viel mehr als meinen Augen. […] Das sind tatsächlich neue Klanglandschaften hier, […] aber auch visuelle. Dieser Raum 18, […] ich war so [verrückt] auf diese Orte, ich musste da unbedingt spielen. […] Ich habe hier ganz viele arabische Nachbarn und auch türkische und die sind ganz gemischt, und ich hab hier schon mal einen Hochzeitszug erlebt und ich habe nicht gewusst, woher die Musik kommt [und] das aufgenommen und der Freundin vorgespielt, die aus der Türkei ist, und die meinte: ›Das ist Hochzeitsmusik‹. Ich kenne die Leute persönlich nicht. Ich würde gerne arabisch singen. […] Ich bin total neugierig, auf neue Kontakte [und] sehe die Frauen mit den Kopftüchern und würde gerne wissen, was da so abgeht. In Wien gibt’s das nicht so […]. Dieses Chickenhaus hat eröffnet, und die machen so panierte Hähnchen [und] drinnen machen die so Musik, die man nur hören würde, wenn man nach Libanon fahren würde: man muss nicht da hinreisen. […] [D]er Ort [Neukölln] hat mich verschluckt. Ich bin jetzt so […] eingebunden, wie ich noch nie in [Berlin] war. Dass ich hier Freunde und Kneipe habe und auch wirklich Leute treffe, das habe ich in den letzten Jahren in Brasilien gehabt, [aber] in Wien nie. […] Ich fühle mich zu Hause, wo ich bin. Das ist für mich normal. Ich bin sehr oft umgezogen. In Brasilien habe ich schon in drei Städten gewohnt und hier schon in zwei. […] 46 Anna hat in Brasilien erst Publizistik studiert, dann in Wien, wo sie neben dem Studium auch Gehörbildung unterrichtete. Über ihre Familie sagt sie: »Meine Familie ist musikalisch, mein Onkel ist auch Komponist und […] auch nach Deutschland gegangen. Meine Mutter ist Geigerin, mein Vater ist Arzt, aber spielt Geige und Gitarre.« (Anna in einem Interview in einem Interview am 08.06.2009) Ihre Arbeiten, für die sie auch eigene Audio-Aufnahmen verwendet, sind multimedial. Für eine Promotion arbeitet sie in einem Studio an einer Berliner Universität, gibt Workshops für spezifische softwares und legt als DJane Funk, Samba Funk und Samba Rock in zwei Läden außerhalb des Kiezes auf, meidet jedoch Techno (vgl. ebd.).

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Man bindet sich an das lokale. Aber hier ist es krass, als ob ich hier geboren wäre, der Informationsaustausch. […] Ich wollte unbedingt ins Ausland. […] Und das Land Österreich ist gegenüber Ausländern … hier ist es […] das Gegenteil, und ich fühle mich immer wohler hier und mehr dazugehörig. Die Leute, mit denen ich Kontakt habe, sind auch Deutsche, aber die meisten sind aus anderen Ländern und ich sehe, dass sie gewohnt sind, nicht zu Hause zu wohnen, dass sie Erfahrungen mit anderen Ländern und ganz unterschiedlichen Leuten haben, und das ist für mich interessant: Man lernt zu kommunizieren.« (Anna in einem Interview am 08.06.2009)

Anna schätzt jene ethnische Heterogenität und betont ihre Neugierde an den benannten Kulturen in Neukölln und den mit diesen verbundenen musikalischen Ausdrucksformen. So würde sie auch gerne arabisch singen lernen. Ihre vielen Reisen, ihre verschiedenen Wohnorte, das – buchstäblich – ›grenzenlose‹ Interesse und die Vorstellung von kultureller Pluralität verkörpern eine kreative kosmopolitische Sichtweise.47 Die akustischen Eigenheiten des Kiezes werden wie wertvolle Klangobjekte gesammelt und geschätzt. Die Begeisterung für die Vielfalt der Sounds drückt auch eine ästhetische Achtung einer vermeintlichen Neuköllner Klanglandschaft aus, in der sie vor allem ›anderen‹, ›exotischen‹ Kulturen ihr Ohr schenkt und diese als wahrhafte, authentische Merkmale des Kiezes betrachtet.48 Für die Eingewöhnung in den Kiez spielte die auditive Wahrnehmung für sie eine große Rolle. Unter dem Begriff »Klanglandschaften« beschreibt sie ihre auditive Wahrnehmung des Kiezes wie aus der Perspektive einer hörbewussten Soundscape-Komponistin, durch die die alltäglichen Klänge, wie die Musik im Brathaus 47 »Cosmopolitans insist on the human capacity to imagine the world from an Other’s perspective, and to imagine the possibility of a borderless world of cultural plurality. We often label as cosmopolitan individuals with a certain subjective capacity to enjoy cultural diversity and travel; but because cosmopolitanism is itself a product of creativity and communication in the context of diversity, it must ultimately be understood not merely as individual, but as collective, relational and thus historically located. […] Unlike the intrepid anthropological traveller or the world citizen, cosmopolitans are normally associated with cosmopolitan spaces, and with the creation of a transcendent culture beyond the local. Indeed, they are often accused of disdaining the local.« (Werbner 2008: 2, 48) 48 Die Musik im Grillhaus, welche man nur hören könnte, wenn man in den Libanon fahren würde, verkörpert für sie signifikante wahrhafte Merkmale ›einer‹ libanesischen Kultur. »[›Authenticity‹] focuses a way of talking about music, a way of saying to outsiders and insiders alike ›this is what is really significant about this music‹, ›this is the music that makes us different from other people‹.« (Stokes 1994: 7) »[…] when I speak about the exotic cuisine, they are not eating the exotic cuisine in Calcutta. They’re eating it in Manhattan. […] But I am nevertheless saying that we shouldn’t resolve that question too quickly. It is just another face of the final triumph of the West.« (Hall 1991: 33)

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und die Hochzeitsmusik eine ästhetische Interpretation oder Musikalisierung erfahren.49 Vergleichbar mit Monicas Bedürfnis, sich mit der Gartenarbeit ihres Nachbarn auseinanderzusetzen, nähert sich auch Anna auf künstlerische Weise ihrem Neuköllner Umfeld an.

4. Z USAMMENFASSUNG UND D ISKUSSION »Zoning, for example, which is responsible – precisely – for fragmentation, break-up and separation under the umbrella of a bureaucratically decreed unity, is conflated with the rational capacity to discriminate. The assignment of functions, and the way functions are actually distributed ›on the ground‹, becomes indistinguishable from the kind of analytical activity that discerns differences.« LEFÈBVRE 1991: 317 »The production of a neighbourhood is inherently colonizing, in the sense that involves the assertion of socially (often ritually) organized power over places and settings that are viewed as potentially chaotic or rebellious.« APPADURAI 1996: 183F.

Das musikalische Geschehen spielte sich in den Perspektiven der interviewten Aussagen zu Beginn meiner Forschung 2008 primär innerhalb des durch Kottbusser Damm und Sonnenallee eingegrenzten Gebietes Neuköllns ab. Die Schilderungen der Lagebeschreibung Neuköllns sind in der Wahrnehmung der Musiker von einem ›Innen‹ nach einem ›Außen‹, von einem »Norden« zu einem »Süden«, vom »soft« Reuterquartier zum »deep« Neukölln oder von der Vorstellung eines ›beinaheKreuzbergs‹ (»Kreuzkölln«) geleitet. Anhand dieser Ortsbezeichnung wird deutlich, dass die Ideale, die ursprünglich mit Kreuzberg in Verbindung gebracht wurden, auf Neukölln übertragen werden. Im Laufe der Zeit wurden auch andere Quartierszellen, wie zum Beispiel das Rollbergviertel sowie der Flughafenkiez, für die 49 Nach Rüsenberg ziehen soundökologische Komponisten ästhetische Vorteile aus lärmüberfluteten Landschaften. Er versteht unter dem Begriff »Soundscape-Komposition« die Absicht eines Künstlers, Aufnahmen eines bestimmten Ortes zu »›musikalisieren‹« (ebd. 2003: 2).

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Musiker als Orte musikalischer Praktiken bedeutsam. Die musikethnologische Feldforschung begleitete die Musiker ab Mitte 2009 auch in anderen Kiezen und weitete ihr Feld somit parallel zu den geographischen Trends aus.50 Die Auseinandersetzung der befragten Akteure mit dem Neuköllner Raum verdeutlicht deren Wahrnehmung, an einer Gestaltung des Kiezes aktiv mit beteiligt zu sein. Zwar nehmen die Musiker nicht bewusst an der stadtplanerischen Erschließung Neuköllns teil, doch erfolgt eine Charakterisierung der einzelnen Neuköllner Quartiere, von denen sie sich abgrenzen oder mit denen sie sich identifizieren. Die geographischen Zuschreibungen sind somit auch an symbolische Merkmale des Kiezes gekoppelt, die für die Lebenswelten der Neuköllner Musiker eine Rolle spielen. Die gesellschaftliche Aufteilung der Stadt in Zonen ist neben Ungleichheiten auch verantwortlich für Vorstellungen von gesellschaftlichen Unterschieden (vgl. Zukin 1991: 268) zwischen Einwohner der Kieze. So suchen die Akteure das »Andere«51 in Abgrenzung zu anderen Kiezen, wie Friedrichshain, Prenzlauer Berg oder Mitte, die sie wahlweise als bürgerlich, familientreu, institutionalisiert, aufgeräumt oder anderweitig gleichgeschaltet und homogen im Kontrast zu Neukölln darstellen. Eine bürgerliche und provinzielle Homogenität, von denen sich die Musiker am Beispiel anderer Kieze abgrenzen, steht in diesen Sichtweisen im Kontrast zu einer ethnischen Heterogenität Neuköllns und einer damit verbundenen Weltoffenheit.52 Sowohl Stefan und Kerstin als auch andere Musiker wie Oliver und Johannes von der Band Ferne üben Kritik an den Bewohnern Prenzlauer Bergs 50 Zu Beginn der musikethnologischen Forschung gehören alle Gebiete – bis auf die Region der östlichen Teils der Weserstraße bis zum Finanzamt Neuköllns Richtung Ringbahn – schon verbindlichen Quartierszellen Neuköllns an. Eine offizielle, namentliche Bestimmung des noch unbenannten Neuköllner Raumes geschieht durch die Berliner Stadtplanung zur gleichen Zeit mit der Feldforschung, beispielsweise im Fall des obengenannten »Donaukiezes«. Dieser Kiez gehört zum Zeitpunkt der Forschung im Dezember 2008 zu keiner fixen Quartierszelle Neuköllns. 51 Während zum Beispiel die Andersartigkeit von Punks mit deren Lebensstilen in den späten 1970er Jahren legitimiert wurde, bleibt Punk als Subkultur in seiner dekonstruierten Form nur noch als Widerspruch weiter bestehen. Somit stellt Hebdige den Kleinbürger in Kontrast zum »Anderen«: »First, the Other can be trivialized, naturalized, domesticated. Here, the difference is simply denied […]. Alternatively, the Other can be transformed into meaningless exotica.« (Barthes 1972: oS nach Hebdige 1979: 124) 52 Dies spiegelt die ambivalente Perspektive Schiffauers wider: »Je bürgerlicher ein Viertel wird, desto ethnisch homogener wird es – und desto größer wird der Anpassungsdruck, der dort ausgeübt wird. Umgekehrt scheinen die ethnisch heterogenen Einwanderungsviertel in einer besonderen Weise ›metropolitan‹ zu sein. Es scheint diese Weltoffenheit zu sein, die von den Einwanderern […] geschätzt wird – und nicht etwa das Ghetto.« (Ebd. 2008: 101)

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sowie an den »Mittis«53 und verstehen Neukölln somit als Umgebung ohne studentische Medien-Schickeria. Andererseits proklamieren andere Musiker, wie zum Beispiel Jaap, die Gleichförmigkeit des Reuterkiezes und seiner Bewohner, die in einen quasi dörflichen Kontext gestellt werden. Die lokale Identifizierung mit dem Kiez wird auch deutlich durch die ästhetische Umdeutung unschöner Merkmale des Kiezes. Das Neuköllner Drogenmilieu, die Verschmutzungen, der Müll und der Hundekot im Kiez – aus der Perspektive von Stadtsoziologen als »Push-Faktoren«54 identifiziert – werden von den Musikern positiv konnotiert. Merkmale einer »gritty aesthetic«55, also stereotype Zeichen urbaner Instabilität und authentischer Straßenkulturen, werden von den interviewten Musikern als wertvolle Materialität verstanden. In diesem Kontext bemerkt Schäfer, dass »das Bild des Heruntergekommenen, Kaputten und Provisorischen, das Berlin nach wie vor prägt, als ein spezifischer urbaner ›Chic‹ gelesen werden kann […]« (ebd. 2008: 147). Diese Perspektiven spiegeln in ihrer Bedeutung das Motto »arm aber sexy« des Berliner Oberbürgermeisters Klaus Wowereit wider. So sind mit jener Sperrmüllästhetik der Neuköllner Musiker auch kreative Prozesse verbunden, welche die sogenanten »Push-Faktoren« in Neukölln salonfähig machen. Bob stellte fest, dass Geld für die Kiezbewohner keine Rolle spielt und diese vielmehr an Kunst, Kultur und einem kreativen Umgang mit ihrer Neuköllner Umgebung inter53 »Mittis« sind meist aus Westdeutschland zugezogene »Bürgerkinder, die eine gute Ausbildung absolviert haben, jetzt in einer Agentur arbeiten oder Freiberufler sind, den Medienbetrieb mit Inhalten füttern […]. Oder sie sind in der Berliner Modeszene angeschlossen, entwerfen selbst Kleidung oder verkaufen sie in einer der zahllosen kleinen Boutiquen. Manchmal studieren sie auch noch oder schreiben an ihren Diplom- oder Doktorarbeiten. Oder sind Teil der Kunstszene. Oft sind sie auch […] Praktikanten, die ihr Geld von den Eltern bekommen« (Rapp 2009: 105). Mittis kontrastierten nach Rapp sogenannte »Ossis«, die er in einem Arbeitermilieu ansiedelt (vgl. ebd.). 54 Häußermann versteht darunter Merkmale eines Kiezes, die zu einem Wegzug primär junger Familien führen: »Sich häufende soziale Probleme in der Nachbarschaft, insbesondere der Alkoholismus von meist alleinstehenden (deutschen) Männern oder provokative Jugendgruppen werden als Beeinträchtigung der Sicherheit wahrgenommen. Da genügt es häufig schon, wenn Jugendliche, die keinen Zugang zu einer beruflichen Ausbildung […] gefunden haben, sich tagsüber im öffentlichen Raum aufhalten […]. Daß es sich dabei oft um ausländische Jugendliche handelt, verschärft in der Wahrnehmung der deutschen Bewohner noch die Erfahrung von Bedrohung.« (Ebd. 2004: 222) 55 »If increasingly detached from the reality of more upscale residence and commerce, gritty accents remain a feature of neighbourhood character. Moreover, the gritty aesthetic of the local scene […] is imprinted on the aesthetic representations produced by cultural creators, representations that evoke the glamour of urban instability, available to be consumed at a safe distance.« (Lloyd 2010: 100)

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essiert seien. Takanori beobachtet den Zuzug weiterer Künstler in den Kiez, der ihm als »Ausland« erscheint. Insbesondere am Beispiel der Aussagen der SoundKünstlerin Anna wird deutlich, wie eigene künstlerische Methoden mit Praktiken anderer Kulturen im Kiez in Bezug gesetzt und kontrastiert werden. Die kosmopolitische Perspektive bestimmt deshalb die Aussagen der Musiker, in welchen der kulturelle »Andere« hinsichtlich damit verbundener sozialer Unterschiede ein Objekt des Sammelns und der Kennerschaft wird (vgl. Roberts 2005: 579). Bei der Definition Neuköllns als urbanes Umfeld spielt die Vorstellung einer authentischen Arbeiterklasse ebenso eine Rolle, wie die Exotifizierung des multi-ethnischen Umfelds. Das Paris des frühen zwanzigsten Jahrhunderts gilt als klassisches Beispiel einer kosmopolitischen Stadt. Hier entstand in einem historischen Moment eine gesamteuropäische Avantgarde-Bewegung in den Künsten und der Literatur aus aller Welt. Die Szene, die sich herausbildete, zog bildende Künstler und Schriftsteller an, während die lokale französische Kultur bloß als Kulisse der kreativen Interaktionen unter den Mitgliedern dieser künstlerischen Elite fungierte (vgl. Werbner 2008: 49). Auch New York wurde von Lévi-Strauss aus der Sichtweise einer ästhetischen und vermeintlich intellektuellen Kosmopolitisierung als eine »›agglomeration‹« ethnischer Dörfer beschrieben.56 Moravánszky erkennt in der »Faszination einer neu entdeckten Kultur, der man im eigenen Land begegnet, die aber trotzdem als fremd und entfernt erscheint […] eine gemeinsame Erfahrung vieler mitteleuropäischer Künstler am Ende des neunzehnten Jahrhunderts« (ebd. 2002: 7).57 In diesem Kontext erscheint auch Neukölln durch die Vorstellung einer komplexen Pluralität, die sichtbar wird durch vermeintliche Straßenkulturen, ›authentische‹ Traditionen einer Arbeiterklasse sowie eine ›Vielfalt an Ethnien‹, aus Sicht der befragten Musiker auch im 21. Jahrhundert als attraktiver Ort.58 Neukölln wird als Ort der Diffe56 »In what amounts to a manifesto of aesthetic cosmopolitanism, Claude Levi-Strauss, describes the New York […] as […] an ›agglomeration‹ of ethnic villages in which he and fellow French intellectuals Max Ernst, Andre Breton and Georges Duthuit wandered, as in Ali Baba’s cave, inspecting exquisite masks from Teotihuacan and the magnificent wood carvings from the northwest Pacific coast [...].« (Werbner 2008: 50) 57 »Die Kultur des Dorfes erschien als organischer Teil der eigenen Identität, zugleich jedoch als eine fremde Gegenwelt zur gewohnten Umgebung, zur modernen Stadt. Diese widersprüchliche Situation hat sowohl nostalgische als auch radikal neue Wege öffnende Reaktionen herausgefordert. Im Dorf trat dem Künstler eine Lebensweise entgegen, die die Kunst anders betrachtete und benützte als die Stadt.« (Moravánszky 2002: 7-8) 58 »In urban villages, the symbolic framing of culture becomes a powerful tool as capital and cultural symbolism intertwine; the symbolic and cultural assets of the city are vigorously promoted – but also contested – as cities are branded as attractive places to live, work and play in.« (Bell/Jayne 2004: 1)

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renz sowie als urbaner Raum im Sinne Schmids erkannt, dessen »spezifische Qualität [...] erst durch die gleichzeitige Präsenz von ganz unterschiedlichen Welten und Wertvorstellungen, von ethnischen, kulturellen und sozialen Gruppen, Aktivitäten und Kenntnissen [entsteht]« (ebd. 2011: 33).59 Mit dem Bezug auf musikalische Praktiken der Dubstep-Akteure sowie der experimentellen Musiker wird die Untersuchung lokaler Identifikationen mit dem Kiez in den folgenden beiden Kapiteln weiter untersucht. In der Analyse der medialen Berichterstattung über Neukölln in Kapitel V gerät die Rolle des Kiezes als Kulisse künstlerischer Praktiken erneut in den Fokus.

59 »Neben der Möglichkeit der Integration unterschiedlicher Elemente von ethnischen, kulturellen und sozialen Merkmalen bestehe auch immer die Tendenz der Trennung dieser Merkmale. […] Der urbane Raum schafft die Möglichkeit, all diese unterschiedlichen Elemente zusammenzubringen und fruchtbar werden zu lassen. Zugleich besteht jedoch immer auch die Tendenz, dass sie sich gegeneinander abschotten und voneinander separieren.« (Schmid 2011: 33) Dabei ist zu fragen, »wie diese Differenzen im konkreten Alltag erlebt und gelebt werden« (ebd.).

III. Räume des Dubstep

1. M USIKALISCHE R AUMEROBERUNG »[…] any theory of power today must include a theory of the localization […]. Among birds a tool for marking territorial boundaries, noise is the inscribed from the start within the panoply of power. Equivalent to the articulation of a space, it indicates the limits of a territory and the way to make oneself heard within it, how to survive by drawing one’s sustenance from it.« ATTALI 1985: 6

Ein Homestudio auf der Karl-Marx-Straße Wie Kerstin wohnt auch Flo auf der Neuköllner Karl-Marx-Straße. Zu dem Zweck, sein Hobby als Produzent elektronischer Musik und DJ zu professionalisieren, zog der Endzwanziger vor dreieinhalb Jahren von Süddeutschland nach Berlin. Ähnlich wie Kerstin charakterisiert Flo den Kiez durch eine günstige Infrastruktur sowie ein spezifisches soziales Umfeld als eher bodenständig. Eine zweite Seite Neuköllns schreibt Flo den »angesagten Partys« zu.1 Offen führt er mich durch seine Dreizimmerwohnung, zeigt mir das hintere Zimmer und sagt: »Hier wohn’ ich: Das ist mein Kompaktzimmer, Studio, Wohn-

1

»Ich finde halt an Neukölln besonders gut, dass alles billig ist, natürlich ist, und dass ich nicht gleich die Studenten treffe, sondern mehr die Leute, die leben wollen […]. Und die angesagten Partys, da sind dann halt doch mehr Studenten und das war mir an Neukölln eigentlich ziemlich flashy. Neukölln ist die area, wo Leute die net viel Geld haben, und künstlerisch abgehen wollen, gut leben können, sag ich mal so, mit echt gutem Gemüse und alles superbillig und billigen Mieten […].« (Flo in einem Interview am 05.08.2009)

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zimmer, Schlafzimmer und Büro. Ansonsten gibt es eine Küche, Bad. Fred schläft drüben und Terrys Zimmer ist gesplittet in halb Kinderzimmer [und] halb Terryzimmer.« (Flo in einem Interview am 05.08.2009) Wir sitzen in seinem Studio, also seinem Wohnzimmer, in welchem er auch schläft. Die Multifunktionalität seines Home-Studios verbindet Arbeits- und Privatsphäre.2 Die Arbeit an der Musik ist zu jeder Tageszeit möglich; sein Bett (oder auch Sofa) ist drei Meter vom Rechner entfernt. Nach zehn Uhr abends arbeitet er auch mit Kopfhörern. Ein weiterer Raum der Wohnung wird von einem Mitbewohner genutzt. In einem dritten Raum arbeitet der DJ Terry für ein paar Tage in der Woche an Musik. Die Vorteile der straßennahen Wohnlage für seine Musikproduktion schildert Flo wie folgt: »Bei der ersten Wohnung habe ich halt einfach laut gemacht, und dann haben sich die Leute beschwert. Und dann dachte ich, was [ich] in der nächsten Wohnung anders machen kann, und […] an dem Abend, an dem ich Besuch hatte, habe ich fett laut gemacht und dann haben sich gleich vier Leute beschwert und gesagt: ›Mach leise!‹ Ich habe dann immer laut gemacht, aber dann ist niemand mehr gekommen, weil das im Vergleich zum ersten Abend immer noch leiser war. Das war dann irgendwie so ein Trick. Als ich hier eingezogen bin, […] wusste ich, dass ich hier Musik machen will [und] habe erst mal geschaut, dass die Wohnung erstens an der Straße und zweitens ganz oben ist. […] Hab’ an einem Tag aufgedreht, und es war auch Besuch da, und ein bisschen Randale gemacht und da hat sich dann schon jemand beschwert und seitdem eigentlich nimmer. Bis zehn Uhr kann ich so laut machen, wie ich will, aber ab 10 Uhr sollte ich dann etwas gediegener sein. Habe gestern auch bis vier Uhr Musik gemacht.« (Flo in einem Interview am 05.08.2009)

Aufgrund seiner Erfahrungen mit Nachbarn in vorherigen Wohnungen und seines Wissens über Konsequenzen der Lärmbelästigung3 überlegte er sich eine Taktik, die Möglichkeiten zum Musikmachen in der Wohnung im vorhinein abzusichern. Durch die Lage der Wohnung im obersten Stockwerk war eine erste Rahmenbedingung geschaffen, die Anzahl der Nachbarn gering zu halten. Die Vorderhauslage begünstigte, dass er hier wegen des ohnehin starken Geräuschpegels der KarlMarx-Straße weniger auffiel als in einer Hinterhauswohnung, von der aus er den gesamten Hinterhof mit Musik beschallt hätte. Die dreispurige Karl-Marx-Straße, die sich vom Hermannplatz bis zur Ringbahn zieht, wird tagsüber stark befahren,

2

Whelan bezeichnet Musiker, die in Heimstudios arbeiten, auch als »bedroom electronic producers« (ebd. 2006: 57).

3

Um Ruhestörungen innerhalb des Hauses zu vermeiden, führen Hausverwaltungen Regelungen ein, die bei Nichtbeachtung zu Anzeigen und im Extremfall zum Zwangsauszug eines angezeigten Mieters führen können.

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was Flo für seine Zwecke sogar als positiv bewertet.4 In den Wohnhäusern gibt es zwar klare Regelungen in Hinsicht auf die Lautstärke im Haus, doch Flo weiß sie gekonnt zu umgehen: Indem er in einer der ersten Nächte in seiner Wohnung die Lautstärkegrenzen überschritt, konditionierte er die benachbarten Anwohner dahingehend, dass sie bei einem weniger hohen Lautstärkepegel seinerseits nicht mehr reagierten. Durch diesen Trick steckte der junge DJ sich ein Territorium ab, einen akustischen Raum, in dem er seine Lautstärken ungestört ausleben und an Tracks arbeiten kann. Während Flos Beschreibung seiner akustischen Raumeroberung in Neukölln muss ich schmunzeln: Aus Perspektive eines geräuschempfindlichen Nachbarn, wäre sein Verhalten klar zu missbilligen.5 Zwar könnte man Flos Taktik der auditiven Konditionierung mit seiner Motivation als Kunstschaffender entschuldigen, doch muss die bewusste Überschreitung der Lautstärkegrenze, und sei es auch durch Musik, ganz klar als Lärmbelästigung betrachtet werden. Die Diskussion um Ruhestörung stellt sich bei vielen Veranstaltern von Konzerten in Neukölln als wichtiges Sujet heraus: Nach einer Beschwerde durch anwohnende Nachbarn sind die Organisatoren von Konzerten im Kiez auf der Suche nach neuen, besser geeigneten Räumlichkeiten.6 Andere Ladeninhaber machen sich Gedanken um Möglichkeiten der akustischen Raumisolierung, die sich jedoch als aufwändig und teuer erweist und deren Rentabilität in Bezug auf die Zukunft eines Veranstaltungsortes nicht sicher ist. Wieder andere passen sich – wie im Fall der Gelegenheiten – in Bezug auf die Lautstärke an gesetzliche Vorgaben an und haben ein gutes Verhältnis zu ihren Vermietern, die die musikalischen Aktivitäten der Neuköllner Räume vor zu viel Kritik durch die Nachbarschaft schützen. Lärmbelästigung in Neukölln Seit dem frühen 18. Jahrhundert und im Kontext nachbarschaftlicher Ruhestörung fungiert »Lärm als Gradmesser für den Barbarismus einer Gesellschaft« als stereotype Vorstellung im Kontrast zu der »Stille als Inbegriff aller Intellektualität« (Haberlandt 1900: 177-8 nach Bijsterveld 2003: 166). Kulturgeschichtlich be4

Ganz im Gegensatz zu Murray Schafer, der die Lautsphäre der Großstadt mit ihrer Fülle an Rhythmen als »kontinuierliches Niederfrequenzdröhnen« charakterisiert und negativ beurteilt (vgl. ebd. 1988: 274).

5

Aufgrund regelmäßiger Ruhestörung durch das Soundsystem eines HipHop-Jüngers über meinem Zimmer war auch ich bereits nach zwei Monaten aus einer Wohngemeinschaft im Berliner Bezirk Wedding ausgezogen.

6

So beispielsweise der Konzert- und Projektraum O Tannenbaum sowie das total art space im Reuterquartier, deren Betreiber nach seiner Schließung vorerst keinen neuen Raum fanden (vgl. Interview mit Piet am 20.07.2009).

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trachtet erhöhte sich die gesellschaftliche Akzeptanz von Verkehrslärm im Laufe der Zeit mit jeder Neuerung der Geräuschkulisse und jedem Anwachsen der Lautstärke (vgl. Birkefeld/Jung 1994: 149). Doch sind die Auseinandersetzungen um den Lärm bis heute nicht abgeklungen.7 Galt die durch die Technik hervorgerufene Unruhe mit der Verbreitung der Automobile zunächst als modern, wurde durch Menschen verursachter Lärm seit dem frühen 20. Jahrhundert als störend und unzivilisiert betrachtet.8 Deshalb werden Beschwerden über Ruhestörungen in dieser Zeit insbesondere von Intellektuellen geäußert, die den Lärm im Allgemeinen als groben Angriff auf ihr geistiges Wesen wahrnahmen (vgl. Bijsterveld 2003: 166170). Mit Bezug auf den Sozialgeographen Harvey (1990) macht Bijsterveld auf den räumlichen Charakter der Einführung verkehrsberuhigter Zonen aufmerksam, die zugleich zu beliebten und umkämpften Gebieten werden.9 Überträgt man die Fragmentierung der Stadt auf die akustische Ebene des Kiezes kann nach Bijsterveld argumentiert werden, dass bestimmte Sounds auch für bestimmte Zonen stehen. Anschaulich wird dies in Quartieren, in denen Lärm durch stadtplanerische Maßnahmen reguliert wird (vgl. ebd. 2008: 255). So geschieht die Eindämmung von Lärm in bestimmten Quartieren, die gesellschaftlich höheren Status haben als Bezirke, die nicht von diesen Regulationen betroffen sind (vgl. ebd., 256). Die unterschiedlich lärmkontrollierten Zonen im städtischen Raum implizieren deshalb Ungleichheiten, die Urry in Klassenunterschieden sieht (vgl. Urry 1995: 13 nach Bijsterveld 2008: 256). Der Neuköllner Experimentalmusiker Jaap informierte mich per E-Mail über den Verein »Zukunft Neukölln«10, der sich seiner Website zufolge seit Sommer 7

»Complaints about noise have been recorded throughout history. Yet beginning in the last quarter of the nineteenth century, such complaints became increasingly focused on new Technologies: on the sounds of factories, trains, steam tramways, automobiles, and gramophones. [...] by the early 1900s, antinoise leagues had been formed all over Western Europe and North America, organizing antinoise campaigns, antinoise conferences, antinoise exhibitions, and ›silence weeks‹. The ensuing public debate about noise has never died down.« (Bijsterveld 2003: 2)

8

Der Slogan »Ruhe ist vornehm«, der von elitären deutschen Verbänden propagiert wurde, förderte keine Bündnisse zwischen Antilärmschutzvereinen und anderen gesellschaftlichen Gruppierungen, wie beispielsweise Arbeiterverbänden (vgl. Bijsterveld 2003: 173).

9

»Even the recently established ›silent areas‹ in the countryside tend to become highly contested spaces, since they embody a promise of sheltering citizens from noise that might lead to deep disappointments in the case of nuisances.« (Bijsterveld 2008: 255)

10 »Zukunft Neukölln e.V.« ging aus einer Anwohnerinitiative hervor, die im Sommer 2008 in einem Brandbrief an Senat und Bezirk auf die Situation vor Ort aufmerksam machen wollte. URL: www.zukunft-neukoelln.de (letzter Zugriff am 17.03.2013).

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2008 gegen eine wachsenden Unruhe und Lärmbelästigung im Neuköllner Flughafenkiez einsetzt. Jaap fürchtet die Einführung von strengeren Lautstärkeregelungen im Kiez – auch für Musikveranstaltungen – und sieht die Konzerte in Gefahr, die er im neuzugezogenen Plattenladen Staalplaat11 auf der Flughafenstraße organisiert. Mit der Absicht, die Motivation von »Zukunft Neukölln« kennen zu lernen, treffe ich mich im September 2009 mit dem Initiator Gerd im Neuköllner Flughafenkiez, »Ecke Mainzerstraße/ Biebricherstraße«, welche er in der E-Mail vorab als »Ort des Geschehens« bezeichnet.12 Doch wird im Laufe des Gesprächs deutlich, dass es ihm und seiner Initiative nicht um den konkreten Lärm von Konzerten gerade eröffneter Clubs geht. Vielmehr konzentriert er sich in seiner Beschwerde auf die durch das angesiedelte Rotlichtmilieu hervorgerufene Ruhestörung. Dass diese Störung jedoch gar nicht durch klar benennbare Lärmquellen hervorgerufen wird und es sich hierbei möglicherweise gar nicht in erster Linie um eine akustische Belästigung handelt, wird deutlich, als er von der Atmosphäre des Kiezes berichtet, die er als kriminell, zwielichtig und gewalttätig beschreibt.13 Gerd assoziiert somit die in Frage stehenden Ruhestörungen pauschal mit der Vorstellung von einem unzivilisierten Milieu, wie es Bijsterveld auch für Antilärmschutzvereine der Vergangenheit konstatiert. Eine Beschwerde über zu laute Musikveranstaltungen im Kiez kommen in Gerds Aussagen hingegen gar nicht zur Sprache. Somit sind Jaaps Befürchtungen, durch den Verein »Zukunft Neukölln« in der Organisation von Musikveranstaltungen auf der Flughafenstraße eingeschränkt zu werden, unbegründet. Vielmehr scheint eine allgemeine Akzeptanz der Nachbarschaft im Neuköllner Flughafenkiez gegenüber künstlerischen Musikveranstaltungen der neu hinzugezogenen Musiker zu bestehen – wie es auch am Beispiel der Beziehungen zwischen dem Vermieter und dem Kulturverein Gelegenheiten im Reuterquartier durchschien. Andererseits wurde an diesem Beispiel deutlich, dass die Eindämmung von Lärm durch klare Lautstärkeregelungen geschieht, an welche sich auch die Inhaber der Läden im Kiez halten. Inwieweit sich dadurch Klassenunterschiede abzeichnen, wie es Bijsterveld nach Urry konstatiert, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden.

11 Näheres zum Plattenladen und Veranstaltungsort Staalplaat siehe IV.3. 12 Gerd, Initiator des Vereins »Zukunft Neukölln«, in einer E-Mail im Sommer 2009. 13 Er führt seinen Gedankengang weiter und unterstellt »orientalischen und afrikanischen Anwohnern, [...] per se [für eine] laute Geräuschkulisse« verantwortlich zu sein (Gerd in einem Interview am 03.09.2009).

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2. D UBSTEP -P ARTY

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»Es ist spannend, wenn solch futuristische Musik derart populär ist. Dubstep war in seinen Anfängen eher rückwärtsgewandt, voller Reverenz an die Vergangenheit. Jetzt ist es viel mehr ›now‹, so etwas wie der Rock der Zukunft.« REYNOLDS 2012: 5

Future-Dubstep Von der Neuköllner Wohnung, die Flo zum Musikstudio umfunktioniert hat, profitieren auch andere Musiker.14 So nutzt der britische DJ Terry, der vor etwa einem Jahr aus London nach Berlin kam, ein Zimmer der Wohnung als Musikraum, was für Flo folgende Qualitäten birgt: »Terry ist nach Berlin gekommen, und ich hatte ein Zimmer frei, und hier kann man fett Sound machen. […] [In] Augsburg hatte ich noch Kumpels, von denen man sich das abgeschaut hat, aber irgendwann waren wir alle gleich gut. Ich bin zwei bis drei Jahre in Augsburg herum vegetiert, [und] mir alles selber beigebracht habe, weil ich niemandem mehr fragen [konnte]. Für eine kleine Technik brauche ich ein Jahr, bis ich etwas kann. Und wenn ich [jetzt] nicht mehr weiterkomme, erklärt Terry mir das in fünf Minuten und ich brauche kein Jahr mehr, das hat sich voll geändert und alles ist auf einem professionellem Level.« (Flo in einem Interview am 05.08.2009)

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14 Als ich am 03.07.2009 in Flos Wohnung bin, um mich mit Terry zu unterhalten, sitzen in einem anderen Zimmer zwei weitere junge Produzenten, die Musik hören, auf die Bildschirme ihrer Rechner schauen und sich austauschen. 15 Flo machte in Augsburg eine Ausbildung zum Kinderpfleger. Zu seiner Entscheidung des Umzugs nach Berlin sagt er: »Wenn man es in Berlin schafft als Künstler, dann schafft man es auf der ganzen Welt. In Augsburg bleibt man irgendwann auf einem Level, und die holen dich nicht aus der Stadt raus […]. In Berlin sind einfach die connections, weil die Konkurrenz so groß ist, und das tut mir auch gut. […] Meine guten Freunde aus Augsburg sind immer noch meine guten Freunde, aber nun habe ich eigentlich nur Musikfreunde.« (Ebd.) Seine Musik beschreibt er so: »Vom Feeling hat sich nichts geändert seit 1999. Habe irgendwie gecheckt, dass es das ist, was ich machen will, nie [ohne] Instrumente, aber Synthesizer, Drum Computer und Plattenspieler, seit zehn Jahren mache ich das konzentriert.« (Ebd.)

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Flos kleine Kreativzellenwohnung bietet sich für ihn konkret auch als Ort des Austauschs über Sounds, Musikprogramme und andere Software an. Nahm er die Zeit in Augsburg musikalisch als Stagnation wahr, hat er hier, und vor allem wegen des Londoner DJ-Freunds, das Gefühl sich weiterzuentwickeln. Zwar ermöglichen »online places« durch innovative Softwares die virtuelle Kommunikation, so dass sich insbesondere Komponisten elektronischer Musik schnell und einfach gemeinsam über Musiktechnologien weiterbilden können, doch hat sich der Face-to-FaceAustausch als verbindlicher und ergiebiger erwiesen.16 Ebenso empfindet Flo den direkten Kontakt mit DJ Terry und anderen Musikern in seiner Neuköllner Wohnung als ideal und fruchtbar. Flo schildert eigene ästhetische Vorstellungen zum Dubstep sowie seine Ziele für Musikproduktionen so: »Ich bin mit Terry auf einer Schiene, dass wir was Innovatives machen. Die House-Richtungen bleiben auf dieser Retro-Schiene, [aber] wir versuchen weiterzugehen. Die Frage lautet: ›Wie machen wir Future?‹ Wie macht man alte Sounds, die eigentlich schon alt sind […] innovativ, das ist so eine der Grundregeln. […] Dubstep ist halt so die einzige Musik, in der man gerade frei sein kann. […] In allen [Genres] gibt’s Regeln, und die Regeln sind jetzt so dicht, dass wenn du da rausfällst, dass du gar nicht mehr dazugehörst. [Im] Dubstep […] ist eigentlich alles möglich, du kannst frei sein, ob das jetzt Frauenstimmen, Strings, JumpupZeug ist – es läuft halt unter dem Namen. […] Ganz am Anfang war Dubstep für mich englischer Techno, dann Breakcore. Ich kann nicht sagen ›Dubstep forever‹, vielleicht mache ich irgendwann ›rock’n’bass‹. Das ist der nächste Schritt, in dem man sich ausprobieren kann. Ich mag nicht zehn Stück von derselben Sorte. Ich liebe es halt, [eine]n Schritt weiter zu gehen und rumzuprobieren und Leute zu ärgern. […] Ich muss jetzt irgendwelche jungen Sachen hören. […] Die 19jährigen sind die freshesten und verrücktesten. Ich bin denen gegenüber total offen […]: Subjektiv […] gefällt es [mir] nicht, aber objektiv höre ich schon, dass das der neue Hype wird.« (Flo in einem Interview am 05.08.2009)

16 Peer-to-peer-Netzwerke ermöglichen Produzenten, die in ihren Heimstudios arbeiten, eine direkte Verbindung zu anderen Anwendern, ein gemeinsames Lernen sowie die direkte Duplikation von Dateien, was auch den zeitfressenden Prozess der Recherche über Kopierrechte umgeht (vgl. Whelan 2006: 58). Zwar weisen die computergenerierten Netzwerke viele Vorzüge auf, doch betont Whelan die verbindliche Qualität »realer Beziehungen«: »Face-to-Face networks tend to be dense and bounded […]. Anonymity and fluidity in the virtual world encourage ›easy in, easy out,‹ ›drive-by‹ relationships. That very casualness is the appeal of computer-mediated communication for some denizens of cyberspace, but it discourages the creation of social capital. If entry and exit are too easy, commitment, trustworthiness and reciprocity will not develop.« (Putnam 2000: 177 nach Whelan 2006: 79)

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House Music hat sich Will Straw zufolge seit den 1980er Jahren in unzählige Richtungen entwickelt und sich mit bestehenden Musikstilen wie Rap, HipHop oder Dub vermischt und sich mit anderen Genres verwoben, wie beispielsweise mit Techno, Trance und big beat (vgl. ebd. 2001: 172). Während man zunächst davon ausging, dass die Stile sich gegenseitig ersetzen würden, zeigte es sich, dass fast alle Stile in ihrer weiterentwickelten Form weiterbestehen – mit ihren spezifischen Clubs, Labels sowie eigenen »review sections« in Magazinen (ebd.). Nach Klein geht der »›Ausverkauf der Szene‹ mit neuen Entwicklungen im subkulturellen Feld« des Techno einher, was immer wieder neue Sounds generierte (ebd. 2004: 138). Neuerungen in den Technologien sind Tony Marcus zufolge auch mit Neuerungen im künstlerischen Umgang mit Sounds und des Samplings verbunden. In diesem Kontext stellen sich insbesondere in durch moderne Technologien generierten Musikgenres Fragestellungen nach einem Sound der Zukunft.17 Wie auch Simon Reynolds oben angeführtes Zitat andeutet, konzentriert sich der allgemeine Diskurs über elektronische Musikgenres zum Zeitpunkt der empirischen Erhebungsphase bis heute vor allem auf Dubstep, dessen Entwicklung sich auch durch das Hervorbringen unzähliger Untergenres zeigt.18 Auch Flo, der an den Weiterentwicklungen der elektronischen Musikgenres aktiv teilhaben möchte, charakterisiert das Neue durch Abwechslungsreichtum, was er durch originelle GenreKombinationen veranschaulicht – aus vergangenen Retro-Sounds sollen FutureSounds gewonnen werden. Seine Vorstellungen können somit parallel betrachtet

17 »In der Technologie wird es immer wieder Neuerungen geben. Und immer wieder wird es auch Menschen geben, die mit der neuen Technologie Kunst kreieren. Sampling hat das Gesicht der Musik für immer verändert. Mit den Technologischen Entwicklungen im Musikbereich entsteht eine Multimediakunst, die den eigentlichen Begriff von Musik, wie wir ihn kennen, sprengt. Wie wird wohl die Zukunft tönen?« (Marcus 1999: 180) »In der Technologie wird es immer wieder Grenzen geben, die von Geräten überschritten und neu errichtet werden. An einer solchen Grenze werden heute Töne digitalisiert, sie werden in die Computersprache von Nullen und Einsen umgewandelt. Der Sampler ist die erste Technologie, mit der Klänge digital bearbeitet werden. Er wandelt akustische Töne in den binären Code von Nullen und Einsen um, in Bits und Bytes.« (Marcus 1999: 183) 18 Der Feuilletonchef der Berliner Zeitung, Jens Balzer, benennt die Entwicklung unzähliger Unter-Genres aus Dubstep: »[…] wenn man einen halben Monat nicht hinguckt, dann hat man schon wieder drei neue [Dubstep-]Genres verpasst. […] Post-Dubstep […] [für den] gebildeten Mainstream. […] Wenn man sich die Szene in Echtzeit ansieht, dann kann man sich jeden Tag einen neuen Künstler aufpoppen sehen, der irgendwas mit diesem Genrerepertoire macht […]. Es gibt so viele Ecken und Enden von Clubmusik […].« (Ebd, am 16.06.2011 auf Radio Eins)

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werden zu den futuristischen Konzepten Russolos,19 die aus der Perspektive von Musikjournalisten als Wurzeln des Techno erkannt werden (vgl. Unterkapitel 5). Zwar lässt Flos eigenes Online-Label20, auf dem in unregelmäßigen Abständen neue Veröffentlichungen erscheinen, ihm stilistische Freiheiten, doch bleibt ein konkreter Anschluss an die Szene die Grundvoraussetzung für die Gestaltung neuer Ideen. Mit seinen 27 Jahren zählt sich Flo zur »zwoten Generation« (ebd.), orientiert sich am Sound der jüngeren Produzenten und bricht dadurch mit gewissen eigenen Freiheiten des Musikhörens.21 Party-Konzept Für die neuen Sounds mussten die Dubstep-Akteure des Weiteren ein passendes Partykonzept sowie die richtige Location finden, und dies bestmöglich im Kiez. Etwa 500 Meter von seiner Wohnung entfernt auf der Donaustraße in der Neuköllner Kneipe Valentinstüberl traf Flo auf andere DJs. Auch fanden im Stüberl erste Dubstep-Partys statt, für die man wegen der dort herrschenden Lautstärkebegrenzung aber bald eine neue Location finden musste. Aus ersten Ideen entstanden dann Pläne für die Partyreihe Sirius im Raum 18: »Zuerst haben wir uns im Valentinstüberl getroffen, […] dann ist auch was fett Großes entstanden, weil wir alle Erfahrungen haben und wissen, wie man das richtig cool aufzieht […]. Und jetzt haben wir halt ein Baby. Wir können uns gegenseitig zutexten, aber auch weiterdenken […]. Raum 18 ist cool, weil das voll viele fortgeschrittene Hörer erarbeitet. […] Wir haben so ein Konzept, elektronische Musik mit HipHop zusammen [und] versuchen junge 19 Umgekehrt bezieht sich auch die deutsche Veröffentlichung des futuristischen Manifests »Die Kunst der Geräusche« in ihrer Auswahldiskografie mit dem Titel »zur bruitistischfuturistischen Musik« neben einigen anderen Genres auch auf Interpreten des Techno (vgl. Ullmaier 2000: 103-106). 20 Der Kampf um Zuhörer und die Frage danach, ein »etablierter« Musiker mit einer »offiziellen« Veröffentlichung zu werden und die Frage danach, wo die komponierten Demos hingeschickt werden sollen, wird umgangen, indem eigene Labels gestartet werden (vgl. Whelan 2006: 76). Über Netzlabels können Musikstücke risikolos über OnlineVerkaufsplattformen angeboten werden, hier kaum Verluste gemacht werden, auch wenn nichts verkauft wird. Dies führt zu einer großen Menge an Neuveröffentlichungen auf den Internetplattformen (vgl. Rapp 2009: 237). 21 »Das Neue ist […] Produkt einer bestimmten Forderung und einer bewußten Strategie, die die Kultur der Neuzeit beherrschen. Die Schaffung des Neuen ist somit auch nicht Ausdruck der menschlichen Freiheit […]. Mit dem Alten zu brechen ist keine freie Entscheidung, […] sondern lediglich die Anpassung an die Regeln, die das Funktionieren unserer Kultur bestimmen.« (Groys 1992: 10f.)

124 | »T IEF IN N EUKÖLLN « Acts zu buchen. Es gibt 25 DJs weltweit, die dieses Genre ausfüllen, die wollen alle hier spielen. […] Nun haben uns Leute kopiert, das icon und die vom WMF. Eigentlich sind wir von Terry inspiriert worden. Wir sind zu viert. Torsten haben wir im Valentinstüberl kennengelernt. Der ist super im Promoten. Und ich bin dann zuständig für die Anlage. Das Wohl aller DJs, das ist meine Aufgabe. Unser Grundpunkt: Neukölln. Billiger Eintritt, billiges Bier, Neukölln, das punkig zu machen [und] zu sagen: ›Wir haben das beste Line-Up, weil wir damit spielen wollten!‹ Ich kenne das in Augsburg – der Eintritt ist billig, aber an der Bar ist es teuer. In Neukölln, da können wir billigen Eintritt, billiges Bier machen, und die Leute kommen. Das letzte mal kamen 400 Leute. Wir haben im Schnitt sieben oder acht Euro Eintritt, das letzte mal hatten wir doppeltes Line-Up, zwei Leute zu viel, da hatten wir 300 Euro minus, aber trotzdem; wir hatten so gute Kritiken in Berlin. Alle schauen mit Respekt darauf und dadurch, dass die beiden anderen Partyreihen das kopieren. Es gibt viele Leute, die das machen, aber dass dann auch Leute kommen, die einen Namen […] haben, das ist eine Herausforderung.« (Flo in einem Interview am 05.08.2009)

Erschwingliche Eintritts- sowie Getränkepreise dienen als Grundlage für eine gelungene Party, wodurch er den mehr oder weniger unkommerziellen Charakter des Konzepts herausstellen möchte.22 Doch der vielmehr »punkige« Background schließt ihm zufolge die Bildung einer Gruppe von »fortgeschrittene[n] Hörer[n]« nicht aus. Der für die anspruchsvollen Party-Gäste benötigte freshe Sound wird nach Flo von einem jungen Line-up garantiert. Flos Partykonzept kann parallel betrachtet werden zu Thorntons Analysen des sogenannten Undergrounds: Dieser ist in seinen Hauptmerkmalen zwar nicht »elitär«, richtet sich jedoch an eine exklusive Menge (vgl. Thornton 1995: 117). Rapp zufolge gewann das WMF23 im Zuge der Technobewegung der frühen 1990er Jahre wie viele andere illegale Clubs im »urbanen Niemandsland« in der Gegend um die damaligen Brachflächen in der Nähe des Potsdamer Platzes an Popularität (Rapp 2009: 31). Diese zwischengenutzten Clubs wichen im Zuge dortiger Transformationsprozesse in den meisten Fällen modernen Bürogebäuden24 und suchten sich nach ihrer »Vertreibung« neue Locations (ebd., 57-61). Deshalb existieren sowohl das WMF als auch der Tresor seit 2004/2005 nicht mehr in dem

22 »Die House- und Technoszene von Berlin hat die guten Seiten einer Independent-Kultur – ökonomische Unabhängigkeit, künstlerische Integrität, Kompromisslosigkeit – bewahrt und die schlechten, also verkürzte Kapitalismuskritik, Idealisierung der Selbstausbeutung und Unprofessionalität einfach weggelassen.« (Rapp 2009: 12f.) 23 Dieses war angesiedelt im alten Gebäude der Württembergischen Metallwaren Fabrik (vgl. Rapp 2009: 57). 24 Der Potsdamer Platz wurde touristischer Anziehungspunkt, so zum Beispiel durch den Bau des Sony-Centers sowie des Einkaufszentrums. Vgl. dazu Rada 1997: 41-43.

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Techno-Areal der frühen Nachwende.25 Aus den selbst initiierten Clubs der frühen 1990er Jahre wurden kleine Unternehmen.26 Flo verdeutlicht die Parallelen zu der vorhergegangenen Technogeneration und vergleicht die Techno-Partys der 1990er Jahre mit der Neuköllner Partyreihe. Die genannten Clubs WMF und icon sind Flos Vorbilder, die ihm zufolge jedoch das Neuköllner Konzept der Sirius-Partys kopieren. Repräsentierten die beiden Clubs in den 1990er Jahren Berliner Underground, können sie durch ihren Bekanntheitsgrad geradezu zum Overground gezählt werden. Auch Flo zufolge gelten diese beiden Locations zu den schon etablierteren Clubs, die im Gegensatz stehen zum Raum 18. In dieser Sichtweise definiert sich die Clubkultur um die Neuköllner Party-Reihe durch ihre noch sehr kurze Lebenszeit und kann sich dadurch stärker durch subkulturelle Merkmale definieren als ihre vielmehr bereits etablierten Vorgänger. Thornton konstatiert, dass DJs27 als »master of the scene« für ein hohes subkulturelles Kapital stehen, da sie das Wissen über die Musik besitzen und diese auch in eigenen Sets umsetzen können.28 In Bezug auf die Bezahlung der DJs, die beispielsweise aus den USA und England für die Neuköllner Partyreihe eingeflogen werden müssen, tragen die Organisatoren auch finanzielle Risiken, wie Flo erklärt. Doch ganz Thorntons ›subkultureller Ökonomie‹ (vgl. ebd. 1995: 187) entsprechend, sieht er diese finanziellen Rückschläge der Neuköllner Dubstep-Reihe mehr als eine Notwendigkeit, die den Zweck hat, den Protagonisten den Respekt der anderen Veranstalter zu sichern.

25 Das WMF verlagerte seine Veranstaltungsreihen deshalb ins icon, wo am 17.03.2009 die letzte Party stattfand. URL: www.iconberlin.de (letzter Zugriff am 12.03.2013). 26 Vogt benennt in diesem Zusammenhang DJs, VJs, bildende Künstler, Grafiker, Architekten, Fotografen, Raumausstatter, Labelbetreiber, Werbefachleute, Bookingagenturen, Radiosender, Tonstudios, Mode- und Plattenläden, Design- und Multimediafirmen, Journalisten von Szene-Magazinen und andere (vgl. ebd. 2005a: 268). 27 DJs spielen nach Thornton eine ausschlaggebende Rolle, in der Generierung von Authentizitäten auf der Tanzfläche, obwohl sie im klassischen Sinne keine Performer sind und mehr durch ihren Namen als durch ihr Gesicht bekannt sind (vgl. ebd. 1995: 58, 65). 28 »DJs, club organizers, clothes designers, music and style journalists and various record industry professionals all make a living from their subcultural capital. Moreover, within club cultures, people in these professions often enjoy a lot of respect not only because of their high volume of subcultural capital, but because of their role in defining and creating it. In knowing, owning and playing the music DJs, in particular, are sometimes positioned as the masters of the scene, although they can be overshadowed by club organisers whose job it is to know who’s who and gather the right crowd.« (Thornton 1995: 187)

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3. D UBSTEP ALS N EUKÖLLNER S UBKULTUR NACH AUTHENTIZITÄT

UND DIE

F RAGE

Dubstep in London vs. Dubstep in Neukölln Flo bringt dem britischen DJ Terry gegenüber eine hohe Wertschätzung entgegen. Seiner Meinung nach ist auch das internationale Line-up mit verantwortlich für den Erfolg der Dubstep-Partys in Neukölln. Doch wie betrachtet der britische DJ Terry die Neuköllner Dubstep-Bewegung, die Flo zufolge gegenwärtig um den Raum 18 identifiziert werden kann? Terry, der seit kurzem in Berlin lebt und seine Musik in Flos Studio-Wohnung in Neukölln produziert, erklärt die Entwicklung der Dubstep-Partyreihe Sirius aus seiner Sicht: »[T]here is a much bigger scene in the UK in general, like in Glasgow and in Los Angeles. And it was pretty big in London and now it’s migrating over here in Berlin. I meet more people who are into this kind of music and we congregate around the Sirius nights and suddenly they kind of like this musical note, where we musically connect, it’s cool. In terms of inspiration [...] London was way more beneficial. [...] Until this year, there wasn’t much new kind of HipHop out here [in Berlin]. That’s frustrating and challenging. I brought a lot of music with me from London. And we started to listen to it in the flat and – they might have found it anyway. The friends I made here listened to it [...]. And now, the music, they are making, is much more along the lines like what it was like in London; they have just set up this Club Raum 18, where they are playing exactly this kind of music, that kind of new electronically HipHop Dubstep. It worked out really cool. So I think, this year has changed, and magazines are starting to write about it this music, beforehand. Stuff started to happen with the guys here.« (Terry in einem Interview am 03.07.2009)

Ortsbezeichnungen identifizieren Musikgenres und wirken im Bourdieu’schen Sinne abgrenzend (vgl. Maxwell 2008: 82f.). Dies bedeutet, dass spezifische Genres sich durch Orte definieren. Ein Genre kann somit einen anderen Stellenwert oder ›Ruf‹ haben als dasselbe Genre an einem anderen Ort. Vergleichbar mit den Fragen nach einer Verwurzelung von Techno29 spielen Ortsbezeichnungen somit eine wesentliche Funktion in der »Authentifizierung«30 des Musikgenres Dubstep. In diesem Sinne verortet Terry einen eigentlichen, wahren Dubstep-Sound in den

29 So verortete die Fachpresse die Wurzeln des Techno in Detroit (vgl. Thornton 1995: 75). 30 »When original performers are remote in time or place, as is the case with foreign imports and revived rarities, reords can acquire prestige and authority. Third, the environment in which a record is produced contributes to its authenticity.« (Thornton 1995: 66)

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beiden englischsprachigen Metropolen Los Angeles und London. Dem Berliner Musikredakteur Andreas Müller zufolge konnte Dubstep »nur aus England kommen, weil Bassmusik da sehr angesagt ist« (A. Müller in einem Gespräch auf Radio Eins am 13.06.2011). Der Berliner Journalist Balzer verortet Dubstep im Kontext Berlins wie folgt: »Und diese englische Dubtradition, das ist halt zwingend, die Kids in London, die halt ewig Dub gehört haben. Es gab eben auch ganz wichtige Inspirationen, wenn man mit den ersten Dubstep-DJs spricht […], die waren auch wahnsinnig beeinflusst von Berliner Künstlern, […], die dann Ende der 90er schon so [ei]ne frühe Variante – ich sag mal – Dubtechno produziert haben. Da gibt es schon so eine Achse Berlin-London und natürlich konnte das Durchstarten nur in London passieren, weil dieses Bass – Hardcore Kontinuum viel virulenter ist als das in Berlin war, aber ganz wichtige Einflüsse kamen tatsächlich auch aus Berlin.« (Balzer in einem Gespräch auf Radio Eins am 13.06.2011)

Sowohl Balzer als auch Rapp31 betonen neben einer englischen Dubtradition auch den frühen Einfluss der Berliner Dubstep-Szene. Demgegenüber verortet der britische Produzent Terry einen wesentlichen kreativen Input und musikalische Inspiration in der britischen Hauptstadt. Der britische DJ betrachtet Dubstep in Berlin vielmehr als importierte Musik, an der sich seine Neuköllner DJ-Freunde orientierten. Zwar räumt Terry ein, dass seine deutschen Musikfreunde den Dubstep-Sound auch ohne ihn ›gefunden hätten‹, doch vertieft er die Verwurzelung des Dubstep in die englische Umgebung folgendermaßen: »Jungle and garage and now Dubstep, which has a big influence on (Neukölln located Sirius) night, came of much more like working class kind of a background; it’s kind of everyday 31 Auch Tobias Rapp lokalisiert die Wurzeln des Dubstep in London. Ungeachtet dessen erklärt er auch Berlin aufgrund der dort ansässigen Labels und DJs zum wichtigen Standort: »Die damals bahnbrechende Idee, Techno mit Elementen von Dub zu kreuzen, reflektierte die Vorlieben der [Club-]Betreiber […]. Als das [Berliner Label] Hardwax 2004 anfing, einen neuen in London entstandenen Musikstil namens Dubstep – eine Kulmination von Grime, 2 Step, Drum’n’Bass und Dub, reduziert, mit viel Klangraum zwischen dem Beat und einem treibenden Mörderbass – ins Repertoire zu nehmen, scherte man sich wenig darum, ob die Berliner es haben wollten […]. Zwei Jahre später produzierte Ricardo Villalobos einen […] Remix eines Dubstep-Stückes und gab damit den offiziellen Startschuss zu einer gegenseitigen Befruchtung von Minimal Techno und Dubstep. 2008 konnte es durchaus passieren, dass das Hardwax innerhalb von zwei Wochen zweihundert Stück von einer neuen Dubstep-Maxi verkaufte – es wird in London nicht viele Läden geben, wo sie besser laufen.« (Ebd. 2009: 247)

128 | »T IEF IN N EUKÖLLN « people. It is pirate radio, which plays it all over London. Anyone can tap into it, it’s literally; like floating through the air of the whole city, whereas in Berlin you can read about it in trendy magazines or stumble upon an internet site, [but] it’s nonsense. [...] In Friedrichshain I can walk on a spacy way, I find it easy to like daydream at those places, when there’s a good distance between me and like trendy people or people who are very much about their lifestyle, and pop-culture shit. And a proper life walking around in Neukölln, that’s like real-life situations. [...] There will always be like a arty middle-class crowd. You can say that this is a bad thing or you could not judge it at all. [...] There’s a big gap between everyday Neukölln people and that music; and there kind of always will be. The gap between left-field music [...] unlike everyday people is there [...]. [In London] this kind of music is less kind hoisted up into, mainly because of the pirate radio. I miss the radio, so badly. It takes it away from magazine publications and puts it in the air for anyone.« (Terry in einem Interview am 03.07.2009)

Terry konstatiert eine eher gekünstelte Darstellung des Dubstep durch trendbewusste Medien in Berlin und grenzt sich an einer anderen Stelle des Interviews auch von den »trendy people« ab, die die Partys nicht wegen Musik, sondern aus Gründen der Hipness besuchten.32 Des Weiteren benennt er den Unterschied zwischen den Neuköllner Einwohnern, welchen Dubstep nicht vertraut sei und den Partygängern, die ihm zufolge »Left-Field33-Music« hörten. Diese Lücke werde ihm zufolge immer existent sein. Beide Milieus befänden sich jedoch in demselben Berliner Bezirk. Zwar schließt der britische DJ nicht aus, dass auch immer eine »arty middleclass crowd« mit von der Partie sei. Doch wurde der Dubstep ihm zufolge in London von DJs entwickelt, die häufig mit einem Arbeitermilieu assoziiert werden. Auch aus diesen Gründen ist Dubstep in England ein viel alltäglicheres Musikgenre, von welchem die Hörer dort auch ein vollkommen anderes Verständnis haben, so Terry. Der Bezug auf die Arbeiterklasse und eine dadurch konstatierte Authentizität des Genres spiegelt die Sichtweisen der frühen Subkulturforscher des

32 »There’s a lot of people, who do it, and there’s the other one, who fall in love with it. there are people, who do it for more like heart-reasons and do it for a long period. Than peer group reasons. It’s that like of peer group mentality, to impress other people or friends, it puts me off.« (Ebd.) Definiert sich kulturelles Kapital dadurch, dass es zu ökonomischem Kapital wird, verwandelt sich subkulturelles Kapital nicht mit derselben Einfachheit zu ökonomischem. So ist das Einkommen primär bestimmt durch »Hipness« (vgl. Thornton 1995: 187). 33 Etwa zu übersetzen mit »abseitig«, »besonders«, »exaltiert« und keinesfalls zu verwechseln mit der politischen Linken (CH).

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CCCS (siehe Einleitung) wider.34 In diesem Sinne betrachtet Terry das Leben in Neukölln – entsprechend der britischen Situation – als »real-life-situations« mit »everyday people«. Seine Vorstellung vom Leben in Neukölln steht somit in einem krassen Gegensatz zu dem gesellschaftlichen Kontext der trendbewussten Partygänger in Berlin und einem allgemeinen popkulturellen Hype um Dubstep. Auch betrachtet er Neukölln und dessen ›wirkliches Leben‹ im Kontrast zu anderen Berliner Kiezen. Dieses Bild von Neukölln als Raum der Arbeiterklasse und einem sich vom allgemeinen Berliner Künstlertum unterscheidenden Alltag deckt sich Terry zufolge mit dem soziokulturellen Kontext, das er für London festhält. Deshalb bietet sich für Terry gerade Neukölln als passendes Umfeld für die Realisation von Dubstep-Partys und überhaupt als authentische Umgebung für das Musikgenre an. Terry hält die Verbindungen zu seinem Heimatland durch globale Internetmedien aufrecht. Das britische Web-Radio übernimmt dabei eine wichtige Rolle, da es Terrys Zugang zu einem musikalischen Weltgeschehen ermöglicht, was wichtig für seinen Alltag ist.35 Das Vermögen, das Terry den Londoner Radiosendern zuschreibt, nämlich den jeweils aktuellen Sound des Dubstep buchstäblich »for everyone« in den Äther einzuspeisen, erinnert an Alan Lomax’ »global jukebox.«36 Lomax’ Auffassung schließt an McLuhans medienwissenschaftliche Vorstellungen 34 Existierten Vorstellungen einer vermeintlichen Arbeiterklasse lange Zeit als romantisierende Kategorie für Subkulturen, verweist Sarah Thornton auch auf Klassenlosigkeit als Ideologie subkultureller Clubkulturen. In starkem Kontrast zu den Vertretern des CCCS betrachtet sie Subkultur nämlich nicht als Gegensatz zu einer dominanten, hegemonialen Ideologie, welche Subkulturen im Kontext von »Klasse« stellt. Vielmehr bedienen sich soziale Gruppen subkultureller Ideologien, um sich selbst von anderen Gruppen zu differenzieren. So ist der »Mainstream« nach Thornton nur eine bestimmte Art von Nischenkultur, die die Stellung der Norm innehat (vgl. ebd. 1995: 108). 35 Nach der Einführung des Radios in der Weimarer Republik, welches die Realität durch die »technische Überwindung von Raum und Zeit kollektiv erfahrbar« machen sollte, werden Fragen der durch Zensur veränderten Realität akut; Radio und andere Medien werden fortan als »Instrumente der Wirklichkeitskonstruktion« erkannt (vgl. Dammann 2006: 86-87). 36 Bis in die späten 1960er Jahre trug Alan Lomax die größte Sammlung aufgenommener Songs der gesamten Welt zusammen. Bis in die späten 1970er Jahre war er davon überzeugt, dass bestehende Multimediatechnologien dieses Klangmaterial für jeden zugänglich machen könnte. Diese Idee bezeichnete er als »global jukebox« und glaubte, dass jeder einzelne dadurch seine kulturellen Wurzeln erkennen und lernen könnte, wie diese in das Weltbild passen. »The global jukebox [...] seems to have fallen in an abyss between content and Technology, between the academy and pop culture, and between world-saving and money-making.« (Naimark 1999: 1)

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einer »globalen Gemeinschaft«37 an, in welcher die gesamte Weltbevölkerung mittels Kommunikationstechnologien verkabelt ist und von überallher dasselbe empfangen kann. Mit diesem Konzept ist auch die Idee verbunden, dass Aufnahmetechnologien die Grenzen von Nachbarschaften oder Nationen überschreiten können.38 Aufgrund der Tatsache, dass das britische Radio den Dubstep allen zugänglich macht, spricht Terry dem Genre eine Exklusivität und subkulturellen Status im Londoner Kontext geradezu ab. Des Weiteren macht er deutlich, dass die Musik kaum in der Alltagskultur angekommen ist. Im Vergleich zu Terry konzentriert sich Flo viel weniger auf eine Lokalisierung des Genres. Da Terry seine musikalische Identität in London verortet, nimmt er den musikalischen Kontext in Neukölln auch anders wahr als Flo, der in seiner Heimatstadt Augsburg keine musikalischen Wurzeln schlagen konnte. Sind Technometropolen in Deutschland39 durch Club-Betreiber, lokale DJs und Event-Agenturen spezifisch charakterisiert, kann das Phänomen sich voneinander abgrenzenden Szenen auch international betrachtet werden.40 Als »urbanes Produkt und ein globales Kommunikationsmedium« entsteht Techno als Popkultur in Nischen und bringt »lokale ›tribes‹« hervor, »die sich zum Teil deutlich von37 In Understanding Media argumentiert McLuhan, dass elektronische Technologien das »central nervous system in a global embrace« erweitert haben. Unzählige Kommunikationsmedien stellen den Kontakt zwischen Menschen verschiedener Erdteile her. Die Geschwindigkeit dieser elektronischen Medien ermöglicht das Erleben von entfernten Geschehnissen. Dies funktioniert in einer »face to face communication«. Der Zeitfaktor spielt in diesem Modell keine Rolle mehr und auch der Raum, der die Menschen zuvor trennte, ist unbedeutend. Der Mensch lebt somit in einer »global village«, einem »simultaneous happening«. »Village« steht für eine »community« und für die Idee, dass wir alle eine formende Aufgabe in der Welt übernehmen. Das Bild des ›one being‹, das durch das ›electric nervous system‹ verbunden ist, schafft eine Vorstellung von »harmony« (vgl. McLuhan 1964: 248 nach Symes 2004: 63). 38 »While not quite ›a music hall without walls‹, recording Technology does trespass on the borders of neighbourhood and nation.« (McLuhan 1964: 248) 39 Klein verortet diese unterschiedlichen Szenen in Berlin, Frankfurt, Köln, Hamburg, München und dem Ruhrgebiet (vgl. ebd. 2004: 138). 40 »Globale Informations- und Kommunikationstechnologien erleichtern dabei die weltweite Verbreitung und Vernetzung. […] Die Gleichzeitigkeit von Globalität und Lokalität kennzeichnet auch das Informations- und Kommunikationssystem in der Techno-Szene. Dies besteht im Feld des Lokalen vor allem aus einem Informationsnetz aus Flyern und Fanzines, die an den entsprechenden Orten […] ausliegen. Szene-spezifischer Informations- und Wissenserwerb setzt auf lokaler und regionaler Ebene also noch […] voraus, daß man […] in der Szene selbst präsent ist.« (Klein 2004: 134)

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einander unterscheiden« (Klein 2004: 133).41 Bezogen auf Dubstep veranschaulicht auch Terry ein hierarchisches Gefüge innerhalb unterschiedlicher Szenen in verschiedenen Städten, die sich voneinander abgrenzen. Die Vorstellung von London als ›Ursprungsort‹ des Dubstep spielt in Bezug auf eine vermeintliche Authentizität des Genres in Neukölln eine wichtige Rolle. Im Kontext einer scheinbaren Ursprünglichkeit des Musikstils übernimmt somit auch DJ Terry selbst, als Vertreter jenes britischen Dubstep, eine wichtige Position für die Stilfindung und Identifikation des Organisationsteams der Neuköllner Sirius-Clubnächte sowie seiner DJ-Freunde im Kiez. Streetart vs. Medien Ich treffe Torsten zu einem Gespräch im Valentinstüberl (siehe Kapitel I), wo sich die DJs für kleinere Partyreihen trafen, um Pläne für größere Dubstep-Veranstaltungen zu schmieden. Er ist ein weiteres Mitglied des Organisationsteams der Dubstep-Party-Reihe, für die er zur Zeit dieses Interviews noch nach einer passenden Location sucht, die dann wenige Monate später im Neuköllner Raum 18 starten wird. Torsten lebt schon seit fünf Jahren, in Neukölln. Gegenwärtig wohnt er auf der Weserstraße. Auch ist er verantwortlich für die Streetart im Kiez: Er gestaltet Sticker in Form von Albert-Einstein-Zungen,42 mit denen er die Wände der Straßen des Kiezes dekoriert, was er folgendermaßen erklärt: »Ich glaube, dass man den Leuten ein Gefühl von Gemeinschaft kommunizieren kann, wenn du etwas sichtbar machst, dass sich Leute mehr trauen und sagen: ›Ich probier’s hier‹. Als Robert meine Zungen gesehen hat, hat er gedacht: ›Ich bin hier nicht alleine, es gibt hier Leute, vielleicht sollte ich den Laden hier aufmachen‹. [Ich] wollte immer was produzieren. Bin immer von meiner Wohnung bis zur Reuterstraße hoch, und dann auf einmal gab’s [die Kneipen] Freies Neukölln, Kuschlowski […].« (Torsten in einem Interview am 04.12.2008)

41 »Crucially, club cultures embrace their own hierarchies of what is authentic and legitimate in popular culture – embodied understanding of which can make one ›hip‹.« (Thornton 1995: 3) 42 Zu »Streetart« oder »Urban Art« als künstlerische Ausdrucksform im öffentlichen Raum zählt neben »Graffiti« auch »Sticker-Art«, (vgl. Jakob 2008: 11) wie Torstens ZungenAufkleber. Diese hatten Wiedererkennungswert und fielen mir auf, als ich noch selbst auf der Weserstraße wohnte. Die Zungen waren aus einfachem Papier gefertigt und durch ihre Größe und Machart vergleichbar mit der berühmten »Andy-Warhol-Banane« des Künstlers Thomas Baumgärtel, der seine Banane vor allem auf unzählige Galerien und Museen sprühte (vgl. Ganz 2009: 7).

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Kai Jakob konstatiert in seinem 2008 veröffentlichten Buch, dass Streetart als Kommunikationsmedium in Berlin insbesondere in den Kiezen Friedrichshain, Kreuzberg und Mitte sichtbar wird und in diesen Vierteln deutlich wird, wie stark die Menschen ihren öffentlichen Freiraum mitgestalten und bewusst beeinflussen wollen (vgl. ebd. 2008: 11). Neukölln taucht im Kontext von Streetart in Berlin nicht auf. Dementsprechend macht Torsten auch auf das Fehlen von Kommunikationsräumen in Neukölln aufmerksam und schildert eine eher öde Atmosphäre in seinem Kiez. Doch gerade der triste Kontext motivierte ihn, mit anderen Kiezbewohnern in Verbindung zu treten und mit seinen Stickern in den Straßen Zeichen zu hinterlassen und den ihm zufolge noch unbesetzten Raum mit bildhaften Parolen zu codieren, die von Gleichgesinnten entziffert werden können.43 Die Identifikation mit dem Ort und eine Kiezzugehörigkeit bringt er mit dem Abstecken des Territoriums zum Ausdruck, in der auch geographische Vorgaben eine Rolle spielen. Den von Katrin Klitzke interviewten Berliner Street-Art-Künstlern geht es neben »Versuchen, Denkanstöße zu liefern« um die »Generierung eines ›Heimatgefühls‹« sowie eine Umdeutung oder Aufwertung von Orten (ebd. 2005: 122). Auch Torsten spricht davon, dass er im Kiez ein »Gefühl von Gemeinschaft« zu erzeugen versucht, was er parallel zu den Neueröffnungen der Kneipen im Reuterkiez betrachtet. Durch Streetart wird die Reibung zwischen Öffentlichkeit und einer individuellen und persönlichen Untergründigkeit deutlich: Zum einen bleibt die Identität des Künstlers wie beispielsweise der »Einsteinzunge« oft ein Mysterium, was Walde anhand von Beispielen anderer Streetart-Künstler konstatiert (vgl. ebd. 2007: 78). Dabei verdeutlicht die Markierung durch die Zungensticker die Sichtbarmachung des Territoriums nach außen. Ein vergleichbares Binaritätsmuster von Aktionen zwischen Öffentlichkeit und Untergrund lässt sich auch auf die Organisation von Dubstep-Partys in Neukölln übertragen, wie es später im Interview durch Torstens Aussagen deutlich wird. Nach diversen Tätigkeiten in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit44 lernte er Robert kennen, der 2005 die Kneipe Ä in der Weserstraße eröffnet hatte. Torsten legte dort die ersten Monate unentgeltlich Platten auf, »weil es neu war und um die 43 »Sie, die Graffitis, gehören zur Ordnung des Territoriums. Sie territorialisieren den decodierten, urbanen Raum – diese oder jene Straße, jene Wand, jenes Viertel wird durch sie lebendig, wird wieder zum kollektiven Territorium.« (Baudrillard 1978: 28) Werden die Botschaften einfacher Graffitis »gleich Null« (ebd., 37) gesetzt, so sieht Torsten seine Streetart als Versuch, mit anderen in Dialog zu treten, dies jedoch auf eine subtile Weise, die sicher nicht zugänglich für alle Kiezbewohner ist. 44 »Ich habe zwei Jahre den Club [Trompete] von Ben Becker gebookt, […] bei Pro 7 gearbeitet […], dann vor meinem Haus das Ä gefunden und dann gesagt ›ich mach mal eine Pause vom Business‹, weil ich vierzehn Stunden gearbeitet habe […].« (Ebd.)

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Idee, den Traum von der kleinen Insel vor der Haustür, zu supporten« und versuchte auch in anderen Kneipen »eine Infrastruktur herzustellen.«45 Unter der Vorstellung des Kiezes als »Insel« versteht er einen noch relativ unbesetzten Charakter des Kiezes, der noch nicht eingebunden ist in feste Institutionen, so dass man sich hier kreativ und musikalisch ausleben kann. Die Kontakte zu einigen mehr oder weniger prominenten Menschen der Stadt und der Aufbau eines Netzwerks, auf das er für seine Zwecke nun immer wieder zurückgreifen kann, spiegeln das soziale Kapital46 wider, auf das er auch für zukünftige Vorhaben zurückgreifen kann. Seine Plattensammlung erörtert Torsten wie folgt: »Es gibt zwei, drei Plattenläden, die [für mich] in Frage kommen, [die] sind in Kreuzberg und in Friedrichshain. Die nenn’ ich jetzt mal nicht, […] weil […] das so ein bisschen mein Kapital ist. Ich würde es noch nicht mal meinem besten Freund sagen. Ich sage ihm dann auch immer, dass ich nach dieser Musik gesucht habe, weil ich mich halt auf den Weg gemacht habe, und ich glaube, dass manchen Leuten die Chance genommen wird, zu suchen und zu finden, wenn man ihnen sämtliche Informationen vorgibt, das ist genau wie in der Presse in der Kommunikationstheorie. […] Meine Plattensammlung wird in 30 Jahren mehr Sicherheit bieten, als ein Sparbrief oder eingezahlte Rente. […]. Du wirst nie sagen können: ›Es ist neu‹. Ich will den Mund nicht voll nehmen, aber ich habe viel von neuer zeitgenössischer Musik von Steve Reich bis Hot Chocolate stehen. […] Dubstep war was, wo ich sagte: ›Hurra! Da kann immer was Neues passieren, da kommt plötzlich ein Bluestrack auf Dubstep-Rhythmus raus […]‹. Neue Plugins führen auch zu neuen Klängen. Das bedingt auch neue Formen; nicht neue Musikrichtung, aber neue Stile.« (Torsten in einem Interview am 04.12.2008)

Der Plattenladen – Rapp zufolge auch »Geschmacksbildungsinstitut«47 – steht somit für Torstens subkulturelles Kapital48, das sich aus dem selektivem Sammelcharakter 45 »›Wenn ihr Konzerte macht, fragt mich‹, hab’ ich gesagt [und] dann mit Jana Pallaska, die mich noch von der Trompete [kannte], das erste Konzert […] im Kuschlowski [veranstaltet].« (Ebd.) 46 Dies bedeutet das dauerhafte Netz von Beziehungen (vgl. Bourdieu 1985: 11). 47 »Jeder Plattenladen ist eine Erziehungsanstalt […]. Der Habitus der meisten Plattenhändler hat etwas von der Mischung aus kleindealendem Junkie und Privatdozent ohne Aussicht auf Professur. […] Gerade im Bereich Techno und House waren in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder Plattenläden die Institutionen, um die herum sich ein Haufen Begeisterter sammelte, um etwas Eigenes zu machen. […] Hier geht es auch um Wissen – oft auch Herrschaftswissen, jeder Händler stellt besondere Platten für seine Stammkunden zurück.« (Rapp 2009: 246, 248) 48 Während die Größe einer Plattensammlung Hinweis auf sein subkulturelles Kapital ist, leistet auch die Umgebung, in der eine Schallplatte produziert wurde, einen Beitrag zur Authentizität des Tonträgers (vgl. Thornton 1995: 66, 118).

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und dem Wissen um die Sounds auf den Scheiben ergibt.49 In die Riege der Interpreten seiner Plattensammlung reiht sich Dubstep als etwas Neues ein, das sich für Torsten durch die Wandlungsfähigkeit des Genres als etwas Wertvolles entpuppt. Meine Frage, ob eine Subkultur für Dubstep in Neukölln existiert, bejaht Torsten einschränkend: »Ja, die gibt es, … noch.« (Ebd.) Pläne für diese »noch«-existente Subkultur in Neukölln, schildert er wie folgt: »Ich hab’ jetzt eine neue Reihe, für die wir gerade […] die bestmögliche Location suchen. […] Das ist eine gute Möglichkeit, hier zu starten, weil […] das im kleinen Rahmen für eine bestimmte Art von Publikum ist, […] das gerade aufgrund von Informationseindämmung nicht herfinden kann. Gerade jetzt baut sich im Genre Dubstep was auf und [es passiert gerade] recht Fragwürdiges, weil Leute die Idee Dubstep zwar kommuniziert bekommen haben, aber überhaupt nicht wissen, worum es eigentlich geht. […] Aber ich hab meine Quellen, aufgrund meiner Konzertveranstaltungen mit Leuten und merke, wie es da ist, wie sich so ein Thema immer weiter verbreitet und manche Leute […] wie auf einen Zug aufspringen und sich ein common sense herausbildet […]. Ein neues Thema kommt raus, es wird darüber geschrieben, […] ich lese es in der Intro und in der Spex

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und mache da mit, habe aber gar

keine Wurzeln, und dadurch stirbt dieses Feld. […] Und ich versuche halt wirklich nichts weiter zu tun als diese Quellen zu schützen. […] Ich versuche Leuten wie Tom [einem DJ] den Rücken freizuhalten. […] Automatisch versteht man sich gut, wenn man gleiche Interessen hat, dann ist es auch egal, ob die Leute in LA sitzen. in London, Oslo, Peking oder über Mailkontakt. […] Dann gibt’s noch die Alte Post und die Kindl-Brauerei.

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Leute in der

Szene kennen sich aus mit den Guerilla-Themen. […] An sich finde ich es viel spannender von Null auf anzufangen, […]. Wenn ich sage: ›Ich [war] von Anfang an dabei, als Dubstep noch niemand kannte‹, dann weiß ich, dass ich damit wirklich Wurzeln geschlagen habe, und dass ich damit immer noch am besten arbeiten kann.« (Torsten in einem Interview am 04.12.2008)

49 »Jedes kulturelle Gut, von der Küche […] bis zur seriellen Musik, kann Gegenstand von Eindrücken werden, die von der einfachen unmittelbaren Empfindung bis zu einem gebildeten Genuß reichen, der mit dem Wissen um die Traditionen und Regeln des Genres auftritt.« (Bourdieu 2006: 79) Das kulturelle Kapital spiegelt den Besitz kultureller Güter sowie Fähigkeiten der Reflexion dieser wider (ebd. 1985: 11). 50 Terkessidis reflektiert die Tradition dieses Musikmagazins »Der Spex-Kritiker der sich selbst in einer bestimmten alternativen ›Underground‹-Praxis befand, sensibilisierte ([…] für die beste Musik), indem er sich mit ihr identifizierte und gleichzeitig ihre ästhetische Subversionskraft oder Sperrigkeit aufzeigte.« (Ebd. 2006: 150) 51 Die Alte Post und die Kindlbrauerei sind Orte in Neukölln, in denen in unregelmäßigen Abständen Partys stattfinden. Zum Zeitpunkt des Interviews mit Torsten verläuft dies noch recht geheim (CH).

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Neben den lokalen Netzwerken fungieren auch die globalen Netzwerke, wie auch der Kontakt zum britischen DJ Terry, als soziales wie auch kulturelles Kapital. Dubstep und die dazugehörigen DJs sind zu »schützen« und lediglich einem »kleinen Rahmen«, einem speziellen Publikum zu offenbaren. Torsten erklärt sich unabhängig von populären Medien und grenzt sich dadurch von einem Mainstream ab.52 Zwar thematisiert Torsten die Problematik, dass Medien von Anfang an effektiv bereit sind, subkulturelle Formen musikjournalistisch aufzubereiten und auch zu konstruieren, wie es auch Thornton im Sinne Bourdieus für Techno konstatiert (vgl. Bourdieu 1990: 139 nach ebd. 1995: 117). Andererseits sieht Torsten seine Aufgabe ebenfalls in der Promotion der Dubstep-Veranstaltungen, die sich in ihrer Art und Weise irgendwie von den konventionellen Medien abheben müssen. Er informiert auf Plakaten über die Neuköllner Partys und pflegt sein Netzwerk bei Myspace und facebook sowie eine Mailingliste, deren Mitglieder Einladungen zu Veranstaltungen erhalten. Erscheint die Art der Reklame durch die von ihm genutzten Micromedien53 versteckt und untergründig, muss gefragt werden, wie »micro« diese Medien überhaupt sind. So stellt Thornton auch fest, dass bei diesen scheinbar unabhängigen Medien vergessen wird, dass die Straße von der Werbeindustrie längst als Ort der Marktforschung erkannt wurde (vgl. ebd. 1995: 138) In diesem Sinne veranschaulicht auch das Medium Streetart zunehmend die Verschränkung der Ästhetik von Stadtleben und Reklame (vgl. Walde 2007: 49).54 In Torstens Perspektive ist Dubstep trotzdem eine Subkultur mit eigenen Wurzeln, deren Originärität es vor sogenannten Massenmedien zu schützen gilt.55 Das Motto: »Zuerst da sein, unbekanntes Terrain auskundschaften, ab und zu Informationen übermitteln, […] denn im Mainstream lauert der Ausverkauf« (Rapp 2009: 49) spiegelt sich in Torstens Ansichten wider: Das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und verstecktem Handeln, der Wechsel zwischen Kommunikation und Nichtkommunikation in der Streetart sowie die Beziehung zwischen einem Overground und einen Underground veranschaulichen die paradox anmutenden

52 Erst der Geschmack gibt den kulturellen Artefakten eine »distinktive« Bedeutung. [...] Geschmack ist dadurch ein Mittel sozialen Kampfes; über Geschmack bilden und verfestigen sich Klassengegensätze.« (Bourdieu 1995: 21f. nach Klein 2004: 228) 53 Micromedien, wie Flyers, Mailinglisten, Einladungen via facebook und Myspace, Straßenplakate sowie nicht zuletzt Mund-zu-Mund-Propaganda, die über neueste Partys informieren, genießen unter den Clubbern die größte Glaubwürdigkeit, da sie auf ein fein selektiertes Publikum abzielen – und dies auch nachts (vgl. Thornton 1995: 138). 54 Dabei sind die Übergänge einzelner Genres der Kunst zu anderen Bilderwelten, wie die von Streetart zur Reklame im öffentlichen Raum, fließend (vgl. Kerscher 1996: 154-165). 55 Thornton konstatiert diese Gesinnung als stereotyp für die Akteure von Clubkulturen (vgl. ebd. 1995: 116-117).

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Merkmale subkultureller Ideologien und den Kampf um die vermeintlich originäre und authentische Musikkultur Dubstep. Der Raum 18 als Party-Location Die Idee »von Null an dabei [zu] sein« charakterisiert Torstens Pioniergedanken und legitimiert für ihn den subkulturellen Status des Genres, für welches nun noch der passende Ort gefunden werden muss. Torsten erkennt, dass es »eine gute Möglichkeit [ist], hier [in Neukölln] zu starten«, auch, weil sich der Kiez sich durch den bislang unbesetzten »Insel«-Charakter für den von ihm als noch Subkultur bezeichneten Dubstep gut eignet. Ein paar Monate nach dem Interview lassen Torsten und seine DJ-Kollegen die neue Dubstep-Reihe im Raum 18 in Neukölln anlaufen. Die Location ist in der Vorstellung von Flo und Torsten ideal, um eine untergründige Party zu starten, auch weil sie sich abseits populärer Clubmeilen56 befindet, von denen sich die Akteure abgrenzen möchten. Seit April 2008 finden im Raum 18 Veranstaltungen statt, auf denen man Torstens Wunsch zufolge bei voller Lautstärke »auch mal rauslassen kann«.57 Der Club befindet sich außerhalb des S-Bahn-Rings auf einem ehemaligen Fabrikgelände in der Ziegrastraße 18 und ist über einen kurzen Fußweg von der Haltestelle Sonnenallee zu erreichen. Die Organisationsteams des Raum 18 setzen sich aus Akteuren zusammen, die im Kiez leben oder auch in anderen Läden Neuköllns aktiv sind.58 Im Raum 18 wird sowohl der vordere als auch der hintere Bereich für Konzerte und Performances genutzt.59 In einem schlauchähnlichen Zwischenbereich wird an einer Theke Flaschenbier verkauft. Auf Partys ohne Performances beschallen DJs gleichzeitig Vor- und Hinterraum mit unterschiedlicher Musik.

56 Rapp identifiziert eine Techno-Partymeile, deren Locations sich am Spreeufer entlang vom nördlichen Ende des Alexanderplatz bis zum Badeschiff kurz vor dem Treptower Park ziehen (vgl. ebd. 2009: 28-30). Zuvor, in den frühen 1990er Jahren, wurden die Brachflächen um den Potsdamer Platz als Technoregion genutzt (vgl. Vogt 2005b). 57 Torsten formulierte seine Wünsche für einen Club in Neukölln vor Eröffnung des Raum 18: »Ich wünsche mir einen Ort, wo man auch rauslassen kann. […] Es gibt Musik, die braucht ein bestimmtes Volumen. Es ist nicht Halligallimusik, die wirkt anders wenn ich sie nur auf halber Lautstärke spiele.« (Ebd. in einem Interview am 04.12.2008) 58 Beispielsweise aus Aktiven des Loophole, des O Tannenbaum sowie des NK, das zwar streng geographisch betrachtet in Treptow liegt, sich jedoch mit Neukölln identifiziert – was anhand seines Namens deutlich wird. 59 An den diversen Abenden, an denen ich den Club aufsuche, finden in beiden Räumen im Wechsel Aufführungen oder Konzerte statt (CH).

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Viele Neuköllner Musiker, die ich interviewte, waren selbst Partygäste im Raum 18, so auch der Komponist Jeffrey60, der die Qualitäten der dortigen Partys wie folgt zusammenfasst: »I am going to Raum 18 […], because … it is not this omniberlin kind of consumer thing [and] the only place in town, that I know, where completely out-experimental musical performances exist side by side with whole spaced electronic techno music. Last time was a party that the Loophole guys organized […]. In the backroom was really intense breakcore, it was totally dark with flashing light, and the front room was the DJ from Berghain, she was playing The Cramps, and there was some like sort of chip-musicy electric post 80ies. There was a guy playing a keytar, that he had recorded on his computer [...] like Prince. He played the guitar with his face. [...] You can talk fluently about general ideas about aesthetics at Raum 18. [With] an artist from Karlsruhe I talked [about] trends in comics, how artist think about themselves [and about] bicycles. You know, typical Berlin things.« (Jeffrey in einem Interview am 26.08.2009)

Die Bespielung der Räume mit diversen elektronischen Musikstilen, die Kombination von hartem Breakcore mit 80er-Jahre-Chipsounds und Live-Performances, spiegelt das Misch-Konzept des Raumes wider, das ihn für verschiedene Szenen interessant macht.61 Darüber hinaus eignet er sich für Gespräche unter Experten, die sich flexibel über Kunst, Ästhetik und Trends austauschen und stellt sich dadurch als Treffpunkt für exklusive Kulturtouristen oder Kosmopoliten heraus, wie sie schließlich im zweiten Kapitel auch in Neukölln identifiziert werden konnten.62 Auf der Ziegrastraße in der Nähe des Raum 18 befindet sich ein altes Haus, das mit einigen Proberäumen ausgestattet ist. Hier hat der US-amerikanische Musik-

60 Seine musikalischen Pläne in Neukölln kommen in Kapitel II und IV zu Wort. 61 Klein bezieht sich in ihrer Erläuterung über die Clubkonzepte auf Techno: »Die Identifikation der Gäste mit der Location, noch in den 80er Jahren ein Beweis für den Erfolg des Clubs, wird bei diesem Konzept hinfällig. In der Folge werden die einzelnen Szenen immer mobiler, orientieren sich an den angekündigten Party-Events.« (Ebd. 2004: 142) 62 »[...] cosmopolitanism contains hidden assumptions about the ranking of cultures. A cosmopolitan is, historically, and elect member of his or her society, familiar with the languages and high cultural products of European and American literature, art und music, able to converse about world history, philosophy, classical music, ballett, theatre and human rights. Culturally, such a cosmopolitan is an aesthetic consumer, living an elegant lifestyle, a connoisseur of good wine, haute cuisine and haute couture; a fashionable person with immaculate table manners, a sophisticated conversationalist and bon vivat, au fait with the latest novels and world current affairs.« (Werbner 2008: 50)

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produzent Gordon Raphael63 vor zwei Jahren sein Studio eingerichtet. Auch wenn er die Räumlichkeiten dieses Studios nicht als ideal empfindet, drückt er angesichts der gegenwärtigen Musikwirtschaft Zufriedenheit aus:64 Die Miete seines Studios ist ihm zufolge erschwinglich, und außerdem leben in der Nachbarschaft einige seiner Freunde. Seit neuestem sieht er auch regelmäßig junge Party-People zum Raum 18 flanieren, was nicht unbedingt im Kontrast steht zu der tagsüber trostlos anmutenden Lage des Fabrikgeländes. Neben seinem Studio auf der Ziegrastraße befinden sich mehrere kleine Fabrikhallen, ein schnell hochgezogenes Hochhaus einer Hotelkette sowie ein Schrottplatz. Am Ende des Interviews schaut Gordon aus seinem Fenster auf den begrünten Schifffahrtskanal, der umrahmt ist von einer Halde mit Elektroschrott, und sinniert beinahe poetisch: »I really like this area: beautiful trees and an ugly junkyard. I like the two levels, the ugliness and the beauty.« (Ebd. in einem Interview am 10.10.2009) So wie er die hässlich-schöne Landschaft beschreibt, bildet sie die klischeebeladene Bilderbuchkulisse für neues Nightlife in Berlin. Wie in Darstellungen der Umgebungen von Warehouse-Partys in den 1980er-Jahren65 fügt sich das ehemalige Fabrikgebäude Raum 18 als Partylocation ideal in die trostlose Umgebung des ehemaligen Grenzgebiets ein. 63 Der Produzent Gordon Raphael ist Anfang fünfzig, stammt aus Seattle und lebte einige Zeit in London sowie in New York, wo er unter anderem die Band »The Strokes« produzierte. Er pflegt Kontakte zum Kreuzberger Studio Transporterraum (Gordon Raphael in einem Interview am 10.10.2009). 64 Zu der gegenwärtigen popkulturellen Berliner Musikwirtschaft äußert er sich so: »Berlin – creative people are coming from all over the world to work here finding new ways to mix art and Technology. […] It is less expensive, the other side is, that many German musicians I have met become very cynical, because they say that they don’t have the chance to be heard worldwide. I feel that there is kind of a creative depression going on here. With the music economy of what is actually going on here, it doesn’t make sense for me to invest in renting and soundproofing a professional recording studio, for I am hardly ever asked to record bands here. I am always traveling in Europe, and USA and South America too, working with bands, just never in Berlin where I live! I have tried for many years to find a place to work and I became quite frustrated, so I visited somebody in this building and they showed my an empty room, it is not the perfect place, but I am able to mix songs, and play my own music here so I am working, it is almost OK, but definitely not perfect.« (Gordon Raphael in einem Interview am 10.10.2009) 65 Als Reaktion auf die steigenden Kosten und den Elitismus großstädtischer Nachtclubs wurden »dance events« in verlassenen Lagern abgehalten. Die Bedrohung durch die örtliche Polizei setzte der Partyorganisation enge Grenzen, so dass sich die Veranstalter gezwungen sahen, andere Orte zu suchen, welche durch polizeiliche Interventionen weniger bedroht waren (vgl. Straw 2001: 173).

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IN S PACE . D ISLOKALISIERTE I DENTITÄTEN UND IMAGINIERTE M USIKRÄUME

Dubstep in Radio Space »Fictional rhythms: Eloquence and verbal rhythms, but also elegance, gestures and learning processes. Those, which are related to false secrets, or pseudodissimulations (short-, medium- and long-term calculations and estimations). The imaginary!« LEFÈBVRE 2004: 188 [HERV. I.O.]

Virtuelle Medien, wie Internetradiostationen und der Informationsaustausch in Chatrooms, schaffen Räume, die Auswirkungen auf die Selbstverortung von Musikern zeigen. So konstatiert Klein »[i]n Bezug auf Technobewegungen interessante Wahrnehmungsmuster, die sich auf die technischen Eigenheiten der Kommunikationsmedien beziehen«.66 Diese Wahrnehmungsformen spiegeln sich auch in den Aussagen der Neuköllner Dubstep-Akteure wider. Demzufolge umschreibt Terry seine Beziehungen zum Heimatland wie folgt: »I don’t live in Berlin; oh that was a Freudian slip. I live in Berlin, but a lot of my head still lives in London, because I feel like I am outside. I definitely feel connected, but there’s some part of my imagination, that will always be stuck in London, because it had such an impression on me in kind of how I relate to music. So, it’s a funny one; I live outside of where I feel my locale should be, but then London as a real physical place rather than like a music place. When I am there, I feel connected to something strongly, but when I am here, I feel like I am extending those connections about as far as I can stretch.« (Terry in einem Interview am 03.07.2009)

Terry ist gar nicht verwundert über seine Freud’sche Fehlleistung, durch die er sein gegenwärtiges Leben in Berlin verneint. Dadurch wird deutlich, dass er auf eine bestimmte Art und Weise nicht in Berlin lebt und zumindest in Gedanken viel in London ist. Terry empfindet eine tiefe Verbundenheit mit der Londoner Musik-

66 »Neben […] lokalen Informationsmedien, deren Wahrnehmung körperliche Präsenz und räumliche Mobilität erfordern, kommuniziert die Club- und Rave-Szene, wie keine andere Jugendkultur zuvor, auf globaler Ebene virtuell. Sie versteht es, die neuen Kommunikationstechnologien zu nutzen und verfügt über ein ausgefeiltes Informationssystem im Internet […].« (Klein 2004: 134)

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szene und versucht, die Beziehung zu dieser virtuell aufrecht zu erhalten. Berland schreibt Radiostationen räumlich konstituierende Fähigkeiten zu.67 Durch das Hören von Internetradiosendern schafft Terry sich also virtuelle, musikalische Räume. Henriques untersucht die Klangreproduktion68 von Reggae-Sound-Systems, die ihm zufolge in der Lage sind, durch sogenannte »acoustic spaces« räumliche und zeitliche Dimensionen einer Party aufzuheben. Die akustischen Phänomene würden die Besucher einer Reggae-Veranstaltung förmlich wegblasen und an Orte »anywhere in the diaspora« befördern.69 Wie Henriques »acoustic spaces« auf ReggaeVeranstaltungen beziehen sich auch die »cybercommunities« von Pinard/Jacobs auf diasporische70 Gemeinschaften (vgl. ebd. 2006: 83-106). Doch mit der Absicht, Benedict Andersons Konzept von »imagined communities«71 zu erweitern, da dieser dem Individuum durch die Mitgliedschaft einer Nation Grenzen vorgibt, die 67 »Radio, like other media, is constituted (and constitutes us) spatially as much as by genre, significance, or mode of address.« (Berland 2004: 201) 68 »With a sound the Technological is social, and the social is Technological. This two-fold Technological and social constitution of the auditory sense itself, as well as sound systems, has been a particularly important idea for the debates on Afro modernity [...].« (Henriques 2008: 137f.) 69 Mit Hilfe Merleau-Pontys Phänomenologie und D.C. Williams’ Begriff »acoustic space« beschreibt Henriques das durch Reggae-Sound-Systems akustische Phänomen einer »sonic dominance«, einer Intensität und Materialität des Sounds, der den Zuhörer förmlich »wegbläst« (vgl. ebd. 2003: 457, Übers. CH). »The sonic dominance generated in the Reggae sound system session draws attention to our intimate and multiple connections not only with our body, but also with our spatial and temporal environments. [...] The sonic operates with the qualities of mood, colour, texture, timbre and affect, rather than the quantities of measured calculations. The particular spatiality attaching to the sonic has been described as acoustic space. This is kind of space you are inside as well as outside and it is inside you as well as you being inside it.« (Ebd. 2003: 458f.) Sogenannte »acoustic spaces« und »sonic spaces« sind angereichert mit einer »living tradition of the moment« (ebd.). Henriques betont eine Materialität des Sounds im »Hier und Jetzt« der Situation und schließt daraus die paradoxe Folgerung, dass der akustische Raum außerhalb seiner selbst existieren kann und die Auflösung des konkreten Raums vermag (vgl. ebd.). Ähnlich beschreibt Daynes den Vergemeinschaftungsprozess sogenannter diasporischer Gemeinschaften durch Reggae (vgl. ebd. 2005: 25-41). 70 Diaspora wird traditionell definiert als eine Zersplitterung ethnischer Populationen aus einem Heimatland in fremde Regionen zumeist unter erzwungenen und traumatischen Umständen, die »yet retain a myth of their uniquess and interest in their homeland« (Gonzalez 1992: 31). 71 Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso 1991.

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physisch gar nicht existieren mögen, erarbeiten Pinard/Jacobs den Term »virtuelle Diaspora« (ebd.). Ihre Cybercommunities brechen also mit dem Verständnis von Grenzen von Nationen. Diese Art von Diaspora kann als Metapher verstanden werden für ein Areal, in welchem soziale Agenten (Musiker, Webdesigner, Journalisten) – abhängig von Erfahrungsdynamiken – zu einer dominanten Ideologie oppositionell Stellung beziehen. Virtuelle diasporische communities werden somit als Räume und Felder konzeptualisiert, in welchen »social agents« um mehr Autonomie für ihre kulturelle Produktion kämpfen.72 Die Ideen, die sich auf das virtuelle und delokalisierende Vermögen von akustischen Räumen beziehen, können auf Terrys Empfindungen jener »extended experiences« übertragen werden. Terry sieht seine musikalischen Wurzeln in London und holt sich die dortigen Dubstep-Sounds via Internetradio nach Berlin. Die Berliner Umgebung erscheint ihm in Bezug auf das Genre eher fremd und beinahe als überengagiertes Entwicklungsland. Durch sein Bestreben, mit dem Musikleben seiner Heimat in Verbindung zu bleiben, kann Terry im Sinne von Pinard/Jacobs also im übertragenen Sinne als als »DJ in Diaspora« bezeichnet werden. Räumliche Klangeigenschaften des Dubstep »We easily confuse rhythm with movement [...], speed, a sequence of movements [...]. [W]e tend to attribute to rhythms a mechanical overtone, brushing aside the organic aspect of rhythmed movements. […] Historians and economists speak of rhythms: of the rapidity or slowness of periods, of eras, of cycles; they tend only to see the effects of impersonal laws, without coherent relations with actors, ideas, realities.« LEFÈBVRE IN RHYTHMANALYSIS 2004: 5-6 [HERV. I.O.]

Vergleichbare räumliche Vorstellungen von Musik, wie sie Terry zu erklären versucht, kommen auch bei einem weiteren Neuköllner Musiker zur Sprache: Bob (siehe auch Kapitel II) ist Ende zwanzig, stammt ursprünglich aus Alaska, hat in 72 Am Beispiel des HipHop veranschaulichen Pinard/Jacobs, dass diese musikalischen Räume aufgrund ihrer Existenz im Internet und der geteilten Interessen ihrer Mitglieder konzeptualisiert werden: 1. als Gebiete die weniger stark konstituiert sind als Nationen und Staaten und 2. als Räume, die das Überschreiten traditioneller Grenzen wie Ethnizität, Rasse und Geschlecht ermöglichen (vgl. ebd. 2006: 85).

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Texas Informatik studiert und lebt seit fünf Jahren in Berlin, wo er eine Festanstellung als Programmierer bei der Firma Native Instruments73 hat. Seit Mai 2009 wohnt er im Neuköllner Reuterquartier.74 Er selbst produziert Musik, die er über unabhängige Plattenlabels vertreibt, ist durch seine Anstellung jedoch nicht angewiesen auf finanzielle Einnahmen durch seine Musik. Das Ausgehen in Berliner Clubs und DJ-Sets inspirierten Bobs Musikproduktionen.75 Außerdem hält er sich durch das Hören von speziellen Internetradiostationen im Bereich elektronischer Musik auf dem neuesten Stand. Sein Aktionsradius für Konzert- und Partybesuche richtet sich nach Auftritten von Bekannten und ist über die gesamte Stadt verteilt. Neuerdings besucht er auch Dubstep-Partys im Neuköllner Raum 18. Produzierte er in seinen Berliner Anfangszeiten zumeist Techno, arbeitet er nun auch an Dubstep-Tracks.76 Wie für Flo stellt sich Dubstep auch für ihn deshalb als besonders attraktiv heraus, weil sich dieses Genre flexibel mit anderen Stilistiken kombinieren lässt, was ihm in seiner Arbeitsweise vielfältige Freiheiten bietet.77 Die Begeisterung für Dubstep verdeutlicht Bob durch eine unaufgeforderte Beschreibung folgendermaßen: »Dubstep […] – die sind schon innovativ. Die experimentieren viel mit dem Rhythmus von Bass und nicht so sehr mit den Trommelsounds. Alles Schnelle [kommt] vom Bass, der aus vielen Lagen besteht, um wahnsinnige Synth-Sounds zu machen. Es gibt immer einen sehr 73 Native Instruments ist eine der beiden Musiksoftwarefirmen, die aus der Berliner Technoszene hervorgegangen ist. Wie auch beim Berliner Konkurrenten ableton arbeiten auch hier viele ehemalige DJs (vgl. Rapp 2009: 231). 74 Zuvor lebte er im Stadtteil Mitte, wo es seinen Angaben nach »perfekt« war, da er in dem damals besetzten Haus keine Rücksicht auf die Lautstärke nehmen musste und die Miete billig war (vgl. Bob in einem Interview am 23.09.2009). 75 »In Berlin it is very destructing, because I go to a show of experimental music and I go home and I get an idea for experimental music or I go to a Techno show and I want to make Techno, and Dubstep is the same thing, I have not chosen to make a career out of my music. I am always making music, that influences me at the time. I was also making Techno music, when I first visited here. Because the music has this kind of reflection of what I was into at this time.« (Bob ebd.) 76 »Now I am trying some Dubstep, there is a new genre called sqee, funk mixed with electronic music with HipHop mixed with soul, and then it can be a little ›dubsteppy‹, gaining popularity, but more difficult for djing, because it is a weird type of electronic music, I have been listening to this a lot, and the closes stuff, my stuff sounds like squee, but every sound is a completely different chapter.« (Ebd.) 77 Im Allgemeinem kann er seine Musik keinem festen Genre zuordnen, was sich für Plattenlabels als Problem darstellt, doch eine Internetradiosendung, die primär Dubstep spielt, zeigte sich seinen Tracks gegenüber offen (vgl. ebd.).

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sauberen Sinus, der unten alles ausmacht. Dann gibt es ein buzzing bass, und oben ist mehr buzz mit atmosphärischen Sounds. Es geht normalerweise von unten, wo meistens der Bass ist. In der Mitte ist ein bisschen weniger Bass. [It has] the hardcoreness of HipHop, with the intense bass like something like drum and bass and it could be slow and fast at the same time, can be easily mixed with HipHop and Techno, it has a lot of flexibility, and the fact is, that it took over everywhere at the same time, it is really strange. It is different to other genres.« (Bob in einem Interview am 23.09.2009)

Räumliche Beschreibungen von Musik, wie sie Bob anhand Dubstep verdeutlicht, sind mir nicht fremd. Doch hake ich weiter nach: »Denkst Du, das ist wirklich räumlich?« Bob beantwortet meine Frage folgendermaßen: »Ja, es ist bestimmt da. Der Bass ist ganz unten, aber eigentlich gibt es drei Lagen von Bass. You don’t exactly know, what is more loud, but you just feel it. You think ›I have never heard something like this before‹«. (Ebd.) Im Zusammenhang mit der Innovation des Genres betont Bob also die räumliche Dimension des Dubstep, die er durch die Existenz verschiedener im Raum verteilter Lagen des Basses begründet. Seine Vorstellung des Dubstep-Sound als Klangraum von komplex ineinander verwobenen Rhythmen und Bässen spiegelt die Wahrnehmung eines Musikjournalisten wider, der das Genre in einer Radiosendung im Sommer 2011 versucht zu beschreiben.78 Die unterschiedlichen Lautstärken verschiedener Bässe, die für Bob ein räumlich erfahrbares Netz ergeben, können im Moment des Zuhörens zwar nicht konkret unterschieden, nach Bob jedoch gefühlt werden. Der Globalisierungsforscher Thomas H. Eriksen unterscheidet anhand eines Buches von Bill Martin79 zwischen linearer Musik, zum Beispiel Rockmusik,80 und 78 »Dubstep: man hat diese laaangsamen Bässe und darüber diese zickigen HighHats. Man versucht ja gelegentlich auch, sich dazu zu bewegen, weil die HighHats ja schon so’n bisschen in den Hüften zwicken und in den Hintern treten, aber wenn man so zwei Geschwindigkeiten hat, kommt man halt immer nicht klar. Also, wer wirklich versucht, zu Dubstep zu tanzen. Na, das sieht immer ein bisschen […] körperversehrt aus […], aber es ist aus dem Dub heraus und aus dem Techno heraus, gewissermaßen die Synthese, also es führt zusammen: den experimentellen Gestus des Minimal Techno, also auch das Minimalistische, und das Interesse an Sounds und was kann man da noch machen von Software und elektronischen Klangbearbeitung und Manipulation auf der anderen Seite diese wahnsinnige Entschleunigung und auch Wärme, die der Dub halt immer ausstrahlte.« (Balzer in einem Gespräch auf Radio Eins am 13.06.2011) 79 Bill Martin: Listening to the Future: The Time Progressive Rock, 1968-1978. Chicago: Open Court 1998. 80 »[T]he former has a beginning, a long middle (internal development) and an end or climax.« (Eriksen 2007: 45)

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nicht-linearer Musik, worunter er House, Techno, drum’n’bass und vergleichbare elektronische Stile zählt, denen auch Dubstep zugeordnet werden kann.81 Die letzteren Musikgenres sind demzufolge gekennzeichnet durch sich wiederholende, rhythmische Muster, wobei eine innere Entwicklung und eine Richtung fehle. Eriksen fasst Martins Beschreibung der Wahrnehmung von elektronischen Tanzmusikgenres zusammen: »Enjoyment of such music is generally undertaken through entering a room full of sound where a great number of aural things are happening, and staying there until it no longer feels cool.« (Ebd. 2007: 44) Auf Martins Ausführungen stützend konstatiert Eriksen eine Unmittelbarkeit der elektronischen Musikstile in einem Raum, der den Besucher einer Tanzveranstaltung schon nach kurzer Zeit verschlucke, da ein vorläufiges Gesamtbild des Sounds durch die dicht überlagerten Sounds immer gegeben sei.82 Die Überlagerung der Sounds in der nicht-linearen Musik – also die Gleichzeitigkeit der rhythmischen Elemente in immer neuen Kombinationen – sei nach Martin das Resultat von Beschleunigung und damit auch Ausdrucksform der Postmoderne.83 Eriksen überträgt Martins Ausführungen auf die Struktur globaler gesellschaftlicher Lebensstile, in welchen es darum gehe, gleichzeitige Informationsprozesse in hohem Tempo zu verbreiten und es deshalb schwierig werde, Ordnungen und sich entwickelnde Strukturen zu schaffen (vgl. ebd. 2007: 44). Auch für Lefèbvre spiegelt sich »Rhythmus« als Begriff für gesellschaftliche Strukturen in den Schilderungen von Wirtschafts- und Geschichtswissenschaftlern wider, wie aus dem Zitat Lefebvrès zu Beginn des Kapitels hervorgeht. Des Weiteren erinnert das an Martin angelehnte Modell Eriksens an McLuhans Vorstellung der »globalen Gemeinschaft«.84 81 Es kann angenommen werden, dass das Genre Dubstep zum Zeitpunkt der Publikation Eriksens noch nicht in jener populären und exemplarischen Form existierte wie andere elektronische Genres, die er nennt. 82 Im Kontrast zur Rockmusik, die Martin zufolge erst durch das Zuhören linearer Entwicklungen, zum Beispiel einer Melodie, also auf der horizontalen Zeitebene erfasst wird (vgl. Martin 1998: oS nach Eriksen 2007: 44-45). Martin scheint zu ignorieren, dass selbst elektronische Musikgenres neben einer vertikalen Schichtung lineare Entwicklungen aufzeigen. 83 »As with postmodern architecture, the idea in this stacking is that […] any sound can go with any other sound.« (Martin 1998: 290 nach Eriksen 2007: 44) Eco äußert sich zu dem Begriff der Postmoderne folgendermaßen: »Unglücklicherweise ist ›postmodern‹, heute ein Passepartoutbegriff, mit dem man fast alles machen kann. […] Man könnte geradezu sagen, daß jede Epoche ihre eigene Postmoderne hat […].« (Ebd. 1988: 75) 84 Die dichte Struktur der Musik fungiert in Eriksen Konzept im Sinne McLuhans als »elektronisches Nervensystem« globaler Gesellschaften. Die durch McLuhan erkannten Konsequenzen der Massenmedien benennt Eriksen in der Einleitung zu seinem Buch Globalization. The Key Concepts (vgl. ebd. 2007: 2).

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Auch Bob beschreibt die räumliche Qualität des Dubstep, die durch eine polyphone Rhythmusstruktur und die verschiedenen im Raum verteilten Lagen des Basses entsteht. Seine Beschreibung der Soundstruktur des Dubstep spiegelt sich zweifellos in der von Martin konstatierten unmittelbaren Dichte der Sounds und Rhythmen von Tanzmusikgenres wider. Die Musikredakteure auf Radio Eins unterhalten sich über die Soundanlage im Berliner Club Berghain, der sich in Friedrichshain befindet. Jene Soundanlage mit dem Namen Funktion-One setze demnach hohe Maßstäbe und sei deshalb der Ort, »an dem sich Dubstep am besten abbildet [und] wo Leute im Klang badeten« (A. Müller in einem Gespräch auf Radio Eins am 13.06.2011). Thornton konstatiert in diesem Kontext, dass neue Technologien in der Musikproduktion neben Veränderungen der Wahrnehmung auch neue Konzepte von Authentizität ermöglichen (vgl. ebd. 1995: 29, vgl. Moore 2002: 204). Die räumliche Dimension, welche Bob sowie die Musikjournalisten dem Dubstep zuschreiben kann deshalb in Abhängigkeit gestellt werden mit technologischen Entwicklungen des Party-Equipments. Die Vorstellung der musikalischen und rhythmischen Klangstrukturen des Dubstep als konkrete Ausdrucksform oder Spiegel globaler Zeitstrukturen, wie es Martin für elektronische Soundstrukturen konstatiert, kann allein auf symbolischer Ebene geltend gemacht werden, fallen vielmehr in den Bereich einer auf Musik bezogenen Science-Fiction und bleiben zu hinterfragen.

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Erzähl- und Erinnerungsräume von Musik »It is not only through words that people either consciously or involuntarily recall past events and emotions, but also through sound and music. These memories of past events include the sensory experiences of having listened to particular recordings and interacted and tinkered materially with the devices that play them. Audio technologies allow people to reopen such experiences.« BIJSTERVELD/VAN DIJCK 2009: 11 »But what of the Ethnographic Ear?« CLIFFORD 1986: 12

Bob umschreibt den akustischen Raum des Dubstep und versucht, ihn in der Interviewsituation narrativ wieder aufleben zu lassen. So eröffnet er durch die erinnerten Klänge auch (Hör-)Räume, die für ihn unabhängig bestehen von einem konkreten Ort, beispielsweise der Partylocation, in der er sie wahrnahm. Zwar ist das Soundsystem im Raum 18 in diesem Fall an einen spezifischen Ort in Neukölln gebunden, doch scheint der dadurch gestaltete akustische Raum unabhängig von diesem zu sein und den ›konkreten, physischen Raum‹ vielmehr aufzulösen. Die Vergegenwärtigung des Klangraums, in welchem er sich auf der geschilderten Dubstep-Party auch körperlich aufhielt, spiegelt Don Ihdes Idee einer ›auditiven Vorstellung‹ wider. Ihde geht in seinem Konzept davon aus, dass eine auditive Wahrnehmung vorgestellter, also auch narrativ vermittelter Klänge, möglich ist.85 Bijsterveld/Van Dijck führen die Ideen der Novelle Perlmanns Schweigen von Pascal Mercier folgendermaßen fort: »It is through words, and only through words [...] that people create and construct their memories, thus appropriating, as it were, what has happened. [...] What about people’s sensorial memories – are narratives 85 Ausgehend von der Idee, dass man sich mit Hilfe der Vorstellungskraft »the sounds of the world« vergegenwärtigen könne, entwickelt er ein »Auditory Imagination«: »I can imaginatively hear the strains of a flute or a cello or both, or I can fantasize a debate between two of my colleagues who are not on speaking terms.« (Ihde 2003: 61) »A second variation of the ›disruptive‹ quality of sound on the occurences of auditory imagination and the continuities of ›thinking‹ comes more pleasantly in the enchantment of music, which can also overwhelm inner self-presence. In its sometimes orgiastic auditory presence the body-auditory motion enticed in the midst of music may lead to a temporary sense of the ›dissolution‹ of self-presence. Music takes me ›out of myself‹ […]«. (Ebd., 62f.)

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about one’s past capable of retrospectively changing sensory perceptions?« (Ebd. 2009: 11) Der Versuch, sinnliche Erinnerungen zu vermitteln, geschieht also allein mit Hilfe von Worten, die allerdings die Erinnerung von Wahrgenommenem retrospektiv verändern können. Anhand des Techno verweist auch Thornton auf den oft abstrakten und irrationalen Charakter von Beschreibungen von Klangeigenschaften,86 der die Beibehaltung eines analytischen Rahmens einer wissenschaftlichen Arbeit erschwert. Zwar beschrieb Bob einen akustischen Raum, den ich meine, nachempfinden zu können und den ich mir irgendwie vorstellen kann, jedoch nicht konkret auditiv.87 Demnach ist es auch nicht möglich, die Wiedergabe einer sinnlichen Erinnerung, also Bobs Hörerfahrung, in Worte zu fassen. So stößt die Interviewsituation der musikethnologischen Feldforschung an diesem Punkt an ihre Grenzen. Über Musik lässt sich also nicht richtig sprechen, da Klänge und ihr Gefühlsgehalt immer subjektiv unterschiedlich. Andererseits entpuppen sich ebendiese Hörperspektiven, wie sie durch Bobs Expertenohr erkennbar wird, für die Interpretationsebene als bereichernd.88 Höflich beantwortet Bob die Frage, inwieweit denn die konkrete Umgebung Einfluss nehme auf den Prozess seiner Musikproduktion: »[The environment] can influence you [...], but I do not know if I can describe it. [...] I get really upset when I don’t make music, I need it as therapy, to cool off. It makes me much happier. [...] Yes, that is why it is so convenient with electronic music, too, you don’t need people to work with or a studio room or equipment, of course, there are advantages to work with people. [...] When I make music, everything else goes away, it is really, really nice, it is the best thing about it, especially when you are going through hard times.« (Ebd.)

86 »[…] for the most part I tried to maintain an analytical frame of mind that is truly anathema to the ›lose yourself‹ and ›let the rhythm take control‹ ethos of clubs and raves.« (Ebd. 1995: 2) 87 Die Vermittlung der konkreten Hörerfahrung durch eine teilnehmende Beobachtung auf einer Dubstep-Party würde keinen Unterschied machen zu Kurts Beschreibungen der Klangeigenschaften des Genres, da diese immer noch lediglich narrativ in Textform der Dissertation vorliegen würden, anstatt durch konkrete Sounds (CH). 88 »Given the context in which it appears, the inquiry about the ear appears to be at odds with the idea – by now enjoying a certain […] hegemony within anthropology and the humanities more broadly – that culture is ultimately the result of acts of inscription and that anthropolgy, because it seeks to decipher the meanings resulting from these inscriptions, is best understood as an act of reading and interpretation.« (Erlmann 2004: 1)

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Ich frage ihn, ob Musikmachen führ ihn deshalb ein gewisses Zuhause darstellt, was er folgendermaßen erläutert: »Music making is rather a deplaced experienced, [you can produce it] anywhere with electricity.« (Ebd. [Herv. durch CH]) Zwar spielte Bob als Jugendlicher zusammen mit Freunden in Bands, doch schätzt er das Entwickeln von Musiktracks allein an seinem Computer.89 Als kleiner Junge war er seinen Aussagen nach relativ viel allein und nutzte die Zeit gerne zur Arbeit mit dem PC, an dem er neue Stücke entwickelte. Diesen Arbeitsprozess bezeichnet er auch als »therapy«, um die negativen Erfahrungen des Alleinseins zu bewältigen. Diese Arbeitssituation, durch die er sich in die Lage versetzte, störende Gedanken und Gefühle aufzulösen, ist mit einem »flow«-Erlebnis (Csikszentmihalyi 1992: 193-214) vergleichbar. Dazu gehört, dass während Bobs Arbeitsprozesses die Vorstellungen von Raum und Zeit an Bedeutung verlören (»everything else goes away«).90 Zur Musikproduktion nutzt Bob Kopfhörer, die seine soziale Isolation verstärken mögen. Bull zufolge ist die Wahrnehmung des »bei sich bleiben« für den Nutzer von Kopfhörern jedoch auch eine Stätte der Sicherheit oder ein Zuhause.91 Der isolierte Zustand im Prozess der Musikproduktion existiert unabhängig von einem Aufführungskontext.92 Die Erweiterung des Erfahrungs- und auditiven Raumes durch den Gebrauch von Kopfhörern bringt die Unterscheidung zwischen privater Stimmung und der Umgebung des Nutzers zu Fall (vgl. Bull 2000: 35). In diesem Sinne ist Musikmachen für Bob auch ein »deplaced experience«, das überall da funktionieren kann, wo es eine Steckdose gibt, und das für ihn in Beziehung mit einem ›Zuhause‹ steht. Auf Emotionen bezogen konstatiert Dürrschmidt, dass ein Mensch sich körperlich an einem bestimmten Ort befinden könne, die Gefühle dabei jedoch an einen anderen Ort gebunden seien (vgl. ebd. 2000: 21). In Verbindung mit sogenannten 89 Der Name seines Soloprojekts, das an dieser Stelle anonym bleiben soll, benennt die Kooperation zwischen ihm und seinem Freund, dem Computer. 90 Des Weiteren können Bobs analytischen Beschreibungen des Sounds und das Erkennen von spezifischen Klangstrukturen auch als »flow«-Erlebnis interpretiert werden. In diesem Prozess wird im Sinne Csikszentmihalyis »die dem Werk zugrundeliegende Ordnung [erkannt].« (Ebd. 1992: 151ff.). 91 »As personal-stereo users traverse the public spaces of the city they often describe the experience in terms of never leaving ›home‹, understood either symbolically or sometimes literally. The aim her is not to reach outwards into a form of ›we-ness‹ but rather to negate distance enabling the user to maintain a desired sense of security.« (Bull 2000: 37) 92 Jody Berland verweist auf die alte Tradition isolierten Musikpraktiken im Studio im Kontrast zu Konzerten im Aufführungskontext: »We are familiar with the idea that musicians or singers isolate themselves from other musicians and perform their part of an overall sound with earphones and visual cues.« (Ebd. 2008: 32)

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›glokalen Landschaften‹93 schlägt er etwas provokativ vor, dass es kein klar definiertes ›Hier und Jetzt‹ mehr gibt und Situiertheit vielmehr verbunden ist mit »distant fragments of the fixed territory of the self, rather than being associated with the individual’s immediate Umwelt« (ebd. [Herv. i.O.]). In diesem Sinne stellt sich auch die unmittelbare Umgebung Neuköllns für Bob als unwichtig heraus. Durch die Produktion von Dubsteptracks schafft sich Bob einen Raum des Rückzugs und ein Zuhause, das nicht vordergründig im Kiez lokalisiert ist, sondern an einem anderen Ort. Auch Terry verortet seine musikalischen Interessen und die dazugehörigen Sounds in London, seinem »musikalischen Zuhause«, in dem er sich, hier in Neukölln, gerade nicht befindet. Die technologischen Möglichkeiten der Soundreproduktion spielen in der Konstruktion von Hörerlebnissen eine wichtige Rolle.94 Somit können Erlebnisse, die in der Vergangenheit liegen, also nicht nur durch Worte, sondern auch durch Sound und Musik ins Gedächtnis gerufen werden, wie es Bijsterveld/Van Dijck im Zitat zu Beginn dieses Unterkapitels veranschaulichen. Die Wahrnehmung von Sound ist bedeutend für die Erinnerung und nimmt Einfluss auf die Wahrnehmung der Umwelt und der räumlichen Verortung von Bob und Terry, was deren Mobilität im Kontext der Globalisierung widerspiegelt.95 Während Terrys auditive Erfahrungen ein virtuelles Reisen zwischen zwei Orten, Berlin und London, veranschaulicht, vermögen es auch Bobs musikalische Praktiken, die realen Alltagssituationen aufzulösen und neue akustische Räume zu schaffen, die mit dem physischen, konkreten Raum nicht viel zu tun haben. Die metaphorische Wirkung dieser als »displacements« bezeichneten Phänomene eröffnen neue Sicht-

93 »The extended milieu is an indication of this new glocal landscape. It consits of glocalized zones of familiarity, practical competence, and symblic situatedness, maintained across distance via individual mobility, access to global communications, and globalized presence availability of the nearest other.« (Dürrschmidt 2000: 174) 94 »In recent decades, the importance of sound for remembering and for creating a sense of belonging has increasingly been acknowledged. We keep ›sound souvenirs‹ such as reelto-reel tapes, cassette tapes, and long-playing albums in our attics because we want to be able to recreate the music we once cherished and the everyday sounds that were once meaningful to us.« (Bijsterveld/Van Dijck 2009: 11f.) 95 In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurden erste tragbare Abspielgeräte, wie beispielsweise der Walkman, hergestellt. Diese Tendenz kann parallel betrachtet werden zur der gesellschaftlichen Mobilität der Globalisierung: »The rise of portable electronics coincided with an increase in travel and transportation. Mobile Technologies that addressed the aural rather than the visual sense came to be seen as the perfect companions for people on the move.« (Weber 2009: 69)

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weisen und Seinsweisen für die in Neukölln lokalisierten Interviewsituation der musikethnologischen Forschung.96

5. L OKALE R EPRÄSENTATIONEN VON B ERLINER C LUBKULTUREN AUS DER S ICHTWEISE VON K ULTURWISSENSCHAFTLERN UND J OURNALISTEN Die Technogeneration der Nachwendezeit nutzte die Brachflächen um den Potsdamer Platz in den frühen 1990er-Jahren als Techno-Areal (vgl. Vogt 2005b). Als sich das Gebiet der ersten Technogeneration transformierte, fanden die Akteure neue Freiflächen für Partylocations entlang des Spreeufers – vom nördlichen Ende des Alexanderplatzes bis hin zum Badeschiff kurz vor dem Treptower Park (Rapp 2009: 28-30). Gabriele Klein umschreibt das Umfeld von Techno-Clubs 2004 wie folgt: »Noch heute existieren, neben den rein kommerziell ausgerichteten Clubs, ein paar avantgardistisch angehauchte, die sich wie in den Anfängen der Club-Kultur als Orte des Experiments entpuppen. […] Man findet sie häufig an den verwahrlosten Rändern des urbanen Raumes in einem Ambiente, das zu den elektronisch erzeugten Sounds paßt: in den Ruinen der Industrielandschaften, in leerstehenden Fabrikhallen und Lagerräumen, in Zechen oder auf Schrottplätzen. Environment, Architektur, Musik und Tanz gehen hier zumindest temporär eine Symbiose ein.« (Klein 2004: 141)

Auch noch im Sommer 2011 betont Rapp die Rolle Berlins für die Entwicklungen der Clubkultur.97 Die Pläne von »Mediaspree«98 und ein damit verbundener grund-

96 »The travelling narrative is a always a narrative of space and difference. It may not always broaden the mind but it prods at it. It provokes new concepts, new ways of seeing and being have been stubbornly imported into foreign territory, subjects them to strain and fatigue.« (Robertson 1994: 2) 97 »Es gibt diese Räume [in Berlin] noch, auch, wenn sie ein kleines bisschen stadtauswärts wandern und eben in der Stadtmitte nicht mehr so anzutreffen sind. Das ist auch das, was Clubkultur und Subkultur lebendig hält, dass man ständig sich neu erfinden muss, es ist natürlich schade, wenn ein Laden dicht machen muss, wie das Maria und die Bar 25, aber es sind beides Läden […], die viel […] länger offen hatten als ihre Macher sich erträumt hatten, es sind eigentlich Erfolgsgeschichten […]. Dass quasi die Mieten und Immobilienpreise so in die Luft geschossen sind, das ist ja kein Geld, das aus der Stadt kommt, das ist ja Geld, das von außerhalb kommt und mit einer bestimmten Attraktivität der Stadt zu tun hat für Leute, die gerne Flugzeug fliegen und die dann hier Wohnungen

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legender Umbau des Spreeufers würden deshalb nicht zum Aussterben der Technoszene führen, sondern lediglich zu einer Umorientierung der Clubmacher an weniger zentrale Bezirke (Rapp 2011: Radiointerview). Die als Geheimtipps gehandelten Clubs sind jedoch nur von kurzer Lebensdauer (vgl. Klein 2004: 141). So erfahre ich Mitte Juni 2010 auch von einem Neuköllner Veranstalter, der sowohl im Raum 18 als auch im Loophole Konzerte und Partys mitorganisiert, dass die Partylocation in der Ziegrastraße »aus rechtlichen Gründen in Kürze geschlossen wird« (facebook-Thread am 18.06.2010). Doch ein paar Monate später haben sich bereits zwei neue Locations in dem Gelände auf der Neuköllner Ziegrastraße angesiedelt.99 Bezogen auf die sich transformierende und immer wieder erneuernde Partylandschaft Berlin bestätigen sich somit die Prognosen von Journalisten und Kulturwissenschaftlern. Die Kultursoziologin Julia Werner listet folgende abseitigen Örtlichkeiten für die Lokalisierung von Techno und damit artverwandter Genres auf: »Wüstenkrater in Australien, ein ehemaliges Stationierungsgelände für Atomraketen, verlassene Bunker, Kellergewölbe, Burgruinen, Sandstrände, ausgediente Flughäfen, eine romantische Waldlichtung – das sind die ›Locations‹, an denen außerhalb lokaler Technoclubs weltweit Techno-Veranstaltungen stattfinden. Für die Techno-Szene ist es charakteristisch, durch immer neue Extravaganzen den Reiz des Besonderen und Originellen zu perpetuieren.« (Werner 2001: 31)

Ähnlich poetisch beginnt in Marcel Feiges Buch über Techno ein Kapitel mit der Überschrift »Am Anfang, da war Lärm« (ebd. 2000: 13), in welchem er die Anfänge des Techno im Sinne des Futurismus mit Entwicklungen der Industrie-

kaufen oder mieten, oder Zweitwohnungen […]. Das ist […]eine Blase [und] die Clubszene Teil der Stadt wie viele andere soziale Segmente der Stadt auch. Wann die[se] platzen wird – oder vielleicht stabilisiert sie sich auch – das [ver]mag ich nicht zu sagen.« (Rapp in einem Interview auf Radio Eins am 13.06.2011) 98 »Mediaspree ist eines der größten Investorenprojekte in Berlin. Es strebt die Ansiedlung von […] Medienunternehmen entlang eines Teils des Spreeufers und eine diesem Bereich entsprechende Umstrukturierung an. Auf größtenteils bislang un- oder zwischengenutzten Grundstücken sollen Bürogebäude, Lofts, Hotels […] entstehen. Die Planungen stammen überwiegend aus den 1990er Jahren, wurden aber wegen der damals schlechten wirtschaftlichen Lage nur zum Teil umgesetzt. Die Initiatoren sehen in dem Projekt eine große Chance für den Osten Berlins, Kritiker den Ausverkauf seiner wertvollsten Flächen.« URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Mediaspree (letzter Zugriff am 12.03.2013). 99 Bspw. der Veranstaltungsort namens Raum 20 sowie der Club Bei Roy.

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kultur und einer mit ihr in Zusammenhang stehenden Klangsphäre verbindet.100 In der Perspektive der Kulturwissenschaftlerin Schwanhäußer sind »Technopartys Erkundungen des urbanen Raums, der als Party-Location vorübergehend umfunktioniert wird«, so dass »Räume wie Fabrikhallen oder Warenhäuser […] von ihrer fixierten Funktion und Bedeutung gelöst und überhöht werden« (ebd. 2005b: 145). Im Sinne des Konzepts von Marc Augé lokalisiert sie Technoszenen in Berlin an sogenannten »Nicht-Orten«.101 Augé zählt unter Nicht-Orte vor allem geschichtslose und von Massen aufgesuchte Orte wie Flughäfen und Bahnhöfe, deren Identität sich durch einen transitorischen Charakter auflöst (vgl. Augé: oA nach Henriques 2003: 458). Nach Vogl kann Augés Nicht-Ort »als ein Raum entworfen werden, eine ebenso räumliche wie rhetorische Indetermination« sowie als »Ereignisraum, der sich vor allem als eine Verdichtung des Möglichen begreifen lässt« (ebd. 2005: 62, 65). Schwanhäußer hält Szenen außerdem als »typisches Stadtphänomen fest« und konstatiert, dass »[d]as Transitorische von Szenen […] nicht nur urbane Form, [sondern] auch zu einer kulturellen Form, zu einer Bedeutungsressource geworden« sei (ebd. 2005b: 142, 147). »Wie also die Szeneakteure den urbanen Raum in einen Transitraum verwandeln, so richten sie auch ihr eigenen Leben als eine permanente Übergangssituation ein.« (Ebd., 147) Zugleich verortet sie die Räume dieser »transitorischen« Technoszenen konkret in »traditionellen Arbeiter- und späteren Bohèmebezirke[n]« Berlins (ebd.). Zweifellos repräsentieren sich die interviewten Neuköllner Dubstep-Akteure gewissermaßen ›in transit‹: Mit Hilfe des Internets halten sie den Kontakte zu verschiedenen Städten aufrecht und bleiben somit mobil zwischen Orten, was auch die Schwierigkeit einer konkreten Lokalisierung des Musikgenres deutlich macht. Trotzdem hinterfragt Schwanhäußer nicht jene als »urbane Form« (ebd.) beschriebene Außendarstellung der Orte jener Szenen und das Vermögen der Begriffsform »Nicht-Ort«, seinerseits urbane Vorstellungswelten zu generieren. Die Sichtweisen Werners, Feiges, Kleins und Schwanhäußers reproduzieren Stereotype über Subkulturen und sind als Stilisierungen von Phänomenen eines »urbanen Raumes« zu betrachten. 100 »Die Wurzeln von Techno finden sich am Anfang des 20. Jahrhunderts. Europa ist komplett industrialisiert, Eisenbahnen und erste Flugzeuge lassen die Welt zusammenrücken. Maschinen- und Industriegeräusche geben den Rhythmus der Zeit vor. Musik und Kunst sind nicht mehr nur darauf erpicht, den Schöngeist ihrer Werke sprechen zu lassen, sondern setzen sich vermehrt mit sozialen Themen auseinander. Der italienische Futurismus ist gegen jede kulturelle und intellektuelle Tradition, zeigt sich fortschrittsgläubig und technikorientiert.« (Feige 2000: 16) 101 »Genauso wie Augés Konzept des Nicht-Orts auf theoretischer Ebene, artikuliert die Location als kulturelles Produkt der Technoszene eine neue Haltung zum Raum – […]. Die Location ist Ort und Nicht-Ort zugleich.« (Ebd. 2005b: 145)

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6. Z USAMMENFASSUNG UND D ISKUSSION »To shift from the analysis of global flows to the dynamics of contemporary metropolitan experience requires various kinds of ›translation‹: from space to place, from movement and circulation to social agents positioned within specific power constellations, from the social imaginary of a borderless world to practices of boundary maintanence.« ÖNCÜ/WEYLAND 1997: 10

Im Gegensatz zu einer Clusterbildung betont Bas Van Heur die vernetzte Organisationsstruktur der Berliner sowie Londoner Szene elektronischer Musik.102 Auch die Neuköllner Dubstep-Akteure verorten ihre musikalischen Praktiken aufs Ganze gesehen in globalen Netzwerken. Doch die Einbettung in das lokale Umfeld Neukölln spielt für die Bildung ihrer ›Subkultur‹ Dubstep ein wesentliche Rolle. Flo erkämpft sich seinen Musikraum in Neukölln gegenüber seiner Nachbarschaft. Die Lage an der Karl-Marx-Straße und ein taktisches Vorgehen machen Flos akustische Raumeroberung möglich. Im Kontrast zu den Musikern und Ladeninhabern im Reuterquartier, die sich an bestehende Lautstärkeregelungen halten, unterwandert er dabei Fragen der Lärmbelästigung. In seiner Wohnung auf der Karl-Marx-Straße im Herzen des Kiezes schafft Flo sich seine eigene kleine lokale Kreativzelle, die er auch anderen DJs zum Arbeiten anbietet. Auch Torsten geht taktisch vor arbeitet aktiv an der Einbettung seiner musikalisch-kreativen Lebenswelt in das lokale Umfeld und markiert das Neuköllner Gebiet vorab mit seiner Streetart. Wie Flo sucht er nach Gleichgesinnten, mit denen musikalische Pläne umgesetzt werden können. In greifbarer Nähe zum Stüberl organisiert die im Kiez ansässige DJ-Clique Partyreihen im Raum 18. Seine Praktiken sind von der Vorstellung motiviert, dass Subkultur auf lokaler Ebene existenzfähig ist. Deshalb versprechen sich Flo und Torsten mit ihrer Neuköllner Partyreihe auch ›einen Namen‹ innerhalb der Clublandschaft Berlins. Auch der britische Produzent Terry fühlt sich seiner lokalen Musikerclique sozial verpflichtet, inspiriert seine deutschen

102 »Many actors embedded in these networks of aesthetic production are based in urban areas with concentrations of cultural producers, but their actual interactions are often highly flexible and transscalar and only partially take place within specific clusters. This questions the viability of regulatory attempts at promoting creative clusters, since the spaces of accumulation are, in this particular case, much more networked than clustered.« (Van Heur 2010: 192)

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DJ-Freunde musikalisch und ist seit den Treffen im Valentinstüberl mit beteiligt an der Organisation von Dubstep-Partys im Kiez. Torstens und Terrys auf Dubstep bezogene lokale Praktiken sind eingebunden in globale Netzwerke, wodurch sich das Genre im Sinne Becks als ein »translokales« Produkt »an mehreren Orten zugleich« (ebd. 1997: 86) zeigt. 103 Neue Medien nehmen einen erheblichen Einfluss auf den Alltag und verwischen die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum und bieten schnellstmögliche Kommunikationsformen zwischen regional und global diffus verorteten Individuen (vgl. Bennett 2005: 89). Nehmen die durch technologische Medien hervorgerufenen Debatten über eine sogenannte »Auflösung von Raum und Zeit« ihren Anfang bereits in den 1920er-Jahren in Bezug auf Radioapparate (Dammann 2005: 8687),104 thematisiert Appadurai sie im Rahmen von »global flows« unter dem Begriff Technoscapes (vgl. ebd. 1996: 33). Nach Färber verdeutlichen Technoscapes den »›Erfindungsreichtum‹ von Menschen, die sich in ›Gemeinschaftsnetzen‹ weniger am Lokalen und Nahegelegenen, als vielmehr an den globalen Zentren der Migration und Ökonomie orientieren« (ebd. 2005: 12 [Herv. i.O.]). In diesem Sinne ruft auditive Wahrnehmung beispielsweise im Hörer nicht nur die Vergangenheit wach, sondern auch den Ort, an welchem ebendiese Vergangenheit erlebt wurde (vgl. Bijsterveld/Van Dijck 2009: 13). Der ins Gedächtnis gerufene Sound, dem Terry sich verbunden fühlt, ist somit an einen anderen Ort gebunden, der mit dem konkreten Ort Neukölln, an welchem sich der britische DJ gerade befindet, nur wenig zu tun zu hat. Die globale Migration in die Städte hat eine neue Form gesellschaftlicher Organisation hervorgebracht, die in letzter Zeit häufig mit dem 103 »The ›global‹ and the ›local‹ happen simultaneously, not as mere coincidence, but often as part of a formal contradiction – they are constructed in part because of endogenous actions, productions and expressions, but are also defined against what they are not. Consequently more active terms are needed than ›global‹ and ›local‹ or variants such as ›glocalisation‹, which reify the status of geometric space over the dynamic conditions under which space is actively constructed and consumed by companies, institutions of governance and by individuals.« (Lefèbvre 1991: oS nach Connell/Gibson 2003: 7) 104 Während erkannt wird, dass der Raum durch den Rundfunk überwunden ist, verändert sich auch die Wahrnehmung von Entfernungen, die nicht mehr abhängig ist von einer rein körperlichen (vgl. Dammann 2005: 56-58). Wenn Radio als ein Apparat fungiert, der durch die Überwindung von Raum und Zeit eine vermeintliche »Wirklichkeit […] kollektiv erfahrbar« macht, so werden Fragen über das Radio als Spiegel der Realität konkreter. Mit neuen Raum- und Zeitverhältnissen der neuen Medien eröffnet sich auch ein neuer Zugang zur Realität. In dieser Perspektive ›brachte‹ das Radio die Wirklichkeit nach außen. Doch weil eine »Wirklichkeit« im Rundfunk der Weimarer Republik mit dem Ziel einer »Unparteilichkeit« institutionell zensiert wurde, galten Radioapparate bald als »Instrumente der Wirklichkeitskonstruktion«. (ebd., 70, 87f.).

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Begriff Diaspora bezeichnet wird.105 Die Frage danach, welcher »lokale ›tribe‹« (Klein 2004: 133) ›besser läuft‹ oder ›kreativer‹ ist, interessiert in diesem Kontext weniger als die Frage, wie die interviewten Akteure des Dubsteps sich selbst verorten. Connell/Gibson zufolge unterscheidet sich der Umgang der Musiker mit Prozessen der Globalisierung: So versuchen Musiker sich einerseits an neuen Sounds oder besinnen sich andererseits zurück auf ihre roots, so dass Subkulturen kurzfristig der kommerziellen Logik der Medien entkommen, während das Publikum – Fans, Kritiker, und Zuhörer, die Musik im Kontext ihrer eigenen Lebenswelten interpretieren (vgl. ebd. 2003: 11). Terry identifiziert sich mit dem Londoner Dubstep-Sound und holt diesen mit Hilfe von Internetradios einfach nach Berlin. Doch können Menschen »ihre« Klänge einfach mitnehmen und kann Musik globale Grenzen einfach überschreiten, wie es Vic Seidler in ihrem Artikel »Diasporic Sounds. Dis/Located Sounds« (2003) fragt? Die Sounds, denen Terry sich zugehörig fühlt, sind seinem Empfinden nach gebunden an territoriale oder nationale Grenzen. Musik vermag in dieser Perspektive, globale Grenzen einfach zu überschreiten. Doch lediglich im übertragenen Sinne kann die Zuschreibung »DJ in Diaspora« auf den nach Berlin gezogenen britischen DJ angewendet werden, da mit »Diaspora« die Idee von kollektiven und nationalen Identitäten und ethnischen Mythen einhergeht (vgl. Eckardt 2009: 51).106 Zwar bieten sich sogenannte »local tribes« als begriffliche Analogie zur Umschreibung der verschiedenen musikalischen Identitäten und Nischen an, wie es zum Beispiel Klein vorschlägt. Trotzdem impliziert der Begriff ›tribe‹ eine Indigenität von Musikstilen, die in postkolonialen Diskursen im Sinne des »Exotischen« Anwendung findet.107 Genau

105 »Diese werden hervorgerufen durch eine freiwillige oder gezwungene Migration von einem Heimatland in mindestens zwei andere Länder. Verbunden mit dem Migrationsprozess entsteht zunehmend eine sich verfestigende kollektive Identität, die oftmals durch ethnische Mythen über eine gemeinsame Herkunft, historische Erfahrungen oder einen bestimmten Ortsbezug produziert wird.« (Eckardt 2009: 51) 106 »Eine wesentliche Zahl kulturalistischer Bewegungen ist heutzutage transnational, weil viele mobilisierte nationale Ethnizitäten aufgrund der internationalen Migration jenseits der Grenzen des einzelnen Nationalstaates operieren. Diese transnationalen Bewegungen sind eng mit dem verknüpft, was Appadurai als diasporic public spheres bezeichnet. Da in der Kulturpolitik der globalen Moderne vor allem Massenmedien und Migration eine wichtige Rolle spielen, sind öffentliche Bereiche heute nicht mehr notwendigerweise national.« (Kreff 2003: 137) 107 »My specific concern here is not whether aboriginal or indigenous groups in modern societies somehow ›qualify‹ as subcultures [...] but rather the appropriation and consumption by subcultural groups, typically originating from the former colonial powers,

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wie das »homeless mind« diasporischer Gemeinschaften sind diese ›nostalgischen Paradigmen‹ von ›home‹ als Ort des »›refuge from an alienated world« zu kritisieren (Robertson 1992: 156 nach Dürrschmidt 2000: 23). Die Zuschreibungen des ›Nationalen‹, ›Indigenen‹ oder ›Ethnischen‹ fungieren nicht mehr als primärer Fokus, um die Beziehung zwischen Pop-Kulturen mit ihren Orten und die Details von Lokalitäten zu verstehen.108 Vielmehr sind Auffassungen des ›Nationalen‹ symbolisch aufgeladen, wie dies im Zusammenhang mit einer basslastigen ›britischen‹ Dubsteptradition im Radiointerview sowie in Terrys Ausführungen durchschien.109 Im Kontext der Entwicklung neuer Aufnahmetechnologien bewegen sich die Akteure des Weiteren flexibel innerhalb der verschiedenen Zeitdimensionen. So rekurrieren sie beispielsweise auf eine Musikästhetik, die sie in der Vergangenheit ansiedeln, was aus Flos Ausführungen des Recyclings von Retro-Sounds anschaulich wird. Alte Tunes werden in diesem Prozess aufpoliert und wieder auf die Dancefloors gebracht.110 Flo zufolge ist der Glaube an Innovation und der Zukunftsgedanke ein unentbehrlicher Aspekt für die Identifikation mit dem Genre. Flos und Bobs Aussagen sowie Torstens Ausführung zu seiner Plattensammlung spiegeln die Auffassung von Sound und bestimmten Klangästhetiken als zukunftsweisendes Kapital wider. Dem, was auf Teilen der Erde als ›Mainstream‹ gilt, mag an einem anderen Ort ein subkultureller Status beigemessen werden, dasselbe gilt

of the [...] symbolic systems and cultural practices of indigenous, aboriginal or otherwise ›exotic‹ societies.« (Roberts 2005: 578) 108 »This has been accompanied by a growing realization that popular music forms are no longer integrally tied to specific ethnic groups (assumptions that link white American males to rock music, Latin identities to salsa and African-Americans to rhythm and blues). Instead, musical forms are increasingly being theorized as the result of a series of transforming stylistic practices and transnational human musical interactions.« (Hesmondhalgh/Negus 2002: 8) 109 »It is clear, then, that popular musics can productively open out the national not simply as the space in which nationalist ideology locates itself, but also as a ‘territory’ that has symbolic force beyond its parochial-political needs. This territory is fluid, open-ended and productively unstable in its encounter with ›real‹ nation-states and, also, with ‘real’ national and nationalist aspirations.« (Biddle/Knight 2007: 14) 110 »Artists and ordinary listeners deploy the newest digital audio Technologies to recycle past sounds into present tunes. Sound and memory are inextricably intertwined with each other, not just through the repetition of familiar tunes and commercially exploited nostalgia on oldies radio stations, but through the exchange of valued songs by means of pristine recordings and recording apparatuses, as well as through cultural practices such as collecting, archiving, and listing.« (Bijsterveld/Van Dijck 2009: 11f.)

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auch umgekehrt.111 Eine Authentifizierung des Dubstep durch Ortsbezeichnungen von Metropolen wie Los Angeles, London oder Berlin stellt sich deshalb als komplex und oft widersprüchlich heraus, weil die Lebenswelten der musikalischen Akteure im Sinne Thorntons selbst lokalisiert sind zwischen einer vergangenen Welt von konkreten Körpern, Städten und einer neuen High-Tech-Ordnung einer globalen »Dislokalisierung« (vgl. ebd. 1995: 76).112 In seinem Artikel »How to Get from Space to Place in a Fairly Short Stretch of Time« konstatiert Casey, dass dem konkreten Ort im Gegensatz zum Raum in der westlichen Denktradition weit mehr Bedeutung eingeräumt wurde.113 Im Kontext globaler Internetmedien erkennt Berland dagegen fundamental verschiedene Arten der Zuhörer und Musikkonsumenten, die – dezentralisiert in Zeit und Raum – alle an ihren eigenen Soundtracks arbeiten und zu diesem Zweck mit den sich entwickelnden Technologien kämpfen (vgl. ebd. 2008: 33). Internetradiostationen vermögen nationale Grenzen zu überschreiten und virtuelle Räume zu schaffen, die Auswirkungen auf die Selbstverortung der Musiker im Sinne eines medialen »displacements« zeigen (vgl. ebd. 2004: 205). Anhand eines Zitat Marc Augés stellt auch Schwanhäußer fest, dass die »Aufhebung des Ortes […] den Höhepunkt der Reise« darstellt (Augé 1994: 105 nach Schwanhäußer 2005b: 146). Angesichts der Tatsache, dass das Internet die User global miteinander vernetzt, spielt deren Aufenthaltsort eine marginale Rolle. Somit wird es für elektronisch produzierte Musik immer wichtiger, ihren Hörern durch ihren charakteristischen Sound das Gefühl des ›You are there‹ zu vermitteln.114 Die durch Bob benannte kontinuier111 »[T]he increasing cosmopolitanism of the global culture industry today greatly expands he repertoire of resources for the formation of group identities, within the West as well as outside it. The globalization of subcultures is part of this larger process, [...] subcultural identities today are increasingly characterized by a similar cosmopolitanism. [...] what may be considered mainstream in one part of the world may become subcultural in another, and vice versa [...].« (Roberts 2006: 578) 112 Die Grenzen zwischen dem realistischen Feld und einer fiktionalen, vorgestellten Landschaft oder einem Raum verwischen in dieser Perspektive, was zur Folge hat, dass je weiter sich die Zuhörer von der direkten Erfahrung zum Beispiel des sogenannten metropolitischen Lebens befinden, sie umso stärker in der Lage sind, imaginierte Welten als schimärische fantasievolle Objekte zu konstruieren (vgl. Appadurai 2001: 35). 113 Casey benennt in diesem Kontext Archytas, Aristoteles sowie Bachelard und Heidegger (vgl. ebd. 1996: 16). 114 »Technological reproduction produces new expectations in audiences; they expect to hear the high quality, dramatic production values you hear in recordings but are not easy to replicate in live performance. Live musicians imitate recordings, which create new standards for live music. Changes in listening expectations create new performance conventions in which live music and Technogically mediated music mimic one another,

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liche Perfektionierung der Soundeigenschaften des Dubstep, die auch aus den Beschreibungen der Musikredakteure über die Funktion-One-Anlage im Berliner Berghain hervorgehen, bestätigen diese Zusammenhänge. Die Frage nach einer Lokalisierung von Klängen mit der Vorstellung territorialer Grenzen im Kontext der Schilderungen der vielmehr dislokalisierenden Musikerfahrungen von Terry und Bob scheint auf den ersten Blick unbegründet: Tanzmusikszenen haben tiefere Verbindungen mit verwandten Szenen anderswo auf der Welt, als mit dem nächsten Nachtclub (vgl. Straw 1997: oS nach Bull/Back 2003: 13). Trotzdem spielt das Kennzeichen des Lokalen eine Rolle für die befragten Dubstep-Akteure bei der Identifikation mit dem Kiez. Torsten versteht Dubstep als authentisches subkulturelles Produkt und versucht seine lokalen DJ-Freunde und deren innovativen Sounds vor zu viel medialer Transparenz zu schützen.115 Auch Terry benennt originäre Charaktermerkmale des Dubstep und vergleicht Neukölln mit bestimmten Bezirken in London, mit denen das Genre assoziiert werde. Parallel dazu betont einen ›realen‹, ›authentischen‹ Charakter Neuköllns, der in Verbindung steht mit der Stilisierung dieses Ortes als Arbeiterkiez. Flo stützt sich auf den unkommerziellen Charakter der DubstepPartys, für die er gerade Neukölln als passend empfindet. Für Gordon erfüllt sich ein spezifisches Wunschbild, das er seit jeher von Berlin hatte, in ästhetischen Eigenschaften der Verschränkung von hässlichen und schönen Elementen in der unmittelbaren Umgebung seines Neuköllner Studios. Die Repräsentation des Kiezes, an dem sich Dubstep zur Zeit der Feldforschung gefeiert wird, spielt somit wesentliche Rolle für die interviewten Musiker. Lokale Repräsentationen von Technokulturen aus der Sicht von Kulturwissenschaftlern und Journalisten kamen zu Wort: Mit Sichtweisen auf spezifische Locations wurde Techno verbunden mit historischen Entwicklungen der urbanen Industrialisierung und im Sinne des Futurismus mit einer damit in Zusammenhang stehenden Klangsphäre. Clublandschaften werden in dieser Vorstellung in »Niemands-

each attemptimg to induce a stronger sense of ›You are there‹ in their audiences. Trying to create a sense of ›being there‹ is the legacy of modern audiovisual recording and transmission Technologies. That project has also been extended and reversed; with music cruising the internet, the listener can be anywhere, they can be part of the Music Machine themselves if they can figure out how to pay the entry price.« (Berland 2008: 33) 115 »Zwar ist es dem weltumspannenden Netz der Club- und Rave-Kultur gelungen, die bisherigen nationalen Schranken von Kulturen durch ein ausgefeiltes Informationssystem zu überschreiten, es ist aber noch nicht ausgemacht, ob die kommerziell bedingte Globalisierung die lokalen Strukturen zwangsläufig homogenisiert und damit zerstört oder ob sich auch unter den Bedingungen einer solchen Globalisierung die Vielfalt verschiedener Stile aufrecht erhalten kann.« (Klein 2004: 137)

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ländern« oder »urbanen Wüsten«116 Berlins verortet oder eben an »Nicht-Orten«, zu denen Schwanhäußer auch Arbeiter- und daraus entstehende Bohèmeviertel zählt. Wie die befragten Neuköllner Dubstep-Akteure reproduzieren die Autoren über Technokulturen romantische Bilder von subkulturellen Brachlandschaften Berlins und lokalisieren elektronische Soundkulturen wie selbstverständlich in den ehemaligen Grenzgebieten, deren Verlassenheit die passende Kulisse für Techno-Partys bildet. Andererseits verkomplizieren Darstellungen über »Nicht-Orte« und das Zugeständnis, dass technologische Medien Raum und Zeit aufzulösen vermögen, den Versuch, Musikgenres und damit in Verbindung stehende soziale Praktiken zu lokalisieren. Ein Körper mag als Medien für die Wahrnehmung von scheinbar »displaced auditory experiences« oder nicht-verortbaren Wahrnehmungen fungieren, doch ist er grundsätzlich an einem spezifischen Ort lokalisiert – auch in einer virtuellen, digitalen oder imaginären Welt.117 Mit der Kritik an »Nicht-Orten« plädiert Ronneberger in diesem Zusammenhang für »eine materialorientierte Untersuchung der urbanen Erlebniswelten und ihrer Bedeutung für den städtischen Alltag«.118 In Kapitel V gerät die lokale Repräsentation Neuköllns aus Sicht der Medien sowie städtischer Institutionen in den Fokus. Dadurch soll untersucht werden, welche Wechselwirkungen zwischen den ästhetischen Konzepten und Vorstellungen der interviewten Dubstep-Akteure und den medialen Außendarstellungen über deren Wohnbezirk Neukölln bestehen.

116 »Vor allem aber eignen sich die Nischen urbaner Räume für Partys. Das konnten die Berliner feststellen, als sich nach dem Mauerfall die Rave-Kultur in den urbanen Wüsten des Berliner Ostens einnistete.« (Klein 2004: 135) 117 »Even if such bodies may be displaced in certain respects, they are never placeless; they are never only at discrete positions. By the same token, however, places belong to lived bodies and depend on them. If it is true that ›the body is our general medium for having a world‹ it ensues that the body is the specific medium for experiencing a place-world.« (Merleau-Ponty 1962: 146 nach Casey 1996: 24). In diesem Sinne argumentiert auch Berland für die Bedeutung des Körpers: »Through the musical instrument, expression is dis-articulated from the body and then technically re-articulated to it. Through digital culture, the process os extended radically in that the body becomes secondary to the Technological system that surrounds it.« (Ebd. 2008: 36) 118 »Die Unterstellung, bei den urbanen Erlebniswelten handele es sich um ›Nicht-Orte der Einsamkeit‹, steht ganz in der Tradition konservativer Kritik an Vermassung und Kulturverfall.« (Ronneberger 2000: 321f.)

IV. Räume der Experimentalmusik und Improvisation in Neukölln

1. D IE N EUKÖLLNER F LUXUS -P ERFORMANCE C ANDLE P IECE FOR R ADIOS »Music isn’t just what you hear or what you listen to, but everyhing that happens.« GEORGE BRECHT 1978: 83

Anfang März 2010 erhalte ich via Email folgende Einladung zu einer FluxusPerformance in Neukölln: Thurs. 18 March 2010, 20: 30. The Institute for Intermediate Studies PRESENTS fluxkonzert #9 – the unbirthday show John Cage – Theatre Piece (1960) An absurd, sitcom-length festival of dadaist actions, chosen according to the meticulously notated, boardgame collisions of player-authored ›noun‹ and ›verb‹ cards. George Brecht – Candle Piece for Radios (1959) A meditative sextet for antique radios, lit only by birthday candles and their own tuning dials. A card game yields changes of volume and station, and the composition lasts until the candles have all burnt out. Special thanks to the Berlin Volksbühne, for radios, and to Christian Kesten and Die Maulwerker, for the piece’s notation. + Fluxfilms, viscous liquids, and a long etc. Temporärity, Boddinstr. 42 (Boddinpl./Mainzerstr.), U7 Rathaus Neukölln/U8 Boddinstr. Ausgang €4

Am 18.03.2010 besuche ich in der Boddinstraße in Neukölln die Unbirthday Show der Fluxus-Gruppe Institute for Intermediate Studies. Diese Künstlergruppe besteht aus Musikern und Komponisten, die ursprünglich aus den USA stammen, vor

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kurzem nach Neukölln gezogen sind und sich hier in diversen Projekten flexibel formieren. Vor etwa einem Jahr gründete man die Gruppe und organisiert seitdem in regelmäßigen Abständen Veranstaltungen. Zwei Mitglieder der Gruppe, Christopher Williams und Jeffrey Treviño, traf ich für Interviews. Jeffrey bestätigte meine Vermutung, dass die Events seiner Neuköllner Fluxusgruppe in ihrer Konzeption stark am frühen Fluxus der späten 1950er Jahre angelehnt seien. Die nachträgliche Lektüre über Fluxus verdeutlicht enge Verbindungen zwischen den Modellen jener ›traditionellen‹ Avantgarde-Bewegung und den Neuköllner Performances 2010.1 Die Neuköllner Fluxuskünstler stammen nicht aus Berlin und damit – wie ihre Vorbilder des frühen Fluxus – nicht aus dem lokalen Umfeld ihres künstlerischen Schaffens.2 Das Programm der Unbirthday Show im März 2010 beinhaltet drei Programmpunkte; das Candle Piepe for Radios, eine Filmvorführung mit Performance sowie das Theatre Piece nach John Cage aus dem Jahre 1960. In meiner Analyse beziehe ich mich auf das Candle Piece, welches der Fluxus-Vertreter George Brecht 1959 ›komponierte‹. Gegen 21 Uhr erscheine ich am Veranstaltungsort Temporärity3 in der Boddinstraße. Da es ein relativ kalter Frühlingstag ist, steht nur eine Handvoll Leute draußen und raucht. Die Veranstaltungseinladung, die ich via E-Mail erhielt, erwähnte kein Eintritts-, sondern ein Austrittsgeld von 4 Euro. Deshalb muss ich auch an keinem Kassenwart vorbei, um die ehemalige Sporthalle zu betreten, sondern habe erst nach dem Event zu zahlen. Über einen unbeleuchteten Vorraum gelangt man in einen zweiten Raum, in welchem in einer Ecke an einem kleinen 1

»In the late 1950s John Cage taught a series of courses on experimental composition at the New School for Social Research, New York. Attended by artists such as Allan Kaprow, George Brecht, and Yoko Ono, the classes laid the foundation for the Fluxus movement by encouraging a younger generation of practitioners to use chance in their work« (Pellico 2008a: 94) Neben Musikpartituren wurde eine Bandbreite von anderen Medien genutzt, darunter auch Druckschriften und jegliches andere Material, das in Performances und Events zum Einsatz kam. Der Name Fluxus leitet sich von flux ab und bedeutet übersetzt Wandel, Fluss, Unbestimmtheit und Willensfreiheit (vgl. ebd.).

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Zwischen 1962 und 1987 machte Fluxus als lockerer, internationaler Verband von Künstlern auf sich aufmerksam, die aus Amerika, Japan, Korea, der damaligen Tschechoslowakei, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Holland, Italien und Schweden kamen. Inoffiziell organisiert fasste die Gruppe Schriftsteller, Musiker und Künstler zusammen, die sich selbst nicht als Teil einer strikten Bewegung definierten. Stattdessen hatte jeder nach George Brecht seine eigenen Ideen davon, was Fluxus war. Für ihn war Fluxus eine Gruppe von Menschen, die miteinander gut auskamen und interessiert waren an den Arbeiten und der Persönlichkeit der anderen (vgl. Pellico 2008a: 94).

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Das Temporärity wird zu dieser Zeit auch als Kunstgalerie genutzt.

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Stand Flaschenbier und Wein verkauft wird: »Alles 2 Euro«, erklärt ein handbeschriebenes Papierschild. Den Getränkeverkäufer habe ich zuletzt bei einem Konzert in der Neuköllner Kneipe Sowieso im Publikum gesehen; er wird auch an den späteren Performances heute Abend beteiligt sein. Ich setzte mich auf ein ausrangiertes Ledersofa im unbeleuchteten Vorderraum und erkenne sechs an zwei Seiten des Raums verteilte Stühle. Auf jedem Stuhl steht ein Radio und ein kleiner Cupcake. In den Kuchen stecken kleine Geburtstagskerzen, die noch nicht angezündet sind. Von dem düsteren Platz aus hat man einen tollen Einblick in den beleuchteten Raum, ohne selbst beobachtet zu werden. Es wird US-amerikanisches Englisch und Spanisch geredet. Die etwa vierzig Gäste sind Mitte bis Ende Zwanzig und zumeist leger-unauffällig in schwarz gekleidet. Drei auffälliger gekleidete brünette Frauen mit avantgardistischen Frisuren und etwa genauso viele junge Männer mit alten, schwarzen Hüten stechen optisch etwas hervor, weniger modisch-schick als stilsicher extrovertiert. Ohne demonstrative Aufforderung versammeln sich die Gäste für den Beginn der Performance im unbeleuchteten Vorderraum. Ein bisschen Verwirrung besteht schon, weil man noch nicht genau weiß, wo man sich hier nun platzieren soll. Zudem wissen die Zuschauer nicht, in welchen Winkel sie schauen sollen, da das Event an den Seiten stattfindet, an denen die Stühle mit den Radios stehen. Eine Bühne gibt es nicht, und so vermischen sich die fünf Künstler mit dem Publikum, das sich im Raum verteilt. Die fünf Performer – vier Männer und eine Frau – sind etwa im selben Alter wie das Publikum. Die Männer, darunter auch Jeffrey, tragen Kleidung, die Schulkinder als »Opa-Kleidung« bezeichnen würden, das bedeutet Kniebundhosen aus Cord, Kniestrümpfe und Lederstiefeletten. Sie sind zumeist schlaksig und tragen nostalgische Hornbrillen. Die Frau trägt einen klassischzeitlosen roten Rock und langes Haar. Die Kerzen vor den Radios werden angezündet und die Radios angestellt, womit der Beginn des Events eingeläutet wird. Der Kerzenschein lässt die Fluxus-Akteure in einem weihnachtlich-warmen Licht erstrahlen. Der Raum ist erfüllt vom Klang der sechs Radios, die verschiedene Sender spielen. Die einzelnen Radios können noch herausgehört werden, der Gesamtklang ist insgesamt nicht zu laut. Die vermischten Sounds der Radios ergeben einen schönen, rauschenden Klang- und Stimmenteppich. Der Ankünigung zufolge ist das Event eine »composition« eines »sextet«, in welchem die sechs Radios als Musikinstrumente fungieren. Außerdem kommen im Candle Piece for radios sogenannte »event cards« zum Einsatz, für welche George Brecht populär wurde. Ab 1959 fertigte Brecht etwa hundert »event-Partituren«, also kleine weiße Karten, die – in schwarzgetippter Schrift – Nachrichten, Wörter und ein paar Anweisungen für gemeinschaftliche Aktionen und auch für die Gestaltung der »objects of tableaux« verbargen (vgl. Frieling 2008: 40, vgl. Pellico 2008b: 86). Im Candle Piece for radios fungieren diese Kärtchen also als Partituren für das Spielen oder Bedienen der Radios.

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In den folgenden dreißig Minuten gehen die Performer ihrem Radio-Event nach: Die Radios werden nach bestimmten Anweisungen bedient, die auf den Kärtchen notiert sind, die die Künstler auf den Stühlen vor den Apparaten vorfinden. Die Künstler wechseln von Stuhl zu Stuhl, knien sich vor den Radios hin und verstellen an den verschiedenen Radios Lautstärken oder Sender. Die »tuning dials«, also die Rädchen, an denen Lautstärke und Sender eingestellt werden, können in ihrer Funktion verglichen werden mit Stimmwirbeln von Saiteninstrumenten oder – etwas artverwandter – mit Drehknöpfen von Synthesizern. Das Publikum und die Performer sind gleichberechtigt im Raum verteilt, doch bleibt das Spielen der Radios den Performern vorbehalten und keiner der Zuhörer traut sich, die Radios zu berühren. Aus Sicht des Zuschauers erfolgt die Ausführung des Radio-Spiels auf undurchsichtige Weise, da er das System der Anweisungen auf den Kärtchen nicht durchschaut und die genauen Anweisungen nicht entziffern kann. Die Handlungen der Performer scheinen trotz Karten-Anweisung deshalb oft beliebig. Obwohl sie die Möglichkeit hätten, einen Blick auf die Kärtchen zu werfen oder sich durch die Nähe zu den Radios in das Geschehen aktiv einzubringen, überlassen die Zuschauer das Ereignis den Akteuren der Performance. Ziel der Anweisungen ist es offenbar nicht, die Radios auf einen rauschfreien Sender zu stellen, wobei ich als Zuhörerin versucht bin, das Radio, das in einem Meter Abstand von mir auf dem Stuhl steht, zu ›entrauschen‹, um den Klang für ein paar Momente für einen Sinngehalt aufzulösen. Die diffuse Klangatmosphäre ist offenbar beabsichtigt. Weder Akteure noch Zuschauer lachen in den Momenten, die auf mich komisch wirken, wenn sich das Klangbild klärt und eine deutliche Botschaft aus dem Radio ertönt: Zum Beispiel werden dann kurze Stimmenfragmente eines Nachrichtensprechers hörbar oder die schnulzige Anmoderation neuester Schlager auf Antenne Brandenburg. Die Stimmen klingen in diesem Raum deplaziert und fremd, weil sie nicht derselben ›Kunstwelt‹4 zu entstammen scheinen, aus der sich Fluxus ableitet. Auch kann man davon ausgehen, dass keiner der hier anwesenden Gäste Radiosender wie Antenne Brandenburg oder Spreeradio5 regelmäßig hört, die hier im gegenwärtigen Rauschen hindurchscheinen. Der Zuhörer wird sich durch diesen Kontrast wieder gewahr, wo er hier eigentlich ist – in Berlin Neukölln und nicht in einem New Yorker Klangevent der frühen 1970er Jahre. Gleichzeitig frage ich mich, ob Leute, die ständig Antenne Brandenburg hören, schon einmal auf einem Fluxus-Event waren. 4

»That has inevitably meant treating art as not so very different from other kinds of work, and treating people defined as artists as not so very different from other kinds of workers, especially [those] who participate in the making of art works.« (Becker 1982: x)

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Zum Formatradio Spreeradio siehe Kapitel II: Die schwedische Musikerin Kerstin betont, dass ihre Lieblinskneipe den Radiosender Spreeradio spielt, was für sie auch als Motiv der Abgrenzung von der Studentenklientel im Kiez fungiert.

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Ich genieße das Treiben, den Kerzenschein auf den kleinen Kuchen und die Handlungen der Akteure, die sich im Wechsel vor verschiedene Radios knien und diese mit Würde und Konzentration bedienen als wären es sensible Instrumente, denen ein magischer Klang zu entlocken ist. Das Material der Performance mag aus einfachen Alltagsgegenständen bestehen, doch die Umsetzung und das Regelwerk, nach denen die Radios bedient werden, ist kompliziert oder soll zumindest diesen Anschein erwecken. Mit jeder abgebrannten Geburtstagskerze wird das dazugehörige Radio ausgeschaltet und nach und nach das Event damit beendet. Der Raum der Fluxus-Performance Dass das Event in einer »türkischen Sporthalle« stattfinde, hatte Jeffrey im vorhinein in einer E-Mail hervorgehoben und scheint in gewisser Weise auch eine Rolle für die Aufführung zu spielen. Die umgestaltete Turnhalle ist nur mit wenigen Einrichtungsgegenständen (alte Sofas und einfaches Holzbrett als Theke) sowie schwacher Beleuchtung ausgestattet: Dadurch wirkt der Ort roh, düster und provisorisch. Der Raum ist nicht bestuhlt und vermittelt nicht die Atmosphäre eines Konzert- oder Theaterraums. Hinsichtlich der fix gestalteten Räume in Neukölln erwartet man dies als Zuhörer auch nicht, vielmehr ist der improvisiert gestaltete Raum im sich transformierenden Neukölln Normalfall. Denn häufig besucht der Zuhörer und Zuschauer in Neukölln Veranstaltungen in Räumlichkeiten, deren ursprünglicher Nutzen zwar entfremdet wurde, wie es auch anhand der Transformation einer Fleischerei in das Ladenlokal der Gelegenheiten (vgl. Kapitel I) deutlich wurde. Jedoch hat sich die Sporthalle noch nicht vollständig zu einem klaren neuen Raum entwickelt, sondern befindet sich in einem Übergangszustand. Der Raum behält einen offenen, undefinierten Charakter, der vom Zuschauer durch weitere Zuschreibungen codiert werden kann und damit Spielraum für andere imaginierte Räume bietet. Daneben erfüllt die Sporthalle ihren Zweck als abgestandene Kulisse, verzahnt sich stilistisch mit den Äußerlichkeiten der Akteure und nähert sich auf einer nostalgischen Vorstellungsebene der in der Vergangenheit zurückliegenden originalen Performance-Gattung Fluxus an. Dass die Sporthalle somit als ›realer‹ Raum Neuköllns erscheint, kann im Sinne der Fluxus-Konzepte als beabsichtigt betrachtet werden. In diesem Sinne provoziert auch John Cages untitled event, welches in einem College-Speisesaal stattfand, Fischer-Lichte zufolge eine oszillierende Rezeption zwischen fiktivem Theaterraum und dem realen Raum.6 Jeffrey hatte den ursprünglichen Nutzen des Raums, in dem 6

Das untitled event erschien so, »als wenn hier bewußt eine oszillierende Rezeption provoziert wurde, die zwar immer wieder den Raum als Speisesaal wahrnehmen ließ, ihn zugleich aber auch als einen Treffpunkt der verschiedenen Künstler und Künste in den Blick brachte. Das musste den Zuschauer keineswegs daran hindern, ihn gegebenenfalls als einen bestimmten fiktiven Raum wahrzunehmen, wenn ihm eine entsprechende Asso-

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das Fluxus-Event stattfindet, betont. Der Neuköllner Raum in der Boddinstraße soll neben seiner Wahrnehmung als fiktives Performancezimmer seine Rezeption als reale Sporthalle beibehalten. Jeffrey erklärte mir außerdem, dass die Sporthalle auf unbestimmte Zeit zwischengenutzt wird, weshalb sie auch ihren Namen Temporärity erhält. Daneben bedurfte das Radiokonzert keiner großen Vorbereitung, so dass er mit seinen FluxusKollegen vorher nicht viel geprobt habe (Jeffrey in einer E-Mail am 16.03.2010). Nach Lefèbvre ist der Raum gesellschaftlich produziert. Aus kunstwissenschaftlicher Sicht bestimmt der Raum der Aufführung seine sozialen Strukturen und Interaktionen. So argumentiert Bärthel, dass der »soziale Raum« ständig im Wandel begriffen ist (vgl. Möntmann 2002: oS nach Bärthel 2002: 34). Der in Transformation befindliche Neuköllner Aufführungsraum eignet sich für das FluxusEvent als idealer Schauplatz für die spontanen Interaktionen und der »in situ«7 aufgeführten und unvorhersehbaren8 Performances der Fluxusgruppe. Die als Temporärity bezeichnete Sporthalle im Bezirk Neukölln entpuppt sich in dieser stilisierten Sichtweise als ideales Lokal für die Fluxus-Veranstaltungen des Institute for Intermediate Studies 2010. So ist die Fluxusperformance – wie Lefèbvre am Beispiel des Theaters verdeutlicht9 – einerseits Repräsentation des szenischen Raumes, der einer bestimmten Raumkonzeption entspricht, die durch den Bezirk ziation einfiele, noch überhaupt die Frage zu stellen: Was soll dieser Raum bedeuten?« (Fischer-Lichte 2002: 279). 7

Gertich beschreibt die Spontaneität von Fluxus als »Spannung zwischen einer aus pragmatischen Gründen ad hoc und in situ vorgenommenen Planung einerseits und der strengen Orientierung an Partituren andererseits« (ebd. 2002: 20).

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»Dabei wurden künstlerische Maßnahmen in einen zeitlich befristeten Ereignisablauf eingebettet, darin der Zufall zu einem formbestimmenden Faktor wurde. Ein wesentlicher Grundgedanke von Fluxus liegt in der Bemühung, die Grenzen zwischen den künstlerischen Gattungen Musik, Kunst, Theater, Tanz und Dichtung aufzuheben. Die synästhetischen Darbietungen […], in denen das Unspektakuläre und […] Nebensächliche […] betont wurden, führten zu unvorhersehbaren Resultaten, die als Relikte der Veranstaltungen neben den erhaltenen Dokumenten noch heute wichtige Zeitzeugnisse sind. Vielseitig eingesetzte Gegenstände waren Musikinstrumente, auf denen nur in den allerseltensten Fällen virtuos musiziert wurde.« (Gertich 2002: 28)

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»Die historische Trennung zwischen dem Raum der Präsentation und der Repräsentation des Raumes und die soziale Verwirklichung dieser Trennung begleitet auch die Trennung zwischen Raum und Zeit. Nur die Kunst und die Poesie versuchen, die Einheit wieder herzustellen. Ein Beispiel für diese Einheit bildet das Theater, das eine Repräsentation des Raumes, den szenischen Raum, der einer bestimmten Raumkonzeption entspricht, und einen Raum der Repräsentationen, einen zwar vermittelten, aber unmittelbar erlebten Raum, einschliesst.« (Lefèbvre 1991: 188 nach Schmid 2005: 221)

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Neukölln im Jahre 2010 vorgegeben wird. Andererseits schließt das Candle Piece als Raum der Repräsentation in diesem Sinne auch einen unmittelbar durch die Performance erlebten Raum mit ein. Radio sounds in local space? »As a result, at every moment, there is a choice. You can leave the TV or radio on and go about your business, distractedly following the ocular and verbal chatter. Just by having a [...] radio, you can hear [...] images and receive messages from afar, by pressing a button or turning a dial. [...] More often, you happen to tune into local radio and so you learn a whole load of stuff that you already knew, marketday in the neighbouring village [...]; therefore an extremely concrete and close universe.« LEFÈBVRE 2004: 47

Das Radiokonzert Candle Piece in Neukölln bedurfte laut Jeffrey keiner großen Vorbereitungsphase. Das Zusammenspiel der Musiker mit den Radios ist aber intuitiv spontan richtig. Zum einen können die Klänge der Radios in ihrer Einheit als Quartett gehört werden, also als komplex zu spielende Musikinstrumente eines Ensembles. Das rauschfreie Erklingen von Fragmenten des Spreeradios oder anderer Radiosender – seien es Moderationen oder Musikfetzen – in Kombination mit den Klängen anderer Radios ergibt in dieser Perspektive das ästhetische Erlebnis einer Klangcollage mit einer interessanten Hörspieldramatik. In Bezug auf das Candle Piece, in welchem die Klangquelle (Radio) als Musikinstrument fungiert, scheint die Frage nach der Bedeutung dieser Klangzeichen der Radios auf den ersten Blick oder beim ersten Vernehmen irrelevant. Doch durch das rauschende Klangbild stechen in einigen Momenten Klangfragmente mit klaren Botschaften heraus. Im Kontrast zum Alltagsgebrauch des Radios geht es in der FluxusPerformance nicht um die Vermittlung realer Nachrichten. Vielmehr kann angenommen werden, dass die Radioklänge die Abbildung einer kommerzialisierten Kakophonie zum Ziel haben (vgl. Whitehead 1992: 253). Die Radiosounds stellen als ›akustische‹ »readymades«10, das heißt als »direkte Zitate aus der außerkul10 In der Kunst trat das Radio als reduziertes Artefakt in Erscheinung, dessen Klang als akustischer readymade wieder in seinen Kontext zurückgeführt werden musste: »[W]hen radio has appeared under the name of art, it is most often under the degraded guise of industrial artifact, with its commercialized cacophony providing one sound source among

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turellen Wirklichkeit«, den Anspruch auf Wahrheit des durch Radionachrichten Vermittelten radikal in Frage.11 Aber auf welche in Frage zu stellende Wahrheit beziehen sich die Radiosounds in der Neuköllner Fluxus-Performance? Die eher kitschig anmutenden Klänge und Moderatorenstimmen, die aus ein paar Radios herausströmen, können im Kontext der Performance als Ironisierung Berliner Rundfunkanstalten gedeutet werden. Verlässt man jedoch die abstrakte kunstwissenschaftliche Rezeptionsebene, muss gefragt werden, was ein medienwissenschaftlicher Zugang zur Realität der Radioklänge des Fluxus-Events bringt. Medienwissenschaftlich betrachtet steht das Klangmaterial der Radios für Codes, die dazu benutzt werden, Nachrichten in Form von Wörtern, Klängen, Musik und Stille zu übermitteln (vgl. Crisell 1986: 45, 135) und die den hörbaren Raum der Neuköllner Sporthalle produzieren.12 Was codieren dann die Klänge der Berliner Radiosender im Kontext der Fluxus-Performance? Im Candle Piece konkretisiert sich ansatzweise das Lokale, da sich einige Berliner Radiosender klarer und mit weniger Rauschen als andere zeigen. Es geht in diesen Zusammenhängen also weniger um eine interpretative Decodierung von Botschaften der Klänge, sondern um den gesellschaftlichen Kontext und den Raum, in dem die Performance stattfindet. Würde das Institute for Intermediate Studies ihr Candle Piece in Jeffreys Studienort San Diego aufführen, würden andere Radiosounds hörbar und nicht die Berliner Schnauzen, die im Radiosound der Neuköllner Fluxus-Performance hindurchscheinen. Stellen die akustischen »readymades« den Begriff der Wahrheit aus Sicht der Kunstwissenschaft zwar radikal in Frage, können die Radiosounds doch konkret lokalisiert werden: Der Radiosound und die Radiostimmen sind einerseits

others. […] radio is no longer an autonomous public space but merely an acoustic readymade to be recontextualized, switched on, and played.« (Whitehead 1992: 253) 11 Groys bezieht sich auf ›visuelle‹ »readymades«: »Nachdem die Kunst der Avantgarde von vielen zunächst noch als Abbildung der inneren, verborgenen Wirklichkeit, als weitere Suche nach der Wahrheit interpretiert worden war, stellte die künstlerische Verwendung der Readymades, d.h. der direkten Zitate aus der außerkulturellen Wirklichkeit, die seit Marcel Duchamp in der Kunst praktiziert wird, den Begriff der Wahrheit radikal in Frage. Indem das Kunstwerk die Wirklichkeit selbst zitiert, wird es auf eine völlig triviale Weise wahr, denn seine Übereinstimmung mit der äußeren Wirklichkeit ist dabei zwangsläufig gegeben. Das Verhältnis zur Wahrheit relativiert in diesem Fall den Unterschied zwischen einem Kunstwerk, das aus einer privilegierten Position heraus die Wirklichkeit abbildet, und einem einfachen Ding der Wirklichkeit selbst.« (Ebd. 1992: 18) 12 Die Codierung selbst wird vor allem durch das Rauschen bemerkbar, durch das nicht primär die eigentliche Information beim Zuhörer ankommt: Vielmehr wird der Weg der Übermittlung erkennbar und tritt in den Vordergrund.

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abhängig von spezifischen Frequenzen, die lokal bestimmt sind und den Neuköllner Raum aus medienwissenschaftlicher Sicht akustisch mitproduzieren. Im Anschluss an Lefèbvres Zitat, das diesem Unterkapitel vorangestellt wurde, können die Klänge also als an ihre Umgebung gebundene Zeichen bestimmt werden: Sie stehen in Verbindung mit spezifischen Radiofrequenzen, die in Neukölln empfangen werden können, sind also durch den Raum konzipiert. Von ausschlaggebender Bedeutung für die Raumproduktion der Performance sind andererseits die sozialen Akteure, welche die Radios bedienen und mit ihren FluxusModellen den Neuköllner Raum konzipieren. Intermedialität und Partizipation Das Bedienen der Radios durch die Performer erfolgt aus Sicht des teilnehmenden Zuhörers und Zuschauers im Candle Piece willkürlich und ohne System, obwohl die Partiturzettel mit den genauen Anweisungen für die Performer zu sehen sind. Die Reaktion auf die Neuköllner Fluxus-Performance ist zurückhaltend. Die Zuschauer bleiben sitzen oder stehen, schauen und hören zu. Sie greifen nicht in das Geschehen ein, verstellen die Radios nicht oder schalten die sechs »Musikinstrumente« gar ab, weil sie mit der Aufführung vielleicht nichts anfangen können und sie diese verunzieren wollen. Das Stück kann nach dem Muster eines Kammermusikkonzerts als Radiosextett wahrgenommen werden. Außerdem können die einzelnen Radios als sichtbare Akteure der Performance gedeutet werden. Die flexible Interpretation des Candle Piece spiegelt die Unbestimmtheit der Fluxuskompositionen George Brechts wider: Brecht erlaubte den Ausführenden einen offenen Umgang mit seinen Partituren. Dies sollte die inneren Widersprüche von Kunstpraktiken enthüllen, die den Anspruch einer klaren Botschaft oder eines eindeutigen Vorschlags vermittelten (vgl. Pellico 2008: 40ff., vgl. Conzen 1997: 7).13 Brechts Vorstellungen vom offenen Umgang mit seinen Partituren werden auch in der Neuköllner Performance des Candle Piece for radios umgesetzt. Wie Fischer-Lichte anhand John Cages untitled event feststellt, eröffnet sich dem Publikum »die Möglichkeit, die vor seinen Augen und Ohren ablaufenden Aktionen als Material zu betrachten und die Art ihres Vollzuges zu beobachten oder auch den einzelnen Handlungen Bedeutungen beizulegen, die ihm aufgrund seiner spezifischen Wahrnehmungsmuster […], Diskurse, Assoziationen u.a. einfielen« (ebd. 2002: 281). Durch diese vielfältigen Wahrnehmungs- und Assoziationsmöglichkeiten der Komposition sieht man sich als Zuschauer kaum aufgefordert, formulierte Bedeutungen zu entschlüsseln (vgl. ebd.). Auch das Publikum des Neuköllner Candle Piece weiß, dass das Radio-Stück vieldeutig interpretiert werden kann und so ›mehr‹ vermitteln soll als die Aufführung im Sinne eines 13 »Brecht allowed an openness and indeterminacy in the execution of his work that placed them almost in the brink of vanishing into invisibility.« (Frieling 2008: 40ff.)

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Sextetts für sechs Radios, auch weil die visuellen Reize der Performance als bedeutend ins Blickfeld geraten. Wie der Klang sind auch Performer und Zuschauer /Zuhörer diffus im Raum verteilt und wissen nicht, wo sie hinhören und hinschauen sollen. Fischer-Lichte konstatiert für frühe Performances, dass die Verteilung beider Akteursgruppen es »dem Zuschauer schwer [machte], sich lediglich auf Ereignisse an einem Brennpunkt – wie der Bühne – zu konzentrieren; sie eröffnete ihm vielmehr ein weites und diffuses Gesichts- und Gehörfeld.«14 Da es verschiedene künstlerische Ausdrucksformen bewusst zusammenfasst und es weder als fiktives Theaterstück noch als Konzertsituation festgelegt werden kann, ist das Candle Piece des Neuköllner Institute for Intermediate Studies auch ein intermediales Event: Der Fluxuskünstler Dick Higgins formulierte 1966 den paradigmatischen Begriff »Intermedia«, durch den er die Hoffnung auf eine klassenlose Gesellschaft ausdrückte.15 Die allgemeine Gesinnung von Fluxus war antibürgerlich, »anti-art« und rebellierte gegen den Modernismus, der als hohe Kunst die 1940er bis späte 1960er Jahre dominierte (vgl. Pellico 2008a: 94). Im Vergleich mit anderen Kunstrichtungen dieser Zeit war Fluxus frei von »belastenden Ideologien« (Schwarzbauer 1982: 21).16 Die Avantgarderichtung verstand sich somit als »Opposition zu jeder Art von ›handgreiflicher‹ und vom Kunstestablishment konsumierbare[n] Kunst« (Conzen 1997: 7).17 Dass Fluxus 14 »Dabei befand er sich in einer Position, daß er, wohin er auch blickte, immer zugleich auch andere Zuschauer in ihrer Wahrnehmung beobachten konnte. Er konnte also die Aktionen weder strikt isoliert voneinander noch ohne Bezug auf andere Zuschauer wahrnehmen, ohne daß doch die einzelnen Aktionen kausal aufeinander bezogen noch auch die Perspektiven auf andere Zuschauer vorgegeben bzw. gesteuert worden wären.« (Fischer-Lichte 2002: 282) 15 Dick Higgins’Ausführungen zum Begriff »Intermedia« – für eine zwischen den Medien angesiedelte Kunst – sind nach Conzen symptomatisch »für die utopische Hoffnung der Künstler in diesen Jahren, durch eine Neustrukturierung der Kunst eine Neustrukturierung der Gesellschaft vorantreiben zu können: ›Wir nähern uns der Morgendämmerung einer klassenlosen Gesellschaft, für welche die Unterteilung in enge Kategorien ohne Relevanz ist‹« (Higgins 1966: oS nach Conzen 1997: 7). 16 Im Gegensatz zum Futurismus, dessen ideologische Orientierungen nach Schwarzbauer »stark programmatisch« ausgerichtet war, versuchte Fluxus verschiedene Kunstrichtungen zu vereinen (ebd. 1982: 21). 17 »Raus aus den Institutionen – das war in den 60er Jahren der Anspruch eines großen Teils der Kunstwelt. Mit revolutionärem Anspruch sollte die Kunst dem Bildungsbürgertum und ihren reinlichen Räumen entrissen und den Menschen ›auf der Straße‹ nahe gebracht werden. Auf vielfältige Weise widersetzte man sich den verkrusteten Ordnungsgefügen, attackierte den tradierten Kunst›geschmack‹ und versuchte, die Kunst allen Menschen erreichbar und zugänglich zu machen.« (Bärthel 2002: 33)

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lange Zeit überhaupt nicht im Museum zu finden war, störte viele der FluxusKünstler nicht, weil Museen als Orte der Hochkultur den eigenen Bestrebungen ohnehin diametral entgegengesetzt schienen (vgl. Steiner 2002: 40). Neben dem Einsatz von Zufallsmethoden und einem intermedialen Mix von verschiedenen Wahrnehmungsebenen, die unterschiedlichen Kunstsparten zugehören, benennt Gertich den Einbezug des Publikums als wichtiges Kennzeichen von Fluxus (vgl. ebd. 2002: 20). Doch die Rezeption der intermedialen Fluxus-Events der 1960er Jahre durch das Publikum verlief nicht immer problemlos (vgl. Pellico 2008b: 86). So macht Frieling darauf aufmerksam, dass die freien Konzepte bei Teilnehmern häufig zu Missverständnissen oder Fehlinterpretationen führten. Nicht selten mündeten die Performances deshalb in einem katastrophalen Ende, wobei im Kontext von Fluxus-Events gefragt werden muss: »[B]ut to what extent can one actually speak of failure?« (Frieling 2008: 39) Ähnlich problematisiert Jeffrey die Reaktionen auf die erste Aufführung eines seiner Fluxus-Events im Neuköllner Gelegenheiten: »I had no idea and I hadn’t even been to Neukölln, and then we did the first show and we had a good audience of 20 people, and then the place was packed, and so I thought: ›Great, let’s keep going!‹ How did it feel? It felt like it was vital, because it had this element of risk in it, specifically because you didn’t know, what was going to happen. […] Ok, you can fail, so what? The licence to fail [...] is exactly what John Cage said [...] for the definition of experimental music: ›If you are doing something and you have no idea, what the result will be, then you are actually making an experiment, and then you have this kind of vital element of risk in it. And it is so easy to find simulacra of that risk, of things, that are inspired of things, that had that risk many years ago. [...] it is about that feeling, where this is described: ›Yeah, I can do what I want‹«. (Jeffrey in einem Interview am 26.8.2009)

Mit Bezugnahme auf John Cages Definition von experimenteller Musik, veranschaulicht Jeffrey, dass die spontane Aufführungssituation im Neuköllner Gelegenheiten für das Experiment den idealen Standort bot und dass dieses »Experiment« mit allen damit verbundenen Risiken erfolgen sollte. In Verbindung mit dem Erfolg einer Fluxus-Performance spielt das Risiko oder die Ungewissheit über den Verlauf tatsächlich keine Rolle, sondern macht das Event eigentlich erst aus.18 Auch 18 In Verbindung mit Improvisation betont auch Behne: »Wer etwas eigenes Neues geschaffen hat und sich entscheidet, es für die Öffentlichkeit und damit zur allgemeinen Bewertung freizugeben, geht damit auch immer das Risiko des Scheiterns mit ein. Kreatives Verhalten ohne die Bereitschaft zum Risiko gibt es nicht, es sei denn, man würde […] die Gedanken […] der eigenen Phantasie unter Verschluss halten. In den autobiographischen Berichten von Künstlern, Erfindern, aber auch von Politikern wird man ,wenn die kreativen Produkte öffentlich gemacht werden, immer wieder Phasen des Zweifelns finden.

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Frielings oben genannte Frage suggeriert, dass die Reaktion auf ein Fluxus-Event in keinen Zusammenhang mit einem Versagen der Künstler gestellt werden kann, weil es im Sinne des Fluxus-Konzepts keine geplanten Reaktionen des Publikums gibt. Die positive Aufnahme des Publikums vertieft Jeffrey folgendermaßen: »So, this is [...] one of the crucial things that is here, that is nowhere else. In Neukölln you have the luxury of people paying careful attention to it, whatever you do. I think I get more energy, more support, I guess, you could say, the crucial crush, what is the fuel, what puts the energy back in […]. You have put a certain energy in your work, what do you get back from it. And here, people who come to shows, people who are around, are unequally interested about what is going on in their neighbourhood.« (Jeffrey in einem Interview am 26.08.2009)

Die Aufmerksamkeit und die Unterstützung, die seinen Events in Neukölln entgegengebracht werden, erscheint ihm ungewöhnlich groß. Die Energie, die er in seine Arbeit steckt, sieht er durch die Reaktionen des Publikums belohnt. Auch geht es Jeffrey um soziale Verbindungen zwischen Performern und Zuhörern. Frieling macht darauf aufmerksam, dass ein Fluxus-Event vom teilnehmenden Zuschauer den Willen erfordert, auf das Spiel mit seinen impliziten und expliziten Verhaltensregeln einzugehen, und eine Umgebung benötigt, welche die Darstellung und Inszenierung dieser Regeln ermöglicht (vgl. ebd. 2008: 40). So kann das vom Künstler Gebotene vom Rezipienten nur dann verstanden werden, »wenn es mit eigenen, dem Habitus des Rezipienten entsprechenden Deutungsinhalten angefüllt wird« (Schwarzbauer 1982: 10f.).19 Auch im Candle Piece reagieren die Neuköllner Zuschauer positiv, zeigen die geforderte Offenheit gegenüber der irritierenden Realisation des Events und werden im Sinne Brechts zu Kollaborateuren für die gesamte Performance, da sie für deren Auslegung selbst verantwortlich sind.20 Die Realisation des Neuköllner FluxusEvents ist angewiesen auf eine spezifische Art von Rezipienten, mit denen die Performer gemeinsam an der Aufführung arbeiten können und deshalb gebunden an den dortigen gesellschaftlichen Kontext.

Jene Kreativen, die scheiterten, weil ihre Ideen keine gesellschaftliche Zustimmung fanden, sind schnell dem öffentlichen Bewusstsein entschwunden.« (Ebd. 1992: 52) 19 Dabei galt das Konzept, »nicht gegen den Rezipienten […] sondern mit den Rezipienten« zu arbeiten, so dass künstlerische Auffassungen in der Rolle nachzuweisen sind, die der am Geschehen Beteiligte zu spielen hat (vgl. Schwarzbauer 1982: 13). 20 »What occurred during the event was the function of Brecht’s score and the participants’ interpretations of the text. Merely reading the score […] represented a performance. The intention was to undermine his own authorship; the viewer became a collaborator capable of deciding how to interpret the artist’s instructions.« (Pellico 2008b: 86)

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2. G EGEN AKADEMISMUS , I NSTITUTIONEN D ETERMINATION

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Neukölln als akademischer Aktionsraum für Musik? »You have no idea how academic music is, even the most sublime. What is calculated is for me academic. Chance is the most academic procedure [...] for it defines itself as a technique immediately. And, believe me, the throw of the dice may be exciting to the player, but never to the croupier.« MORTON FELDMAN 1958: 46

Die mit dem im vorherigen Unterkapitel vorgestellten Konzept Intermedialität verknüpfte Abkehr von festen Institutionen und die Suche nach alternativen Anknüpfungspunkten für ihre klangkünstlerischen Praktiken ist den interviewten Neuköllner Experimentalmusikern und Komponisten ein grundlegendes Anliegen. Dies zeigt sich vor allem in ihren Äußerungen zu Erfahrungen in anderen musikalischen Kontexten. Jeffrey erklärt die Schwierigkeiten der Komponistenidentitäten so: »I have left the Uni as a Meisterschüler, and I thought that I could really work on whatever I wanted to. I wrote a channel composition with electronics, and then [a professor] told me in a lesson, that I had to rewrite the music or I wouldn’t get a diploma, because it wasn’t abstract enough, [because] it sounded like Jazz. [...] I had a terrible time in the last two institutions. I find myself generally surrounded by artists whose lives are governed by fear and pressure to do something for someone. It’s just a matter of conviction and faith in one’s own ability to share something socially. There is a great moment at a computer music conference, and someone says: ›It is great to be in a meeting of likeminds‹. And someone raises the voice and says: ›I hate being in meetings of likeminds. It’s great to be in a meeting of unlikeminds‹. And that is what I wish, that you have lots of people, who are passionate about totally different things and share them with each other instead of places, where people are not passionate or tolerant about one’s things. […] [A]n academic is someone who is so deeply focused on one field, that they don’t care on anything else. So the approach of the other composer. When they weren’t talking about music, they would talk about reruns of South Park. And this would be too embarrassing to talk about for an academic. It is the exact opposite of here [Neukölln], I think, [...] and this is also kind of a cliché. Another favourite distinction of mine is between being an academic and being an intellectual. You find intellectuals in Neukölln. People who care about everything what’s going on in every field. In comparison: If I talk to the students

174 | »T IEF IN N EUKÖLLN « of the UDK in the break [and] ask: ›What do you do for fun on the weekends‹, he [will reply]: ›Ähhm, Noten schreiben‹« (Jeffrey in einem Interview am 26.08.2009)

Eine institutionelle Anbindung und seine Ausbildung als Meisterschüler ist Jeffrey zufolge verknüpft mit Zwängen und spezifischen Selbstdarstellungen. In diesem Zusammenhang kommt auch Bourdieus Analyse von Geschmack und Klasse zu Wort. So thematisiert Jeffrey ein Klassenbewusstsein und identifiziert sich selbst als Akademiker: »I like Bourdieu generally, the analysis of taste and class. […] You feel like you have been put in a little box, but it is scary in that sense, because the box is so correct. And you think, I am in that box. And I like to be in that box, because I think it is right and the other person’s box is wrong, and you realize things, that is the feeling that I have about Bourdieu. It is like being, you come to be honest about your prejudices. You come to know, what they are, but not be ashamed of them. Actual that is the perfect state of mind. But you could also say: ›Fuck, I am an academic now, but I don’t feel too great about it‹«. (ebd.)

Die laut Bourdieu vom sozialen Umfeld erwartete Übernahme von stereotypen Rollenmodellen erkennt er auch in der eigenen Identifizierung als Akademiker. Jeff zufolge existieren Unterschiede zwischen Akademikern und Intellektuellen. Betonte er zuvor seine akademische Laufbahn, grenzt er sich nun von diesem Status ab. Während sich Intellektuelle für alle möglichen Themenbereiche interessierten, charakterisiert er Akademiker durch ihr eher einseitiges fachliches Interesse. Sein Anliegen ist es deshalb, Menschen zu treffen, die dem Bild des Intellektuellen entsprechen und weniger dem des Akademikers. Jene Intellektuelle fände man in Neukölln. Jeff assoziiert mit Akademismus auch das Geschehen in klassischen Konzerthallen. Er berichtet, dass er kurz nach seiner Ankunft in Berlin in einer Schöneberger Wohnung – und damit bewusst in unmittelbarer Nähe zur Philharmonie – wohnte. Die Konzertsituation dort schildert er folgendermaßen: »When I got here … I went to the Philharmonie and opera all the time, it was a horrible experience; you don’t meet anyone there. You’re within the presence of tons and tons of interesting people, who don’t speak to each other at all. And that’s the experience of going to see these kinds of things, so it’s a horrible way to actually make friends. The concerts were great, but they had no impact. There was no social context for these things, but you wanted to have them. [...] And here [...] the social context is at least as important as what’s going on, and this is very much, ›umgekehrt‹ from what you find at the Philharmonie. I recently learned that Chopin played once in public […]. When the interesting things happen [...] they happen in their homes, when people are doing things together, they always have some kind of social context, there are few artists – in contemporary classical music – who realize this today. [...]

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[M]y mentor [...] plays cello and works with La Monte Young, Alvin Lucier [...]. After I did this piece and the composers didn’t like it, I thought: ›Maybe because it was played in a chamber room and it should really be just be played in someone’s living room‹. And [my mentor’s] response was: ›What happens in concert halls anyway?‹ That made me change. The concert halls are kind of museums, for things, that have already passed, and been there. And here [in Neukölln] it’s looking for a place, where things are happening, where the social context is at least as important as what’s going on, and this is very much, umgekehrt, from what you find at the Philharmonie. But it’s very important for concert hall culture to preserve the semblance of it. My favourite examples is the flowers of the end, when somebody plays the solo. [...] It is ridiculous to me, where did they come from? Who bought them? It fell from the sky.« (Jeffrey in einem Interview am 26.08.2009)

Sein zwiespältiges Verhältnis zum Akademismus bringt er nun in einer Kritik an Konzerthäusern zum Ausdruck. Konzerte in der Philharmonie waren trotz einer sehr guten Darbietung für Jeffrey bedeutungslos, da der soziale Kontext dort nicht in der Form besteht, wie er ihn sich für seine Musik erhofft: Interessante Situationen ergäben sich in kleinen Wohnzimmern, wo Menschen gemeinsam musizieren und das vor einem kleinen Publikum. Andererseits macht Jeffrey deutlich, dass er den Konzertbetrieb – trotz seiner vielen standardisierten und fragwürdigen Praktiken – schätzt. Damit beschreibt Jeffrey sein Dilemma bei der Entscheidung für oder gegen den Konzertbetrieb. Wie Museen stellten Konzerthäuser Dinge aus, die längst vergangen seien und jeglichen Belang verloren hätten. Jeffreys Gleichstellung von Museen und Konzerthäusern – also eine Kritik an Institutionen und vermeintlichen Hochkulturen – entspringt derselben Ideologie, die Steiner für die Vorstellungen der frühen Fluxusbewegung festhält (vgl. Steiner 2002: 40). Der studierte Violinist Johnny Chang21 lebt seit 2008 in Neukölln, nachdem er mit der internationalen Musikergruppe Wandelweiser eine Zeit lang in Deutschland unterwegs war. Wie Jeffrey geht auch er eigenen Angaben nach nicht häufig zu Veranstaltungen in Prenzlauer Berg, Mitte oder Friedrichshain, sondern hält sich die meiste Zeit im eigenen Kiez auf, was er als selbstverständlich betrachtet: Jene Kiezgebundenheit sei ihm zufolge ein »Kreuzkölln thing« (Johnny in einem Interview am 20.09.2009). Wie Jeffrey setzt er sich mit verschiedenen Spielorten in Berlin auseinander und unterscheidet zwischen offiziellen Konzerthäusern und kleineren Veranstaltungsräumen einer Off-Kultur. Seine Sichtweise auf Konzerthäuser schildert Johnny folgendermaßen: »If I got to play in [the] Philharmonie, I would be open to that. [Er lacht]. When you are studying [...] you think about the venues like Royal Albert Hall, Dresden Stadtkapelle, [but now the] Philharmonie feels so far away even it is just 20 minutes away. [...] In the area of 21 Vgl. URL: www.timescraper.de/chang/index.html (letzter Zugriff am 17.03.2013).

176 | »T IEF IN N EUKÖLLN « experimental music, that I am interested in, I find more musicians, that are more grouped and connected in this area [Neukölln]. That was the main reason, why I moved here. [...] In the beginning I was training in a classical sense and was always more interested in chamber music than playing as a soloist, from the very beginning. I am definitely more interested in the social aspects of music. One of my favourite composers whose work I find more interesting works with the social aspect in terms of exploring the hierarchy of who is relating to who and whether this should be that way or not.« (Ebd. in einem Interview am 20.09.2009)

Zwar drückt er gegenwärtig eher Belustigung bei dem Gedanken darüber aus, Teil eines klassischen Philharmonieorchesters zu sein, doch hätte er gegen ein diesbezügliches Angebot wohl nichts einzuwenden. Johnny beschäftigt sich thematisch mit sozialen Aspekten von Musik und mit Hierarchien innerhalb musikalischer Performances. Dadurch drückt er wie Jeffrey eine kritische Haltung gegenüber ritualisierten Konzerten klassischer Musik aus. Diese Reflexion umfasst für ihn auch den Austausch und die Kooperation mit anderen experimentellen Musikern im Kiez. Auch Simon22 vom Geräuschladen Ohrenhoch (siehe Kapitel I), der 2006 aus der Schweiz nach Neukölln kam, bezieht sich im Interview auf die Begriffe Intellektualismus und Akademismus: »Bei mir war das schon immer so, wahrscheinlich auch durch meine Eltern: Die waren zwar auch Avantgardisten, [was] sich aber sicher auch in bildungsbürgerlichen Bereichen abspielte. Dann kam in den 80er Jahren auch die ganze Subkultur, das hat mich wahnsinnig interessiert: Was ist Kunst? Das ist immer eine Frage. Und ich denke, dass das viel vielschichtiger ist, als man sagen kann. Weder Subkultur noch akademisch. Ich gehe da intuitiv vor. Die meisten haben einen akademischen Hintergrund, aber es verändert sich ja schon was in der Zeit. Ich denke, dass sich innerhalb der Komponisten oder Sound- oder Kunstleute sehr viel tut und dass das nicht mehr so eindeutig ist.« (Simon in einem Interview am 19.10.2008)

Betrachtet er die Grenzen zwischen vermeintlich subkulturellen und akademischen Kontexten als fließend, rekurriert er andererseits auf eine »Akademie der Künste«23, 22 In den 1980er Jahren war Simon als Schlagzeuger bereits für Performances in Ostberlin unterwegs. In der ehemaligen DDR wurde ihm damals angeboten, als Improvisationsmusiker weiterzuarbeiten, was er ablehnte, da er nicht das Gefühl hatte sich so weiterentwickeln zu können. »Es waren große Erfolge, die er da gemacht hat: Eine Zeit, in der er Gruppen gegründet hat, wo man sagen kann, die sind Wegbereiter«, fügt seine Ohrenhoch-Partnerin Carola hinzu (Carola in einem Interview am 19.10.2008). 23 »Die Schweiz ist in dem Sinne nicht so ein Land [für] die internationale Avantgarde. […] ›Avantgardistisch‹ ist [dort] ein komischer Begriff, das liegt aber an der Schweiz selbst. Das ist ein Vorurteil; so bescheiden, so niedlich alles [und] der Tourismus: das macht wahnsinnig viel aus. Kunst machen in der Schweiz ist schwierig, weil das in der Gesell-

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die, wie er betont, eine Voraussetzung für die bildenden Künste in Deutschland bilde. Mit dem Verweis auf eine »niedliche« Außendarstellung der Schweiz betont er den geringen Stellenwert der bildenden Künste dort, der ihm zufolge auch Avantgarden und Künste das Leben schwer mache, weil diese auf politischer wie gesellschaftlicher Ebene keine Anerkennung erhielten. Auch sei der Begriff Intellektualismus in der Schweiz ein Schimpfwort, was Simon sowohl durch eine bescheidene Grundeinstellung der Schweizer erklärt als auch durch eine nie vorhandene Akademisierung der bildenden Künste, wie sie im Gegensatz dazu in Deutschland besteht. Simon lässt durchscheinen, dass ihn Avantgarde- und Kunsttheorien immer noch reizen und möchte den Bereich der experimentellen und elektroakustischen Musik durch Workshops in seinem Geräuschladen einem gesellschaftlich breiten und insbesondere dem nachbarschaftlichen Kontext öffnen (ebd.). Neben Workshops für Kinder und Erwachsene, in denen mit elektronischem Instrumentarium Musik gestaltet wird, organisieren Carola und Simon sonntags in ihrem Laden Ohrenhoch auf etwa fünfzehn Quadratmetern regelmäßig kleinere elektroakustische Konzerte und Installationen. Damit realisiert er im Berliner Kiez musikalische Projekte, die ihm in Basel nicht möglich zu sein schienen. Certain Sundays – Musiksalon für experimentelle Musik in Neukölln Im August 2009 treffe ich den Kontrabassisten Christopher Williams. Er ist Ende 20 und erst vor einem Monat von Spanien fest nach Neukölln gezogen. Nach seinem Kompositionsstudium in San Diego lebte er sechs Jahre in Barcelona. Vor seinem Umzug nach Neukölln war er diverse Male für kleinere Auftritte in die Bundeshauptstadt gekommen. Deshalb sah ich ihn schon vor ein paar Monaten als Performer einer Fluxus-Aufführung im Gelegenheiten. Außerdem ist er aktiv in der Neuköllner Fluxus Gruppe, die das Candle Piece aufführte. Als er noch in Barcelona lebte, erfuhr er durch befreundete Musiker bereits einiges vom Leben im Kiez,24 so dass musikalische Kooperationen, zum Beispiel schaft und Politik ganz anders aufgenommen wird als in Deutschland, wo es schon lange eine Akademie der Künste gibt, wo es Maler als Professoren gibt. Die Grundeinstellung ist anders. Die hatten auch immer auch ein gespaltenes Verhältnis zu den Literaten gehabt, [wie beispielsweise zu] Dürrenmatt [und] Frisch. Intellektualismus ist immer ein Schimpfwort gewesen in der Schweiz.« (Simon in einem Interview am 19.10.2008) In diesem Zusammenhang ist zu hinterfragen, ob jener Intellektualismus, von dem Simon spricht, nicht auch in Deutschland als Schimpfwort gilt. 24 »All my friends live here [in Neukölln]. It was coincidence: I found out in May, when I was calling my friends here, and came to hang out, it seemed to be obvious, that I wanted to be here.« (Christopher in einem Interview am 06.08.2009)

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mit Johnny, unmittelbar nach Christophers Ankunft in Neukölln möglich wurden. Barcelona erscheint ihm im Vergleich zu Berlin im Allgemeinen »slow and provincial as far as the artworld is concerned« und daher in Bezug auf gegenwärtige Musik eher rückständig. Deshalb ist für ihn klar, »that Berlin is the place to be for what I am interested in for a while«.25 Sein Interesse an improvisierter Musik ist seinen Aussagen nach weniger an spezifischen Sounds als an Konzepten orientiert.26 Dieser eher musiktheoretische Ansatz, der auch schon in Johnnys Aussagen durchschien, spiegelt sich auch in dem Vorhaben wider, das Christopher im Kiez umsetzen möchte: »Well, that is one of the primary reasons why I moved to Berlin. [...] It is not just to play with people [and] to be able to make a living, but to be able to draw from this huge pool of talented people [...] to do something that is not so easily formatted. [I]f I just wanted to compose pieces for other people to play, I could do that in lots of different places, but […] my main interests are more complex […]: I’m interested in people and a different way, that doesn’t necessarily fit so easy into typical infrastructures, that you would find in concert halls or in institutions, or in clubs or whatever. I’m interested in different kinds of work processes [and] in the grey area between the discourse and music making. It is hard to describe what that means. I’m interested in interacting with people around ideas and through ideas, at the same time that we can deal with ideas at the level of music making. [...] It’s something, that I didn’t have at all in Barcelona, the whole notion of discourse was completely non-existent, even at the level of talking about music after concerts, in bars, was very difficult to engage that way. Discourse [means] being able to externalize your thoughts and your experience of music. And it doesn’t always have to take the form of words, it doesn’t have to be about lectures, or papers, or conversation: you can express discourse through music as well, it is just kind of like understanding music as an intellectual enterprise in general and being able to deal with people who understand that. [...] In a way discourse can mean that people think about it for themselves, and responding to it in their own way.« (Christopher in einem Interview am 06.08.2009)

Er konstatiert einen großen Pool an talentierten Menschen in Neukölln, mit denen und für die er seine Musik betreffenden Ideen ausweiten möchte: Die Grauzone zwischen Musizieren und dem Diskurs über Musik erklärt er als gewünschten 25 »In Barcelona there are many improvisers and far-out musicians, [but] it is not really happening for contemporary music, it is very very backwards. […] I was active in ensembles or other institutions outside Barcelona.« (Ebd.) 26 »I am mainly interested in improvised music with my [double] bass and playing new music [...]. I don’t aim for a certain style. […] My way of playing is more [...] related to concepts than a particular general sound. [...] I was playing scores, when I was travelling, in Barcelona I was improvising.« (Ebd.)

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Fokus für sein Vorhaben in Neukölln, das er explizit außerhalb der Infrastrukturen von Konzerthallen, Clubbetrieben oder Institutionen stellt, was er so erklärt: »[M]y sensation is that whenever you have this concentration of creative people, they don’t depend on institutions but at the same time have the space and have the time to do extraordinary things, it happens inevitably. For example, if I were to distinguish [...] Neukölln from other creative neighbourhoods in cities, Williamsburg or [in] Amsterdam, [...] I would say that in Berlin more things can happen because [...] there is room and physical space to try things out, to present things, constantly there is kind of playfulness within the social infrastructure.« (Ebd.)

Neukölln erscheint Christopher als kreativer Ort mit einer sozialen Infrastruktur, die im Vergleich zu Bezirken in anderen größeren Städten mehr Raum für außergewöhnliche Ereignisse bietet, die gar keiner Institutionen bedürfen, sondern denen eine stärkere Institutionalisierung der Kunst sogar im Wege stünde. Sein breit gefächertes Interesse bezieht Musik in allen erdenklichen Ausdrucksweisen und Lebenslagen mit ein und verdeutlicht eine gewisse Form der Reintegration von Kunstformen in alltägliche Lebenspraktiken, die Bürger für die Lebensstile von Avantgardisten festhält, die sich seit dem 18. Jahrhundert im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Kunst als Institution aussprachen.27 Zur Realisierung seiner komplexen Konzepte und Ideen sucht der studierte Komponist spezifische Räume außerhalb stereotyper Konzertkontexte und siedelt sein Vorhaben deshalb in Neukölln an. Ein paar Monate nach dem Interview verwirklicht Christopher seine Pläne mit der Musiksalonreihe Certain Sundays. Zusammen mit dem ebenso aus den USA stammenden Altsaxophonisten Andrew28 kuratiert er den Salon im Neuköllner Sowieso, einer ehemaligen Metzgerei. Auf der Website zu Certain Sundays erklären die Musiker: »Certain Sundays ist ein monatlich stattfindender Salon […], bei dem die Arbeit von Experimental-Musikern, Komponisten, Kritikern, Klang-, Radio- und Medienkünstlern sowie anderen, die in der Musik- und Klangwelt aktiv sind, präsentiert wird. Künstler performen, präsentieren Videos oder Audio-Aufnahmen, unterhalten sich mit den Zuschauern, stellen Partituren

27 »Bürger interprets the widening gap between art and life, which had become all but unbridgeable in late 19th century aestheticism, as a logical development of art within bourgeois society. In its attempt to close the gap, the avantgarde had to destroy what Bürger calls ›institution art‹, […] in which art was produced, distributed, and received in bourgeois society [...].« (Bürger 1974: oS nach Huyssen 1986: 7) 28 Außerdem spielt Andrew Bassklarinette, Kontrabassklarinette und analogen Synthesizer.

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Kaffee and Kuchen served. Conversation encouraged.«

Am Sonntag, dem 11.04.2010, besuche ich nachmittags den Musiksalon Certain Sundays in Neukölln. Für fünf Euro Eintritt nimmt man an der musikalischen Konversation teil und erhält auch freien Zugang zum Kaffee- und Kuchenbuffett. Zufällig treffe ich auch den Violinisten Johnny. Zusammen mit etwa dreißig weiteren Zuhörern lauschen wir den heutigen Beiträgen: An diesem Sonntag stellen die beiden in Berlin lebenden Komponisten Thomas Meadowcraft und Richard Barrett einen ausgewählten Teil ihres Œuvres vor, den sie mit einem Vortrag kombinieren.30 Nachdem Barrett ein Musikstück über Lautsprecher abgespielt hat, versucht er das Gehörte thematisch mit John Cages Konzepten und dessen Vorstellungen der Zeitdimensionen zu verbinden: »Composing, Listening und Performance« sollten ihm zufolge deshalb behandelt werden als »same things«, »any moment in the future is influenced by things in the past« und »improvisation is only a moment in the history«, philosophiert Barrett nach Cage. Cage gilt als Ikone für Indetermination (vgl. Feißt 1997: 50-69) und theoretische Freiheiten. Seine Konzepte, mit denen er die demokratisierenden und antiautoritären Bewegungen seiner Zeit aufnimmt,31 stehen somit im Widerspruch zu ihrer akademischen Lehre. Doch der Vortrag und die Art der Vermittlung von Cages Theorien im Neuköllner Sowieso erinnern an eine universitäre Vorlesung, die dem antiautoritären Ansatz Cages zu widersprechen scheint. In der darauffolgenden Pause bedient man sich am Kaffeebuffett. 29 Vgl. URL: www.certainsundays.org/about/ (letzter Zugriff am 20.03.2013). 30 »Thomas Meadowcroft Presentation on ›Bus Songlines‹ and Richard Barrett [on] ›The History of the Moment‹«. Vgl. URL: www.certainsundays.org/about/ (letzter Zugriff am 20.03.2013). 31 »John Cages’s well-established commitment to erasing the boundaries separating life and art […] inspired new generations of musicians, for whom the values of immediacy and spontaneity offered a point of connections with youth counterculture, and who viewed performative freedoms, collaborative creative processes, and audience participation as consonant with the antiauthoritarian and democratizing movements of the era.« (Adlington 2009: 4f.) »›Let sounds be themselves.‹ From these four words Cage opened the muscial establishment to the democratic ambience and semiotic ambivalence of aurality, while at the same time inaugurating the disappearence of the received category ›Music‹. [...] Cage’s prescriptions concerning Sound, Art, the Self, and Life, while resonant and poetic, nonetheless envelop sound within a semantically silent recantation. Situating the configurations of Cage’s retreat into this silence – as it manifests between sound as phenomenon and sound as metaphor, self as lived and self as represented, and locating the spaces and moments of its resolution [...].« (Dyson 1992: 374)

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Johnny und ich essen Kuchen und unterhalten uns über das von Christopher gebackene banana bread. Der zweite Musiker, der nach der Pause seinen Beitrag liefert, scheint sympathisch verkatert vom Vorabend. Er liefert ein originelles Gemisch aus Vortrag und subtiler Performance, für welche er neben vielen narrativen Querverweisen auch diverse akustische Einspielungen seiner Werke nutzt. Beide Beiträge des Neuköllner Musiksalons verlaufen in englischer Sprache. Obwohl ich schon einige Monate im Feld der Improvisationsmusiker und Komponisten forsche, bin ich des Jargons der Szene noch nicht vollkommen mächtig: Jedenfalls bereitet mir insbesondere der erste Beitrag ein paar Schwierigkeiten. Die anderen zumeist männlichen Zuhörer im Raum stammen wohl aus der ›Szene‹, auch wenn ich diesen Kreis bis zum Ende meiner Forschung nicht genauer definieren kann.32 Die Kuratoren mögen einen lockeren Umgang mit Musik – auch mit Hilfe des leckeren Kuchenkonzepts – beabsichtigen. Doch erinnert der Neuköllner Musiksalon an eine Veranstaltung für Experten: In Bezug auf die Vortragssituation wirkt der Anspruch eines nicht-akademischen Ansatzes per se paradox. Im Mai 2011 lese ich aus der Linksammlung der Website von Certain Sundays, dass der Musiksalon mittlerweile durch diverse Institutionen unterstützt wird.33 Ich muss an das Gespräch mit Christopher vor zwei Jahren denken, in dem ihm eine Organisationsstruktur vorschwebte, die frei sein sollte von Institutionen. Die Idee von einer Veranstaltung außerhalb von institutionellen oder akademischen Strukturen wurde also nicht in der Weise umgesetzt, wie es Christopher kurz nach seiner Ankunft in Neukölln angedacht hatte.

32 Diskussion zu dem Begriff einer Berliner Experimentalmusikszene siehe Unterkapitel 5. 33 Die Unterstützung erfolgt demnach durch den Hauptstadtkulturfond, durch das Kulturamt Neukölln, den Deutschen Musikrat und die Initiative Neue Musik. Vgl. URL: www.certainsundays.org/about/ (letzter Zugriff am 20.03.2013).

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Indetermination, Experiment und musikalische Freiheiten »The point here is to indicate how the notion of experimentation rhetorically carries into the process of musical composition a connotation of science – of laboratory experimentation. [...] the basic assumption behind the idea of experimental method: namely, that the outcome of the experiment is always undetermined. [...] an excellent setting for […] discovery, a perfect opportunity for an encounter with the new, and the unfamiliar.« CORBETT 2000: 164-165

Der 19-jährige Wiener Leander kam 2008 nach Berlin, um seinen Auslandszivildienst zu absolvieren. Parallel zu seiner Arbeit initiierte er die open stage, eine offene Bühne für Experimentalmusiker im Neuköllner Loophole34. Seine Improvisationsreihen fanden als sogenannte »blind meetings« statt, also dem gemeinsamen Spielen von spontan zusammenkommenden Musikern, die sich nicht kennen. Seine Reihe war als temporäres Projekt gedacht, da er sich vorgenommen hatte, nach einem Jahr in Neukölln eine längere Reise zu unternehmen, deren Route alle möglichen Großstädte mit einbezieht.35 Eigentlich sehe er sich »als zukünftiger Literat« und Vertreter des Surrealismus. Doch sei es »erst mal einfacher, in Musik reinzukommen« (Leander in einem Interview am 10.09.2009). Seinen Umzug nach Berlin erklärt er durch die Erfahrungen mit einer eher »elitären« Wiener Experimentalmusikszene.36 Die »guten Musiker« bündelten sich

34 »Loophole is a Berlin based event space that showcases all forms of art; offering an encompassing program that reflects the diverse range of artistic-practice today.« (Vgl. URL: www.loophole-berlin.com/2012/ letzter Zugriff am 05.03.2013). 35 »Ich werde eine große Reise machen; zwei Monate in Wien, dann London, New York, Paris und dann Freiwilligendienst in der Türkei in einer Blindenwerkstatt. Bei den anderen Städten, da komme ich umsonst unter.« (Leander in einem Interview am 10.09.2009) 36 »Die Experimentalmusikszene [in Wien] bezieht sich auf zwei oder drei Locations, zwar alles viel kleiner, aber dort ist [es] schon um einiges elitärer. Den Durchschnitt, den du dort hörst, will mehr, der kann mehr. Das ist schon die Musikhauptstadt. […] Der Marco Eneidi hat mal vor fünf Jahren das Celeste eröffnet, ein Vorbild für meine [open stage in Neukölln]. Ich bin dann einfach mal vor zwei, drei Jahren irgendwie reingekommen. […] Da waren alle […] richtig großen Wiener Experimentalbands, die wirklich viele Auftritte in der ganzen Welt haben, und mit denen […] habe ich da einen Auftritt bekommen.

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in der österreichischen Hauptstadt demnach an drei Orten. Als Anfänger müsse man gegenüber der »autoritären« Organisation der Veranstaltungsorte Mut und Hartnäckigkeit beweisen, um an den Musikimprovisationen teilnehmen zu dürfen. Ein bestimmter Wiener Club, der Leanders Aussagen nach »berühmte« Musiker präsentierte, war Vorbild für seine open stage, die er im Neuköllner Loophole veranstaltet. Wie es zu seiner offenen Bühne kam, schildert er folgendermaßen: »Es gibt schon offene Bühnen, zum Beispiel im [Kreuzberger] Madame Claude […], aber nicht ein Forum, wo du mit fremden Leuten jammst und um diese Konvulsiv-Schönheit zu erreichen. […] Das erste, was ich gefunden habe, ist das Exploratorium [in Kreuzberg], das ist ziemlich cool da, auch, wenn es eher die Akademiker sind, die da improvisieren, bis ich zu dem Ergebnis kam, dass es hier so was nicht gibt und habe dann mit der Idee gespielt, das selber zu machen und das mit dem Loophole hat sich rein zufällig ergeben. […] die LoopholeBesitzer […] meinten: ›Na, mach’s doch hier!‹ […] Das sind echt voll nette Typen [und] machen auch gar keinen Druck von wegen Gewinn, denen ist das eigentlich scheißegal. Dann hab ich das da aufgezogen. Und retrospektiv betrachtet habe ich da zu wenig Energie hineingesteckt und zu viel laissez-faire gemacht. Das war ein Experiment für mich selber.« (Ebd.)

Die Schwierigkeiten seines Vorhabens vertieft Leander wie folgt: »Es ging darum, so ein Forum zu etablieren. Das hat nicht wirklich funktioniert. Es gab ein kleines Stammpublikum, aber die Musiker waren auch nicht so toll, finde ich. […] Es waren schon gute da, aber es verläuft sich so extrem, weil Berlin so groß ist und an einem Tag so viel bietet, und diese Schiene Experimentalmusik Mainstream ist. […] Aber es war zweimal, wo ich richtig euphorisch war danach, da waren so 25-30 Leute, [und die] haben auch richtig gute Musik gemacht, richtig viele Genres abgeklappert. [Es war] anstrengend, dass die Location im Umbau war. So konnten wir die Bühne nicht benutzen. Wir waren im Vorraum. Das war ziemlich zerstörend: Man kommt rein und überall sitzen Zuschauer, Musiker, Barriere, [...] daneben trinkt jemand sein Bier, einfach sehr unaufgeräumt. […] Im [Kreuzberger] Exploratorium ist das ganz clean. Auch, wenn ich die Idee nicht schlecht finde, das zu vermischen: Am Anfang war das ziemlich schön, ich habe rechts von der Bühne gesessen. Und jeder konnte auf die Bühne kommen zu spielen, ich wollte niemandem was verbieten. Jeder, der seinen eigenen Mut hatte, konnte auf die Bühne kommen. Das hat mich teilweise an Menschen genervt, vor allem die […] in meinem Alter wollten eine Direktion von mir haben: ›Mach das jetzt und so‹. […] Man muss selber den Kopf haben, sich irgendwie reinzufinden. Ich möchte nicht sagen, was der andere machen soll. […] Ich habe auf jeden Fall extrem gutes Feedback bekommen. […] Neukölln ist auch der richtige Platz dafür, einfach das

Marco […] war da recht autoritär. […] Es traut sich halt nicht jeder [und] das war auch für mich eine Überwindung, und […] irgendwann hat er dann nachgegeben.« (Ebd.)

184 | »T IEF IN N EUKÖLLN « offenste und weirdeste irgendwie. Ich steh’ sehr auf Neukölln und ich finde, [die] open stage und experimentelle Musik passt sehr zu Neukölln.« (Ebd.)

Leander bewertet experimentelle Improvisationsmusik in Berlin als Mainstream. Seine open stage sollte sich demnach von jenen offenen Bühnen in Kreuzberg und in Wien unterscheiden, die seiner Meinung nach von einem Kreis von Akademikern dominiert werden. Demgegenüber sollte Leanders unkommerzielle Veranstaltungsreihe keinen ausschließen und niemandem das Mitspielen verbieten. Seine Sichtweisen decken sich mit denen der avantgardistischen Performancekünstler der 1960er Jahre, deren Events außerhalb von Institutionen, für jeden bezahlbar und »antielitär« sein sollten (vgl. Bärthel 2002: 33-35). So ist seine Vision von improvisierter Musik klar an spezifischen Idealen orientiert: Sie setzt einen explorativ-experimentellen Charakter des Genres sowie ein undeterminiertes Setting der Improvisationssessions voraus – im Sinne des zu Beginn dieses Kapitels angeführten Zitats von John Corbett. In diesem Kontext erwartete Leander eine Gruppe selbständig improvisierender Mitmusiker sowie spezifische Eigenschaften des Klangs. Mit der Vorstellung sogenannter »blind meetings«, also dem gemeinsamen Musizieren mit Menschen, die man nicht kennt, verbindet Leander also klare ästhetische Ergebnisse. Im Vergleich zu anderen Veranstaltungsorten erschien ihm die Aufteilung in Zuschauerraum und Bühne seiner open stage recht unaufgeräumt und unstrukturiert.37 Seine Vorstellung von einem perfekt ablaufenden Improvisationskonzert mit spezifischen ästhetischen Resultaten wurde auf seiner open stage in Neukölln nur selten verwirklicht. Elliott/Lemert definieren neue Formen von Individualismus, die aus gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der Globalisierung resultieren (vgl. ebd. 2009: 61). Als wichtiges Phänomen benennen sie eine Flexibilität der Praktiken, welche des Weiteren begleitet ist von einem »experimental feel« der betreffenden Individuen (ebd.). Auch Leander beschreibt seine flexiblen und spontanen Handlungsweisen im Kiez und bewertet die Organisation seiner open stage zurückblickend als Experiment für sich selbst. Trotz der ernüchternden Erfahrungen würde er eine offene, experimentelle Bühne ein weiteres Mal in Neukölln aufziehen, weil experimentelle Musik zum merkwürdigen Charakter des Kiezes passe. Leander hat vor, Philosophie, Literatur und Linguistik in Berlin zu studieren, schreibt gerade an einem Buch, möchte aber nicht Musik studieren, da er ein »Musik-Anti-Akademiker« sei, was er folgendermaßen erklärt: »Man kann so viel mit Nichtwissen machen. Wie gesagt, ich bin Surrealist, ich glaube, wenn man einfach den Willen hat, Musik zu machen, auch wenn man es nie gelernt hat, [dann] 37 Seine Beschreibung erinnert an die diffuse Aufteilung von Performern und Zuschauern im Neuköllner Candle Piece.

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lernst du einfach, wie man das Instrument bedient. Ich spiele seit zwei Jahren Geige, obwohl ich das nie gelernt habe. Mich nervt Akademisierung von Musik. Was ist Neue Musik? […] Es macht einfach keinen Sinn mehr, Regeln aufzustellen. Ich liebe Stockhausen. Ich finde Kontakte sind in einem komplexen System aufgebaut, aber ich finde sie klingen wie eine Improvisation bei der open stage, was ich positiv finde. So Akademiker, die da [bei Popmusik] ihre Nase rümpfen. Die wirklich guten lieben auch Pop. Es kommt darauf an, dass die Musik gut ist, und die Beatles sind gut und Sonic Youth. In sich war die Popmusik auch was neues, was die klassische Musik nicht mehr leisten konnte. Na, wenn man den Radiosender aufdreht, kann man sich schnell abwenden, aber ich finde Popmusik sehr gut.« (Ebd.)

Begeistert unterstreicht Leander die Qualität von der Musik nicht-studierter Musiker und kritisiert die Regelhaftigkeit von Kompositionen der »Neuen Musik«. Improvisationen seiner open stage hätten somit klanglich ähnliche Ergebnisse erzielt wie Stockhausens Musikstück Kontakte. Durch diesen Vergleich verdeutlicht Leander, dass die improvisierte Musik auch ohne Partitur besteht und denselben Wert hat wie die Musik des studierten Stockhausen. Seine Aussagen ergreifen Partei für sogenannte Popkulturen im Kontrast zu vermeintlichen Hochkulturen, wie sie in verkürzten Rezeptionen Adornos debattiert werden.38 Leander kritisiert die Akademisierung und die theoretische Bestimmung von Musik. Anderseits liebt er Stockhausens Musik und verdeutlicht die Auseinandersetzung mit dem Regelwerk von Kontakte und auch ästhetische Ansprüche in Bezug auf die Improvisationen seiner open stage in Neukölln. Cage, Sonic Youth und Stockhausen in Neukölln In nahezu allen Interviews mit den Neuköllner Experimental- oder Improvisationsmusikern oder Komponisten fällt der Name Cage als Vorbild für musikalische Praktiken.39 Cage wird codiert als unantastbare Größe für ein Wissen um vermeint38 Seine eigene Musik baue auf Improvisation auf und sei »ein Spiel aus musikalischen Ideen aus der Popwelt«, die er verzerre (ebd.). »Adorno saw this affordable and accessible [popular] music as demeaning the musical experience, offering only false happiness. Later, critiques would be voices by those concerned about local musical styles being overrun by international pop music. Even today these debates engage those concerned with music listening, despite thorough-going attempts to articulate alternative canons and to theorise the pop/high-culture musical divide.« (Vgl. Adorno 1982: 270-299 nach Bergh/DeNora 2009: 109) 39 So wurde John Cage zum Beispiel von Jeffrey im Zusammenhang mit einer »licence to fail« aus dem Stehgreif zitiert. Anlässlich seines 100. Geburtstags im Jahre 2012 wächst das mediale Interesse an Cage und damit die Popularität des Experimentalmusikers. Ihm zu Ehren finden weltweit Performances statt, auch in Berlin. URL: http://johncage. org/2012/ (letzter Zugriff am 21.03.2013).

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liche kompositorische Freiheiten, mit denen die Neuköllner Musiker und Komponisten sich zu identifizieren scheinen. Außerdem wird die New Yorker Postrockband Sonic Youth in vielen Fällen als Inspirationsquelle genannt. Dabei identifizieren die Neuköllner Musiker sich eigenen Angaben nach nicht primär mit dem popkulturellen Output der Band. Vielmehr bekunden die befragten Musiker ein Interesse an den konzeptionell-künstlerischen Ansätzen, den popdiskursiven Aussagen sowie einer als radikal wahrgenommenen Einstellung der New Yorker Band.40 Neben Cage und Sonic Youth reiht sich auch Karlheinz Stockhausen in die Riege der in den Interviews meistgenannten Prominenten ein. Wie Jeffrey äußert der Tokyoter Laptopkomponist Akira41 ein eher zwiespältiges Verhältnis zur Musik Stockhausens, was er folgendermaßen erklärt: »I have a lot of influences from many people, that’s true. […] I like Stockhausens Kontakte, this is totally the best one in the world, still. It is totally composed music, but sounds really beautiful, but the other music he did is bullshit.« (Akira in einem Interview am 08.04.2009) Akira zufolge zeichnet sich Kontakte also dadurch aus, dass die Komposition trotz einer »totalen« Strukturierung sehr schön klinge. Auch Leander vergleicht Kontakte mit einer nicht-komponierten Improvisationssession seiner open stage. Die beiden jungen Neuköllner Musiker grenzen sich in diesem Fall von ›total durchkomponierter Musik‹ ab, also von Musik, die als Text-Partitur besteht.

40 Die Mitglieder der Band Sonic Youth beteiligten sich in vielerlei Hinsicht an einem kunsttheoretischen Diskurs. Für ein Plattencover der Band wurde das Kerzen-Bild Gerhard Richter verwendet. Diederichsen kommt auf den künstlerischen Status der Band folgendermaßen zu sprechen: »Zu den interessanteren Einflüssen von Ambient-verwandten Konzepten auf Pop-Musik gehörten die Fälle, wo sich Erben der so genannten MinimalMusic mit Rock-Gitarren trafen. Ein solcher Fall ist der Komponist Glenn Branca, der beeinflußt von Experimenten […] von LaMonte Young und anderen elektrische Gitarren unorthodox stimmen ließ – nicht so weit entfernt von der Art und Weise, wie eine Generation vorher Velvet Underground, die […] Oberton-, Drone- und Feedback-Effekte einsetzte – und damit […] Sonic Youth nachhaltig beeinflußte. […] Sonic Youth, die nun vor allem in der Hälfte der 80er Jahre einerseits auf einer klar bestimmten Pop-Ebene arbeiteten und andererseits auf einer zweiten Ebene die nicht orthodox gestimmten und vielfach dröhnenden Gitarren als einen Sound entwickelten, der trotz seiner klaren Codierung als Platzhalter des Offenen und Unklaren nicht in dieser Codierung aufging.« (Diederichsen 1999: 163) 41 Der 27-jährige Akira lebt seit 2007 im Neuköllner Reuterquartier und studiert ab 2009 »Sound Studies« an der UdK.

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Neukölln als Raum für autodidaktische Musik Mit Julia und Jonas unterhalte ich mich über ihre Sichtweise der Musikszenen in Berlin im Vergleich zu ihrem ehemaligen Wohnort Hamburg. Die beiden sind 2006 für das Studium »Sound Studies« an der Berliner Universität der Künste von Hamburg nach Neukölln gezogen. Julia empfindet ihr Wohnviertel um den Hermannplatz ein wenig so, wie das Hamburger Schanzenviertel »früher einmal war, […] noch ohne zu viel Kneipen drumherum« (Julia in einem Interview am 15.05.2009). Jonas hat mittlerweile sein Studium abgebrochen. Aber zurück nach Hamburg zu gehen wäre für ihn »keine Option gewesen«, weil sich die »Szenen« dort weniger vermischten.42 Jonas kontrastiert zwei Musikerkreise in Hamburg: Zwischen dem Feld der Autodidakten einerseits und andererseits dem Bereich der studierten Experimentalmusiker komme es ihm zufolge zu keinen Annäherungen. Berührungspunkte konstatiert er hingegen zwischen den Autodidakten und den Freejazzmusikern. Seine Pläne in Neukölln und die Qualitäten des Kiezes erklärt er so: »Die Anknüpfungspunkte ergeben sich schneller, weil die Leute hier vorübergehend sind. Die Kehrseite ist die Unverbindlichkeit […]. Die große Chance dabei ist, dass sich schnell unverhofft, interessante Sachen ergeben, weil man einfach im Hier und Jetzt was ausprobieren will und sich nicht über Jahre mal annähert und mal guckt, ob man nicht nächstes Jahr Kulturgelder beantragt. […] Ich möchte gar nicht woanders hin, als ich jetzt bin, […] ein paar mehr Euro im Monat verdienen [und] auf jeden Fall an die organisatorische Arbeit anknüpfen, die auch in einem offiziellerem Rahmen ist [für] Veranstaltungen, wo ein Budget hintersteht […] und [möchte] vor allem zwischen den Szenen […] Verbindungen schaffen – zwischen Videokunst und Autodidaktmusik und Akademikermusik interessante Leute an einen Tisch bringen, und das professionalisieren […]. Ich habe bei Asmus Tietchens Sound studiert, aber mehr in 42 »[Da] kommt wenig von außen rein, in Berlin ist das ganz anders. […] Dieses offene, vielfältige mit Austausch angelegte Prinzip hier in Berlin, das gibt es sonst selten. Auch die Vermischung Studierter mit Unstudierten. […] Als es den ›Sound Studies‹-Studiengang gab, sagte man: ›Nun wird den Autodidakten der Hahn abgedreht‹. So krass ist es nicht. Das ist in Hamburg auch so ein Ding, dass die Leutchen, die an der Hochschule experimentelle Musik machen in ihrer Institution und ihrem Zirkel bleiben. Die haben von vornherein Angst, etwas von den Leuten aus dem Underground, die aus dem trashigen Bereich kommen, [kennenzulernen]. Das ist gar nicht […] hochnäsig, sondern so eine Angst. Umgekehrt geht von der Hörbar keiner [zu den Konzerten an der Hochschule] und sagen: ›Da wird mit hohem technischen Aufwand nichts geleistet‹. [Mit den] Leute[n], die aus dem Freejazzbereich kommen, gibt es nun Annäherungspunkte [mit Hörbar]. Die Autodidakten sind stolz darauf, dass sie Autodidakten sind [und] man hat mehr Publikum […].« (Jonas in einem Interview am 15.05.2009)

188 | »T IEF IN N EUKÖLLN « so einem theoretischen, offenem Rahmen: Da ging’s nicht so sehr um ein rigides Durchziehen von einzelnen Arbeiten, die zum Ende des ersten Semesters benotet werden, sondern eher um eine Sensibilisierung für’s Hören.« (Ebd.)

Jonas ist motiviert, die von ihm als verschieden definierten Szenen, also studierte und unstudierte Musiker, auf Veranstaltungen in Neukölln zusammenzubringen und ein passendes Umfeld für beide zu gestalten. Er betont die Möglichkeiten zum Ausprobieren im Neuköllner »Hier und Jetzt«, von denen er sich interessante Ergebnisse erhofft. Somit klingen seine Pläne geleitet von dem Gedanken der Gunst der Stunde: Wie Christopher erkennt er gegenwärtig das Ankommen und sich Zusammenfinden von Menschen in Neukölln, die miteinander kooperieren und sich ausprobieren. Im Kontrast zu Christopher und Leander benennt Jonas explizit den Nutzen von Fördergeldern und die Verbindung zu Institutionen, welche die Veranstaltungen durch handfeste Budgets sichern und möchte seine organisatorische Arbeit in Zukunft in einem offiziellen und professionellen Rahmen sehen. Diese Pläne setzt Jonas erfolgreich um: als »erster autodidaktischer Komponist« ist er Gründungsmitglied von »Klangnetz«43 und organisiert zum Zeitpunkt des Interviews zusammen mit anderen Künstlern ein Festival in der Berlinischen Galerie in Kreuzberg. Außerdem wird er vom Kulturamt Neukölln für ein Projekt unterstützt, das er im Rahmen des anstehenden Kunstfestivals »48 Stunden Neukölln« (Kapitel V) zusammen mit seiner Neuköllner Kollegin Anna (siehe Kapitel II) konzipiert. Begann er als Teenager »schroffen Punk-Techno, HipHop-Hardcore, Crossover-Kram zu machen, woraus sich eine Geräuschmusik entwickelte«, interessiert ihn mittlerweile »in jedem Fall stark moderne Kammermusik und Neue Musik [und] tatsächlich akustische Neue Musik«, die zu einem starken Einfluss auf seinen Umgang mit Klang geworden sei (ebd.). Dies veranschaulicht er auch durch die Betonung des Schwerpunkts seines Sound-Studiums auf eine »Sensibilisierung für’s Hören« (ebd.). Jonas arbeitet zum Zeitpunkt des Interviews vor allem an audiovisuellen Konzepten. Kompositorisch konzentriert er sich an analogem und akustischem Soundmaterial, das im Live-Set am Laptop in Echtzeit moduliert wird. Ästhetisch interessiert ihn »das Hin- und Hermodulieren zwischen […] erkennbaren konkreten Sounds und daraus gewonnenen Zerrbildern ihrer selbst, in ein digitaler, abstrakt klingendes Etwas«, was auch »verschiedene inhaltliche Komponenten, auch wahrnehmungspsychologische Aspekte« habe (ebd.). Grundsätzlich schwinge

43 »Das ist ein Verein, der 2003 von der Hochschule für Musik und der Universität der Künste gegründet worden ist und sich aus einer studentischen Initiative heraus weiterentwickelt hat. Ich bin als Graphiker dazugestoßen und dann als visueller Künstler, [habe] verschiedene audiovisuelle Geschichten mitgemacht und nun bin ich quasi auch Komponistenmitglied als erster Autodidakt.« (Ebd.)

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»da was Politisches und Ideologiekritisches mal mit«, was aber in den letzten Jahren subtiler geworden sei, wie er mir erklärt (ebd.). Eloquent, flüssig und routiniert präsentiert Jonas seine Musikpraktiken, ohne politische und ideologische Aspekte seiner Musik auszulassen. Seine musikalische Selbstanalyse erweckt den Eindruck, als erforsche er aus frühen Sichtweisen der »cultural studies« seine eigenen vermeintlich widerständigen Praktiken:44 In einer knappen, ganzheitlichen Abhandlung seines Beschäftigungsfeldes mit Musik reißt er sowohl Begriffe der Ästhetik als auch Fragen von Kritik, Politik und Engagement, also gesellschaftliche Aspekte, an.45 Auf welche Weise die politischen und ideologiekritischen Gesichtspunkte in seinen Werken mitschwingen, erläutert er nicht weiter.46 Seine Musikinteressen spiegeln sich im Programm seiner Reihe quiet cue durch die Kombination von akustischer und elektronischer Musik wider. Trotz allem ›postmodernen‹47 Musikjargon betont er Kammermusik als wichtiges Element dieser Konzertreihe, die im folgenden Unterkapitel vorgestellt wird.

44 »By the influence of now somewhat routine cultural studies, promoting a music genre or subculture as political resistance and a disruption of discursive consensus entails explaining how that genre or subculture disrupts Adorno’s projected deadening conformity of the music industry.« (Krims 2007: 91) 45 »Many artists and critics have been insisting on the intrinsically political dimensions of artistic practice, celebrating its provocative, challenging dimensions and criticizing the arbitrary boundaries that an earlier high art discourse […] had established between fine arts and popular culture, between politics and art.« (Marcus/Myers 1995: 25) 46 Das nächste mal, wenn ich Jonas sehe, werde ich ihn konkret nach seinen Ansätzen fragen. Bishop erklärt Walter Benjamin zu einem Vordenker über Reflektionen des Politischen im Kunstwerk: »One of the first texts to elaborate theoretically the political status of participation dates from 1934, by the left-wing German theorist Walter Benjamin. He argues that when judging a work’s politics, we should not look at the artist’s declared sympathies, but at the position that the work occupies in the production relations of its time.« (Ebd. 2006: 11) 47 »Es kommt jedoch der Moment, da die Avantgarde (also die Moderne) nicht mehr weitergehen kann, weil sie inzwischen eine Metasprache hervorgebracht hat, die von ihren unmöglichen Texten spricht (die Concept Art). Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit […] auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld.« (Eco 1988: 76 [Herv. durch CH])

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Aktives Zuhören auf experimentellen Konzerten »[W]hen we talk about listening we have to include the performers themselves as listeners. They […] are almost certainly the most involved and intense listeners of all, since they perceive not only through their ears but also through the bodily sensations of performing. […] [T]hey are often enough the only listeners, playing for themselves.« SMALL 2001: 343

Im August 2009 treffe ich die Experimentalmusikerin Sophie in ihrer Erdgeschosswohnung unweit des Maybachufers zu einem Gespräch. Ein paar Monate später werde ich sie auf einer Improvisationsperformance bei quiet cue spielen sehen. Sophie wohnt seit Winter 2007 in Neukölln.48 Die ersten Anknüpfungspunkte zu ihrem Wohnort erklärt sie durch das Produktionsstudio dubplates49, welches im vorigen Jahr das Mastering für ihr erstes Album übernahm. Dubplates liegt auf der gegenüberliegenden Uferseite, am Paul-Lincke-Ufer, das streng geographisch betrachtet zu Kreuzberg gehört.50 Die 30-jährige schloss ihr Kompositionsstudium in Birmingham vor einem Jahr mit einem Ph.D. ab.51 Sophie begann bereits als kleines Kind Violine zu lernen und

48 Erscheint ihr Birmingham als eher langweilig, empfindet sie ihren letzten Wohnort London als »too much«. Auch interessiere man sich in der englischen Hauptstadt nicht dafür, was im Rest des Landes passiere. London sei »unbelievably expensive«, es dominierten »image cultures« und das »self-awareness« bezöge sich primär auf Mode, was sie nicht mit ihrem eigenen Lebensstil vereinbaren kann (vgl. Sophie in einem Interview am 02.08.2009). 49 Vgl. URL: www.dubplates-mastering.com (letzter Zugriff am 26.02.2013). 50 »This was my first connection, I stayed with people I’ve met through Myspace [...]. I really liked it here, and was thinking, I wish I could live here. And I came here just once for a weekend and had two gigs here at electronic church and o tannenbaum, which are both shut now. [...] I had no concept where I was. I didn’t know, that I was in Neukölln, I knew that I was in Kreuzberg; […]. We kind of wandered around the area, and I love the Kanal.« (Ebd.) 51 Sie erklärt ihre Motivation dafür so: »[...] and I wanted to be a post-doc, because I wanted to be a musician, not because I wanted to be an academic.« (Ebd.)

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zwar nach der japanischen Zoozooki-Methode, bei der man sich das Spielen nicht durch Noten, sondern allein durch das Gehör aneignet. Dieses Konzept nahm aus ihrer Sicht großen Einfluss auf ihre jetzige Kompositionsarbeit. Im Alter von 16 Jahren erhielt sie ersten Kompositionsunterricht und liebte damals vor allem die Musik des 20. Jahrhunderts. Sie sah ihre Ideale damals in Schostakowitsch, Tschaikowski, Bartók, aber auch Morton Feldman und wollte bereits zu diesem Zeitpunkt Komponistin für klassische Musik werden. Gegenwärtig bearbeitet sie in ihrem eigens in ihrer Wohnung eingerichteten Studio Aufnahmen von Musikinstrumenten, die sie für Kompositionen nutzen möchte. Sie schildert die Problematik des Komponierens: Komponiere sie für Instrumente, finde sie sich in Stille, schreibe sie stattdessen am Computer mit Sounds, sei dies mit einer ständigen Beschallung verbunden. Einen Mittelweg findet sie unter anderem in der Kooperation mit akustischen Improvisationsmusikern, mit denen sie zusammen auf Konzerten improvisiert – sie an ihrem Laptop.52 Die Kooperation der Arbeit mit anderen stellt sich für sie somit als willkommene Alternative zum einsamen Editieren im stillen oder auch zu lauten Kämmerlein heraus. Häufiger als in einer Improvisation mit anderen Musikern, wie ich sie zum Beispiel bei quiet cue spielen sehe, bestreitet sie Experimentalkonzerte alleine mit ihrem Laptop. Diese Auftritte bewegen sich innerhalb einer großen Bandbreite von Kontexten: »I am doing [gigs], where I am fitting, the gigs are always very different. […] I play in a contemporary context, before me someone [who plays] a piece of Morton Feldman. Then I think, [that] I am independent of anyone’s scene. I have said ›no‹ to five gigs in Berlin, and I keep saying ›no‹, because I have no interest to play all the time [and want to] present new material and I don’t want to repeat myself. When I’m here [Berlin/Neukölln] [because] here, my social live is tied up very much with these little independent underground gigs, but most of the gigs, like this in London, was recorded at Radio 3. It is kind of a weird mix.« (Sophie in einem Interview am 02.08.2009)

Neben kleineren Gigs spielt Sophie in öffentlicheren Kontexten, also in größeren Konzerträumen, wo ihre Performance beispielsweise der Aufführung eines Stücks von Morton Feldman folgt. Außerdem werden ihre Stücke von bekannten Radiosendern in England gespielt. Ihr soziales Leben ist eng verbunden mit den kleinen Underground-Konzerten in Neukölln. Auch teilt sie mit den Neuköllner Freunden

52 »When I was writing for instruments, I was just sitting in silence, and when I was writing with sounds you find yourself between sounds, I couldn’t handle this. Right now, I don’t play my violin [and] don’t write anything for instruments, just acoustic improvisation and play my laptop live. One day I might have some life change; I miss my violin.« (Ebd.)

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den Lebensstil, den sie im Kontrast betrachtet zu dem der Menschen in ihrer englischen Heimatstadt.53 Christopher Small schlägt in seinem Artikel »Why Doesn’t the Whole World Love Chamber Music?« (2001) das Verb »to music« vor und erläutert in diesem Sinne den Begriff »musicking«54. Musicking verweist auf die gleichberechtigte Teilnahme von Zuhörern und Zuschauern an einer Musikperformance. In diesem Sinne wird dem Zuschauer dieselbe Bedeutung eingeräumt, wie der Rolle des Performers im Allgemeinen zugeschrieben wird: Zuhören und Performance finden in einem gemeinsamen Prozess statt. In diesem Zusammenhang unterstreicht Small auch die Rolle der Performer als ihre eigenen Zuhörer, wie es auch durch das dieses Kapitel einführende Zitat hervorgeht. Auch Sophie betont den Kontakt zu ihren Zuhörern vor allem mit Bezug auf kleinere Aufführungsorte: »I did a lot of gigs here, it has a big dynamic range. [...] I liked it, [when] it was kind of a respect for the music, really kind of quiet, no one spoke to me until I was going out of the door. Probably this is kind of a cultural thing; in Germany [they] are mostly quiet […]. I like the audience being close, being more chamber music than big spaces. The small ones have been the more satisfying gigs. Sometimes when you play in a really good hall, it is great, when the sound system is amazing. But when it is not … you feel really like floating around hundreds of people sitting in rows, playing in a half empty room. Maybe this gets back to my studies, when it had been hundreds of expensive speakers in a concert hall, perfectly done, everything had to be just so polished, that really made me want to play at really small places. I played in a squat in Hamburg a couple of weeks ago, supporting a death metal band, quite scary. I really like [it] when the audience gets the opportunity to make connections, [but] I don’t like to play at party places. It is depressing: When you have spent ages preparing yourself, […] hours editing, you go up there [and] potentially make a total fool, because nobody is really listening, because people are riding go-karts along the room. I basically want people to listen, don’t want them anything more than this, which isn’t so much to ask. [...] I play in the dark, with as little emphasis on me as possible, because looking at someone with a laptop is [...] boring and [...] completely unrelated to the music, the idea that you learn something about the 53 »In Birmingham, no one had the same lifestyle as me, but here, I have met more people in ten months who have the same lifestyle, who have the same income. I can talk to them about how I live and we can share this.« (Ebd.) 54 »It ought to be a verb, the verb ›to music.‹ Not just to express the idea of performing [...] but to express the broader idea of taking part in a performance. [...] To ›music‹ is to take part, in any capacity, in a musical performance. That means not only to perform but also to listen; to provide material for a performance – what we call composing; to prepare for a performance – what we call practicing or rehearsing or woodshedding; or to take part in any activity that can affect the nature of that style of human encounter which is a musical performance.« (Small 2001: 343)

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music from watching me with my laptop is totally ridiculous. [...] I am not much of a performer.« (Sophie in einem Interview am 12.08.2009)

Performances in kleinen Räumen, die sie – wie Small – mit Kammermusik vergleicht, zieht sie Konzerten in großen Hallen vor und beschreibt ein aktiv zuhörendes Publikum, das während einer Performance mit ihr in Verbindung treten kann. Durch den aktiven Prozess des Zuhörens werde auch der langwierige Arbeitsprozess des Editierens der Sounds wertgeschätzt. Kleine Aufführungsräume, wie Sophie sie in Neukölln vorfindet, schafften somit gute Voraussetzungen für eine Konzertsituation, die sie im Kontrast betrachtet zu Performances in großen Hallen, in denen man sich schnell verloren und alleine im Raum schwebend empfindet. Große Konzertsäle benötigen in jedem Fall gute Tontechnik, damit der Sound sich nicht diffus im Raum verteilt. Eine gute Tonanlage fungiert für sie deshalb auch als Orientierungshilfe, mit welcher sie ihre Klänge und sich selbst im Raum verortet.55 Holmes zufolge gelten ein intensives Zuhören und Geduld als wichtigste Voraussetzungen für das Improvisieren mit elektronischer Musik, da dadurch die Dynamiken des Klangs wahrgenommen und gleichzeitig untersucht werden können.56 In diesem Sinne setzt auch Sophie ein aufmerksames Zuhören als Grundlage voraus und bewertet die sichtbaren Merkmale einer Performance als nebensächlich: Einem Musiker auf einem Konzert beim Bedienen des Laptops zuzuschauen sei langweilig und habe ihr zufolge nichts mit der Musik zu tun, weshalb sie auch gerne im Dunkeln spielt. Bergh/DeNora betrachten die Geschichte des aufmerksamen Hörens von Musik im Kontrast zu funktionaler Musik, zum Beispiel zur Unterhaltung oder als Begleitung zum Tanz eingesetzt wird. Ihnen zufolge kennzeichnet das aufmerksame Zuhören eine soziale Differenz, die sich bis heute in der Trennung zwischen Pop- und Hochkultur manifestiert (vgl. ebd. 2009: 103). Des Weiteren entfacht dieser Themenkreis Debatten um einen vermeintlich ästhetischen und intellektuellen Wert von Musik.57 In diesem Sinne fordert auch der elektronisch 55 Dies ist vergleichbar mit Bobs sinnlicher Raumverortung auf Dubstep Parties im Unterkapitel Dubstep in Space. 56 Holmes hält das achtsame Zuhören sowie Geduld als Voraussetzungen für die Rezeption von improvisierter Musik fest: »There were two essential talents necessary to improvise successfully in an environment where any sound was fair game: listening and patience. You listened so as to comprehend the dynamics of the sound relationships being explored by other performers, and carefully chose moment to make a contribution after having been subsumed by the experience.« (Ebd. 2008: 382 [Herv. i.O.]) 57 »[L]istening as activity illuminates key debates around the issue of music’s value, its aesthetic, emotional or intellectual impact. Value is, in other words, yet another collective achievement, produced by the ways people are able to establish links between music, other people, practices and things. This drawing together (›assemblage‹) is what ›finishes

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ausgebildete Musiker Cascone eine »aktive Rezeption« zur Würdigung von Meisterwerken und in Abgrenzung zum Mainstream der »Popkulturindustrie«.58 Auch Sophie äußert ihre simple Forderung, dass das Publikum ihren Performances zuhört und das stundenlange Editieren wertgeschätzt wird und grenzt sich damit im Sinne Cascones von der Popkultur ab. Eine Improvisationssession bei quiet cue »It is only noise which we secretly want, because the greatest truth usually lies behind the greatest resistance. […] we find that the world of music is not round, and that there exist demonic vastnesses when this world leaves off. Noise is something else. […] It bores like granite into granite. It is physical, very exciting, and when organized it can have the impact and grandeur of Beethoven.« MORTON FELDMAN 1958: 46

Seit Sommer 2008 veranstaltet Jonas die Musikreihe quiet cue59 im Hinterzimmer des Neuköllner Plattenladens Staalplaat.60 Durch das Motto »intermedia and coopeoff‹ the music. In other words, the love of music, its impact and its perceived value are all accomplished by drawing music into relation with other things, such as memories or evaluative dialogues with other listeners.« (Bergh/Denora 2009: 107) 58 »[…] die Hörer müssen zuerst ihr kulturelles System auf aktive Rezeption umprogrammieren, um ihre Fähigkeit, an der Sinnstiftung teilzuhaben, wiederzuerlangen. Nur so können sie die Meisterwerke […] besser würdigen. Elektronische Musik kann dann auch wieder ihr Wachstum als Kunstform aufnehmen, statt zum Abfall der Popkulturindustrie degradiert zu werden.« (Cascone 2003: 106) 59 »quiet cue is a working space and series of selected events, adapted to the Staalplaat […]. International artists are invited to develop, present and discuss their works, with guests and before an audience of diverse professional and cultural backgrounds. quiet cue focusses on intermedia works, collaborative works, distinctive video art, and different musical concepts between electroacoustic, contemporary composition and relational music. We strongly encourage ongoing cooperations and discourse with our guest artists.« Vgl. URL: www.quietcue.blogspot.com/about (letzter Zugriff am 09.03.2013). 60 Vor 25 Jahren, parallel zur Eröffnung des gleichnamigen Plattenladens, wurde das Label Staalplaat in Amsterdam gegründet. Neben einem eigenen Piratenradiosender wurde eine eigene »Klanggalerie« mit verschiedenen Veranstaltungen organisiert. Vor acht Jahren zog der Laden in die Torstraße im Berliner Bezirk Mitte um. 2007 eröffnete der jetzige

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ration« und den Fokus auf »international artists« weist quiet cue konzeptionelle Parallelen auf zum Musiksalon Certain Sundays. Der angemietete Hinterraum des Plattenladens ist nicht schallisoliert und man habe mit Rücksicht auf die Nachbarn »die Not zur Tugend gemacht« und sei nun ein kleiner »Kammermusiksaal« (Jonas in einem Interview im Frühjahr 2009). Die Konzerte stehen in einem klaren Zeitrahmen und sind durch eine eher moderate Lautstärke charakterisiert, was auch der Name der Reihe, quiet cue, veranschaulicht. Neben analogen, akustischen Klängen von klassischen Musikinstrumenten kommen auch deren elektronisch-verzerrte Abbilder sowie neuere Technologien zum Einsatz. Akustische Instrumente werden also mit elektroakustischer Technik oder digitalen Samples kombiniert, die wahlweise über Laptops oder Kassettenrekorder bedient werden. In einer Veranstaltung der Reihe finden sich jeweils etwa zwei bis drei Musiker zusammen, um an Instrumenten oder anderem – akustischem oder elektronischem – Equipment gemeinsam zu improvisieren. Am 26.03.2010 besuche ich quiet cue im Hinterzimmer des Ladens Staalplaat in der Neuköllner Flughafenstraße. Heute Abend spielt Sophie mit zwei anderen Musikern in einer Improvisationssession.61 Ich bezahle meine fünf Euro Eintritt bei Jonas’ Freundin, die hinter einem kleinen Tisch neben der Eingangstür sitzt und kaufe mir ein Bier bei Paul, der mit Jonas befreundet ist und heute Abend hinter der Theke in einem Zwischenraum steht. Außerdem treffe ich drei weitere Musiker, die mir aus Interviews bekannt sind. Es sind etwa 25 Zuschauer anwesend, Männer und Frauen gleichermaßen, die zumeist Englisch miteinander reden. An der vorderen Wand, vor welcher die Instrumente aufgebaut sind, prangt – über einen Beamer projiziert – das Logo der Veranstaltung sowie die Namen der heute spielenden Musiker. Pünktlich um 20:15 Uhr läutet Jonas den Beginn des Konzerts ein und stellt die drei Improvisationsmusiker des heutigen Abends vor: Einen Harfenisten, eine Innenpianistin62 sowie Sophie am Laptop. Sie arbeitet mit editierten Aufnahmen akustischer Instrumente, die durch Verfremdung unkenntlich gemacht wurden, und wird die Improvisation heute Abend mit elektronischen Klängen aus ihrem Laptop bereichern. In den klar angeordneten Stuhlreihen Betreiber Guillaume den Laden in Neukölln. Dieser begründet den Umzug primär durch die Mietkosten, die in Neukölln nur halb so hoch seien wie in der Torstraße in Mitte. Guillaume erklärt: »Du musst vorher da sein als die Leute« und beschreibt dies als einen »Zeitsprung in die Zukunft« (ebd. in einem Interview am 15.07.2009). Vgl. URL: www.staalplaat.com (letzter Zugriff am 12.03.2013). 61 Das Konzert kann gehört und gesehen werden auf URL: www.ustream.tv/recorded/ 5731065 (letzter Zugriff am 23.02.2013). 62 Das »Innenklavier« ist der innere Teil des Klaviers, also lediglich der Metallrahmen mit Saiten. Harfe und Innenklavier weisen meinem Empfinden nach somit eine vergleichbare Konstruktion auf.

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herrscht eine aufmerksame Stimmung. Das Innenklavier steht auf einem Holztisch, der an eine Handwerksbank erinnert. In diesem Sinne entpuppen sich die Musiker in der folgenden Improvisationsperformance auch als aktive »players«, wie sie Derek Bailey im Kontrast zu »artists« umschreibt.63 Seiner Sichtweise nach geht es also explizit um die »Tätigkeit« des Improvisierens und nicht um die Idee, »irgendein bemerkenswertes Kunstwerk zu enthüllen« (ebd. 1999: 111) – auch wenn sich seine Perspektive nicht unbedingt mit der Erwartungshaltung aller Anwesenden im Publikum decken mag. Der Raum wird von einem vorsichtigen drone-Sound64 erfüllt, über dem die elektronisch verstärkte Harfe zu hören ist. Darüber hört man flimmerndoszillierende, elektronische Töne, die aus dem Laptop kommen, und sachte in meinem Innenohr pochen. Diese vermischen sich mit den eher organischen und perkussiven Klängen des Innenklaviers und der Harfe, die willkürlich erscheinen, weil sie kein eindeutiges rhythmisches Muster ergeben, zu dem man mitschnipsen könnte. Der Harfenist benutzt einen batteriebetriebenen Milchschaumschläger, mit dem er sein elektroakustisch verstärktes Instrument bearbeitet. Dadurch bringt er seine Harfe zum Vibrieren und erzielt einen aparten Tremoloeffekt. Zarte Arpeggien auf der Harfe erinnern an das schnelle Spiel auf der Mbira65. Sophie hält einen wummernden drone bei, der an einen Bohrmaschinensound erinnert. Anschließend leitet sie über zu einer Soundsequenz, die ich mit dem quälenden Geräusch einer Schneidemaschine assoziiere. Diese industriell-maschinellen Geräusche, die aus den digitalen Dateien des Laptops kommen, stellen eine Verbindung her zu der rustikalen Werkbank, auf der das Innenklavier steht. Zwar können den digitalen Tönen aus dem Laptop auch organischen Eigenschaften zugeschrieben werden, doch unterscheiden sich Sophies Klänge insgesamt von denen der Harfe und des Innenklaviers, die stärker ihren analogen Charakter beibehalten. Die Sounds aus dem Laptop bilden ein Grundrauschen und erzeugen sehr zarten Noise, vor welchem Harfe und Innenklavier mit kurzen Figuren erscheinen. Wenn 63 »Um es etwas platt zu sagen, scheint mir die Kunst insgesamt ein eher kriminelles Gewerbe zu sein – unehrlich, unzuverlässig und […] auf Täuschung beruhend. Aber vielleicht sollte ich lieber davon sprechen, was es bedeutet, ein Spieler zu sein. Ich bin nicht so sehr an der Idee interessiert, irgendein bemerkenswertes Kunstwerk zu enthüllen und dann in der Ferne zu verschwinden, während sich das Publikum um meine Arbeit schart und applaudiert. In dieser Arena würde ich mich nicht wohl fühlen.« (Bailey 1999: 111) 64 Dröhnender Klang 65 Die Mbira – umgangssprachlich auch »Daumenklavier« – ist ein südostafrikanisches Lamellophon. Zwar wurde das Instrument in der Systematik als »Zupfidiom« beschrieben, doch ähnelt das Spiel auf den Eisenlamellen des Instruments eher einem »schnelle[n] ›kratzenden‹ Streichen über eine Fläche ähnlich wie beim Anzünden eines Streichholzes« (vgl. Kubik 1998: 10).

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man genauer zuhört und zuschaut, wechseln sich die einzelnen Instrumentalisten mit einer Betonung ihres Instruments ab und geraten für Mikromomente in den Vordergrund des klanglichen Geschehens. Dies erfolgt sehr achtsam, da kein Spieler dies offenbar bewusst beabsichtigen möchte. An ein paar wenigen Stellen sticht auch Sophie als Solistin an ihrem Laptop mit einer Darbietung von Klängen mit erstaunlichen Eigenschaften hervor. Doch scheint sie die beiden anderen Instrumente mit ihrem Noise nicht übertönen zu wollen. Außerdem befinden wir uns ja immer noch bei quiet cue, wo mit Rücksicht auf die Neuköllner Nachbarschaft Lautstärkeregelungen eingehalten werden müssen: Wenn überhaupt Noise, dann wird hier »Kammer-Noise«66 gespielt. Bis auf Sophie sind die Performer in Aktion, stehen an ihrem Tisch und bedienen ihre Instrumente aus diversen Positionen. So lassen die Bewegungen der Innenpianistin und des Harfenisten auch die Herstellung der Sounds erkennen. Doch in Sophies Spiel hinter dem Laptop wird nicht ersichtlich, auf welche Weise die Knack- und Flimmergeräusche entstehen. Kramers Konzept des »listening gaze« zufolge streben die Zuschauer danach, Sinngehalte zu erkennen und Verbindungen zwischen den körperlichen Gesten der Improvisationsmusiker und den gehörten Klängen herzustellen.67 Elsdon fasst die Rolle des Körpers in Improvisationen folgendermaßen zusammen: »To conclude, [...] the body acts as a powerful signifier of improvisation itself. It enacts simultaneously the struggle, tension and release which is necessarily a part of this process.« (Ebd. 2006: 204) So können die Zuschauer in den Gesten des Harfenisten und der Innenpianistin visuell wahrnehmen, was dem Gehörten entspricht. Barthelmes bezieht sich auf die Integration von computergestützten Systemen in Musikperformances: Das Verhältnis von elektronischen Medien und Körperausdruck stellt ihr zufolge die Arbeitsweise des Künstlers in den Vordergrund.68 Der Einsatz von interaktiven, computergestützten Systemen führt somit dazu, dass körperlicher Ausdruck und Musik wieder näher zusammenrücken, (vgl. Barthelmes 1997: 9ff.) was bei Sophies Laptopimprovisation jedoch nicht der Fall ist. Sophies 66 Was mich zu dieser Begriffsschöpfung bewegte, wird an einer späteren Stelle dieses Kapitels näher erläutert. 67 »In the listening gaze we […] strive to make sense of what we see and hear together. The gaze sees through these physical gestures the improviser’s imagining of the music, enacted through what sometimes seems like a physical struggle. [It] can also work to construct narratives based on viewing performance, narratives in which the very act of musical creation takes centre stage.« (Kramer 2002: oS nach Elsdon 2006: 204) 68 »Durch die Integration von computergestützten interaktiven Systemen scheint die LiveElektronik heute ihrem Ziel näher zu kommen: Musizieren als taktiles, physisches Erleben, in dem der direkte Bezug von Körperausdruck und Klangproduktion wiederhergestellt ist.« (Barthelmes 1997: 17)

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Performance spielt sich versteckt hinter dem Bildschirm ihres Laptops in den Fingerzeige ihrer Hände an der Tastatur ab. Die Laptop-Sounds werden somit generiert durch minimale Fingerbewegungen und erscheinen unabhängig von den immer gleichen Gesten der Musikerin. Trotz dieser fehlenden Verbindung zwischen dem Gehörten und seinem körperlichen Ausdruck, ermöglicht der Computer spannungsvolle und abwechslungsreiche Sounds. Diese haben eine Ausdruckskraft, die sich wiederum in den Körper bohrt vergleichbar mit ›Granit in Granit‹ – wie es Feldman in seinem Zitat zu Beginn dieses Unterkapitels für Noise versinnbildlicht. Die Performance wirkt konzentriert, aber entspannt. Die Gesten und die Mimik der Improvisierenden sind nicht angestrengt wie jene, die man insbesondere bei Solomusikern vor einem Orchester in Konzerthäusern beobachten kann. Auch sind die Körper der Musiker nicht von jener Ruhelosigkeit gezeichnet, die beispielsweise Elsdon in den ausdrucksstarken Körperbewegungen Keith Jarretts bei einer Soloimprovisation feststellt.69 Mimetische Prozesse zwischen Musikern und Zuhörerschaft beschränken sich auf eine Neutralität in Gestik und Mimik sowie gemeinsame Aufmerksamkeit auf die Performance. Der drone-Sound und die Klänge der akustischen Instrumente bieten nur mäßig rhythmische Grundlage für die Beantwortung des klanglichen Geschehens durch mimetisches Mitwippen – zum Beispiel mit den Füßen.70 Auch nickt kein Zuschauer mit dem Kopf, um der aktiven Musikwahrnehmung Ausdruck zu verleihen. Als einzige sichtbare physische Reaktion schließen einige Zuhörer die Augen, um die gehörte Musik nicht körperlich zu entäußern, sondern ohne Geste zu verinnerlichen. Die akkuraten Pausen, also die Zeiten, in denen alle drei Musiker für einen kurzen Moment das Spiel aussetzen, betonen das gemeinsame Unternehmen der Performance durch kollektive Stille. Auch das Publikum verhält sich ruhig und hält den Atem an. Das gemeinsame Einatmen der Performer beendet diese Stille für einen neuen Improvisationsteil.

69 »The fact that critical opinion draws attention to Jarrett’s body in performance tell us much about normative ideas regarding physicality and performance in the concert hall. […] the body in these performances does much more than just signify itself, making us aware of the physical and mental exertions of improvisation. [...] The fact that Jarrett’s physical gestures do not appear to fit with musical gestures leads us to see them as expressions of something unseen and unheard. […] Expression in this sense involves the creation of a new musical statement in the context of a composition, a statement which is created (improvised) by the performer, rather than the performer acting as a kind of mediator between a score and the sounding object.« (Elsdon 2006: 204, 194) 70 Arnie Cox erklärt mimetische Prozesse in Musikperformances: »Do you ever find yourself tapping your toe to music? If so, why should this be? This very common response to music, along with other subtly overt embodied responses such as head-bobbing or swaying, is not something we normally choose to do [...].« (Ebd. 2006: 46 [Herv. i.O.])

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Video-Partitur? Sound-Analyse der Improvisation bei quiet cue »Performances sind einmalige Ereignisse, die, damit sie überliefert werden, erlebt und genossen werden müssen wie ein Fest.« BARTHELMES 1997: 19

Selbst im direkten Anschluss an die Performance fällt es schwer, sich an einzelne Klangmuster zu erinnern. Vielmehr klingt die Gesamtatmosphäre diffus wie der Rauch eines erloschenen Feuers im Raum nach. Zudem existieren keine Partituren, mit denen sich die Zuhörer vorab auseinandersetzen konnten. Meiner Vorstellung nach sind sich die Improvisationsmusiker der Tatsache bewusst, dass das Publikum in der Lage ist, durch genaues Zuhören zusammenhängende Strukturen des Improvisationsspiels zu erkennen. Dies versucht der Zuhörer auch mit Hilfe genauen Zuschauens bei der sichtbaren Performance. Somit fühle ich mich aufgefordert, während der Performance spezifische Muster herauszuhören, die von den Musikern mehr oder weniger beabsichtigt, aber spontan, in Verbindung zu dem Improvisationsspiel der anderen gestellt werden. So erinnert das Publikum sich vermutlich auch an Bewegungen, welche man die Musiker während der Performance ausführen sah und die eine Beziehung zwischen performativer Ursache und klanglicher Wirkung andeuteten. Dell macht in Verbindung mit der »Lesbarmachung« von Körpern darauf aufmerksam, dass »eine Theorie des Improvisatorischen über die eingeschränkte Sicht des Körpers als Instrumentalisiertes hinaus gehen« muss (ebd. 2002: 122).71 Im Zusammenhang mit Laptop-Performances konstatiert auch Cascone, dass der Performer nie als Vermittler einer Partitur fungiere und auch nichts unternehme, um die Hörer von einer Partitur zu überzeugen (ebd. 2003: 102). Dies erklärt den Umstand, dass Sophies Performance durch ein paar Fingerbewegungen am Laptop

71 »Es geht aber nicht darum, den Körper zwecks Lesbarmachung soweit in Zeichen zu strukturieren und zu fragmentieren, dass er völlig entmaterialisiert und der Virtualität von Schrift angleicht. Der Körper soll und muss sich vom graphischen Zeichen unterscheiden. Deshalb muss das Regelwerk der Improvisation ein offenes sein; das heißt, seine Diskursordnung erschließt sich auch im Bereich der Körperhaltung, der Geste, der Performativität von Sprache. Das Spiel mit dieser Darstellung […] lässt Möglichkeiten der Verwandlung […] des Täuschens, der Ironie entstehen.« (Dell 2002: 122 [Herv. i.O.])

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kaum sichtbar wird und die körperlichen Gesten dadurch in keiner Verbindung mit ihrem auditiven Ausdruck zu stehen scheinen.72 Dennoch verfestigt sich die Vorstellung von einer Partitur zu der Improvisation in der Tatsache, dass die Performances von quiet cue anderweitig reproduziert sowie rezipiert oder gelesen werden können: Über einen Live-Stream werden die experimentellen Konzerte von quiet cue in Echtzeit ins Internet übertragen. Des Weiteren werden diese Videos in einem Online-Filmportal sorgfältig archiviert,73 so dass jedes einzelne Improvisationskonzert der Reihe auch Jahre später via Internet gehört und gesehen werden kann. Die einzelnen Sessions werden somit für einen globalen Hörer- und Zuschauerkreis öffentlich gemacht, der das Konzert zu Hause im Wohnzimmer vor dem Bildschirm rezipieren kann – wenn auch nicht mehr live in ›Echtzeit‹. Die visuelle Reproduktion der Musiksession durch das Internetvideo veranschaulicht einerseits eine Fokussierung auf die sichtbare Performance der Musiker, auch wenn diese – wie Sophie – keinen Wert auf eine Performance legen und deshalb lieber im Dunkeln spielen. Die nachträgliche Rezeption und Analyse der Improvisation bei quiet cue wird auch für mich durch das wiederholte Anschauen des während der Performance aufgezeichneten Films über die Website möglich. So ist das improvisierte Musikstück reproduzier- und transkribierbar geworden und könnte nach mehrmaligem Hören sogar als Partitur notiert werden. Neben den sichtbaren Gesten der Musiker können auch die klanglichen Eigenschaften der Performance wie ein Text analysiert werden. Daher entsteht die Idee der improvisierten Musik als »Textpartitur«, welche der Improvisation vormals abgesprochen wurde. Die Einmaligkeit von experimentellen Performances, wie sie Barthelmes im oben angeführten Zitat betont, bleibt dabei zu hinterfragen. Film- und Internettechnologien ermöglichen somit eine veränderte Wahrnehmung von improvisierter Musik, die nun beliebig oft wieder rezipiert werden kann. Dies wirft ein neues Licht auf elektronisch improvisierte Musik, die sich im Grunde aller notierten Partituren verwehrte. »Kammer-Noise« in Neukölln Im Kontext von Kammermusikkonzerten beschreibt Small – vor allem im wechselseitigen Bekunden von Respekt – komplexe Beziehungen zwischen Publikum und

72 Eine Perspektive auf den Bildschirm, auf welchem die durch Sophies Hand kontrollierten Aktivitäten – das Transformieren von Soundfiles – sichtbar werden, würde zu Erkenntnissen der Zusammenhänge zwischen ›Desktop-Performance‹ und Sounds führen. 73 Siehe URL: www.ustream.tv/channel/absinthtelevision (letzter Zugriff am 19.02.2013).

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Performern, die für »ideal relationships« stehen.74 In diesem Sinne ließ auch der durch gespannte Aufmerksamkeit und perfekte Sitzordnung gekennzeichnete Modus des Zuhörens auf der Improvisationsperformance bei quiet cue Assoziationen mit dem Ritual eines Kammermusikkonzerts zu,75 die mich zu der ironischen Bezeichnung des dazugehörigen Genres als »Kammer-Noise« verleiteten. Der als moderat beschriebene Charakter der Veranstaltungsreihe quiet cue steht im Kontrast zur allgemeinen Musikästhetik des zum Laden gehörigen Label Staalplaat, das sich seit 25 Jahren primär auf lauten Industrial und Noise konzentriert.76 Doch selbst bei den Performances im vorderen Verkaufsraum des Plattenladens Staalplaat dominiert nicht mehr lauter Noise: Mit Rücksicht auf die Nachbarschaft finden hier gegenwärtig an sonntäglichen Nachmittagen gepflegte Soundevents in sehr kleinem Rahmen mit anschließender Konversation mit dem Künstler statt.77 Noise-Künstler präsentieren ihre Soundperformances hier bei geringer Lautstärke. Noise zeigt sich dadurch als angepasst an seine nachbarschaftliche Umgebung. Die Verantwortung für den als rituell beschriebenen Charakter des Kammerimprovisationskonzerts bei quiet cue trägt neben einem aktiven, aufmerksamen 74 »At the center of the web are the sounds that the performers are bringing into existence and the relationships that they create between them. Radiating out from these, and feeding back to them, are the relationships among the performers, between the performers and the listeners, among the listeners and anyone who may be present, and even between those who are present and those who are not. It is in those relationships, so rich and complex that they cannot be articulated in words, that the meaning of a musical performance lies. […] Those relationships within the space stand for [...] ideal relationships as they are imagined to be by those taking part: between person and person, between individual and society, between humanity and the natural and even the supernatural world. These are among the most important concerns in human life, and whenever we engage in the act of musicking, even the most seemingly trivial and frivolous, we incur a responsibility toward them.« (Small 2001: 345ff.) 75 »For centuries, European art music prescribed a particular mode of listening exemplified by ritual of the concert hall: In a closed space, separated from the outside world and the sonic domain of everyday life, a silent audience, seated some distance from a stage, listened to performers on that stage produce a narrow range of timbres on a limited array of musical instruments.« (Cox/Warner 2004: 65) 76 Guillaume Siffert, der Betreiber des Neuköllner Staalplaat in einem Interview am 15.07.2009. 77 So zum Beispiel die Soundperformance von Cheapmachines am 21.08.2009, die von dem Experimentalmusiker Jaap (siehe auch Kapitel II) moderiert, aufgenommen und anschließend im Internet veröffentlicht wurde. Höre unter URL: www.archive.org/ details/CheapmachinesLiveAtStaalplaatBerlin (letzter Zugriff am 20.03.2013).

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Publikum vor allem auch der Veranstalter Jonas, der strukturiert durch den Abend führt. Zu der sehr gelungenen Organisation und Bewerbung der Veranstaltungsreihe trägt auch die Ortswahl bei, da der Plattenladen und das Label Staalplaat in Kreisen experimenteller Musiker einen guten Ruf genießt: Der Laden steht mit seinem angesagten Image für eine »design intensity«78, das den Kiez neuerdings umgibt und Zuziehenden eine hohe Lebensqualität versprechen soll. Dieses Renommee verschafft der Veranstaltungsreihe quiet cue im Hinterzimmer des Ladens eine größere Werbewirksamkeit. So wird deutlich, wie äußere Umstände im Kiez den Ablauf und die Ästhetik der Musikveranstaltung mit prägen. Auf Ebene der gesellschaftlichen Abgrenzung stellt sich musikalisierter Noise immer noch als Gegengeste zu einem populären Mainstream heraus, was sich Reynolds zufolge jedoch als Täuschung entpuppt (vgl. ebd. 2004: 57). Attali zufolge gilt Noise in allen Kulturen schon immer als zerstörerisch, wird als Schmutz und Aggression empfunden und wird mit einer exaltierten Freiheit in Zusammenhang gebracht.79 Die Schaffung von »musical noise« steht Russolo zufolge in Verbindung mit der Einführung von Maschinen im 19. Jahrhundert (vgl. ebd, 1986: 23ff.). »[D]as Geräusch an sich, zur Grundlage zu machen« stellt sich in diesem Zusammenhang als stereotype Rezeption Russolos futuristischen Manifest heraus (vgl. Ullmaier 2000: 87-88). Fraglos stellt Noise auch die Grundlage der Performance bei quiet cue dar. In einem klaren zeitlichen Rahmen und dadurch angepasst an die Einschränkungen durch die Nachbarschaft entspricht der improvisierte »Kammer-Noise« nicht den Vorstellungen von der Klangsphäre einer symbolischen Industrialisierung. Dem schicken Image des Plattenladens gemäß entwirft Jonas für quiet cue umfangreiches Werbematerial in Form von Flyern auf Hochglanzfotopapier und verteilt es vor jeder Reihe. Des Weiteren stellt er die Künstler vor jeder Improvisationssession gebührend vor. Die Besucher haben für ihre Plätze 78 »Design intensity may be, in many cases, difficult to separate from other aspects of the post-Fordist city […]. Similarly, attracting artists and related workers for cultural regeneration may well designing residences, retail stores, restaurants, streets, and so on, that will prove attractive and promise a high quality of life for them. Music then acquires a significance in such places and for those socialized in the, insofar as it, too, can come to characterize space.« (Krims 2007: xxxi) 79 »[…] noise had always been experienced as destruction, disorder, dirt, pollution, and aggression against the code-structuring messages. In all cultures, it is associated with the idea of the weapon, blasphemy, plague. In its biological reality, noise is a source of pain [...]. Diminished intellectual capacity, accelerated respiration and heartbeat, hypertension, sound in the environment. A weapon of death. It became that with the advent of industrial Technology. But just as death is nothing more than an excess of life, noise has always been perceived as a source of exaltation, a kind of therapeutic drug capable of curing tarantula bites [...].« (Attali 1985: 26ff.)

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in sauber angeordneten Stuhlreihen, die gute Organisation, die hochwertige Technik, die Performer und deren Musik zuvor bezahlt.80 Jonas ersetzt den vermeintlichen DIY-Charakter, der im Zusammenhang mit vielen anderen Veranstaltungsorten in Aussagen von Musikern in Neukölln durchschien (siehe Kapitel II), durch eine Professionalisierung von Techniken und Materialien. Der subversiv anmutende Begriff »autodidaktisch« als von Jonas benanntes Charakteristikum für seine Veranstaltungsreihe quiet cue erscheint somit vielmehr dekorativ, auch weil hier offensichtlich vor allem studierte Musiker in Aktion treten. Improvisation und Komposition als Aspekte der Kunstmusik Die Analyse des Candle Piece in Neukölln verdeutlichte, dass die Inhalte der Fluxus-Performance nur unter der Voraussetzung ähnlicher Habitus zwischen Performern und Zuschauern vom Publikum verstanden werden können. Auch im Sinne Ecos ästhetischer Theorien zeigt sich das Stück auf einer »offenen« Interpretationsebene, weil die Wahrnehmung in Abhängigkeit steht zu den Kapazitäten, Vorerfahrungen und der Interpretation des Adressaten. Eco macht außerdem deutlich, dass sich dieser Vorgang der Wahrnehmung von einem »finished product«, also von einem Kunstwerk, nicht maßgeblich unterscheidet: Das Verständnis für ein Kunstwerk wird immer modifiziert durch die spezifische und individuelle Perspektive des Zuhörers. Dies unterscheidet ein Kunstwerk zum Beispiel von einem Straßenschild. Die Rezeption eines Kunstwerks ist nach Eco demnach sowohl Interpretation als auch eine Performance desselben, weil das Kunstwerk in jeder Rezeption auch eine frische, neue Perspektive für sich selbst einnimmt (vgl. ebd. 2006: 22). In Ecos Sinn stellt sich nicht mehr das Problem der Rezeption, weil jeder demnach in der Lage ist zu rezipieren. Doch im Kontrast dazu betonen Johnny und Sophie die spezifische soziale Zusammensetzung ihrer Zuhörer. Ihr Publikum besteht demnach oft aus Personen des eigenen Kreises von Komponisten und Experimentalmusikern, so dass sie also Musik für ihre eigene Gruppe machen. Die Experimentalmusikerin Monica (siehe Kapitel II) vertieft diese Tendenz: »In a sense it is very insular to making art for other artists. Maybe this kind of music [...] in any other situation in public the people hate it. They don’t like this kind of [experimental] music. [In other situations] [...] you have still people coming up to you and say: ›I really like playing this frequency, it reminds me of …‹ [T]he stuff that is written around it [...] gets so isolated from the thing itself, putting it up. [...] You need to contextualize, because otherwise you don’t survive in the gallery system. But that’s not really why people make the things that they do.« (Monica in einem Interview am 23.06.2009)

80 Dies unterscheidet die Veranstaltungsreihe von Leanders open stage.

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Monica erkennt, dass es engstirnig sein kann, Musik zu machen, die nur von Gleichgesinnten gehört wird. Die von Monica angerissene Problematik des »making art for other artists« spiegelt sich auch in Cascones Aussagen zu LaptopPerformances wider: Die Beziehung zwischen Musikern und Publikum betreffend konstatiert er, elektronische Laptop-Musik schwöre – in traditionellen Kontexten wie Konzerthallen und Galerien gespielt – die »übliche Polarität zwischen Performer und Publikum« herauf, die ersterem eine autoritäre Stellung zuweise (Cascone 2003: 102). Entgegen einer Gleichberechtigung von Zuhörern und Performern argumentiert er also für die Trennung von Musikern eines Konzerts und deren Adressaten. Monica sucht nach Wegen der Vermittlung ihrer experimentellen Musik: Textbroschüren sollen die Zusammenhänge der experimentellen Performances erklären, um eine gewisse Lesbarkeit von Musik zu schaffen. Doch stellt sich die Frage, ob die experimentellen Stücke durch diese Musikanalysen in Textform verständlicher und leichter zugänglich werden für Zuhörer, die ansonsten keine experimentelle Musik hören. In seinem Artikel »Eine Musik ohne Noten: Einführung in das Hören und Analysieren elektronischer Musik« erklärt Delalande, Musikanalysen machten keinen Sinn, da man unendlich viele Konfigurationen in einem Werk entdecken könne und sich aber immer auf einen oder mehrere Gesichtspunkte beschränken müsse (ebd. 2002: 231). Auch Monica erläutert, dass diese in Kurztexten formulierten Musikanalysen nicht viel mit dem konkreten, hörbaren Stück zu tun hätten. Andererseits seien erklärende Broschüren notwendig für die Verankerung der experimentellen Musik in den Kunstbetrieb (»gallery system«). Selbst experimentelle, subkulturelle Musik steht aus ihrer Sicht also in Abhängigkeit zu einer ›künstlerischen Hochkultur‹ und diese betreffenden Diskursen. Auch die Musikhistorikerin Barthelmes versteht elektronische Musikimprovisationen als »Musikalisierung der bildenden Kunst«.81 Westliche Kunstmusikdiskurse verwehrten sich der Verschränkung künstlerischer Ideen mit gesellschaftspolitischen Wirklichkeiten: Der Klang solle im

81 »Gleichzeitig stellt sie denjenigen, der sie als bildende Kunst begreift, vor ein Dilemma. […] In dieser Eigenschaft scheint der Ursprung der Performance-Kunst in der futuristischen und dadaistischen Aktion […] dem Action painting, durch. Beginnt nicht aber gleichzeitig mit dieser Verlebendigung der bildenden Kunst eine sehr spezifische Metamorphose ihrer räumlichen Bestimmtheit, nämlich ihre Verzeitlichung? Damit wäre ein genuines Merkmal der Performance benannt: der Ablauf in der Zeit und die Strukturierung dieses Prozesses – kurz: die Musikalisierung der bildenden Kunst.« (Barthelmes 1997: 10)

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Sinne seiner »Autonomie«82 ohne jegliche Inhaltsebene existieren.83 Strukturiert durch Klänge, Rhythmen und Kadenzen wurde Musik immer mit Mathematik in Verbindung gebracht (vgl. Ostrow 1998: x). Im Kontext improvisierter oder experimenteller Musik erreichen diese Erkenntnisse eine spannende Wendung, da diese Genres – jedenfalls vordergründig – von keiner »mathematischen« Partitur ausgehen und sich dadurch allgemeinen Zwängen entziehen, die unter dem Einfluss westlicher Kunstmusikdiskurse existieren. Nettl zufolge wird improvisierte Musik im Bereich der westlichen Kunstmusik oft als minderwertig eingeschätzt (vgl. ebd. 1998: 1), während sie sich – insbesondere auf globaler Ebene – als beliebtes Genre herausstellt.84 Musikwissenschaftler, Musiker und Komponisten diskutieren deshalb ausgiebig und nie ohne Widersprüche Zusammenhänge zwischen Komposition und Improvisation. Grundlegend für die Unterscheidung dieser beiden Felder ist die Vorstellung, dass Komposition im Gegensatz zur Improvisation durch eine logisch formale Partitur »theoretisch« sowie a priori besteht (vgl. Rabinow 2004: 89). Deshalb wird improvisierter Musik auch das Klischee einer »Zweitklassigkeit« zugeschrieben.85 Boulez kritisiert hingegen »die Vorstellung, dass Theorie und Krea82 »The sense of music’s ›autonomy‹ intensified in the late eighteenth century, setting off a development in Western music which resulted in the growth of that monstrous superstructure of meaning surrounding musical processes today. An increasingly powerful awareness of music’s specifity […] had the effect of reformulating music’s position in the cultural field as [...] an object of interpretation and discursive elaboration. […] But at the same time, this fulness produced a lack. In a complementary movement, there is located ›below‹ the sphere of meaning and reflexivity and image, or a kind of memory, of musical immediacy – of prediscursive musical practices, or musics of nature, often identified with a range of others (archaic, folk, popular, foreign, exotic), whose musics are taken to really, authentically, belong to them.« (Middleton 2000: 59ff.) 83 »But for a sound to be ›musicalized‹ [...], it had to conform materially to ideas of sonicity, that is, ideas of a sound stripped off its associative attributes, a minimally coded sound existing in close proximity to ›pure‹ perception and distant from the contaminating effects of the world. This discursive block, bountiful in writings on Western art music, has inhibited the fusion of artistic ideas and activities with sociopolitical realities [...] all that might be encountered beyond musical materiality.« (Kahn 1992: 4) 84 »In Iran [...] the most desirable and acceptable music is improvised, and within the improvised genres, those lacking metric structure and thus rhythmic predictability are the most prestigious. By contrast, precomposed pieces which have the highest degree of rhythmic predictability – those for example with a rhythmic ostinato – are most to be avoided.« (Nettl 1998: 7) 85 »Improvisation […] wird mit Beliebigkeit, Zweitklassigkeit assoziiert: Improvisation als ›ewiger Verlierer‹ neben der noblen Schwester Komposition. ›Instant Composition‹ […] nimmt sich grandioser aus als ›Improvisation‹, verheißt intellektuelle Gleichstellung –

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tivität einen unüberwindbaren Gegensatz und eine inhärente Gefahr für das jeweils andere bilden, als unbegründetes Klischee« (vgl. ebd. 1990: 122 nach Rabinow 2004: 89).86 Stattdessen konstatiert er, »dass das Komponieren und das Experimentieren unauflöslich miteinander verflochten, wenngleich nicht identisch sind« (ebd.). So veranschaulicht Smalls musicking, dass auch improvisierte Musik trotz nicht vorhandener Partituren strukturiert wird (vgl. ebd. 2001: 345). Der Mensch analysiert Krims zufolge fast immer, ohne dies explizit wahrzunehmen.87 Die vermeintliche Reinheit und Abstraktion jener mathematisierten, komponierten Musik, die immer mit ästhetischer Erfahrung sowie mit dem Ziel moderner Kunst in Verbindung gebracht wurde, konstituieren nach Ostrow einen ideologischen Themenkreis,88 dem auch die Dichotomie »autodidaktisch/studiert« und der Diskurs um Partituren unterzuordnen ist. Dennoch dominieren nicht nur in den Aussagen der interviewten Musiker in Neukölln jene Vorstellungen, welche komponierte Musik mit Partituren stark abgrenzen von Improvisation ohne Partituren. Delalande verweist auf die Tatsache, dass die Technik des Notenschreibens zwar die Partitur in das Zentrum der musikalischen Aktivitäten rücke (ebd. 2002: 240). Allerdings bediene sich »die moderne musikalische Forschung und Erfindung in allen Genres, von den elektroakustischen bis zu den populären Musiken und bis und hoffentlich auch materielle durch die Urhebergesellschaften: möge die SpontanKomposition ebenso honoriert werden wie die mit Bleistift und Papier (und Radiergummi!).« (Wilson 1999: 12) »Es gibt Autoren, die freundliche Artikel zum Thema schreiben, denen es aber nach dem zweiten Glas Wein herausrutscht: ›Komponiertes ist doch irgendwie besser!‹, ein Erkenntnisseufzer, nach dem man das Glas wieder erleichtert auf dem Stamm-Tisch absetzen kann.« (Behne 1992: 42) 86 »Kategorisch hält er [Boulez] fest: Es gibt keine Erfindung ohne Logik, ohne einen formalen und wohl überlegten Grad aufgenötigter Kohärenz.« (Boulez 1990: 127 nach Rabinow 2004: 89) 87 »Even if, as one expect, Adorno’s discussion betrays a Eurocentric (and class exclusive) bent in his focus on notated music, his point about the ubiquitousness of analysis may serve to remind us that, in fact, we analyze music all the time, often without explicitly acknowledging it.« (Krims 1998: 3) 88 Demgegenüber argumentiert Ostrow, dass Musik gesellschaftlich geordnet und auch sogenannte ästhetische Wahrnehmung durch kulturelle Voreingenommenheiten beeinflusst ist: »We now find within such forms of cultural production that the long-proposed purity of the aesthetic experience, which had been the heralded goal and triumph of modernist art, constituted a philosophical and ideological trope. There lurked within the aspiration to attain direct experience beyond language and mediation not only a metaphysical but also a symbolic act of denial, for this nonreflective privileging of the sensuous as just a thing in itself conceals the nature of the construction, conditions, and order of perception that is affected by the social order.« (ebd. 1998: x)

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zur Interpretation alter Musik, […] zum großen Teil des Klanglichen« (ebd. [Herv. durch CH]). Somit kann argumentiert werden, dass sich die gehörten Klangergebnisse der vermeintlich gegensätzlichen Praktiken (»Improvisation« vs. »Komposition«) als vergleichbar herausstellen – wie es Leander auch durch die Beschreibung seiner Wahrnehmung von Stockhausens Kontakte veranschaulicht.

4. K ÜNSTLERIDENTITÄTEN IN N EUKÖLLN Die Frage nach dem Wert experimenteller Musik in Neukölln »Values, whether or not they have been organized into more or less coherent ›systems‹, crumble and clash. Sooner or later, the cultivated elites find themselves in the same situation as peoples dispossessed (alienated) through conquest and colonization. [...] It is in space, on a worldwide scale, that each idea of ›value‹ acquires or loses its distinctiveness through confrontations with the other values and ideas that it encounters there.« LEFÈBVRE 1991: 416F.

Als Voraussetzung für ihre Klangevents oder Improvisationssessions betonen die interviewten Musiker in Neukölln vielfach ein funktionierendes Equipment, welche manche im Kiez jedoch letztendlich nicht erklären vorzufinden. So auch der französische Experimentalmusiker Stéphane: »For music the worst aspect is the equipment thing, or the money thing. You need conditions to do art, or if you want to do, if you really want to make a show that works and you want to consider it as that, it is hard to find good conditions. Even in Neukölln, I couldn’t think of good places. You totally depend on the space.« (Stéphane in einem Interview am 24.02.2009)

Entgegen den Aussagen vieler anderer fallen Stéphane keine Auftrittsorte in Neukölln ein, die seinen Ansprüchen entsprechen. Auch der Tokyoter Laptopkomponist Akira empfindet bei der Frage nach Aufführungsorten in Neukölln beinahe Scham und bittet, das Aufnahmegerät zu Ende des Gesprächs auszu-

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schalten. Erst dann erzählt er, dass er nicht erwarte einen passenden Raum für seine Musik im Kiez zu finden, da es in Berlin keine qualitativen Standards gebe.89 Stéphane erkennt jedoch die starke Abhängigkeit der Experimentalkünstler von ihrem Auftrittsort, der weiterhin verantwortlich sei für jenes »money thing«, also den Aspekt der Bezahlung der Künstler. Leander veranstaltete seine open stage ohne Eintrittsgelder. Dies begünstigte vordergründig die Zusammenarbeit mit den Betreibern des Veranstaltungsortes, weil sich niemand um eine Kasse kümmern musste. Des Weiteren war mit jenem unkommerziellen Konzept auch die Idee verbunden, niemanden von der Performance auszuschließen, da er nicht der scheinbar elitären Organisation seiner Wiener Vorbilder folgen wollte. Johnny beschreibt seine Erfahrungen auf kleinen Konzerten im Kiez so: »There are two sides in Berlin, there is the house concert scene, [for which] you invite friends and it was never an issue how many people there are. I am used to eight [or] fourteen people: It is not necessary a bad thing. But the negative side is: Sometimes the economic is nonexistent, so I mean […], people, doing experimental music here, you have to either doing something else, or a Philharmonie job.« (Johnny in einem Interview am 20.09.2009)

Er schildert die andere Seite der Medaille der gemütlich anmutenden, kleinen Konzerte: Zwar schätzt er wie Sophie und Leander den kleinen Zuhörerkreis, der ›wirklich‹ zuhören möchte, doch seien jene unabhängigen Räume nie mit ökonomischen Absichten verbunden, so dass experimentelle Musiker angewiesen seien auf andere Jobs. Etwas konkreter äußert sich Andrew zu der finanziellen Situation auf Konzerten in Neukölln: »I have to say it is great to play in the neighbourhood [Neukölln], [but] I don’t only want to play in the neighbourhood. But I am trying to do a lot of stuff in my Neukölln, because people seem interested in having me. I like Sowieso [Neuköllner Veranstaltungsort], but [der Betreiber des Sowieso] hasn’t charged for the door, only passes the hat and says: ›I don’t want to have it all about money‹. [...] You may gather quality, super-great musicians playing once, but will they then play ten times, if it is [...] [by] passing the hat?! [...] No one’s trying to make any money, no one is trying to get rich, but there is a difference between fifteen and fifty Euros [for a musical performance]. [...] Yes, symbolic – that’s what it is. It is also 90

putting a value on the music, when people pay for [it]. [T]hese Radialsystem

kind of gigs

89 »Berlin has no standard, so anything can happen, from high-level, lo-level, everything, because it is really easy to get a chance, not like Tokyo […].« (Akira in einem Interview am 08.04.2009) 90 Andrew würde gerne an einem renommierteren Ort spielen, worunter er das Radialsystem zählt. Es wurde als »new space for the arts« 2006 in Berlin gegründet und »genießt als

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[...] – I am not getting those gigs. If I get a bigger gig, it is out of town.« (Andrew in einem Interview am 30.07.2009)

Andrew empfindet seinem Wohnviertel gegenüber beinahe eine Verpflichtung. Er vermutet, dass er den Kiez mit seiner Musik bereichert. Andererseits seien die Konditionen der Neuköllner Veranstaltungsorte nicht wirklich haltbar, da Eintrittsgelder oft nur in Form von Spenden fließen. Andrew befürchtet, dass diese Methode auch »super-great musicians« abschrecke, da diese für diesen unsicheren und geringen Verdienst nicht in Neukölln spielen würden. Dabei werde der gespielten Musik nach Andrew ein gewisser Wert beigemessen, wenn die Zuhörer dafür zahlten. Größere und besser bezahlte Konzerte, die er in mit Konzerten in Neukölln in Kontrast setzt, bekam er zum Zeitpunkt des Interviews bislang nur außerhalb der Stadt angeboten. Ähnliche Erfahrung machte Jeffrey: »The other thing I would like to change about the scene, is that people feel bad about being honest, about saying that what they do is worth money. So it is just a matter of creating an environment that cares about its artist enough to actually take the money for the artist. [...] It is a courtesy for the artist that when you go there, the venue will say, you can worry about making your music and we will worry about collecting the money for you. [...] Once you have paid something to see an event, you are more likely to be invited in frame of experience […]. You are not making the thing, [but] consuming the thing. [...] [There] is a complex within the experimental music scene: […] A lot of the people, who play free improvisations are coming from an utopian tradition of the late 1960ies which is kind of mixed up socialist or communist ideal, where there is no evaluation of quality [and] where everything should just exist in this harmonious state. […] To me it seems, that it is kind of Übergangszeit [...]. There is still a gap. In about six months, this will be clearer. Maybe this depends on the owners. [T]hey sell drinks, they get all the drink money, they don’t give any of the drink money to the artist. I mean, maybe it’s a cliché. Maybe the audience […] expects everything to be cheap. And all the nice little cute, Turkish grocery stores and the entry free gig. If that was in Charlottenburg … I mean in Neukölln, the owner would have any problem to say ›we want five Euro‹. I mean, we totally depend on the place. That is the discrepancy of the scene, which comes here.« (Jeffrey in einem Interview am 26.08.2009)

neue Spielstätte am Spreeufer nahe dem Ostbahnhof mittlerweile den Status eines kulturellen Treffpunkts. Hier kauft man sich offenbar Eintrittskarten ohne zu wissen was läuft. Dass der Ort den Vertrauensvorschuss verdient, beweisen die künstlerischen Betreiber des Hauses mit ambitionierten Projekten…« Frankfurter Allgemeine Zeitung am 19.01.2010 zitiert auf der Website des Radialsystem URL: www.radialsystem.de /rebrush/rs-presse-pressestimmen.php (letzter Zugriff am 22.03.2013).

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Jeffrey zufolge wird den Künstlern bei Auftritten in Neukölln das Gefühl vermittelt, dass sie für das wenige, auf Spenden basierende Entgelt dankbar sein sollen. Auch führten Unstimmigkeiten bezüglich einer geregelten Entlohnung gegenwärtig zu Konflikten zwischen den Betreibern der Veranstaltungsorte und den Musikern. Wird kein fester Eintrittspreis für ein Konzert festgelegt, werde der Eindruck vermittelt, Musik sei nichts wert. Für ihn steht die Rezeption von Musik also in einem engen Verhältnis zu dem ihr beigemessenen finanziellen Wert. Auch aus Sicht Cascones werden durch das Entrichten eines finanziellen Beitrags die Zuhörer erst dazu gebracht, das handwerkliche Können der Musiker wahrzunehmen, wertzuschätzen und dessen Autorität anzuerkennen.91 Jeffrey argumentiert in diesem Sinne gegen eine Entwertung von Musik und würde die Situation in Neukölln gerne verändern. Durch die Gleichsetzung des ästhetischen Werts von Musik mit einem entsprechenden finanziellen Wert wird die Kunst wirtschaftlichen Maßstäben unterworfen,92 wodurch sich das Dilemma der Neuköllner Experimentalmusiker abbildet: Einerseits wollen sie möglichst frei sein in ihrer musikalischen Entfaltung und sich Normen – zum Beispiel ›akademischen‹ – entziehen. Andererseits sind sie, wenn sie sich ganz der Musik widmen und ihr Geld nicht anderswo verdienen wollen, gezwungen ›kapitalistische‹ Forderungen zu stellen. Jeffrey bringt die veranschaulichten Missstände in Verbindung mit spezifischen Ideologien über freie Improvisationsmusik, die ihm zufolge utopischen, sozialistischen Traditionen der späten 1960er Jahre entspringen und die er auch in Neukölln beobachtet: Jene Utopien seien weniger an der Qualität der musikalischen Ergebnisse orientiert als am harmonischen und gemeinsamen Zusammenspiel, was der Forderung von Eintrittsgeldern entgegensteht. Jene überidealisierte Improvisationssituation, die den gemeinschaftlichen Charakter der Musiker in Vordergrund stellt und anhand Andrews »blind meetings« thematisiert wurde, ist laut Jeffrey veraltet. Doch sei dieser Kontext auf annähernd allen Veranstaltungsreihen experimenteller Musik in Neukölln wiederzufinden und stellt für Jeffrey einen der Gründe dar für die ungünstige finanzielle Situation der Musiker. Bei den Events, die weniger auf Geldeinnahmen ausgerichtet seien, konstatiert er auch den Wunsch nach einem spezifischen Beziehungsgefüge zwischen Zuschauern und Musikern, das auf der Partizipation der Zuschauer beruht. Doch auch dieses Anliegen ist für ihn Teil der Utopie. 91 »Hörer, die Geld für die Performance elektronischer Musik auf einem Laptop bezahlen, erwarten die Vorführung musikalischer Fertigkeiten, die sie selbst nicht besitzen. Je mehr Fertigkeiten (und damit Autorität) der Performer vorführen kann, desto größer ist der Wert, den die Hörer rezipieren.« (Cascone 2003: 104f.) 92 »Judging from recent issues of art journals, it has become impossible to talk about art without talking of money.« (Marcus/Myers 1995: 23) Beziehen sich die beiden Anthropologen primär auf Praktiken bildender Kunst, können diese Aspekte auch auf experimentelle Musik übertragen werden.

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Im Gegensatz dazu beschreibt er folgenden Zusammenhang: Durch das Bezahlen eines Eintrittsgeldes zeigt das Publikum, dass es die Musikperformance nicht aktiv bestreitet. Zuvor wurde anhand des Candle Piece die aktive Rolle des Publikums herausgestellt, das konfrontiert wird mit einer eigenständigen Interpretation von Brechts »event cards«. Im Gegensatz dazu verdeutlicht Jeffrey nun die passive Rolle der Zuhörer: Das Bezahlen des Eintrittsgeld markiert also eine deutliche Trennung zwischen den Musikern und deren Publikum. Auch der Kunstwissenschaftler Groys betont eine durch die Bezahlung hervorgehobene Passivität der Zuschauer93: Das Publikum ist zwar in das Event eingebunden, in die Regeln des Geschehens jedoch nicht auf dieselbe Weise eingeweiht wie der Künstler. Weiterhin konstatiert er, dass der Künstler in diesem Gefüge seinen Namen publik macht, während die Zuschauer unbekannt bleiben (vgl. ebd. 2008: 21). Mit seiner Kritik an der Unkommerzialität der Musikveranstaltungen in Neukölln konstatiert Jeffrey also die Existenz von Utopien, die über vermeintlich partizipative Praktiken des gemeinschaftlichen Musizierens bestehen. Jeffrey und Stéphane erklären, dass die Musiker trotz schlechter Bezahlung völlig abhängig seien von den Neuköllner Veranstaltungsorten, wo sie die nötigen Freiheiten und ein passendes Publikum für ihre Performances finden. Dadurch betonen die beiden den Zwiespalt der Musiker angesichts der als dürftig wahrgenommen Bezahlung auf der einen Seite und der Vorstellung vom Kiez als idealem Rahmen für ihre musikalischen Aktivitäten auf der anderen. Neukölln repräsentiert somit dieses ständige Dilemma der Experimentalmusiker. So kann die Kritik am akademischen Umfeld, dem sie selbst entspringen, und das damit verbundene Beschwören der künstlerischen Freiheiten in Neukölln unter anderem auch verstanden werden als Rechtfertigung für die eigene prekäre Situation und die finanziellen Unzulänglichkeiten, denen die Musiker im Kiez ausgesetzt sind.

93 Zwar bezieht er sich in seinen Ausführungen auf »participatory art«, also nicht explizit auf musikalische Situationen der Teilnahme, sondern auf Kunstwerke, die eine Teilnahme durch Zuschauer bedingen, zum Beispiel in Museen. Doch übertrage ich seine Ausführungen auf intermediale Events, also zum Beispiel auf das Neuköllner Candle Piece: »[…] the artist produces and exhibits art, and the public views and evaluates what is exhibited. This arrangement would seem primarily to benefit the artist, who shows himself to be an active individual in opposition to a passive, anonymous mass audience. The artist has the power to popularize his name, whereas the identities of the viewers remain unknown despite the fact that their validation has facilitated the artist’s success.« (Groys 2008: 21)

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Tendenzen zur Selbstentfremdung »Die Entfremdung der Bourgeoisie – der herrschenden Klasse […] unterscheidet sich von der des Proletariats durch seine Privationen und Frustrationen. […] Die Entfremdung resultiert aus einem Verhältnis zum ›Anderen‹, aus einer Beziehung, die eine sich ihrer selbst bewußte Tätigkeit ›anders‹ macht, d.h. verändert […] oder einfach in eine Sache verwandelt.« LEFÈBVRE 1975: 464, 470

Der amerikanische Experimentalmusiker Andrew nahm an, dass die Neuköllner Bewohner erfreut darüber seien, dass er im Kiez wohne. Er empfindet ein Verantwortungsgefühl gegenüber seiner imaginären Nachbarschaft und sieht sich deshalb in der Pflicht, für das nachbarschaftliche Umfeld – wenn auch selten – gerne auch geringfügig bezahlt zu spielen. Auch Jeffrey bezieht sich auf eine spezifische Neuköllner Umgebung, wenn er die Problematik der fehlenden Eintrittsgelder erläutert: Er geht davon aus, dass die Neuköllner Zuhörer kein oder nur ein sehr geringes Eintrittsgeld in ihrem Kiez erwarteten. Im Gegensatz dazu nimmt er an, dass Bewohner in einem anderen Kiez, beispielsweise in Charlottenburg andere finanzielle Gewohnheiten hätten und auch für experimentelle Musik mehr zahlen würden. Seine Aussage impliziert, dass das weniger begüterte soziale Umfeld in Neukölln die geringe Höhe oder das Fehlen der Eintrittsgelder mitbestimmt. Im Zusammenhang mit künstlerisch-musikalischen Praktiken, die explizit mit ökonomischen Interessen verbunden sind, stellt sich der Kiez also nicht als die passende Umgebung dar. Die Zuschauerin oder der Zuhörer erwarte beim Besuch eines Neuköllner Konzerts geringe oder keine Eintrittsgelder, was dem Klischeebild des Kiezes entspräche. In der Beschreibung der Neuköllner Umgebung streift er auch »nice little cute, Turkish grocery stores«, die er in einem Atemzug mit jenen »entry free gig[s]« benennt. Ein als türkisch geschildertes Umfeld sowie andere infrastrukturelle Merkmale Neuköllns werden also dafür verantwortlich gemacht, dass jene »scene« nicht angemessen für ihre Kunst bezahlt wird. Der Bezug auf Charlottenburg und die Vermutung, dass man in diesem Kiez mehr Eintrittsgelder fordern könne, verstärkt die Kritik an das Neuköllner Environment. Einerseits konstatiert Jeffrey, dass die Bewohner Charlottenburgs zahlungsfreudiger seien, andererseits wird dadurch impliziert, dass die Musik dort mehr wertgeschätzt werde. Jene Immigranten-

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Communities stehen ihm zufolge für den Trend günstiger Lebenshaltungs- und dadurch auch Eintrittskosten im Kiez. In seiner Vorstellung sind die türkischstämmigen Bewohner des Kiezes nicht das Publikum der Konzerte, was die Vorstellung von einer anderen gesellschaftlichen Welt widerspiegelt, die unterschieden wird von den Lebensräumen seiner eigenen Klientel. Jeffrey möchte explizit mit den Ideologien, die über experimentelle Musik bestehen, brechen. Er identifiziert sich mit der Rolle als Komponist und fühlt sich damit im Kontext gegenwärtiger Verhältnisse des Neuköllner Umfelds unverstanden. In diesem Sinne beschreibt Rabinow den Einfluss eines neuen Umfeldes auf die Wahrnehmung von Künstlern wie folgt: »Ein fremdes Milieu kann bei einem Künstler aber zu Erfahrungen und Eindrücken führen, die jenseits von Einfluss und Weltbild stehen. Eine solche neue, die Selbstgenügsamkeit in Frage stellende Orientierung muss weniger von der Exotik einer neuen Umwelt herrühren, als von dem Schock, den das Erblicken vertrauter Elemente in ungewohnter Anordnung

auslösen kann.« (Rabinow 2004: 79)94 Vergleichbar mit den von Rabinow untersuchten Gefühlswelten von Künstlern empfindet auch der Neuköllner Komponist Jeffrey sein neues Umfeld als fremd und sieht seine Künstlerexistenz in Gefahr. Die Bezahlung seiner musikalischen Praktiken in Neukölln entspricht nicht seinen Vorstellungen von ihrem tatsächlichen finanziellen Wert. Mit Blick auf den akademischen Background des Komponisten können seine Empfindungen als Entfremdung seiner eigenen Klientel gegenüber interpretiert werden.95 Andererseits kann diese Selbsteinschätzung und eine damit in Verbindung stehende spezifische Wahrnehmung der Umgebung auch erst als Voraussetzung für experimentelle Kunst interpretiert werden (siehe Kapitel II). Werden Konzerträume, wie die Philharmonie oder vermeintlich akademische Kontexte als antagonistisch zu den Lebensstilen der Neuköllner experimentellen Musiker genannt, stehen diese doch meist in einem sehr engen Verhältnis zu ihnen. So zeigte sich Johnny zwar belustigt bei der Vorstellung, in der Philharmonie tätig zu sein. Doch seinem studierten Background nach zu urteilen, wäre es für ihn nicht 94 Vergleichbar konstatiert Bauman in Bezug auf Angehörige der Wissensklasse: »In ihren privaten Eigenschaften freilich – als Individuen – haben die Angehörigen der Wissensklasse an der universalen Existenzweise teil, die ganz wesentlich durch die Erfahrung der Entfremdung geprägt ist.« (Ebd. 1992: 123) 95 »Wir müssen unterscheiden zwischen der Entfremdung im Verhältnis zum Individuum (durch Unterwerfung), der Entfremdung im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft (durch Spaltungen, Dualitäten) und der Entfremdung im Verhältnis zum eigenen Ich (durch Mißerfolge […] und Frustrationen). Die Entfremdung insgesamt ist also unendlich komplex.« (Lefèbvre 1975: 465)

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unmöglich, dort aufgenommen zu werden. Auch in vielen anderen Beispielen könnte die Ablehnung von fixen Institutionen zu Gunsten von vermeintlich unkommerziellen, unakademischen Rahmenwerken eine vorgeschobene Haltung darstellen, welche die finanziell ungünstigen Gegebenheiten im Kiez zur idealen Voraussetzung für experimentelle Musik deklariert.

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»›Wir sind die, die wir sagen, um damit eine Gruppe von Leuten zu bezeichnen, die niemanden ausschließen.‹ – ›Doch, die, die andere ausschließen wollen.‹ – Ich will sowieso nicht bei euch mitmachen.‹ – ›Doch, zu uns gehören ganz viele, die bei uns nicht mitmachen wollen. […]‹ – ›Mich werdet ihr nicht in eure Scheiße reintegrieren.‹ – ›Wir haben aber geile Paradoxa.‹ – ›[…] Ich will nicht zu eurem Wir gehören, weil es nicht ausschließt, auszuschließen. […]‹ […] ›Dann bist du eben von Herzen willkommen‹«. DIEDERICHSEN 1999: 113

Andrews, Johnnys und Leanders Äußerungen zu Improvisationskonzerten in Berlin decken sich mit der populären Vorstellung, dass improvisierte Musik vor allem in Großstädten wie in Berlin verortet wird.96 Johnny vergleicht die gegenwärtige Szene in Neukölln mit einer älteren Generation von Experimentalmusikern, die er in Prenzlauer Berg lokalisiert, die er persönlich kennt und mit denen er in diversen Musikperformances kooperiert. Seine Einstellung zu diesem Berliner Netz schildert er folgendermaßen: »I am referring specifically to the Berlin experimental scene, that I believe I have created in my mind. [...] That is the great thing about Berlin [...] you know in your mind, that there will be people to work with. That’s why people move here in the first place. Some just show up. But they do not know so many details of the scene yet.« (Johnny in einem Interview am 20.09.2009)

96 »Live, improvised music can be heard in multiple venues in New York City, London, Tokyo, Rome, Berlin, and most other large cities any night of the week.« (Holmes 2008: 382)

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Zwar kann man seiner Einschätzung nach als Experimentalmusiker in Berlin sicher sein, Gleichgesinnte vorzufinden. Doch bestünden »details of a scene«, derer die neu hinzugezogenen Musiker noch nicht gewahr seien. Zwar erklärt er jene Details nicht weiter, doch charakterisiert er die Berliner Experimentalmusikszene damit als geschlossenen Kreis, zu dem der Zugang für Newcomer nicht einfach ist, wenn sie nicht vorher bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt haben. Pellico verortet Fluxus sowie improvisierte Musik explizit im internationalen Gefüge von Künstlerverbänden in Metropolen (vgl. ebd. 2008a: 94). Auch die interviewten Musiker und Komponisten in Neukölln fanden ihren Weg aus dem Ausland – zumeist über den Atlantik – nach Neukölln. Des Weiteren wurde beobachtet, dass die Akteure in spontanen Improvisationssessions gemeinsam musizieren. Auch betonten die Musiker in diesem Zusammenhang wiederholt gewisse ›soziale Aspekte‹, die sie neben den alltäglichen Kooperationen mit anderen internationalen Musikern auch auf die Gemeinschaftserlebnisse bei Improvisationssessions bezogen. Diese Beobachtungen führten mich zu der etwas naiven Hypothese, dass Improvisationen als Kommunikationsmittel fungieren, in denen Sprache durch Musik ersetzt wird97 und dass die Musiker – eingebunden im gemeinsamen Spiel – das Regelwerk und die gespielten Codes der anderen begreifen. Die betonte Undeterminiertheit des musikalischen Materials auf Improvisationskonzerten dient dieser Annahme zufolge als Basis für eine musikalische Konversation zwischen den Musikern, die mit ihren internationalen Backgrounds ansonsten keine gemeinsame sprachliche Ebene finden könnten. Während Jeffrey diese Theorie zustimmend kommentiert,98 äußert sich Andrew dazu mit Bezug auf populäre Jazzdiskurse folgendermaßen: »It’s a tricky one [...]: They are saying this about Jazz [...] e.g. Bebop or certain types of idiomatic Jazz of the 50ies, when everyone says, it became ›superamerican‹, when it became pretty transnational. You could meet a Thai guy in the UK, speak to him, and he could play a Fats Waller tune or something like that together [with you]. Experimental music … this is al97 Diese Idee findet sich auch in Wilsons Vorstellung von Improvisationsperformances wieder: »Die Vorstellung einer ›nicht-idiomatischen‹ […] Musik […] meinte nicht das NeuErfinden des eigenen Spiels bei jedem Anlaß, die permanente tabula rasa, sondern zielte auf das vorab Unkategorisierbare des Zusammentreffens mehrerer Musiker, die ihre eigenen, oft inkompatiblen Sprachen sprechen. Mag auch jeder sein persönliches Idiom mitbringen, so ist das kollektive Ergebnis doch keineswegs idiomatisch vorprogrammiert.« (Wilson 1999: 18) 98 »It’s a cool idea. I think, it is kind of academically convenient to stay as like this expresses internationality, I think that it is definitely true, that internationality is an important constraint on what people can or cannot do. [...] Maybe you can elaborate it in a useful way.« (Jeffrey in einem Interview am 26.08.2009)

216 | »T IEF IN N EUKÖLLN « so the case, that people can just get together and play, but there are kinds of secret international agreements, I would say, but there is also less agreed-upon. Because when you have a Fats Waller tune, there are certain agreements about the tune, and in experimental music, I don’t know what the unspoken agreements are. It depends on each sect you are from, maybe or which area. People thought in the late nineties or early 2000s, that in a certain scene in Berlin, there were set unspoken rules, but whether that’s true or not, I don’t know. But you know, [there was] naming stuff, Abstimmungen. [...] Sometimes the totally blind meetings are not helpful, you don’t even have a sense, where the person’s coming from, their abilities or what they do. Sometimes they can be revelations, but often, it takes a long time to. Berlin makes those things possible, but people are coming through and you cannot say yes to everybody. People here, like putting the gate down a little bit, saying: ›I can’t do my own work, because I am always doing a session with somebody‹.« (Andrew in einem Interview am 30.07.2009)

Die Betonung der sozialen Aspekte von Improvisationssessions führt also auch zu der Frage nach den Regeln dieser zwischenmenschlichen Begegnungen. Im Gegensatz zu der Idee von einem offenen Regelwerk, in welchem die Musiker sich völlig frei im gemeinsamen Spiel ausdrücken können, erkennt Andrew versteckte Regeln im improvisierten Zusammenspiel, die davon abhängen, welche musikalischen Möglichkeiten die Mitspieler mitbringen und aus welcher musikalischen ›Sekte‹ man komme. Dadurch macht er deutlich, dass Aspekte des Erlernens, des Übens und des sorgfältigen Vorbereitens durchaus auch bei improvisierter Musik von Bedeutung sind. Auch Leander deutete Probleme im Zusammenspiel mit ›Fremden‹ in Sessions seiner open stage an, die nicht zu den von ihm erwarteten ästhetischen Resultaten führten. Folglich existieren auch oder gerade in der Improvisationsmusik spezifische Ausschlussverfahren, die das Zusammenspiel mit anderen schwieriger oder einfacher machen. Die Musikhistorikerin Blažanoviü 2011 definiert die Szene der Berliner Experimental- und Improvisationsmusik mit dem Begriff »Echtzeitmusik«.99 Ähnlich wie diverse Autoren die Veränderungsprozesse des Techno anhand jener städtischen Transformationsprozesse erklären, (Kapitel III) verortet Blažanoviü die Ursprünge dieser Szene100 in den ehemals ostdeutschen Stadtgebieten. Ihr zufolge 99

Marta Blažanoviü: Eine kleine Sozialgeschichte der Berliner Echtzeitmusik-Szene. In: Burkhard Beins u.a.: Echtzeitmusik Berlin: Selbstbestimmung einer Szene. Hofheim: Wolke 2011.

100 Aus einer historischen Perspektive seien die Anfänge dieser »Echtzeitmusik«-Szene in einem Freundeskreis von Musikern zu finden, der sich im Anorak in Prenzlauer Berg traf, welcher »zu einer Vielzahl von kulturell sehr lebendigen Veranstaltungsorten der Hausbesetzerszene im kulturell insgesamt sehr facettenreichen Berlin der neunziger Jahre [gehörte] […]« (ebd., 29). »Es war eine neue Generation von Musiker/innen, von

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führten später sogenannte Gentrifizierungsprozesse zu einer Krise, die mit der Schließung von Veranstaltungsorten in den betreffenden Bezirken Prenzlauer Berg und Mitte einherging. Als deren Folge beobachtet sie die langsame Revitalisierung der »Echtzeitmusik«-Szene an anderen Orten, wo sie »wieder eine solide räumliche Basis in der Stadt hatte, wie sie sie für ihre weitere Entwicklung in der Stadt brauchte« (Blažanoviü 2011: 48). In Verbindung mit jenen Entwicklungsprozessen beschreibt sie außerdem eine Trennung einer Berliner Experimentalmusikszene in »seriös« und »unseriös«, wobei sie die erste als reflektiert und eingebunden in die »hochkulturell konnotiert[e]« Szene der neuen Musik definiert (ebd., 29-30).101 Wie die befragten Musiker in Neukölln konstatiert auch Blažanoviü den Wunsch Berliner Experimentalmusiker nach Unabhängigkeit von Institutionen, der althergebrachten Vorstellungen von freiem künstlerischen Schaffen entspricht und über welchen sich auch die beschriebene Szene definiert.102 Jener enthusiastische, unbezahlte Aufbau von Veranstaltungsorten durch freiwillige Helfer, den die Autorin betont, bleibt fraglos bemerkenswert. Am Beispiel des Veranstaltungsorts ausland103 in Prenzlauer Berg verdeutlicht sie schließlich selbst eine finanzielle denen viele gerade frisch nach Berlin gezogen waren. Um sich von den dort vorgefundenen Free-Jazz- und Improvisationskreisen begrifflich abzugrenzen, führten sie […] den Ausdruck Echtzeitmusik ein, um der Musik, die sie spielten, einen Namen zu geben […] – als Manifestation der Auffassung, dass der weitaus geläufigere Begriff Improvisation die Quintessenz ihres Musizierens nicht angemessen beschreibt.« (Ebd., 3738) 101 »Groß angelegte Sanierungen der Bausubstanz in den (Ost-)Berliner Innenstadtbezirken standen am Anfang des Gentrifizierungsprozesses […]. […] All das verstärkte den Zugzwang und warf für viele Musiker berufliche und existentielle Fragen auf; sie mussten sich entscheiden, wie sie fortan ihren Lebensunterhalt zu bestreiten gedachten. Die Szene […] faserte aus und zerfiel in eine ›seriöse‹ und eine ›unseriöse‹ Fraktion. Musiker/innen, die nicht so sehr zu reflektierterem Musizieren und Kollaborationen mit Vertreter/innen der hochkulturell konnotierten Neue-Musik-Szene neigten […] suchten nach neuen Möglichkeiten für ihre weitere musikalische Betätigung.« (Ebd., 29-30) 102 »Die Musiker/innen sehen sich derart vor das Dilemma gestellt, einerseits von den Institutionen zu wenig wahrgenommen und unterstützt zu werden und andererseits nicht damit rechnen zu können, mit ihrer Musik einmal ein so breites Publikum zu erreichen, dass es für ein Auskommen genügt.« (Ebd., 47) 103 »Das ausland ist seiner aktuellen Selbstauskunft nach ein ›Terrain für Experimentelle Musik, Performance und Kunst‹ […]. Im Fokus […] stehen ›experimentelle, nichtmainstreamkompatible, anspruchsvolle und sonderbare Sachen, die einen entweder begeistern oder dazu bringen, gleich wieder zu gehen, noch bevor man seinen ersten (erschwinglichen) Drink geleert hat […]‹«. (URL: www.ausland-berlin.de/aboutausland nach Blažanoviü 2011: 46)

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Abhängigkeit der Veranstalter und Musiker von Institutionen.104 So stellt sich die Frage, ob die durch Blažanoviü beschriebenen, sich als unabhängig deklarierenden künstlerischen Praktiken jener Szene nicht per se im Widerspruch stehen zu institutioneller Kulturförderung, wie dies auch anhand der Neuköllner Veranstaltungsreihen deutlich wurde. In einem gegenwärtigen Überblick über »Echtzeitmusik« verortet Blažanoviü die musikalischen Praktiken der Neuköllner Veranstaltungsorte wie selbstverständlich in ebendieser Berliner »Szene«: »All diese Projekte fand und findet man in Überbleibseln der Hausbesetzerkultur vor, in Häusern, wo sie zu billigen Mieten einigermaßen sicher vor dem zunehmenden Verdrängungsdruck sind und es noch machbar ist, nichtkommerziell Veranstaltungen durchzuführen und marktfernen Kunstformen Raum zu bieten. […] Ganz allgemein hat sich die Berliner Alternativkultur während der vergangenen Jahre stark in Richtung Nordneukölln verlagert, und so gibt es dort auch etliche neue Lokalitäten der Echtzeitmusik-Szene – Quiet Cue, Sowieso und das Alte Finanzamt.« (Blažanoviü 2011: 48)

Blažanoviü verlagert jene Berliner Szene somit nach Neukölln und stilisiert die dortige Experimentalmusik als historisches ›Überbleibsel‹ ehemaliger Avantgardekultur. Sie erkennt die Problematik, dass die für die Definition einer Szene105 notwendige Verallgemeinerung die »Individualität und Originalität« von Künstlern in Frage stellt (vgl. ebd., 32) und dass »Echtzeitmusik als ein ›Markenzeichen‹ […] untrennbar mit der Stadt Berlin verbunden [ist]« (ebd., 29). Als positiv hingegen beurteilt sie eine damit verbundene Zunahme des »Zugehörigkeitsgefühl[s] zu einer Szene von mittlerweile internationalem Ruf sowie das Bewusstsein um die damit verbundenen Vorzüge unter den Musiker/innen […]« (ebd., 32) und legitimiert die Definition der Berliner Szene:

104 So konstatiert sie eine institutionelle Kooperation, welche »für die Bemühungen der Szene um mehr Wahrnehmung und Anerkennung nicht unwichtig war« (ebd., 46ff.). Die Bauarbeiten für das ausland wurden neben »privaten Schenkungen und Krediten« auch durch das dortige Quartiersmanagement unterstützt (Eichmann 2005: 22 nach Blažanoviü 2011: 64). Man könne bei einigen Institutionen finanzielle Unterstützung für bestimmte Projekte beantragen, doch deckten derartige Finanzierungen lediglich spezifische Posten der Projekte ab und grundlegende Fragen der längerfristigen Finanzierung ein ungeklärtes Problem seien (vgl. ebd., 47). 105 Blažanoviü versteht »Szene« als einen »theoretisch offene[n] Begriff, der, wie die kulturellen Praxen, die er beschreibt, unbestimmt und in Bewegung bleibt und somit der Strategie des ›Nicht-verortet-werden-wollens‹ der Akteure entspricht« (Schwanhäußer 2010: 262 nach Blažanoviü 2011: 31f.).

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»Eine Szene zu definieren ist also nicht einfach eine reine Marketingmaßnahme oder eine Strategie, deutlicher wahrnehmbar und damit besser finanziert zu werden, wie man kritisch unterstellen könnte, sondern auch und gerade ein Ansatz, einen fruchtbaren gemeinsamen Boden für neue ästhetische Entwicklungen zu schaffen.« (Ebd.)

Das durch Blažanoviü vermittelte Bild von einer »neue[n] Generation« von Musikern, die Prenzlauer Berg Mitte der 1990er Jahre künstlerisch und musikalisch durch unabhängige Praktiken prägte, kann den Wunsch wecken, an einer künstlerischen Bewegung in Berlin teilzuhaben. Der nostalgische Rückbezug auf die Zeit kurz nach der Wende veranschaulicht eine mehr oder weniger bewusste Vermarktungsstrategie der Berliner »Echtzeitmusik«-Szene. Die Definition einer lokalen Berliner Szene nimmt Einfluss auf die Selbstvermarktung und Selbststilisierung der Musiker: Dass eine durch explizit lokale Eigenschaften definierte Szene markttauglich ist, verdeutlichte Takanori anhand seiner Rezeption japanischer Zeitungsartikel, die ein spezifisches Bild über eine »interessante« Berliner NachwendeSzene vermittelten (Kapitel II), die ihm eine ideale Identifikationsfläche boten und formten seinen Wunsch, selbst als Künstler in Berlin tätig zu sein. Jeffrey machte deutlich, dass er kurz nach seinem Umzug in den Kiez die passenden Räumlichkeiten für seine Performances fand: Im Neuköllner Gelegenheiten konnten die Projekte der Fluxus-Gruppe umgesetzt werden, was ihm zufolge im ausland nie hätte realisiert werden können. Als Gegenbeispiel zum Gelegenheiten, wo er die Projekte der Fluxus-Gruppe problemlos realisieren konnte, benennt Jeffrey explizit den Veranstaltungsort ausland als etablierten Laden. Diese Location in Prenzlauer Berg, wo vor allem Experimentalmusik auf dem Programm steht, weist ihm zufolge eine mehr oder weniger lange gewachsene Berliner Musiktradition auf und muss deshalb einem dazugehörigen Publikum gerecht werden (s. Jeffrey in einem Interview am 26.08.2009, Kapitel I). Die genaue Selektion der Musiker für Konzerte im ausland bezieht aus seiner Sicht somit auch spezifische ästhetische Merkmale mit ein. Mit Bezug auf Aussagen der Musiker Möbius und Schick versucht auch Blažanoviü die Ästhetiken dieser Szene festzuhalten und beschreibt die Klangeigenschaften als ›radikal‹ und ›ungewöhnlich‹ und fasst diese schließlich als »Berliner Reduktionismus« zusammen (Möbius/Schick 2010: 1-2 nach Blažanoviü 2011: 29). Auch gegenwärtig können ihr zufolge spezifische Hierarchien innerhalb der Szene konstatiert werden, die mit der Attraktivität von bestimmten Veranstaltungsorten zusammenhängen,106 was anhand der Aussagen der interviewten 106 »So sind Konzerte mit bestimmten Musiker/innen, die von bestimmten Kurator/innen veranstaltet werden oder in bestimmten Läden stattfinden, für das informierte Publikum attraktiver als andere, deren Protagonist/innen neu sind oder sich noch keinen Namen gemacht haben. Obwohl die Echtzeitmusik-Szene eher unhierarchisch strukturiert ist,

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Neuköllner Musiker teilweise bestätigt werden konnte: Johnny beschreibt eine »older Generation« der Berliner Experimentalmusikszene in Prenzlauer Berg, die durch eine gewisse Exklusivität gekennzeichnet sei, der sich neue Musiker nicht sofort zugehörig fühlten (ebd. in einem Interview am 20.09.2009). Leander erkennt die Rolle von Experimentalmusik in Berlin als Mainstream und bezieht sich dabei auf etablierte, Kreuzberger Improvisationskonzertreihen, bei welchen primär Akademiker aufspielten und von welchen er sich mit seiner open stage abgrenzen wollte. Jonas und seine Freundin hingegen beschrieben eine Berliner Szene als »durchmischter« und weniger getrennt in studierte und unstudierte Musiker. Zwar vermittelt Improvisationsmusik das Bild, frei zu sein von institutionellen Zwängen und dadurch nicht unter dem Druck zu stehen, den Geschmack des Mainstreams bedienen zu müssen (vgl. Holmes 2008: 381). Doch für Leander gehört experimentelle Musik in Berlin zum Mainstream, was er aus den Erfahrungen mit den von ihm als akademisch bezeichneten Cliquen in Berlin schließt, die er in anderen Berliner Improvisationsbühnen, beispielsweise in Kreuzberg, vorfand. Ebenso ist sich auch Andrew einer Berliner Szene mit spezifischen Regelwerken bewusst, die er jedoch nicht genauer definieren kann. Auch Andrew benennt gewisse Musikerkreise, die im Sinne spezifischer ›Schulen‹ oder durch andere Aspekte in ihrem Instrumentalspiel geprägt seien, was ihn außerdem wählerisch macht in Bezug auf »blind meetings«, die ihm in Berlin vielfach angeboten werden. Die Idee von improvisierter Musik als einer universell und intuitiv verstandenen Sprache wird demnach hinfällig. Damit bleiben sowohl das scheinbar offene Regelwerk als auch ein damit in Zusammenhang stehender integrativer oder partizipativer Charakter improvisierter Musik zu hinterfragen. »Echtzeitmusik« bietet sich für die Musiker, die nach Neukölln kommen, als ideales Forum vor allem für die Verbreitung von Konzertankündigung via Newsletter an.107 Die Identifizierung mit einer bereits klar definierten Berliner Szene mag den Musikern bei der Außendarstellung eigener musikalischer Praktiken helfen, da diese dadurch als Berliner Produkt präsentiert werden können. Andererseits entpuppt sich die Echtzeitmusik-Szene in ihrer expliziten Bezugnahme auf Berlin fast schon als städtische Institution für Musiker, derer ›gemeinsamer Boden‹ sogar mit spezifisch ästhetischen Merkmalen verbunden ist. Selbst die lokale Identifikation mit ihrem Wohnbezirk löst die nach Neukölln gezogenen Experimentalmusiker und Komponisten nicht aus städtischen Strukturen. Der Gedanke einer rein lokal definierten Szene veranschaulicht die logische Konsequenz aus dem führt die ungleichmäßige Konzentration solch symbolischen Kapitals also sehr wohl zu einer unterschwelligen Hierarchisierung der Szene.« (Blažanoviü 2011: 32, 37) 107 Neben der Website www.echtzeitmusik.de macht ein Newsletter flexibel und wöchentlich über anstehende experimentelle Veranstaltungen aufmerksam, der sich an Interessierte eines Verteilers richtet (letzter Zugriff am 03.03.2013).

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Dilemma der Musiker, die sich einerseits jeglicher Kategorisierung und Verallgemeinerung bezüglich ihrer spezifischen musikalischen Praktiken entziehen wollen, aber doch auch einen Wunsch nach einem Zusammengehörigkeitsgefühl haben. Eine rein lokale Definition der Szene trägt dieser Notwendigkeit Rechnung und schafft doch – zumindest kurzfristig bis sich bestimmte Strukturen vor Ort etablieren – in ästhetischer Hinsicht eine gewisse Unabhängigkeit/Undeterminiertheit, also künstlerische Freiheit.

6. Z USAMMENFASSUNG : N EUKÖLLN H AVEN . I DEALISIERUNG EINES O RTES »[…] what are the current conditions that make possible anthropological attention to Western art practices themselves? [...] understanding human activity and products [...] is also challenged – by avant-gardist emphases on ›unmediated‹ experience, the thing itself, as bearing the potential for delivering the unsettling ›shock of the new‹ on which avant-gardes have depended [...].« MARCUS 1995: 5

Im Kontext der Kritik an klassischer Musik in institutionalisierten Konzerträumen benennt Ullmaier auch die Stilisierung Russolos als »Anti-Musiker«.108 Eine damit in Verbindung stehende Kritik an klassischer Musik in institutionalisierten Konzerträumen spiegelt sich auch in den Selbstdarstellungen der interviewten Musiker wider. Eloquent grenzen sich die Akteure von einem vermeintlichen Akademismus und von Vorstellungen einer Hochkultur ab oder sprechen sich gegen Institutionen aus: Jeffrey am Beispiel ritualisierter Performances in Konzerthäusern, Johnny

108 »Beim Anblick des enormen Kraftaufwandes eines Orchesters kommen wir nicht umhin, vom armseligen akustischen Ergebnis zutiefst enttäuscht zu sein. Wer kennt schon ein lächerliches Spektakel als zwanzig Menschen, die sich darauf versteifen, das Miauen einer Violine zu verdoppeln? All das bringt nun natürlich die Musikbesessenen zum Toben […].« (Russolo 2000: 8) Für Russolo steht klassische Musik im Gegensatz zu einer Realität: »Denn lange können wir ihn nicht unterdrücken, unseren Wunsch, endlich eine neue musikalische Realität zu schaffen, indem wir schallende Ohrfeigen verteilen und uns über Violinen, Klaviere, Kontrabässe und wehklagende Orgeln hinwegsetzen.« (Ebd.)

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anhand der Thematisierung von Hierarchien innerhalb Performances sowie Jonas oder Monica in der kritischen Auseinandersetzung zur Kunst als Institution. Aufgrund schlechter Erfahrungen während ihres Musikstudiums verorten Jeffrey und Sophie ihre Musik statt in großen, pompösen Konzertsälen lieber in Wohnzimmern oder kleinen Kammermusiksälen, da der Musik dort mehr Aufmerksamkeit geschenkt werde. Leander beschreibt sich selbst als Surrealist und betont damit den Anspruch seiner Kunst, bewusst akademische Grenzen und Regeln zu übertreten. Zwar entlarvt Jeffrey selbst bestimmte Vorstellungen in Bezug auf experimentelle Musik als Utopien, doch spiegelt seine Akademie-Kritik ebenso wie Leanders und Christophers Abgrenzung von Institutionen einen klaren AvantgardeGedanken wider. Auch Simon versucht, der Avantgarde in seiner Neuköllner Lebenswelt Raum zu schaffen und grenzt sich dabei von seinem Heimatland, der Schweiz, ab, wo ihm zufolge diese künstlerischen Praktiken nicht in der Weise möglich waren. Jonas und seine Freundin betonen Verbindungen zwischen Autodidakten und studierten Improvisationsmusikern. Die Bezeichnung »Autodidakt« übernahm eine demokratisierende Labelfunktion und garantierte in den beschriebenen Fällen laut Jonas, Leander und Jeffrey die Vorstellung eines sich dazu antagonistisch verhaltenden Akademismus. Des Weiteren fungieren Begriffe um Hochkultur und Kunstmusik im Kontrast zu subkulturellen und vermeintlich unabhängigen Praktiken als beliebte Dichotomielinien zur Charakterisierung der experimentellen Musik in Neukölln. Im Vergleich zu vermeintlich etablierten Veranstaltungsräumen in Kreuzberg oder anderen Bezirken gelten Neuköllner musikalische Praktiken und Sounds somit als frei und unabhängig. Der Kiez wird damit zum idealen Ort für improvisierte Musik stilisiert. Nicht nur am Beispiel der Aussagen über Stockhausens Kontakte wird ein ambivalentes Verhältnis zu notierter Musik deutlich. Die Musiker inszenieren eine Identifikation mit nicht-komponierter, undeterminierter Musik, während ihre Auseinandersetzung mit westlichen Konzepten sogenannter Kunstmusik sowie komponierter Musik zumeist mit einer Abwertung oder Kritik erfolgt. Zwar konstatiert Hal Foster die Immanenz kritischer Theorie in innovativer Kunst, doch erkennt er, dass Avantgarde nicht selten problematische und sich widersprechende Theoriegebilde konstruiert,109 was auch durch die ambivalenten 109 »[…] and that the relative autonomy of the aesthetic can be a critical resource. For these reasons I argue against a premature dismissal of the avant-garde. As I note [...] the avant-garde is obviously problematic (it can be hermeneutic, elitist, and so on); yet, recorded in terms of resistant and/or alternative articulations of the artistic and the political, it remains a construct that the left surrenders at its own loss. The avant-garde has no patent on criticality, of course, but a commitment to such practices does not exclude a commitment to others as well.« (Foster 1996: xvi) »Whereas some […] regard the attempted reunification of ›art and life‹ – the escape from or even demolition of the

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Aussagen der Neuköllner Musiker in Bezug auf musikalische Konzepte deutlich wird. Fuhr zufolge ist das »Bewusstsein für kulturelle Dichotomien, wie sie sich in musikalischen Bereichen durch die Verwendung begrifflicher Unterscheidung charakteristisch niederschlagen, […] zutiefst in der europäisch-abendländischen Kultur- und Geistesgeschichte verwurzelt und hat bis heute unser Verständnis für kulturelle Güter nachhaltig geprägt.« (Ebd. 2007: 9) Der Ansatz, Kunst gesellschaftlich einzubetten, ist immer noch eingebunden in Aspekte jener Kunstwelt: Fragen nach Grenzziehungen, zum Beispiel zwischen sogenannter Hochkultur und Massenkultur, bleiben Hauptthemen in den Theorien der Kunstwissenschaften (vgl. Marcus/Myers 1995: 9). Huyssen fragt mit Bezug auf theoretische und oft politisch motivierte Vorgaben von Kunstrichtungen nach den konkreten Umsetzungen von künstlerischen Konzepten.110 Im Zusammenhang mit den befragten Neuköllner Musikern interessiert jedoch weniger der Aspekt einer tatsächlichen Realisierung der Konzepte, also ob die Musiker den von ihnen postulierten künstlerischen Theorien auch in der Praxis treu bleiben oder darum, ob »›das Künstlerische‹ Ansätze zu einer kritischen Praxis bereitstellen kann«, wie es Vera Lauf im Zusammenhang mit Kunstprojekten von Avantgardekünstlern versucht zu klären (ebd. 2009: 246).111 Vielmehr geht es um die Tatsache, dass die Musiker ein unersättliches Interesse an verschiedensten Musikgenres und eine reflexive Auseinandersetzung mit konzeptionellen Kontexten von experimenteller, neuer, klassischer oder populärer Musik bekunden. Die Beschäftigung mit unterschiedlichen Diskursen und die Auseinandersetzung mit ivory tower of autonomous high art – as the main purport of the early avant-garde, other [...] neglect this revolutionary intention and focus solely on the aesthetic response to technological innovations, new forms of production, and the development of new media like film and photography as the quintessence of the avant-garde. Whereas some stress the totalitarian purport of ›the avant-garde‹, others stress the antiauthoritarian, libertarian dimension […].« (Van den Berg 2009: 17) 110 »How precisely did the dadaists, surrealists, futurists, constructivits, and productivists attempt to overcome the art/life dichotomy? How did they conceptualize and put into practice the radical transformation of the conditions of producing, distributing, and consuming art? What exactly was theory placed within the political spectrum of those decades and what concrete political possibilities were open to them in specific countries?« (Huyssen 1986: 8) 111 Lauf fragt in diesem Zusammenhang vor allem nach Möglichkeiten der Herstellung »Alternativer Ökonomien« durch Kunst: »Begreift man ›das Künstlerische‹ in einem komplexeren Verhältnis zu den sozioökonomischen Bedingungen, als es die kapitalistische Logik glauben zu machen versucht, so können einzelne künstlerische Praktiken nach ihren Möglichkeiten alternative Räume herzustellen, untersucht werden.« (Ebd. 2009: 24)

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kulturellen Dichotomien unterliegen aus soziologischer Sichtweise »Bildungseinflüssen« (Otte 2010: 88) und verdeutlicht somit ein Expertenwissen der Neuköllner Musiker in diesen Bereichen. Entgegen der gegenwärtigen Vorstellung davon, dass »Jugendkulturen von ihrem sozialen Herkunftsmilieus weitgehend abgekoppelt sind« (Vollbrecht 1995: 32 nach Otte 2010: 76) kann argumentiert werden, dass das Expertenwissen und damit verbundene musikalische Praktiken der interviewten Akteure Klassenlagen sowie Ungleichheiten einschließen. Auch Bourdieu betrachtet Ausführungen über Kunst oder Musik nicht als neutrale Aspekte, sondern als Formen kultureller Produktion, als ausschließende Aktivitäten, also als eine hegemoniale Ausübung von Macht durch Wissen: »Zunächst einmal gehört der Diskurs über Musik zu den hervorragendsten Anlässen der intellektuellen Selbstdarstellung. Über Musik zu sprechen ist der Anlaß schlechthin, Breite und Universalität der eigenen Kultur und Bildung vorzuführen.« (Bourdieu 1993: 147) Somit fungieren Aussagen über Musikpräferenzen oder über andere Kontexte der Musikpraktiken als »Strategien der Selbstdarstellung, die ein möglichst schmeichelhaftes […] mit der legitimen Definition des ›gebildeten‹, des ›kultivierten‹, […] originellen‹ Menschen übereinstimmendes Bild von einem selbst geben sollen« (ebd.). Die Komponisten und Experimentalmusiker nehmen in den Beschreibungen ihrer musikalischen Praktiken und Vorlieben Bezug auf ihrem momentanen Wohnort Neukölln. Dadurch ergeben sich klare Vorstellungen vom Kiez als musikalischer Aktionsraum. In dieser Perspektive bietet der im Wandel befindliche Kiez gute Voraussetzungen für die Schaffung dieser experimentellen Räume und zur Bildung einer gewissen Gruppenidentität der Improvisationsmusiker. So wird Neukölln als örtliches Rahmenwerk repräsentiert, an welchem die musikalischen Identitäten ihre Praktiken und Konzepte austesten können. Jeffrey fasst diesen Tatbestand folgendermaßen zusammen: »The thing, that is here, is the feeling, that kind of – and this is going to sound romantic, but it is romantic, and also real and relevant – the feeling that this [Neukölln] is a place, that everyone has run away to, a place that somehow saves from something else. The word haven is very important.« (Jeffrey in einem Interview am 26.08.2009) Anstelle des Begriffs ›Heimat‹ spricht Jeffrey in Bezug auf Neukölln von einem Hafen, in dem sich die künstlerischen oder experimentellen Identitäten ein Zuhause suchen – als dauerhafte Anlegestelle oder Ort der Durchreise. Zum Zeitpunkt der Feldforschung stellt sich der Kiez für die interviewten Experimentalmusiker als Projektionsfläche für die Vorstellung von einem Ort heraus, an welchem – fernab fester Institutionen – spontane, kreative Praktiken entfaltet werden können. Dabei gehen sowohl Jeff als auch Leander das Risiko ein, bei Performances oder Event-Organisationen zu scheitern. Doch Taxonomien der Ungewissheit und des Risikos spiegeln vielmehr die ästhetischen Vorstellungen für

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experimentelle Musikperformances wider und repräsentieren deren ideale Grundvoraussetzungen in Neukölln.112 Andererseits fühlen sich die Musiker behindert in der Umsetzung ihrer künstlerischen Praktiken, die durch zu geringe Eintrittsgelder nicht gebührend wertgeschätzt werden. In diesen Kontexten drohen jene künstlerischen Werte, Erwartungen, Ideologien und akademische Backgrounds der Identitäten der experimentellen Musiker an den lokalen Zuständen in Neukölln zu scheitern. Jedoch nur in seltenen Fällen werden die Absichten experimenteller Praktiken auf dem Boden Neuköllns von den interviewten Musikern als problematisch geschildert. Die Gründe für diese fehlende Problematisierung sind in der erkannten Gruppenidentität der befragten Musiker zu suchen, die im Sinne Goffmans in ihrer Gesamtheit als »Ensemble« bezeichnet werden können, welches »vor allem bestrebt [ist], die Situationsbestimmung zu erhalten, die es durch seine Darstellung suggeriert« (ebd. 1983: 129).113 Wie Jeffrey zu Beginn dieses Kapitels beschreibt, teilen die im Kiez lebenden Komponisten und Experimentalmusiker gesellschaftliche Lebenswelten im Kiez. Andererseits wird der Kiez als Ort der Differenz wahrgenommen, in welchem spezifische Musik auch für bestimmte Gesellschaftsgruppen existiert und aufgeführt wird. Im Zusammenhang mit urbanen Machtkonstellationen schreibt Nettl 1978 sogenannter »westliche[r] Kunstmusik« eine bedeutende Position zu – auch in nicht-westlichen Städten. So begründet er die Beibehaltung von Insitutionen vor allem in einer ›Verwestlichung‹ städtischer Musikkulturen (vgl. Nettl 1978: 4-9).114

112 In diesem Zusammenhang betont Behne: »Wer etwas eigenes Neues geschaffen hat und sich entscheidet, es für die Öffentlichkeit […] freizugeben, geht damit auch immer das Risiko des Scheiterns mit ein. […] Jene Kreativen, die scheiterten, weil ihre Ideen keine gesellschaftliche Zustimmung fanden, sind schnell dem öffentlichen Bewusstsein entschwunden.« (Behne 1992: 52) 113 »Dazu gehört die Überbetonung wie die Untertreibung bestimmter Tatsachen. Es gibt Dinge, die den Eindruck, den eine Darstellung erweckt, diskreditieren, zerstören oder vereiteln würden, wenn die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt würde. Sie liefern ›destruktive Information‹. Ein Grundproblem vieler Darstellungen ist infolgedessen die Informationskontrolle; das Publikum darf keine destruktive Information über dargestellte Situationen erhalten. […] Ein Ensemble muss in der Lage sein, seine Geheimnisse zu bewahren und bewahrt zu wissen.« (Goffman 1983: 129) 114 »It is Western musical notation, recording, radio television. Perhaps most of all, it is the coming together of different musical styles and genres from many sources. [...] These characteristics of modern urban musical life are not necessarily confined to the city. Professional musicians, specialists in specific instruments and genres, the patronage of wealth, the combination of styles – […] are found in rural and tribal life as well. But the

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Nettl impliziert für den Prozess einer Verwestlichung auch die Vorstellung von Modernisierung,115 was zu hinterfragen ist, da diese Vorstellung das Fehlen von ›gebildeten‹ oder ›künstlerisch aktiven‹ Bewohnern in Neukölln einbezieht und weil sie auf einem konstruierten Gegensatz zwischen Ursprünglichkeit und Bodenständigkeit aufbaut. Inwieweit die Praktiken der interviewten Experimentalmusiker Tendenzen einer ›Verwestlichung‹ Neuköllner Musikkultur entsprechen,116 kann deshalb an dieser Stelle nicht geklärt werden. Andererseits muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass auch Blažanoviü die städtischen Entwicklungen in den 1990er Jahren, die sie als Gentrifizierungstendenzen definiert, verantwortlich macht für eine Teilung der Szene in ›unseriös‹ und ›seriös‹, für die sie neben ästhetischen Spaltungen auch hierarchische Machtkonstellationen impliziert. Da vermeintlich ästhetische Werke nach Marcus/Myers in verschiedenen zeitlichen Dimensionen auch differente Geschmackszuschreibungen erhalten, (vgl. ebd. 1995: 22) muss auch die zeitliche Einbettung des Candle Piece und Sophies Performance beleuchtet werden. Bourdieu hält in Die Liebe zur Kunst fest, dass Menschen nur begrenzt die Informationen eines Kunstwerks oder Musikstücks entschlüsseln und die Absichten von manchen Botschaften nicht erkennen, da das Vermögen hierfür »wiederum von Erziehung und Umgebung abhäng[ig]« ist (ebd. 2006: 69). Unter »künstlerischer Kompetenz«117 versteht er in diesem Kontext den

frequency with which they occur in the countryside is low in comparison with what is almost an inevitability of these characteristics in the city.« (Nettl 1978: 6) 115 »If Westernization is the process whereby a music becomes Western through the accretion of Western elements, modernization is the process whereby, through similar additions, a music retains its traditional essence but becomes modern – that is, part of the contemporary world and its set of values.« (Nettl 1978: 10) 116 »Ironically, it is the development of elaborate alienating meaning systems in the Western musical culture that makes possible the depiction and annexation of these others: only when a sophisticated method of manipulating (mediating) semiotic difference is in place can immediacy be portrayed. At the same time, the fact that in the deconstructive late twentieth century the peculiarities of this apparatus are becoming clear that only when others are freed to persue their own trajectories can Western music properly acknowledge the multiplicity of differences lying beneath its auhoritarian binaries and become productively other to itself.« (Middleton 2000: 59ff.) 117 »Das Kunstwerk als symbolisches Gut gibt es nur für denjenigen, der über die Mittel verfügt […], es zu entschlüsseln. Der Grad des Kunstsachverstandes einer Person mißt sich daran, in welchem Maß er die Gesamtheit dieser Mittel der Aneignung von Kunstwerken beherrscht, die zu einer gegebenen Zeit verfügbar sind, also die Interpretationsschemata, die Bedingung für die Aneignung künstlerischen Kapitals sind, […] für die

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notwendigen »Wandel der Perzeptionsinstrumente«, die mit dem »Wandel der künstlerischen Produktionsmuster« einhergehen (ebd.).118 Die Neuköllner FluxusPerformance 2010 ist zweifelsohne in den räumlichen, zeitlichen als auch gesellschaftlichen Kontext des Kiezes eingebettet, folgt aber nicht den Perzeptionsmustern jener vorgestellten ›ursprünglichen‹ Neuköllner Bevölkerung. Wenn man also Bourdieus Argumentation folgt, ist zu bezweifeln, ob das Kunstwerk in Neukölln überhaupt ein »kompetentes« Publikum findet. Abgesehen von der Fragwürdigkeit des elitären Konzepts einer Bewertung von künstlerischer Kompetenz interessiert in diesem Zusammenhang die Art und Weise wie die Perzeptionsinstrumente des Neuköllner Publikums gerade durch die Aufführung verändert wird. Andererseits ist davon auszugehen, dass ein solcher Wandel nur in bestimmten Teilen Neuköllns und in bestimmten Bevölkerungsschichten, die dieser Kunst überhaupt zugänglich sind, stattfindet. So wird wiederum der weiteren Fragmentierung des Kiezes Vorschub geleistet. In diesem Zusammenhang kann auch in den Sichtweisen der Experimentalmusiker die Auseinandersetzung mit spezifischen soziokulturellen Merkmalen der Umgebung Neuköllns mit seinen ›alteingesessenen‹ Bewohnern beobachtet werden, die mit den künstlerischen Praktiken der Musiker kontrastiert wird. Mit dem Verweis auf eine Kosmopolitisierung des Stadtraums und angesichts des Expertenwissens der interviewten Musiker und Komponisten und des Einbezugs von Kunstmusikdiskursen kann eine gewisse Exklusivität ihrer Musikräume konstatiert werden. Eine streng statistische Analyse im Sinne Bourdieus, welche die Aussagen der Interviewpartner über prominente Musiker- und Bandnamen, spezifische Genres als auch den genannten Dichotomiepaaren berücksichtigte, würde interessante Erkenntnisse über die Geschmacksurteile der experimentellen Musiker liefern. Doch würde eine solche Analyse ästhetischer Urteile Diederichsen zufolge eine »knapp 30 Jahre alte Soziologie des Geschmacks auf heutige Tendenzen übertragen« (ebd. 1999: 67). Vielmehr interessiert, in welchem Verhältnis die herausgearbeiteten DenkEntschlüsselung von Kunstwerken, die einer Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit angeboten werden.« (Bourdieu 2006: 69) 118 »In Zeiten des Umbruchs [werden] solche Werke, die aufgrund neuartiger künstlerischer Produktionsinstrumente entstehen, während einer gewissen Zeit mit den alten Perzeptionsinstrumenten wahrgenommen, […] obwohl sie sich genau im Widerspruch zu ihnen herausgebildet haben. […] Wenn sich die innovativsten Formen der Kunst zunächst nur einigen Virtuosen mitteilen […], dann deshalb, weil sie […] erfordern, mit allen Codes zu brechen, angefangen natürlich mit dem Code des alltäglichen Lebens […]. [D]ies[] […] setzt eine vollkommene Beherrschung des Codes der Codes voraus, der die angemessene Anwendung der verschiedenen, objektiv von der Gesamtheit der verfügbaren Werke geforderten gesellschaftlichen Codes, regelt.« (Bourdieu 2006: 77, 76)

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weisen und ästhetischen Merkmale, mit denen sich die Neuköllner Musiker identifizieren, zum urbanen Kontext stehen, also die Frage nach der räumlichen, lokalen sowie der zeitlichen Einbettung der musikalischen und künstlerischen Praktiken in ein Neuköllner Umfeld. Paul Rabinow nimmt auf Marcel Duchamps Umzug von Paris nach München Bezug: Die Fremderfahrungen im anderen, Münchner Milieu befreite Duchamp demnach von der in Paris etablierten Ordnung der Dinge und veränderte die Perspektiven und Praktiken des Künstlers (vgl. Rabinow 2004: 91). Rabinow bezieht Duchamps Zusammentreffen mit der Münchner Kunstszene primär auf ästhetische Merkmale – und damit auf eine »stilistische Abstammungslinie« –, mit denen der Künstler sich in der süddeutschen Stadt mehr oder weniger identifizieren konnte (ebd., 80). Duchamps Verbindung zu einer Münchner Szene weist Parallelen auf zum Verhältnis der Neuköllner Musiker zu einer Berliner Szene, die sich zurückbesinnt auf die Nachwende-Avantgarde im Zentrum der Stadt in den 1990er Jahren. So reproduziert auch die Szene um »Echtzeitmusik« nostalgische Bilder einer Nachwende-Avantgarde im Zentrum der Stadt in den 1990er Jahren. Des Weiteren wurden in den Schilderungen der Neuköllner Experimentalmusiker Bilder von traditionellen Avantgarde-Bewegungen,119 Kunstrichtungen und damit verbundenen Ideologien nachempfunden. Somit sind die Selbstdarstellungen der befragten Musiker im Sinne Lefèbvres durchdrungen von gewissen historischen Codes sowie ästhetischen Trends (vgl. ebd. 1991: 42). Doch auch stadtgeografische, kunstwissenschaftliche und musikwissenschaftliche Theorien verorten sowohl Fluxus als auch improvisierte Musik explizit in sogenannten internationalen Gefügen in Form von Künstlerverbänden in Metropolen des gesamten Globus (vgl. Pellico 2008a: 94, vgl. Holmes 2008: 382). Ebenso macht Heßler darauf aufmerksam, dass »Städte wie Berlin, Wien, Zürich, New York, Paris, London […] die häufig zitierten Beispiele für das 19. und frühe 20. Jahrhundert [sind], wobei Kreativität zumeist in bestimmten Vierteln lokalisiert« werde (ebd. 2007: 43).120 Die Vorstellung einer selbstverständlichen Existenz von Kunstszenen in Metropolen wird bedeutend für die Selbststilisierung der 119 »Since the 1970s the term ›avant-garde‹ has served in certain sections of the historiography of the European arts as a common designation […]. [It] is treated not just as a theoretical construction or interpretative model ex posteriori, but as a historical, once real, now past identity, also regarded in its historical time as – to some extent – a historical unity. The term ›avant-garde‹ itself is far older and was already introduced in the cultural field somewhere in the first quarter of the nineteenth century.« (Van den Berg 2009: 15) 120 »In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts avancierte beispielsweise auch Köln zu einem Zentrum avantgardistischer Kunst, von dem ein Teil der Fluxus-Bewegung ihren Ausgang nahm«. (Heßler 2007: 43)

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Neuköllner Experimentalmusiker und spiegelt sich in den Sichtweisen der interviewten Musiker wider, die sich in ihren Aussagen mal mehr mal weniger reflexiv auf traditionelle Kunstformen beziehen, die historisch eingebettet sind. Barthelmes umschreibt das Vermögen gegenwärtiger Musikperformances so: Experimentelle Musik vermeide »die gewohnten, konventionellen Vermittlungsinstanzen der Musik und hat sich neue Räume als Aufführungsorte geschaffen« (Barthelmes 1997: 17). Wo sie derartige Aufführungsorte lokalisiert, wird in folgendem deutlich: »Hier findet sich eine Kunstsprache, der es möglich ist, virulente und existentielle Erfahrungen unserer urbanen Gegenwart zu artikulieren. Letztlich ist dies auch der Grund dafür, daß die Musikperformance nicht als Text überlebt, sondern als ein einmaliges Ereignis in der Erinnerung des Besuchers – die Erinnerung an ein zeitliches Geschehen, das an einem bestimmten Ort stattgefunden hat und als solches nicht wiederholbar ist.« (Barthelmes 1997: 18-19 [Herv. durch CH)

Mit der Betonung der Einmaligkeit und der Unwiederholbarkeit jener Musikperformances hebt Barthelmes den Stellenwert des Lokalen hervor. Außerdem beschreibt sie jene Performances explizit als Ausdrucksweise »existentielle[r] Erfahrungen unserer urbanen Gegenwart« (ebd.). Einerseits geht sie somit von einer Musiksprache aus, welche die nicht näher definierten »städtischen Erfahrungen« wiedergibt. Andererseits impliziert sie den städtischen Kontext als Bedingung gegenwärtiger Musikperformances. Gleichzeitig sei die Schnelllebigkeit und Veränderungsfreudigkeit der Stadt ihr zufolge Voraussetzung für Avantgarde und künstlerische Freiheiten.121 In Bezug auf München hält auch Rabinow fest, dass eine spezifische Infrastruktur, in welche einzelne Kunstrichtungen eingebettet waren, das Umfeld der dortigen Kunstszene beeinflussten.122 Die ästhetischen Werte der Neuköllner Experimental121 Ähnlich wie Barthelmes schreibt Dell: »Urbanes Wissen bleibt provisorisch. […] Improvisation […] als strukturnutzende, situative Überschreitung des Plans – ist nicht die Beschönigung eines Scheiterns, sondern Anerkennung der situativ-mikropolitischen Beweglichkeit der Produktion relationalen Raums. […] Was vormals als Nebenprodukt gedacht war, die Improvisation, wird zum Hauptprodukt gesellschaftlicher Gegenwart. Aus diesem Paradigmenwechsel erwächst die Aufgabe, Improvisation als Handlungsmodell neu lesbar zu machen und, als urbane Praxis, in einen gesellschaftlich relevanten Kontext zu stellen.« (Ebd. 2011: 14 [Herv. i.O.]) 122 »In der Pariser Kunstwelt, die Duchamp hinter sich gelassen hatte, existierte eine allgemein anerkannte stilistische Abstammungslinie, die ihrerseits den Fortschritt der Avantgarde belegte […]. In München jedoch stellte sich die Konstitution, Rezeption und selbst die chronologische Abfolge dieser Bewegungen anders dar. ›Der

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musiker sind demzufolge eingebunden in ein gesellschaftliches Gefüge, das auch institutionelle Faktoren betrifft,123 die in Kapitel V weiter untersucht werden: In der medialen Außendarstellung Neuköllns rücken neben historischen und infrastrukturellen Bezügen auch kulturpolitische Aspekte in den Fokus. Dabei stellen sich Fragen nach den städtischen Interessen in der Schaffung eines vermeintlichen Undergrounds. Ein abschließendes Fazit vertieft die Zusammenhänge zwischen der lokalen Außendarstellung und dem durch die Experimentalmusiker entwickelten urbanen Raum und versucht die Legitimation jener avantgardistischen Ideologien weiter zu klären.

Impressionismus wurde von der Avantgarde wie dem Akademismus ignoriert‹«. (de Duve 1987: 142 nach Rabinow 2004: 80) 123 »By the same token, aesthetic value, itself socially constituted, is radically contingent on a very complex and constantly changing set of circumstances involving multiple social and institutional factors. Literature, art and their respective producers do not exist independently of a complex institutional framework which authorizes, enables, empowers and legitimizes them. This framework must be incorporated into any analysis that pretends to provide a thorough understanding of cultural goods and practices.« (Johnson 1993: 10)

V. Medialer Raum Neukölln »I have so far focused on locality as a phenomenological property of social life, a structure of feeling that is produced by particular forms of intentional activity and that yields particular sorts of material effects. Yet this dimensional aspect of locality cannot be separated from the actual settings in and through which social life is reproduced. [...] The production of neighbourhoods is always historically grounded and thus contextual.« APPADURAI 1996: 182F.

Dieses Kapitel veranschaulicht die mediale Repräsentation des Raumes Neukölln aus der Perspektive von Presseartikeln und Interneteinträgen. Daneben kommen die Neuköllner Kulturamtsleiterin, eine Stadtplanerin der Zwischennutzungsagentur im Reuterquartier sowie ein Initiator Kunstfestivals »48 Stunden Neukölln« zu Wort. Vor dem institutionellen und medialen Hintergrund des Kiezes muss somit nach dem Stellenwert der musikalischen und künstlerischen Aktivitäten im Kiez gefragt werden. Nach Lefèbvres Theorie der Produktion des sozialen Raumes ist davon auszugehen, dass die mediale Berichterstattung über Neukölln Einfluss nimmt auf die Lebensräume der in Kapitel I-IV interviewten Musiker und vice versa (vgl. Lefèbvre 1991: 40, siehe Einleitung).

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1. N EUKÖLLN

ALS SOGENANNTER

P ROBLEMKIEZ

Wie der Roman Arabboy1 oder auch Detlev Bucks Film Knallhart (2006) – beide spielen in Neukölln – deutlich zeigen, wird der Kiez in Literatur und Kinofilm oft als Spielort ›knallharter‹ Lebenswelten begriffen. Berliner Tageszeitungen thematisieren den Kiez als »Unort par excellence«2: Kurznachrichten über Kriminalität3, Schlägereien4 und Verwahrlosung5 sowie Berichte über ein zwielichtiges Rotlichtmilieu6 ergeben aus zumeist zynischer Perspektive eine einseitige Collage des

1

Der Klappentext des 2008 erschienenen Romans von Güner Y. Balcı verspricht »eine Geschichte von Hass, Zerstörung und gescheiterter Integration. Ein intensiver, harter Bericht aus der oft zitierten […] Parallelgesellschaft, die für viele Jungendliche in Deutschland die bittere Realität ist«. (Vgl. Güner Balci Arabboy. Eine Jugend in Deutschland oder Das kurze Leben des Rashid A. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 2008) Saad schildert in seinem Buch seine Biographie »vom Gang-Mitglied zum Streetworker«. (Vgl. ebd., Der große Bruder von Neukölln. Freiburg: Herder 2008) Saad ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Buches als Quartiersmanager in Neukölln tätig (ebd.).

2

Ich übernehme diese Bezeichnung von Lanz, der die Perspektiven Berliner Politiker untersucht: »Neukölln scheint gegenwärtig den gesellschaftlichen Unort par excellence zu verkörpern, […] an dem sich alle debattierten Bedrohungen der Gesellschaft – Desintegration, Armut, Ausgrenzung, verrohende Jugend, Religionskonflikt, Gewalt – diskursiv zu einem gewaltigen sozialen und kulturellen Sprengstoff verdichten und räumlich materialisieren.« (Ebd. 2007: 251)

3

Berliner Morgenpost am 27.07.2010: »In Neukölln haben zwei Unbekannte […] ein Lokal überfallen, […] bedrohten Kellnerin und einen Gast mit einer Pistole […] [und] erbeuteten das Geld […].« Vgl. URL: www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/krimina litaet-kneipe-in-neukoelln-ueberfallen/1891574.html (letzter Zugriff am 14.02.2013).

4

Janovsky am 12.07.2010 in der Berliner Zeitung: »Vor dem Eingang reihen sich zehn Einsatzwagen, ein Aufgebot wie für einen Banküberfall. Wäre im Prenzlauer Berg ein voll besuchtes Schwimmbad wegen ein paar Rangeleien von Halbstarken geräumt worden? In Neukölln ist immer Gefahr im Verzug.« URL: www.berlinonline.de/berlinerzeitung/berlin/302657/302658.php (letzter Zugriff am 21.02.2013).

5

Spiegel Online am 17.12.2008: »Verschimmelte Lebensmittel, eine verdreckte Küche, kaum Kleidung: Die Berliner Polizei hat neun verwahrloste Kinder aus einer Wohnung [in] Neukölln geholt.« URL: www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,597105, 00.htm (letzter Zugriff am 29.02.2013).

6

»In Neukölln kann man sich zum Bier eine Frau dazubestellen. Die Anwohner sind zunehmend von den oft brutalen Straßen- und Anbahnungsgeschäften genervt«, schreibt Björn Trautwein in dem Artikel: »Ärger um Wohnungsbordelle in Neukölln« im Tip 2009 am 13.07.2009. K. Lange schreibt in der Morgenpost: »Die Bewohner befürchten,

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Bezirks. Die Süddeutsche Zeitung berichtet über die begriffliche Debatte um Hartz IV und stellt fest, dass der Begriff »Hartzer« im Sprachgebrauch Neuköllner Jugendlicher »verankert« sei. 7 Neuköllner Jugendliche werden dadurch als arbeitslos herumlungernde Bevölkerungsgruppe chiffriert. Unter dem Titel »Kiez der Extreme« charakterisieren die Autorinnen im Magazin Berlin Maximal Neukölln folgendermaßen: »Rütli-Schule, Parallelgesellschaften, Hartz-IV-Verelendung. Dazu kommt eine Arbeitslosenquote von knapp 21 Prozent, weit über dem Durchschnitt in Berlin und eine geringe Bildungsdichte. Bewohner aus rund 163 Nationen bevölkern den Kiez. Mit 28 438 Arbeitslosen liegt der Bezirk vor Mitte auf dem vorletzten Platz. […] Neukölln, so scheint es auf den ersten Blick, hat keinen Grund, auf eine positive wirtschaftliche Entwicklung zu hoffen.«8 Der Sozialwissenschaftler Patrick Baltzer macht darauf aufmerksam, dass neben Medien auch Politiker Stadträume herabsetzen, »indem sie ohne eigenes Erfahrungswissen Schlagworte, Schreckbilder oder Beleidigungen wiederholen […], [wobei] der Diskurs über Raum […] dabei nicht mit der Realität vor Ort übereinstimmen muss« (ebd. 1999: 82). Somit werden durch Aussagen von Politikern oder durch Beurteilungen anderer Experten wie Jugendrichtern die Vorstellungen von »ghettoartigen Zuständen in Neukölln« durch die lokale Presse noch verstärkt.9 dass ihr Kiez zum Rotlichtviertel wird«. URL: www.morgenpost.de/berlin/article112128 3/Warum_Buschkowsky_keine_Bordelle_schliesst.html (letzter Zugriff am 05.03.13). 7

So Tobias Dorfer in der Süddeutschen Zeitung: »In Berlin-Neukölln, so […] Buschkowsky, würden Jugendliche – nach ihrer Zukunftsplanung befragt – resigniert erwidern: ›Ich werde Hartzer.‹ Aus dem Sprachgebrauch ist das Wort nicht mehr wegzudenken. Hartz IV wurde mit dem Titel ›Wort des Jahres 2004‹ versehen – gewählt von der Gesellschaft für deutsche Sprache.« URL: www.sueddeutsche.de/wirtschaft/arbeitsmarkt-unserhartz-soll-schoener-werden-1.72883 (letzter Zugriff am 21.02.2013).

8

Guthke/Vogt in Berlin Maximal 04/2010 URL: www.berlin-maximal.de/magazin/repor tagen/art83,1387 (letzter Zugriff am 29.02.2013).

9

Bei Fragen zu »Bußgeldern für Schulschwänzer« sowie Informationen zu »Sozialbetrug« erhofft man sich durch Aussagen von […] Buschkowsky aussagekräftige Analysen: »Seine Analysen sind schonungslos […] über Hartz-IV-Empfänger, Migranten-Kinder und falsche Familienpolitik.« (Öchsner am 31.07.2009 auf URL: www.sueddeutsche.de/ geld/reden-wir-ueber-geld-bussgelder-fuer-schulschwaenzer-1.173072 (letzter Zugriff am 28.02.2013) Die Süddeutsche Zeitung schreibt am 20.07.2009: »In den Bezirken Neukölln und Wedding haben sich regelrechte Ghettos herausgebildet. Hier herrschen die Großfamilien, staatliche Vorschriften […] gelten wenig. […] Zurück im Kiez bleiben Hartz-IV-Empfänger, arabische Familien, die […] in engen Wohnungen hausen. Die Liste der Integrationsprojekte ist […] mittlerweile dick wie ein Buch […]. Wenn die Entwicklung so weitergehe, warnte […] Häußermann, dann würden in einem Jahrzehnt drei Viertel der Neuköllner in ›prekären Verhältnissen‹ leben. Was das bedeutet, kennt [die

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Baltzer erklärt die Darstellung Neuköllns als »vermeintlicher Schmuddel- […] und Verbrecherbezirk« durch eine »symbolische Ghettoisierung.« Darunter versteht er »[a]lle Diskurse, Praktiken und Redeweisen, die sich in strikter Abwertungslogik auf einen Stadtteil beziehen und diesen systematisch ›Herunter-Reden‹ oder ›Herunter-Schreiben‹ […]« (ebd.). Neukölln steht dadurch »[i]m offensichtlichen Gegensatz zu symbolisch stark aufgewerteten Gegenden in Mitte und Prenzlauer Berg« (ebd.). In den Prozessen der symbolischen Ghettoisierung vermutet Baltzer auch den Wunsch nach einem authentischen Bild, das die Metropole Berlin aus Sicht der Autoren brauche.10 In wissenschaftlichen Analysen wird auch ein US-amerikanischer Einfluss auf solche Diskurse konstatiert: Ronneberger erklärt, dass die »Vieldeutigkeit des deutschen Amerikabildes […] es bis heute möglich [mache], ganz unterschiedliche, sich zum Teil widersprechende Stereotype miteinander zu verbinden und als Projektionsfolie für deutsche Verhältnisse zu benutzen« (ebd. 1998: 84).11 Sambale/Veith beschreiben in Bezug auf die Debatten, welche die »Marginalisierung bestimmter Teile der städtischen Gesellschaft« verstärken, eine unreflektierte Übernahme US-amerikanischer Bilder und Begriffe, bei der die »stark abweichenden rechtlichen, sozio-ökonomischen, kulturellen und räumlichen Rahmenbedingungen« außer Acht gelassen werden (ebd. 1999: 43-54).12 Neukölln ist somit

Jugendrichterin] Kirsten Heisig aus eigener Anschauung. [...] ›In einigen Straßenzügen des Bezirks sind die Zustände unterirdisch‹, sagt sie. ›Es wird dort immer ghettoartiger‹«. URL: www.sueddeutsche.de/panorama/clans-in-deutschland-verpisst-euch-vonhier1.175 082-2 (letzter Zugriff am 15.03.2013). Demgegenüber berichtet Bocheinski in der Jungle World über ein deutsch-französisches Austauschprogramm mit Schwerpunkt Integration und Bildung und fragt: »Was haben Neukölln und Clichy-sous-Bois gemeinsam? Außer, dass sie als ›soziale Brennpunkte‹ gelten, ziemlich wenig.« (Ebd. 2010: 10) 10 »Derselbe Diskurs-Prozeß [wie für den der Gentrifizierung] existiert auch mit umgekehrtem Vorzeichen als symbolische Abwertung von sozialem Raum. Ein Stadtteil wird zum Problemgebiet, zum ›Slum‹ oder ›Ghetto‹ stilisiert, und je größer die soziale Distanz, desto wahrscheinlicher ist es, daß die Bilder und Urteile nicht auf tatsächlicher Erfahrung, sondern auf imaginärem Wissen beruhen.« (Baltzer 1999: 83) 11 »[I]m gegenwärtigen […] Diskurs spielen die US-amerikanischen Verhältnisse eine bedeutende Rolle. Nicht nur kommen die neuen Theorien der Stadtentwicklung häufig aus den USA, mehr noch scheinen sich dort für manche die Entwicklungen abzuzeichnen, die früher oder später auch in der Bundesrepublik bestimmend sein werden.« (Ebd., 84) 12 Eine »unmittelbare Übertragung der US-Situation auf bundesdeutsche Verhältnisse« hinke jedoch »in mehrfacher Hinsicht« (ebd., 47). »Selbst wenn man unterstellt, daß die Dynamik urbaner Restrukturierung in den USA zeitlich vorausläuft und bisher schon manche strukturelle Analogie feststellbar war, negiert man damit die unterschiedlichen

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»keinesfalls ein ›Berliner Ghetto‹« (Baltzer 1999: 33) und die Übernahme USamerikanischer Bilder auf Neuköllner Verhältnisse ist nicht gerechtfertigt. Nach der begrifflichen Debatte um »Ghetto« können in der Diskussion um sogenannte Gentrification vergleichbare Übertragungsprozesse in den medialen Außendarstellungen des Kiezes beobachtet werden (siehe auch Kapitel II).

2. K IEZ DER V IELFALT ODER DIE E VENTISIERUNG VON D IFFERENZEN In Bezug auf den Bildungsbereich wird der Kiez durch die mediale Presse immer noch mit Vorstellungen von »notorischen Schuleschwänzer[n]«13 und »Elternabende[n] ohne Eltern«14 besetzt. Doch Ausführungen um gewalttätige Schüler im Rahmen der Rütli-Hauptschule ebben langsam ab. Antagonistisch zu stereotypen Vorstellungen macht das Vorzeigeobjekt »Rütli-Schule« 2010 als innovatives Experimentierfeld15 oder 2011 als Theaterstätte16 Schlagzeilen. Das Viertel Neukölln dient nach Lanz dazu, »um nahezu alle Probleme und Konflikte im Einwanderungskontext zu thematisieren« (ebd. 2007: 250). Stilisiert

sozialstaatlichen und stadtentwicklungspolitischen Traditionen und die stark abweichenden rechtlichen, sozio-ökonomischen […] und räumlichen Rahmenbedingungen.« (Ebd.) 13 So die Morgenpost am 10.02.2009: »Die Zahl der Schulschwänzer in Berlin-Neukölln ist alarmierend hoch. Jetzt will der Schulstadtrat des Bezirks hart durchgreifen. Jugendliche, die dauerhaft der Schule fern bleiben, sollen künftig in einem Heim untergebracht werden […].« URL: www.morgenpost.de/berlin/article1031559/Neukoelln_eroeffnet_Heim_fuer _notorische_Schulschwaenzer.html (letzter Zugriff am 29.02.2013). 14 Das Magazin Political Incorrect schreibt 2008: »Elternabende ohne Eltern. Volles Haus bei Elternversammlungen gibt es wohl nur noch im spießbürgerlichen Stadtrandmilieu. In den durch Zuwanderung aus dem arabischen und türkischen Raum besonders bereicherten Berliner Bezirken Neukölln, Wedding […] ist das Engagement von Eltern für die schulische Bildung ihrer Kinder traditionell nicht besonders ausgeprägt.« URL: www.pinews.net/2008/12/neukoelln-elternabende-ohne-eltern/ (letzter Zugriff am 12.02.2013). 15 Fabian Dietrich schreibt im Magazin der Süddeutschen Zeitung 14/2010: »Die Berliner Rütli-Schule galt als schlimmste Schule Deutschlands. Seit vier Jahren versuchen Politiker, Pädagogen und Architekten, sie zu retten. Ein Experiment, das zeigt, wie man vielleicht ganzen Stadtvierteln helfen kann.« URL: www.sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/ anzeigen/33349 (letzter Zugriff am 12.02.2013). 16 Stefan Straus schreibt in der Berliner Zeitung am 25.11.2011: »Schauspieler des MaximGorki-Theaters arbeiten zurzeit in Neukölln. Sie proben mit Jugendlichen der RütliSchule ein Theaterstück über das Lernen«. (Ebd.)

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als »Ausländerviertel« und als »das größte Sozialamt Deutschlands« fungiert der Bezirk als Beispiel für das Scheitern von Integrationspolitik (ebd., 249).17 Dementsprechend sieht der Neuköllner Bürgermeister 2010 einem Zeitungsartikel zufolge auch die »größten Schwierigkeiten für den Bezirk« in dem hohen »Bevölkerungsanteil von Menschen mit Migrationshintergrund«, welchen es in seiner Form von »bestehenden Parallelgesellschaften zu überwinden« gilt.18 »Die Zukunft Neuköllns als eine bunte, offene, solidarische und demokratische Gemeinschaft« steht für den Neuköllner Bürgermeister in einem Gegensatz zum Zustand »bestehender Parallelgesellschaften« (ebd.). Dieses zukünftige Idealbild, das der Politiker sich für Neukölln wünscht, wird zu bestimmten Gelegenheiten bereits perfekt in Szene gesetzt. Am Beispiel des »Karneval der Kulturen«19 zeigt sich der Kiez als bunte und offene Gemeinschaft und präsentiert eine konsumierbare »Vielfalt kultureller Differenz« (Knecht 2005: 26 nach Färber 2005: 13). An Beschreibungen des Events »als Metapher für einen gelebten Multikulturalismus« (Lanz 2007: 194) oder als »[d]ie bekannteste und erfolgreichste Umsetzung ethnischer Repräsentation« (Färber 2005: 13) zeigt sich, dass die ›Vielfalt‹ im Kiez Voraussetzung für die Umsetzung des Karneval der Kulturen ist. 17 »Die Rede ist […] von ›Kulturkonflikten‹, ›mangelnder Integrationsbereitschaft‹ und der immer stärkeren Heraustrennung einzelner Gruppen aus einer deutschen Leitgesellschaft, die zur Entstehung sogenannter ethnischer ›Parallelgesellschaften‹ sowie Gewalt- und Kriminalitätsproblemen führten. Alles in allem deuten diese Debatten nicht auf die Entproblematisierung kultureller Vielfalt, sondern eher auf die ›Thematisierung kultureller Vielfalt als einem gesellschaftlichen Desintegrations- und Destabilisierungsfaktor‹«. (Keller 2005: 68) 18 Guthke im Gespräch mit Bezirksbürgermeister Buschkowsky in Berlin Maximal 04/2010: »In zehn Jahren wird Nord-Neukölln ein Gemeinwesen sein, in dem etwa 75 % der Einwohner einen Migrationshintergrund haben werden. Wenn wir wollen, dass Berlin-Neukölln auch in der Zukunft […] auch in den Köpfen und Herzen der Menschen mitten in Europa liegt, dann müssen wir mit unserer Politik heute dafür die Weichen stellen. Das heißt konkret, das Wertegerüst unserer Bürgergesellschaft, bestehend aus den Grundpfeilern der Würde jedes Einzelnen, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Gewaltfreiheit auch in der Familie, darf nicht zur Disposition stehen. Die Zukunft Neuköllns als eine bunte, offene, […] demokratische Gemeinschaft hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, die bestehenden Parallelgesellschaften zu überwinden.« URL: www.berlin-maximal.de/magazin/reportagen/art83,1389 (letzter Zugriff am 12.02.2013). 19 »Der Karneval der Kulturen zog erstmals 1996 durch Kreuzberg und entwickelte sich seither zu einem jährlichen Megafestival, das über die nationalen Grenzen hinaus als touristische Attraktion ausstrahlt. […] Ein verblüffender öffentlicher Konsens begrüßt den Karneval als Metapher für einen gelebten Multikulturalismus. Initiiert von der Neuköllner Werkstatt der Kulturen.« (Lanz 2005: 194)

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Azzi u.a. hegen keinen Zweifel an »cultural diversity«,20 doch müssen die Konsequenzen einer damit verbundenen bewussten Aufrechterhaltung ethnischer Identitäten aus Sicht der Immigranten hinterfragt werden.21 »Weltbürger Neukölln«. Eine Ausstellung Anlässlich des 650. Geburtstag des Kiezes und mit der finanziellen Unterstützung der »Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« und des »Fonds Soziokultur« entstand im Sommer 2010 die Ausstellung »Weltbürger Neukölln« in der Galerie im Saalbau, der Presseerklärung nach im Rahmen eines »partizipatorischen Prozesses«.22 Mit einem Fokus auf die »160 Nationen« im Kiez und »im multikulturellen Gemeinwesen« porträtiert die Ausstellung die Lebenswege von vierzehn »Neuköllnern aus aller Welt« (ebd.). 20 »There is no doubt that most societies and states are nowadays culturally diverse. This observation has recently produced much theoretical and empirical interest across several social science disciplines. The debates revolve around [...] Western democracies’ capacity to adapt to what is being described as a problematic increase in cultural diversity, threats to peaceful coexistence of culturally dissimilar communities within a single political entity with a supposedly superordinate collective identity, and the related inability to ›integrate‹ these various communities into one common social-political structure and identity. [...] the interest in the political fate of culturally diverse societies cannot […] be considered to be comprehensible through the theoretical or methodological lenses of a single discipline.« (Azzi u.a. 2011: 1) 21 »What are the consequences of immigrant choices to maintain their ethnic identity and tradition in the new society as well as the consequences of receiving populations’ choices? Is there a strategy that is most successful? [...] The main argument here is that maintaining immigrants’ ethnic identity and participation in ethnic networks, […] and granting them full citizenship, recognizing their right to maintain their identity, and constructing history with reconciliation in mind, […] are important facilitators of integration and harmonious coexistence.« (Azzi u.a. 2011: 3) 22 »Die Ausstellung ist vorläufiges Ergebnis eines partizipativen Prozesses, in dem sich eine Gruppe von Neuköllnern regelmäßig zusammen fand, um Antworten auf die schwierige Frage danach zu finden, wie Geschichtserinnerung in einem Gemeinwesen aussehen muss, in dem Menschen aus über 160 Nationen zusammen leben. Die Ausstellung bietet nicht nur Einblicke in die bewegenden Lebensgeschichten einiger Neuköllner selbst – aus der Perspektive von Jugendlichen erfahren die Besucher auch etwas über den Umgang mit unterschiedlichen Traditionen und Geschichtsbezügen im multikulturellen Gemeinwesen.« (Pressetext zur Ausstellung »Weltbürger Neukölln«, Kulturamt Neukölln, einsehbar

unter

URL:

www.kulturneukoelln.de/client/media/184/07_weltbrger.pdf

(letzter Zugriff am 21.02.2013).

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Was die Organisatoren unter »Partizipation« verstehen und der Begriff »Weltbürger« im Titel der Ausstellung wird nicht näher erläutert. Roberts zufolge weckt das Konzept des Weltbürgertums auf nostalgische Art und Weise Fantasievorstellungen von Kosmopolitisierung.23 Hondrich erkennt die Perspektive des Weltbürgers als Teil »eines modernen Lebensgefühls, das Probleme ganz im kleinen, »individuell«, oder im großen, im […] weltgesellschaftlichen Verbund lösen will« und »Ethnizität und Nationalität« im Sinne »kollektiver Identität« als »irrationale Konstrukte« betrachtet (Hondrich 2001: 112, 113).24 In diesem Sinne ›individuell‹ und ›weltoffen‹ präsentiert sich die Ausstellung »Weltbürger Neukölln« und impliziert damit eine Vorreiterrolle des Kiezes, die sich vom althergebrachten »multikulturellen Gemeinwesen« Neuköllns abheben zu wollen scheint. Das Kunstfestival »48 Neukölln« Partizipation spielt beim Kunstfestival »48 Stunden Neukölln«, an welchem auch einige interviewte Akteure im Reuterquartier teilnehmen (Kapitel I), eine eher untergeordnete Rolle. Der Verein »Kulturnetzwerk«, der das Festival ausrichtet entstand als Reaktion auf den Spiegel-Artikel »Endstation Neukölln«25 1997. Dieser

23 »Academic debates about cosmopolitanism notwithstanding, what we might call a cosmopolitan imaginary – in the old-fashioned, theory-of-the-leisure-class sense of the term – has been emerging within the global culture industry, paradoxically in proportion to a waining of the very socio-economic distinction associated with it. It could be argued, indeed, that today’s global tourists are in many ways re-living, often in an overtly nostalgic mode, a fantasy-version of cosmopolitanism previously only available to social elites. It is, in any event, with the idea of cosmopolitanism, or what could be called a cosmopolitan imaginary, [...].« (Roberts 2005: 577) 24 »Unser Idealtyp kollektiver Identität ist der Neue Mensch als Weltbürger – und, als Vorstufe, der Europäer, der sich mit allen Menschen gleichermaßen verbunden weiß. Er läßt sich nicht von Zufälligkeiten und Vorlieben seiner Herkunft leiten, sondern von einer universalistischen Ethik, deren Gebote der Gleichheit […] Toleranz, Friedfertigkeit unterschiedslos für alle und überall gelten sollen. […] Individualisierung als zunehmende Wählbarkeit aller sozialen Bindungen und Kosmopolitisierung als Auflösung aller herkömmlichen Grenzen gehören zusammen. […] Die Zukunft des Kosmopolitanismus ist auch die Zukunft von Nationalität und Ethnizität« (Hondrich 2001: 112ff., 127) 25 »(Der Spiegel Nr. 43/1997). Darin wurde Neukölln als Hochburg krimineller Unterwelten und als Gewalt und Angst verbreitendes städtisches Schreckensszenario beschrieben. Die stark abwertende Darstellung des Bezirks ›am Rande des Bürgerkriegs‹ rief eine Protestwelle von Neuköllner Bürgern und Vereinen hervor, die sich in der Darstellung ihres Wohnbezirks keineswegs wiederfanden.« (Baltzer 1999: 82)

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Artikel veranschaulicht Baltzer zufolge einen »der bisherigen Höhepunkte der symbolischen Ghettoisierung Neuköllns […]« (ebd. 1999: 82). Guido Müller, Vorstand des Kulturnetzwerks nennt diesen Artikel in einem Interview als ausschlaggebend für die Gründung seines Vereins.26 Das Kunstfestival »48 Stunden Neukölln«27 entstand aus der Motivation, »eine Gegenwelt aufzuzeigen, die es in Neukölln gibt und die halt in der Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen wurde« (Müller in einem Interview am 01.11.2008). Durch den Fokus auf bildende Kunst spielt Musik bei dem Festival nur eine untergeordnete Rolle, was Müller durch den unterschiedlichen finanziellen Aufwand erklärt.28 Neben der geografischen Eingrenzung von »48 Stunden Neukölln« auf ein explizit Nordneuköllner Publikum29, wird 2001 mit der Trennung des Festivals vom Straßenfest auf der Karl-Marx-Straße, das »eine andere Klientel ansprach«30, auch eine soziale Abgrenzung sichtbar. Beim Nachhaken, für wen »48 Stunden Neukölln« sei, wenn nicht für die kirmesorientierten Anwohner, antwortet Müller:

26 In diesem Artikel »ging es um die unhaltbare Situation in Neukölln – Stereotyp Trainingshose, Bulldogge, Drogenhändler, Mord – in dem Umfeld bewegt sich auch diese Berichterstattung«. (Müller in einem Interview am 01.11.2008) 27 »48 Stunden Neukölln ist ein zweitägiges Festival, bei welchem an diversen Orten Neuköllns primär Veranstaltungen aus dem Bereich der bildenden Kunst für Kinder, Jugendliche und Erwachsene stattfinden. Das Programm ist interdisziplinär angelegt mit allen Sparten von Führungen, Musik, Tanz, Performance, Lesungen mit dem Schwergewicht auf bildender Kunst. 1999 fanden an fünfundzwanzig Orten mehr als 100 Veranstaltungen statt mit ca. 300.000 Besuchern. […]. Seitdem hat sich die Größe des Festivals von Jahr zu Jahr in Veranstaltungen, Veranstaltungsorten sowie Teilnehmern und Besuchern potenziert.« (Müller in einem Interview am 01.11.2008) 28 »[Gerne Musik], aber wir sind kein Musikfestival. Das Problem bei Musik ist, dass da Gagen bezahlt werden müssen, bei bildender Kunst nicht.« (Ebd.) 29 Das Kunstfestival bezieht sich auf den Teil Neuköllns innerhalb des S-Bahnrings, was Müller so erklärt: »Ab S-Bahnring ist Südneukölln. […] die, die die S-Bahn noch hören und auf der falschen Seite sind, dürfen noch mitmachen. Da sind noch zwei, drei Parallelstraßen, die noch mitmachen, aber da kommt dann erst mal eine große Lücke sowieso bis Schloss Britz. Das war auch nicht meine Entscheidung, aber ich denke, dass das eine richtige Entscheidung war.« (Ebd.) 30 Müller erklärt: »Ja, die Kirmes, das Volksfest auf der Karl-Marx-Straße, lief parallel. War sicherlich auch Teil dessen, aber passte dann auch irgendwann nicht mehr zusammen, und 2001 wurden beide getrennt. Es gibt auch weiterhin Straßenfeste, [die] jede Straße [hat], wo immer auch eine andere Klientel angesprochen wird, die Klientel von ›48 Stunden‹ ist dann stärker auf Kunst und Kultur zugespitzt worden.« (Ebd.)

240 | »T IEF IN N EUKÖLLN « »Also das Publikum ist schon die Einwohnerschaft Neuköllns, mit allen Problemen, die damit verbunden sind; hohe Migration, bildungsferne Menschen, die hier leben. Das heißt, es ist nicht einfach, die zu kriegen. Man kann jetzt nicht sagen: ›Wir machen jetzt Kultur für euch und kommt und freut euch, das ist zeitgenössische Kunst und versteht sie!‹, das wäre doch total klasse. [Aber] relativ naiv so was zu denken […]. Das ist uns klar. Aber wir haben spezielle Bemühungen in verschiedenen Projekten [und] Jugendprojekte, die hier gesellschaftlicher Probleme bewusst sind und mit Mitteln der Kunst […] eingreifen. Und es gibt auch Versuche, Migranten einzubinden, indem man auch multi-ethnische Künstler […] einlädt. Und es gibt auch die ›Bewegten Welten‹ auf dem Richardplatz von der ›Werkstatt der Kulturen‹, die soziokulturell partizipatorische Projekte sind. Wenn ich meine Nachbarn für irgendwas interessiere, dann sieht das ganz anders aus, als wenn ich hier jetzt ein gutbürgerliches Publikum […] dadurch erfreue, dass ich Konzeptkunst ausstelle. Das soll beides parallel [und] für jeden was dabei sein. Und wir können das auch gar nicht so richtig steuern, weil wir ja nicht jurieren, sondern es ist ja so ein Festival: Jeder darf mitmachen! Wenn er es denn schafft, die Organisation hinzukriegen, das nötige Engagement mitbringt und die Finanzkraft auch hat, weil wir nur sehr wenig finanziell unterstützen können. Von daher sind wir auch immer sehr überrascht, was passiert.« (Ebd.)

Zwar ist »48 Stunden Neukölln« für alle Neuköllner angelegt, doch ist sich Müller der Problematik bewusst, dass das Kunstfestival nicht alle Bewohner gleichermaßen erreichen kann. Stellt sich die Vermittlung von Konzeptkunst für Müller im Kiez eher als schwierig heraus, benennt er auf der anderen Seite das Vermögen von Kunst in gesellschaftliche Probleme einzugreifen. Während der Großteil der teilnehmenden Künstler ihre künstlerischen Vorhaben selbst tragen, stellt das Bezirksamt finanzielle Mittel explizit für »partizipative Projekte« zur Verfügung.31 Partizipation spielt also auch bei »48 Stunden Neukölln« eine Rolle, selbst wenn durch Herrn Müller deutlich wird, dass die Verschränkung der Pole Kunst und Gesamtgesellschaft in Neukölln als schwierig empfunden wird. Müller kann auf ein internationales Renommee des Kunstfestivals blicken: »50 Prozent der Besucher kommen nicht aus Neukölln, und dank Internet und unserer englischsprachigen Homepage sind hier auch viele Touristen […]. Sehr viele […] Kulturtouristen aus Übersee oder Europa schauen, was in der Stadt los [ist]. Berlinmarketing warnt die Touristen immer noch, nach Neukölln zu gehen. Wenn die dann am Zoo […] nach ›48 31 Auf dem ersten Großtreffen für das 2009 stattfindende »48 Stunden Neukölln« im Herbst 2008 kreisen viele Fragen um die Finanzierung von Kunstprojekten. Es können Anträge gestellt werden, die jedoch nur in seltenen Fällen berücksichtigt werden können, da sich das Festival durch die Mitarbeit der Bürger trägt und auch finanziert. Eine ExtraFördergeldsumme kommt jedoch Projekten zugute, die explizit ›partizipatorische‹, ›interkulturelle‹ Ziele setzen (CH).

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Stunden‹ fragen, [wird] ihnen gesagt […]: ›Da würde ich nicht hinfahren!‹. Das [Bild] wird sich sicher sehr wandeln. […] im Kunstraum t 27 haben wir in den letzten 3 Jahren 1140 Leute aus dreißig Nationen ausgestellt, von denen die wenigsten extra nach Berlin gekommen sind. Es kam eine Frau aus Toronto, eine Frau aus Barcelona, die gekommen ist, um auszustellen [und auch] aus Hamburg, Köln, Trier, aber die meisten sind dann doch aus Neukölln, [aber] auch zunehmend Künstlergruppen aus Polen, Frankreich, Spanien, die […] hier etwas realisieren und dann wirklich kommen […] und das dann durch langjährige Kontakte. Wir sind räumlich beschränkt, aber inhaltlich nicht. Die Welt kann gerne kommen. […] Es ist halt sehr lokal und auf der anderen Seite sehr global.« (Ebd.)

Müller prognostiziert einen Wandel in der Darstellung und Art, wie Leute über Neukölln sprechen und führt dies auch auf den Erfolg des Festivals zurück. Den Künstlern aus Übersee und den restlichen europäischen Ländern gegenüber zeigt er sich offen für die Realisation von Kunstprojekten auf dem Festival. Formuliert er eine globale Offenheit des Festivals, impliziert er gleichzeitig eine lokale Geschlossenheit in Bezug auf die Nordneuköllner Räume und Galerien innerhalb des S-Bahnrings. Während das Festival also weltweit Anhänger hat, die Künstlerkreisen und dadurch bildungsnahen Schichten zuzuordnen sind, sollen auf lokaler Ebene »partizipatorische Projekte« wirksam werden. Die Frage nach Partizipation in Neukölln Die Sozialwissenschaftler Eckardt/Merkel hinterfragen die »positive soziale Wirkung« interkultureller Maßnahmen und Projekte für die Entwicklung des Stadtbezirks und konstatieren imagebildende Effekte, »da Nord-Neukölln durch diese sichtbare Multiethnizität und kulturelle Vielfalt als authentisch wahrgenommen« werde, was wiederum den Tourismus im Kiez fördert (ebd. 2010: 90). Aber welchen Auftrag erfüllt »Partizipation«? Mit einem kurzen Verweis auf die »Gewalt an Schulen […], etwa der RütliSchule in Neukölln« versuchen die Sozialpädagogen Geisen/Riegel eine Begriffsbestimmung für Partizipation (vgl. ebd. 2007: 9). Wird Partizipation im Allgemeinen »als politische Beteiligungsform […], als Wahlbeteiligung, bzw. der Einbindung von Individuen oder Organisationen in Entscheidungs- und Willensprozesse« verstanden, ziehen die beiden Autoren auch »Formen der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe, als Verfügung über soziale Ressourcen und Möglichkeiten der Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens« in ihre Definition dieses Terminus’ mit ein (ebd.). Zwar machen sie auf die Stigmatisierung »Jugendliche[r] mit Migrationshintergrund« als »ethnisch Andere« (ebd., 9-14, 19)32 aufmerksam, 32 »Die aufgezeigten Formen der auf Nation und (National-)Staatlichkeit beruhenden sozialen Konstruktion von Jugendlichen mit Migrationshintergrund […] reproduzieren

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doch formulieren Geisen/Riegel weiterhin klare Bedingungen für eine »erfolgreiche Partizipation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund« (ebd., 8).33 Dabei muss gefragt werden, von welchem »Individuum« die Autoren und andere Verfechter »partizipativer Projekte« ausgehen, wenn die betreffenden Jugendlichen in der »Positionierung als Minderheitenangehörige« (ebd.) betrachtet werden. Die Pädagogen Krüger-Potratz/Reich/Santel umschreiben Partizipation als eine aktive Mitgestaltung von »Minderheitengesellschaften« am gesellschaftlichen Leben – als Voraussetzung und Werkzeug zur »Integration«.34 Der Begriff »Partizipation« wie jener der »Integration« impliziert einen Glauben von Inkompatibilität verschiedener Identitäten, die es durch partizipative Projekte aufzuheben gilt (vgl. Chryssochoou/Lyons 2011: 77). Aber wie kann eine »aktive Teilhabe« vor dem Hintergrund einer Mehrheits- und Minderheitengesellschaft überhaupt funktionieren?35 Die durch die Ausstellungstitel »Weltbürger Neukölln« implizierte Weltoffenheit schafft nach Hondrichs Perspektive der Kosmopolitisierung erst ethnische und nationale Identitäten, deren Herkunftsbindungen einen Schwerpunkt ausmachen (vgl. Hondrich 2001: 114). Partizipative und künstlerische Intervention »die sich lediglich auf das Erarbeiten von Problemlösungen beschränkt, funktioniert als affirmatives Krisenmanagement im Interesse des Staates und sichert damit ein Fortbestehen gesellschaftlicher Ungleichheiten, also immer auch bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Ein entscheidendes Mittel hierzu bilden die Prozesse der Abwertung und Ausgrenzung des ›Anderen‹, bzw. genauer der Konstruktionsprozesse von ›ethnisch Anderen‹.« (Geisen/Riegel 2007: 19) 33 »[Dabei ist es] wichtig zu berücksichtigen, dass die Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund unter mindestens zwei Perspektiven zu betrachten ist: Erstens als Integration in Bezug auf ihre soziale Positionierung als Minderheitenangehörige [...] in der Gesellschaft. […] Dieser Integrationsprozess umfasst die Seite des Individuums, dessen Aufgabe es ist, sich die für das Leben in Gesellschaft mit anderen erforderlichen Kompetenzen, wie Sprache, kulturelle Regeln, Normen oder Qualifikationen, anzueignen.« (Kreckel 1994: 16ff. nach Geisen/Riegel 2007: 8) 34 »Integration

kann

ohne

Partizipation

nicht

gelingen«,

resümieren

Krüger-

Potratz/Reich/Santel und fragen: »Wie können Selbsthilfepotenziale der Zuwanderinnen und Zuwanderer aktiviert werden? Wieweit ist schon die interkulturelle Öffnung der Institutionen der Einwanderungsgesellschaft gelungen?« (Ebd. 2002: 9ff.) 35 »In multicultural societies, majorities ask minorities to make claims about their ethnic and national self. By refusing to recognize them as full members of the national group, they consilidate their own power [...] and their status within the national group.« (Chryssochoou/Lyons 2001: 80) »So sehr sich auch der einzelne Migrant Sprache, Regeln und Wertorientierungen des aufnehmenden Landes zueigen machen kann, hängt es doch nicht von ihm allein ab, ob es im Aufnahmeland gegenüber Fremden Vorbehalte und Zurückweisungen gibt […].« (Hondrich 2001: 119f.)

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statt alternative gesellschaftliche Räume zu öffnen« (Lewitzky 2005: 124). Auf politischer Ebene offenbart die mediale Außendarstellung partizipativer Projekte Wunschbilder von der Neuköllner Gesellschaft als harmonisch koexistent und »inklusiv demokratisch«.36 Kein Nghi Ha beobachtet eine spezifische Event- und Erlebniskultur, die mit der Ablösung des Multikulturalismus durch ein »re-integrierendes Gesellschaftsmodell« einhergeht und welche die ästhetische Darstellung des »Anderen« als neues Ideal betrachtet.37 Auch der »multikulturelle Denkstil, den der Karneval verkörpert, geht von einer klaren Unterscheidbarkeit verschiedener Kulturen aus, die nebeneinander koexistieren« (Knecht 2005: 26). In ihrer positiven Umdeutung tragen diese »produktiven Differenzen«38 zur Unterhaltung und Konsumtion im Kiez und des Kiezes bei. Parallel dazu konnte die Vorstellung von Unterschieden als Inspirationsquelle für künstlerische Praktiken anhand der Perspektiven von Musikern in Kapitel II identifiziert werden. Die vom Kulturamt Neukölln initiierten partizipativen Projekte und andere multikulturelle Events in Neukölln können in dieser Perspektive gegenwärtig auch als gezielte »kulturelle Vermischungen« betrachtet werden, welche »unerwartete und begehrenswerte Resultate produzieren und Möglichkeiten zur Erweiterung des dominanten Selbst durch die marginalisierten Anderen schaffen« (Ha 2005: 60), wobei gar nicht klar ist, wer diese Gruppe der »Anderen« ist und eigentliche soziale Differenzen ausgeblendet werden.

36 Myria Georgiou untersucht die Medienrepräsentation von »Diversität« und prognostiziert: »[I]n cultural diverse societies like those of Western Europe and North America, fair representation of different social and cultural groups is a prerequisite for an inclusive democracy« (ebd. 2010: 183). 37 Der Multikulturalismus war nach Ha noch durch »absolute Differenzen« charakterisiert: »Kann der Trend zur interkulturellen Event- und Erlebniskultur als eine ästhetische Übersteigerung struktureller Ressourcenentzüge und normalisierter Gewalt in den globalen wie lokalen Zusammenhängen verstanden werden, die einen idyllisch-harmonischen Anstrich erhalten?« (Ebd. 2005: 60) 38 »Anstatt das differente Andere wie früher als abzulehnende Konkurrenz oder fremdartige Bedrohung anzusehen, ermöglicht Differenz nun das neue Ideal der endlosen Pluralisierung und Grenzüberschreitung kultureller Sphären. […] Entsprechend wird die ›Entdeckung‹ von produktiven Differenzen in der gegenwärtigen Aufbruchsstimmung als Eintrittsportal zu einer aufregenden Welt der Hybridität betrachtet, die es zu kultivieren und nutzbar zu machen gilt.« (Ha 2005: 60)

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3. N EUKÖLLN IN T RANSFORMATION . Ü BER G ENTRIFIERUNG , KREATIVE S PANNUNGEN UND SUBKULTURELLEN I MPERIALISMUS Das Reuterquartier als Zentrum des Wandels In einer vom Bezirksamt Neukölln 2008 in Auftrag gegebenen statistischen Erhebung stellen die Berliner Stadtsoziologen um Häußermann den nördlich gelegenen Reuterkiez als Ausnahmeerscheinung gegenüber den restlichen »Verkehrszellen«39 dar. Die exakten Grenzziehungen, die Neukölln in einzelne Quartiere zerlegen, bilden bei der Untersuchung die Grundlage für die Zuschreibung unterschiedlicher demographischer Werte in verschiedenen Quartieren. Zwar verfestige sich der Studie nach ein »Armutsniveau«40 in Neukölln, doch ist in zwei Zellen eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten, so auch im Reuterquartier.41 Weiterhin vermerkt die Studie für diesen Kiez einen starken Rückgang an Kindern unter 6 Jahren, den die Autoren durch den erhöhten Zuzug junger Menschen (noch) Kinderloser begründen (Häußermann/Kapphan/Förste 2008: 14). Die Stadtsoziologen verweisen auf die »Attraktivität [des Kiezes] auch für Zuziehende«, der auch den Rückgang des Wanderungssaldo der Bewohner deutscher Staatsbürgerschaft erklärt (ebd.). Die Gründe für die als positiv verstandene Entwicklung interpretieren die Stadtsoziologen in der im selben Jahr erschienenen Trendanalyse der Entwicklung von Neukölln und Neukölln-Nord durch den »signifikanten Lageeffekt« des Reuterquartiers, also der Nähe zu den sich in Aufwertung befindlichen Gebieten in Kreuzberg.42 Doch räumen die Soziologen ein, dass die Neuansiedlungen auch die als

39 Stadtsoziologischer Begriff für Quartier, siehe auch Einleitung. 40 Somit sei eine Dichte der sozialen Probleme in Neukölln-Nord etwa doppelt so hoch wie in der Gesamtstadt und die Arbeitslosigkeit in Neukölln größer als der Berliner Durchschnitt (vgl. Häußermann/Kapphan/Förste 2008: 9). 41 Den Stadtsoziologen zufolge verzeichnet das Reuterquartier im Vergleich zu anderen Verkehrszellen Neuköllns, welche am allgemeinen Rückgang der Arbeitslosigkeit kaum teilhaben, zwischen 2002 und 2006 eine Verminderung der Erwerbslosigkeit um exakt 100 % (vgl. ebd., 14). 42 Neukölln sei auf zweifache Weise von einer »Aufwertungsdynamik« in Kreuzberg betroffen: Einerseits verringere sich eine Problemdichte in den an der Grenze zu Kreuzberg liegenden Quartieren durch das Ausweichen von Haushalten, die die Nähe zum Kreuzberger Milieu suchen; andererseits werden einkommensschwache Haushalte aus Kreuzberg verdrängt, die dann in den übrigen Quartieren von Neukölln-Nord die Problemdichte erhöhen. Der Sanierung von Häusern und der Ansiedlung von Kleingewerbe folgte der Zuzug von jungen Leuten (vgl. Häußermann/Dohnke/Förste 2008: 12).

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problematisch betrachtete Struktur des Quartiers nicht ausgleichen könne (Häußermann/Dohnke/Förste 2008: 12). Insbesondere Erwerbstätige und einkommensstarke Eltern würden spätestens zum Zeitpunkt der Einschulung ihrer Kinder aus dem Bezirk abwandern (ebd., 13-14). Bilden die von Stadtplanern gezogenen Grenzen die Grundlage der demographischen Untersuchung der einzelnen Quartiere Neuköllns, werden in einem weiteren Schritt explizite Schlussfolgerungen über spezifische Charakteristika jeder einzelnen »Quartierszelle« festgestellt. Ronneberger bewertet die Konsequenzen stadtsoziologischer Methoden so: »Das Thema Immigration wird von der bundesrepublikanischen Stadtsoziologie noch immer vorwiegend aus der Perspektive empiristischer Ansätze behandelt. Vorliegende Analysen beschränken sich weitgehend auf demographische Erhebungen und Arbeitsmarktstatistiken, die darüber Aufschluß geben sollen, in welchen Stadtteilen und Segmenten des Arbeitsmarktes wieviele Ausländer welcher Nationalität wohnen und arbeiten. Die theoretische Konstruktion des Forschungsgegenstandes […] reproduziert dabei nicht selten die verschiedensten institutionellen, nationalstaatlich verankerten Kategorisierungen, über die Migranten […] als ›ausländische Bevölkerung‹ von der ›nationalen Bevölkerung‹ separiert und in spezifischer Weise diskriminiert werden.« (Ebd. 1998: 88)

Aber vor allem stadtsoziologische ›Monitorings‹, aus denen sich eine vermeintliche Zukunft und ein realistisches Bild Neuköllns ableiten lassen soll, wirken beweiskräftig für ein Außenbild Neuköllns. Die statistischen Ergebnisse fungieren einerseits als wertvolle Daten für die Stadtplanung zur Gründung von Quartiersmanagements in den Nordneuköllner Quartieren, wodurch beispielsweise auch die Entscheidungen für spezifische ›interkulturelle‹ Konzepte des Kulturamts erklärbar werden. Andererseits dienen die soziologischen Daten als Grundlage für andere Medien, wie beispielsweise jener Akteure der »Mietervertretung«43, die für ihre Zwecke für oder gegen Neukölln berichten.

43 »Die Probleme in Neukölln nehmen sogar noch zu. Das ist das Ergebnis einer im Auftrag des Bezirks erstellten Untersuchung der Humboldt-Universität. Die Bevölkerungswanderung, der Anteil ausländischer Kinder und die Arbeitslosigkeit im Zeitraum zwischen 2001 und 2006 standen im Mittelpunkt der Erhebung. Die Kernaussage lautet: Die Wohnviertel in Neukölln driften auseinander. Sowohl der Neuköllner Norden als auch der Britzer Norden stellen sich als ›Gebiete mit Ausgrenzungstendenz‹ dar. Dort lebt mit 150.000 Menschen aus 160 Nationen nahezu die Hälfte der gesamten Bevölkerung Neuköllns. ›Nach hohen Wanderungsverlusten in den nördlichen Gebieten in den 90er Jahren gewinnen diese wieder Einwohner durch Umzuge. Dies ist vor allem auf den Zuzug von Bewohnern mit ausländischer Staatsangehörigkeit zurückzuführen, die dazu

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Für den Reuterkiez werben die Autorinnen einer illustrierten Hochglanzbroschüre des Quartiersmanagement im Reuterquartier folgendermaßen: »Die Lage des rund um den Reuterplatz erbauten Viertels – am nördlichen Rand Neuköllns und zugleich mitten in Berlin – macht seinen besonderen Charakter aus. War das Quartier zunächst ein ›etwas besseres‹ Viertel am Rand des ›roten Neukölln‹, hat es sich in den letzten Jahrzehnten zu einem multikulturellen Stadtteil entwickelt, der in seinem Flair an das angrenzende Kreuzberg erinnert.« (Bach/Hüge 2004: Vorwort)

»Kreuzköllner Nächte sind lang« In Artikeln der Berliner Presse werden Transformationsprozesse im Neuköllner Reuterquartier vor allem mit jenen Entwicklungen verglichen, die in den zentrumsnahen Ostberliner Kiezen Prenzlauer Berg und Mitte eingetreten waren. So heißt es unter dem Titel »Kreuzköllner Nächte sind lang« in der Berliner Morgenpost: »Der Blog zum Kiez bezeichnet den Weichselplatz als ›Little Kollwitzplatz‹. Tatsächlich sind alle Zutaten vorhanden – junge Eltern, ein Spielplatz und ein trendiges Milchschaum-Café. Vieles erinnert im Reuterkiez an Mitte und Prenzlauer Berg in den 90er-Jahren. Während dort nun Design-Bars eröffnen, herrschen hier noch Spontaneität, Improvisation und Kreativität vor. […] Eingeleitet haben den Neukölln-Trend die Lokale ›Ä‹ und ›Freies Neukölln‹. Beide Eckkneipen haben sich ihren biergetränkten Charme bewahrt. Die Stühle sind jedoch mit Urban Bohemiens besetzt. Man trinkt tschechisches Bier, hört französische Chansons, und manchmal taucht ein Mann mit Perücke und Lippenstift auf, der sich von seinem neuen 44

Transvestiten-Outfit nicht trennen konnte.«

»Tschechisches Bier« und »französische Chansons«, »Spontaneität, Improvisation und Kreativität« betonen demnach jenen individuellen Bohèmecharakter des Reuterkiezes, welcher den ehemals Ostberliner Bezirken mit ihren homogenen Design-Bars im Allgemeinen abgesprochen wird. Hier wie in den Verortungen der Musiker in Kapitel II wird der Charme alter Neuköllner Eckkneipen als wichtiges Stilmittel bei der Ausgestaltung der neuen Kneipen erkannt. Das Magazin der Süddeutschen Zeitung konstatiert Ende 2009, dass Neukölln »[n]ach desaströsen Schlagzeilen über die Rütli-Schule […] schon seit einigen

beigetragen haben, den Wohnungsleerstand abzubauen‹, heißt es in der Studie.« (Christian Linde in: Mieterecho 10/2008, S. 10-11) 44 Vgl. o.A.: URL: www.morgenpost.de/printarchiv/szene/article166327/Kreuzkoellner_ Naechte_sind_lang.html (letzter Zugriff am 12.02.2013).

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Monaten in die Charmeoffensive« gehe.45 Mit Hilfe einer schicken Landkartenillustration werden dem SZ-Magazin-Leser die neuen Neuköllner Shops und Locations präsentiert. In einer abschließenden Liste von Shopping- und Ausgehtipps befindet sich auch der Ausflugstipp »zu einem gelungenen sozialen Wohnungsbau: Hufeisensiedlung, aus den Jahren 1925 bis 1933. Fritz-ReuterAllee« (ebd.). So wird darauf hingewiesen, dass der gebildete Neuköllntourist zur Erfassung eines Gesamtbildes Neuköllns neben neuen Lingerieboutiquen auch die Architektur des Bezirks kennenlernen sollte. Der Tagesspiegel46 schildert 2007 den Wandel des mit »holzgetäfelten Eckkneipen«47 ausgestatteten, alten Neuköllns aus der Sicht von zwei langjährigen Einwohnern. Mit Zuversicht beschreiben die beiden Protagonisten des Zeitungsartikels die Entwicklungen des Kiezes, die für sie im klaren Kontrast zu früheren Zeiten stehen, in denen »Sperrmüll« und »Straßengangs« das Straßenbild dominierten.48 Türkische Kulturvereine werden als etablierte Räume im Kiez dargestellt, die sich dem Artikel zufolge jedoch nicht für die Entwicklungen im Kiez interessieren.49 45 Hanna Engelmeier schreibt im Süddeutsche Magazin 11/2009: »Passt man einmal fünf Minuten nicht auf, hat schon wieder eine neue Bar oder ein Laden aufgemacht. Was im Stadtsoziologen-Sprech Gentrifizierung genannt wird, heißt für die Neuköllner vor allem: Endlich muss man nicht mehr nach Kreuzberg oder Mitte, wenn man abends auf ein Bier raus oder in Läden einkaufen möchte, die zwar teurer sind als Ein-Euro-Shops, dafür aber auch Aufregenderes anbieten als 1,5-Volt-Batterien im Zehnerpack.« URL: www.szmagazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/28510/ (letzter Zugriff am 20.02.2013). 46 Vgl. Fabian Dietrich: »Berlin-Neukölln. ›Was soll’n das hier werden?‹« In: Tagesspiegel am 13.07.2007. URL: www.tagesspiegel.de/berlin/was-solln-das-hier-werden/985526. html (letzter Zugriff am 29.02.2013). 47 »Früher standen zwischen den holzgetäfelten Eckkneipen noch jede Menge verlassene Geschäfte, jetzt arbeiten hier Menschen in Modeläden, Ateliers und Cafés. [...] Neue Chance für den Reuterkiez im Berliner Bezirk Neukölln: Lange war das Viertel abgeschrieben – jetzt zeigt das Quartiermanagement Wirkung. Statt nur Eckkneipen und Trödelläden, sprießen Galerien, Cafés und Boutiquen.« (Ebd.) 48 »Die Zeitungsverkäuferin […] lebt und arbeitet schon lange im Reuterkiez. Sie ist optimistisch. […] Schließlich hat sie auch die richtig schlechten Zeiten erlebt. ›Viele sind an den Stadtrand gezogen‹, sagt sie und schiebt einem Stammkunden ein Päckchen Zigaretten über den Tresen. Hier wütete eine türkisch-arabische Straßengang, Sperrmüll türmte sich in den Rinnsteinen, ein Geschäft nach dem anderen machte dicht. Vor einigen Jahren aber begann der Wandel.« (Ebd.) 49 »Den Türkischen Kulturverein in der Sanderstraße hat Ulli keines Blickes gewürdigt. An der Tür steht ›Eintritt nur für Mitglieder‹. Im Inneren sitzen fünf türkische Männer […], trinken Tee und spielen Karten. Unter ihnen liegt ein kunstrasenartiger Teppich, von oben

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»Neukölln rockt!« Auf der Suche nach den neuesten Trends in Berlin küren die Stadtgazetten verschiedene Kieze im Wechsel zum hiesigen Szenebezirk. Holm kreiert für »die mediale Kreation eines Geheimtipps« den Begriff »symbolische Gentrification« (ebd. 2010b: 17). Anschaulich wurde dieser Term in Neukölln 2008 durch die Berichterstattung des Stadtmagazins Zitty: Im Artikel »Neukölln Rockt«50 thematisiert das Magazin offensiv den »Hype« und eine »Renaissance« des Kiezes.51 Außerdem handelt der Artikel den Bezirk als »Schaltzentrale […] für die deutsche Popkultur«52 ab. Dafür portraitiert der Autor ein deutsch-türkisches Musiklabel, das den Songtitel »Deutschland« produzierte, was als »Herzstück einer PR-Offensive des Außenministeriums zur Integration« verwendet wurde (ebd.). Anhand dieses Beispiels wird ein Bild von deutsch-türkischer Freundschaft in Neukölln entworfen. Die eindimensionale Darstellung der ethnischen Zugehörigkeit sowohl der »deutschen« Musiker als auch die der »türkischen« Musiker, die im Sinne des

her fällt Neonlicht auf ihre Gesichter. Der Chef des Kulturvereins sieht aus, als würde er die Partie gerade verlieren. Schweißperlen rinnen ihm die Backe herunter. Er sagt: ›Welche jungen Leute? Wir sind ein Sportverein. Hier sind immer die gleichen Leute. Hier drinnen ist wichtig. Die da draußen, das interessiert uns nicht‹.« (Ebd.) 50 Daniel Boese: »Neukölln rockt«. In: Zitty am 20.03.2008. URL: www.zitty.de/magazin/ 4135/20.03.2008 (letzter Zugriff am 12.02.2013). 51 »[…] keine Frage, der Hype ist da. Aber was steckt dahinter? […] Wenn international erfolgreiche Künstler wie Ingar Dragset und Michael Elmgreen von Mitte nach Neukölln ziehen, ist das ein sicheres Zeichen für die Renaissance von Neukölln.« (Ebd.) 52 »Auch für die deutsche Popkultur ist der Neuköllner Norden längst eine Schaltzentrale. […] der Manager von K.I.Z., teilt sich in einer Fabriketage ein Büro mit Marcus Staiger, der bis vor kurzem das Undergroundlabel Royal Bunker betrieb. K.I.Z. wohnen auch selber im Viertel. Ein paar Häuser weiter bereitet [der] Labelchef vom Grand Hotel Van Cleef, das nächste Album […] vor. Und in der Sanderstraße stauten sich eines Tages im Herbst letzten Jahres die Polizeiautos. […] keine Schlägerei, sondern die Außenminister: Walter Steinmeier und sein französischer Kollege Bernard Kouchner sangen im Studio mit dem R’n’Besk-Sänger Muhabbet den Refrain von ›Deutschland‹ ein – der Titel war das Herzstück einer PR-Offensive des Außenministeriums zur Integration. Jochen Kühling und Produzent Ünal Yüksel von Plakmusic produzieren und vermarkten schon seit Jahren ›türkische Musik auf Deutsch – made in Germany‹. Muhabbet mit seiner Fusion von orientalischer Musik und deutschen Texten ist ihr erster Star. Jochen Kühling glaubt, dass er und Yüksel in Nord-Neukölln genau richtig sind: ›Hier entsteht etwas Neues, so wie unsere Musik. Wir sind Deutsch-Türkisch, aber kein Rap, kein Ghetto, genau wie das Viertel‹.« (Ebd.)

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Außenministeriums ›zu integrieren‹ sind, ist zu hinterfragen.53 Die mediale Darstellung des harmonischen Verhältnisses anlässlich der deutsch-türkischenMusikkooperation erscheint angesichts der Tatsache, dass der Song ›integrativen‹ Nutzen haben soll, absurd. Die negativen Seiten der Entwicklung Neuköllns thematisiert der Artikel mit der Frage, ob »man rund um die Rütlischule wirklich angenehm ausgehen, arbeiten oder leben« (ebd.) könne abschließend wie folgt: »Arbeitslosigkeit, Jugendgewalt, mangelnde Integration von Migranten – unter diesen Schlagworten verhandeln Politiker den Alltag um die Sonnenallee. Wie sich eine neue kreative Szene – die auch die Mieten nach oben treiben dürfte – darauf auswirkt, ist noch unklar. Sie könnte die Probleme verdrängen oder verschlimmern. Sie könnte aber auch dem sozialen Experimentierfeld einen entscheidenden Impuls geben. […] Wenn darüber hinaus Ansätze wie das Tekstilprojekt und die Erfolge des deutsch-türkischen RnBesk von Plak Music und dem Rap von K.I.Z. den Problembezirk weiter beleben – warum sollte dann Neukölln nicht zum Schauplatz eines kleinen multikulturellen Wirtschaftswunders werden?« (Ebd., [Herv. durch CH])

Was der Autor unter dem »entscheidenden Impuls« versteht, bleibt unklar, doch verdeutlicht der Artikel im Sinne Buschkowskys, dass ein Input der beschriebenen kreativen Szene als rettender Kontrast zu vermeintlichen Problemen im Kiez steht. Ob der Autor den Begriff »Wirtschaftswunder« aus einer sarkasto-kritischen Perspektive heraus verwendet, wird nicht ersichtlich. Fest steht, dass die Anwerbung, wie sie im Sinne eines deutschen ›Wirtschaftswunders‹ in den 1960er Jahren für türkische Arbeitskräfte betrieben wurde, auch den Anfang einer Beziehungsgeschichte zwischen Etablierten und Außenseitern darstellt (vgl. Elias/Scotson 1990: oS nach Çil 2007: 33). Mit Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik ist der Term »Wirtschaftswunder« deshalb eindeutig im Kontext einer Gesellschaftsstruktur mit ethnischen Minderheiten zu verorten. Die Einwohner Neuköllns kritisieren den Artikel in Online-Foren weniger aufgrund seiner fragwürdigen Begrifflichkeiten, sondern beschweren sich vielmehr über die allgemeine mediale Berichterstattung, die das Viertel als neuen Ausgehkiez anpreist und damit »Kneipentou-

53 »Between the international media conglomerates and the daily mediated communication of ethnic minorities, there stands an array of ›intermediate‹ minority media organizations [...], [that] steer a difficult course between universalist appeals, market imperatives and systems patronage on the one side, and particularistic aims, community based expectations and felt obligations on the other. [...] they contribute an important, albeit under-researched, dimension to the communication environment of ethnic minorities and their struggles for ›authentic‹ and/or pluralistic representation.« (Cottle 2000: 3)

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risten« nach Neukölln zieht: Das »Partyvolk« solle nach Friedrichshain gehen, denn man wolle »alleine feiern!«54 Kunst und Arbeit Auch durch Internetvideoreportagen erfolgt die Berichterstattung über den attraktiven Lebensstil in Neukölln. In der Rubrik »Lifestyle« des InternetvideoPortals »3 Minuten« berichtet die Serie »Very Berlin« in einer kurzen Filmreportage über das Neuköllner Kunstfestival Nacht und Nebel55 im November 2010. In dem Filmfeature interviewt eine Reporterin drei Künstler, die in Neuköllner Galerien ausstellen oder Performances darbieten. Den Hintergrund der Interviews und die Übergangsszenen dominieren Einstellungen von modisch gekleideten, sich munter unterhaltenden, jungen Menschen – zumeist mit Hornbrillen. Nach dem Besuch von zwei Galerien auf der Tellstraße betritt die Reporterin einen Keller, in welchem eine Performance stattfindet. Der für das Happening verantwortliche Künstler Dominik, der auch in Neukölln lebt, beantwortet die Frage der Reporterin nach seiner Einstellung zu Neukölln folgendermaßen: »Ich mag es [Neukölln] – aufblühend, diese Pop-up-Stores […]. Ich komm’ hier nicht raus, um nicht einen Absacker zu machen, und es geht auch preislich, man kann sich auch einen Bombay Tonic leisten.« (Der Künstler Dominik im Video zum Neuköllner Kunstfestival Nacht und Nebel)

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54 »Als Anwohner des Problembezirkes Neukölln […], möchte ich an dieser Stelle einen Appell an alle Party-People der Stadt und auch an die Kneipentouristen richten: Geht nach Friedrichshain! Ich habe kein Interesse, daß aus der Hobrechtstraße die neue SimonDach-Meile wird. Nette Kneipen in der Straße zu haben ist fein, Partyvolk gehört dazu, aber grölende, pub-crawlende junge Menschen will ich einfach nicht in meiner Straße hören. Deshalb liebe Medien […]: Bitte keine heiße Berichterstattung aus dem pulsierenden Bezirk Neukölln. Wir wollen alleine feiern!« (Kommentar auf Zitty-Artikel auf URL: www.blog.zitty.de/?p=347 (letzter Zugriff am 12.02.2013). 55 Der kurze Bericht behandelt das neunte Festival am 06.11.2010. URL: www.3min.de/ video/lifestyle/very-berlin-katja-hentschel-ufa/neukoelln-6-very-berlin-hentschel/12/170/ 4898 (letzter Zugriff am 28.05.2012). Das Event zieht sich vom frühen Abend bis in die frühen Morgenstunden und wird institutionell unterstützt von der »Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land«, von allen Neuköllner Quartiersmanagements, vom Kulturamt, von »Soziale Stadt« sowie von Geldern der EU. URL: www.nachtundnebel.info (letzter Zugriff am 14.02.2013). 56 Vgl.

URL:

www.3min.de/video/lifestyle/very-berlin-katja-hentschel-ufa/neukoelln-6-

very-berlin-hentschel/12/170/4898 (letzter Zugriff am 28.03.2012).

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Durch ein paar flüchtige Filmsequenzen zu seiner Performance, für die er eine große Plastikpuppe als Hauptparaphernalie nutzt, hat man sich vor dem Kurzinterview ein Bild machen können. Die Darstellungen des lebenslustigen Künstlers machen deutlich, dass auch Neuköllner Nächte lang und verrückt sind und man für die artsy attitude und einen extravaganten Drink im Kiez nicht mal viel bezahlen muss. Außerdem vermittelt das gesamte Filmfeature den Eindruck, dass Kunst als Dreh- und Angelpunkt in Neukölln auch Platz für ernsthafte Konservationen bietet. Neukölln wird nicht nur ein hoher Freizeitwert zugeschrieben, sondern neuerdings auch als attraktiver Arbeitsort ausgezeichnet. So stilisiert ein Artikel57 in EasyJet Traveller Neukölln als Ort der Freelancer und der selbständigen Arbeit. Die Autoren des Artikels portraitieren die sechs besten Bürogemeinschaften (»coworking spaces«) in Berlin. Auf Platz eins landet ein Neuköllner Arbeitsraum, »[which] has the retro aesthetic to match Berlin’s hip Neukölln district« (Wylie/Sammalisto 2011: 92). Der europäische ›EasyJetter‹ wird also mit der ästhetischen Seite des Neuköllner Arbeitslebens vertraut gemacht. Die im Artikel beschriebenen schicken neuen Büros sind ein Beispiel für jene »design intensification« im Sinne Krims’, welche die Umgestaltung des post-Fordistischen Stadtraums veranschaulicht (vgl. Krims 2007: xxxi). Parallel zu diesen Prozessen zeigt sich auch am Beispiel der Veranstaltungsreihe quiet cue (siehe Kapitel IV) die Nutzung des städtischen Kiezraums mit der Zuhilfenahme von professionellen Gestaltungsmitteln. Demgegenüber steht ein Rückbezug auf eine noch existente Arbeiterklientel durch Beschreibungen von holzvertäfelten Kneipen und Dartscheiben als ideale Kulisse für ästhetische Ausdrucksformen, wie sie auch in den Selbstverortungen der Neuköllner Musiker in Kapitel II als wichtige Träger lokal disponiert wurden. Lower East Side? Im März 2010 berichtet das Tip-Magazin unter dem Titel »Nordneukölln: Spielplatz Avantgarde«58 folgendermaßen über den Kiez: »Was heute in Nord-Neukölln passiert, gab es ähnlich schon einmal: vor 30 Jahren in der New Yorker Lower East Side. […] Damals zogen Künstler und Musiker in den heruntergekommenen Stadtteil im Südosten Manhattans, weil das Greenwich Village, traditionell die bevorzugte Wohngegend der Boheme, zu teuer wurde und für neuartige musikalische und 57 Ian Wylie/Vesa Sammalisto: »Watch this space«. In: easyJet Traveller. 05/2011. easyJet 2011: London, S. 92. 58 »Nord Neukölln: Spielplatz Avantgarde« am 03.03.2010 auf URL: www.tipberlin.de/kultur-und-freizeit-stadtleben-undleute/nord-neukolln-spielplatz-avantgarde (letzter Zugriff am 12.02.2013).

252 | »T IEF IN N EUKÖLLN « künstlerische Ideen keine Plattform bot. […] In der multiethnischen Arbeitergegend erfanden die Pioniere der New Yorker Downtownszene eine Mischung aus apokalyptischem Großstadtgefühl, Do-it-yourself-Strategie und Bildersturm. Sie gaben uns No Wave und das Cinema of Transgression, 30 Jahre lang stand hier der sagenumwobene Punkclub CBGB’s, in dem die Ramones, Television und Blondie erstmals vors Publikum traten […]. […] Musiker wie […] Sonic Youth verdienten sich in der Downtown-Szene ihre Sporen. […] Spielhallen, Wettbüros, Sexclubs. Bislang galt die Neuköllner Flughafenstraße nicht unbedingt als erste Adresse für die Avantgarde. Doch seit Staalplaat im vergangenen Jahr aus Mitte hier hergezogen ist, hat sich die Situation verändert. Der Laden ist das Hauptquartier eines holländischen Netzwerkes von Klangkünstlern und experimentellen Musikern […]. ›Neukölln ist mittlerweile zum internationalen Zentrum der Szene geworden‹, sagt der Noise-Künstler [Jaap], ›der Bezirk passt einfach gut zu unserer Musik, die amorph ist, sich ständig verändert und nur schwer definieren lässt. Genauso ist auch Neukölln […]. Ich nenne es lieber die nichtakademische zeitgenössische Musik‹. […] Diese Orte sind Labore, in denen sich Bilder und Klänge frei und unabhängig von den Regeln des Marktes entfalten können. […] In den Clubs, Kellern und Lofts entsteht […] eine neue künstlerische Ausdrucksweise. Hier ist der Arbeitsplatz der Avantgarde, die nur von wenigen beachtet in der Nische agiert, deren ästhetische Experimente mit der Zeit aber in den etablierten Kulturbetrieb einfließen. […] [O]hne die Künstler der Lower East Side würde heute die amerikanische Kultur anders aussehen. Mit einer Haltung, in der sich die Lust am Experiment, Aggressivität, Nonkonformismus und ein Interesse am Banalen widerspiegelte, stellte sich eine ganze Generation den von Filmstudios, Kunstmarkt und Musikindustrie aufgestellten Regeln entgegen. […] Eine neue Generation von Künstlern und Musikern […] erfährt [hier] Dinge, die man an keiner Universität […] lernen kann. Leute wie [Jaap], […] haben in Neukölln eine Ästhetik gefunden, die der Vielfalt der Kulturen und den leeren Bankkonten entspricht. So entsteht eine eigenwillige Kunst jenseits der etablierten Galerien und kommerziellen Plattenlabels.« (Ebd.)

Die zitierten New Yorker Bands der 1980er Jahre (Blondie, Television u.a.) stehen beispielhaft für aus Subkulturen hervorgegangene Erfolgsgeschichten. Auffällig ist die Benennung der New Yorker Band Sonic Youth, auf die auch einige Neuköllner Experimentalmusiker in den vorliegenden Interviews direkt Bezug nehmen. Durch das Aufzählen dieser bekannten Bands im Tip-Magazin projiziert der Autor das Bild popkultureller Ikonen auf Neukölln und legt somit vergleichbare musikalische Tendenzen im Kiez nahe. Die in »Nischen« lokalisierten Kunst- und Musikpraktiken sowie Begriffe wie »Nonkonformismus«, »Experiment« und »Aggressivität« vermitteln Bilder, die mit dem Stereotyp »Subkultur« und »Avantgarde« verknüpft sind. Betont wird die unabhängige Seite des Ladens Staalplaat als Cliquentreffpunkt von Klangkünstlern. Der Plattenladen steht dem Artikel zufolge pars pro toto für den gesamten Kiez: So wird ein Klangkünstler im Artikel zitiert, der Neukölln als »internationales Zentrum der Szene« beschreibt.

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Daneben bürgt das Klischee von Aktivitäten, »die man an keiner Universität und an keiner Kunsthochschule lernen kann«, für authentische, bilderbuchhafte Untergrundkultur. Dies legitimiert auch die Selbstdarstellung des als »NoiseKünstler« bezeichneten Neuköllner Musikers, der seine Musik dem Tip zufolge lieber als »nichtakademische zeitgenössische Musik« betrachtet. Ob diese Praktiken wirklich an keiner Musikhochschule erlernt werden können und wie »frei« diese Klänge vom sogenannten Mainstream sind, wie es der Artikel konstatiert, wird nicht weiter hinterfragt. Sowohl die »Internationalität« als auch jenes »Autodidaktentum« werden als wichtige Faktoren einer als authentisch geschilderten »Szene« betont. Des Weiteren werden abgedroschene Bilder von Neukölln mit der Ästhetik der Musiker und Künstler verknüpft: Eine »Vielfalt der Kulturen« und »leere Bankkonten« seien in diesem Sinne also mitverantwortlich für die musikalischen Praktiken der Musiker. Neben Clubs und Kellern sind es dem Tip-Magazin zufolge auch »Lofts« und Fabriketagen, die in Neukölln als avantgardistische Laboratorien fungieren. Lofts symbolisieren im US-amerikanischen Diskurs eine »design intensity« der postFordistischen Stadt, in welcher renovierten industriellen Räumlichkeiten aufgrund ihrer Einzigartigkeit ein hoher Stellenwert beigemessen wurde (vgl. Zukin 1989: 58-81 nach Krims 2007: xxxi). Zukin macht in ihrem Buch Loft Living am Beispiel des Lofts außerdem deutlich, dass alternative Wohnräume ein Konfliktgebiet zwischen verschiedenen sozialen Gruppen verkörpern, die in einem gemeinsamen Wettbewerb um die Nutzung dieser Räume kämpfen.59 Das Berliner Stadtmagazin überträgt die für die New Yorker Lower East Side konstatierten, konfliktreichen Aufwertungsprozesse, die nach Zukin mit der Ansiedlung einer kreativen, künstlerischen oder elitären Mittelklasse in Verbindung stehen, auf die Situation in Neukölln. Die Soziologin Abu-Lughod erklärt die Attraktivität der Lower East Side, die einen Zuzug von Akteuren einer »counter culture« in den 1960ern begünstigte, durch die Ansiedelung Puertoricanischer Bewohner im Bezirk. Die durch diese Einwohner geschaffenen vibrierenden »ethnic culture zones« und deren künstlerische Ausdrucksweisen standen ihr zufolge im starken Kontrast zu der Sterilität anderer Bezirke und inspirierten die zugezogenen Künstler und Musiker.60 Vergleiche Nord-Neuköllns mit der Lower East Side und 59 »Over time, these groups include small manufacturers, artists, middle-class tenants […], real estate developers, the rich upper class […] of the cities, the banks that this elite usually controls, and politicians in City Hall.« (Zukin 1989: 3) 60 »Puerto Ricans [...] created the vibrant ›ethnic culture zone‹ of Loisada, with its festivals, [...] wall art, its boisterous and welcoming street life, its creative burst in music and poetry, giving to the East Village a certain exuberance […]. Their presence also inhibited the degree to which landlords of the tenements that remained in the zone could extract higher rents from their properties. [...] Such conditions made the east Village attractive to

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die Projektionen US-amerikanischer Bilder implizieren Vorstellungen, in denen eine ethnisch gemischte Vielfalt als Kreativitätsquelle für den Kiez gilt. Zwar weist der Artikel im Berliner Magazin Tip auf die andere Seite der Medaille – also die steigenden Mieten – hin, doch nicht auf die anschließenden städtischen Entwicklungen an der Lower East Side, die Abu-Lughod als soziale Ausgrenzung beschreibt.61 Des Weiteren werden im Tip-Artikel Musiker, Künstler und Locations im Kiez porträtiert, die durch den Slogan »Enklaven des Krachs« Erwartungen erfüllen sollen, die der Titel des Artikels bezüglich vermeintlicher »Avantgarden« in Neukölln weckt.62 Während Ortsnamen eine determinierende Funktion übernehmen, um spezifische Szenen zu schaffen, generieren musikalische und kulturelle Praktiken auch charakteristische Bilder von Orten, an denen sie ausgeübt werden (vgl. Connell/Gibson 2003: 14-15). In Bezug auf Avantgarden und experimentelle Musikgenres findet der Ortsname Neukölln dem Tip-Artikel zufolge Anwendung. Die im Artikel dargestellten Musiker und Künstler begründen ihre kreativen Handlungen mit Bezugnahme auf ihre lokale Umgebung und bewerben ihre Praktiken und Veranstaltungen mit der Vorstellung vom aufstrebenden Neukölln. Diese Porträtierung kann somit als mediale Selbststilisierung durch die Neuköllner Musiker gedeutet werden, die durch den Bezug auf den Kiez und die explizite Identifikation mit diesem unterstützt wird. Die »subkulturellen Codes« der the counter-culture participants of the 1960s, who brought their own lifestyles, music, art, and political concerns to the area. To the radical political forces that were nurturing ambitions for Puerto Rican independence [...] was added the strong anti-war sentiment of so-called hippies, yippies, and others who merely wished to turn their backs on the materialism they accused postwar America as fostering and on the aggressiveness and destruction occurring in Vietnam. In this mix of population, new music, writing, and art movements flourished for a while.« (Abu-Lughod 1994: 344) 61 »[T]ax forfeitures […] reached epidemic proportions by the late 1970s, caused to some extent by a general recession and the city’s special economic difficulties [...]. The population that suffered most from this was the Puerto Rican community which at the same time was being battered by the disappearance of jobs [...].« (Ebd. 1994: 344) 62 »[…] eine Dynamik, die vor gut zwei Jahren so richtig begonnen hat und deren Motor die Avantgarde ist, die Performer, Klangtüftler, […] und Krachkünstler. Mit ihnen kamen die Partys, Happenings, Konzerte und Ausstellungen in Wohnungen, Hinterhöfen, Kellern […]. […] Davon zeugen Konzertreihen wie ›quiet cue‹ […] und Orte wie das Loop-Hole, Gelegenheiten, Ohrenhoch […]. Es sind Enklaven des Unhörbaren […] und des infernalischen Krachs. Betritt man heute das NK, bekommt man eine Vorstellung, wie die experimentellen Loftkonzerte der New Yorker damals ausgesehen haben mochten. […] Renommierte Avantgarde-Musiker […] sind hier schon aufgetreten […] oder Workshops gegeben, erst kürzlich auch der Spanier Francisco López.« (Tip-Magazin am 03.03.2010)

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medialen Darstellungen der künstlerischen oder musikalischen Praktiken sind schon längst zum Allgemeinwissen geworden (vgl. Lindner 1995: 39), die in einem Wechselspiel mit den Teilnehmern einer Neukölner ›Szene‹ selbst stehen.63 Die portraitierten Musiker wissen sich buchstäblich in ›Szene‹ zu setzen und damit gezielt interessante Bilder über einen ebensolchen Ort zu erzeugen. Der Autor des Artikels im Stadtmagazin Tip schreibt weiter: »Zu den Vernissagen und Konzerten kommen auch Gäste aus Mitte und Kreuzberg. ›Man ist hier doch im Zentrum der Stadt, das darf man nicht vergessen‹, sagt Beyer. Selbst der Raum18 ist mit der U-Bahn nicht mehr als 25 Minuten vom Alexanderplatz entfernt, vom Kottbusser Tor sind es 15. Am Teltowkanal in der Ziegrastraße ist dieser Stützpunkt der Avantgarde gut versteckt, in einem trostlosen Industriegebiet, zwischen Kfz-Meisterei und Schrottbergen. Dritte Etage, miteinander verbundene flache Räume mit großen Fenstern, die einen Blick auf Lagerhallen und Werkstätten offenbaren. Die Gegend ist nach 20 Uhr mehr als tot. Und doch fanden hier in den letzten Monaten die lautesten und kompromisslosesten Krachkünstler der Welt zusammen.« (Ebd.)

Der Autor betont, dass selbst Bewohner der Bezirke Kreuzberg und Mitte eine Neuköllner Kunstausstellung besuchen. Zwar wird Neukölln dadurch der gleiche Status beigemessen, wie ihn die beiden anderen Stadtbezirke genießen. Andererseits wird daraus eine immer noch bestehende Vormachtstellung der Bezirke Mitte und Kreuzberg gegenüber Neukölln ersichtlich. Der Autor betrachtet die kulturellen Praktiken der kreativen Newcomer als Chance für einen Imagewechsels des Kiezes. Die als trostlos beschriebene Randlage legitimiert aus Sicht des Autors auch die Abseitigkeit der musikalischen und künstlerischen Praktiken im Kiez. In diesem Sinne wird der Veranstaltungsort Raum 18 auch als »Stützpunkt der Avantgarde« bezeichnet. Außerdem ergeben sich aus der geographischen Lage sowie der Umgebung (»Schrottberge«) für den Autor auch spezifische ästhetische Merkmale für dortige Musikgenres (»laut«, »kompromisslos«). Das industrielle Umfeld steht als stereotype Markierung für eine im Alltag verankerte Musik, die angepasst ist an ein raues Umfeld im Gegensatz zu der Vorstellung einer akademisch abgehobenen Musikkultur. Des Weiteren spiegelt die Abbildung einer industriellen Umgebung und einer damit in Verbindung stehenden Klanglandschaft die Perspektiven des Futuristen Luigi Russolo wider, nach dem

63 Der Tatbestand, dass die im Tip-Artikel porträtierten Musiker und Locations auch in den gesammelten Interviews der wissenschaftlichen Forschung repräsentiert werden, veranschaulicht die Signifikanz der Methode, die empirischen Daten mit dem »konzipierten Raum« (Lefèbvre 1991: 39) – im Sinne von »Mediascapes« (Appadurai 1996: 35) Neukölln – zu konfrontieren (vgl. Einleitung).

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»mit der Erfindung der Maschinen das Geräusch [entstand]« (Russolo 2000: 5).64 Vergleichbar mit den Sichtweisen der Dubstep-Akteure in Kapitel III wird das Umfeld der Neuköllner Veranstaltungsorte im Sinne dieser Kunstrichtung im Artikel des Tip verklärt und romantisiert. Gentrifizierter Raum Neukölln Das Blog zur Immobilienseite »Immowelt« beschreibt Neukölln als »beliebte Wohngegend« und »Szenebezirk« im starken Kontrast zum bisherigen »schlechten Image« eines »sozialen Brennpunkts«65, prognostiziert jedoch auch eine stetige Erhöhung der Mieten im Kiez.66 Parallel dazu geben neu zugezogene Bewohner in Blogs ihren Befindlichkeiten und ihrer Verwirrung über den neuen Wohnort Neukölln Ausdruck. So geht zum Bespiel eine Bewohnerin des Kiezes im Magazin Zünder der Online-Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT auf »Spurensuche« in Neukölln und fragt sich, ob der Kiez zur »neuen Heimat« für sie werden kann, wo 64 »Diese musikalische Entwicklung verläuft parallel zum Anwachsen der Maschinen […]. Die Maschine hat heute nicht nur in der tosenden Atmosphäre der Großstädte, sondern auch auf dem vor kurzem üblicherweise noch ruhigen Land eine solche Vielzahl und ein derartiges Zusammentreffen von Geräuschen geschaffen, dass der reine Ton in seiner Spärlichkeit und Eintönigkeit nirgendwo mehr Gefühlsregungen hervorruft.« (Russolo 2000: 7) In der Kritik an klassischer Musik schreibt Russolo: »Beethoven und Wagner haben unser Gemüt und unsere Nerven jahrelang auf Äußerste gereizt. Jetzt aber sind wir ihrer überdrüssig und erfreuen uns stärker an geschickt kombinierten Geräuschen von Straßenbahnen, Vergasermotoren, Wagen und kreischenden Menschenmengen als beispielsweise am wiederholten Hören der ›Eroice‹ oder der ›Pastorale‹.« (Ebd., 8) 65 Freiberg schreibt im Artikel »Nord-Neukölln: Szenebezirk? Nein danke!« in Immowelt am 22.03.2010: »Trotz schlechten Image hat sich Neukölln zum Szenebezirk gemausert. Vor allem Nord-Neukölln ist stark im Kommen und entwickelt sich mehr und mehr zur beliebten Wohngegend. Im Kiez ist nicht jeder glücklich über diese Entwicklung. […] trotz des schlechten Rufes ist vor allem der nördliche Teil Neuköllns stark im Kommen. […] Dabei zieht es vermehrt Künstler aller Art in das weitläufige Areal zwischen Rathaus Neukölln, Sonnenallee und Landwehrkanal. […] Aber auch immer mehr Szeneläden und das Nachtleben halten Einzug […]. Das haben auch schon viele Berlin-Touristen mitbekommen.« URL: www.blog.immowelt.de/blog/leben-in-berlin/blogpost/2010/03/22 /nord-neukoelln-szenebezirk-nein-danke.html (letzter Zugriff am 22.02.2013). 66 »Bei den Neuköllnern wird diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen wahrgenommen. Die Kiezbewohner beschleicht das Gefühl, ihre eigene Seele zu verkaufen. Und auch die Angst vor dem ganzen Mitte-Publikum, was sich jetzt auf einmal in Nord-Neukölln niederlassen will, ist für die langjährigen Anwohner Besorgnis erregend. Denn dadurch werden über kurz oder lang die eher günstigen Mietpreise nach oben getrieben.« (Ebd)

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sie ihr Kind aufwachsen lassen würde.67 Dies verdeutlicht, dass »[s]ymbolische Aufwertung wie symbolische Abwertung […] zwei Seiten derselben Medaille im Prozeß sozialräumlicher Polarisierung« sind (Baltzer 1999: 83). Da jener »Diskurs über Raum […] dabei nicht mit der Realität vor Ort übereinstimmen [muss] […] wechseln Diskussionen, wo denn nun das ›Armenhaus‹ von Berlin zu finden sei, in Medien, Politik, aber auch in wissenschaftlichen Studien beinahe monatlich zwischen verschiedenen Innenstadtbezirken Berlins hin und her« (ebd.). Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Buschkowsky verortet die »Zukunft« des Kiezes im Reuterquartier, was er in einem Zeitungsinterview erklärt: »Erste Zeichen der Veränderung sind in dem Gebiet zwischen Maybachufer und der Sonnenallee zu erleben. ›Kreuzkölln‹, so hat der Volksmund dieses Gebiet inzwischen getauft. Noch haben die Veränderungsprozesse durch Gaststätten, Bars und Galerien die Wohnebenen der Häuser nicht erreicht. Noch sind die jungen Leute und die Labels der Kreativwirtschaft nur Vorboten, sozusagen Quartiermacher für ein neues Neukölln, das ›in‹ ist. Wenn diese Entwicklung auch in den Wohnetagen ihren Niederschlag findet und Eltern zum Zeitpunkt der Einschulung ihrer Kinder nicht den Wohnort wechseln, sondern das Quartier stabilisieren, dann haben wir unsere heutige Geißel, die Segregation, überwunden und werden zur Schau- und Schlaustelle der Stadt Berlin.«68

Zuversichtlich beschreibt Buschkowsky die Entwicklungen, die eng mit den kreativen Akteuren im Kiez verknüpft seien. Die Praktiken der Kreativen versteht er als stabilisierendes Mittel gegen die Segregation in der Stadt. In einem Protokoll der Kreativwirtschaftskonferenz im September 2009 werden die Wünsche des Neuköllner Bezirksbürgermeisters wie folgt wiedergegeben: »[Buschkowsky] wünscht sich, dass die Kreativen ihre Kinder auch hier in die Schulen schicken [und] dass Kreative bleiben, auch wenn Mieten steigen. Er möchte sie weiterhin

67 Mandy Ganske philosophiert: »Die niedrige Miete, die schöne Wohnung und die verkehrsgünstige Lage waren für mich die besten Argumente, hier her zu ziehen. […] Neulich fragte ich mich, ob ich mir vorstellen kann, mein Kind hier aufwachsen zu lassen. Dann muss ich spätestens mit dreißig wirklich hier wohnen, dachte ich, während ich an Backshops und Restpostenläden vorbei trottete. […] Soll ich hier bleiben? […] Die Menschen, die ich hier getroffen habe, sind mit ihren alltäglichen Problemen beschäftigt. Ich habe das Gefühl, dass sie alle hier etwas verbessern wollen. […].« URL: www.zuender.zeit.de/2006/38/berlin-neukoelln-wahlen (letzter Zugriff am 29.02.2013). 68 Buschkowsky in einem Interview mit Janina Guthke in Berlin Maximal 04/2010: »BBI wird wird Neukölln Schub geben. Interview zum Bezirksreport Neukölln«. URL: www.berlin-maximal.de/magazin/reportagen/art83,1389 (letzter Zugriff am 12.02.2013).

258 | »T IEF IN N EUKÖLLN « begrüßen, wenn sie wirtschaftlich in der Lage sind, doppelte oder dreifach so hohe Mieten zu zahlen.« (Protokoll einer Rede Buschkowskys 2009)

69

Der häufig gebrauchte Begriff »Kreuzkölln«, der den an Kreuzberg grenzenden Teil Neuköllns bezeichnet, führt unter den Bewohnern und auch den interviewten Musikern im Kiez zu kritischen Diskussionen: Man fühlt sich herabgesetzt, da der Begriff impliziere, dass man nicht zu Neukölln stehe. Mit dieser Begriffsdebatte und den Prognosen der Mieterhöhungen nimmt auch die Kritik an vermeintlichen »Gentrifizierungstendenzen« im Kiez zu. So erklärt der Stadtsoziologe Holm: »Vielfach reicht schon eine beginnende Imageaufbesserung des Viertels durch sich ausbreitende Pioniernutzungen oder die Ansiedlung einer subkulturellen Szene aus, um im Bereich der Neuvermietungsmieten deutliche Steigungen auszulösen. […] In Zusammenarbeit mit einem […] Quartiersmanagement versucht eine ›Zwischennutzungsagentur‹ dort seit einigen Jahren die vielen leerstehenden Gewerberäume kostengünstig an Künstler_innen, Kulturprojekte, Designer_innen und experimentelle Planungsbüros zu vermitteln. Mit der Vermietung von inzwischen über 80 Gewerberäumen hat sich zumindest das Straßenbild rund um den Reuterplatz deutlich verändert. Hippe Läden, Szenetreffpunkte und eine Reihe neueröffneter Kneipen stehen für den Imagewandel des Gebietes.« (Holm 2010b: 17)

Auf seinem gentrification-Blog klärt Holm über die Veränderungen im Kiez und die Vorhaben der Neuköllner Bezirkspolitik auf. Als Hauptkritikpunkt gilt die einseitige und durch Mietpreise erzwungene Segregation spezifischer Bevölkerungsgruppen, also damit auch ein Anwachsen sozialer Ungleichheiten.70 Der Kollwitz-

69 Wasner/Dickert zitieren Buschkowsky im Protokoll des Kreativ- und Kulturwirtschaftskongress in Neukölln am 22.09.2009: »Kein Tourist solle in Zukunft eine Buspauschalreise nach Berlin buchen, ohne Neukölln zu besuchen und dann erzählen, das[s] es total irre gewesen sei. Neukölln sei ein Stück auf dem Weg dahin, dank der Neuköllner Kreativwirtschaft. […] Buschkowsky wünscht sich, dass diese Ausstrahlung habe, vom Laden im Erdgeschoss bis in den 1., 2., 3. Stock, in die normale Wohnbevölkerung, in die Neuköllner Schulen.« URL: www.kultur-neukoelln.de/ (letzter Zugriff am 21.02.2013). 70 »Doch während räumliche Differenzierung nicht per se negativ ist – immerhin gibt es wichtige Hinweise darauf, dass freiwillige Segregation durchaus zu positiven Resultaten sowohl auf der individuellen wie auch auf der aggregierten Ebene sowohl in ökonomischer wie auch in kultureller und sozialer Hinsicht führen kann – führt die über die monetäre In- oder Exklusion erzwungene Segregation regelmäßig zu negativen Ergebnissen. [Ein QM], das die Zukunft der Stadt einschließlich ihrer Region und nicht die ([…] kurzfristige) Interessenwahrung einzelner AkteurInnen ins Visier nimmt, kommt an diesem Tatbestand wie auch an der generellen Einsicht in die systematische Ver-

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platz in Prenzlauer Berg und der Bezirk Mitte fungieren hierbei als abschreckende Beispiele für die Veränderungen, die sich in Neukölln abzeichnen. Außerdem bezichtigt das Blog das Quartiersmanagement im Schillerkiez der Einführung von Überwachungsmethoden71 und äußert dadurch Kritik an städtischen Maßnahmen zur Eindämmung sogenannter »Push-Faktoren« (siehe Kapitel II). Kiezkiller Die Neuköllner Band The Incredible Herrengedeck grölt auf einem Konzert auf dem Straßenfest der Weisestraße am 20.06.2009 folgenden Refrain: »Kiezkiller – we destroy the Kiez, Kiezkiller – creative industries. Kiezkiller – we destroy the Kiez, Kiezkiller – creative industries.« (Ebd. im Song »Kiezkiller« 2009)72

Liedtexte veranschaulichen in sehr engem Verhältnis die Beziehung zwischen Musik, Orten und Identitäten, besonders dann, wenn Musiker und Zuhörer ähnliche Interpretationen haben (vgl. Connell/Gibson 2003: 73). Im Fall der Neuköllner Band The Incredible Herrengedeck bedarf es keiner hohen Interpretationsleistung. Die Liedtexte sind eindeutig, erfahren keine symbolische Verkehrung und haben im Kontext des Straßenfestes eine unmissverständliche Aussagekraft. Tapani, einen der beiden Sänger der Band, erklärt den Text des Songs folgendermaßen: »Inhaltlich reflektiert der Text eher die Rolle der sogenannten ›Pioniere‹, die in den meisten Gentrification-Modellen durch ihr kreatives Engagement eine wichtige Rolle bei der Aufwertung eines Kiezes spielen, davon jedoch selten direkt profitieren, weil sie letztendlich knüpfung der verschiedenen phänomenalen oder auch subtilen städtischen Entwicklungsmomente nicht herum.« (Hochstadt 2005: 7ff.) 71 »Unter dieser Bezeichnung will das QM für ein ›sicheres Wohnumfeld‹ sorgen, welches zur Zeit durch ›Trinkergruppen‹ sowie ›Kinder und Jugendliche vorwiegend aus RomaFamilien‹ verunsichert werde. In dem Konzeptpapier zur Einrichtung der Task Force (nicht zufällig ein Begriff aus dem militärischen Sprachgebrauch) werden Roma in rassistischer Weise mit Betteln in Verbindung gebracht, sowie mit Beschaffungskriminalität, Prostitution und Schwarzarbeit. Zu den Lösungsvorschlägen des QMs gehört unter anderem die Einrichtung von ›Hauswartwohnungen‹ zur besseren Überwachung. […] Allerdings hat das Projekt durch zahlreiche Proteste mittlerweile starken Widerstand erfahren.« URL: http://gentrificationblog.wordpress.com/2010/03/10/berlin-neukolln-inden-kollwitzplatz-verwandeln-radiofeature/ (letzter Zugriff am 22.03.2013). 72 Der Band zufolge ist der Song vom Stil her bewusst an einen bekannten Titel der britischen Heavy-Metal-Band Iron Maiden angelehnt. Der Text wurde auf dem Straßenfest deshalb – Metal-Manier ironisierend – wütend ins Mikrophon gegrölt.

260 | »T IEF IN N EUKÖLLN « von steigenden Mieten und dem allgemeinen Wandel im Kiez verdrängt werden. In dem Lied lassen wir so einen Pionier zu Wort kommen.« (Tapani von der Band The Incredible Herrengedeck in einer E-Mail am 18.06.2011)

Die Band orientiert sich in ihrer Kritik am idealtypischen Verlauf der Gentrifizierung, den Holm in die Pionierphase, die beginnenden Verdrängungsprozesse, den Zuzug Besserverdienender und den weitgehenden Austausch der Bewohner einteilt (vgl. Holm 2010b: 8). Zwar habe die Praxis der Aufwertung sehr verschiedene Gesichter und erfolge nicht immer als klassischer Gentrifizierungsprozess, doch hinterließen auch scheinbar harmlose Aufwertungsentwicklungen oft verheerende soziale Spuren in den betroffenen Quartieren, so Holm (ebd., 8-19). Während Buschkowsky die Akteure der Kreativwirtschaft als wichtige Elemente für wünschenswerte Transformationsprozesse im Kiez betrachtet sowie auch der Tip-Artikel die Praktiken der Musiker als positiven Gegenpol zum negativen Image des Kiezes beurteilt, sieht die Neuköllner Band die Rolle der kreativen Pioniere, welche die Gentrifizierung vorantreiben, eher kritisch. Wenige Kilometer weiter südlich findet zeitgleich mit dem Straßenfest unter dem Motto »Have you ever squatted an Airport?« die »Besetzung« des Flughafens Tempelhof statt.73 Auch hier geht es den Aktivisten, die um ihre Rechte zur Nutzung des Tempelhofer Flughafengeländes kämpfen, um den Erhalt von Freiräumen in der Stadt. Die spezifischen Motivationsgründe74 und die Rolle der Gentrifizierungsgegner sowie ihr Verhältnis zu den neu hinzugezogenen Musikern im umkämpften Raum Neukölln sind hierbei nicht eindeutig auszumachen. Doch kann in diesem Kontext nach Heßler angemerkt werden, dass »[l]okale Protestbewegungen […] das Entstehen ›kreativer Milieus‹ verhindern [können]« (ebd. 2007: 323).75 Künstler und Kreative im Kiez fühlen sich des Weiteren mit verantwortlich für Transformationsprozesse im Kiez, was im folgenden Unterkapitel deutlich wird. 73 Die Initiatoren fassen ihre Forderung auf ihrer Website folgendermaßen zusammen: »Wir haben ein Recht auf diese Stadt und auf dieses Gelände. Es gibt keinen Grund, warum vier Millionen Quadratmeter mitten in der Stadt eingezäunt werden.« URL: www.wba. blogsport.de/2009/03/04/have-you-ever-squatted-an-airport

(letzter

Zugriff

am

12.03.2013). 74 Brown-Saracino porträtiert diverse Perspektiven und Aktivitäten von gerade angekommenen Bewohnern von ländlichen Kleinstädten sowie von »gritty multiethnic urban neighbourhoods« (ebd. 2009: 168). Sie beleuchtet die Herausforderungen, denen sich einige Newcomer stellen beim Bestreben, »to maintain a commitment to social diversity and authenticity in the face of changes that they themselves help to ignite« (ebd., 256). 75 »[D]ie ökonomische Situation des Ortes [nimmt] wesentlichen Einfluss auf die Bereitschaft der Bevölkerung, die Ansiedlung von Wissenschaft und Technologie zuzulassen, sie zu unterstützen oder abzulehnen. Lokale Protestbewegungen können die Entstehung

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Der Musiker Momus über ›kreative Spannungen‹ und das ›tiefe‹ Neukölln »[…] let us return to the question of what all this can tell us […] about ›the native’s point of view‹ in Java, Bali, and Morocco. Are we, in describing symbol uses, describing perceptions, sentiments, outlooks, experiences? And in what sense? What do we claim when we claim that we understand the semiotic means by which, in this case, persons are defined to one another? That we know words or that we know minds?« GEERTZ 1983: 68FF.

Der sich selbst als Kosmopolit bezeichnende Musiker und Autor Nicholas Currie alias Momus lebt seit 2006 im Neuköllner Reuterquartier und ist sowohl als Performer als auch als Zuhörer auf diversen abendlichen Veranstaltungen im Kiez vertreten. Ende Oktober 2008 treffe ich ihn für ein Interview in einem Café. Doch ein technischer Defekt des Aufnahmegerätes führt dazu, dass unsere Unterhaltung nicht aufgezeichnet wird. Doch im medialen, öffentlichen Raum äußert Momus seine Gedanken und Perspektiven, die sich ab 2006 auch auf Neukölln beziehen, so zum Beispiel auf seinem Blog und in vielen anderen Internetartikeln. Wie der Autor des Tip-Artikels liefert Momus Erklärungsansätze für »Kreativität« in Neukölln: In einem Kommentar mit dem Titel »Going Tribal in Neubeca« im Online-Magazin Wire76 kreiert er für den Berliner Bezirk Neukölln die Bezeichnung »Neubeca«, die er vom New Yorker Bezirk TriBeCa ableitet. Nachdem Momus in seinem Artikel auf die sozialen Probleme im Kiez hinweist,77 ›kreativer Milieus‹ verhindern; sie haben nach wie vor große Bedeutung für gesellschaftliche Entwicklungen und bilden einen Paralleldiskurs zu nationalen und internationalen Technikdiskursen und Protestbewegungen, auch wenn die sozialwissenschaftliche und historische Forschung dazu neigt, sie zu unterschätzen.« (Heßler 2007: 323) 76 Wire ist ein 1993 gegründetes, US-amerikanisches Online-Magazin, das sich auf Netzkultur, Design und Politik konzentriert. Das Magazin »Wire« und damit auch Momus’ Artikel erreichen eine Leserschaft von bis zu 3,2 Millionen Menschen. URL: www.wired.com (letzter Zugriff am 12.02.2013). 77 »Neubeca isn’t one of the city’s celebrated areas; quite the contrary – Neukölln, the area it caps, is the city’s problem district, with high unemployment rates, schools equipped with metal detectors at the door and lots of high-density immigrant settlements (mostly Turkish, but some African too).« »Going Tribal in Neubeca« am 20.06.2006 auf: URL:

262 | »T IEF IN N EUKÖLLN «

betont er die Bedeutung der türkischen Einwohner und ihren kulinarischen Input für den Kiez.78 Zwar möchte er sich in diesem Zusammenhang häufig auftauchenden Exotifizierungen entziehen, doch vergleicht er die Atmosphäre der türkischen Wochenmärkte in Neukölln mit jener Stimmung, die er von Brueghel’schen Gemälden kennt.79 Ähnlich wie die in Kapitel II befragten Musiker ästhetisiert Momus das imaginäre Bild von Neukölln im Sinne Moravánszkys durch die Assoziation mit dem Pittoresken der ländlichen Kultur (vgl. ebd. 2002: 7-8). Außerdem gibt er dadurch der Idee einer einheitlichen türkischen Kultur Ausdruck, die als die der »anderen« seiner eigenen gegenübersteht, was ebenfalls im zweiten Kapitel im Zusammenhang von Sichtweisen von Musikern erörtert wurde. Aus der Perspektive eines Mitglieds seines »tribes«, zu dem er die kürzlich zugezogenen Pioniere, also die kreativen Künstler oder Musiker in Neukölln zählt, beschreibt Momus folgende Phänomene: »Like an Indian tracker, I was quickly able pick up traces of the scent of my own kind in Neubeca. […] Live-work spaces. As you approach the canal, Neukölln’s rundown blocks start giving way to streets in which commercial shop fronts have been converted by creative selfemployed people into ateliers. Here, the boundaries blur between personal and corporate, shop and living space. [...] Going in would clearly feel more like entering a private space than a store visit. As in the market, there’s something medieval here, some return to cottage industry, families working together, a certain amateurism. It also resembles the extended family businesses the Turks run. Non-chain cafes with shabby chairs, raw wood, hip magazines lying about, hip owners […]. Open Wi-Fi networks. Poorer districts don’t have them […]. [I]mpromptu grassroots cultural organizations. Besides a handful of art galleries (which seem to be showing scribbly, half-assed art with zero commercial potential, and are being run purely for the benefit of the owners and their friends). [...] Haven’t we heard this all before; artists as the shock troops of gentrification, tricksy new names for poor old areas, names that might as well come straight out of a realtor’s brochure?« (Ebd.)

www.wired.com/culture/lifestyle/commentary/imomus/2006/06/71172 (letzter Zugriff am 21.02.2013). 78 »In fact, it was the Turks who first attracted me to the area. Twice a week, along the canal, a fresh food market is assembled, […] almost entirely run by Turkish traders. It’s a far cry from the German street markets in well-heeled districts like Prenzlauer Berg, with its fine wines, sausages and pats. Here by the canal the atmosphere is redolent of the Muslim Mediterranean: patterned headscarves throng as veiled women shop for chick peas, […] olives, vine leaves and pide – big loaves of round, flat Turkish bread.« (Ebd.) 79 »Weirdly enough though, it doesn’t feel exotic. If anything, the Turks have restored to Berlin something of the atmosphere of the medieval Northern European street markets familiar from the paintings of Brueghel.« (Ebd.)

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Er schildert das bunte, geschäftige Treiben der neuen Neuköllner Bewohner und deren ad hoc eröffneten Cafés und Kunstgalerien. Die in Basisorganisationen oder bereits zu Familien formierten Neuköllner arbeiteten gemeinsam und hätten ähnliche Absichten. Seine Betrachtungsweise drückt eine gewisse Ernüchterung gegenüber den Praktiken der hippen Neuköllner aus. Momus’ Aussagen implizieren eine Selbstverständlichkeit der beschriebenen Phänomene: Jene »grassroots«-Praktiken habe er bereits in vergleichbarer Weise im New Yorker Bezirk TriBeCa beobachtet. TriBeCa hat laut Wikipedia »seit den 1990er Jahren eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren«80 und gilt auch anderen Medienberichten zufolge als Bezirk, in welchem »artists act as gentrifiers […] as they help revitalize areas of past stagnation and crime.«81 Momus’ Begriffskreation »Neubeca« und der Artikel im Berlinmagazin Tip behaupten für Neukölln somit dieselben sozialen Dynamiken, welche die Autoren in den beiden New Yorker Bezirken sehen. Mit der Übertragung New Yorks als Schablone städtischer Entwicklungen auf den Kiez führt Momus den Amerikanisierungsprozess weiter (vgl. Ronneberger 1998: 84). Aber lassen sich US-amerikanische, städtische Entwicklungen so einfach auf bundesdeutsche Verhältnisse übertragen? Abu-Lughod untersucht in ihrer 1995 veröffentlichten Publikation städtische und gesellschaftliche Entwicklungen in der New Yorker Lower East Side. In der abschließenden Betrachtung ihrer Methodologie argumentiert sie für eine Übertragbarkeit einzelner Aspekte ihrer »neighbourhood«-Analysen auf andere Bezirke.82 Doch durch den klaren Bezug auf historische Entwicklungen des New Yorker Bezirks wird die Spezifik der analysierten Struktur deutlich.83 Angesichts der Tatsache, dass die Migrationsgeschichte der Bundes80 »TriBeCa ist ein Stadtteil von Manhattan, New York. Der Name steht für ›Triangle Below Canal Street‹. Er liegt zwischen der Canal Street im Norden, dem Park Place im Süden, dem Hudson River im Westen und dem Broadway im Osten. TriBeCa war ursprünglich ein Industriebezirk, hat aber seit den 1990er Jahren eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren. Heute befinden sich in TriBeCa viele Bars […] und Kunstgalerien.« URL: http://de.wikipedia.org/wiki/TriBeCa (letzter Zugriff am 10.03.2013). 81 O.A. (2008): »How Artists Act as Gentrifiers. From TriBeCa to SoHo to Dumbo.« URL: www.123helpme.com/view.asp?id=54005 (letzter Zugriff am 10.03.2013). 82 »Although every single subarea in every city is, in an ultimate sense, unique, and therefore one can scarcely hope to find a ›typical‹ case whose results can easily and mechanically be transferred to many other cases, we stronlgy argue that the processes of colonization, resistance, conflict, and negotiation we have unmasked in our case study are also operative in many other diverse and changing inner-city areas.« (Abu-Lughod 1995: 349) 83 Abu-Lughod veranschaulicht die Transformationsprozesse der Lower East Side chronologisch ab Beginn des 19. Jahrhunderts bis hin zu den 1980er Jahren. Dabei bezieht sie sich auf die ethnische Abstammung der Einwanderer (vgl. ebd. 1995: 343-345).

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republik sich grundlegend von US-amerikanischen Einwanderungsprozessen und Zivilrechten unterscheidet,84 sind Vergleiche von Transformationen in US-amerikanischen Bezirken mit denen in Neukölln, wie sie sowohl Momus als auch der TipArtikel vornehmen, fragwürdig. In seinem Artikel konstatiert Momus weiterhin, dass jene »urban pioneers« in ihren Arbeitsweisen und Materialien beeinflusst seien von den »urban poor«. Im Zusammenleben der Kreativen mit den »urban poor« konstatiert er sowohl eine ›Spannung‹ als auch eine ›Dynamik‹, die in »purely yuppie neighbourhoods«, zu denen er beispielsweise auch Prenzlauer Berg zählt, nicht existiere. So prognostiziert Momus, dass jene kreative ›Spannung‹ zwischen den beiden »tribes« nicht von langer Dauer sei, da »liminal zones like Neubeca are doomed to lose their ambiguity, to become one thing or the other, to gentrify.«85 Im Kontrast zu einer Mehrdeutigkeit (»ambiguity«) prognostiziert Momus die Gentrifizierung des Kiezes, die er nicht als erstrebenswert aber als unumgänglich erachtet und fühlt sich als Künstler mit verantwortlich für einen als solchen bezeichneten städtischen Strukturwandel. Nach Momus erhält Neukölln sein kreatives Input aus dem Zusammenleben der nicht näher bestimmten »urban poor« bzw. einer pittoresk beschriebenen türkischen Bevölkerung mit den neuen Pionieren im Kiez. Diese Perspektive findet sich auch in der Morgenpost und im Tip wieder, die die »Vielfalt« im Kiez und das Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen verantwortlich für die neuen, kreativen Impulse machen. Solche produktiven Spannungen beschreibt auch der Stadtsoziologie Häußermann im Zusammenhang mit Metropolen im Allgemeinen: Denn hier sei »die ›ganze‹ Gesellschaft« anwesend wie an keinem anderen Ort (ebd. 2006: 22), was er wie folgt weiter erklärt: »Aus der sozialen, kulturellen und ethnischen Vielfalt ergeben sich Spannungen und Reibungsflächen, die politisch und kulturell innovativ und produktiv sein können, wenn die Fähigkeit zur sozialen und symbolischen Integration vorhanden ist.« (Ebd., [Herv. durch CH]) Diese innovativen Reibungs84 Vgl. Klaus J. Bade/Myron Weiner: Migration Past, Migration Future. Germany and the United States. Providence/Oxford: Berghahn 1997, S. ix-xv. 85 Momus am 20.06.2006: »In some ways that tension can’t last: liminal zones like Neubeca are doomed to lose their ambiguity, to become one thing or the other, to gentrify. And yes, I’m a part of that process and so is this article. What can I say? I like my own tribe, but I also like other tribes – the Turks, for instance. The creative, productive tension between them may only last five years or so, but it’s a five year process I’m happy to be a part of. […] I’m negotiating for a Neubeca apartment, hoping to take over the lease of the musician who lives there now. It’s looking good; members of the same tribe of urban pioneers, we recognized each other immediately. […].« URL: www.wired.com/culture/lifest yle/commentary/imomus/2006/06/71172 (letzter Zugriff am 21.03.2013).

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flächen stellt Häußermann in einen Zusammenhang mit einer »herausragenden Wirtschaftskraft der Metropolen«, von der nicht alle Bewohner profitierten (ebd.). Raum für »subkulturellen Imperialismus« Unter dem Titel »deeper into Neukolln«86 dokumentiert Momus auf seinem Blog die Läden im südlicheren Teil Neuköllns und vergleicht sie mit Galerien in BerlinMitte und Plattenläden auf der Londoner Oxford Street. Wie ein globaler Trendsetter und Reiseführer macht er seine internationale Leserschaft mit der Neuköllner Geographie und deren Läden vertraut. So wissen auch Momusfans aus New York, Rio und Tokyo, welche Orte sie bei ihrer nächsten Neukölln-Reise aufsuchen sollten. Das »tiefere Neukölln« impliziert so neben der rein geographischen Bedeutung seine Vorstellungen von Abseitigkeit und des Undergrounds als Charakteristika des Kiezes, wie es auch aus den Sichtweisen der interviewten Musiker in Kapitel II hervorging. In seinem Artikel »In deepest Neukölln, where almost nobody cares« dehnt er das beschriebene Gebiet weiter aus und beschreibt ein Event, das sich geographisch betrachtet damit ›tiefer‹ und weiter außerhalb des Reuterquartiers, in der Nähe des Tempelhofer Feldes, befindet: »Sowieso is a venue in ›deep Neukölln‹ [...] which is still in the grip of some sort of magic. [...] What I mean is that because money doesn’t bother with such areas – not yet, anyway – amazing art and music is still occurring here. Or is just beginning to occur. Here, completely without being spoilt by money or crowds, unboring events take place totally uncompromised by anything approaching popularity. [...] Last night [...] I arrived at Sowieso [...] to catch some sort of Western approximation of a bearded Indian anchorite [...] sitting on the floor, generating a kosmische drone that could stop time – or at least stop the twenty or so people present from talking. His loincloth was made of white insulating tape, a flower was wedged behind his ear, his body was smeared with white dye, and a small plant sat on the tiled floor by the mixer, possibly as a kind of spiritual inspiration. In most places you or I might go – in London, in LA – this man would have been laughed at or talked over. Not here in deepest 87

Neukölln. Here you could have heard a pin drop.«

86 Hier schreibt er am 12.07.2009: »The move back into Neukolln – deeper into Neukolln, in the developing area around Boddinstrasse – seems to have given Staalplaat a rush of relevance, a new mission and energy. [...] The gamble seems to have paid off; foot traffic into Staalplaat during the day is apparently rather higher down here ›in the middle of nowhere‹ [...] than it was up on tacky Torstrasse, the Oxford Street of Berlin hip.« URL: www.imomus.livejournal.com/471981.html (letzter Zugriff am 12.03.2013). 87 Momus am 14.08.2009: »In deepest Neukölln, where almost nobody cares«. URL: www.imomus.livejournal.com/480310.html (letzter Zugriff am 12.03.2013).

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Die Gegend um den Veranstaltungsort charakterisiert er als magisch, was er dadurch erklärt, dass Geld in diesem ›tiefen‹ Neukölln (noch) keine Rolle spiele und hier deshalb auch erstaunliche Kunst und Musik entstehe. Momus beschreibt eine experimentelle Drone-Performance im Neuköllner Sowieso. Er vermutet, dass man dem Performancekünstler in Städten wie London und Los Angeles nicht dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt oder sogar über ihn gelacht hätte. Ganz im Gegenteil hätten die Zuhörer hier ihre Gespräche beendet und aufmerksam zugehört. Erfolgt die Abbildung von Neuköllns geographischer ›Tiefe‹ einerseits durch Adjektive wie ›rau‹, ›experimentell‹, ›noisy‹, ›dreckig‹ und ›wild‹ vergleichbar mit den Perspektiven der Musiker in Kapitel II, ruft Momus anhand der Konzertsituation die Vorstellung einer harmonischen und »Acoustic Community« hervor, wie sie im ersten Kapitel anhand des gigs von Ferne im Reuterquartier diskutiert wurde. Ferner betont Momus den symbolischen Gehalt des ›abseitigen‹, ›freien‹ und ›autonomen‹ Charakters des Kiezes. Somit bezieht er vermeintliche musikalische Freiheiten, die er in Neukölln lokalisiert, auf ein spezifisches Publikum im Kiez, das noch nicht vom Geld verdorben sei. Analog zu einer Stilistik des Unkommerziellen, wie es der Artikel im Tip anhand der »leeren Sparkassenkonten« erklärt, konstatiert auch Momus einen Einfluss der gesellschaftlichen Umgebung auf die Einstellungen des musikalischen Alltags in Neukölln und behauptet durch den Bezug auf den lokalen Kontext eine durch Gemeinschaft generierte und in der Nachbarschaft verwurzelte Authentizität der künstlerischen Praktiken. Die Ausführungen des aus Schottland über viele Umwege nach Neukölln übergesiedelten Musikers Momus werfen Fragen zu seiner Position in dem von ihm beschriebenen Umfeld auf: Die durch Selbstreflexion entstandene Identifikation mit einem kreativen ›tribe‹, wie sie in Zusammenhang mit global vernetzten Techno-Szenen in Kapitel III diskutiert wurde, führt zu einem interessanten Rollenspiel und provoziert die Frage nach einem »native’s point of view« in Neukölln, den auch Anthropologen als Karikatur ihrer eigenen Disziplin erkennen.88 Momus erkennt die »alten Immigranten« – aus seiner Sicht die türkischen Bewohner und eine nicht weiter definierte, als »urban poor« bezeichnete Bevölkerungsgruppe – als zuverlässige Konstante im Kiez. Bauman thematisiert in vielen seiner Werke die Frage danach, wie dominante Gesellschaftsgruppen und Institutionen auf »ethnic otherness« antworten und diese konzeptualisieren. Als Angehöriger der Wissensklasse im Sinne Baumans nimmt Momus den »Modus ›ein Fremder zu sein‹« für seine Zwecke weniger mit dem Gefühl der Entfremdung (vgl. Kapitel IV) als vielmehr mit dem des Zusammengehörigkeitsgefühl mit den anderen Kreativen

88 »I might add that I dislike the term ›native‹ or ›native point of view‹, which was a caricature even when Geertz appropriated it into his discussion of interpretation.« (Marcus 2008: 50)

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im Kiez wahr.89 Seine Berichte repräsentieren den Kiez – wenn nicht aus Sicht einer »Mehrheitsgesellschaft«, so doch aus der Perspektive eines ›subkulturellen Imperialismus‹.90 Grundlegend für diese Denkweise ist abermals die in Kapitel II am Beispiel der Ästhetisierungen der Musiker dargelegte Kosmopolitisierung, in welcher das »Western self« – im direkten Vergleich zum »anderen« – seine privilegierte Position beibehält und der »kulturell andere« ein Sammelobjekt ist, von welchem man sich gesellschaftlich abgrenzen kann (vgl. Roberts 2005: 579).

4. B RANDING , E MPOWERMENT FÜR N EUKÖLLN

UND DER

W ERT

VON

K UNST

Die Kulturamtsleiterin Dorothea Kolland in einem Gespräch Connell/Gibson konstatieren, dass keine Gesellschaft ohne eine musikalische Tradition besteht (vgl. ebd. 2003: 19). Aber zeichnet sich Neukölln durch spezifische musikalische Traditionen aus? In der Einleitung zur 1990 vom Neuköllner Kulturamt veröffentlichten Schrift »Rixdorf im Jahr 2000« versucht die Kultur-

89 »Der Modus ›ein Fremder zu sein‹ wird von jedem Angehörigen der zeitgenössischen Gesellschaft mit ihrer extremen Arbeitsteilung und der Trennung funktional getrennter Sphären in ganz unterschiedlichem Maße erfahren. Wenn Angehörige der Wissensklasse eine solche Erfahrung durchleben, dann tun sie das eher als Mitglieder der Gesamtgesellschaft denn als Wissenschaftler, Technologen, Denker oder Künstler.« (Bauman 1992: 123) 90 »While the term ›cultural imperialism‹ is today more often associated with the global media industries and their allegedly homogenizing cultural effects, global club cultures today can often be seen as engaging both discursively and actually in subcultural imperialism. In contrast to the missionary zeal of certain areas of global club culture, and second, the primitivist imaginary is characterized by a desire to escape from the modern self and an embracing of cultural otherness which ultimately involves becoming the other (›going native‹). While ostensibly a more benign form of intercultural relationship between the modern, Western self and its others, it remains an essentially privileged position originating in colonial [...] relations. The cosmopolitan imaginary provides a third […] option for today’s globalized subcultures, in which the cultural other becomes an object of collecting and connoisseurship […]. Whereas in the colonial world each of these social imaginaries was enabled by the unequal power structures of imperialism, in their contemporary, neocolonial manifestations [...] they take place within the no less unequal economic structures of global capitalism and are primarily organized around consumption.« (Roberts 2005: 579)

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amtsleiterin Dorothea Kolland eine Annäherung an die Neuköllner Musikkultur der letzten 100 Jahre. Neben einer lebendigen Theaterkultur stehen Gesangsvereine sowie die Vergnügungsmeile an der Hasenheide91 im Fokus der Publikation.92 Die »hohe Kunst« soll es im vom Industrieproletariat besiedelten Arbeiterkiez demnach immer schwer gehabt haben (D. Kolland 1990: 10-12). Historisch betrachtet galt Neukölln seit Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen eines »Gründerboom[s] an Veranstaltungsstätten« als Vergnügungsort und der Refrain »In Rixdorf is’ Musike« als Symbol für die Kultur im Kiez.93 Vergleichbare kulturelle Entwicklungen vermutet die Autorin »am ehesten in Wedding, in Friedrichshain und in Prenzlauer Berg, in den Bezirken also, wo sich Kleinbürger- und Arbeiterkultur gegenüberstanden, manchmal sich verzahnend, häufiger sich bekämpfend« (ebd., 10). 94 Spätestens seit 1915 wurden Musiktraditionen im Kiez durch städtische Institutionen gefördert. Dies wird durch das Beispiel sogenannter »Volkssymphoniekonzerte« deutlich, in welchen dem gezielt aus Arbeitern zusammengestellten

91 Der Bau des »modernsten Kaufhauses Europas« Karstadt 1929 und auch das Café in der Hasenheide brachten kurz vor dem Verbot der Bluenote den Jazz nach Neukölln (vgl. Ramm 1990: 246-256). 92 (Vgl. Susen 1990: 77-91, vgl. Hellemann 1990: 92-105, vgl. Ahrens 1990: 112-123, vgl. Bertz 1990: 149-159) 93 »Im frühen Neukölln, in Rixdorf, hat es immer musikalische Aktivitäten gegeben. Als ›Musik des Dorfes‹ war Musik Ende des 19. Jahrhunderts in den Alltag integriert. Die böhmischen Zuwanderer stellten auch eine musikalische Bereicherung dar (wie später beispielsweise die Türken seit den 1960er Jahren). Ein wahrer Gründerboom an Veranstaltungsstätten überfällt Rixdorf, die Kneipiers übernehmen die Funktion der Kulturveranstalter. Kunst und Unterhaltung sind eng miteinander verwoben, ein Sinfoniekonzert ohne anschließenden Ball ist kaum vorstellbar. […] Besonders typisch […] ist die enge Beziehung, in der Kunst und Unterhaltung miteinander standen. […] Die Rixdorfer liebten ihr Abonnementskonzert mit anschließendem Tanz, das Biertrinken bei ›Othello‹, die Ausflüge ihres Gesangsvereins. […] Die Entwicklung der neuen Kulturszene Neuköllns mit ihren Freien Gruppen, Jazzmusikern und den vielen Ensembles türkischer, griechischer, jugoslawischer, arabischer, südamerikanischer Provenienz ist noch zu offen, um sie historisch einordnen zu können.« (D. Kolland 1990: 15, 10-11) 94 D. Kolland beschreibt Neukölln zwischen 1899 und 1933 als Arbeiterkiez: »Besonders im Bildungs- und Gesundheits- und Bauwesen werden Reformen und Experimente gewagt, die einen wichtigen Beitrag Neuköllns zur Geschichte Berlins darstellen. Sie geschehen nicht aus einem Neukölln-Bewußtsein heraus, sondern aufgrund der politischen Überzeugung mehr oder weniger links stehender Sozialisten. Erste Versuche eines umfassenden Netzes kommunaler Kulturarbeit werden unternommen.« (Ebd., 12)

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Publikum auch die allgemeinen Benimmregeln für derartige Musikveranstaltungen vermittelt werden sollten.95 Doch wie schreibt der Kiez seine Kulturgeschichte in den Nullerjahren weiter? In einem Interview Ende 2008 unterhalte ich mich mit der seit 1981 tätigen Neuköllner Kulturamtsleiterin Dorothea Kolland über kulturelle Praktiken im Kiez. Eine Basis für eine Hausbesetzerszene, die sie als förderlich für die Entwicklung einer Künstlerszene oder für gesellschaftliche Bewegungen beschreibt, habe es in Neukölln nie gegeben.96 Zwar wohnten immer schon Künstler im Kiez, doch konnten sich Kunst und Kultur Kolland zufolge nicht so entwickeln wie dies zum Beispiel in Kreuzberg der Fall war.97 So sei die hiesige Weserrakete (siehe Kapitel 95 »Ab 1911 gibt es schließlich ›Volkssymphoniekonzerte‹ in der ›Neuen Welt‹ [in Neuköllner] und Kammerkonzerte u.a. in der Schule Boddinstraße [mit dem] BlüthnerOrchester und ab 1912 [den] Berliner Philharmoniker[n]. Diese hatten sich verpflichtet, Volkskonzerte in den großen Brauerei-Sälen Berlins zum Einheitspreis von 30 Pf durchzuführen […].Die Karten wurden über die Volkswohlfahrt und Berliner Gewerkschafts-Kommission vertrieben, so daß das Publikum zu erheblichen Teilen aus Arbeitern bestand. Der volksbildnerische Anspruch ging einher mit der Einübung entsprechender Benimm-Regeln: ›Rauchen ist nicht gestattet. Stühle dürfen nicht mit Garderobe belegt […] werden‹, heißt es auf den kostenlosen Programmblättern.« (H. Kolland 1990: 36) 96 Dies schließt sie primär aus der Größe der Wohnungen: »In Neukölln hat es nie große Wohnungen gegeben. Statistiken von 1918 [zeigen, dass es] nur ein bis zwei Zimmer große Wohnungen gegeben hat, in der Hasenheide ein paar größere, [also] ungeeignet für Wohngemeinschaften, [die] die Hilfen der Hausbesetzer waren.« (D. Kolland in einem Interview am 10.11.2008) 97 »Damals gab es den Versuch, der sogenannten freien Neuköllner Kunstausstellung in den Rathausfluren, wo jeder, der wollte, was ausstellen konnte. Da gab’s noch keine Galerien, der Altersdurchschnitt lag damals bei fünfundsechzig; das war Kunst und Kultur [in NK]. Sie hatten Bilder eingereicht, auf war ein Schild, womit jemand demonstrierte: ›Gegen Verbrecher in Stadt und Land!‹, die Wohnungsbaugesellschaft, welcher das Haus gehörte. Einen Tag vor Ausstellungseröffnung lief der Baustadtrat an dem Bild vorbei […] und verfügte, dass es abgehängt wird, worauf es eine heftige Protestbewegung bei Künstlern, auch bei den etwas älteren, gab. [Es] wurde klar, dass das Rathaus als Ort der Kunst völlig ungeeignet war. […] Es gab [keine weiteren] besetzten Häusern, [außer] in der Richardstraße 8. [...] Es hat dann zwar Jusos gegeben, doch die sind dann von einer unheimlich rechten SPD niedergeknüppelt worden und hatten überhaupt keine Chance, sich hier politisch zu profilieren; es war eine brave rechte Sozialdemokratie an der Macht […]. Man hat gemerkt, dass das [die Baumaßnahmen] nicht vernünftig waren. Die Kreuzberger haben daraus gelernt, und in den wunderbaren Remisen und Fabriketagen des Kleingewerbes waren Künstler drin, die waren dann auch so ein Stück Hilfe. Das hat es in Neukölln auch nicht so gegeben.« (Ebd.)

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I) im Reuterquartier zwar bestimmt von einer »›Staatsknete – Nein, Danke!‹ -Idee«, doch das »nicht so politisch, wie das in den 1980er Jahren bei den Hausbesetzern gewesen« sei (D. Kolland in einem Interview am 10.11.2008). Ebenso blieben Protestwellen zum Beispiel gegen die Baumaßnahmen im Neuköllner Rollbergviertel98 1971 aus. Kreuzberg, wo es auch mehr Leerstand für größere Ateliers und Wohngemeinschaften gegeben habe, übernimmt in der Perspektive der Kulturamtsleiterin im Vergleich zu Neukölln die gesellschaftlich wie politisch wichtigere Rolle.99 Doch die negativen Momente Neuköllns, zu denen sie vor allem die Anfang der 1970er Jahre durchgeführten Baumaßnahmen zählt, begreift Kolland als Chance, aus den Fehlern zu lernen.100 Neben einer starken Dichte an Künstlern insgesamt betont sie auch den Anteil an Musikern im Kiez: »Es kommen aber auch ziemlich viele Musiker […], aber keine Rocker, sondern eher ruhige ausgebildete Leute, die im Jazz- und Klassikbereich angesiedelt sind, die aber parallel laufen. Es gibt eine erstaunliche Zahl von Musikern. Wenn die sich bewerben, dann stellen die sich mit ihrer Website vor, dann kann man die gar nicht lokalisieren. Da hole ich mir gerne Musiker aus Neukölln und ich bin immer platt, zu sehen, was wir hier für Leute haben, die in New York [und] Paris spielen, aber hier ihre Heimat haben.« (D. Kolland in einem Interview am 10.11.2008)

Kolland verortet die musikalischen Praktiken der in Neukölln ansässigen Künstler in anderen Großstädten wie New York und Paris, was für sie positiv besetzt ist. Sie betont die Ausbildung der Musiker, die sie als »ruhig« charakterisiert im Kontrast 98

Durch die Bebauung aller Parzellen wird das Neuköllner Rollbergviertel zur »Schlafstube der Berliner Arbeiter«, wo viele Menschen auf engstem Raum wohnen (vgl. Berning 1994: 232). 1971 wurden die Parzellen […] saniert, was mit einem Totalabriss […] und einer völligen Neubebauung verbunden war: »Was […] als gut geplant erscheinen mag, kann für manche Anwohner zum Alptraum werden […]. Aus den Planquadraten des ehemals überwiegend kommunistischen Kiezes sind Wohnungen mit internationaler Mischung geworden.« (Rogler 1987: 70 nach Berning 1994: 233, 236)

99

Auch Lanz vergleicht die Entwicklungen in Neukölln mit denen in Kreuzberg und analysiert dabei die Rolle der Politik: »Quasi spiegelverkehrt zu Kreuzberg spielt immer wieder die Politik eine wichtige Rolle. In Neukölln fehle die politische Unterstützung, die Kreuzberg erlebt habe. Eine als traditionell repressiv gedeutete Neuköllner ›Ausländerpolitik‹ sei mitverantwortlich für die dortigen Probleme.« (Ebd. 2007: 250)

100 »Man hat von Neukölln im negativen Sinne [gelernt]: Das Rollbergviertel […] ist kahlschlagsaniert worden […]. Dann kamen Stadtplaner, Stadtforscher […], haben einen Mordsschreck gekriegt [weil] soziale Netzwerke zerstört wurden [und] ältere Menschen krank geworden [sind].« (Ebd.)

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zu der Vorstellung von »Rockern«. Diese Darstellung ist vergleichbar mit ihrer Vorstellung der Weserrakete, die für sie nicht durch Rebellion geprägt ist. Ihr Bild der Musiker und jungen Akteure im Kiez spiegelt die Perspektive Katharinas wider, die die Klientel um die Weserstraße als »harmlos« bezeichnete (siehe Kapitel I) und ist vergleichbar mit der Vorstellung vom gemeinschaftlichen Charakter der Akteure im Kiez, über welchen Momus in seinem Blog berichtete und welcher am Beispiel des Konzerts der Band Ferne im Reuterquartier herausgearbeitet wurde. Nachbarschaftlichkeit durch Kunst? Besonders im Kunstfestival »48 Stunden Neukölln« erkennt die Neuköllner Kulturamtsleiterin ein hohes gemeinschaftsbildendes Potenzial, welches die Nachbarschaftlichkeit im Kiez verstärke. Es habe zwar lange gedauert, bis die Quartiere bereit gewesen seien, das Festival »als wichtiges Element« zu verstehen, doch mittlerweile gebe es in den einzelnen Quartieren Neuköllns nun auch sogenannte Kunstfilialen (ebd.). Die Aufgabenbereiche der Kunstfilialen bestehen in der Vernetzung von Neuköllner Künstlern sowie der Veröffentlichung eines Flyers, mit dem die künstlerischen Veranstaltungen im Kiez beworben werden. Stefanie und Rolf von der Kunstfiliale im Reuterquartier leben seit knapp zwanzig Jahren im Kiez. Sie sind für die Ausstellungen in der Galerie 31 und die Erstellung des »ReuterkunstFlyers« verantwortlich, der monatlich über anstehende Ausstellungen, Konzerte und andere Veranstaltungen im Kiez informiert und dadurch auch für die Vernetzung von Künstlern im Reuterquartier zuständig ist (siehe Kapitel I) Stefanie erklärt, dass die Arbeit der Kunstfiliale primär auf Standortmarketing im Kiez abziele.101 Bestandteil dieses Kiezbrandings war neben dem Flyer auch die Entwicklung eines kiezeigenen Logos, den »Kunstreuter«. Rote Fahnen mit diesem Logo konnten von den teilnehmenden Galerien und Läden vor die Tür gehängt werden. Die Vermutung, dass dieses Branding die Identifikation der Bewohner mit dem Kiez erleichtern solle, wird von Stefanie bestätigt: Das sei die Hoffnung, die man habe. Die Leute würden kommen, um dabei zu sein (Stefanie in einem Interview am 02.03.2009). Weiterhin erklärt sie mir: »Die Leute müssen ihre Fahne nicht draußen haben, um am Programm teilzuhaben. Es geht um Infomaterial und [um die Frage:] ›Was passiert hier eigentlich?‹« (ebd.). Aber Künstler und Studenten habe es schon immer im Kiez gegeben, dies sei hier nichts Neues, räumt ihr Kollege Rolf ein (ebd. in einem Interview am 101 »Wir sind schon lange im Quartiersbeirat tätig […], und das Standortmarketing war mit unsere Idee, um ein Stück weit eine Öffentlichkeit zu schaffen für das, was passiert an Kunst und Kultur. […] Bezahlt wurde das Ganze vom Quartiersmanagement.« (Stefanie in einem Interview am 02.03.2009)

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02.03.2009). Durch seine Aussage mag er einem möglichen Vorwurf zum künstlichen Charakter der Vermarktung des Reuterquartiers als »Kunstkiez« entgegenwirken wollen: Die institutionellen Aktivitäten im Reuterkiez sollen mit dem Hinweis auf eine bereits lang andauernde Präsenz von Künstlern im Kiez in ein logischreales Licht gestellt werden – im Sinne einer natürlichen Entwicklung des Reuterkiezes. Kolland hingegen konstatiert die Bedeutung der Außendarstellung des Reuterquartiers und benennt in diesem Zusammenhang auch den Zuzug »qualifizierter Leute«102 in diesen Kiez. Wenn man den »Faktor von Nachbarschaftlichkeit, Netzwerken, sozialen Kontakten« betrachte, seien »Kulturleute eher in der Lage […] als andere Nachbarschaft aufzubauen«, was man zuvor völlig unterschätzt habe (D. Kolland in einem Interview am 10.11.2008). Sie verspricht sich neben »48 Stunden Neukölln« auch durch andere künstlerisch-kulturelle Aktivitäten und Projekte der Bürger im Kiez eine Verstärkung der Nachbarschaftlichkeit. Die Absichten der Projekte müssten dem Geist der Quartiersmanagements entsprechen und werden dadurch »von der Steuerungsrunde, in der auch Mitglieder des Senats vertreten sind, abgesegnet«,103 erklärt mir Kolland. Die Intentionen des Quartiersmanagements erklärt sie folgendermaßen: »Empowerment ist die europäische Vokabel, […] dass Leute irgendwelche Möglichkeiten haben, ihre Stärken zu entdecken, selbständig zu werden, das habe ich jetzt etwas ironisch […] gesagt, [aber da] ist die panische Angst der Quartiere, man könnte Kunst fördern und nicht die soziale Gemeinschaft. […] das oberste Prinzip [muss] immer sein, dass damit die Empowerment-Kohäsion im Kiez gefördert wird und bloß keine Kunst. […] Es ist [ei]ne Frage von Antragslyrik: Ich hole nicht Leute zusammen, um ein tolles Kunstwerk zu fördern, sondern um Gemeinschaft zu fördern.« (D. Kolland in einem Interview am 10.11.2008)

Somit müssen die Anträge für nachbarschaftliche Projekte in Neukölln immer von der Absicht geleitet sein, die soziale Gemeinschaft im Kiez zu fördern. »Kunst« als

102 »Das sind eher qualifizierte Leute, die ein Studium hinter sich haben. Kommunikationsdesign, Design oder in Kunst-/Kulturwissenschaften, eher solche Leute, die das mit den Läden ausprobieren. […] Viel kriege ich über ›48 Stunden‹ mit, unterschiedliche Quellen, am meisten Leute, die irgendwelche Projekte starten und Unterstützung brauchen, Vernetzungen. Mit Geld können wir nicht viel weiterhelfen.« Die Vernetzung der Künstler mit Hilfe der Kunstfilialen in jedem Kiez könne hier eine erste Hilfe sein. (Ebd.) 103 »Die müssen die Projekte erst mal vorstellen […], und wenn die Steuerungsrunde der Meinung ist, dass das dem Geist des [QM] wiederstrebt, dann werden die Projekte […] abgelehnt und brauchen gar nicht mehr durch den Quartiersbeirat gehen.« (Ebd.)

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primäres Ziel erscheint eher als Schimpfwort, das von den Senatsmitgliedern leicht abgelehnt wird. »Vom Wert der Kunst« im Reuterquartier Die Kreativwirtschaftskonferenz in Neukölln 2009 veranschaulicht die starke Wirkkraft von Kunst und kreativen Projekten im Kiez, die eher wenig zu tun hat mit der Schaffung sozialer Gemeinschaften im Sinne eines nachbarschaftlichen Empowerments. Zwar erklärte die Leitern des Neuköllner Kulturamts im Interview Ende 2008, dass es keinen »Masterplan«104 für Neukölln gebe. Auf der Konferenz hingegen macht sie auf den Kulturentwicklungsplan aufmerksam, der in Punkt Acht die »Fokussierung auf besonderes Entwicklungspotenzial: Kultur- und Kreativwirtschaft« vorsieht.105 Auch ein von dem Geographen Marco Mundelius und der Kunsthistorikerin Melanie Fasche unternommenes Forschungsprojekt ist in diesem Entwicklungsplan enthalten: Hinter dem Titel ihrer Untersuchung »Vom Wert der Kunst«106 verbirgt sich eine Studie über Kreativwirtschaft im Reuterquartier.107 Die beiden Forscher erkennen am Standort Reuterkiez für »Kunst und Kultur sowie privatwirtschaftlich 104 »Einen Masterplan, was […] aus Neukölln werden [soll], hat es nicht gegeben. […] es sollten ja keine Ziele von außen implantiert werden, sondern geguckt werden, welche Potenziale da sind. Wenn man da von außen irgendwelche Ziele setzt, dann hätte man ja […] sicherlich an den kulturelle Potenzialen vorbeigeschaut worden, weil die hat man nicht ernst genommen.« (D. Kolland in einem Interview am 10.11.2008) 105 »Ich bin noch zwei Jahre Kulturamtleiterin […]. Es gibt einen Kulturentwicklungsplan, der inzwischen von der BVV genehmigt wurde. Ganz oben steht die kulturelle Bildung. Aber auch die Künstlerförderung ist dabei, wir haben hier wenig zu verteilen.« (D. Kolland nach Wasner/Dickert in: »Protokoll des Kreativ- und Kulturwirtschaft in Neukölln am 22.09.2009«. URL: http://kultur-neukoelln.de/ (letzter Zugriff am 21.02.2013) Folgende Ideen werden unter anderem aufgelistet: »Entwicklung von Kommunikationsstrukturen aller an Prozessen der Kulturwirtschaft […] Entwicklung eines Neukölln-Konzepts ›Kreativwirtschaft‹ unter besonderer Berücksichtigung der Initiativen der [QMs] (z.B. Reuter-Quartier: ›Vom Wert der Kunst‹) […].« (Ebd.) 106 Vgl. Marco Mundelius und Melanie Fasche: »Vom Wert Der Kunst« im Reuterkiez Neukölln, Berlin 2009. Die für das Quartiersmanagement Neukölln aufbereitete »Tischvorlage zur begrifflichen Abgrenzung für dieses Projekt« ist als pdf-Datei einsehbar: URL:

www.reuterkunst.de/download.php?cat=12_Wert-nbsp~der-nbsp~Kunst&file=

BegrifflicherRahmenWertderKunstimReuterkiez.pdf (letzter Zugriff am 17.03.2013). 107 Die Untersuchung wurde im Rahmen des Programms »Zukunftsinitiative Stadtteil«, Teilprogramm »Soziale Stadt« von der EU, der BRD und dem Land Berlin in Auftrag in Autrag gegeben und gefördert.

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agierenden Kulturwirtschaft […] in metropolen Vergleichsmaßstäben eine besonders wichtige Rolle« (Mundelius/Fasche 2009: 2). Wird »durch die Anwesenheit der Akteure eine positive wirtschaftliche Entwicklung« konstatiert, machen Mundelius/Fasche die »Arbeitsweise der Künstler«, die »in Wechselwirkung mit einer Vielzahl anderer Wirtschaftsbereiche [steht]« für die Entwicklung eines »innovative[n], kreative[n] Milieus« und die »Steigerung symbolischer Qualitäten von Orten als Strategie zur Steigerung des Bodenwertes«108 verantwortlich (ebd., 2, 4). Durch die Diskussion des »Spannungsverhältnis[ses] von Kultur und Wirtschaft« oder einer »Konsumförmigkeit künstlerischer und kultureller Ausdrucksformen,«109 implizieren die Forscher zwiespältige Zusammenhänge ihres Vorhabens, dessen Absicht schließlich folgendermaßen formuliert wird: »Ziel dieser Untersuchung wird es sein, die Beziehung zwischen Kunst und Kultur, Kreativität und wirtschaftlichem Wachstum, zwischen Raumaneignung und Stadtentwicklungsprozessen aufzuzeigen.« (Mundelius/Fasche 2009: 14) Die Autoren gehen also von einer Konsumförmigkeit künstlerischer Produktion und einem wirtschaftlicher Wachstum durch kreative Praktiken im Reuterquartier aus. Kreativität »in einem Klima globalen Wettbewerbs« wahrzunehmen und gewinnbringend umzusetzen hat Einfluss auf die Entwicklung einer Stadt.110 In diesem Sinne betonen die Autoren die Bedeutung des Lokalen innerhalb von globalen Netzwerkstrukturen. Für sie setzt die in der Kunst angestrebte Authentizität einen lokalen Kontext voraus, so dass sie die Verortung im Kiez als Bedingung für den Erfolg der dortigen kulturellen Aktivitäten sehen.111 108 An dieser Stelle argumentieren Mundelius/Fasche nach Zukin 1998: 27-40. 109 »Kunst- und Kulturproduktionen einen Marktwert zu geben, bedeutet somit nicht zwanghaft, den originären Charakter der Kunst aufzulösen, auch wenn dahingehend noch immer einige fortdauernde Vorbehalte seitens der Kunst- und Kulturschaffenden existieren.« (Ebd., 13) Zu den künstlerischen Ausdrucksformen zählen die Autoren auch Musik: »Zudem sind viele künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen und Genres zum Beispiel der darstellenden Kunst im Grenzgebiet zu anderen Darbietungsformen (bildende Kunst, Angewandte Kunst, Musik) zu finden […].« (Ebd., 14) 110 So formuliert Wood: »Jede Stadt muss sich grundsätzlich darüber klar werden, dass ihr Schicksal unauflöslich daran gebunden ist, wie gut – oder wie schlecht – sie mit der Kreativität umgeht, die in ihren Bürgern angelegt ist. Die Fähigkeit einer Stadt, diese Kreativität wahrzunehmen, [...] nutzbar zu machen, gewinnbringend einzusetzen, [...] und schließlich wiederzuverwerten, wird in einem Klima des globalen Wettbewerbs über das Schicksal dieser Stadt entscheiden.« (Wood 2003: 29) 111 Nach Lefèbvre argumentieren die Autoren: »Ein weiterer Aspekt ist das Wachsen von Netzwerkstrukturen aufgrund der Austauschwege von kontextgebundenem Wissen, die nur in lokalen, räumlich-integrierten Systemen optimiert werden können. Dabei spielt kulturelles Wissen und dessen Austausch eine wichtige Rolle und betont die Bedeutung

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Städtische Institutionen versprechen sich durch kreativkulturelle Praktiken im Reuterquartier wirtschaftliche wie imagebildende Gewinne, die durch die Untersuchung evaluiert und gesteigert werden sollen. Daneben wirkt allein der schöngeistige Titel »Vom Wert der Kunst« stilbildend bezüglich einer ›Kreativität‹ im Reuterquartier und produziert seinerseits Bilder eines vermeintlich wertvollen Künstlerkiezes.

5. W ISSENSGESELLSCHAFT

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Eine Stadtplanerin der Zwischennutzungsagentur im Gespräch Auch die Stadtplanerin Beate Fischer von der Zwischennutzungsagentur im Reuterquartier begreift das kreative Potenzial als Chance für den Kiez. Beauftragt vom Senat und in Kooperation mit den Quartiersmanagements112 der einzelnen Neuköllner Kieze übernimmt die Zwischennutzungsagentur seit 2005 vermittelnde Aufgaben zwischen Eigentümern dieser Gewerberäume und deren Interessenten. »Wir vermitteln zwischen Staat und privat«, wie mir Fischer erklärt (ebd. in einem Interview am 31.10.2008). Die vielen leer stehenden Gewerbeeinheiten in den einzelnen Quartieren werden also von der Agentur an Interessenten weitervermittelt, welche die Räume für ihre Zwecke nutzen wollen. Dabei werden beide Zielgruppen beispielsweise in Bezug auf angebrachte Mietpreise beraten.113 Durch die Vermittlungsarbeit der Agentur im Kiez kamen unter anderem die Graphiker der Musenstube sowie Simon und Carola des Geräuschladens Ohrenhoch zu ihren Ladenlokalen (siehe Kapitel I).

lokaler Traditionen sowie konkreter lokaler Bedingungen und Erlebnisse. Die Globalisierung schafft das Lokale nicht ab, und gerade weil die Welt zunehmend homogener wird, werden den Konsumenten immer subtilere Unterschiede bewusst. Authentizität soll vermittelt werden, und dies ist nur aus einem entsprechenden lokalen Kontext möglich.« (vgl. Lefèbvre 1991: 330 nach Mundelius/Fasche 2009: 6 [Herv. i.O.]) 112 Die Existenz von QMs erläutert sie mit Bezug auf spezifische »Sozialindikatoren« im Kiez: »Hohe Arbeitslosigkeit, hohe Anzahl an Migranten. Wir haben [im Senat] auch einen guten Ruf, [ich] war ja auch im Expertengremien vom Bundesministerium. […] Wir vermitteln zwischen Staat und privat.« (Fischer in einem Interview am 31.10.2008) 113 »Die Besitzer wollten dann erst mal 800 Euro kalt in [ei]ner Gegend, in der nichts los ist. ›Nee!‹ haben [wir] gesagt, ›so nicht!‹ […]. Junge Unternehmen brauchen geringe Startmiete, dann kann auch hier im Bezirk wieder was passieren, man muss auch in der Lage sein, […] gemeinsam an einem Strang zu ziehen […].« (Ebd.)

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Nach dem Einsatz im Reuterkiez konzentriert sich das Büro nun auf die Quartiere um den Richardplatz, den Körnerpark und den Flughafenkiez, da Neukölln »ja stückweise wachsen und gedeihen« müsse (ebd.). Fischer erklärt, dass viele Räume sehr begehrt seien und es im Reuterquartier zum Zeitpunkt des Interviews kaum mehr Leerstand gibt.114 Auch unterstreicht sie die Fülle an neu eröffneten Kneipen insbesondere auf der Weserstraße, für deren Vermittlung sie sich jedoch nicht zuständig fühlt, da dieses Gewerbe keiner finanziellen Unterstützung seitens der Agentur bedarf.115 Der Großteil der Interessenten, an die Gewerberäume vermittelt werden, kam ihr zufolge aus der bildenden Kunst. Doch bei der Vermittlung der Räume hat sie »gewisse Grundbedürfnisse« zu berücksichtigen: »Der Fokus liegt auf […] Illustratoren, Galerien […], aber das haben wir nicht beeinflusst. Ich liebe jeden. […] Ich würde am liebsten nur Musiker ansiedeln, aber […] eine Apotheke, ein Fahrradladen, ein guter Bäcker. Das sind auch nach wie vor unsere Grundbedürfnisse. […] Wenn ich sehe, dass die meisten heute [ei]nen Abschluss haben und auch genau das alles studieren, was […] mit Kultur, Kunst, mit Medien [zu tun hat]. […] Es ist ja auch allgegenwärtig spürbar, dass viel mehr Leute […] ihr Leben anders in die Hand nehmen als vor zehn Jahren.« (Ebd.)

Die Akteure, die sich für die Gewerberäume im Reuterquartieren interessieren und die von der Agentur beraten werden, beschreibt sie außerdem folgendermaßen: »Ja, überall kommen die her; wir sind hier in Berlin, das ist die einzige Metropole in Deutschland. Das ist ein Metropolenphänomen. Wir nennen die auch die Gruppe der creative industries, Kulturwirtschaftsakteure, […] wir sind im Moment in einer Wirtschaftsgesellschaft, die halt nicht mehr fordistisch, auch nicht mehr postfordistisch, [ist,] sondern wir bewegen uns in großen Schritten auf die reine Wissensgesellschaft zu. Das heißt: Immer mehr Menschen müssen heute immer weniger Produktionstätigkeiten im Sinne von ›Wir müssen was anfertigen‹, […] das wird immer mehr [von] Maschinen gemacht. Und deshalb haben wir natürlich auch immer mehr Zeit, was uns als Menschen als Wesen auszeichnet, nämlich Kul114 »Wir haben schon viele Räume, auf die verschiedene Leute […] scharf sind. […] Die lernen sich in unseren [moderierten] Begehungen kennen und machen große Läden zusammen. Besser kann’s eigentlich nicht laufen. [...] Wir vermitteln im Reuterkiez dieses Jahr fast keine Räume mehr, weil es ja fast keinen Leerstand mehr gibt.« (Ebd.) 115 »Nun haben wir eine kleine Ausgehmeile im Kiez. […] Jede Kneipe hat den höchsten Gewinn [und kann] auch die höchste Mieten zahlen. […] Letztes Jahr ging’s los: ›Neukölln rockt‹ in der Zitty; das zieht natürlich auch wieder, das macht einen Hype. Wir fanden: ›Das passt mir jetzt gar nicht‹. Da riefen alle an und dachten, wir würden Kneipen vermitteln. Wir haben keine einzige Kneipe vermittelt.« (Ebd.)

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turproduzenten zu sein und können das auch immer mehr in unsere Berufe oder in unseren Alltag reintragen. […] Das ist auch […] meine Motivation […], diese Räume halt zu öffnen und Menschen die Gelegenheit zu geben, auch anders tätig zu sein. Ich bin ein großer Freund von freien anderen Lebensstilen, vor allem auch von freien Arbeitszielen, also nicht in abhängiger Beschäftigung tätig zu sein, und das sind heute ja immer mehr Leute, die dieses Glück […] suchen, bedingt ja immer auch durch die wirtschaftliche Lage […]. Ich muss genauso gut wissen, was das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung jedes Jahr für Zahlen eröffnet: […] Was üben die Leute heute für Berufe aus und so weiter? Wo kommen die her? Was brauchen die für Möglichkeiten, um sich an Orten niederzulassen, weil ich habe ja als Stadtplanerin die Aufgabe, […] das zu unterstützen. […] So Phänomene wie Musik und Kunst, […] kulturelles Gestalten […] [haben] in heutigen Zeiten mehr Möglichkeiten. Sassen und Sennett haben das genug beschrieben […]. Im Moment kommen viele Spanier … unter den Metropolen in Europa besteht ein hohes Wechselverhältnis. [Sie kommen] aus anderen europäischen Hauptstädten und aus Deutschland [und] wir [haben] so viele Schwaben […]. Sonst ist ziemlich gemischte Gruppe, und Leute mit Migrationshintergrund. Sobald hier einer Engländer ist, hat er auch [ei]nen Migrationshintergrund. […] Seit den 60er Jahren sind das gesellschaftliche Phänomene, die weltweit ablaufen: [Die] Familie […], die Sozialstruktur und Lebensweise ändert sich. Wer lebt denn heute noch in [ei]ner Großfamilie, außer Migranten, die gerade frisch aus ganz anderen dörflichen Verhältnissen einwandern. Ist ja auch kein Wunder, dass die auch in anderen Zusammenhängen hier leben. Hier der moderne Mensch individualisiert sich immer weiter.« (Ebd.)

Mit Bezug auf US-amerikanische Konzepte von Kreativbranchen schlägt Fischer eine Brücke vom Fordismus über den Postfordismus zur Wissensgesellschaft und erklärt dadurch die festgestellten Tendenzen bei der Anmietung von Gewerberäumen im Reuterquartier. Im Kontext eines Metropolenphänomens und der Entwicklung zur Wissensgesellschaft machen Kulturproduzenten ihr zufolge auch den Großteil der Interessenten aus. Die kreativen Arbeitsweisen sind in einem weiten Aktionsradius angesiedelt und stehen in Wechselwirkung mit Produktionsweisen in anderen Großstädten. Ihr Metropolen-Modell verdeutlicht auch die konzeptionelle Gestaltung des Raumes Neukölln, der sich mit den stadtsoziologischen Vorstellungen von Berlin als Metropole deckt: Als Texte, in denen man lesen könne, übernähmen Metropolen eine gesellschaftliche Vorbildfunktion (Häußermann 2000: 75). Unter den Schlagworten »Wissen, Kreativität, Innovation« verortet Häußermann Metropolen als »Knoten-, Steuerungs- und Kontrollpunkte in der globalen, wissensbasierten Ökonomie« (ebd. 2006: 22).116 116 »Als Orte der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und wissenschaftlich-technischen Innovation und Wissensproduktion haben sie zentrale Bedeutung. Durch Wettbewerb und Kommunikation treiben sie die Diversifizierung und Spezialisierung voran.«

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Außerdem spiegelt Fischers Perspektive die Ideen Landrys wider, der Metropolen als Ort beschreibt, an welchem »a critical mass of entrepreneurs, intellectuals, social activits, artists, administrators, power brokers or students can operate in an open-minded, cosmopolitan context and where face-to-face interaction creates new ideas, artefacts, products, services and institutions and as a consequence contributes to economic success« (ebd. 2000: 133). Die Sozialwissenschaftler Eckardt/Merkel sehen im gegenwärtigen Zuzug von Künstlern »einen wichtigen Kontrapunkt zum Negativbild Nord-Neukölln« (ebd. 2010: 89). Im Sinne Fischers stellen sie fest, dass es sich bei den in die dortigen Kunstprojekte involvierten Künstler »jedoch vornehmlich um individuell Zugezogene und keine aus den lokalen ethnischen Gemeinschaften in Neukölln« handelt (ebd.). Im Kontrast dazu liege das Interesse an den ethnischen Gemeinschaften im Kiez »vielmehr [in] der Bewahrung der eigenen Herkunftskultur […]« (ebd.). Wie für die Akteurin der Zwischennutzungsagentur stehen Kulturschaffende in Neukölln ihnen zufolge im Kontrast zu dortigen ethnischen Gemeinschaften, für welche sie eine »Herkunftskultur« konstatieren. Demgegenüber wird die Herkunftskultur der »individuell Zugezogenen« nicht thematisiert. Keller stellt in diesem Zusammenhang »Grenzziehungen zwischen privilegierten und marginalisierten Migranten« fest und konstatiert »ein doppelbödiges Verständnis von Migration« in Berlin.117 Sie verdeutlicht, dass »die Mobilität und Ortsungebundenheit hochqualifizierter Migranten und Einheimischer als Ausdruck einer postmodernen Lebensweise weithin geschätzt« wird, während »die Migration ›einfacher‹ Migranten in der Regel nicht positiv als Mobilität konnotiert« ist (Keller 2005: 68).118 Auch die Stadtplanerin impliziert einen Kontrast zwischen den Einwanderern, »die gerade frisch aus ganz anderen dörflichen Verhältnissen« eingewandert seien und jenen, die für kreative Zwecke oder zur modernen Individuali(Häußermann 2006: 22f.) »Wie Metropolen politisch, rechtlich und planerisch zu steuern sind« zählt nach Häußermann deshalb »zu den drängenden und zugleich hoch umstrittenen Fragen unserer Zeit« (ebd., 6). 117 »Berlin ist Ziel- und Durchgangsort alter und neuer Migrationen. Die Stadt ist zur neuen Heimat für Menschen geworden, deren Platz in Europa nach wie vor umstritten ist; sie sind jedoch ein Teil der Stadtgesellschaft geworden und haben sie zugleich ›entgrenzt‹. Es gilt, die Grenzziehungen zwischen privilegierten und marginalisierten Migranten und ein doppelbödiges Verständnis von Migration, das lediglich die Mobilität ersterer fördert und wertschätzt, zu kritisieren. Wo der vorherrschenden Sichtweise zufolge Migration noch immer häufig als Kulturkonflikt gedeutet wird, muss sie vielmehr generell als Ausgangspunkt, als Notwendigkeit für kulturelle Veränderung und Dynamik verstanden werden.« (Keller 2005: 73) 118 »Hier wird Migration als Entwurzelung begriffen, die zum ›Kulturkonflikt‹ für die Betroffenen und damit auch zu Problemen für die Aufnahmegesellschaft führt.« (Ebd.)

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sierung nach Neukölln gekommen seien. Ihre Vorstellung von dörflichen Gemeinschaften ist vergleichbar mit den im zweiten Kapitel herausgestellten Sichtweisen der Musiker über die Umgebung. Doch die »Kultur des Dorfes« (Moravánszky 2002: 7), durch die den Musikern zufolge das Reuterquartier charakterisiert wird, erscheint ihr »als eine fremde Gegenwelt zur gewohnten Umgebung, zur modernen Stadt« (ebd., 8). Eine städtische, »flexible Gesellschaft«, die ihre Wohnorte an verschiedenen Teilen der Erde sieht, sowie eine gute Studienausbildung betrachtet Fischer als selbstverständliche und unterstützenswerte Lebensstile im Reuterquartier.119 Andererseits umgeht die Stadtplaner die zumeist prekären Existenzverhältnisse, mit denen die Künstler und flexiblen Kreative in Neukölln außerdem konfrontiert sind, wie es zum Beispiel durch Pauls Erläuterungen in Kapitel II deutlich wurde. Im Sinne von Diederichsen benannter »Selbstausbeutungslogik«120 im Kontext von »Kreativität« bleibt jenes »Glück [...], nicht in abhängiger Beschäftigung tätig zu sein«, wie es Fischer für die Individualisierung des »modernen Menschen« konstatiert (ebd.) zu hinterfragen.121 119 »Wir nennen uns ja auch Zwischennutzungsagentur und haben auch das Konzept entwickelt. […] Neben der Tatsache, dass wir keine Festbeschäftigung haben […], dass viele Leute ihre Jobs wechseln. [Leute], [die] sogar zwei Studiengänge absolviert [haben], [für die ist es] dann […] auch gar nicht schwierig, was anderes zu machen. Es wird verlangt, dass wir eine flexible Gesellschaft sind. […] Früher war ein Gewerbevertrag 10-15 Jahre Minimum. […] Ein Jungunternehmen, von dem verlangt wird ›Sei flexibel‹ – warum soll [man einen] Mietvertrag auf 15 Jahre unterschreiben. […] Deshalb bieten wir so eine Leistung an, […]. Gerade für Künstler […] ist es wichtig weiterzukommen, [nach dem Motto:] ›Jetzt gehe ich für ein halbes Jahr da hin, und dann bin ich wieder ein halbes Jahr in Berlin‹. […] Das ist doch wunderbar [für] neue Impulse, das ist normal.« (Ebd. in einem Interview am 31.10.2008) 120 »Durch die Identifikation mit Kreativität folgte die Selbstausbeutungslogik zwar einer von ihr immer schon vorgegebenen Mechanik, die den inneren Instanzen nicht nur Kontrollmöglichkeiten, sondern eben auch ›freie Hand‹ gab. […] So wie sich der Künstlertyp heute häufiger über Sinn legitimiert, legitimiert sich der Projektler […] öfter über Kreativität.« (Ebd. 1999: 212, 222) 121 »Kreativ und flexibel, innovativ und schöpferisch sowie vielseitig und selbstverwaltend – so lesen sich die gängig zitierten Anforderungen auf dem zunehmend neoliberalistisch geprägten Arbeitsmarkt. Imperative, die im fordistischen Arbeitsmodell, das auf einer klaren Rhythmisierung von Arbeit und Leben, einer Aufteilung verschiedener Arbeitsschritte und auf festen Positionen innerhalb der Arbeitswelt beruht, außerhalb der ökonomischen Interessen angesiedelt waren. Klassischer Weise werden diese Dispositionen seit der Moderne in Europa dem Künstler und der Künstlerin zugesprochen. […] Jene Aufwertung des Künstlerischen macht es […] interessant, dezidiert eine eingehendere

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Der Begriff Zwischennutzungsagentur impliziert deshalb auch eine eher kurzfristige Nutzung der Gewerberäume im Kiez. Fischer erklärt, dass sich das Agenturkonzept gerade für Künstler als passend herausstellt, da diese für »neue Impulse« an verschiedenen Orten unterwegs sind. Die Frage nach ihrer »Vision« beantwortet sie in diesem Sinne auch mit einer sich weiterentwickelnden Stadt, die »innovative Produktionsideen« hervorbringt (Ebd.). Die Vorstellung von Innovation im Kiez stehen der Stadtplanerin zufolge in Verbindung mit einer globalen Repräsentation des Ortes Neukölln sowie den dazu passenden wandlungsfähigen, kreativen Akteuren, deren Mobilität sie schätzt und die sich ihr zufolge in spezifischer Weise individualisieren.122 In Kapitel IV wurde eine Selbstwahrnehmung eines Experimentalmusikers deutlich, die sich auf eine »Flexibilität« sowie ein »experimental feel« der Praktiken bezieht,123 welche Elliott/Lemert zufolge aus gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der Globalisierung resultieren (vgl. ebd. 2009: 61). Doch äußern sich Elliott/Lemert kritisch zu Perspektiven wie der Vision der Stadtplanerin, die mit den gesellschaftlichen Veränderungen spezifische Individualisierungen der kreativen Akteure im Kiez konstatiert: Vielmehr weisen die Autoren darauf hin, dass jene Flexibilität im Kontext der Geschwindigkeit, in welcher Identitäten neu erfunden und transformiert werden und womit diese ein Gefühl des »Experimentellen« verbinden, die Vorstellung von Individualität verkompliziert und die Autonomität dieser Praktiken hinterfragt werden muss.124

Betrachtung der Position des Künstlers/der Künstlerin innerhalb der ökonomischen Bedingungen vorzunehmen.« (Lauf 2009: 231) 122 Kritisch folgert Loacker aus Erkenntnissen Daltons (2001) und Mörschs (2003) bestehende Wunschbilder über Lebenswelten von Künstlern: »Denn ist der Künstler einmal als Vorbild einer […] flexibilisierten und ökonomisierten Arbeitswelt akzeptiert […], dann scheinen auch die ›Heroisierung‹ prekärer – aber ›kreativer, spielerischer und erfüllender‹ Arbeits- und Lebensverhältnisse und die Verabsolutierung ›immaterieller Werte‹ nicht mehr weit entfernt zu sein« (vgl. Schumacher 1998: oS nach Loacker 2010: 412). 123 Anschaulich wurde der experimentelle Charakter auch in den Praktiken des Reuterbloggers (siehe Kapitel I). 124 »In a world of short-term contracts, […] just-in-time deliveries and multiple careers, the capacity to change and reinvent oneself is fundamental. A faith in flexibility, plasticity and incessant reinvention – all this means we are no longer judged on what we have done and achieved; we’re now judged on our flexibility [...]. [...] What most complicates the thread of individualism in this connection is the experimental feel that much of what we do in our private lives takes on.« (Elliott/Lemert 2010: 61 [Herv. i.O.])

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Kosmopolitisierung und Experiment Die Angst, in jener globalisierten Welt nicht wahrgenommen zu werden, führt Städte dazu, großartige und imaginäre Orte zu schaffen (vgl. Griffiths 1989: oS nach Stoetzer 2006: 179). Der nach Landry und Häußermann ökonomische Erfolg steht in Verbindung mit der wissensbasierten Gesellschaft und dadurch mit den kosmopolitischen, flexiblen Bewohnern des Kiezes. Häußermann betrachtet den experimentellen Charakter von Metropolen wie folgt: »Metropolen sind die bevorzugten Zielorte internationaler Migration. Die Vielfalt der Kulturen in den Metropolen erleichtert das Leben für kulturell fremde Zuwanderer; zugleich trägt die ›mitgebrachte Fremdheit‹ ihrerseits zur Erweiterung von Vielfalt und Differenz bei. Dabei kommt es zu sozialen Experimenten und kulturellen Mischungen, auch zu neuen symbolischen Vergemeinschaftungen.« (Häußermann 2006: 23-24)

Häußermanns Imagination »sozialer Experimente und kultureller Mischungen« in Metropolen spiegelt die Idee der identifizierten »produktiven Differenzen« mit der Hoffnung auf begehrenswerte Resultate wider (Ha 2005: 60). Aus diesen Erwartungen und zur Förderung eines »globalen Profils« ergeben sich für die Stadtpolitik wiederum multikulturelle oder partizipative Maßnahmen, die im Kontext Neuköllns erörtert wurden.125 Für Häußermann beschleunigt die »kulturelle Vielfalt« in Metropolen den gesellschaftlichen Wandel und macht den laborhaften Charakter des Wechselspiels unterschiedlicher »Identitätsstrategien« aus: »Die kulturelle Vielfalt, die sich aus sozialer und ethnischer Diversifizierung speist, bringt immer wieder neue Identitäten und Lebensformen hervor, die den Metropolen eine Avantgarde-Funktion im Prozess des gesellschaftlichen Wandels gibt. So ist gerade bei Migranten immer öfter das Phänomen zu beobachten, dass sie sich im kulturellen Niemandsland zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland besonders stark mit dem Ort, an dem sie gerade leben, identifizieren. Dieses Wechselspiel unterschiedlicher Repräsentations- und Identitätsstrategien macht Metropolen zu einem Labor, in dem beständig neue Selbst- und Fremdbildentwürfe erprobt werden.« (Häußermann 2006: 24) 125 »Municipalities fund public multicultural arts programs and promote ethnic neighborhoods, cuisines, popular music, dance, and nightlife in order to cultivate a global profile; the managerial rhetoric and practice of globalization in world cities is somewhat uniform, regardless of what each specifically has to sell. From a historical perspective, the recent moment of self-conscious globalization elides complex and varied histories in which such cities have been pulled in and out of the swim of regional and transregional cultural, demographic, and economic flows over centuries.« (Stokes 2004: 65)

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Häußermanns Zitat steht durch seine Begriffswahl als Substrat des Artikels im TipMagazin. Schreibt der Stadtsoziologe jener ethnischen Diversifizierung eine Avantgarde-Funktion zu, führt Kolland im Kontrast dazu ihre Gedanken zu den Entwicklungen in Neukölln folgendermaßen aus: »Dieser Punkt erfüllt mich mit einer gewissen Sorge, dass nämlich die Segregation, die im großen Maß in Berlin […] in den Quartieren stattfindet – das wird im Reuterkiez deutlich – [und] dass [sich] eine bunte, muntere Künstlerszene entwickelt, die aber mit der Mehrheit der dort lebenden Menschen sehr wenig zu tun hat. Das ist auch [ei]ne Tendenz bei ›48 Stunden [Neukölln]‹. […] Wir diskutieren inzwischen sehr lebhaft über Kunstaktionen, die versuchen von vornherein Partizipation als ganz wesentliche Methode zu beinhalten, versuchen gerade Geld zu ergattern, um Projektausschreibungen zu machen auch für ›48 Stunden‹, wo Künstler sich ganz gezielt Partizipationsüberlegungen machen. Und das sind die Tendenzen, die wir verstärken wollen, dass zumindest die, die Lust dazu haben […], [sich] zumindest mit ihrem sozialen Kontext befassen und in Partnerschaft treten mit Migrantentreffpunkten, die es ja auch gibt. Aber es sind relative Parallelwelten, würde ich ja sagen. Und ich bin noch nicht an dem Punkt zu sagen: ›Das ist halt so‹. Wenn man sich dessen bewusst wird, dass es Formen gibt, dass es Brücken gibt zwischen den Welten [gibt, kann gefragt werden,] ob die Brücken begangen werden. Das können wir nicht bewusst beeinflussen, aber wir können zumindest helfen.« (D. Kolland in einem Interview am 10.11.2008)

Kritisch macht sie auf das Verhältnis zwischen Kunst und Bewohnern im Kiez aufmerksam. Einerseits benannte sie ein Empowerment, welches die Potenziale der Bürger im Kiez erkennen sollte, worunter sie auch künstlerische Praktiken zählte. Auf der anderen Seite äußert sie nun ihre Bedenken, dass die Kunst-Projekte nur wenig mit den im Kiez lebenden Bürgern zu tun haben. Sie bezieht sich hierbei explizit auf die soziale Gruppe der Migranten, die sie im Kontrast betrachtet zu der Klientel von Künstlern im Kiez. Daraus folgert sie zwar die Bedeutung partizipatorischer Projekte im Kiez,126 die sie aber gleichzeitig hinterfragt: Kunst fungiert nach 126 Ähnlich argumentieren 2010 auch die Sozialwissenschaftler Eckardt/Merkel: »Die Künstler bauen eine neue Kommunikationsstruktur in der Nachbarschaft auf, beteiligen sich an Initiativen und Workshops der einzelnen [QMs] und werden von Migrantenvereinen zur Projektarbeit eingeladen. Die Entwicklungspotentiale von Kunst und Kultur liegen in Nord-Neukölln daher weniger im ökonomischen als im partizipativen Bereich und im Empowerment der stark geschlossenen ethnischen Communities. Kunst und Kultur sollen irritieren und intervenieren, neue Zugänge zu den Migrantengruppen eröffnen und Orte der Begegnung und des Austausches zwischen ihnen schaffen. Die Künstler fungieren als Scharnier und ›Kontaktzone‹ zwischen den verschiedenen Gruppen und entwickeln mit den Migrantengruppen über das gemeinsame künstlerische Arbeiten eine Kommunikation, die Ausdrucksfähigkeit jenseits einer gemeinsamen

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Kolland zwar als Mittel, Brücken zwischen den Bewohnern des Kiezes zu schaffen. Auf der anderen Seite macht sie deutlich, dass »Kunst« und »soziale Gemeinschaft« sich in diesen Debatten oft als antagonistische Größen darstellen. Kolland verweist in diesem Zusammenhang auch auf das Reuterquartier, das im Sinne des Standortmarketing127 als Kunstkiez stilisiert und ästhetisiert wird. Mit dem Logo »Kunstreuter« beabsichtigte man laut Stefanie ein Zugehörigkeitsgefühl für die Nachbarschaft zu generieren. In diesem Sinne sollte auch das Kunstfestivals »48 Stunden Neukölln« zu einer Regeneration des Kiezes beitragen und anziehend auf Bewohner sowie Besucher Neuköllns wirken. Doch die von Frau Kolland benannte Sorge, man könnte Kunst fördern und nicht die soziale Gemeinschaft, stellt sich als Gretchenfrage heraus. Somit wurde gezeigt, dass sich städtische Institutionen insbesondere im Kontext des Zuzugs jener Newcomer auf das Kiezbranding und die künstlerische Festivalisierung bzw. Partizipation in Neukölln konzentrieren. Die frisch in den Kiez Gezogenen stehen aus Sicht der Kulturamtsleiterin und der Mitarbeiterin der Zwischennutzungsagentur in einem kosmopolitischen oder zumindest künstlerischkreativen Kontext. Durch das Merkmal des »hoch qualifizierten«, das ihnen zugeschrieben wird, stehen sie im Kontrast zur Vorstellung von anderen Bewohnern des Kiezes, die sowohl von Kolland als auch Fischer in der Gruppe der »marginalisierten Migranten« (Keller 2005: 73) zusammengefasst werden.

Sprache ermöglichen kann, Gelegenheit zum Engagement bietet und eine interkulturelle Auseinandersetzung durch künstlerische Praxis anregt.« (Ebd. 2010: 89) Die Funktionalisierung der Künstler im Kiez für vermeintlich partizipatorische Prozesse bleibt jedoch zu hinterfragen. 127 »Place-marketing as a metaphor describes a promotional strategy that arises from the quest for locational competitiveness with the shift from the managerialist mode of urban governance to the entrepreneurial one caused by the decline of the Fordist model of mass production – [...].« (Stoetzer 2006: 178)

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6. Z USAMMENFASSUNG : R AUM › URBANER R EGENERATION ‹ »Meanwhile, the architects and city planners offered – as an ideology in action – an empty space that is primordial, a container ready to receive fragmentary contents, a neutral medium into which disjointed things, people and habitats might be introduced. In other words: incoherence under the banner of coherence, […] fluctuation and the ephemeral masquerading as stability, conflictual relationships embedded within an appearance of logic and operating effectively in combination.« LEFÈBVRE 1991: 308F. »Upon closer examination, one realized that specialists who have studied urban reality have almost alway […]

introduced a global repre-

sentation. They can hardly go without a synthesis, settling for a quantity of knowledge, of dividing and splitting urban reality.« LEFÈBVRE 1996: 95

Städte wie Berlin schreiben sich im globalen Standortwettbewerb neue Rollen zu, die kommunalpolitisch gesteuert sind (vgl. Hochstadt 2007: 12). »Das Schlagwort der Global City ist längst zum Allgemeinplatz geworden« (ebd.) und in den Darstellungen der Vertreter des Neuköllner Kulturamts, der Zwischennutzungsagentur und des Quartiersmanagements wiederzufinden. Stadtplaner und Regionalentwickler erkennen in »Städtischer Kreativität« seit Anfang der Nullerjahre ein Potenzial für die Regeneration urbaner Transformationsprozesse. Auch in Neukölln werden Kultur- und Kreativbranchen mit Vorstellungen einer ökonomischen Regeneration und Erneuerung des Kiezes verbunden und bilden die Basis von verschiedenen Projekten in Neukölln. Die Entwicklungen in Neukölln sind laut Fischer nicht vergleichbar mit den Transformationsprozessen der ehemals ostdeutschen Kieze Friedrichshain und Prenzlauer Berg: Im Kontrast zu den dortigen Entwicklungen während der Nachwendezeit, würden die Bewohner Neuköllns ihr zufolge nicht ausgewechselt.128 128 »Man hat in Deutschland eine einmalige Situation mit der Wiedervereinigung gehabt. Da hinten in Prenzlauerberg und in Friedrichshain [lachen] die Ostdeutschen ja selber darüber, haben doch alle [19]90 gedacht: ›Endlich sind wir frei‹, die Koffer gepackt

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Kritisch äußert sie sich in diesem Zusammenhang über die gerade ablaufenden Pläne um »Mediaspree«. Ihr zufolge habe die Berliner Verwaltung aus mangelnder Erfahrung »ja nie mit ›echter‹ Wirtschaft zu tun gehabt, die waren ja immer nur immer vom Westen subventioniert, und wenn du denen mal richtig Gelder auf den Tisch legst, die können da überhaupt nicht mit umgehen. Das halte ich für das große Problem hier in der Senatsverwaltung. Die werden ja abgezockt von den Hedgefonds […]« (Fischer in einem Interview am 31.10.2008) Betreibt Fischer in diesem Sinne somit »falsche« oder »echte« Wirtschaft im Kontext einer Nordneuköllner »Kreativwirtschaft«, konstatieren die beiden Sozialwissenschaftler Eckardt/Merkel 2010, dass die Entwicklungspotenziale von Kunst und Kultur weniger im ökonomischen als im partizipativen Bereich und im Empowerment liegen (vgl. ebd. 2010: 89). Einen gegensätzlichen Standpunkt vertreten Stadtplaner und die Verfasser der Studie »Vom Wert der Kunst«, welche die soziale Entwicklungsfähigkeit des Kiezes in einen direkten Zusammenhang mit der ökonomischen stellen und für die Hochstadt zufolge eine »Belebung der Innenstadt« sowie ein »Positionierung im kommunalen Wettbewerb« ausgerichtet ist.129 Die Standpunkte von Eckardt/Merkel sowie Mundelius/Fasche führen somit zu der gleichen Schlussfolgerung: Resultiert aus der Förderung von Kunst und Kultur auf den ersten Blick eher soziale Wirkungen im Sinne eines Empowerments, hat sie durchaus ökonomische Konsequenzen. Nach Häußermann muss klar getrennt werden zwischen einer mental-geografischen Vorstellung von Metropole und dem wirtschaftsgeografischen Metropolenbegriff,130 dem es »nicht um kulturelle Wirkung oder gesellschaftliche Bedeutung,

[und] geguckt, dass sie ins Grüne kommen. […] Da konnten [sich] die Investoren auf die leeren Häuser stürzen […], [aber] es gibt hier [im Quartier] auch viele Jungerben, das ist auch ganz gut so [und] das Gerüst hier. Da müsste was […] passieren […], dass ich die Leute hier ausgewechselt kriege.« (Ebd. in einem Interview am 31.10.2008) 129 »Vielmehr ist die ökonomische und damit eben auch soziale Entwicklungsfähigkeit der Städte das wichtigste Argument für dieses so programmatisch eingeführte ganzheitliche Vorgehen, denn ohne die Einbeziehung aller, also auch der eher nachgeordneten ökonomischen Potenziale muss die Entwicklung der Stadt hinter der Möglichkeit zurückbleiben oder sich auf eine kleinere Gruppe sowieso teilhabender Menschen reduzieren. Beides ist weder ökonomisch noch demokratisch zu wollen.« (Hochstadt 2007: 11) 130 Im Sinne einer »mentalen Geografie« erfüllen Metropolen nach Häußermann »Sehnsüchte, Hoffnungen und Phantasien«, deren Realitätsgehalt vorerst zweitrangig ist (Häußermann 2000: 75). »Im Gegensatz zu dieser symbolischen Bestimmung ist die wirtschaftsgeografische Perspektive von Metropole an der Realität ausgerichtet.« (Ebd.)

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sondern um Markterfolg, Sichtbarkeit und Standortqualitäten« gehe.131 Andererseits macht er deutlich, dass die Bedeutung von Metropolen vor allem »auf ihrer Wirkung als kulturelles Zentrum« [beruht] (Häußermann 2000: 75). Aber was trägt Neukölln zu dieser Vorstellung von Berlin als Metropole bei? Im Kontext einer urbanen oder ökonomischen Regeneration des Kiezes gelten »hochqualifizierte Migranten« als Hoffnungsträger: Die Organisation von »48 Stunden Neukölln« betonte und schätzte insbesondere die kreative und künstlerische Zusammenarbeit mit globalen Kulturproduzenten. Die stadtteilentwickelnden Maßnahmen mit ihren partizipativen Absichten führen jedoch nicht selten zum Ausschluss jener Bewohner des Kiezes, die von den Musikern, Müller und auch Fischer als »andere« wahrgenommen werden. So äußert auch Kolland ihre Sorge darüber, dass eine »muntere Künstlerszene« im Kiez aktiv wird und andere Probleme im Kiez dabei in Vergessenheit geraten. Dadurch macht sie die Unterschiede zwischen zwei Gruppen von Bewohnern deutlich: Während die eine vom großen Kulturprogramm profitiert, charakterisiert sich die andere durch Benachteiligung. Im Kontrast zu diesen »global players« erkennt Johanna Keller »mehrheitlich unerwünschte Migrantinnen«,132 die allen vermeintlichen Partizipationsabsichten zum Trotz weder durch Fischer noch durch Müller besondere Erwähnung erfahren, so dass deren soziale Exklusion deutlich wird. Die Prozesse, die Kolland unter den Begriff Empowerment fasst, und die aus einem kreativen Potenzial der Kiezbewohner entstehen sollen, sind zwar abhängig von der Motivation der Bewohner und ihrer Identifikation mit dem Kiez. Doch andererseits sind die Praktiken der Bürger ihrerseits eingebunden in das politisch-administrative System.133 131 »Die Wirtschaftsgeografie ordnet Städte nach ihrer funktionalen Reichweite und klassifiziert sie nach der Anwesenheit höchstzentraler Institutionen. […] im Zentrum des Denkens steht nicht die Einmaligkeit, sondern die Vergleichbarkeit der Städte. […] Inhalt des Metropolenbegriffs sind nicht die kulturellen Schichten, sondern Infrastruktur, Unternehmensbesatz, Umsätze. […] Beschrieben wird nicht die Ausstrahlung der Metropole, sondern Pendlerverflechtungen, Übernachtungszahlen, Flugverbindungen.« (Häußermann 2000: 75f.) 132 »Sie kommen […] in der ›hegemonialen Globalisierungserzählung‹ kaum vor, sondern werden weiterhin in der ›abwertenden Sprache der Immigration‹ gefasst, d.h. ethnisch kategorisiert, so eine zentrale Kritik Saskia Sassens.« (Sassen 1997: 107-116 nach Keller 2005: 67 [Herv. durch Keller]) 133 »Die Wahrnehmung, dass man als Bürger anders behandelt wird, kann zum Beispiel Motivation verändern […]. Auf der anderen Seite kann die institutionelle Seite neue Möglichkeiten eröffnen, wenn sie die veränderte Motivationslage wahrnimmt. So inszenieren sich beide Seiten gegenseitig positiv. Doch die Bereitschaft, neue Erfahrungen zu machen, muss sich vielfach erst noch entwickeln. Wenn es stimmt, dass der Staat in der Postmoderne […] Unterstützung [und] Mitwirkung von Bürgern braucht, um ein funk-

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Auch Fischer arbeitet mit Hilfe von Daten des Quartiersmanagements, dessen Rolle zu hinterfragen bleibt (vgl. Hochstadt 2005: 1, 7, 11). Sie formuliert keine genauen Zielsetzungen, da diese ihren Aussagen nach aufgrund der sich ändernden Bevölkerung nicht definiert werden können. Doch bekundet sie Interesse an der Gestaltung des Stadtraumes und daran, den Kiez gemäß ihrer Vision von einer sich durch innovatives Input entwickelnden Stadt für kreative Zwecke sogenannter global players zu öffnen. Die »Stadt auf der globalen Bühne«, so Hochstadt, führe nicht automatisch zu »einem Wohlfahrtsgewinn für die in ihr wohnenden Menschen« (ebd. 2005: 7ff.). Vielmehr sei »gerade unter dem Vorzeichen der globalisierten Stadtpolitiken das Anwachsen sozialer Ungleichheiten zu beobachten, das sich räumlich darstellt […]«.134 Dieser Tatbestand erklärt den »Kampf um den Kiez und Stadtraum«135 und die Proteste gegen Stadtmarketing durch diverse Stadtteilinitiativen und Gentrifizietionierendes Gemeinwesen zu erhalten, so wäre es töricht, Chancen zur Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Ressourcen und zum Lernen bürgerschaftlicher Verantwortung verstreichen zu lassen.« (Grymer 2003: 193) 134 »Doch während räumliche Differenzierung nicht per se negativ ist – immerhin gibt es wichtige Hinweise darauf, dass freiwillige Segregation durchaus zu positiven Resultaten sowohl auf der individuellen wie auch auf der aggregierten Ebene sowohl in ökonomischer wie auch in kultureller und sozialer Hinsicht führen kann – führt die über die monetäre In- oder Exklusion erzwungene Segregation regelmäßig zu negativen Ergebnissen. Stadtmanagement, das die Zukunft der Stadt einschließlich ihrer Region und nicht die (womöglich sogar nur kurzfristige) Interessenwahrung einzelner AkteurInnen ins Visier nimmt, kommt an diesem Tatbestand wie auch an der generellen Einsicht in die systematische Verknüpfung der verschiedenen phänomenalen oder auch subtilen städtischen Entwicklungsmomente nicht herum.« (Hochstadt 2005: 7ff.) 135 Simone der Stadtteilinitiative im Neuköllner Schillerkiez schreibt im Artikel »Kämpfen wir um unsere Kieze!«: »Wowereit und der Berliner Senat nehmen in Kauf, dass es in Berlin eine ähnliche Entwicklung wie in Paris […] gibt. […] Die Stadt wird als Unternehmen begriffen […]. Nur was sich ökonomisch rechnet, wird berücksichtigt. […] Anständiger Wohnraum und anständige Nachbarschaften sind ein Recht, kein Privileg. Stadtentwicklungspolitik wird nunmehr lediglich als […] Stadtmarketing begriffen. […] Das […] (QM) […] ist nicht Teil der Lösung der Probleme […]. Das Problem ist der neoliberale Staat, […] mit dem Abbau des Sozialstaats und der öffentlichen Daseinsvorsorge, die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und die verschärfte Degradierung von Menschen zu bloßen Objekten der Vermarktung […]. […] Soziale Probleme sollen nicht gelöst, sondern die Menschen, um die es geht, sollen irgendwie bearbeitet, befriedet […] werden. Wir wollen uns aber nicht länger am QM ›abarbeiten‹, sondern die Institution einfach rechts liegen lassen. Wichtiger ist die Selbstorganisation der BewohnerInnen.« URL: www.nk44.blogsport.de (letzter Zugriff am 21.03.2013).

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rungsgegner, welche auch die Abschaffung der Quartiersmanagements im Kiez begrüßen würden. Urbanes Avantgarde-Mekka. Schnittstellen von Hoch- und Subkultur in Berlin So fragwürdig wie der Begriff der Individualität, stellt sich auch der Term Kreativität im städtischen Kontext heraus: Nach Lange hat sich das umgangssprachliche Verständnis von Kreativität »in den letzten Jahren vom Inbegriff künstlerischen Schaffens und Arbeitens hin zu einem strategischen Kampfbegriff gewandelt« (Lange 2007: 67f.). In Konkurrenz zu anderen Städten verteidigt Berlin sein Bild als Metropole mit Hilfe von kreativem Kapital. Auch Neukölln – wie alle anderen Berliner Kieze – wird zum wichtigen Austragungsort für den globalen Standortwettbewerb Gesamtberlins.136 Geschieht dies einerseits durch die »Inszenierung städtischer Kreativität«, stützt sich die mediale Außendarstellung des Kiezes auf Vergleiche mit Bezirken anderer sogenannter Metropolen. Zum Anlass der dokumentierten Eröffnung der Ausstellung »based in berlin« hinterfragt der Fernsehsender ARTE im Juni 2011 auf seiner Website die Rolle Berlins als »Zentrum der Gegenwartskunst«.137 »Berlins Ruf als kreative, weltoffene und preiswerte Stadt« ziehe auch »viele Künstler aus dem In- und Ausland 136 Zum Beispiel formuliert die Investitionsbank Berlin 2011 folgende Ausschreibung: »Seit der Wiedervereinigung hat sich Berlin zu einem führenden Standort der Kulturund Kreativwirtschaft entwickelt. Im internationalen Vergleich wird die Hauptstadt als kreative Metropole in einem Atemzug mit New York, London und Paris genannt. Der seit 2000 um rund 25 Prozent gestiegene Umsatz der Kulturwirtschaft zeigt, dass Berlin auch von der wachsenden Anerkennung des ökonomischen Stellenwerts der Kreativen profitiert. Um das Innovations- und Wirtschaftspotenzial des Kultursektors […] zu nutzen, hält die IBB passgenaue Förderangebote für Kreative und Kulturschaffende bereit. Vor allem Unternehmen aus den Bereichen Design und Film, Mode und Musik sowie Kunst, Kultur […] finden hier Unterstützung.« Ausschreibung auf URL: www.ibb.de /desktopdefault.aspx/tabid-424/ (letzter Zugriff am 11.02.2013). 137 »Der Streit will nicht enden: Bekommt Berlin nun eine Kunsthalle oder braucht die Stadt am Ende gar keine? […] Seit dem Mauerfall hat sich Berlin zu einer der weltweit spannendsten Orte für Gegenwartskunst entwickelt. [...] In der großen Ausstellung »based in Berlin« wird im Atelierhaus […] in Berlin Mitte und an vier weiteren Standorten eine Bestandsaufnahme der in den letzten Jahren in der Hauptstadt entstandenen Kunst gezeigt. 80 aus über 1200 ausgewählten Künstlern, ein Budget von 1,7 Millionen €, fünf Kuratoren und drei vom Bürgermeister Klaus Wowereit selbst bestimmte Berater – die Zahlen der Ausstellung ›based in Berlin‹ beeindrucken und sorgen gleichzeitig für Kritik.« URL: www.arte.tv/de/3961898.html (letzter Zugriff am 20.03.2013).

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in die Hauptstadt« (ebd.). Schon seit Mitte der 1990er Jahre gilt Berlin als beliebte Anlaufstelle für junge Künstleridentitäten. Zum einen präsentierte sich Kreuzberg als beliebtes »Aussteiger-Mekka« des unbürgerlichen Lebens und als Projektionsfläche für ein besseres Leben (Lang 1998: 28, 35). Des Weiteren wurden die leerstehenden Ladenlokale in den Bezirken Mitte und Prenzlauer Berg im Rahmen der frühen Nachwende zu Ateliers umfunktioniert und ›Kunst‹ dadurch in den Berliner Alltag integriert, womit waren eindeutige Selbststilisierungen verbunden waren, die einen reproduzierten Avantgardegedanken verfolgten, der alle erdenklichen Alltagspraktiken als »Kunst« codierte.138 Färber konstatiert am Beispiel »urbaner Penner« dass »im Repräsentationssystem Berlins […] das Scheitern als Krisensituation jedoch ›kapitalisierbar‹ zu sein (scheint) – zumindest im Bereich der Kulturproduktion […]« (Färber 2010: 12).139 Schäfer erkennt, dass »das Bild des Heruntergekommenen, Kaputten und Provisorischen, das Berlin nach wie vor prägt, als ein spezifischer urbaner ›Chic‹ gelesen werden kann, ebenso wie der metaphorische und wörtliche Freiraum für Experimente oder lange tradierte Bohème-Erzählungen von mit wenig Geld realisierbaren Hedonismusentwürfen« (Schäfer 2008: 147). Die mit wenig Geld realisierbaren Kunstexperimente wie sie Schäfer beschreibt, stehen demnach nicht im Widerspruch zu einer Hochkultur der Gegenwartskunst, wie sie ARTE hinterfragt. Vielmehr lassen sich an den Entwicklungen der Berliner 138 Horzon […] erklärt das Phänomen des Künstlerdaseins und den Zusammenhang mit Avantgarde in einem Interview in der Zeitschrift »Monopol« folgendermaßen: »Es war wirklich schwer, Mitte der 90er-Jahre nach Berlin zu kommen und nicht Künstler zu sein oder werden zu wollen. Jeder Club und jede Bar sollte irgendwie auch als Kunst verstanden werden. Sogar der Imbiss in der Brunnenstraße wurde irgendwann mit Bildern vollgehängt und nannte sich ›Art-Döner‹. […] damit wurde ein Avantgarde-Gedanken verbunden. Mit dem Problem, dass man in diesem Umfeld gar nicht Avantgarde sein konnte, sondern automatisch zum Mainstream gehörte. Alle anderen waren ja genauso Künstler. Avantgarde bedeutete eben, kein Künstler zu sein. Komisch, dass ich auch 15 Jahre später mit dieser Einsicht immer noch völlig allein dastehe.« (Ebd. 2010: 59) 139 »Den knapper werdenden Brachen und Leerräumen sowie den steigenden Mieten zum Trotz bietet die Profilierung von ›Rolemodels‹ auch auf individueller Ebene Anknüpfungspunkte an die unternehmerische Kulturproduktion. Die nach wie vor die Figur des Bohemien variierenden szenewirksamen Rollenmodelle können so zur Plausibilisierung des Risikos zu scheitern herangezogen werden: So führt das Bild von den ›urbanen Pionieren‹ über die ›urbanen Penner‹ (Bunz) bis hin zur ›digitalen Boheme‹ (Friebe/Lobo 2006). Es legt eine hohe Wahrscheinlichkeit nahe, Fuß fassen zu können, und ermutigt zu einer entsprechenden Entscheidung, sich in dem wirtschaftlich sehr schwachen Umfeld niederzulassen.« (Färber 2010: 11)

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Kunstwelt und einer implizierten Verschränkung subkultureller Praktiken und kapitalisierbarer Hochkulturen in Berlin Tendenzen von Gentrifizierung ablesen: Als »erfolgreiche Leitkultur« bezeichnet oder als »Vorhut sozialer Umstrukturierung« kritisiert, kann auch vermeintlich »unabhängige« Kunst als Zeichen für die Kommerzialisierung Berlins gedeutet werden.140 In diesem Sinne erklärt Twickel: »[B]ei den Institutionen [ist] die Erkenntnis angekommen, dass kulturelle Zwischennutzungen hilfreich sein können, um für urbane Problemzonen ein freundlicheres Image zu schaffen. Statt die aus dem Markt gefallenen Objekte veröden zu lassen, überlässt man sie zeitweilig den Protagonisten der lokalen Off-Kultur, die sie dann mit geringen Mitteln und viel Einsatz bespielen.« (Twickel 2010: 52)

Parallel dazu legt Holm die Zusammenhänge zwischen Kunst und Aufwertungsdynamiken in Berlin wie folgt aus: »Hilfe, die Künstler kommen! […] Kulturschaffende, ihre Aktivitäten und Einrichtungen gelten auch in vielen akademischen Studien als Begleiterscheinungen, Vorboten oder sogar Auslöser von Aufwertungsprozessen. […] Die Etablierung von subkulturell geprägten Szenequartieren in den Frühphasen der Aufwertung müssen ebenso wie die Herausbildung von gastrotouristischen Komplexen der Kultur- und Vergnügungsindustrie regelmäßig als Projektionsflächen für die Veränderung der gesamten Nachbarschaft herhalten. Insbesondere gilt dies für Wohngebiete, in denen sich ganze Straßenzüge mit ihren Gastronomien, Clubs, Läden und Kultureinrichtungen überwiegend an einen zunehmend internationalen Städtetourismus richten […].« (Holm 2010b: 29)

Holm stellt die häufig zitierte Charakterisierung der Künstler als »gleichermaßen Opfer und Täter_innen ihrer Aufwertungsdynamiken« fest (ebd., 30). Um die Frage 140 Die Künstlerin Alicja Kwade, der Architekt Arno Brandlhuber und der Künstler Thomas Demand fragen sich mit Monopol: »Wie weit ist das Nachwendeberlin in der Moderne angekommen?« In: Monopol. Oktober 2010, S. 54-57. Demand: »Das zeigt ja auch der Wahnwitz um das Künstlerhaus Bethanien. Da haben Hausbesetzer die Kunst zum Feindbild erkoren. Für die sind die Künstler die Bösen, die Kreuzberg verändern. Ein sehr origineller Konservatismus steckt dahinter, vor allem wenn man sich überlegt, dass das Bethanien seit über 30 Jahren Kreuzberg angeblich gentrifziert hat – also wenn, dann ist das ein äußerst behutsamer Vorgang.« Brandlhuber: »Ich denke, solche Anfeindungen sind auch ein Reflex darauf, dass die Kunst in Berlin eine sehr erfolgreiche Leitkultur geworden ist. Und es stimmt natürlich, dass da, wo Ateliers sind, bald auch Galerien entstehen und später hochpreisige Nutzungen.« Kwade: »In Wahrheit hängen Entwicklungen mit der Stadtstruktur insgesamt zusammen. Da kommen ganz viele Faktoren hinzu.« (Ebd.)

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nach deren »Schuld« an Gentrifizierung zu umgehen, benennt er eine »Inwertsetzung von Subkultur« (ebd., 30-35). Darunter versteht er, dass Subkulturen Authentizität auf Räume projizieren, die dadurch kapitalisierbarer werden: »Orte der Verweigerung und des Protests« mit »Schmutz und Krach« und einer spezifischen »Trashästhetik« mögen den Wert einzelner Immobilien zwar vorerst mindern, werden jedoch als lebendige Orte wahrgenommen und garantieren »Echtheit«.141 Holm bezieht sich in seinen Ausführungen auf die Ästhetik sogenannter Verweigerungskulturen und Hausbesetzerszenen. Er sieht also Zusammenhänge zwischen den »kulturellen Praktiken« der Hausbesetzer und einer Wertminderung dieser Immobilien. Doch kann ihm zufolge auch gefragt werden, ob bestehende Vorstellungen von subkultureller Trashkultur nicht ihrerseits kulturelle Praktiken kapitalisierbar machen. Diesen Umkehrschluss erklärt Häußermann so: »Kulturelle Innovation ist in der postmodernen Ökonomie integraler Bestandteil der ökonomischen und technologischen Innovation. Aus der Simultaneität und der Konfrontation von Hoch- und Subkultur, von kommerzieller und Gegenkultur entsteht jene kreative metropolitane Atmosphäre, die insbesondere junge Talente aus aller Welt anlockt und die wiederum wesentliche Grundlage der Entwicklung von Kultur und Ökonomie ist. Diese Kreativität soll in ihren ästhetischen wie medialen, architektonischen wie technischen, sozioökonomischen wie ökologischen Bedingungen und Wirkungen untersucht werden.« (Ebd. 2006: 23)

Doch wie sind die durch Häußermann konstatierten Hoch- sowie kommerziellen Kulturen von Sub- oder Gegenkulturen zu unterscheiden? Die Frage nach der Grenze zwischen offizieller Kunst und unabhängiger Kunst in Berlin wird von aktiven Kunstakteuren in der Zeitschrift Monopol als durchlässig beschrieben, was

141 »Viele – und eben auch Besserverdienende – versuchen die wachsenden Entfremdungen im Arbeitsalltag durch Echtheits-Erfahrungen in der Nachbarschaft zu kompensieren. In solchen räumlichen Imaginationen können auch Subkulturen integriert werden. […] dann ist die Rote Flora eben nicht nur eine Ort der Verweigerung und des Protestes, sondern wird auch als bunter Tupfer und lebendiger Ort des Schanzenviertels vermarktet. Schmutz und Krach sind also keine Versicherung vor Vereinnahmungen – aber sicher ganz gute Voraussetzungen. Das Beispiel der KÖPI in Berlin z.B. zeigt, dass die Konservierung einer Punk- und Trash-Ästhetik durchaus als Desinvestitionssignal verstanden wird. Die Parole ›Köpi bleibt Risikokapital‹ gilt ja nicht nur für das Haus selbst, sondern strahlt sogar auf die benachbarten Grundstücke ab. Obwohl das Baugrundstücke in bester und zentraler Lage sind, hat sich noch kein Investor gefunden, um direkt neben der KÖPI ein Geschäftshaus oder Luxuswohnungen zu bauen.« Holm am 07.07.2011 auf URL: www.gentrificationblog.wordpress.com/2011/07/07/interviewwas-hat-der-punk-rock-mit-gentrification-zu-tun/ (letzter Zugriff am 12.07.2013).

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auch Beckers Perspektive auf »artworlds« widerspiegelt.142 Also kann auch sogenannte unabhängige, subkulturelle Kunst als Anfangskapital erkannt werden, welches das künstlerische Außenbild Berlins verfestigt. In diesem Zusammenhang betont Rabinow im Kontext der Pariser Kunstszene zu Anfang des 20. Jahrhunderts den Respekt jener »unabhängiger« Künstler gegenüber traditionellen Herstellungsmethoden: »Die in Paris vorherrschende scharfe Trennung zwischen offizieller Kunst einerseits und unabhängiger Kunst andererseits erlaubte vielmehr einen gewissen Respekt für die Tradition. Auch wenn man leidenschaftlich die Meinung vertrat, dass traditionelle Modi des Herstellens und Betrachtens nicht mehr überzeugend waren, so folgte aus einem solchen Urteil keineswegs die kategorische Pflicht, die Vergangenheit abzulehnen.« (Rabinow 2004: 82)

Im Sinne Rabinows kann angenommen werden, dass sich »traditionelle Modi« als beliebte Orientierungshilfe für Herstellungspraktiken auch für sogenannte ›unabhängige‹ Kunst in Berlin herausstellen.

142 Becker erkennt, dass »artworlds« keine scharfen Grenzen haben. Vielmehr variieren sie im Grad ihrer Unabhängigkeit und agieren in relativer Freiheit von der Beeinflussung durch andere Gruppen in ihrer Gesellschaft. Anders gesagt: Die Menschen, die in dem gemeinsam bearbeiteten Fach kooperieren, mögen frei sein ihre Aktivitäten im Namen von Kunst, wie es im Fall vieler gegenwärtiger westlicher Gesellschaften der Fall ist, ob sie nun Gebrauch davon machen oder nicht. »The state may exercise such control over other areas of society that major participants in the making of art works orient themselves primarily to the concerns of the state apparatus rather than to the concerns of people who define themselves as interested in art.« (Becker 1982: 38)

Fazit und Ausblick »The figurative nature of social theory, the moral interplay of contrasting mentalities, the practical difficulties in seeing things as others see them, […] the revelatory power of art, [and] the […] variousness of modern intellectual life […] are treated […] in an attempt somehow to understand how it is we understand understandings not our own.« GEERTZ 1983: 5 »The space developed by the avant-garde artists, […] who registered the collapse of the old points of reference, introduced itself […] as a legitimating ideology, […] that […] motivates. These artists presented the object within the space of the dominant social practice. Meanwhile, the architects and cityplanners offered – as an ideology in action – an empty space, [...] into which […] people and habitats might be introduced. In other words: incoherence under the banner of coherence, a cohesion grounded in […] disjointedness, […] conflictual relationships embedded within an appearance of logic and operating effectively in combination.« LEFÈBVRE 1991: 308FF. [HERV. I.O.]

Nettl erkannte bereits 1978 die Einflussnahme städtischer Institutionen auf Musiktraditionen (vgl. ebd. 1978: 4). In diesem Sinne bestehen auch die spezifischen Musikräume, die den Kiez markieren, nicht unabhängig von städtischen Institutionen. Die vermeintlich unabhängigen Musiker in Neukölln können als sogenanntes Anfangskapital betrachtet werden, welches wirtschaftliche wie image-

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bildende Gewinne für den Kiez bringt und das künstlerische Außenbild Berlins verfestigen soll. Ausgehend von Bruce Cohens Annahmen über spezifische Lokalisationsprozesse in Berliner Quartieren konnte die Identifikation von Musikern mit dem Berliner Bezirk Neukölln bestätigt werden. Zugleich wurde festgestellt, dass die Identifikationsprozesse der Musiker mit dem Kiez in Wechselwirkung stehen mit den medialen Außendarstellungen über Neukölln. Neben der institutionellen Raumproduktion greifen auch Medien symbolische und ästhetische Qualitäten des Kiezes auf und generieren ihrerseits spezifische Bilder eines künstlerischen und musikalischen Ortes mit dazugehörigen Szenen. In der medialen Berichterstattung über den Kiez scheint die Lokalisierung spezifischer kultureller, musikalischer und künstlerischer Praktiken und die Identifikation von Musikern mit dem Kiez perfekt. Die gängige Vorstellung von Berliner Untergrundkulturen erhält in Neukölln ihre passenden, sichtbaren Requisiten, was durch spezifische Symboliken in den medialen Darstellungen erkennbar wird. Städtische Institutionen ebenso wie Medien über den Kiez beeinflussen somit die Selbstverortung der Musiker in Neukölln und befördern dadurch die Entstehung neuer Musikräume. Die von 2008 bis 2010 untersuchten musikalischen Räume in Neukölln signalisieren auch gesellschaftliche Grenzen und Zonen im Kiez, die mit ästhetischen Vorstellungen verbunden sind. Reuterquartier Die Entscheidung, mit der musikethnologischen Forschung im Reuterquartier zu beginnen, erfolgte nicht willkürlich. Im Kontext des globalen Wettbewerbs erhalten Kieze als kleinere lokale Einheiten und durch die Vorstellung eines gemeinschaftlichen Miteinanders ihren Wert. Dies wurde anhand der Untersuchung der Räume im Reuterquartier anschaulich. Das geteilte Erlebnis einer lokalen Umgebung, ein sogenanntes ›Kiezgefühl‹, machte einen integralen Teil der Musikperformance im Gelegenheiten aus. In diesem Sinne konnte am Beispiel des Kiezfestes Weserrakete sowie anhand anderer Aktionen und Konzerte in Läden des Quartiers das gemeinschaftliche Verhalten im Stadtviertel abgebildet werden. Anhand der Untersuchung des Reuterquartiers wurde des Weiteren deutlich, dass kulturelle Zwischennutzung gezielt eingesetzt wird »um für urbane Problemzonen ein freundlicheres Image zu schaffen« und so Off- oder Subkulturen für »Belebung und ›Aufwertung‹« (Twickel 2010: 52) instrumentalisiert werden. Die Anbindung an ein quartierseigenes Management zeichnete sich im ersten Kapitel bereits ab. Aber auch die scheinbar von der Stadtverwaltung unabhängigen Praktiken und Kommunikationsmittel wie der kiezeigene Blog sowie die Organisation der Weserrakete konnten als Beitrag für die lokale Identifikation der Einwohner mit dem Kiez und als Mittel für seine globale Vermarktung gedeutet werden.

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›From soft to deep‹ Zwar bleibt bei der Identifikation der Musiker mit dem Kiez die geographische Dichotomie global/lokal elementar. Doch spiegelt sich das durch Hannerz konstatierte kulturelle Gedankengerüst »[t]he global is shallow, the local is deep« (ebd. 1996: 28) sowohl in den Perspektiven der interviewten Musiker als auch anderer kultureller Akteure in Neukölln sowie in den analysierten Medienbeiträgen über den Kiez wider. In diesem Sinne fungiert das ›tiefe‹ Neukölln als Projektionsfläche für romantische Vorstellungen und damit in Verbindung stehende ästhetische Merkmale, welche auch die Musik und Sounds im Kiez betreffen. Die Identifikation mit dem Reuterquartier veranschaulichte das Abstecken von Kiezgrenzen – sei es im Verhältnis zu anderen Berliner Bezirken oder in der Vorstellung einer Topografie innerhalb Neuköllns. Bei der weiteren Untersuchung der lokalen Dispositionen trat die Vorstellung der Musiker zutage, Neukölln bestehe aus einem an Kreuzberg angrenzenden Teil und einer ›tieferen‹ Zone. Die Idee einer geographischen Fragmentierung innerhalb des Kiezes entspricht auch den in Kapitel V belegten statistischen Erkenntnissen von Stadtsoziologen, welche einen »signifikanten Lageeffekt« des Reuterkiezes im Kontrast zu anderen Quartieren Neuköllns betonen. Dadurch werden dem Quartier bestimmte soziale Merkmale zugeschrieben, welche die Vorstellungen der befragten Musiker widerspiegeln. Bei der Betrachtung verschiedener Zonen im Kiez spielen aber auch symbolische Merkmale der Orte eine Rolle. Diese schließen spezifische Vorstellungen der interviewten Musiker über ästhetische Eigenschaften mit ein. In diesem Zusammenhang wurde einerseits der Rückbezug auf Neuköllns Repräsentation als ›schmuddeliger Problembezirk‹ sowie sein Image als ›ursprünglicher Arbeiterbezirk‹ zur Projektionsfläche künstlerischer und kreativer Praktiken für die neuhinzugezogenen Musiker deutlich. Zudem konnte eine Ästhetisierung ebendieser Bilderwelten über Neukölln durch die Musiker erkannt werden. So repräsentieren die analysierten Aussagen romantische Vorstellungen der Musiker über ihre Umgebung, so zum Beispiel der Vergleich des Neuköllner Maybachufers mit niederländischer Landschaftsmalerei, die Wahrnehmung auditiver Sinneseindrücke des Kiezes als spezifische »Klanglandschaft« oder die Konzeptualisierung einer »neighbourhood symphony« für ein Kiezfest. Parallel zur in Kapitel II thematisierten Sichtweise der Musiker wird anhand der Analyse medialer Darstellungen in Kapitel V Neuköllns Bild als ›Problemquartier‹ – mit den dazugehörigen Merkmalen vom Drogenmilieu über Wohnungsbordelle bis zu Straßengangs – deutlich. Jene als ›unschön‹ codierten Merkmale des Kiezes, welche aus stadtsoziologischer Sicht im Sinne von »Push-Faktoren« zu einem Wegzug der besserverdienenden Bevölkerungsschicht aus einem Stadtteil führen, erfahren in den Aussagen der Musiker eine positive Umdeutung und werden eher geschätzt als gemieden. So erfüllt sich für den Musikproduzenten Gordon Raphael in der Verschränkung von hässlichen und schönen Elementen in der unmittelbaren

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Umgebung seines Neuköllner Studios auch ein spezifisches Wunschbild, das er seit jeher von Berlin hatte. Anhand der Kneipe Valentinstüberl wird in diesem Kontext auch anschaulich, dass die visuelle Transformation der Kneipe zwar im Sinne einer Verschönerung geschieht, ein imaginärer Hinterzimmercharakter und damit eine gewisse Zwielichtigkeit des ehemaligen Ladenlokals jedoch beibehalten werden. Im direkten Kontrast zur medialen Darstellung Neuköllns als »Unort par excellence« (Lanz 2007: 251) und Kiez der Verwahrlosung konnte anhand von sperrmüllorientierten und recyclingfreudigen Praktiken ein kreativer Umgang der Musiker mit der als eher dreckig konnotierten Kiezlage festgestellt werden. Die Vorstellung von einer günstigen Infrastruktur des Kiezes durchzog alle Interviews. Damit in Verbindung existiert das Bild eines passenden sozialen Milieus in Neukölln, das sich einerseits auf die Stilisierung einer Arbeiterklasse bezieht. Andererseits werden damit Vorstellungen von ›authentischen‹ Straßenkulturen und einem Drogenmilieu in Verbindung gebracht. Diese stereotypen Kennzeichen werden von den interviewten Musikern als eine wertvolle Materialität erkannt, was nach Lloyd auf einer Beschwörung des Glamours urbaner Instabilität gründet, der aus sicherer Entfernung zur Verfügung steht (vgl. Lloyd 2010: 100, vgl. Kapitel II). Dies wurde umso klarer in den Aussagen, nach welchen die beobachteten Merkmale des Kiezes das lang ersehnte Gefühl von »Großstadt« vermittelten. Des Weiteren präsentiert sich Neukölln als Gegenpol zu einem imaginären Bürgertum, das in Prenzlauer Berg verortetet wird sowie im Kontrast zu vorgestellten Hipsterwelten, welche die Musiker zumeist in Mitte identifizieren. Parallel zur Analyse der Vorstellung von Neukölln als ›Arbeiterkiez‹ konnte die Bedeutung der kurios anmutenden Eckkneipen im Kiez anschaulich gemacht werden, welche bei den Musikern Erwartungen an eine noch existente ›ursprüngliche‹ Berliner Einwohnerschaft und die Hoffnung auf ein vermeintlich authentisches Umfeld schüren. Abgrenzungsmechanismen werden einerseits deutlich in der Auffassung von Klassen im Kiez. So stellt sich die Vorstellung von einer deutschen Arbeiterklasse für die Klangkünstlerin Monica somit als Herausforderung für eigene künstlerische Praktiken heraus. Andererseits kann jenes »othering« (Eriksen 2001: 138) am Beispiel stereotyper Wahrnehmungsformen von kultureller Heterogenität im Kiez festgestellt werden. So wurde aufgezeigt, dass manche Musiker den Bezirk aufgrund von multiethnischen Sinneseindrücken mit ihren ehemaligen Wohnvierteln in US-amerikanischen Städten vergleichen, was für die Identifikation der Musiker mit dem Kiez von großer Bedeutung ist. Anhand der Aussagen des Klangkünstlers Stéphane konnte die Vorstellung einer klaren Trennlinie zwischen den zugezogenen Künstlern im Kiez und den ›alteingesessenen‹ Migranten herausgestellt werden. Doch die Auffassung eines ›Anderen‹ fungiert in der Perspektive der Musiker auch im Sinne einer Exotifizierung und Ästhetisierung der Neuköllner Nachbarschaft. Ausgehend von der Vorstellung einer multiethnischen Umgebung stilisiert eine

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Soundkünstlerin die Gegend um ihre Neuköllner Wohnung beispielsweise als »authentisch libanesisch«. Daneben fungiert ein als arabisch identifizierter Hochzeitszug im Sinne einer »neue[n] Klanglandschaft« als künstlerische Inspirationsquelle für sie. Durch die Vorstellung einer komplexen Pluralität die sichtbar wird durch sogenannte Straßenkulturen, authentische Traditionen der Arbeiterklasse sowie die Repräsentation städtischer »ethnoscapes« (Appadurai 1996: 183) wird der Kiez aus Sicht der interviewten Musiker als attraktiver Ort betrachtet. Im Sinne der »Faszination einer neu entdeckten Kultur, der man im eigenen Land begegnet, die aber trotzdem als fremd und entfernt erscheint, als eine gemeinsame Erfahrung vieler mitteleuropäischer Künstler am Ende des neunzehnten Jahrhunderts« (Moravánszky 2002: 7) konnte Neukölln als ideale Umgebung auch für Künstler im 21. Jahrhundert herausgearbeitet werden. Die Vorstellung von Neukölln als ›produktives Ausland‹ kann als Kennzeichen einer Kosmopolitisierung des Kiezes identifiziert werden. In diesem Kontext deutete sich bereits in Kapitel II bereits das Zugehörigkeitsgefühl der Musiker zu einer kosmopolitischen Wissensklasse an (vgl. Bauman 1992: 123). Neukölln wird als Ort der Differenz von ethnischen, kulturellen und sozialen Gruppen, Aktivitäten und Kenntnissen erkannt. Aber auch durch die medialen Darstellungen Neuköllns bekommen Leser eine stereotype Vorstellung davon, wer »wir« sind in Bezug zu dem, was wir nicht sind – ob als Insider oder Outsider, als Bewohner oder Fremde, als »westlich« oder »restlich« (vgl. Cottle 2000: 2). Dies konnte in den zitierten Medien in Kapitel V aufgezeigt werden, in welchen eine nicht näher bestimmte türkische Bevölkerung als jene Gruppe zusammengefasst wird, die den neueren Entwicklungen gegenübersteht und sich weniger für die Entwicklungen im Kiez interessiert. Diese Vorstellungen spiegeln sich auch in den Sichtweisen Momus’ wider, der jene ›alten Immigranten‹ und eine nicht weiter definierte, als »urban poor« bezeichnete Bevölkerungsgruppe im Kontrast betrachtet zu einer neu hinzugezogenen Bewohnerschaft. Im Sinne Kellers konnten somit »Grenzziehungen zwischen privilegierten und marginalisierten Migranten« für die Perspektiven auf den sozialen Raum Neuköllns identifiziert werden. In der Analyse des Blogeintrags wurde parallel aufgezeigt, dass Momus erkannte Differenzen in Neukölln verantwortlich macht für eine »creative tension« im Kiez. Ebenso betrachten die Zitty und der Tip multiethnische Vielfalt als Bedingung für Kreativität. Im Kontext von Vielfalt und Differenz in Metropolen wurden auch die Sichtweisen des Stadtsoziologen Häußermann dargestellt. Auch er spricht von sozialen Experimenten und neuen symbolischen Gemeinschaften, denen er eine AvantgardeFunktion im Prozess des gesellschaftlichen Wandels zuschreibt. Eine mit der Vorstellung von »cultural diversity« (Azzi u.a. 2011: 3) in Zusammenhang stehende

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Aufrechterhaltung ethnischer Identitäten anhand des Neuköllner Karneval der Kulturen blieb kritisch zu hinterfragen. Lautstärken im Kiez Anhand von Flos Homestudio auf der Karl-Marx-Straße konnte ein Beispiel der musikalischen Raumeroberung in Neukölln identifiziert werden. Die Lage des Produktionsstudios an der stark befahrenen und lauten Hauptstraße stellt sich als ein vorteilhaftes Kriterium heraus, das es ihm ermöglicht, die durch seine Musikproduktion entstehenden hohen Lautstärken auszuleben. Auch am Beispiel der Konzerte im Reuterquartier wurde der Kampf um musikalische Räume, die Kontrolle von Lärm und das Einhalten von Lautstärkeregeln deutlich. Derartige Einschränkungen im Reuterquartier nehmen Einfluss auf die dortigen Musikveranstaltungen, da die Räume nach Maßgabe der Ladeninhaber weder mit Bläsern noch mit Schlagzeug bespielt werden dürfen. Hier konnte eine Anpassung der Musiker an die Räume sowie ein rücksichtsvoller Umgang mit der Nachbarschaft im Reuterquartier beobachtet werden, wie auch am Beispiel der Weserrakete anschaulich wurde. Die Polizei tritt auf dem Kiezfest nur noch als Statist zur Abschreckung in Erscheinung, ohne tatsächlich Randale verhindern zu müssen. Vor dem Hintergrund der Lautstärkeeinschränkungen, die sich als Hauptmerkmal der Konzerte im Reuterquartier entpuppen, stellen das schwedische Frauenduo von Tove als auch Ferne beliebte Bands für die Räume im Kiez dar. Die zumeist akustische Instrumentierung sowie die intime Atmosphäre der Konzerte im Reuterquartier spiegelt jene Merkmale wider, die Diederichsen in Bezug auf Instrumente der Folk- und bürgerlichen Hausmusik als »anti-städtisch« und »antiöffentlich« bezeichnet.1 Mit ihrem zumeist unplugged ›Hausmusik‹-Instrumentarium erscheint die beschriebene Indie- oder Folkmusik im Reuterquartier bodenständig und weniger urban. Doch auch für die Musiker im Reuterkiez ist die Dichotomie Stadt/Dorf elementar: Bewusst lokalisieren sie sich im Urbanen, um sich von kleinstädtischen Verhältnissen der Heimat abzusetzen. In gewisser Weise wird aber in den nachbarschaftlichen Konzerten jene Dörflichkeit wiederhergestellt, vor der sie vor ein paar Jahren aus ihren Heimatorten geflohen waren.2 1

»Für das intime Hören zu Hause waren auch in der Pop-Musik noch Jahrzehnte die ausgesprochen anti-städtischen Instrumente der Folklore (Gitarre) oder die antiöffentlichen Instrumente der bürgerlichen Hausmusik (Klavier, kleine Streicherensembles) zuständig. Singer/Songwriter führten ihr Drama des bürgerlichen Subjekts genau mit diesem Instrumentarium auf.« (Diederichsen 1999: 56)

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Dass die Vorstellung einer vermeintlichen »Dörflichkeit« vice versa Abseitigkeit, kreative Desillusion und Innovation symbolisiert, veranschaulichen diverse Plattenbesprechungen über neuhinzugezogene Berliner Musiker, deren Sound immer wieder in einen Kontext gestellt wird mit ihrem als »seltsam« beschriebenen dörflichen Herkunftsort der

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Die Einschränkung der Lautstärke nimmt einerseits Einfluss auf die Konzerte der Musiker im Kiez. Doch andererseits wurde deutlich, dass sich Musiker durch die Lautstärkeregelungen eingeschränkt fühlen. Angesichts der Kontrolliertheit des innerstädtischen Raumes ist zu vermuten, dass sich ›lauschige Musik‹ – vorzugsweise mit akustischem Equipment – bei der Programmierung öffentlicher Veranstaltungen in Berlin durchsetzt. Dies bestätigt sich seit 2008 am Beispiel eines Festivals in Berlin-Prenzlauer Berg3 sowie anhand des auf Anregung des Neuköllner Quartiersmanagements organisierten Tomatencasinos4. Die soziologische Frage, ob unterschiedlich lärmkontrollierte Zonen in Berlin deshalb auch gleich spezifische Klassenlagen der Bewohner in den betreffenden Kiez-Zonen offen legen, wie es Bijsterveld nach Urry impliziert, konnte nicht geklärt werden. Zumindest kann argumentiert werden, dass die Regulierung von Lärm per se den undemokratischen Umgang mit ästhetischen Ausdrucksformen lauter Musik veranschaulicht. Dabei muss gefragt werden, ob eine allgemeine Transformation der innerstädtischen Quartiere in ›lauschige Zonen‹ wünschenswert ist und wann sich die Nachbarschaft auch offiziell ›mal wieder die Ohren zuhalten darf‹ oder »wo [man] auch mal rauslassen kann«, wie es Torsten sich für Partys im Reuterquartier wünscht. Dubstep Für die interviewten Dubstep-Akteure wird die Identifikation mit dem Kiez und seinem authentischen, unbesetzten Image im Sinne einer street credibility bedeutsam für die Abgrenzung von einem imaginären Techno-Mainstream und den dazugehörigen Berliner Hipsterwelten. Torsten verspricht sich durch den Standort Neukölln einen Gewinn an Authentizität, was den Kampf um vermeintlich originäre Musikkulturen veranschaulicht. Seine Streetart, mit welcher er die Straßen des Kiezes markiert, zeigte die Reibung zwischen dem Streben nach Öffentlichkeit und einer individuellen, persönlichen Untergründigkeit auf und vertiefte dadurch die Musiker. Der Impetus auf die dörfliche Herkunft erscheint aber vor allem im Bereich des Genre Indie. In Bezug auf Techno scheint die dörfliche Herkunft weniger Aussagekraft zu haben und die Betonung auf den raschen Umzug des Musikers oder DJs nach Berlin verlagert wird (vgl. Kapitel III). 3

Im September 2011 wird zum vierten Mal das Festival »Liederlauschen« auf einer kleinen

Bühne

am

Helmholtzplatz

in

Prenzlauer

Berg

veranstaltet.

URL:

www.braumeister.tv/EVENTS_2008_LIEDERLAUSCHEN1.html (letzter Zugriff am 02.02.2013). 4

Die »Spielregeln« des im Rahmen der Fète de la Musique stattfindenden Tomatencasino sehen für die teilnehmenden Bands keine elektronisch verstärkte Musik vor. URL: www.fetedelamusique.de/programm-detail/tomatencasino-sonnenallee/ (letzter Zugriff am 02.03.2013).

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Merkmale subkultureller Ideologien in Neukölln. Die Stilisierung Neuköllns als ›kulturell unbesetzter‹ Raum und ein dazu passender Pioniergedanke von der Erschließung des Kiezes durch die Dubstep-Akteure wurden in diesem Kontext diskutiert. Auch für den britischen DJ Terry wird Neuköllns Image als ehemaliger Arbeiterbezirk wichtig für eine Authentifizierung des Genres Dubstep. So vergleicht er das soziokulturelle Umfeld Neuköllns mit der Vorstellung von einem Londoner Arbeitermilieu, welches ihm zufolge mit den Anfängen des Dubstep assoziiert werden kann. Angesichts der internationalen Programmierung der Neuköllner Dubstep-Partys wurde eine globale Vernetzung der Neuköllner DJs als grundlegendes Merkmal der Szene identifiziert. Doch auch der kreative Austausch auf lokaler Ebene konnte als wichtiges Element für die Organisationsstrukturen der in Neukölln ansässigen Dubstep-Produzenten erkannt werden. Im Kontext der Organisation von DubstepPartys wurden somit Analogien zwischen der Organisation der Neuköllner Partys und der Konzepte für Partys der Technogeneration der frühen 1990er Jahre festgestellt. In diesem Zusammenhang wurden auch Parallelen zwischen futuristischen Ideen und den Vorstellungen der Dubstep-Produzenten über innovative »future«-Ästhetiken offengelegt. So konnte anschaulich gemacht werden, dass Kulturwissenschaftler und Musikjournalisten ebenso wie die befragten DubstepAkteure selbst Technokulturen mit historischen Entwicklungen der urbanen Industrialisierung im Sinne des Futurismus sowie einer damit in Zusammenhang stehenden Klangsphäre verbinden. Denn die romantischen und ästhetisierten Bilder über subkulturelle Brachlandschaften im ehemaligen Grenzgebiet sowie vermeintliche Arbeiterviertel, wie sie in den analysierten kulturwissenschaftlichen Quellen zur Sprache kamen, fanden sich auch in den Eigendarstellungen der DubstepAkteure und den massenmedialen Darstellungen des Kiezes wieder. Mit Bezugnahme auf die New Yorker Lower East Side beschrieb das Tip-Magazin in diesem Zusammenhang eine geographische Verlagerung innovativer subkultureller Strukturen von den zentralen Bezirken in die Randlagen Berlins und erklärte den Raum 18 als »Stützpunkt der Avantgarde«. Auf der symbolischen Vorstellungsebene von Innovation und Fortschritt korrespondiert vor allem Dubstep als technoides Musikgenre mit der Idee des Urbanen und des Globalen und schreibt Berlins Kulturgeschichte des Techno als bilderbuchsubkulturellen Sound der Stadt weiter, der seine passende Kulisse zum Zeitpunkt der empirischen Untersuchung in Neukölln findet. Dislokalisierung Anhand von einer global vernetzten Organisationsstruktur, neueren Technologien und dem Internetradio wurde in Kapitel III ein mediales »displacement« (Berland 2004: 205) der Neuköllner Dubstep-Akteure veranschaulicht. Terry und Bob beschrieben die Wahrnehmung von elektronischen Sounds als dislokalisiert, das heißt,

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dass sie sich in ihren musikalischen Interessen nicht mehr nur auf einen Ort oder ihren Wohnort allein beziehen. Mit Hilfe des Internets vermögen sie nationale Grenzen zu überschreiten und virtuelle Räume zu schaffen. Die elektronischen Soundkulturen in Neukölln veranschaulichen dadurch eine globale Mobilität sowie eine Vernetzung im Sinne von electronic tribes (Parker 2008 1-7, Olaniran 2008: 37-57). Virtuelle und konkrete lokale Vorstellungsräume durchdringen sich auch in der Neuköllner Performance Candle Piece. In dieser Performance konnte eine Aufhebung von Raum und Zeit durch die Sounds aus den verwendeten Radios deutlich gemacht werden. Doch jene raum-zeitliche Dislokalisierung und eine damit in Zusammenhang stehende Vision von Kunst als ›grenzenlosem Objekt‹ ist im Fall der Fluxus-Performance vor allem als künstlerische Strategie zu beurteilen (vgl. Frieling 2008: 38). Zwar stellt Meyrowitz fest, dass Menschen und Dinge, die wir wahrnehmen, nicht immer lokal gebunden sind, doch argumentiert er auch angesichts der Ausbreitung elektronischer Medien für eine »Lokalisiertheit von Erfahrungen« (ebd. 1998: 176). Wenn auch die Empfindungen, die einen Sound begleiten, nicht lokalisierbar sein mögen, so entstammen Sounds doch konkreten lokalen Quellen – wie die Radiosounds den Transistoren in Neukölln oder die Dubstep-Sounds den Musikanlagen in Neuköllner Clubs. Bedeutung der Musiker für die Stadt Aus den Analysen der Aussagen der Kulturamtsleiterin ging hervor, dass die kreativen Praktiken der Neuhinzugezogenen geschätzt werden, da diese die Neuköllner Nachbarschaft aktivieren. Auch den Äußerungen des Bezirksbürgermeisters Buschkowsky konnte entnommen werden, dass Künstler im Kiez als stabilisierend gelten und zwangsläufig mit einer Verbesserung des Images von Neukölln verbunden sind. Diese Sichtweisen fanden ihre Entsprechung in der Analyse der Studie »Vom Wert der Kunst« sowie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven, die im gegenwärtigen Zuzug von Künstlern »einen wichtigen Kontrapunkt zum Negativbild Nord-Neukölln« (Eckardt/Merkel 2010: 89, vgl. Kapitel III) sehen. Mit unterschiedlichen Begriffen wie »urban regeneration« (Degen 2008: 38, siehe Einleitung), »cultural regeneration« (Krims 2007: xxvif., siehe Einleitung) oder »gentrification« (Holm 2010b: 17, Kapitel V) beziehen sich die Beschreibungen jenes städtischen Strukturwandels stets auf das bisherige Fehlen von ›akademischen‹, ›geistreichen‹, und ›künstlerisch aktiven‹ Leuten in Neukölln und basieren auf dem konstruierten Gegensatz zwischen einer Ursprünglichkeit und einer gebildeten, modernen und globalisierten Welt. In diesem Sinne identifiziert auch die Musikhistorikerin Blažanoviü Gentrifizierungstendenzen in Berlin, die sie für eine Teilung der Szene verantwortlich macht, wodurch sie neben ästhetischen Brüchen auch hierarchische Machtkonstellationen andeutet.

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Wie die bildenden Künstler, die vom Kulturamt Unterstützung erhalten, kooperieren auch die Experimentalmusiker und die neu gegründeten Neuköllner Vereine mit städtischen Institutionen, arbeiten an Projekten im Kiez oder erhalten wie Simon und Carola Unterstützung bei der Suche nach einem günstigen Raum durch die kiezeigene Zwischennutzungsagentur. Mit Bezug auf Lefèbvre kann konstatiert werden, dass nur ein bestimmter, privilegierter Bevölkerungsteil mit genügend sozialem und vor allem kulturell-sinnlichen Kapital (vgl. Howes 2011: 63-75) von den stadtentwickelnden Maßnahmen im Kiez profitiert und zum Beispiel in der Lage ist, Räume musikalisch zu bespielen oder ›intermedial‹ auszurichten.5 Im Kampf um städtischen Raum kristallisieren sich die interviewten Experimentalmusiker als eine Gruppe heraus, die gemeinsam an der Produktion exklusiver musikalischer Räume im Kiez arbeitet. Die Musiker grenzen sich zwar explizit vom akademischen Umfeld ab, da dieses aus ihrer Sicht in zu hohem Maße Merkmale etablierter Infrastrukturen (›hard infrastructures‹6) der Stadt sowie die Zugehörigkeit zu einem vermeintlichen Bürgertum symbolisiert. Dabei bedingen aber die scheinbaren Gegensätze Autodidaktentum und Akademismus als harte und weiche Infrastrukturen ein und dieselben Ausgrenzungsmechanismen, so wie es für vermeintliche Sub- und Hochkulturen in den bildenden Künsten in Berlin in Kapitel V deutlich wurde. So konnte auch in den Aussagen der Musiker die Auseinandersetzung mit spezifischen soziokulturellen Merkmalen der Umgebung Neuköllns mit seinen ›ursprünglichen‹ Bewohnern festgestellt werden, von denen die interviewten Akteure sich mit dem Verweis auf ihre künstlerischen Praktiken abgrenzten. Die neuen Musikräume stehen auch für spezifische Zonen und gesellschaftliche Grenzen, die hinsichtlich ihrer Position im Kontext einer »kosmopolitischen Stadt« (vgl. Werbner 2008: 49) Ungleichheiten hervorbringen. In diesem Sinne erkennt auch die interviewte Stadtplanerin im Kiez die neu hinzugezogenen Musiker als Teilnehmer einer ökonomisierbaren Wissensgesellschaft, wodurch sie aus stadtsoziologischer Sicht bedeutsam für die Kommerzialisierung Berlins werden. Die befragten Akteure erfüllen die Erwartungen städtischer Institutionen durch die Gestaltung eines »Kunstkiez« und gelten somit im Kontext sogenannter postfordistischer Kreativmilieus als kulturelle Ressource, deren mediale Darstellung die städtische Ökonomie unterfüttert und ihrerseits Symbole über einen allgemeinen 5

Mit den Worten Bourdieus: »Im sozialen Raum manifestieren sich unterschiedliche Arten […] von Dienstleistungen lokalisierter individueller Akteure […], die jedoch mit ungleichen Chancen der Aneignung dieser Dienstleistungen ausgestattet sind.« (Ebd. 1991: 29).

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»Die ›hard infrastructure‹ bezeichnet dabei die materiellen Bedingungen, angefangen von den Gebäuden, der Architektur, […] von Instituten, Universitäten bis zu öffentlichen […] Räumen, während die ›soft infrastructure‹ die sozialen Netzwerke, die informellen Gruppen […], die [N]etzwerke meint, die Landry als Forum für das Entstehen von Kreativität und neuen Ideen betont.« (Landry 2000: 133 nach Heßler 2007: 44)

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urbanen Raum produziert (vgl. Krims 2007: xxxiv). Mit ihren originellen ästhetischen Ideen werden die mobilen neuen Bewohner des Kiezes für die Neuköllner Institutionen interessant. Durch ihr internationales kulturelles sowie soziales Kapital stehen sie für den »Raumprofit« (Bourdieu 1991: 28) eines Stadtbezirks, der im Wettbewerb mit anderen Kiezen und anderen Metropolen steht. Dabei fungiert die Reproduktion jener experimentellen Avantgarde 2008-2010 in Neukölln in ihrer vermeintlichen Unabhängigkeit als Gegenbeweis hinsichtlich des Vorwurfs einer durch eine sogenannte ›Prenzlauerbergisierung‹ komplett verbürgerlichten Stadt und im Kontrast zu dem homogenisierten Bezirk, als der BerlinMitte in den Medien dargestellt wird. Autonom, experimentell, subversiv und ungesteuert? Im Kontrast zu der Vorstellung vom Globalen als künstlich und unauthentisch, konstatieren Biddle/Knights die einseitige Romantisierung des Lokalen als inhärent subversiv und oppositionell (vgl. ebd. 2007: 3). Diese Einsicht bestätigte sich in den analysierten Artikeln und Blogeinträgen, die Neukölln mit bekannten Bezirken New Yorks verglichen. Durch die Idee von kulturell abseitigen Qualitäten konnte dadurch der Markengehalt und die Attraktivität Neuköllns unterstrichen werden. So wurden im Tip-Artikel Vorstellungen einer stereotypen inhärenten Rauheit oder einer Subversivität des Bezirks auf künstlerische und musikalische Praktiken übertragen. In diesem Kontext wird der Name Neukölln als wertvolles Material sowie als attraktives Label von den Musikern genutzt, das mit spezifischen musikalischen Ästhetiken verbunden ist. Daneben konnte anhand der Selbstdarstellung der »Echtzeitmusik«-Szene bestätigt werden, dass auch die Definition einer lokalen Berliner Szene Einfluss nimmt auf die Selbststilisierung der Musiker, weil jene Szene insbesondere von den Neuhinzugezogenen als wichtige Marke für die Identifikation mit der Stadt erkannt wird. Obwohl Gehlen der heutigen Avantgarde eine unangefochtene »Bewegungsfreiheit als Programm«7 zuschreibt, sind die musikalischen Freiheiten der frisch nach Neukölln hinzugezogenen Experimentalmusiker nur bedingt zu realisieren. Parallel zu den als subversiv stilisierten künstlerischen Praktiken in Neukölln konnte ich aufzeigen, dass die Eigendarstellungen der Experimentalmusiker der Selbstverortung Russolos als Anti-Musiker ähneln. In diesem Sinne wurde anhand der Schilderungen der Neuköllner Musiker ein gespaltenes Verhältnis zu klassisch 7

»Es ist außerordentlich unwahrscheinlich, daß noch weitere Grundlagenveränderungen im System sind, und deshalb ist der Begriff Avantgardismus eigentlich etwas komisch, er ist überholt. Die Bewegung geht ja gar nicht nach vorwärts, sondern es handelt sich um Anreicherungen und um Ausbau auf der Stelle, wer heute von Avantgardismus spricht, der meint nur Bewegungsfreiheit als Programm, aber die ist ja längst zugestanden.« (Gehlen 1988: 141)

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komponierter Musik sowie im Sinne des Konzepts Intermedialität eine Abkehr vom bildungsbürgerlichen Konzertbetrieb und eine Suche nach alternativen Anknüpfungspunkten für ihre klangkünstlerischen Praktiken anschaulich. Des Weiteren versuchen die Akteure ihre akademische Bildung zu nivellieren und sich als Autodidakten darzustellen. Eine betonte Institutionsferne veranschaulicht die Hoffnung auf Selbstbestimmung der Musiker, welche sich auch im Konzept der Indetermination ihrer improvisierten Musik widerspiegelt. In diesem Zusammenhang erscheint Neukölln für die Musiker als kreativer Ort, der im Vergleich zu Bezirken in anderen größeren Städten mehr Raum für außergewöhnliche Ereignisse bietet. Im Kontext einer vermeintlichen Indetermination kam auch der ungeplante chaotische Charakter von Performances im Kiez zur Sprache, der sich Leander zufolge auch im Sound der experimentellen Veranstaltungen niederschlägt. Diese Eigendarstellungen finden ihre Entsprechung in den Sichtweisen des Autors des Artikels »Neukölln Rockt« im Stadtmagazin Tip, für den das vermeintlich industrielle Umfeld des Kiezes eine im Alltag verankerte Musik bedingt, die angepasst ist an ein raues Umfeld und im Gegensatz steht zu einer akademisch abgehobenen Musikkultur. Mit der Frage, ob ein vermeintlicher Laborcharakter eines Kiezes auch die explorativ-experimentellen Merkmale von Musikgenres generiert, mussten demgegenüber einerseits grundlegende Theorien und Ansichten in Bezug auf improvisierte Musik und andererseits der Begriff der Indetermination von musikalischen Performances kritisch thematisiert werden. Denn die interviewten Musiker stellten selbst zur Debatte, ob nicht erst eine ›totale Komposition‹ ein wunderschönes Hörerlebnis in Gang setzt, wie es Akira am Beispiel von Stockausens Kontakte erklärt oder wie es durch Sophies sorgfältiges Editieren von Klängen am Computer für ihre Improvisation deutlich wurde. Auch gemäß Soundperformances, die sich im Sinne von John Cages Konzept der Indetermination vordergründig konventionellen Partituren verwehrten, konnten vorhersehbare und gesteuerte Elemente erkannt werden, wie es am Beispiel der Sound-Analyse der Videopartitur anschaulich wurde. Außerdem blieben eine scheinbare Subversivität oder Widerständigkeit der untersuchten Sounds ebenso wie die ›Unabhängigkeit‹ der Akteure zu hinterfragen. So konnten sowohl das Konzert der Band Ferne im Reuterquartier, der Musiksalon Certain Sundays sowie die Veranstaltungsreihe quiet cue als ideale Stätte des Zuhörens abgebildet werden, in welchem eine achtsame Auseinandersetzung mit Soundmerkmalen möglich wurde. Von einem sauber in einer Reihe angeordneten Sitzplatz aus galt es bei quiet cue die Gesamtheit der akustischen digitalen Klänge wie auf einem Kammermusikkonzert genau zu erfassen, um innere Soundstrukturen zu verstehen, wie es auch die Komponisten Sophie forderte. Im Kontrast zu stereotypen Vorstellungen von subversiven Soundkulturen, wie sie der Tip-Artikel für Neukölln stilisiert, entpuppte sich auch der musikalisierte, ruhige Noise der Neuköllner Veranstaltungsreihe quiet cue als distinguierter, moderater Krach. In

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einem klaren zeitlichen Rahmen und dadurch angepasst an die Einschränkungen durch die Nachbarschaft entsprach der improvisierte »Kammer-Noise« nicht den Vorstellungen von der Klangsphäre einer symbolischen Industrialisierung. Vielmehr präsentierten sich alle untersuchten Musikveranstaltungen im Kiez als »zivilisiert« und weit entfernt von der Vorstellung einer musikalischen »Kultur der Straße« (vgl. Kalisch 1999: 45). Neukölln zeigt sich für die befragten Musiker auch als »Gegenstand der Handlungsoptionen von unternehmerischen Akteurinnen« (Färber 2005: 16), da sich an der Organisation von Konzerten und Partys das Leitbild des »entrepreneurial self« (Bröckling 2003: 132 nach Färber 2005: 15) abgelesen werden konnte. Mal mit mehr und mal mit weniger professionellen Produktionsmitteln umgesetzt sind die Konzepte im Sinne Färbers durch die Vorstellung von »Autonomie, Eigenverantwortung und Wahlfreiheit« (ebd.) motiviert. Somit konnte beobachtet werden, dass die Musiker ihre musikalischen Praktiken, die Organisation und Konzeptionalisierung von Veranstaltungen im Kiez durchweg als individuelle »Experimente« für sich selbst empfanden. Parallel dazu wurde im medialen Raum die Vorstellung von Neukölln als Laboratorium für Experimente, für Neues, für Individuelles, für Unerwartetes, und Undeterminiertes in der Analyse von Zeitungsartikeln und Blogeinträgen herausgestellt. Dieser Laborcharakter informeller Räume fand sich auch in den Sichtweisen von Stadtsoziologen sowie Musikhistorikern, Kulturwissenschaftlern und Journalisten wieder. In diesem Zusammenhang betonte die Stadtplanerin im Reuterquartier eine Individualisierung der Kulturschaffenden im Kiez und betrachtet diese »flexible Gesellschaft«, die ihre Wohnorte in verschiedenen Teilen der Erde sieht, als unterstützenswerte Lebensstile im Kiez. In der etwas einseitigen Perspektive auf kreative ›global players‹ umgeht das Konzept der Zwischennutzung allerdings die Frage nach den zumeist prekären Existenzverhältnissen der Neuköllner Künstler. Beck zufolge werden die Lebenswege der Menschen durch soziale Mobilität aus dem Herkunftsmilieu herausgelöst und individualisiert (vgl. Beck 1983: 38). Er fragt aber auch danach, wer überhaupt die Möglichkeiten zu dieser »mobilen Individualisierung« (ebd.) hat. Nach Bauman ist menschliche Kreativität am besten, wenn der Mensch frei ist von der unmittelbaren Notwendigkeit, seine Grundbedürfnisse und sein Überleben zu sichern (vgl. ebd. 1999: 134). In diesem Sinne verdeutlicht auch Lefèbvre, dass begüterte und »very oppressive societies were very creative and rich in producing oeuvres« und ihre Privilegien innerhalb der Gemeinschaft unter anderem durch das Ausrichten von Festivitäten zum Ausdruck brachten (ebd. 1996: 70). Vor dem Hintergrund des Eingebundenseins in nachbarschaftliche und institutionelle städtische Kontexte bleibt die Frage nach der Individualität der künstlerischen Praktiken der Neuköllner Musiker.

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In Bezug auf Techno konstatiert Bader, dass sich Subkulturen nur deshalb herausbilden konnten, weil zu verschiedenen Zeiten »temporäre autonome Zonen« möglich waren (ebd. 2005: 114). Aber wie unabhängig sind diese Zonen wirklich, und wie lässt sich demzufolge die Autonomie jener Subkulturen beurteilen, die sich ihm zufolge nicht planen lässt und deshalb als direkter Kontrast zu institutioneller Stadtgestaltung verstanden werden muss?8 Welchen Geltungsanspruch haben Beschwörungen einer Unvorhersehbarkeit von Stadträumen, die durch gesteuerte Modelle in Serie gehen? Im Kontext der Stadtplanung täuscht die Rhetorik eines Laborcharakters von Kiezen über Regelmäßigkeiten hinweg. Kunst, Musik und Partizipation im Kiez Vor dem Hintergrund von Integrationsdebatten kam in den Äußerungen der Vertreter Neuköllner Institutionen der Begriff »Partizipation« als Idee für die Teilnahme der Gesamtgesellschaft an kulturellen Praktiken zur Sprache. Während die vom Kulturamt ausgerichtete Ausstellung »Weltbürger Neukölln« als »partizipativer Prozess« konzipiert ist, basiert auch das Kunstfestival »48 Stunden Neukölln« auf der Idee der Verstärkung von Nachbarschaftlichkeit. Parallel dazu benennt die Kulturamtsleiterin die Sorge, man könnte durch partizipative Projekte vor allem Kunst fördern und nicht die soziale Gemeinschaft. Dadurch wurde deutlich, dass die Rhetorik der »Gemeinschaft durch Kunst und Kultur« auch für die Akteure der Neuköllner Institutionen nur eine Wunschvorstellung bleibt. Die Idee einer Teilnahme der Gesamtgesellschaft an künstlerischen Events, wie sie in den Aussagen der Kulturamtsleiterin sowie in den Darstellungen eines Organisators von »48 Stunden Neukölln« angesprochen wurde, kann parallel betrachtet werden zu den avantgardistischen oder intermedialen Konzepten, wie anhand des Fluxus-Event Candle Piece und am Beispiel jener »neighbourhood symphony« aufgezeigt werden konnte. In diesem Sinne benennt auch der Experimentalmusiker Christopher seine Absichten der konzeptuellen Auseinandersetzung mit hierarchischen Strukturen und gesellschaftlichen Aspekten von Musik. Allerdings konnte auch am Beispiel der Fluxus-Performance argumentiert werden, dass die künstlerischen Events und intermedialen Konzepte eher ausgrenzend wirken, weil sie nur ganz bestimmte gesellschaftliche Gruppen im Kiez einbeziehen. Die interviewten Musiker repräsentieren in diesem Zusammenhang eine Gruppe von Experten auf ihrem Gebiet und zählen andere gebildete Musiker im Kiez zu Mitgliedern ihrer Gemeinschaft. Dabei wurde bestätigt, dass Dichotomien 8

»Anders als die Konzepte der Zwischennutzung […] schreibt diese Szene Subkulturelles in die ungenutzten urbanen Flächen und Gebäude dieser Stadt ein. Subkultur lässt sich nicht planen – die Umgehung von Regeln bedarf Kreativität, zwingt dazu, sich Neues und Innovatives auszudenken. Subkultur entsteht immer durch Reibung an der hegemonialen Kultur.« (Bader 2005: 116)

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von Hoch- und Subkultur sowie Ideologien über Kunstmusik für die Identifikation der Musiker mit dem Kiez nach wie vor eine Rolle spielen. Mit dem Verweis auf eine Kosmopolitisierung des Stadtraums und angesichts des Expertenwissens konnte schließlich eine Exklusivität der experimentellen Musikräume in Neukölln festgestellt werden. Zeitliche Dimension und Feldforschung im Kiez Wie aus den Ausführungen der Musikhistorikerin Barthelmes über eine »urbane Gegenwart« deutlich wurde, wird der städtische Kontext als Bedingung experimenteller Musikperformances vorausgesetzt. Historische Zeitsprünge im städtischen Raum werden kontinuierlich medial aufbereitet. In diesem Sinne wird auch Neukölln als Ort dargestellt, dessen kulturelle Praktiken up to date sind und dadurch Erwartungen an Berlin als innovative Metropole erfüllen. So bedienen sich sowohl die Dubstep-Akteure als auch die experimentellen Musiker zeitlich orientierter Begrifflichkeiten, sei es im Sinne von Innovation oder »future«-Ästhetiken. Die interviewten Neuköllner Musiker verkörpern das Spannungsfeld zwischen reproduzierter Avantgarde und musikalischer Innovation sowie die Verschränkung künstlerischer Sub- und Hochkultur in Berlin, die von den städtischen Institutionen als kommerzialisierbare Elemente erkannt wurden. Auch aus den Ausführungen des Komponisten Jeffreys geht hervor, dass institutionalisierte Konzerträume, wie beispielsweise die Philharmonie oder ›akademische‹ Kontexte, die im Allgemeinen als antagonistische Größen zu den Lebensstilen den befragten experimentellen Musikern genannt wurden, doch meist in einem sehr engen Verhältnis zu den Neuköllner Musikern stehen. In diesem Zusammenhang stellte sich Neukölln für die eigenen ökonomischen Interessen der Experimentalmusiker als ungeeignet heraus, was im Kontext der Utopien über vermeintliche künstlerische Freiheiten sowie über gemeinschaftliche Praktiken von einigen Musikern jedoch in Kauf genommen wird. So geht Jeffrey davon aus, dass die Musiker im Kiez auch kommerzielle, ›kapitalistische‹ Forderungen stellen könnten, sobald der Kiez erst einmal seine gegenwärtige »Übergangszeit« überwunden habe und Experimentalmusik zum Mainstream geworden sei – so wie es die Musiker am Beispiel von Aufführungsorten in Kreuzberg und Prenzlauer Berg deutlich machen. Die in der Einleitung geschilderten Absichten der Hamburger Soundkünstler, auf künstlerische Weise auf Gentrifizierungsprozesse aufmerksam zu machen, wurden als ambivalent bewertet, da ihre Praktiken ihrerseits im Sinne Holms Aufwertungstendenzen befördern. Als ähnlich kompliziert entpuppt sich das Verhältnis der interviewten Musiker zu dem sich im Wandel befindlichen Kiez. Wie in der Einleitung dargestellt wurde, fordert Lefèbvre statt der Untersuchung von vermeintlich fixen und statischen Eigenschaften des untersuchten urbanen Raumes auch Zeitlichkeit als Forschungsgegenstand. Wie die Fluxus-Performer des Candle Piece sind auch die Musiker

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insgesamt in räumliche, zeitliche als auch gesellschaftliche Kontexte des Kiezes eingebettet. Von Darstellungen Neuköllns als verwahrlostem Problemquartier über Vorstellungen eines avantgardistischen Künstlerkiez für innovative Produktionsideen bis hin zu einem umkämpften und durch sogenannte Gentrification bedrohten Stadtraum – in fast allen dargestellten Aspekten wurde die Aufbruchstimmung deutlich. Gleichzeitig zeichneten sich in den Auffassungen auch Transformationsprozesse als wichtiger Aspekt für den Kiez ab. Der sich ständig umgestaltende Stadtraum führt zu Veränderungen der Bilder über Neukölln. Die persönlichen, idealisierten Vorstellungen der Neuköllner Musiker stehen in Wechselwirkung mit ihren musikalischen Praktiken. Sind die Musiker einerseits angewiesen auf ein spezifisches Image des Kiezes, verändern sie selbst die urbanen Vorstellungswelten Neuköllns. Im Kontext des sich ständig im Wandel befindenden Stadtraums muss somit auch von einem »Wandel der künstlerischen Produktionsmuster« (Bourdieu 2006: 69) in Neukölln ausgegangen werden. So stellt sich die Frage, ob die idealisierten Vorstellungen der Musiker über ihren Wohnbezirk trotz der Transformation des Ortes auf Dauer einlösbar sind. Oder anders gefragt, wie sich die Musiker zu den gleichzeitig entwickelten Konzepten der Stadtplaner verhalten, was Lefèbvre in dem diesem Kapitel vorangestellten Zitat thematisiert, und welche Einflüsse weitere Veränderungen auf die künstlerischen Praktiken der Musiker nehmen. Zeitliche Zusammenhänge spielten außerdem in der Methodik der Musikethnologin eine entscheidende Rolle. Denn auch parallel zur empirischen Erhebungsphase von Winter 2008 bis Frühjahr 2010 sowie in der Phase der Objektivierung der Daten, also dem Analysieren und Interpretieren der transkribierten Interviews und meinen Erlebnissen, verging Zeit. Angesichts der Erkenntnis, dass es sich bei dem Stadtraum um kein statisches Gebilde handelt (Lefèbvre 1991: 306, siehe Einleitung) und sich der Bezirk in dieser Zeit somit transformieren würde, spürte ich den Druck, alle medialen Außendarstellungen des Kiezes tatsächlich in ›Echtzeit‹ zu erfassen und befürchtete, bei Abschluss des Manuskripts keine ›zeitgemäße‹ Arbeit im Prüfungsamt oder schließlich beim Verlag abzuliefern. Im Kontext einer medial aufbereiteten ›urbanen Gegenwart‹ stellt sich Zeitlichkeit bei der Erforschung eines Berliner Stadtbezirks somit als notwendiger Untersuchungsgegenstand und gleichzeitig als Herausforderung für Musikethnologen heraus, wie es die bereits in der Einleitung benannten Diskussion unter Ethnologen festgestellt wurde: »Temporalizing is thus a key problem for ethnography. How to slow things down, but not be belated, how to avoid all too easy historicization that makes what is happening in the time of ethnography all too dependent on a past.« (Marcus nach Rabinow 2008: 55)

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Ausblick Noch bevor Andrej Holms gentrification-Blog über Luxussanierungen in Moabit berichtete,9 erhielt ich Ende Oktober 2011 von einem Musiker eine Einladung zu einem Musikfestival im Bezirk Moabit. Das Festival trägt den schlagfertigen Namen »Mo’beat«10 und gibt dadurch vor, den Sound des Kiezes zu repräsentieren. So stellt sich das in Moabit ansässige Quartiersmanagement als Organisator heraus, welches für das Festival mit dem heterogenen Programm wirbt, das in Shisha-Bars und Altberliner Eckkneipen Altrocker, junge Nachwuchsbands, arabische und türkische Musiker im nachbarschaftlichen Umfeld zusammenbringen möchte. Ein ehemaliges Mitglied des Gelegenheiten arbeitet nun im Quartiersmanagement Moabit. Als Freunde und Förderer des Festivals werden auf der Website die Organisatoren der Weserrakete im Reuterquartier aufgelistet. Außerdem erfahre ich, dass Johannes und Oliver von der Band Ferne beim Festival auftreten werden. An dieser Stelle beginnt eine neue – vielleicht ähnliche – Ethnographie über Musikkulturen in einem weiteren Berliner Bezirk.

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Andrej Holm: »Berlin: Die Renditestreber von Moabit«, auf Gentrification Blog. Nachrichten zur Stärkung von Stadtteilmobilisierungen und Mieter/innenkämpfen am 30.12.2011. URL: http://networkedblogs.com/s9ZL4 (letzter Zugriff am 31.02.2013).

10 Am 29. Oktober 2011 fand das »Mo’beat« – Indoor Musikfestival statt: »Bands unterschiedlicher Stilrichtungen spielen in verschieden Räumen im Gebiet des QM West Moabit bei freiem Eintritt. In Kneipen, Galerien, Cafés, Vereinsräumen, türkischen Männercafés, arabischen Shishabars und Altberliner Eckkneipen treten live junge Nachwuchsbands, Altrocker, arabische und türkische Musiker auf.« URL: www.mobeat.de (letzter Zugriff am 02.03.2013).

Epilog

Bis auf Jeffrey, Tove, Henrike, Leander und Momus leben alle Musiker, die für diese Arbeit befragt wurden, zum Zeitpunkt der Publikation, im Frühjahr 2013, noch in Neukölln. Der Kiez wurde durch weitere Veranstaltungsorte und Kneipen bereichert, insbesondere auch auf der Hermannstraße. Das Valentinstüberl und das Gelegenheiten existieren immer noch. Auch die Veranstaltungsreihe quiet cue im Staalplaat bleibt ein verlässlicher Treffpunkt für intermediale Performances. Da der Raum 18 auf der Ziegrastraße aus rechtlichen Gründen im Juni 2010 schließen musste, eröffnete bald darauf der Raum 20 sowie der Club Bei Roy auf dem Industriegelände. Wie es der Name des Veranstaltungsortes prophezeite, existiert auch das Temporärity, in welchem das Candle Piece aufgeführt wurde, nicht mehr. Das damals zwischengenutzte Haus in der Boddinstraße wurde von einem Investmentfond aufgekauft. Gegenwärtig befindet sich darin eine Kneipe. Katharina besucht das Gelegenheiten als »regelmäßiger Gast«, wie sie mir in einer E-Mail schreibt. Die Weserrakete findet ihr zufolge einerseits aus beruflichen Gründen der Organisatoren nicht mehr statt. Andererseits »wäre eine Weserrakete einfach nicht mehr nötig und wäre eine rein kommerzielle Veranstaltung« (Katharina am 23.08.2011). Mittlerweile arbeitet sie als festangestellte Graphikerin für das Stadtmagazin Zitty. Für das vom Quartiersmanagement in Moabit ausgerichtete Musikfestival gestaltete sie Flyer, Plakate und die Webseite. Ein weiteres ehemaliges Mitglied von Gelegenheiten war hauptverantwortlich für die Organisation des Musikfestivals in Moabit. Auf diesem Festival namens »Mo’beat« haben Johannes und Oliver von Ferne zuletzt gespielt. Der letzte Eintrag im Reuterblog wurde am 31.12.2009 geschrieben. Dafür informiert das reichhaltige Blog Neuköllner1 seit Januar 2011 über den Kiez. Simons und Carolas Workshops und Kurse für Kinder in dem Geräuschladen Ohrenhoch im Reuterquartier entpuppten sich als Erfolgsgeschichte und wurden seit 2008 bereits mit zwei Preisen ausgezeichnet.

1 Siehe auch www.neukoellner.net (letzter Zugriff am 12.03.2013).

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Tove nahm mit ihrem Musikduo To All My Friends 2011 sowie 2012 weitere Alben auf. Das Duo trat daraufhin immer mal wieder in Berlin, in schwedischen und auch US-amerikanischen Städten auf. Tove vermisst ihre Berliner Freunde. Henrike studiert in Brasilien, wo sie viele Auftritte mit ihrer Gitarre hat und kommt ein bis zweimal im Jahr ihre alte WG in der Neuköllner Sanderstraße besuchen. Auch Nicholas Currie alias Momus verließ Neukölln für Osaka, verfasste im Februar 2010 seinen letzten Eintrag auf seinem Blog und besucht Berlin und andere europäische Städte regelmäßig für Performances, so zum Beispiel im Februar 2013 für ein Konzert im Berliner Bezirk Wedding. Der Mietvertrag für das zwischengenutzte Ladenlokal für das Insekteum lief 2011 aus, so dass Inox seitdem auf der Suche nach einem neuen Raum für seine Ideen ist. Flo informiert via Internet-Tweets in regelmäßigen Abständen über neue Veröffentlichungen auf seinem Netlabel. Ende Februar 2012 lese ich einen OnlineFlyer, der sein DJ-Set auf einer Party im polnischen Posen als ›Post-Dubstep‹ ankündigt. Von dem britischen DJ Terry habe ich nach dem Interview in Neukölln nichts mehr gehört. Bob produziert in seiner Freizeit weiterhin Tracks, die er auf DJ-Sets präsentiert. Auch Kerstin produzierte sowohl 2011 und 2012 neue Alben, die sie in Form von CDs, MCs sowie auch LPs über ihre Website vertreibt. Sie ist ihrer DIYPhilosophie treu geblieben. Somit kann man außerdem handgestaltete T-Shirts über ihren Netzversand bestellen. Für das Frühjahr 2012 waren über zwanzig Konzerte innerhalb Europas geplant. Im Herbst 2012 tourte sie für drei Monate in den USA. 2013 tourt sie zudem in Polen, Ungarn, Serbien und Kroatien. Jeffrey lebt in San Diego und schreibt dort an einer Doktorarbeit, für die er gegenwärtig Komponisten interviewt, die Computerprogramme statt Partituren schreiben. Er ist mindestens einmal im Jahr zu Besuch in Berlin. Stéphane hatte zuletzt diverse Ausstellungen und Installationen – sowohl in einer Galerie in Neukölln als auch eine Woche später in Luxemburg. Er und Toby haben als experimentelles Duo in unregelmäßigen Abständen Auftritte an verschiedenen Orten Deutschlands und Frankreich. Anna beteiligt sich an diversen Berliner Musikfestivals, gibt Workshops und legt als DJ auf. Auch Monica organisiert nach wie vor regelmäßig Konzerte und Workshops im NK. Takanori lebt trotz seiner Pläne, nach Bukarest zu ziehen, in Neukölln, wo er schließlich eine Familie gegründet hat. Der Experimentalmusiker Tyler ist die meiste Zeit auf Reisen und trifft dort Musiker, mit denen er improvisiert. Ebenso reist Johnny für Auftritte gerne in andere Großstädte und genießt Neukölln als Zweitheimat. Christopher kommentiert seine Interviewaussagen in einer E-Mail: »Schön zu sehen, dass ich nicht so weit [weg] von meinen ersten Berliner Zielen bin«. Er und

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Andrew organisieren weiterhin ihren Musiksalon Certain Sundays. Andrew überlegt, eine größere Wohnung zu beziehen und fragt sich in einer E-Mail an mich »if by the time I am ready to move that I will be priced out of the neighborhood«. Auch Jaap äußert mir gegenüber in einer E-Mail, er sei »fast bereit für [die] nächste Studie, warum Künstler Berlin verlassen möchten«. Nachdem Leander von seiner ›halben Weltreise‹ nach Berlin zurückehrte, lebte er kurz in einer Kreuzberger Wohnung und distanzierte sich von dem Vorhaben, seine experimentelle open stage in Neukölln wieder aufzuziehen. 2012 zog er schließlich zurück nach Wien, um dort zu studieren. Außerdem erklärt er mir in einer Email Ende 2012, dass ihn seine Heimatstadt »um einiges mehr interessiert als Berlin«. Sophie spielte zuletzt auf einem Musikfestival in England und kehrt zwischen Aktivitäten in diversen europäischen Städten zwischendurch in ihre Wohnung am Neuköllner Maybachufer zurück. Ende 2010 lief die Förderung für den Kunstreuter Flyer durch das Programm »Soziale Stadt« aus. Unter dem Motto »Jeder ist ein kunstreuter!« wurde der Verein »kunstreuter international e.V.« gegründet, »um zukünftig unabhängige Projekte zur Vernetzung und Sichtbarmachung der kulturellen Akteure und Aktivitäten im Reuterkiez zu ermöglichen« und um den Flyer durch Mitgliedbeiträge und private Spendengelder wiederaufleben zu lassen.2 Herr Müller ist weiterhin für die Organisation des Kunstfestivals »48 Stunden Neukölln« aktiv, das sich bis dato starker Beliebtheit erfreut. Die Kulturamtsleiterin von Neukölln ist seit 2011 pensioniert. Die Stadtplanerin der Zwischennutzungsagentur im Reuterquartier ist Koordinatorin des Kreativnetzwerks in Neukölln und kümmert sich außerdem um Nutzungsoptionen von anderen Standorten für die Berliner Kultur- und Kreativwirtschaft.

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»Wir freuen uns über jedes neue Mitglied. Der Mitgliedsbeitrag beträgt 60 €im Jahr, eine Aufnahmegebühr wird –derzeit – nicht erhoben. […] Aktuell verbreiten wir diesen Flyer in und um den Reuterkiez herum. Er wird an vielen Orten – Galerien, Kneipen, […] auftauchen.« URL: www.kunstreuter.de/kunstreuter/international/ (letzter Zugriff am 20.03.2013).

Literatur

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L ITERATUR

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344 | »T IEF IN N EUKÖLLN «

Radialsystem. Veranstaltungsort in Friedrichshain oder »new space for the arts«, wie es die Website verspricht. URL: www.radialsystem.de/rebrush/rs-pressepressestimmen.php (letzter Zugriff am 22.02.2013). Raum 18. Konzerte und Partys in der Ziegrastraße 18. URL: www.raum18-berlin.com (letzter Zugriff am 18.03.2013). Reuterblog. www.reuterkiez.net (letzter Zugriff am 11.02.2013). Staalplaat. Amsterdamer Musiklabel mit Ladenlokal in der Neuköllner Flughafenstraße. URL: www.staalplaat.com (letzter Zugriff am 12.03.2013). Valentinstüberl. Kneipe auf der Neuköllner Donaustraße. URL: www.valentinstueberlneukoelln.de (letzter Zugriff am 12.03.2013). Volksbühne. Renommiertes Theaterhaus am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte, in welchem auch Konzerte stattfinden. URL: www.volksbuehne-berlin.de (letzter Zugriff am 12.02.2013). Weserrakete. Kiezfest um die Weserstraße. URL: http://weserrakete.blogspot.com (letzter Zugriff am 21.02.2013). Zukunft Neukölln e.V. URL: www.zukunft-neukoelln.de (letzter Zugriff am 17.02.2013).

Anhang Verzeichnis der verwendeten Interviews

Anonymisierte Interviewpartner sind durch ein Sternchen* gekennzeichnet. • Katharina*: Interview am 14.11.2008 im Kulturverein Gelegenheiten auf der

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Weserstraße. Später kommt noch Tobias, ein weiteres Mitglied des Vereins hinzu. Dauer: 2 Stunden. Lenaustraße ebendort. Dauer: 60 Minuten. Felix*: Interview am 08.05.2008 im Café Goldberg auf der Reuterstraße. Dauer: 45 Minuten. Karl*: Interview am 21.09.2009 in seiner Neuköllner Kneipe. Dauer: 90 Minuten. Henrike: Interview am 08.06.2009 in ihrer WG in der Sanderstraße. Dauer: 120 Minuten. Ori: Interview am 18.12.2008 mit Mitgliedern des Ori. Dauer: 60 Minuten. Simon* und Carola*: Interview am 19.10.2008 in ihrem Geräuschladen Ohrenhoch. Dauer: 90 Minuten. Ruth*: Interview am 10.10.2008 in dem Arbeitsraum und Atelier Musenstube. Dauer: 60 Minuten. Tove: Internet-Interview am 30.06.2009. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews in ihrem schwedischen Heimatort. Dauer: 90 Minuten. Franz: Interview am 04.12.2008 im Ä. Gespräch wird nicht aufgezeichnet. Wichtige Aussagen werden notiert. Dauer: 20 Minuten. Jeffrey Treviño: Interview am 26.08.2009 in einem Café Nahe der Sonnenallee. Dauer: 240 Minuten. Robert*: Interview am 04.12.2008 in seinem Valentinstüberl. Dauer: 90 Minuten. Ronald Gonko: Interview am 27.08.2009 im Restaurant Saalbau Neukölln. Dauer: 45 Minuten. Tyler*: Interview am 04.11.2009 in Bobs Wohnung, die er als Untermieter bezieht. Dauer: 90 Minuten Oliver* und Johannes*: Interview am 20.11.2008 in der Kneipe Mamma in der Lenaustraße. Dauer: 200 Minuten.

346 | »T IEF IN N EUKÖLLN « • Regina*: Emailinterview am 07.07.2009. • Willi Mars*: Interview am 14.07.2009 auf der Wiese am Weigandufer. Dauer: 60

Minuten. • Paul*: Interview am 26.05.2009 im Park am Wildenbruchplatz. Dauer: 120 • • • •

• • • • • • • • • • • • • •

Minuten. Jaap*: Interview am 22.10.2008 in seiner Wohnung auf der Weserstraße. Dauer: 90 Minuten. Stefan*: Interview am 08.08.2009 im Café Goldberg auf der Reuterstraße. Dauer: 60 Minuten. Kerstin*: Interview am 04.05.2009. Gespräch gemeinsam mit ihrem Mitbewohner Alex, der auch Musiker ist. Dauer: 120 Minuten. Toby*: Interview am 26.03.2009 in seiner Wohnung im Reuterquartier. Parallel zum Interview lässt er eine Schallplatte des Experimentalmusikers Asmus Tietchens laufen, den er sehr verehrt. Dauer: 90 Minuten. Bob*: Interview am 23.09.2009 auf der Wiese am Urbanhafen. Dauer: 150 Minuten. Inox Kappell: Interview am 18.12.2008 in seinem Insekteum. Dauer: 120 Minuten. Tim Blue: Interview am 15.09.2009 in einem Café in der Lenaustraße. Dauer: 120 Minuten. Takanori*: Interview am 10.12.2008 in seiner Wohnung auf der Karl-MarxStraße. Dauer: 120 Minuten. Christopher Williams: Interview am 06.08.2009 vor einem Café auf der Tellstraße im Reuterquartier. Dauer: 40 Minuten. Monica*: Interview am 23.06.2009 in ihrem Zimmer im Atelierhaus NK. Dauer: 90 Minuten. Stéphane*: Interview am 24.02.2009 in seinem Atelier in Kreuzberg. Dauer: 80 Minuten. Andrew*: Interview am 30.07.2009 in seiner Wohnung in der Nähe der KarlMarx-Allee. Dauer: 90 Minuten. Anna*: Interview am 08.06.2009 in der Wohnung Nahe des Neuköllner S-BahnRings. Dauer: 90 Minuten. Flo*: Interview am 05.08.2009 in seiner Wohnung auf der Karl-Marx-Straße. Dauer: 90 Minuten. Piet: Interview am 03.08.2009 in seiner Wohnung im Reuterquartier. Dauer: 80 Minuten. Gerd*: Interview am 03.09.2009 auf der Biebricherstraße. Dauer: 90 Minuten. Tine*: Internet-Interview am 06.07.2009. Dauer: 60 Minuten. Terry*: Interview am 03.07.2009 in Flos Wohnung, die Terry mit als Produktionsstudio nutzt. Dauer: 60 Minuten.

A NHANG

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• Martin*: Interview am 12.03.2009 in seiner Wohnung auf der Lenaustraße. • • •

• • • • • • •

• •

• •

Dauer: 90 Minuten. Torsten*: Interview am 04.12.2008 im Hinterraum des Valentinstüberls, in welchem er zu diesem Zeitpunkt als DJ auflegt. Dauer: 180 Minuten. Gordon Raphael: Interview am 10.10.2009 in seinem Produktionsstudio in der Ziegrastraße. Dauer: 90 Minuten. Akira*: Interview am 08.04.2009 in seiner Wohnung in der Lenaustraße im Reuterquartier. Er bittet mich an einigen Stellen, das Aufnahmegerät auszustellen. Dauer: 60 Minuten. Johnny Chang: Interview am 20.09.2009 in seiner Wohnung im Reuterquartier. Dauer: 90 Minuten. Leander*: Interview am 10.09.2009 an der Schiffsanlegestelle am Maybachufer. Dauer: 90 Minuten. Jonas* und Julia*: Interview am 15.05.2009 in ihrer Wohnung auf der Hermannstraße. Dauer: 90 Minuten. Sophie*: Interview am 12.08.2009 in ihrer Wohnung nahe des Maybachufers. Dauer: 90 Minuten. Dorothea Kolland: Interview am 10.11.2008 in ihrem Bürozimmer im Kulturamt Neukölln. Dauer: 90 Minuten. Guillaume Siffert: Interview am 15.07.2009 vor seinem Laden Staalplaat. Dauer: 40 Minuten. Stefanie* und Rolf*: Interview am 02.03.2009 in der Galerie 31 im Reuterquartier, wo Stefanie mir die Werke einer Ausstellung zeigt, bevor wir in die »Kunstfiliale« gehen, wo wir zusammen mit Rolf über deren Arbeit und Leben im Kiez reden. Dauer: 90 Minuten. Guido Müller*: Interview am 01.11.2008 in seinem Bürozimmer im Kulturamt Neukölln. Dauer: 60 Minuten. Momus alias Nick Currie: Interview am 26.01.2009 im Café Ringo in der Sanderstraße. Ein Protokoll des Gesprächs erfolgt augrund eines technischen Defekts des Aufnahmegeräts aus dem Gedächtnis. Die Band The Incredible Herrengedeck: Interview am 22.03.2009 in einer Bäckerei auf der Sonnenallee. Dauer: 120 Minuten. Beate Fischer*: Interview am 31.10.2008 im Büro der Zwischennutzungsagentur in der Lenaustraße im Reuterquartier: Dauer: 90 Minuten.

Studien zur Popularmusik Susanne Binas-Preisendörfer Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit Popmusik auf globalen Märkten und in lokalen Kontexten 2010, 280 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1459-6

Immanuel Brockhaus, Bernhard Weber (Hg.) Inside The Cut Digitale Schnitttechniken und Populäre Musik. Entwicklung – Wahrnehmung – Ästhetik 2010, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., inkl. Begleit-CD-ROM , 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1388-9

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Studien zur Popularmusik Julio Mendívil Ein musikalisches Stück Heimat Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager 2008, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-864-3

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Studien zur Popularmusik Karin Bock, Stefan Meier, Gunter Süss (Hg.) HipHop meets Academia Globale Spuren eines lokalen Kulturphänomens

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2007, 332 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-761-5

2010, 440 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1354-4

Silke Borgstedt Der Musik-Star Vergleichende Imageanalysen von Alfred Brendel, Stefanie Hertel und Robbie Williams

Thomas Krettenauer, Michael Ahlers (Hg.) Pop Insights Bestandsaufnahmen aktueller Pop- und Medienkultur

2007, 314 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-772-1

2007, 152 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN 978-3-89942-730-1

Michael Custodis Klassische Musik heute Eine Spurensuche in der Rockmusik

Kai Lothwesen Klang – Struktur – Konzept Die Bedeutung der Neuen Musik für Free Jazz und Improvisationsmusik

2009, 274 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1249-3

Annemarie Firme, Ramona Hocker (Hg.) Von Schlachthymnen und Protestsongs Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Musik und Krieg 2006, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-561-1

2009, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-930-5

Oliver Seibt Der Sinn des Augenblicks Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen 2010, 244 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1396-4

Lydia Grün, Frank Wiegand (Hg.) musik netz werke Konturen der neuen Musikkultur 2002, 218 Seiten, kart., inkl. Begleit-CD-ROM, 24,80 €, ISBN 978-3-933127-98-3

Fernand Hörner, Oliver Kautny (Hg.) Die Stimme im HipHop Untersuchungen eines intermedialen Phänomens 2009, 204 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-998-5

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