Thüringen und die Thüringer: Band 2: Identitäten – Konstrukte – Bilder [1 ed.] 9783412517366, 9783412517342

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Thüringen und die Thüringer: Band 2: Identitäten – Konstrukte – Bilder [1 ed.]
 9783412517366, 9783412517342

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Stefan Gerber, Werner Greiling, Helge Wittmann (Hg.)

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Thüringen und die Thüringer Band 2: Identitäten – Konstrukte – Bilder

Materialien zur thüringischen Geschichte Im Auftrag der „Historischen Kommission für Thüringen“ herausgegeben von Werner Greiling Band 3

Stefan Gerber · Werner Greiling · Helge Wittmann (Hg.)

THÜRINGEN UND DIE THÜRINGER Band 2: Identitäten – Konstrukte – Bilder

böhlau verlag wien köln

Gedruckt mit Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill Deutschland GmbH (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: „Thüringische Staaten“. Farblithographie. Kartograph: Henry Lange, neubearb. durch Carl Diercke. Aus: H. Lange, Atlas des Deutschen Reiches, Neueste Bearbeitung in dreißig Karten, Braunschweig (George Westermann) 1902, Karte 21. © akg-images Redaktion und Satz: Dr. Philipp Walter, Jena Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51736-6

Inhalt 7

Zur Einführung

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Mathias Kälble

Identitätsbildungsprozesse im frühmittelalterlichen Thüringen



Stefan Tebruck

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Land versus Dynastie? Thüringen unter wettinischer Herrschaft im Spätmittelalter



Reinhard Hahn

75

Was ist thüringisch an der mittelalterlichen Literatur Thüringens?

Petra Weigel 103 Thüringen in frühneuzeitlichen Karten Gerhard Müller/Joachim Bauer 131 Das ungeteilte Erbe. Die „Gesamtuniversität“ Jena und Identitätsbildungen im ernestinischen Thüringen Julia A. Schmidt-Funke 145 Flora Thuringica. Zur Erfindung des Einheimischen Hans-Werner Hahn 167 Thüringenbewusstsein und die nationale Frage im 19. Jahrhundert

Gerhard Müller

189 Aufbruch nach Thüringen? Thüringen-Konzepte in der Politik SachsenWeimar-Eisenachs 1800–1815

Stefan Gerber

203 Thüringen umgrenzen und verdichten. Landeskunden als Medien des Thüringen-Diskurses im „langen“ 19. Jahrhundert Werner Greiling 227 Thüringenbezüge in der Thüringer Presse. Mit einem Anhang: PresseBibliographie „Thüringen“

Jürgen John 259 Thüringen-Diskurse und Landesgründung

Steffen Raßloff

279 „Mustergau“ Thüringen. Identitätspolitik im Dritten Reich Peter Bühner 301 Das vergebliche Wirken von Bürgerinitiativen für den Anschluss an Thüringen in den Kreisen Nebra, Naumburg und Sangerhausen 1990. Ein Zeitzeugenbericht

315 Abkürzungsverzeichnis 316 Abbildungsnachweise 319 Personenregister 325 Ortsregister 328 Verzeichnis der Autoren und Herausgeber

Zur Einführung

Die im Mai 1920 vollzogene Gründung des Landes Thüringen, die im März 1921 durch die endgültige Verfassungsgebung und im Sommer 1922 durch eine Kommunal- und Verwaltungsreform ihren Abschluss fand, war die einzige erfolgreiche Länderneugründung in der Weimarer Republik. Ihre Protagonisten verstanden sie als republikanisches Reformprojekt, das modellbildend für die Entwicklung Deutschlands insgesamt sein könne: Die von der Revolution auf die politische Tagesordnung gesetzte Überwindung der kleinstaatlichen Struktur Thüringens, so die linksliberale „Weimarische Landeszeitung Deutschland“ schon im November 1918, sei eine „bedeutsame Probe für die staatsgestaltende Kraft des neuentstehenden deutschen Volksstaates“.1 Der Schöpfer der ersten Thüringer Landesverfassung von 1921, der Jurist und DDP-Politiker Eduard Rosenthal, formulierte als Ziel, „im Herzen Deutschlands einen modernen Einheitsstaat zu schaffen“,2 von dem Reformimpulse für den – vor allem durch die ungelöste Preußen-Frage belasteten – Föderalismus der ersten deutschen Republik ausgehen sollten. Die Diskussionen, die den thüringischen Landesgründungsprozess begleiteten, zeigten freilich auch, dass „Thüringen“, das seit Jahrhunderten keine politisch-staatliche Einheit mehr gebildet hatte, ein in verschiedene Richtungen ausdeutbarer Raumbegriff war. Regionale und lokale Identitäten, wirtschaftliche Interessen und infrastrukturelle Gegebenheiten, landes- und reichs­ politische Zielsetzungen und Visionen überlagerten sich. Es stand nicht nur die Frage im Raum, ob die Landesgründung durch eine „großthüringische“ Lösung unter Einbeziehung des „preußischen Thüringen“ oder als „Kleinthüringen“ – allein auf der Grundlage der bisherigen Einzelstaaten – zustande kommen würde. Debattiert wurde auch darüber, ob das neue Thüringen, wie es die Linke zunächst anstrebte, als „Provinz“ Teil einer unitarischen Republik sein würde oder ob es als Teilstaat eines weiterhin föderal organisierten Staatswesens entstehen sollte. Vor allem aber zeigten sich an den „Rändern“ des 1 Felix Pischel, Zur Frage der Grenzen und inneren Gliederung des künftigen einheit-

lichen Staatsgebietes Thüringen, in: Weimarische Landeszeitung Deutschland, 21. November 1918. 2 Verhandlungen des Volksrates von Thüringen 1919/20, Stenographische Berichte, 1. Sitzung, 16. Dezember 1919, Weimar 1920, S. 3.

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Zur Einführung

Raumes zentrifugale Tendenzen: Der Freistaat Coburg ganz im Süden Thüringens lehnte den Gemeinschaftsvertrag zur Landesgründung ab und schloss sich 1920 Bayern an. Das ebenfalls südthüringische Sachsen-Meiningen konnte nur mit Sonderzusagen für das Verwaltungs- und Kulturwesen der Region bei Thüringen gehalten werden. In den reußischen Staaten und im ostthüringischen Sachsen-Altenburg wurde – wie schon 1848/49 – erwogen, ob nicht ein Anschluss an das benachbarte Sachsen die beste staats- und wirtschaftspolitische Lösung nach dem Ende der kleinstaatlichen Monarchien sei. Und vielerorts in Thüringen diskutierte die politische Öffentlichkeit über einen möglichen Anschluss an Preußen. Deutlich wurde bei alldem, dass „Thüringen“ am Ende des „langen“ 19. Jahrhunderts zwar einen breit anerkannten historischen, kulturräumlichen und damit auch politischen Identitätskern besaß, sich an diesen Kern aber verschiedene Identitäten anlagern konnten. Ebenso trat hervor, dass die staatspolitischen und territorialen Konsequenzen aus einer Zuordnung zu „Thüringen“ nicht eindeutig gegeben, sondern Gegenstand politischer Aushandlungsprozesse waren. Dieses im 20. Jahrhundert gleich zweimal, im Vorfeld der Landesgründung 1920 und erneut bei der Neugründung des Landes Thüringen 1990, besonders deutlich hervortretende Changieren der Definition „Thüringens“ und der „Thüringer“ zwischen langfristig stabilen Selbst- und Fremdzuschreibungen einerseits und der Disparität, ja teilweise sogar Prekarität thüringischer Identitätsbestimmungen andererseits veranlasste die „Historische Kommission für Thüringen“ im Vorfeld des doppelten Jubiläums von 100 Jahren Landesgründung und 30 Jahren Neugründung des Landes Thüringen 2020, das Thema der Landesidentitäten zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit zu machen. Veranstaltet wurden zwei wissenschaftliche Kolloquien, die unter dem Titel „Thüringen und die Thüringer. Bilder, Identitäten, Konstrukte“ am 16./17. März 2018 in Mühlhausen und am 15./16. März 2019 in Schmalkalden stattfanden. In einem breiten chronologischen und thematischen Bogen von der Frühzeit der Thüringer im Thüringerreich bis zur Landesgründung von 1990 wurden hier kollektive Identitäten und Identitätsbildungsprozesse untersucht und diskutiert. In der Geschichtswissenschaft sind Rekonstruktion und Analyse von Selbstund Fremdbildern vergangener Gesellschaften und historischer Akteure ein Schlüssel zum Verständnis von kollektiven Identitätsbildungsprozessen. Indem die Konzeption der beiden Kolloquien von „Identitäten“ sprach, postulierte sie, dass „kollektive Identität“ nicht – wie es in grundlegenden Kritiken der

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Verwendung dieses Terminus formuliert wurde3 – eine unklare, letztlich leere und in jeweils unterschiedlichen Zeitkontexten mit variierenden politischen Absichten gefüllte Pathosformel ist. „Identität“ oder „Kollektive Identität“ wurde vielmehr als Ensemble von Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten, sozialen Übereinkünften, geteilten oder auch kontrovers gegeneinandergestellten Erinnerungen und Gedächtnisinhalten sowie kulturellen und ethnischen Konvergenzen verstanden, das bestimmte, unterscheidbare Gruppen von Menschen konstituiert und durch Sozialisationsinstanzen tradiert und erweitert wird. Hinzu tritt ein Weiteres: In der Landes- und Regionalgeschichte bezieht sich die Frage nach Identitäten immer auf „Räume“ im materiellen oder immateriellen Sinn. Sie muss zu fassen suchen, wie im Zusammenspiel von Naturraum und Kulturraum, von Herrschaft bzw. Staat und Gesellschaft die konkret vorfindbaren Raumstrukturen und Vergesellschaftungsformen, die Region oder das „Land“ entstehen, was diese – vereinfacht gesagt – zusammenhält und was Menschen dazu bringt, die aus kollektiven Identitäten resultierenden Zuschreibungen, Bestimmungen und Einbindungen zu akzeptieren und zu einem Teil ihrer eigenen, persönlichen Identität zu machen. Landes- und Regionalgeschichte muss nach den Akteuren, Institutionen, Strategien und Medien fragen, die solchen Räumen Kontur, Kohärenz und Komplexität verleihen.4 Kontur bezeichnet dabei den zentralen Aspekt der Begrenzung und Abgrenzung, denn es gibt keine raumbezogenen Identitätsbildungsprozesse ohne Entscheidung in der Frage, was – in unserem Fall – topographisch zu Thüringen gehört, aber gleichzeitig auch, wer innerhalb einer Menschengruppe oder als Einzelperson zu diesem Raum „gehört“, mithin Thüringer war oder ist. Die Frage nach der Kohärenz bezieht sich auf das Bestreben, innere Bruchlinien und Binnengrenzen von Räumen handhabbar zu machen, indem z. B. regionale und lokale Identitäten komplementär auf eine Landesidentität hingeordnet oder solche Binnengrenzen nivelliert werden, wie es im politischen Raum des Landes durch Herrschaft, insbesondere durch Rechtsetzung und Rechtsprechung geschieht. „Komplexität“ erfasst die Prozesse der Schaffung eines kollektiven Gedächtnisses und einer im Raum „erlebbaren“ Geschichte, welche die Erfahrung des Raumes oder des „Landes“ als Schauplatz zusammenführender, integrierender Prozesse ermöglichen. 3 So etwa bei Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimli-

chen Konjunktur, Reinbek bei Hamburg 2000.

4 Vgl. Georg Kunz, Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deut-

schen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.

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Zweifellos – und dies versuchte der Titel der Kolloquien mit dem Begriff des „Konstruktes“ festzuhalten – können solche Identitäten nicht „essentialistisch“ gefasst und nicht als auf ewige Dauer gesetzt betrachtet werden. Sie sind dynamisch und in beständiger Veränderung begriffen. Gleichwohl werden von uns Identitäten aber nicht dahingehend als „konstruktivistisch“ aufgefasst, dass von der „Erfindung“ regionaler Identitäten oder einer Landesidentität im Sinne eines voraussetzungslosen Synthetisierens ausgegangen wird. Die Formulierung von der „Erfindung“ kollektiver Identitäten – darauf hat vor einigen Jahren Dieter Langewiesche am Beispiel des vielstrapazierten Diktums von der „Erfindung der Nation“ hingewiesen5 – ist missverständlich: Sie leistet dem unzutreffenden Eindruck Vorschub, dass die Stabilisierungs-, Plausibilisierungs- und Verdichtungsprozesse, aus denen Landesidentitäten hervorgehen, sowie die Geschichts- und Identitätspolitiken, über die sie tradiert und weiterentwickelt werden, ein arbiträres Konstrukt in die Welt setzten, das immer auch eine andere Gestalt als diejenige hätte gewinnen können, die sich als vergangene Empirie rekonstruieren lässt. In den Kolloquien wurde vielmehr nach dem Verlauf, den Formen und den Medien dieser Identitätsbildungsprozesse gefragt, um den spezifischen, aus naturräumlichen, herrschaftlich-­politischen, ökonomisch-­sozialen und kulturellen Einflussfaktoren resultierenden Entwicklungsgang im thüringischen Raum in der „longue durée“ herauszuarbeiten, gleichzeitig aber auch Ansatzpunkte für den Vergleich mit anderen deutschen Ländern und europäischen Regionen zu bieten. In den neueren Überblicksdarstellungen zur thüringischen Geschichte wird die Frage der thüringischen Identitätsbildungen und der mit ihnen verbundenen Thüringen-Bilder bislang kaum aufgeworfen. Prinzipielle Erwägungen zu Thüringen als historischer „Schauplatz“6 zielen zumeist auf die räumliche Umgrenzung des Darstellungsgebietes ab, wie sie schon Hans Patze in seiner 1962 veröffentlichen Studie zur „Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen“ auf der Basis der zeitgenössischen landeskundlich-geographischen Literatur vornahm. Hier standen die Konzepte der Kulturräume und übergreifenden Kulturlandschaften im Hintergrund, die seit den grundlegenden Überlegungen Hermann Aubins zur „geschichtlichen Landeskunde“ in der deutschen 5 Vgl. Dieter Langewiesche, Was heißt „Erfindung der Nation“? Nationalgeschichte

als Artefakt – oder Geschichtsdeutung als Machtkampf, in: Historische Zeitschrift 277 (2003), S. 593–617. 6 So Hans Patze, Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen, I. Teil, Köln/Graz 1962, S. 7.

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Landesgeschichtsforschung einflussreich geworden waren.7 Häufig wird auch die territorial-herrschaftliche Kleinteiligkeit des thüringischen Raumes in der Frühen Neuzeit und dem „langen“ 19. Jahrhundert mit der Dauerhaftigkeit und Vitalität eines kulturellen Thüringen-Bewusstseins kontrastiert – Friedrich Facius sprach 1978 in dem bis heute maßgeblichen Handbuch zur Geschichte Thüringens von Hans Patze und Walter Schlesinger von den beiden „Grundkräften“ der thüringischen Geschichte.8 Den Quellen, dem Wandel, den vielfältigen Ausdrucksformen und Medien der sich so in der Ambivalenz zwischen räumlicher Segmentierung und soziokultureller Kohärenz entfaltenden regionalen Identitäten Thüringens und der Thüringer wird indes meist nicht systematisch nachgegangen.9 Die Beiträge beider Kolloquien werden nunmehr – in überarbeiteter und in einigen Fällen auch deutlich erweiterter Fassung – im Druck vorgelegt. Damit sollen einer historisch interessierten Öffentlichkeit verschiedene Facetten dieses Problemfeldes aufgezeigt und neue Forschungsergebnisse präsentiert werden. Zugleich soll zur weiteren historischen Beschäftigung mit diesem nach wie vor hoch aktuellen Thema angeregt werden. Im ersten Teil des Zweibänders widmet sich Matthias Werner mit einer eigenständigen Monographie in umfassender Weise den Grundlagen thüringischer Identitätsbildungen, um diese von ihren Anfängen bis ins 20. Jahrhundert hinein zu verfolgen. Diese Studie mit dem Titel „Traditionsbildung, politische Vielfalt und historisch-­geographische Kontinuität von der Frühzeit bis zur Landesgründung von 1920“ ist Grundlage und Klammer für die 13 Beiträge des vorliegenden Bandes, die sich jeweils speziellen Phänomenen bzw. kürzeren Zeitabschnitten widmen. Dem skizzierten Konzept entsprechend, geht Matthias Kälble besonders den Identitätsbildungsprozessen im frühmittelalterlichen Thüringen nach, während Stefan Tebruck die herrschaftlich-dynastische Entwicklung, Selbst- und 7 Vgl. Edith Ennen, Hermann Aubin und die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande,

in: Rheinische Vierteljahrsblätter 34 (1970), S. 9–42; Matthias Werner, Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert, in: Peter Moraw/Rudolf Schieffer (Hg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, Ostfildern 2005, S. 251–364. 8 Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.), Geschichte Thüringens, 5. Bd.: Politische Geschichte in der Neuzeit, T. 2: Friedrich Facius, Politische Geschichte von 1828 bis 1945, Köln/Wien 1978, S. VIII. 9 Vgl. z. B. auch die knappen Bemerkungen in Reinhard Jonscher/Willy Schilling, Kleine thüringische Geschichte. Vom Thüringer Reich bis 1990, Jena 42005, S. 16 f.; Steffen Rassloff, Kleine Geschichte Thüringens, Ilmenau 2017, S. 18; Ders., Geschichte Thüringens, München 22020, S. 9–11.

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Fremdverortung Thüringens im Spätmittelalter untersucht. Auf der literaturgeschichtlichen Ebene nähert sich Reinhard Hahn dem Problem thüringischer Identitäten im Mittelalter an und geht der Frage nach, ob eine mittelalterliche Literatur Thüringens identifiziert werden kann. Thüringen-Identitäten und Thüringen-Bilder in der Frühen Neuzeit analysieren Petra Weigel, Gerhard Müller und Joachim Bauer sowie Julia A. SchmidtFunke: Die Themenpalette reicht hier von der komplexen Interaktion zwischen Thüringen-Kartographie und „mental maps“ (Weigel) über die 1548/58 errichtete ernestinische „Gesamtuniversität“ in Jena als Identitätsanker für den thüringischen Raum (Müller/Bauer) bis hin zur Analyse der Definitionen einer thüringischen Flora in der botanischen und landeskundlichen Literatur des 18. Jahrhunderts (Schmidt-Funke). Die dominierenden politischen und gesellschaftlichen Trends des 19. Jahrhunderts in ihrer regionalen Ausprägung und ihren Wirkungen auf thüringische Identitäten, Selbst- und Fremdbilder werden anschließend im Blick auf das Thüringenbewusstsein und die nationale Frage (Hans-Werner Hahn), auf Thüringen-Konzepte in der Politik des größten thüringischen Staates Sachsen-­ Weimar-Eisenach (Müller), auf die Vermittlung von Thüringen-Identitäten und Thüringen-Bildern in der landeskundlichen Publizistik (Stefan Gerber) sowie auf Thüringenbezüge in der Presse des thüringischen Raumes (Werner Greiling) untersucht. Die Thüringen-Diskurse, die die erste Landesgründung von 1920 begleiteten und schlaglichtartig Einheit und Vielfalt von Thüringen-Identitäten und -Bildern zu Beginn des 20. Jahrhunderts sichtbar machten, behandelt der Beitrag von Jürgen John. Steffen Raßloff fragt nach Identitätspolitik(en) im nationalsozialistischen Thüringen, das die regionale NS-Elite zum „Mustergau“ zu stilisieren suchte. Auf das Vorfeld der zweiten Landesgründung nach der Friedlichen Revolution in der DDR führt schließlich der Zeitzeugenbericht von Peter Bühner über Zugehörigkeitsdiskussionen beiderseits der 1990 gezogenen Landesgrenze zwischen Thüringen und Sachsen-Anhalt. Der vorliegende Studienband und die Monographie aus der Feder von Matthias Werner richten sich nicht allein an die Wissenschaft, sondern auch an die historisch und politisch interessierte Öffentlichkeit in Thüringen und darüber hinaus. Beide Bände stellen keinen Schlusspunkt, sondern eine Etappe und ein Diskussionsangebot dar. Gesellschaft und Staat der Gegenwart bedürfen auch und gerade heute des historisch informierten und politisch reflektierten Diskurses über Identitäten und Identifikationsmuster: auf lokaler und regionaler, auf nationaler und europäischer Ebene. Die Landes- und Regionalgeschichts-

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forschung kann und will die aktuellen Diskussionen nicht selbst strukturieren oder engagiert führen. Dies muss eine kritische und vielgestaltige Öffentlichkeit insgesamt tun. Landes- und Regionalhistoriker als Teil dieser Öffentlichkeit können und müssen ihre Expertise und ihre Wissensbestände allerdings zur Verfügung stellen, um die fortwährenden sozialen und kulturellen Selbstverständigungsprozesse der Gegenwart sachbezogen zu begleiten. Auch dazu will dieses Buch genau wie der zugehörige Komplementärband einen Beitrag leisten. *

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Der Dank der Herausgeber gilt den beteiligten Autorinnen und Autoren sowie allen, die sich mit Vorträgen und kürzeren Diskussionsbeiträgen an den Kolloquien 2018 und 2019 beteiligt haben. Ohne die Unterstützung vor Ort, die in Mühlhausen der Fachbereichsleiter Stadtarchiv/­Stadtbibliothek der Stadtverwaltung Mühlhausen, Dr. Helge Wittmann, und in Schmalkalden der Leiter des Museums Schloss Wilhelmsburg und Direktor der Museen im Zweckverband Kultur des Landkreises Schmalkalden-­Meiningen, Dr. Kai Lehmann, gewährt haben, wäre die Durchführung der Veranstaltungen nicht möglich gewesen. Gedankt sei schließlich dem Freistaat Thüringen, der die landesgeschichtliche Arbeit der Historischen Kommission für Thüringen zuverlässig unterstützt und diese Publikationen dadurch ermöglicht hat. Auch deshalb sind diese Studien über „Thüringen und die Thüringer“ dem Freistaat Thüringen mit seinen Bürgerinnen und Bürgern gewidmet.

Jena und Mühlhausen, im Januar 2023 Stefan Gerber, Werner Greiling, Helge Wittmann

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Mathias Kälble

Identitätsbildungsprozesse im frühmittelalterlichen Thüringen

Seit der einflussreichen Studie von Reinhard Wenskus über die Entstehung der frühmittelalterlichen gentes aus dem Jahr 1961 gilt in der Geschichtswissenschaft der Grundsatz, dass Völker, Stämme oder Nationen keine festgefügten ethnisch bestimmten Einheiten, sondern unter politischen Vorzeichen zusammengewachsene Traditionsgemeinschaften gewesen sind, die als solche in ständiger Umformung begriffen waren.1 Die Forschung hat sich seitdem intensiv mit dem Problem beschäftigt, unter welchen Bedingungen Völker entstanden, wie sie sich entwickelt haben und in welcher Weise sie historisch prägend geworden sind. In Anlehnung an Erkenntnisse der Ethnologie hat die historische Mediävistik eine Reihe von Merkmalen herausgearbeitet, die als konstitutiv für die Identität und den Zusammenhalt von Personenverbänden, Völkern und Nationen anzusehen sind und die bis heute allgemeine Gültigkeit beanspruchen dürfen. Hierzu gehören ein gemeinsames Siedlungsgebiet, eine gemeinsame Sprache, gleiche Sitten und Gewohnheiten, Gemeinsamkeiten des Rechts und der politischen Organisation mit einer allgemein anerkannten Führung und vor allem eine gemeinsame Geschichte und gemeinschaftliche Traditionen. Wichtige Impulse für die historische Ethnogeneseforschung gingen von dem zu Beginn der 1970er Jahre von Walter Schlesinger und Helmut Beumann ins Leben gerufenen Marburger Forschungsprogramm zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter aus, die insbesondere von der Wiener Schule um Herwig Wolfram und dessen Schüler Walter Pohl aufgegriffen und weiterentwickelt wurden.2 Thüringen spielte in diesem Zusammenhang keine nennenswerte Rolle, was in erster Linie auf eine vergleichsweise schlechte Quellen1 Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln/Graz 1961. 2 Vgl. hierzu insbesondere Walter Schlesinger, Die Entstehung der Nationen. Gedanken zu einem Forschungsprogramm, in: Helmut Beumann/Werner Schröder (Hg.), Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter. Ergebnisse der Marburger Rundgespräche 1972–1975 (Nationes, 1), Sigmaringen 1978, S. 11–62, hier bes. S. 59–62; Herwig Wolfram, Geschichte der Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts: Entwurf einer historischen Ethnographie, München 1979; Walter Pohl, Telling the Difference: Signs of ethnic identity, in:

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Mathias Kälble

überlieferung und die in der DDR erheblich eingeschränkten Möglichkeiten mediävistischer Forschung zurückzuführen ist. Der mittel- und ostdeutsche Raum blieb in der Diskussion deshalb weitgehend unberücksichtigt. Entsprechend widersprüchlich sind die Vorstellungen davon, was unter Thüringen in frühmittelalterlicher Zeit zu verstehen ist und welche Bedeutung die Thuringia und ihre Bewohner für die Geschichte des frühmittelalterlichen Reiches hatten (Abb. 1). Ging die ältere landesgeschichtliche Forschung wie selbstverständlich davon aus, dass die Thüringer im Mittelalter einen festgefügten „Stammesverband“ bildeten, dessen „Stammesbewusstsein“ ihnen über alle Wechselfälle der Geschichte hinweg eine mehr oder weniger große Selbstständigkeit bewahrt und sogar die späteren thüringischen Kleinstaaten einend überlagert habe,3 so haben jüngere Autoren die Existenz eines thüringischen Eigenbewusstseins grundsätzlich in Frage gestellt. Nach dem Untergang des Thüringerreiches, das im ausgehenden 5. Jahrhundert zu den mächtigsten germanischen Königreichen außerhalb des römischen Imperiums gehörte, und der Unterwerfung der Thüringer unter die Herrschaft der Franken 531/34 hätte ein Volk der Thüringer, so wurde behauptet, keine eigenständige Kontur mehr gewinnen können. Dafür seien die alten Traditionen zu wenig prägend, das Geschichtsbewusstsein der Thüringer im Unterschied zu anderen west- und mitteleuropäischen Völkern zu wenig entwickelt gewesen.4 Die Vorstellung, dass die Thüringer nach der Beseitigung ihres Königtums ihre Identität verloren hätten und stattdessen zu vollständig assimilierten Franken geworden seien, prägt das Bild populärer Geschichtsvermittlung bis heute. Dabei ist Thüringen nach seiner Eingliederung in das Frankenreich nicht einfach von der Bildfläche verschwunden, sondern hat als fränkische Provinz zumindest dem Namen nach überdauert. Ob und inwieweit sich die als Thuringi bezeichneten Bewohner dieser Provinz darüber hinaus auch als Angehörige Ders./Helmut Reimitz (Hg.), Strategies of distinction. The construction of ethnic communities 300–800 (The transformation of the Roman world, 2), Leiden/Boston/Köln 1998, S. 17–69. 3 Walter Schlesinger, Das Frühmittelalter, in: Hans Patze/Walter Schlesinger, Geschichte Thüringens, Bd. I: Grundlagen und frühes Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen, 48/I), Köln/Graz 1968, S. 317–380, hier S. 368; Hans Patze, Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen, 1. Teil (Mitteldeutsche Forschungen, 22), Köln/Graz 1962, S. 11. 4 František Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferungen im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Köln/Wien 1975, S. 114; Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 (Propyläen Weltgeschichte Deutschlands, 1), Berlin 1984, S. 97.

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Abb. 1: Thüringer Königreich

einer gens im Sinne eines Volkes verstanden haben und ein entsprechendes Zusammengehörigkeitsgefühl besaßen, blieb dabei lange Zeit fraglich. Erst durch die grundlegenden Forschungen von Matthias Werner zu den Anfängen eines Landesbewusstseins in Thüringen wurde deutlich, dass es auch hier ein fortwährendes „Identitäts- und Wir-Bewußtsein seiner Bewohner“ gab, das für den Zusammenhalt der Thuringia und des thüringischen Volkes (populus

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Thuringorum) im frühen und hohen Mittelalter eine „nicht zu unterschätzende Bedeutung besaß“.5 Wie entwickelte sich dieses Eigenbewusstsein nach der Unterwerfung Thüringens durch die Franken und welche Faktoren waren hierfür bestimmend? Die Fragen sind bislang erst ansatzweise untersucht worden, weshalb im Folgenden nur einige wenige Aspekte herausgegriffen werden können, die für die Integration Thüringens in das Frankenreich eine wichtige Rolle spielten. Sie sollen deutlich machen, inwieweit die „Frankisierung“ Thüringens Einfluss auf die Identitätsbildung regionaler Bevölkerungsgruppen hatte.

1. Die Thüringer und die Franken nach dem Untergang des Thüringerreiches 531/34

Seit wann gibt es überhaupt typisch Thüringisches und was kann im Frühmittelalter als solches bezeichnet werden? Die Frage ist zuletzt von Seiten der Archäologie gestellt worden, die in kritischer Auseinandersetzung mit älteren Forschungsprämissen ihrer eigenen Zunft seit einiger Zeit dazu tendiert, herkömmliche Deutungsmuster grundsätzlich in Frage zu stellen.6 Hatte die Forschung noch vor wenigen Jahrzehnten kein Problem damit, Bodenfunde einer ethnischen Deutung zu unterziehen und bestimmte Sachformen aus dem mitteldeutschen Raum als typisch thüringisch einzuordnen, so spricht man heute wesentlich zurückhaltender von einer „archäologischen Kultur“, die für sich genommen noch keine Rückschlüsse auf die Zugehörigkeit von Personen und Gruppen zu einer wie auch immer definierten gens der Thüringer zulässt. Auch für Historiker bedeutet ein solcher Perspektivenwechsel zum einen eine gewisse Verschiebung des Koordinatensystems, insofern überkommene Vorstellungen, etwa von der Ausdehnung des Thüringer Königreiches und den 5 Matthias Werner, Die Anfänge eines Landesbewußtseins in Thüringen, in: Michael Gockel (Hg.), Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, Marburg 1992, S. 81–137, Zitat S. 107; Ders., „Ich bin ein Durenc“. Vom Umgang mit der eigenen Geschichte im mittelalterlichen Thüringen, in: Ders. (Hg.), Identität und Geschichte (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 1), Weimar 1997, S. 79–104. 6 Jan Bemmann, Mitteldeutschland im 5. und 6. Jahrhundert. Was ist und ab wann gibt es archäologisch betrachtet typisch Thüringisches? Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Helmut Castritius/Dieter Geuenich/Matthias Werner (Hg.), Die Frühzeit der Thüringer. Archäologie, Sprache, Geschichte (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 63), Berlin/New York 2009, S. 63–81.

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frühen Siedlungsplätzen der Thüringer, noch einmal kritisch auf den Prüfstand zu stellen sind. Zum anderen ergeben sich daraus aber auch neue Perspektiven hinsichtlich der Frage nach der kulturellen Identität von Bewohnern eines bestimmten Raumes jenseits aller ethnischen Deutung, die den Blick für Integrations- und Akkulturationsprozesse im Sinne einer modernen Ethnogeneseforschung freigeben. So ist heute differenzierter danach zu fragen, inwieweit Veränderungen der archäologisch überlieferten Sachkultur etwa durch Umbrüche auf politischer Ebene bedingt oder Ausdruck eines schrittweisen Zusammenwachsens von Bevölkerungsgruppen aus ursprünglich unterschiedlichen Kulturkreisen gewesen sind. Die Beschreibung ethnogenetischer Prozesse bleibt freilich zu einem erheblichen Teil an die Schriftquellen gebunden und kann insofern nur in Verbindung mit der Geschichtswissenschaft erfolgen, die ihre Quellen auch mit Blick auf die sich wandelnde archäologische Befundsituation immer wieder neu befragen muss. Wenn beispielsweise gemeinsame Bestattungsbräuche Ausdruck gleicher Glaubensvorstellungen sind und damit ein wichtiges Merkmal der Identität von Großgruppen darstellen, dann geben die Bodenfunde gewissermaßen den Rahmen vor, in dem sich historische Identitätsbildungsprozesse abzeichnen. So hat Jan Bemmann vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass sich die archäologische Kultur im thüringischen Raum in den Jahrzehnten nach der verheerenden Niederlage der Thüringer gegenüber den Franken 531 im Gegensatz zu anderen von den Merowingern eroberten Gebieten zunächst nicht veränderte. Der Verlust der politischen Eigenständigkeit schlägt sich somit also nicht im archäologischen Befund nieder. Eine Überprägung der einheimischen Sachkultur etwa durch die Neuanlage von Friedhöfen, auf denen nur noch fränkische Formen vertreten sind, sei im thüringischen Raum nicht vor dem letzten Drittel des 6. Jahrhunderts zu beobachten und gehe zeitlich einher mit der Befestigung von Höhenrücken und dem beginnenden Burgenbau.7 Damit aber werden ältere Theorien grundsätzlich in Frage gestellt, die mit Blick auf die Berichte fränkischer und sächsischer Quellen das Bild vermitteln, die Franken hätten bald nach 531 zielstrebig damit begonnen, die neu eroberten Gebiete in der Thuringia mit Hilfe einer zielgerichteten Siedlungspolitik und durch die Errichtung von Militärstützpunkten in das Frankenreich zu integrieren. Müssen wir für das 6. Jahrhundert also von einer fortdauernden kulturellen Identität der Thüringer ausgehen, dann stellt sich die Frage, ob dieser kul7 Ebd., S. 75 f.

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turellen Eigenständigkeit nicht auch eine gewisse politische Unabhängigkeit entsprach, womit die Bedeutung der Niederlage von 531 zu relativieren wäre. Auch die historische Forschung hat das gängige Bild von der Unterwerfung der Thüringer durch die Franken in den letzten Jahren einer kritischen Prüfung unterzogen und gezeigt, dass die Eingliederung Thüringens in das Frankenreich keineswegs so zielstrebig und umfassend erfolgte, wie lange Zeit angenommen wurde. Zwar verlor das regnum Toringorum durch die Eliminierung der Königssippe nach 531 seine politische Spitze und damit zugleich sein integrierendes und traditionsbildendes Zentrum, doch zeigen verschiedene Nachrichten bei Gregor von Tours und Venantius Fortunatus, dass es in Thüringen im 6. Jahrhundert weiterhin eine einflussreiche Elite gab, die sich der fränkischen Herrschaft wiederholt erfolgreich entgegenstellte.8 Wie wenig gesichert die fränkische Position in den eroberten Gebieten östlich des Rheins in den ersten Jahrzehnten war, zeigt das Bündnis der Thüringer mit den Sachsen, die sich nach dem Tod des merowingischen Königs Theudowald († 555) gegen die Franken erhoben und dessen Großonkel Chlothar I. († 561) die Anerkennung als Nachfolger in den östlichen Teilen des Reiches verweigerten. Chlothar hatte sich bereits 531 an der Seite seines Halbbruders Theuderich I. († 533) an der Eroberung des Thüringerreiches beteiligt und später die thüringische Königstochter Radegunde († 587) zur Ehe gezwungen. Konnte er sich zu jener Zeit nur einen Anteil an der Beute sichern, so erlangte er nun die Herrschaft über das gesamte Ostreich, die er jedoch in aufreibenden Kämpfen erst wieder neu zur Geltung bringen musste. Auch sein Sohn Sigibert I. († 575), der 561 die Nachfolge Chlothars I. in den fränkischen Gebieten östlich des Rheins antrat, wurde in Kämpfe mit aufständischen Thüringern und Sachsen verwickelt. Die fortwährende Eigenständigkeit thüringischer Großer zeigte sich erneut während der Auseinandersetzungen zwischen den Söhnen und Enkeln Chlothars I. um die Aufteilung seines Erbes, die das Frankenreich in eine lang andauernde tiefe Krise stürzten. Wiederholt kämpften in der Zeit der merowingischen Bruderkriege thüringische, sächsische und andere ostrheinische Kriegerverbände im Gefolge der rivalisierenden Könige, wobei sie jeweils eigenen Heerführern folgten, deren Interessen sich auch gegen den Willen des Königs richten konnten. Dies musste nicht nur Sigibert I. erfahren, als er 574 nach dem unvorher8 Hierzu und zum Folgenden Mathias Kälble, Ethnogenese und Herzogtum. Thüringen im Frankenreich (6.–9. Jahrhundert), in: Castritius/Geuenich/Werner, Die Frühzeit der Thüringer (wie Anm. 6), S. 329–413, hier S. 345–352.

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gesehenen Friedensschluss mit seinem Bruder Chilperich I. († 584) tatenlos zusehen musste, wie die von ihm angeworbenen ostrheinischen Hilfstruppen die Gegend um Paris plünderten, um sich für die entgangene Kriegsbeute schadlos zu halten. Auch Sigiberts Enkel, der ostfränkische König Theudebert II. († 612), konnte sich nicht auf die von ihm angeworbenen Truppenkontingente verlassen. Als er im Streit mit seinem Bruder Theuderich II. († 613) um das väterliche Erbe mit Heeresmacht in dessen Gebiet eindrang, fielen die Thüringer, Sachsen und andere gentes von ihm ab. Bei Zülpich wurde er geschlagen und auf der Flucht über den Rhein getötet. Theuderich, nun zum Alleinherrscher über das Ostreich geworden, starb jedoch schon im darauffolgenden Jahr, woraufhin sein noch minderjähriger Sohn Sigibert II. († 613) von dessen Urgroßmutter Brunichild († 613) gegen den Willen ihres Neffen Chlothar II. († 629/30) auf den Thron gehoben wurde. Brunichild schickte bald schon eine Gesandtschaft in die Thoringia, um die gentes jenseits des Rheins für sich zu gewinnen. Deren Anführer konspirierten jedoch heimlich mit ihrem Widersacher Chlothar II. und wandten sich im entscheidenden Moment gegen die Königin, die daraufhin gefangengenommen und grausam hingerichtet wurde.9 Wie diese wenigen Beispiele zeigen, war das merowingische Königtum im 6. und frühen 7. Jahrhundert nur bedingt in der Lage, die seiner Herrschaft unterworfenen Völkerschaften jenseits des Rheins zu kontrollieren. Diese folgten vielmehr eigenen Anführern, die sich eine weitgehend unabhängige Stellung bewahrten. Solche Kriegerverbände waren für die Identitätsbildung politisch verfasster Gruppen im frühen Mittelalter von großer Bedeutung und scheinen auch den Thüringern, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zum Reich der Franken, eine weitgehende Eigenständigkeit gesichert zu haben. Wie diese Kriegerverbände im Einzelnen organisiert waren und in welchem Verhältnis sie zueinander standen, ist unklar. Allein die Tatsache, dass die den Thüringern 531 auferlegten Tribute in Form einer jährlichen Lieferung von 500 Schweinen an den fränkischen Fiskus bis zum Beginn des 11. Jahrhunderts regelmäßig geleistet wurden, setzt jedoch voraus, dass es bereits in frühmittelalterlicher Zeit gewisse Organisationsformen gab, die ein gemeinsames politisches 9 Ders., Herzöge und Rebellen. Thüringen in der Merowingerzeit, in: Sebastian Brather/ Claudia Merthen/Tobias Springer (Hg.), Warlords oder Amtsträger? Herausragende Bestattungen der späten Merowingerzeit; Beiträge der Tagung im Germanischen Nationalmuseum in Zusammenarbeit mit dem Institut für Archäologische Wissenschaften (IAW) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Abt. Frühgeschichtliche Archäologie und Archäologie des Mittelalters, 21.–23.10.2013 (Wissenschaftliche Beibände zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, 41), Nürnberg 2018, S. 29–41, hier S. 30 f.

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Handeln der Thüringer möglich machten. Dass die thüringischen Großen im Jahr 1002 als Gegenleistung für die Anerkennung König Heinrichs II. (1002– 1024) im Namen des gesamten Volkes (populus Thuringiorum) den Verzicht des Königs auf den jährlichen Zins erwirkten, zeigt darüber hinaus, wie tief sich die wiederholte Abgabe und die damit stets aufs Neue wachgerufene Erinnerung an die Schmach von 531 in das kollektive Gedächtnis eingegraben hatte.10 Stärker in das Blickfeld der merowingischen Könige rückte Thüringen erst in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts, als awarische Reiternomaden die Ostgrenze des Frankenreiches bedrohten.11 Mehrfach ist in diesem Zusammenhang von Kämpfen an der Elbe die Rede, aus denen die Franken zunächst als Sieger hervorgingen. Der Streit zwischen den Söhnen Chlothars I. um dessen Erbe und die seit 567 offen ausgetragenen Konflikte innerhalb des merowingischen Königshauses um die Herrschaft im Frankenreich verhinderten jedoch eine effektive Grenzsicherung, sodass der Abzug der Awaren 596 schließlich mit Tributleistungen erkauft werden musste. Auch dies deutet darauf hin, dass von einer intensiven herrschaftlichen Durchdringung Thüringens durch die Franken mehr als sechzig Jahre nach der Eroberung des Thüringerreiches noch immer keine Rede sein konnte. Wie die Schriftquellen des 5. und frühen 6. Jahrhunderts erkennen lassen, reichte der von den Thüringer Königen einst beherrschte Raum weit über das heutige Thüringen hinaus. Dabei erstreckte sich ihr Königreich auch über die Siedlungsgebiete anderer Völker, die den Thüringern unterworfen waren. Auch nach dem Sturz der Königssippe 531/34 blieben weite Teile dieses untergegangenen Großreiches der fränkischen Herrschaft zunächst entzogen oder gingen im Verlauf des 6. und 7. Jahrhunderts wieder verloren. So etablierte sich im Westen ein unabhängiges Königreich der Warnen, das 594 von König Childebert II. († 596), dem Sohn Sigiberts I. und der Königin Brunichilde, unterworfen wurde. Im Norden drangen sächsische und im Osten slawische Völkerschaften auf ehemals thüringische Gebiete vor. Die dadurch in Gang gesetzten Akkulturationsprozesse führten schließlich zu einer schrittweisen Verkleinerung der Thuringia auf das Gebiet zwischen Harz, Thüringer Wald, Werra und Saale, die erst seit dem 8. Jahrhundert regelmäßig als die natürlichen Grenzen Thüringens benannt werden (Abb. 2).12 10 Ausführlich hierzu Werner, Landesbewußtsein (wie Anm. 5), S. 94–97. 11 Walter Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567–822 n. Chr., München 22002. 12 Ausführlich hierzu mit sämtlichen Nachweisen Kälble, Ethnogenese (wie Anm. 8), S. 336– 345 u. 371–378.

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Abb. 2: Reich der Franken

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2. Unter einer Herrschaft vereint – der dux Radulf als „König“ in Thüringen

Eine besondere Bedeutung für die frühmittelalterliche Ethnogenese der Thüringer kommt dem von König Dagobert I. 631/32 eingerichteten thüringischen Herzogtum zu, das bis zum Sturz der Herzöge Theotbald und Heden bald nach 717 Bestand hatte und für die Integration Thüringens in das Frankenreich eine überaus wichtige Rolle spielte. Anlass für die Einsetzung fränkischer Amtsträger als duces in Thüringen und zeitgleich wohl auch in Mainfranken war die Formierung eines slawischen Großreiches unter der Führung des Franken Samo († 658/59), das bald zu einer ernsthaften Bedrohung für das östliche Frankenreich wurde und eine grundlegende herrschaftliche Neuordnung der Gebiete östlich des Rheins nach sich zog. In Thüringen ernannte der König deshalb einen Mann namens Radulf zum Herzog (dux) und gab ihm den Auftrag, die Reichsgrenze im Osten zu sichern. Tatsächlich gelang es Radulf, dem weitreichende Verbindungen zu ostfränkischen Magnaten und an den Königshof nachgesagt wurden, die Wenden in mehreren Kämpfen zurückzudrängen und das östliche Frankenreich zu befrieden, wodurch seine Position in Thüringen deutlich gefestigt wurde. Gestärkt durch seine Erfolge, so berichtet die zeitnahe Chronik eines unbekannten Verfassers, der in der Forschung unter dem Namen Fredegar firmiert, sei der dux Radulf schließlich überheblich geworden und habe sich nach dem Tod König Dagoberts I. († 639) gegen die fränkische Reichsregierung aufgelehnt und sich nach einem spektakulären Sieg über ein Heer des jungen Königs Sigibert III. im Jahr 641 an der Unstrut selbst zum König (rex) in Thüringen aufgeschwungen (Abb. 3). Die merowingischen Könige habe er von da an nur noch dem Wort nach (in verbis) anerkannt, sich aber tatsächlich deren Herrschaftsanspruch mit allen Kräften widersetzt.13 Für die Frage nach der Identitätsbildung frühmittelalterlicher gentes ist der Bericht Fredegars höchst aufschlussreich. Er zeigt einmal mehr, wie wichtig herausragende Leistungen einzelner Heerführer und militärischer Erfolg für die dauerhafte Konstituierung politischer Großgruppen in einer Zeit waren, in der persönliche Bindungen und Abhängigkeitsverhältnisse die zentrale Rolle spielten. Nicht das fernab in Metz residierende merowingische Königtum, sondern 13 Zweisprachige Ausgabe (lat./dt.) in: Herwig Wolfram/Andreas Kusternig/Herbert Haupt (Hg.), Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 4a), Darmstadt 1994, S. 3–271, hier S. 248 f. (IV, 77) u. S. 260–263 (IV, 87).

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Abb. 3: Fredegar-Chronik, fol. 166v

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der vor Ort mächtige Radulf war derjenige, der die thüringischen bzw. ostfränkischen Großen im Konfliktfall hinter sich zu bringen und so eine eigene Herrschaft zu errichten vermochte. Die Ereignisse um den dux Radulf lassen deutliche Parallelen zur Bildung des slawischen Großreiches durch den Franken Samo nur wenige Jahre früher erkennen, dessen Beispiel auch für die Verhältnisse in Thüringen erhellend ist.14 Samo war ursprünglich Kaufmann und ist als solcher um 623/24 aus dem Gebiet von Soignies im heutigen Belgien zu den Wenden östlich der Elbe gezogen, um Handel zu treiben. Dort hatte er sich einem Aufstand gegen die Awaren angeschlossen und die Wenden durch seine Tapferkeit zum Sieg geführt, woraufhin diese ihn zum König (rex) erhoben. Als solcher regierte er 35 Jahre erfolgreich, vertrieb die Awaren, gewann die Sorben und festigte seine mittlerweile gewonnene Freundschaft mit dem Thüringer dux Radulf. Völlig ungeachtet seiner fränkischen Herkunft konnte Samo also König der Wenden werden. Er legte seine fränkischen Sitten ab und verband sich mit nicht weniger als zwölf slawischen Frauen ex genere Winodorum, mit denen er zweiundzwanzig Söhne und zwölf Töchter zeugte. Auch äußerlich zeigte er sich fortan als Slawe und pflegte slawische Traditionen. Als der Frankenkönig Dagobert I. – so wird berichtet – um 631 seinen Gesandten Sycharius zu Samo schickte, um gegen den Überfall auf fränkische Kaufleute in dessen Reich zu protestieren, wurde der Franke zunächst abgewiesen und konnte sich erst dann Zutritt zum Herrscher verschaffen, als er sich in slawischer Kleidung präsentierte.15 Die Nachricht zeigt, wie wichtig Elemente der Sachkultur als Ausdruck der Identität von Gruppen sein konnten. Auch von Karl dem Großen († 814) wird berichtet, er habe sich stets vestitu patrio nach fränkischer Sitte gekleidet, während ihm fremdländische Kleidung (peregrina indumenta) verhasst gewesen sei.16 Im Falle des Thüringerherzogs Radulf ist von ähnlichen Prozessen der Gruppenbildung auszugehen, wobei die in der Forschung vielfach diskutierte 14 Ebd., S. 206–211 (IV, 48), S. 234–239 (IV, 68), S. 244–247 (IV, 74 f.); vgl. hierzu Wolfgang Hermann Fritze, Untersuchungen zur frühslawischen und frühfränkischen Geschichte bis ins 7. Jahrhundert [Diss. Marburg 1952] (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, 581), hg. von Dietrich Kurze/Winfried Schich/ Reinhard Schneider, Frankfurt/Main 1994, S. 86–108; Pohl, Die Awaren (wie Anm. 11), S. 256–261. 15 Wolfram/Kusternig/Haupt, Quellen (wie Anm. 13), S. 234−239 (IV, 68). 16 Einhard, Vita Karoli Magni. Das Leben Karls des Großen, lat./dt. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Evelyn Scherabon Firchow [1968], Stuttgart 1995, S. 44–47 (c. 23).

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Frage, ob es sich bei Radulf um einen Franken oder nicht vielmehr um einen genuinen Thüringer gehandelt hat, mit Blick auf das Beispiel Samos obsolet erscheint. Entscheidend war, dass es dem Thüringerherzog aufgrund seiner Erfolge gelungen war, die thüringischen Großen unter seiner Herrschaft zu vereinen und so ähnlich wie Samo ein eigenes „Reich“ zu gründen, über dessen Dauer wir jedoch nur spekulieren können.

3. Identität durch Abgrenzung – das „tyrannische“ Herzogtum Hedens und die angelsächsische Mission

Hinweise darauf, dass die durch Radulf begründete Herrschaft und die damit erneut gewonnene Unabhängigkeit Thüringens längere Zeit überdauert hatte und schließlich auch traditionsbildend geworden war, finden wir erst in der rund einhundert Jahre nach den Ereignissen von 641 verfassten Bonifatiusvita des angelsächsischen Priesters Willibald.17 Im Zusammenhang mit der Ankunft des Bonifatius in Thüringen 719 berichtet Willibald auch über den kurz zuvor erfolgten Sturz der mainfränkischen Herzöge Theotbald und Heden, die ihre Herrschaft vor 704 nach Thüringen ausgedehnt hatten, wie eine in Würzburg ausgestellte Urkunde Hedens für den angelsächsischen Missionar Willibrord zeigt (Abb. 4).18 Die Anfänge von Hedens Regierungsgewalt in Thüringen liegen zwar weitestgehend im Dunkeln, doch spricht einiges dafür, dass seine Position nicht allzu gefestigt war. Als Bonifatius 719 in Thüringen eintraf, war das Herzogtum Hedens bereits erloschen, denn der Missionar wandte sich nicht mehr wie noch sein Vorgänger Willibrord an den Herzog als oberste weltliche Instanz. Seine Ansprechpartner waren vielmehr hochrangige thüringische Magnaten, die ihm als die neuen Repräsentanten des Volkes (seniores plebis populique principes) entgegentraten. Diese gingen von Anfang an eine enge Verbindung mit dem angelsächsischen Kirchenmann ein und unterstützten nachdrücklich dessen Bemühen um den Aufbau einer Kirchenorganisation. Einige dieser Männer 17 Zweisprachige Ausgabe (lat./dt.) in: Reinhold Rau (Hg.), Briefe des Bonifatius. Willibalds Leben des Bonifatius. Nebst einigen zeitgenössischen Dokumenten (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 4b), Darmstadt 2011, S. 450–525. 18 Siehe hierzu mit zweisprachiger Wiedergabe der Urkunde Matthias Werner (Hg.), „in loco nuncupante Arnestati“. Die Ersterwähnung Arnstadts im Jahre 704, Frankfurt/Main 2004. Zum Folgenden siehe auch Kälble, Ethnogenese (wie Anm. 8), S. 355–364.

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Abb. 4 (Doppelseite): Urkunde Herzog Hedens von 704, Abschrift im „Liber Aureus“ des Klosters Echternach (12. Jh.)

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Abb. 5: Willibald, Vita Bonifatii; Freising, 9. Jh., fol. 27r

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finden sich 722 als Adressaten eines Briefes Papst Gregors II., aus dem hervorgeht, dass sie wegen ihres christlichen Glaubens in einer noch weitgehend pa­ ganen Gesellschaft verfolgt und schweren Anfeindungen ausgesetzt waren. Wie Helge Wittmann gezeigt hat, handelte es sich bei diesem Kreis um genuin thüringische Adelsgruppen, die später in engen Kontakt zu dem Bonifatiusschüler und nachmaligen Mainzer Erzbischof Lul traten, der zugleich der Auftraggeber für Willibalds Bonifatiusvita gewesen ist (Abb. 5).19 Aus der Perspektive dieser Magnaten übten die mainfränkischen Herzöge eine tyrannische Fremdherrschaft aus, die gezielt gegen die indigene Oberschicht des Landes gerichtet war. Zahlreiche thüringische Grafen verloren dabei ihr Leben, während sich große Teile der Bevölkerung den damals noch heidnischen Sachsen unterwarfen. Wie der offenkundig tendenziösen Darstellung Willibalds zu entnehmen ist, besaßen die mainfränkischen Herzöge unter den politisch führenden Kräften Thüringens keine ausreichende Legitimation, was zu erbitterten Machtkämpfen und schließlich zum Sturz Hedens geführt hatte. Seine Gegner sahen sich hierbei offensichtlich in der Tradition seiner Vorgänger, die von Willibald als gottesfürchtige Herzöge (religiosi duces) bzw. Könige (reges) beschrieben wurden und die gleichsam zu Identifikationsfiguren im Kampf gegen das mainfränkische Herzogtum geworden waren. Mit ihrem Ende, so wird berichtet, sei auch der Eifer für die christliche Religion im Land erloschen und Irrlehrer hätten sich ausgebreitet, die das Volk verführt und vom rechten Glauben abgebracht hätten. Der Vorwurf zielte in erster Linie auf die von Willibrord ins Land gerufenen angelsächsischen Missionare, die von den Herzögen Theotbald und Heden unterstützt worden waren, aber nicht im Sinne des Bonifatiuskreises missioniert hatten. In den politischen Konflikt um die Vorherrschaft in Thüringen mischte sich damit auch der theologische Streit um die Frage nach der rechten Lehre und wie die Bevölkerung Thüringens für den neuen christlichen Glauben gewonnen werden sollte.20 Hier wird 19 Helge Wittmann, Zur Frühgeschichte der Grafen von Käfernburg-Schwarzburg, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 51 (1997), S. 9–59; Ders., Zur Rolle des Adels bei der Stiftung von Kirchen und Klöstern in Thüringen (bis zum Ende der Regierungszeit Karls des Großen), in: Enno Bünz/Stefan Tebruck/Helmut G. Walther (Hg.), Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 24), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 107–154, hier S. 110–128. 20 Matthias Werner, Die Ersterwähnung Arnstadts 704 im „Liber aureus“ des Klosters Echternach. Arnstadt, Herzog Heden und die Anfänge angelsächsischen Wirkens in Thüringen, in: Ders., „in loco nuncupante Arnestati“ (wie Anm. 18), S. 9–23, hier S. 11–19.

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zugleich deutlich, welche Bedeutung gerade die Religion für die Identität und den Zusammenhalt der politisch führenden Kräfte und ihrer Klientel hatte. So sahen sich die Gegner Hedens und späteren Machthaber in Thüringen nicht nur geeint durch die Feindschaft gegenüber dem als illegitim und fremd wahrgenommenen Herzogtum und die Abgrenzung zu den benachbarten Sachsen, sondern es verband sie darüber hinaus auch eine gemeinsame Form des Glaubens, die insbesondere durch die Förderung des Bonifatius zum Ausdruck kam. Nicht zuletzt spielte die kollektive Rückbesinnung auf eine Zeit, in der Thüringen und die Thüringer noch von eigenen Herrschern regiert und damit frei von jedweder Fremdherrschaft gewesen waren, eine wesentliche Rolle. Es war der Glaube einer politisch führenden Gruppe, die für sich in Anspruch nahm, die Interessen des thüringischen Volkes zu vertreten, wodurch sie jedoch in Konflikt mit den in Würzburg residierenden Herzögen und infolgedessen in eine schwere existenzielle Krise geraten waren. Der Hinweis in der Bonifatiusvita auf die Zeit der thüringischen Könige bzw. Herzöge dürfte dabei weniger auf das altthüringische Königtum der ausgehenden Völkerwanderungszeit als vielmehr auf das Herzogtum Radulfs anspielen, dessen Sieg über die Franken 641 eine längere Phase der politischen Unabhängigkeit eingeleitet hatte. Es war der erste bedeutende Sieg der Thüringer über die Franken nach der schmachvollen Niederlage von 531, der allein deshalb eine besondere identitätsstärkende Wirkung entfaltet haben dürfte.21 Dasselbe gilt für die beginnende Christianisierung Thüringens, deren Anfänge ebenfalls in das 7. Jahrhundert zurückreichen. Die wenigen Hinweise auf eine vorbonifatianische Mission verweisen auf das von König Dagobert I. geschaffene Herzogtum und die mit ihm verbundene, fränkisch beeinflusste einheimische Oberschicht. In ihren Kreisen sind die wesentlichen Träger des neuen Glaubens zu vermuten, der sich nur langsam in der Bevölkerung auszubreiten begann. Die Hinwendung zum Christentum in einer noch weitgehend heidnischen Umwelt, wie sie uns aus den Quellen der Merowingerzeit und den Briefen des Bonifatius auch für Thüringen entgegentritt, bedeutete für die Betroffenen zweifellos einen mutigen Schritt und trug damit entscheidend zur Gruppenbildung bei. Wie wenig gefestigt dieses Christentum in weiten Kreisen der thüringischen Bevölkerung noch im frühen 8. Jahrhundert gewesen ist, unterstreicht nicht zuletzt Willibalds Hinweis auf die Unterwerfung von Teilen der Thüringer durch die Sachsen während der Herrschaft Hedens, die bei den betroffenen Bevölkerungs21 Kälble, Herzöge (wie Anm. 9), S. 33–35.

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kreisen mit einer Rückkehr zu heidnischen Glaubensvorstellungen verbunden war. Der Bonifatiusbiograph spielte hier offenkundig auf die tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüche im Norden Thüringens an der Wende vom 7. zum 8. Jahrhundert an, über die wir auch durch andere Quellen informiert sind.22 Hintergrund waren die nach dem Tod Pippins II. 714 ausgebrochenen Konflikte um die Vorherrschaft im Frankenreich, aus denen Pippins Sohn Karl Martell († 741) schließlich als alleiniger Sieger hervorging. Karl hatte nicht nur beim Sturz Hedens allem Anschein nach eine gewichtige Rolle gespielt, sondern auch gegen die Sachsen mehrere Feldzüge geführt, nachdem diese 715 in den fränkischen Bürgerkrieg eingegriffen und Teile Nordhessens verwüstet hatten. In dem Gebiet nördlich und östlich des Harzes, das aufgrund der dort zahlreich vorhandenen Ortsnamen mit dem Suffix „-leben“ und dem Landschaftsnamen „Nordthüringen“ als ursprünglich thüringisch angesehen wird, lässt sich an der Wende vom 7. zum 8. Jahrhundert ebenfalls sächsischer Einfluss beobachten. In diesem Gebiet waren einst die Nordschwaben ansässig, die bereits unter Theudebert I. († 547) fränkischer Herrschaft unterstanden und deren Siedlungsgebiet nördlich der Unstrut sich im Landschaftsnamen pagus Suevia, Schwabengau, widerspiegelt.

Abb. 6: Frauenberg bei Sondershausen

22 Ausführlich hierzu und zum Folgenden Ders., Ethnogenese (wie Anm. 8), S. 365–371; Ders., Herzöge (wie Anm. 9), S. 33–37.

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Seit der Wende vom 6. zum 7. Jahrhundert sind in diesem Raum anhand der Bodenfunde fränkische Kultureinflüsse nachzuweisen, was darauf schließen lässt, dass dieses Gebiet einst zum Herrschaftsbereich des thüringischen dux Radulf gehörte. Erst seit dem ausgehenden 7. oder frühen 8. Jahrhundert finden sich entlang einer Linie von Halberstadt bis zur Saale Gräberfelder, die eine Hinwendung der hier lebenden Bevölkerung zum sächsischen Kulturkreis erkennen lassen. Fränkische Quellen bezeichnen das Gebiet zwischen Bode und Unstrut seit dem 9. Jahrhundert dann als „sächsisch“ und die Nordschwaben, die noch in spätkarolingischer Zeit als gentile Einheit von den Thüringern und den Sachsen unterschieden wurden, ausdrücklich als Saxones. Das Vordringen der Sachsen nach Süden spiegelt sich schließlich auch in einer Reihe ständig besiedelter Befestigungen auf Höhenrücken wider, die im ausgehenden 7. Jahrhundert zur Grenzsicherung im nördlichen Hessen angelegt wurden. Entsprechendes findet sich auch in Thüringen, wie die jüngst auf dem Frauenberg bei Sondershausen freigelegte Befestigungsanlage aus spätmerowingischer Zeit oder der zum Jahr 704 auch urkundlich bezeugte Stützpunkt herzoglicher Herrschaft bei Großmonra beweist (Abb. 6).23

4. Thüringen unter den Karolingern – Verfestigung räumlicher Strukturen und fortwährende gentile Traditionen

Nach der Beseitigung des merowingerzeitlichen Herzogtums wurde Thüringen in die karolingische Herrschaftsorganisation, insbesondere in die entstehende Grafschaftsverfassung eingebunden und zum Ausgangspunkt umfangreicher Grenzsicherungsmaßnahmen gegen die Sachsen und Slawen, wodurch die in merowingischer Zeit geschaffenen räumlichen Strukturen weiter gefestigt wurden. Spätestens in der Zeit Karls des Großen entwickelte sich entlang der Unstrut ein dichtes Verteidigungssystem, dessen Verlauf sich in den frühen Besitzerwerbungen des Klosters Hersfeld abzeichnet (Abb. 7). Entlang von Elbe und Saale errichteten die Karolinger seit der Wende zum 9. Jahrhundert ebenfalls eine Reihe von Burgen, die den fränkisch-slawischen Grenzraum kontrollierten. Ab 839 erscheint Thüringen dann als ducatus, dem einzelne Marken zugeordnet waren. Aus ihnen ging schließlich der seit 849 erwähnte limes Sorabicus 23 Zu den Grabungen in Sondershausen siehe Diethard Walter, Zwei reich ausgestattete Separatfriedhöfe des 7./8. Jahrhunderts aus dem Umfeld von Sondershausen, Kyffhäuserkreis, in: Brather/Merthen/Springer, Warlords oder Amtsträger (wie Anm. 9), S. 108–121.

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Abb. 7: Besitzungen des Klosters Hersfeld in Thüringen

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als breit angelegte Grenzzone entlang der Saale hervor, mit deren Verwaltung königliche Amtsträger im Range eines Herzogs (dux) oder Markgrafen (marchio) beauftragt waren. Die Thuringia wurde damit zu einem „klar definierten rechtsrheinischen Reichsteil“ (Werner), der als solcher auch bei den verschiedenen Reichsteilungen der späten Karolingerzeit genannt wurde. Die Thüringer stellten nun regelmäßig eigene Heereskontingente und traten auf Reichsversammlungen als eigenständig handelnde Gruppe in Erscheinung. Dies stärkte die thüringischen Großen in ihrem Bewusstsein, als Vertreter einer gens, natio oder des populus Thuringorum zu handeln.24 Entscheidend für den Zusammenhalt der Thüringer und den Erhalt der politischen Einheit Thüringens aber war die genossenschaftlich-gentile Organisation, die auf einen breiten Konsens und die gleichberechtigte Mitwirkung Vieler ausgerichtet war. So war die Erhebung des mächtigen Markgrafen Ekkehard I. († 1002) zum Herzog „über ganz Thüringen“ (super omnem Thuringiam) im Jahr 1002 nur durch allgemeine Wahl des gesamten Volkes (communi totius populi electione) möglich, zumal der Markgraf als Inhaber der Marken Merseburg, Zeitz und Meißen seinen herrschaftlichen Schwerpunkt außerhalb Thüringens hatte. Als Thakulf († 873), der dux der Sorbenmark, 849 auf eigene Faust mit den Böhmen einen Friedensvertrag aushandelte, scheiterte dieser bezeichnenderweise am Widerstand einiger thüringischer Großer (quibusdam ex primatibus), die befürchteten, Thakulf wolle sich über sie erheben. Schon die Herzöge Theotbald und Heden waren offenkundig daran gescheitert, dass sie gegen und nicht im Konsens mit der einheimischen Oberschicht regierten. So stieß jeder Versuch, die Eigenständigkeit der thüringischen Großen zu beschneiden, auch in späteren Generationen immer wieder auf entschiedenen Widerstand. Bekanntes Beispiel hierfür ist die Verschwörung thüringischer Adliger unter Hardrad gegen Karl den Großen 785/86, die weit über Thüringen hinausreichende Kreise zog. Auslöser war ein Streit um eine nach fränkischem Recht mit einem Franken verlobte Thüringerin, die gegen den Willen ihres Vaters auf Geheiß des Königs verheiratet werden sollte. Dahinter stand jedoch weit mehr, nämlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Königtum als übergeordneter Reichsgewalt und der fortdauernden Eigenständigkeit regionaler Kräfte, die sich im Falle der Hardrad-Verschwörer auf ihre Freiheit und ihre durch eigene Rechtsgewohnheiten bestimmten gentilen Traditionen und darauf beriefen, dem König keinen Treueid geleistet zu haben. Mit der Auf24 Werner, Landesbewusstsein (wie Anm. 5), S. 86 f.; zum Folgenden auch Kälble, Ethnogenese (wie Anm. 8), S. 379–391.

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zeichnung der Lex Thuringorum anerkannte Karl der Große 802/03 schließlich die fortwährende Gültigkeit dieser Rechte und trug damit wohl auch zu einer Stärkung des thüringischen Eigenbewusstseins bei. Wie prägend die genossenschaftlich-gentile Organisation in Thüringen über die Zeit des Frühmittelalters hinaus war, zeigt sich noch einmal besonders deutlich während des Thüringer Zehntstreits und der Sachsenkriege König Heinrichs IV. († 1106) in den 60er und 70er Jahren des 11. Jahrhunderts, als die Thüringer im Bündnis mit den Sachsen erneut für ihre Freiheit und das Recht der Väter (patrum suorum legittima) kämpften. Sie spiegelt sich nicht zuletzt in den regelmäßig wiederkehrenden Versammlungen des thüringischen populus auf der Tretenburg bei Gebesee, deren Bedeutung als zentrale Gerichtsund Versammlungsstätte der Thüringer sich bis in die Zeit vor dem Hardrad-Aufstand zurückführen lässt. Noch im frühen 12. Jahrhundert war die Tretenburg ein Ort der politischen Willensbildung der Thüringer, bis sie ihre Funktion 1130/31 mit der Einrichtung der Landgrafschaft Thüringen durch König Lothar III. († 1137) an das weiter südlich gelegene Landgericht Mittelhausen verlor.25 Die Gründung der Landgrafschaft Thüringen bedeutete in vielfacher Hinsicht einen Bruch mit den über Jahrhunderte gewachsenen Strukturen und Traditionen. Zwar knüpfte sie an den in der Merowingerzeit entstandenen und unter der Herrschaft der Karolinger verfestigten räumlichen Rahmen an, jedoch wurde sie ohne die erkennbare Mitwirkung des populus Thuringorum geschaffen, dessen gemeinschaftsstiftende Zusammenkünfte auf der Tretenburg fortan der Vergangenheit angehörten. Entscheidend waren nicht das Zusammengehörigkeitsbewusstsein und der politische Wille der führenden Kräfte Thüringens, sondern das Bestreben des Königs, die alte Provinz Thüringen und ihre Bewohner durch die Einsetzung eines königlichen Stellvertreters wieder fester an das Königtum zu binden. Das Amt des Landgrafen wurde dabei allerdings nicht an einen Vertreter der alten thüringischen Grafenfamilien, etwa der Grafen von Schwarzburg, von Weimar-Orlamünde oder von Gleichen, sondern zunächst an den sächsischen Grafen Hermann II. von Winzenburg († 1152) und wenig später an den Ludowinger, Graf Ludwig I. († 1140), verliehen, dessen Familie zu Beginn des 11. Jahrhunderts aus Mainfranken nach Thüringen eingewandert war. Obwohl die Ludowinger spätestens mit der Gründung des Klosters Reinhardsbrunn als Grablege und geistliches Zentrum 1085 ihren Blick ganz nach Thüringen 25 Werner, Landesbewusstsein (wie Anm. 5), S. 103–106.

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gerichtet hatten, wurden sie von Zeitgenossen noch um 1100 als „Franken“ wahrgenommen. Ihre Herrschaftsschwerpunkte lagen bis dahin an den Rändern des Thüringer Beckens, nicht aber in den thüringischen Kernräumen. Entsprechend richteten sich die Heiratsverbindungen der Familie in den ersten Generationen ganz auf den sächsischen, fränkischen und den hessischen Adel. Den mit der Landgrafenwürde verbundenen Vorherrschaftsanspruch in Thüringen mussten sie dagegen erst mühsam gegenüber ihren thüringischen Standesgenossen zur Geltung bringen. So sollte es noch mehr als einhundert Jahre dauern, bis sich die mit der Landgrafschaft Thüringen initiierten strukturellen Veränderungen auf breiter Ebene durchsetzen und die Landgrafschaft – ausgehend von der Geschichtsschreibung des ludowingischen Hausklosters Reinhardsbrunn – schließlich selbst traditionsbildend und damit identitätsstiftend wirken konnte.26 Das über die Jahrhunderte hinweg Verbindende blieb jedoch die nach dem Untergang des alten Thüringer Königreiches aus einer fränkischen Provinz hervorgegangene Toringia, die spätestens seit dem 8. Jahrhundert stets als Einheit verstandene Landschaft zwischen Harz, Thüringer Wald, Werra und Saale, deren Bewohner als Thüringer bezeichnet wurden. Wer Thüringer war und was als spezifisch thüringisch gelten konnte, war jedoch keine Frage der Geburt oder der ethnischen Abstammung, sondern primär von politischen und kulturellen Faktoren bestimmt, die in ständigem Wandel begriffen waren. Nur so war es möglich, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft zu einem Volk zusammenwachsen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln konnten, das sie auch zu gemeinsamem Handeln befähigte. Eine wichtige Voraussetzung hierfür war eine über einzelne Gruppen hinausgreifende politische Organisation mit einer weithin anerkannten Spitze, die in Thüringen nach dem Untergang des völkerwanderungszeitlichen Königreiches erst wieder seit Beginn des 7. Jahrhunderts mit der Herrschaft des dux Radulf zu erkennen ist. Identitätsstiftend wirkte zweifellos auch der gemeinsame und vor allem erfolgreiche Abwehrkampf gegen äußere Feinde, der es herausragenden Heer26 Vgl. hierzu Werner, Landesbewusstsein (wie Anm. 5), S. 107–134; Mathias Kälble, Reichsfürstin und Landesherrin. Die heilige Elisabeth und die Landgrafschaft Thüringen, in: Dieter Blume/Matthias Werner (Hg.), Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige (3. Thüringer Landesausstellung „Elisabeth von Thüringen - Eine europäische Heilige“, Wartburg – Eisenach, 7. Juli bis 19. November 2007). Aufsätze, Petersberg 2007, S. 77–92, hier S. 78–80; Stefan Tebruck, Die Reinhardsbrunner Geschichtsschreibung im Hochmittelalter. Klösterliche Traditionsbildung zwischen Fürstenhof, Kirche und Reich (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 4), Frankfurt/Main 2001.

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führern ermöglichte, ungeachtet von Herkunft und Abstammung, auf Dauer eine dominierende Position einzunehmen. Dies galt nicht nur für den dux Radulf und die in merowingischer Zeit namenlos gebliebenen Anführer thüringischer bzw. ostfränkischer Kriegerverbände, sondern ebenso für Personen wie den fränkischen Kaufmann Samo, der durch sein Geschick und seine Tatkraft bis zum König (rex) der Wenden aufgestiegen war. Sein Beispiel zeigt, wie wichtig in diesem Zusammenhang auch die Wahrung gemeinsamer Sitten und Gewohnheiten gewesen ist. Das Tragen bestimmter Kleidung, die Anerkennung spezifischer Bräuche und Rechtsgewohnheiten und vor allem die Pflege gemeinschaftlicher Traditionen und ein gemeinsamer Glaube waren grundlegende Voraussetzungen dafür, dass der Einzelne innerhalb der Gruppe und die Gruppe oder ein Volk insgesamt bestehen konnten. Dies galt freilich nicht nur für das Mittelalter, sondern ist gleichermaßen auch für moderne Gesellschaften von Bedeutung.

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Literatur Jan Bemmann, Mitteldeutschland im 5. und 6. Jahrhundert. Was ist und ab wann gibt es archäologisch betrachtet typisch Thüringisches? Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Helmut Castritius/Dieter Geuenich/Matthias Werner (Hg.), Die Frühzeit der Thüringer. Archäologie, Sprache, Geschichte (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 63), Berlin/New York 2009, S. 63–81. Helmut Castritius/Dieter Geuenich/Matthias Werner (Hg.), Die Frühzeit der Thüringer. Archäologie, Sprache, Geschichte (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 63), Berlin/New York 2009. Heike Grahn-Hoek, Stamm und Reich der frühen Thüringer nach den Schriftquellen, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56 (2002), S. 7–90. Mathias Kälble, Ethnogenese und Herzogtum. Thüringen im Frankenreich (6.–9. Jahrhundert), in: Helmut Castritius/Dieter Geuenich/Matthias Werner (Hg.), Die Frühzeit der Thüringer. Archäologie, Sprache, Geschichte (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 63), Berlin/New York 2009, S. 329–413. Ders., Herzöge und Rebellen. Thüringen in der Merowingerzeit, in: Sebastian Brather/ Claudia Merthen/Tobias Springer (Hg.), Warlords oder Amtsträger? Herausragende Bestattungen der späten Merowingerzeit. Beiträge der Tagung im Germanischen Nationalmuseum in Zusammenarbeit mit dem Institut für Archäologische Wissenschaften (IAW) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Abt. Frühgeschichtliche Archäologie und Archäologie des Mittelalters, 21.–23.10.2013 (Wissenschaftliche Beibände zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, 41), Nürnberg 2018, S. 29–41. Walter Schlesinger, Das Frühmittelalter, in: Hans Patze/Walter Schlesinger, Geschichte Thüringens, Bd. I: Grundlagen und frühes Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen, 48/I), Köln/Graz 1968, S. 317–380. Ders., Zur politischen Geschichte der fränkischen Ostbewegung vor Karl dem Großen, in: Ders. (Hg.), Althessen im Frankenreich (Nationes, 2), Sigmaringen 1975, S. 9–61. Hans Karl Schulze, Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des Rheins (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 19), Berlin 1973. Matthias Werner, Iren und Angelsachsen in Mitteldeutschland. Zur vorbonifatianischen Mission in Hessen und Thüringen, in: Heinz Löwe (Hg.), Die Iren und Europa im früheren Mittelalter, Bd. 1 (Veröffentlichungen des Europa-Zentrums Tübingen. Kulturwissenschaftliche Reihe), Stuttgart 1982, S. 239–318. Ders., Die Anfänge eines Landesbewußtseins in Thüringen, in: Michael Gockel (Hg.), Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, Marburg 1992, S. 81–137.

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Ders., „Ich bin ein Durenc“. Vom Umgang mit der eigenen Geschichte im mittelalterlichen Thüringen, in: Ders. (Hg.), Identität und Geschichte (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 1), Weimar 1997, S. 79–104. Ders., Die Ersterwähnung Arnstadts im Jahre 704. „in loco nuncupante Arnestati“, Frankfurt/Main 2004. Helge Wittmann, Zur Frühgeschichte der Grafen von Käfernburg-Schwarzburg, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 51 (1997), S. 9–59. Ders., Zur Rolle des Adels bei der Stiftung von Kirchen und Klöstern in Thüringen (bis zum Ende der Regierungszeit Karls des Großen), in: Enno Bünz/Stefan Tebruck/ Helmut G. Walther (Hg.), Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 24), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 107–154.

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Land versus Dynastie? Thüringen unter wettinischer Herrschaft im Spätmittelalter Als in der Mitte des 13. Jahrhunderts der letzte thüringische Landgraf aus der Dynastie der Ludowinger verstarb und Thüringen an den Markgrafen von Meißen fiel, begann eine Entwicklung, die knapp zweieinhalb Jahrhunderte später in die Auflösung der thüringischen Landgrafschaft mündete. Mit dem Herrschaftsantritt des Markgrafen Heinrich des Erlauchten in Thüringen wurde die Landgrafschaft Bestandteil des größeren, von der Lausitz bis zur Werra reichenden wettinischen Herrschaftsbereiches. Die Wettiner waren seitdem nicht mehr nur Markgrafen von Meißen, sondern auch thüringische Landgrafen. Im 15. Jahrhundert ererbten sie darüber hinaus den sächsischen Herzogstitel und stiegen in den Rang von Kurfürsten von Sachsen auf. Die politische Entwicklung Thüringens betraf dies unmittelbar, denn die Landgrafschaft rückte zunehmend an den Rand des wettinisch-sächsischen Herrschafts- und Einflussbereichs und wurde dabei zur Verfügungsmasse bei Teilungsverträgen zwischen den verschiedenen Linien der Fürstenfamilie. Am Ende des 15. Jahrhunderts schließlich führte diese Entwicklung im Rahmen der Leipziger Teilung von 1485 – einer innerfamiliären Vereinbarung der Wettiner – zur Aufsplitterung der thüringischen Herrschaftsrechte zwischen den beiden regierenden Fürsten des Hauses Sachsen, Kurfürst Ernst und seinem Bruder Albrecht. Fortan sollte es ein albertinisches und ein ernestinisches Thüringen geben, das sich die unterschiedlichen Linien der Dynastie jeweils teilten. Thüringen scheint damit als ein Land, auf das sich unterschiedliche Akteure beziehen konnten, im Rahmen dynastischer Hegemonialpolitik an sein Ende gekommen zu sein. Doch ist festzustellen, dass die Erinnerung an Thüringen als einem räumlichen und politischen Rahmen auch nach 1485 nicht gänzlich verschwand. Sie begegnet spätestens im frühen 19. Jahrhundert wieder, als über die Option der Zusammenfassung der thüringischen Fürstentümer zu einem Großherzogtum Thüringen nachgedacht wurde. Und die Idee, dass Thüringen den Rahmen für eine politische Staatsbildung innerhalb des Deutschen Reiches bilden könnte, zeigte sich nach dem Ersten Weltkrieg als tragfähig genug, um den Freistaat Thüringen zu gründen. Die politische Langlebigkeit dieses Landes ist bemerkenswert, zumal sich die Benennung der thüringischen Fürstentümer

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in den vier Jahrhunderten zwischen der Leipziger Teilung von 1485 und der Gründung des Freistaates Thüringen 1920 nur nach den Titeln der regierenden Fürsten richtete. Deshalb trugen die thüringischen Länder bis 1920 als ersten Bestandteil ihres Namens die dynastischen Bezeichnungen „Sachsen“, „Schwarzburg“ beziehungsweise „Reuß“. Keines dieser Fürstentümer nahm in seiner Selbstbezeichnung den alten Namen Thüringen auf. Thüringen blieb lediglich ein nachgeordnetes Element innerhalb der Fürstentitulatur der in Weimar, Eisenach, Gotha und Altenburg residierenden Wettiner. Es blieb darüber hinaus stets auch eine Raumbezeichnung der Kartographen. Warum Thüringen im frühen 20. Jahrhundert den räumlichen Rahmen für die Etablierung eines Freistaates innerhalb der Weimarer Reichsverfassung bilden konnte, ist deshalb durchaus erklärungsbedürftig. Die spätmittelalterliche Geschichte des Landes bietet einige Anhaltspunkte, die zum Verständnis dieses auffälligen Befundes beitragen können. Die Frage nach Thüringen und den Thüringern im Spätmittelalter steht dabei im Kontext einer breiten geschichtswissenschaftlichen Diskussion über die Träger, die Formen und die politische Bedeutung von regionalen Identitätsdiskursen im spätmittelalterlichen Reich. Zahlreiche Arbeiten – auch zu Landschaften außerhalb des Reiches – widmen sich den unterschiedlichsten Akteuren und ihren Praktiken, die das Ziel verfolgten, regionale Identitäten zu pflegen und fortzuschreiben oder sie zu konstruieren und politisch zu instrumentalisieren. Für die deutsche Geschichte des Spätmittelalters ist es offensichtlich, welche Reichweite die Frage nach der Rolle von Landesbewusstsein in den verschiedenen Räumen des polyzentrischen, in Fürstentümer unterschiedlichster Struktur und Gestalt gegliederten Reiches hat. Die Breite der Diskussion hierzu spiegelt etwa der 2005 erschienene, von Matthias Werner herausgegebene Band „Spätmittelalterliches Landesbewusstsein in Deutschland“ wider.1 Dabei wird deutlich, wie breit das Bedeutungsspektrum solcher Schlüsselbegriffe wie ‚Land‘ im Mittel1 Matthias Werner (Hg.), Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland (Vorträge und Forschungen, 61), Ostfildern 2005. Vgl. auch Rainer Babel/Jean-Marie Moeglin (Hg.), Identité nationale et conscience régionale en France et en Allemagne du Moyen Âge à l’époque moderne (Beihefte der Francia, 39), Sigmaringen 1997; Roman Zehetmayer, Zu den Anfängen der Landwerdungen im nordalpinen Reich am Beispiel der Marken Steier, Österreich und Meißen, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 124 (2016), S. 1–25. Zu Thüringen siehe Matthias Werner, Die Anfänge eines Landesbewußtseins in Thüringen, in: Michael Gockel (Hg.), Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, Marburg/ Lahn 1992, S. 81–137; Ders., „Ich bin ein Durenc“. Vom Umgang mit der eigenen Geschichte im mittelalterlichen Thüringen, in: Ders. (Hg.), Identität und Geschichte (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 1), Weimar 1997, S. 79–104.

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alter ist, welche unterschiedlichen Akteure – von der regierenden Dynastie und ihrem Hof über die adligen und städtischen Herrschaftsträger im Land bis hin zu den gelehrten Historiographen – als Träger von Landesbewusstsein mit unterschiedlichsten Intentionen auftreten konnten, und schließlich wie breit gefächert in seinen Formen, Funktionen und Wirkungen das ist, was ich hier verkürzend mit Hilfsbegriffen wie ‚Landesbewusstsein‘ oder ‚regionale Identität‘ beschrieben habe. Ich will im Folgenden versuchen, die Entwicklung in Thüringen während des 13. bis 15. Jahrhunderts zu beschreiben.2 Dabei soll herausgearbeitet werden, welche Bedeutung der alten Raumbezeichnung Thüringen für die politische Ordnung der wettinischen Herrschaft zukam. Zugleich geht es dabei um die Frage, ob und in welcher Form es im Spätmittelalter ein zeitgenössisches Bewusstsein vom Fortbestand Thüringens und ein auf diesen Raum bezogenes Zugehörigkeitsgefühl der Thüringer gab. Ich orientiere mich dabei an der politischen Geschichte und werde zunächst auf den Übergang der Landgrafschaft Thüringen an die Wettiner in der Mitte des 13. Jahrhunderts eingehen, um dann im zweiten Abschnitt nach der Entwicklung Thüringens bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, also bis zur Durchsetzung der wettinischen Vorherrschaft über die thüringischen Grafen unter Landgraf Friedrich II. den Ernsthaften zu fragen. Der dritte Abschnitt gilt den rund einhundert Jahren vom späten 14. Jahrhundert bis zur Leipziger Teilung. In dieser Zeit bildete die Landgrafschaft Thüringen einen eigenen Bereich innerhalb der wettinischen Territorien.

1. Der Erwerb der thüringischen Landgrafschaft durch die Wettiner um die Mitte des 13. Jahrhunderts

Die Landgrafschaft Thüringen bildete – wie fast alle anderen fürstlichen und königlichen Herrschaftsbereiche im mittelalterlichen Europa auch – kein geschlossenes Territorium. Mit Thüringen bezeichnen die Quellentexte des Hochund Spätmittelalters zunächst einmal einen geographischen Raum, über dessen Grenzen man recht präzise Vorstellungen hatte: Er reichte im Norden bis an 2 Dieser Beitrag lehnt sich an meine 2005 erschienene Untersuchung über Thüringen im Spätmittelalter an, siehe Stefan Tebruck, Zwischen Integration und Selbstbehauptung. Thüringen im wettinischen Herrschaftsbereich, in: Werner Maleczek (Hg.), Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa (Vorträge und Forschungen, 63), Ostfildern 2005, S. 375–412.

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die Goldene Aue, im Nordosten bis zum Unterlauf der Unstrut, im Osten bis an das Saaletal, im Süden bis zum Thüringer Wald und im Westen bis in die Landschaft westlich der Werra.3 In diesem Raum geboten einige alteingesessene Adelsfamilien, das Königtum und kirchliche Grundherren über Land und Leute. Die Grafen von Schwarzburg und Käfernburg, die Grafen von Weimar und die Grafen von Henneberg waren die ältesten und bedeutendsten Adelsdynastien in Thüringen, die über alte Herrschaftsrechte verfügten.4 Neben ihnen traten die Mainzer Erzbischöfe, die Reichsabteien Fulda und Hersfeld sowie das Königtum als Herrschaftsträger auf. Der Erzbischof von Mainz war seit dem späten 8. Jahrhundert der für Thüringen zuständige Bischof. Seit dem frühen 11. Jahrhundert war er auch im Besitz der Stadtherrschaft über Erfurt und unterhielt hier eine Nebenresidenz. Das Königtum, das in karolingischer und ottonischer Zeit (8.–10. Jahrhundert) über umfangreichen Grundbesitz und über bedeutende Königspfalzen im Land verfügte, hatte sich zwar nach der Ottonenzeit weitgehend aus Thüringen zurückgezogen, war aber im Hoch- und Spätmittelalter noch durch die dem König unmittelbar unterstellten Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen im Land vertreten. Die ebenfalls unter dem Schutz des Königs stehenden Reichsabteien Fulda und Hersfeld hatten seit dem späten 8. Jahrhundert bedeutenden Besitz mit den zugehörigen Herrschaftsrechten in verschiedenen Teilen des Landes.5 In dieser komplexen Gemengelage waren die in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts aus Mainfranken nach Thüringen kommenden Ludowinger eine vergleichsweise junge Adelsfamilie, die als Newcomer in den Raum südlich und nördlich des Thüringer Waldes ausgriffen. Sie betrieben eine erfolgrei3 Zu den Grenzen Thüringens im Hoch- und Spätmittelalter vgl. die kommentierte Karte in Mathias Kälble/Stefan Tebruck, Der Herrschaftsbereich Landgraf Ludwigs IV. von Thüringen (1217–1227), in: Dieter Blume/Matthias Werner (Hg.), Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige, 2 Bde., Petersberg 2007, hier Katalogband S. 62–66. 4 Zum Adel in Thüringen und seiner Erforschung vgl. zuletzt Helge Wittmann, Im Schatten der Landgrafen. Studien zur adeligen Herrschaftsbildung im hochmittelalterlichen Thüringen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 17), Köln/Weimar/ Wien 2008, S. 11–24. 5 Knappe Überblicksdarstellungen über die Herrschaftsstruktur im mittelalterlichen Thüringen: Matthias Werner, Thüringen, Teil B. Geschichte, in: Lexikon des Mittelalters 8 (1997), Sp. 749–757; Ders., Thüringen und die Thüringer zwischen Völkerwanderungszeit und Reformation. Die mittelalterlichen Grundlagen von Vielfalt und Einheit in der thüringischen Geschichte, in: Vom Königreich der Thüringer zum Freistaat Thüringen. Texte einer Vortragsreihe zu den Grundzügen thüringischer Geschichte, hg. vom Thüringer Landtag und der Historischen Kommission für Thüringen, Erfurt 1999, S. 11–42.

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che Heiratspolitik, die sie innerhalb von drei Generationen in den Besitz von bedeutenden Positionen an den Rändern des Thüringer Beckens brachte: im Norden Sangerhausen, im Nordosten der Raum an der unteren Unstrut mit der später von ihnen errichteten Neuenburg, im Westen Grafenrechte im heutigen Nordhessen bei Marburg und Kassel. In ihrem ältesten Güterbesitz, in dem sie im späten 11. Jahrhundert die Schauenburg bei Friedrichroda und die Wartburg bei Eisenach errichtet hatten, stifteten sie 1085 das benediktinische Kloster Reinhardsbrunn, über das sie die Vogtei – die Schutz- und Schirmherrschaft – innehatten und in dem die meisten Ludowinger des 12. Jahrhunderts auch ihre letzte Ruhestätte fanden.6 Der weitere Aufstieg der Ludowinger in Thüringen war eine Folge ihrer zunehmenden Anlehnung an das Königtum. Das war nicht selbstverständlich, denn noch in den Kämpfen des späten 11. Jahrhunderts, als Kaiser Heinrich IV. im Konflikt mit den Päpsten um das strittige Recht, Bischöfe in ihr Amt einsetzen zu dürfen, zu einer tiefgreifenden Spaltung in Kirche und Adel im Reich beitrug, standen die Ludowinger in Opposition zur Krone. Das änderte sich erst nach dem Tod Kaiser Heinrichs V. und der Wahl des sächsischen Herzogs Lothar zum neuen König 1125. Als dieser den thüringischen Raum – ähnlich wie auch das Elsass und den zum Reich gehörenden Teil Burgunds – mit Hilfe einer übergräflichen, herzogsgleichen Instanz näher an das Königtum binden wollte, richtete er die Landgrafschaft Thüringen ein, die er in den späten 1120er Jahren zunächst dem Grafen von Winzenburg, nach dessen Absetzung zu Beginn der 1130er Jahre dem ludowingischen Grafen Ludwig I. verlieh. Die Ludowinger hatten damit die Aufgabe erhalten, im thüringischen Raum in Stellvertretung für den König den Frieden zu wahren. Die Verleihung des landgräflichen Amtes war nicht mit der Übertragung von weiteren Gütern oder der Inbesitznahme eines Territoriums verbunden, sondern sie stellte einen Auftrag dar, der die Ludowinger mit einem Ehrenvorrang vor dem thüringischen Adel auszeichnete und sie zugleich eng an den König band. Denn mit der Würde eines Landgrafen erhielten die Ludowinger eine reichsfürstliche Stellung, die sie zu unmittelbaren Vasallen des Königs machte. Zwar trug diese privilegierte Stellung wesentlich zum raschen Aufstieg der Familie im Verlauf des 12. und 6 Zu den Ludowingern insgesamt Matthias Werner, Ludowinger, in: Werner Paravicini (Hg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch, 2 Bde. (Residenzenforschung 15/I), Ostfildern 2003, hier Bd. 1, S. 149–154; Stefan Tebruck, Landesherrschaft – Adliges Selbstverständnis – Höfische Kultur. Die Ludowinger in der Forschung, in: Wartburg-Jahrbuch 2008, Regensburg 2010, S. 30–77.

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13. Jahrhunderts bei: Die Ludowinger bauten ihren Einfluss in Thüringen und Hessen weiter aus, sie errichteten Burgen und gründeten Städte, sie erwarben 1181 die Pfalzgrafschaft Sachsen (im Dreieck zwischen mittlerer Saale, unterer Unstrut und dem Raum um Querfurt) und galten mit ihren Besitzungen und Herrschaftsrechten, die sich im späten 12. Jahrhundert in einem breiten Band von der Saale im Osten bis zum Mittelrhein im Westen erstreckten, als bedeutendste Fürstendynastie in der Mitte des Stauferreiches. Doch stieß ihr Herrschaftsanspruch innerhalb Thüringens auch an Grenzen, die erkennen lassen, wie das Land politisch strukturiert war: Die ludowingischen Landgrafen konnten den vom König verliehenen Auftrag, ranghöchste Instanz für Frieden und Recht in Thüringen zu sein, nie ganz durchsetzen. Die alteingessenen Grafenfamilien waren im 12. Jahrhundert durchaus nicht bereit, an der landgräflichen Gerichtsstätte Mittelhausen bei Erfurt zu erscheinen und damit die Ludowinger als höherrangige Herrschaftsträger anzuerkennen. Noch zu Beginn des 13. Jahrhunderts kam es sogar zu einem Aufstand gegen Landgraf Hermann I., dessen rasch wechselnde Koalitionen in dem anderthalb Jahrzehnte währenden Krieg zwischen den Staufern und den Welfen um die Königswürde auch innerhalb Thüringens zu Konflikten führten. Erst seit den 1220er Jahren näherten sich die älteren thüringischen Grafenhäuser dem ludowingischen Landgrafen an und begannen, ihn als Rechts- und Friedenswahrer im Lande anzuerkennen. Diese Entwicklung war eine wichtige Voraussetzung für die Ereignisse nach dem Tod des letzten ludowingischen Landgrafen.7 Landgraf Heinrich Raspe IV. war im Februar 1247 gestorben, nachdem er die Ludowinger zuvor auf den Höhepunkt ihres politischen Einflusses geführt hatte: Im Mai 1246 war er von einem kleinen Kreis von Fürsten und mit päpstlicher Unterstützung zum König gewählt worden, um die Opposition gegen den zuvor abgesetzten Stauferkaiser Friedrich II. und dessen Sohn Konrad IV. anzuführen. Die Chancen für ein ludowingisches Königtum standen durchaus nicht so schlecht, wie dies die ältere Forschung annahm. Doch beendete der

7 Zur politischen und rechtlichen Bedeutung des landgräflichen Amtes im 12. und frühen 13. Jahrhundert vgl. Stefan Tebruck, Die Reinhardsbrunner Geschichtsschreibung im Hochmittelalter. Klösterliche Traditionsbildung zwischen Fürstenhof, Kirche und Reich (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 4), Frankfurt am Main u. a. 2001, S. 178–192, 333–338; Mathias Kälble, Reichsfürstin und Landesherrin. Die heilige Elisabeth und die Landgrafschaft Thüringen, in: Blume/Werner (Hg.), Elisabeth von Thüringen (wie Anm. 3), hier Aufsatzband S. 77–92.

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frühe Tod Heinrich Raspes alle Ambitionen des landgräflichen Hauses.8 Da der Fürst kinderlos geblieben war, griff nach seinem Tod eine Erbvereinbarung, die er selbst herbeigeführt hatte: Für den Fall seines Todes und des Fehlens eines direkten Erben sollte sein Neffe, Heinrich der Erlauchte, Markgraf von Meißen, die Nachfolge in der Landgrafschaft antreten. Diese Regelung hatte Heinrich Raspe im Juni 1243, als er noch auf der Seite des Kaisers stand, vom diesem feierlich bestätigen lassen (Abb. 1). Doch blieb der Erbanspruch des wettinischen Markgrafen nicht unwidersprochen. Die benachbarten Fürsten von Braunschweig und von Anhalt erhoben aufgrund verwandtschaftlicher Verbindungen mit dem Haus der Ludowinger ebenso Ansprüche wie der Mainzer Erzbischof, der nicht bereit war, die landgräflichen Lehen des Mainzer Erzstifts in Thüringen und Hessen dem Markgrafen von Meißen zu überlassen. Darüber hinaus scheint sich auch im Lande selbst eine Opposition gegen den Wettiner gebildet zu haben. Der bedeutendste zeitgenössische Chronist, der Verfasser der Erfurter Predigerannalen, kommentiert das Vorgehen des wettinischen Fürsten mit dem Hinweis, dass dessen Einsetzung zum Erben der Landgrafschaft durch die kaiserliche Urkunde von 1243 keine bindende Wirkung mehr habe, denn der Kaiser sei inzwischen abgesetzt worden, seine Verfügung damit hinfällig. Der Markgraf von Meißen habe deshalb das Land Thüringen zu Unrecht in Besitz genommen. – Ich komme unten noch einmal auf die Kritik, mit der man in Thüringen den Wettinern begegnete, zurück. Markgraf Heinrich dem Erlauchten gelang es allen Widerständen zum Trotz innerhalb von zwei Jahren nach dem Tod Heinrich Raspes, die bedeutendsten landgräflichen Burgen in Thüringen in seine Gewalt zu bringen und den Adel im Lande militärisch zu zwingen, seine Herrschaft anzuerkennen. Anfang Juli 1249 kamen neun Grafen und sechs Edelfreie – an ihrer Spitze die Grafen von 8 Zu Heinrich Raspe IV. siehe Matthias Werner, Reichsfürst zwischen Mainz und Meißen. Heinrich Raspe als Landgraf von Thüringen und Herr von Hessen, in: Ders. (Hg.), Heinrich Raspe – Landgraf von Thüringen und römischer König (1227–1247). Fürsten, König und Reich in spätstaufischer Zeit (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 3), Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 125–271; Ders., Landgraf Heinrich Raspe von Thüringen (1227–1247) – Reichsfürst in der Mitte des Reiches und „Gegenkönig“ Konrads IV., in: Konrad IV. (1228–1254). Deutschlands letzter Stauferkönig, hg. von der Gesellschaft für staufische Geschichte (Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst, 32), Göppingen 2012, S. 26–48. Zur Urkundenüberlieferung des thüringischen Landgrafen siehe jetzt die Neuedition von Tom Graber/ Mathias Kälble (Bearb.), Die Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen, Bd. 4: 1235–1247 (Codex diplomaticus Saxoniae, Erster Hauptteil: Die Urkunden der Markgrafen von Meißen, Landgrafen von Thüringen, Herzöge und Kurfürsten von Sachsen, Abteilung A: Die Urkunden von 948 bis 1380, Bd. 4: 1235–1247), Peine 2014.

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Abb. 1: Eventualbelehnung Markgraf Heinrichs des Erlauchten mit der Landgrafschaft Thüringen durch Kaiser Friedrich II. vom 30. Juni 1243

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Käfernburg und von Schwarzburg – in Weißenfels mit Heinrich dem Erlauchten zusammen und vereinbarten im Rahmen eines Vertrages die Anerkennung des Wettiners als Landgraf und Lehnsherr (Abb. 2). Im Februar 1250 errichtete der Markgraf zusammen mit den Grafen und Herren Thüringens einen Landfrieden, und zwar an der alten landgräflichen Gerichtsstätte Mittelhausen nördlich von Erfurt. Wir kennen nicht die genauen Bestimmungen dieses Friedens, aber es ist das erste Landfriedensbündnis in Thüringen, von dem wir überhaupt erfahren. Die Sicherung des Landfriedens durch Heinrich den Erlauchten im Bund mit den Grafen und Herren des Landes scheint ein zentrales Element der neuen politischen Ordnung gewesen zu sein. Die zeitgenössischen Erfurter Predigerannalen beschreiben diesen Landfrieden von 1250 als den eigentlichen Akt der Herrschaftsübernahme in Thüringen. Das Land wurde durch den Landgrafen im Bunde mit den Herren des Landes, den terre barones, repräsentiert. Auch der im Jahr zuvor geschlossene Weißenfelser Vertrag bediente sich dieser Begrifflichkeit: Der Markgraf wurde hier als „unser Herr“ (dominus noster) und als „Landgraf Thüringens“ (lantgravius Thuringie) anerkannt. Sein Herrschaftsbereich wird als „fürstliche Herrschaft über Thüringen“ (principatus Thuringie) und als „Land Thüringen“ (terra Thuringie) bezeichnet.9 Dies deutet darauf hin, dass Heinrich der Erlauchte von den Fortschritten der späten Ludowinger profitieren konnte, denen es seit etwa den 1220er Jahren sehr viel mehr als ihren Vorgängern im 12. Jahrhundert gelungen war, ihren landgräflichen Herrschaftsanspruch in ganz Thüringen zur Geltung zu bringen. Die gesteigerte Integrationskraft des Landgrafenamtes scheint das zentrale Element für das politische Fortbestehen des Landes Thüringen im 13. Jahrhundert gebildet zu haben.

9 Zum Weißenfelser Vertrag von 1249 und zum Landfrieden von 1250 siehe Holger Kunde/ Stefan Tebruck/Helge Wittmann (Hg.), Der Weißenfelser Vertrag von 1249. Die Landgrafschaft Thüringen am Beginn des Spätmittelalters (Thüringen gestern & heute, 8), Erfurt 2000; Stefan Tebruck, Pacem confirmare – iusticiam exhibere – per amiciciam concordare. Fürstliche Herrschaft und politische Integration: Heinrich der Erlauchte, Thüringen und der Weißenfelser Vertrag von 1249, in: Jörg Rogge/Uwe Schirmer (Hg.), Hochadlige Herrschaft im mitteldeutschen Raum (1200–1600). Formen – Legitimation – Repräsentation (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, 23), Leipzig/Stuttgart 2003, S. 243–303. Kommentierte Neuedition des Weißenfelser Vertrages in: Tom Graber/Mathias Kälble (Bearb.), Die Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen, Bd. 5: 1248–1264 (Codex diplomaticus Saxoniae, Erster Hauptteil: Die Urkunden der Markgrafen von Meißen, Landgrafen von Thüringen, Herzöge und Kurfürsten von Sachsen, Abteilung A: Die Urkunden von 948 bis 1380, Bd. 5: 1248–1264), Wiesbaden 2017, Nr. 11, S. 16–20.

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Abb. 2: Weißenfelser Vertrag vom 1. Juli 1249

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Zwei Jahre nach dem Landfrieden von 1250 schloss sich Heinrich der Erlauchte König Wilhelm an, der als Nachfolger Heinrich Raspes IV. von der antistaufischen Opposition im Reich zum neuen König gewählt worden war. Im April 1252 huldigte der wettinische Fürst gemeinsam mit dem Herzog von Sachsen und dem Markgrafen von Brandenburg dem König, der in Merseburg einen großen Reichstag abhielt. Heinrich der Erlauchte ließ sich im Gegenzug von König Wilhelm mit den ludowingischen Fürstentümern – neben der thüringischen Landgrafschaft auch die Pfalzgrafschaft Sachsen – belehnen. Damit war die wettinische Herrschaftsübernahme in Thüringen unumkehrbar geworden. 1254 gelang es Heinrich dem Erlauchten, auch mit dem Erzbischof von Mainz Frieden zu schließen und die Kirchenlehen, die der thüringische Landgraf von den Mainzer Erzbischöfen innehatte, bestätigt zu bekommen. Während mit den Erfolgen Heinrichs des Erlauchten die Frage nach dem ludowingischen Erbe in Thüringen bis 1254 geklärt war, blieb die Entwicklung im hessischen Teil des ludowingischen Herrschaftsbereiches noch ein Jahrzehnt länger unentschieden. Hier war es die seit 1248 verwitwete Herzogin von Brabant, Sophia, eine Nichte Heinrich Raspes und Tochter des Bruders und Vorgängers des letzten Landgrafen, Ludwigs IV., und seiner Gemahlin, der heiligen Elisabeth, die Ansprüche auf das Erbe ihres Onkels erheben konnte. Sie arrangierte sich 1250 mit Heinrich dem Erlauchten, den sie zum Vormund für ihren Sohn Heinrich und zum Treuhänder für ihren Anteil am ludowingischen Erbe in Hessen – unter Einschluss von Eisenach und der Wartburg – machte. Doch zerbrach der Frieden nach Erreichen der Volljährigkeit Heinrichs des Kindes sechs Jahre später. Die nun folgenden mehrjährigen Konflikte, an denen neben Sophia und Heinrich vor allem der Mainzer Erzbischof, der Herzog von Braunschweig und Heinrich der Erlauchte beteiligt waren, endeten erst 1263/64 mit vertraglichen Einigungen zwischen den Beteiligten.10 Folgenreich für Thüringen, für das Heinrich der Erlauchte die landgräfliche Stadt Eisenach 10 Zu den Konflikten um das ludowingische Erbe und zu den Friedensvereinbarungen von 1263/64 siehe die Beiträge in Ursula Braasch-Schwersmann/Christine Reinle/Ulrich Ritzerfeld (Hg.), Neugestaltung in der Mitte des Reiches. 750 Jahre Langsdorfer Verträge 1263/2013 (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte, 30), Marburg 2013, S. 5–118; vgl. auch Mathias Kälble, Wigand Gerstenberg und die Landgrafschaft Thüringen, in: Ursula Braasch-Schwersmann/Axel Halle (Hg.), Wigand Gerstenberg von Frankenberg 1457–1522. Die Bilder aus seinen Chroniken. Thüringen und Hessen. Stadt Frankenberg (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte, 23), Marburg 2007, S. 43–60. Zur Urkundenüberlieferung der wettinischen Mark- und Landgrafen siehe jetzt die Neuedition von Graber/Kälble, Die Urkunden der Markgrafen 1248–1264 (wie Anm. 9).

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und die Wartburg dauerhaft sichern konnte, war die Verselbständigung der hessischen Teile des ludowingischen Erbes. Hier etablierte sich die Landgrafschaft Hessen, die durch die Erhebung Heinrichs des Kindes zum Reichsfürsten durch König Adolf von Nassau 1292 ihre reichsrechtliche Anerkennung fand. Thüringen geriet nun ganz in den Einflussbereich der Wettiner in der östlichen Mitte des Reiches.

2. Die Behauptung der wettinischen Herrschaft in Thüringen bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts

Dass die Wettiner ihre Positionen in der Mark Meißen und in Thüringen über die Jahrhundertwende von 1300 hinaus bewahren konnten, war aber alles andere als selbstverständlich.11 Die Dynastie geriet nach dem Tod Heinrichs des Erlauchten 1288 in eine tiefe Krise, die durch die Konflikte zwischen den Söhnen und Erben des Markgrafen ausgelöst wurde. Das Königtum versuchte, diese innerwettinischen Auseinandersetzungen zu nutzen, um die Rechte des Reiches im thüringisch-sächsischen Raum wieder zu stärken. Dabei ging es vor allem um das ehemals königliche Pleißenland zwischen Chemnitz, Altenburg und Zwickau, das Kaiser Friedrich II. an die Wettiner verpfändet hatte und das König Rudolf I. im Jahr 1290 für das Reich zurückerwerben konnte. Höhepunkt der Bemühungen des Königtums, seinen unmittelbaren Einfluss im mitteldeutschen Raum wieder geltend zu machen, war der Kauf der Landgrafschaft Thüringen durch König Adolf von Nassau im April 1294. Doch gelang es trotz wiederholter militärischer Kampagnen weder Adolf noch seinem Nachfolger Albrecht, die königlichen Ansprüche auf die Landgrafschaft durchzusetzen. Der Sieg der Truppen Markgraf Friedrichs I. des Freidigen, eines Enkels Heinrichs des Erlauchten, gegen das Heer König Albrechts in der Schlacht 11 Zur Entwicklung der Wettiner im Spätmittelalter siehe Jörg Rogge, Herrschaftsweitergabe, Konfliktregelung und Familienorganisation im fürstlichen Hochadel. Das Beispiel der Wettiner von der Mitte des 13. bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 49), Stuttgart 2002. Zum 14. Jahrhundert siehe Eckhart Leisering, Die Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete 1349–1382. Landesherrschaft zwischen Vormundschaft, gemeinschaftlicher Herrschaft und Teilung (Veröffentlichungen des Sächsischen Staatsarchivs, A, 8), Halle 2006. Zur Forschungsgeschichte Mathias Kälble, Die Wettiner in Thüringen (1247–1485). Karl Wencks „Geschichte der Landgrafen und der Wartburg“ im Spiegel der Forschung, in: Wartburg-Jahrbuch 2008, Regensburg 2010, S. 130–167. Einen Überblick über die spätmittelalterliche Ereignisgeschichte bietet Jörg Rogge, Die Wettiner. Aufstieg einer Dynastie im Mittelalter, Ostfildern 2005, S. 60–184.

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bei Lucka 1307 bahnte den Wettinern den Weg zur Wiederherstellung ihrer Positionen in Thüringen. Drei Jahre später sagte der Nachfolger Albrechts, König Heinrich VII., dem jungen Markgrafen die Belehnung mit allen Fürstentümern seines Großvaters zu und bestätigte die Erblichkeit dieser Lehen (Abb. 3). Für die Wettiner war damit nach einer zwanzigjährigen, äußerst bedrohlichen Krise ein wichtiger Erfolg errungen. Doch war ihre Herrschaft in Thüringen keineswegs unangefochten und das Land blieb ein politisch kompliziertes Gebilde. Neben dem Mainzer Erzbischof, der zumindest rechtlich der Stadtherr über die thüringische Metropole Erfurt blieb, war auch der alte thüringische Adel ein wichtiger Akteur, der der Ausdehnung des wettinischen Einflusses im Wege stand. Zunehmend gewannen auch die Städte, vor allem das reiche, bevölkerungsstarke und immer unabhängiger werdende Erfurt sowie die Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen, an politischer Bedeutung.12 Dem wettinischen Mark- und Landgrafen, der seinen Herrschaftsanspruch in Thüringen zunächst mit militärischer Gewalt durchsetzte, gelang es danach, mit Hilfe der Landfrieden die unterschiedlichen Kräfte zusammenzubinden und damit eine integrative Wirkung in Thüringen zu entfalten. 1315 errichtete Friedrich der Freidige gemeinsam mit den Grafen und Herren sowie den Städten Erfurt, Mühlhausen und Nordhausen einen Landfrieden und setzte dabei ein von Grafen, Herren und Städten paritätisch besetztes Landfriedensgericht unter Vorsitz Graf Günthers XV. von Schwarzburg-Blankenburg ein. Landgraf Friedrich II. der Ernsthafte setzte die Landfriedenspolitik seines Vaters fort, allerdings mit ganz anderer Zielsetzung. Der von ihm 1338 errichtete Landfrieden erscheint wie ein vom Fürsten erlassenes Gesetz, nicht wie ein Bündnis zur 12 Zu den thüringischen Städten siehe zuletzt Mathias Kälble, Stadt, Adel und Reich – Städtische Bündnispolitik in Thüringen bis zu den Anfängen des Dreistädtebundes (1304/06), in: Thomas Lau/Helge Wittmann (Hg.), Kaiser, Reich und Reichsstadt in der Interaktion (Studien zur Reichsstadtgeschichte, 3), Petersberg 2016, S. 13–40; Ders., Städtische Eliten zwischen fürstlicher Herrschaft, Adel und Reich. Zur kommunalen Entwicklung in Thüringen im 12. und 13. Jahrhundert, in: Elisabeth Gruber/Susanne Claudine Pils/Sven Rabeler/ Herwig Weigl/Gabriel Zeilinger (Hg.), Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde. Die Rolle von Funktions- und Führungsgruppen in der mittelalterlichen Urbanisierung Zentraleuropas (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, 56), Innsbruck 2013, S. 269–319. Zu Erfurt siehe Stephanie Wolf, Erfurt im 13. Jahrhundert. Städtische Gesellschaft zwischen Mainzer Erzbischof, Adel und Reich (Städteforschungen. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster, Reihe A, 67), Köln/Weimar 2005; Matthias Werner, Erfurt und das Reich bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, in: Thomas Lau/Helge Wittmann (Hg.), Kaiser, Reich und Reichsstadt in der Interaktion (Studien zur Reichsstadtgeschichte, 3), Petersberg 2016, S. 85–126.

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Abb. 3: Urkunde Erzbischof Peters von Mainz und Graf Bertholds von Henneberg für Friedrich den Freidigen, Landgraf von Thüringen und Markgraf von Meißen, mit der Zusage König Heinrichs VII., ihn mit der Landgrafschaft Thüringen und der Markgrafschaft Meißen erblich zu belehnen, 19. Dezember 1310

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Friedenssicherung auf breiter politischer Grundlage. Ein allgemeines Fehdeverbot und das Verbot, Waffen zu tragen, von dem nur die Leute des Landgrafen und das Landfriedens-Aufgebot selbst ausgenommen wurden, schien sich in erster Linie gegen die territorialpolitischen Konkurrenten des Landgrafen zu richten. Politische Integration erfolgte hier auf der Grundlage eines rechtlich abgesicherten fürstlichen Anspruchs auf Oberherrschaft im Land, nicht mehr als politisch austariertes Bündnis des Landgrafen mit dem Adel und den Städten.13 Unter Friedrich II. spitzte sich deshalb die Konkurrenz zwischen dem Fürsten und dem alten thüringischen Adel – führend unter ihnen die Grafen von Schwarzburg und von Weimar-Orlamünde – erheblich zu und führte mit der sogenannten Grafenfehde der Jahre 1342–1346 in die direkte Konfrontation. Die vierjährige Fehde endete mit einem fast vollständigen Sieg des wettinischen Landgrafen. Erst jetzt konnten die Wettiner beginnen, eine hegemoniale Stellung im mitteldeutschen Raum aufzubauen, mit der der Adel und die Städte allmählich in die politische Defensive gerieten. Was bedeutete diese politische Entwicklung für den Stand der Integration Thüringens in den wettinischen Herrschaftsbereich und für den Rang des Landes Thüringen in der Wahrnehmung der Zeitgenossen um die Mitte des 14. Jahrhunderts? Die erzwungene Integration der thüringischen Grafen, Herren und Städte in den weiteren Herrschafts- und Einflussbereich der Wettiner stellt nur eine Seite der Entwicklung dar. Denn gleichzeitig ist auf einer ganz anderen Ebene ein bemerkenswerter Vorgang zu konstatieren: Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts nahm in der Geschichtsschreibung, die vor allem in Erfurt, aber auch im alten ludowingischen Hauskloster Reinhardsbrunn betrieben wurde, das Interesse an der übergreifenden thüringischen Geschichte zu. Die innerthüringischen politischen Grenzen wurden dabei einem alle Teile des Landes verbindenden Zugehörigkeitsbewusstsein untergeordnet. Findet man noch in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts im ältesten Teil der Chronik des Erfurter Petersklosters eine deutliche Differenzierung zwischen dem gräflich-schwarzburgischen, dem landgräflich-ludowingischen und dem Erfurter beziehungsweise Mainzer Herrschaftsbereich, so scheinen seit Mitte des 13. Jahrhunderts diese Differenzierungen in der Geschichtsschreibung zu verblassen. Nicht die komplizierten herrschaftsrechtlichen Zugehörigkeiten werden betont, sondern 13 Zu den thüringischen Landfrieden im 13./14. Jahrhundert siehe die grundlegende Studie von Winfried Leist, Landesherr und Landfrieden in Thüringen im Spätmittelalter 1247–1349 (Mitteldeutsche Forschungen, 77), Köln/Wien 1975.

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die gemeinsame Geschichte des Landes wird ein Thema der zeitgenössischen Historiographie. Erstmals entstehen nun zu Beginn beziehungsweise um die Mitte des 14. Jahrhunderts mit der Weltchronik Siegfrieds von Ballhausen und dem Erfurter Liber cronicorum Kompilationen, die eine eigene thüringische Geschichte, beginnend mit dem Thüringer Königreich und einmündend in die Landgrafenzeit, zum Gegenstand haben. Noch in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ist dieses neu entstehende thüringische Geschichtsbewusstsein eng mit einer anti-wettinischen Stimmung verknüpft, unverkennbar etwa in den nach der Mitte des 13. Jahrhunderts abgeschlossenen Erfurter Predigerannalen und in den zeitnah abgefassten Berichten der Reinhardsbrunner Chronik, deren Verfasser die Rechtmäßigkeit der wettinischen Herrschaftsansprüche in Thüringen zurückwiesen.14 Die Entstehung eines thüringischen Geschichts- und Eigenbewusstseins seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts scheint dabei nicht ein auf die gebildeten Historiographen beschränktes Phänomen geblieben zu sein. Zwei Beispiele aus dem letzten Viertel des 13. beziehungsweise dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts zeigen dies sehr deutlich: Als Landgraf Albrecht II. der Entartete, ein Sohn Heinrichs des Erlauchten, wiederholt mit seinem Vater und seinen Brüdern in Konflikt geriet und seine Fehden den Landfrieden in Thüringen gefährdeten, bildete sich unter Führung Graf Ottos von Orlamünde eine Opposition gegen die wettinische Herrschaft. 1277 wandte sich der Orlamünder Graf im Namen des gesamten Adels, der Herren, Ministerialen und Städte Thüringens an König Rudolf von Habsburg. Dabei verwarf er die wettinische Herrschaftsübernahme in Thüringen als illegitim und bat den König, die Landgrafschaft als erledigtes Reichslehen einzuziehen und selbst im Land einzugreifen. Der Appell der Thüringer blieb zwar ungehört und König Rudolf sollte erst über zehn Jahre später nach Thüringen kommen, um in den innerwettinischen Streitigkeiten zu vermitteln. Doch der dramatische Brief von 1277 ist ein bemerkenswertes Zeugnis dafür, dass die unterschiedlichen politischen Kräfte innerhalb Thüringens die Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln entwickelt hatten und dabei ausdrücklich auf das „Land Thüringen“ (terra Thuringie) Bezug nahmen, dem nicht nur Grafen, Herren und Ministeriale, sondern auch Erfurt und die Reichsstädte zugerechnet wurden.

14 Zur thüringischen Geschichtsschreibung im Spätmittelalter siehe Jean-Marie Moeglin, Sentiment d’identité régionale et historiographie en Thuringe à la fin du Moyen Âge, in: Babel/ Moeglin (Hg.), Identité nationale et conscience régionale (wie Anm. 1), S. 325–363.

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Noch deutlicher wird die Bereitschaft und die Fähigkeit der politischen Akteure im Land, gemeinsam zu handeln, in den Landfriedenszeugnissen aus dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts. Diese im Zusammenhang mit der Sicherung des Friedens entstandenen Urkunden lassen erkennen, dass Landgraf Friedrich I. der Freidige breite Anerkennung im Land gefunden hat (Abb. 4). Die entsprechenden Vereinbarungen beziehen sich dabei stets auf das ganze Land unter Einschluss der thüringischen Metropole Erfurt sowie der Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen. Im Landfrieden von 1315 und den Urkunden der folgenden Jahre treten als Träger des Friedens Landgraf, Grafen und Herren, Erfurt und die Reichsstädte gemeinsam auf. Es scheint, dass sich damit im politischen Geschehen der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein Adel, Landgraf und Städte integrierendes Landesbewusstsein widerspiegelt, das sich auch in der Historiographie der Zeit findet. Es ist nicht dynastisch auf die Wettiner hin orientiert, sondern es ist ein politisches Landesbewusstsein, bei dem Thüringen als gemeinsamer Aktionsraum betrachtet wird, in dem es den Landfrieden zu wahren gilt.

3. Thüringen im Rahmen der selbständigen Regentschaft Landgraf Balthasars, Friedrichs des Friedfertigen und Wilhelms III. des Tapferen (1382 bis 1482)

Die gemeinsame Regierung der wettinischen Fürstentümer wurde seit Friedrich I. dem Freidigen bis zum Tod des Mark- und Landgrafen Friedrich III. des Strengen 1381 gewahrt. Erst jetzt wurde die wettinische Herrschaft mehrfach geteilt und wieder zusammengeführt, wobei die Landgrafschaft Thüringen und die Markgrafschaft Meißen in den beiden wichtigsten innerwettinischen Teilungsverträgen – der Chemnitzer Teilung von 1382 und der in Leipzig und Halle vereinbarten Teilung von 1445 – jeweils als Einheit behandelt wurden. Dies galt auch für das Herrschaftsgebiet zwischen Saale und Mulde, das als Osterland bezeichnet und jeweils einem der wettinischen Fürsten übergeben wurde. Von einer kurzen Zeit der Vereinigung der Landgrafschaft mit den meißnischen und osterländischen Landesteilen in den Jahren 1440 bis 1445 abgesehen, entstand damit in Thüringen seit 1382 für ein Jahrhundert lang ein selbständiger Herrschaftsbereich innerhalb der wettinischen Länder. Fragt man vor diesem Hintergrund nach einem thüringischen Landesbewusstsein innerhalb des größeren wettinischen Herrschaftsbereiches, so stößt man auf sehr verschiedene Befunde. Zunächst zur Bedeutung der Dynastie:

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Abb. 4: Grabplatte Friedrichs des Freidigen aus dem Katharinenkloster Eisenach, heute im Chor der Georgenkirche in Eisenach

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Der dynastische Zusammenhalt der Wettiner ist offensichtlich auch nach den Teilungen die stärkste politische Klammer zwischen dem thüringischen und den anderen Landesteilen geblieben. Gemeinsam blieb nicht nur die Titulatur der Fürsten, die sich Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen nannten. Diese beiden Fürstentitel blieben auch nach dem Erwerb des Herzogtums Sachsen-Wittenberg 1423 und der damit verbundenen Erhebung Friedrichs IV. des Streitbaren zum Kurfürsten in der allen wettinischen Fürsten gemeinsamen Titulatur enthalten. Sie rückten aber nun an die zweite beziehungsweise dritte Stelle. Die Söhne und Nachfolger Kurfürst Friedrichs des Streitbaren führten fortan an erster Stelle den Titel eines Herzogs von Sachsen. Neben dem dynastischen Zusammenhalt kam dem fürstlichen Hof und der sich ausbildenden Verwaltungspraxis im Land große Bedeutung zu. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts hatte ein gemeinsamer markgräflich-landgräflicher Hof bestanden, dessen wichtigste Aufenthaltsorte die alten landgräflichen Vor­ orte Eisenach und die Wartburg, Gotha und Weißensee waren. Thüringen bildete daher bis in das späte 14. Jahrhundert das politische und kulturelle Gravitationszentrum der wettinischen Herrschaft. Erst infolge der Teilungen von 1382 und 1445 kam es zur Bildung eines selbständigen thüringischen Hofes, der sich zunächst vornehmlich in Gotha und Weißensee, seit etwa 1400 zunehmend in Weimar aufhielt. Die Amtsträger an den Höfen der wettinischen Fürsten in der Mark Meißen, im Osterland und in Thüringen kamen allerdings bis in das frühe 15. Jahrhundert aus allen Teilen des Einflussbereichs der Markund Landgrafen und wurden auch untereinander ausgetauscht. Von einer Trennung der Länder kann deshalb auf der Ebene des Hofes nicht gesprochen werden.15 Im Zuge des Aufbaus der Ämterverfassung waren fast alle Teile des wettinischen Besitzes in Meißen und Thüringen von der fürstlichen Verwaltung erfasst worden. Das 1378 erstellte Registrum Dominorum Marchionum Missnensium gibt einen Einblick in den damals erreichten Stand der Ämterverfassung und der Finanzverwaltung. Zwischen Thüringen und den anderen Landesteilen wird dort nicht ausdrücklich unterschieden, wie dies in den 1347 angelegten Verzeichnissen der Herren und Edlen in Meißen und Thüringen im Lehnbuch Friedrichs des Strengen noch der Fall war.16 Tatsächlich aber diente 15 Zu den wettinischen Höfen in Thüringen und Meißen siehe Brigitte Streich, Zwischen Reiseherrschaft und Residenzbildung: Der wettinische Hof im späten Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen, 101), Köln/Wien 1989. 16 Die beiden bedeutenden Aufzeichnungen sind in zwei älteren Editionen erschlossen: Hans Beschorner (Hg.), Registrum dominorum marchionum Missnensium. Verzeichnis der den Landgrafen in Thüringen und Meissen jährlich in den wettinischen Landen zustehenden Ein-

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das Registrum als Grundlage für eine angemessene Aufteilung der Rechte und Einkünfte zwischen den Erben Friedrichs III. des Strengen am Vorabend der Chemnitzer Teilung 1382. Die thüringische Landgrafschaft mit den dort gelegenen Ämtern beließ man bei den Teilungen von 1382 und 1445 von wenigen Ausnahmen abgesehen als Einheit. Mit der selbständigen Regierung Landgraf Balthasars in Thüringen während der rund zwei Jahrzehnte zwischen der Chemnitzer Teilung und dem Tod Balthasars 1406 wurde eine Akzentverschiebung eingeleitet. Denn es zeichnete sich nun die Möglichkeit der Bildung einer eigenen thüringischen Linie des wettinischen Hauses ab. Unverkennbar ist bereits bei Balthasar, dass er seinem Sohn Friedrich die Nachfolge in der Landgrafschaft frühzeitig gesichert und damit mögliche Eingriffe seiner meißnischen und osterländischen Verwandten abgewehrt hat. Darüber hinaus scheint es, dass Balthasar bewusst an ludowingisch-landgräfliche Traditionen anzuknüpfen suchte. Er und sein Sohn und Nachfolger Friedrich der Friedfertige (1406–1440) förderten das frühere Hauskloster der Ludowinger in Reinhardsbrunn und bestimmten es zu ihrer Grablege. Während dieser Zeit entstanden in Eisenach im unmittelbaren Umfeld des landgräflichen Hofes mehrere neue Chroniken, die die Geschichte Thüringens und seiner Landgrafen darstellten. Im Eisenacher Dominikanerkonvent entstand um 1395 eine Chronik der Landgrafen von Thüringen, die auf die älteren Erfurter und Reinhardsbrunner Werke zurückgriff, dabei aber deutlich das Bemühen erkennen lässt, die Kontinuität der landgräflichen Herrschaft in Thüringen und die Legitimität ihrer wettinischen Erben zu betonen. Sehr wahrscheinlich ist in dem Werk des Eisenacher Dominikaners der Versuch zu sehen, für den Hof Balthasars ein prowettinisches, dynastisch orientiertes thüringisches Geschichtsbewusstsein zu entwickeln.

künfte (1378) (Schriften der Sächsischen Kommission für Geschichte, 37), Leipzig/Berlin 1933; Woldemar Lippert/Hans Beschorner (Hg.), Das Lehnbuch Friedrichs des Strengen, Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen 1349/50 (Schriften der Sächsischen Kommission für Geschichte, 8), Leipzig 1903. Zur wettinischen Ämterverfassung in Thüringen siehe die Arbeiten von Brigitte Streich, Das Amt Altenburg im 15. Jahrhundert. Zur Praxis der kursächsischen Lokalverwaltung im Mittelalter (Veröffentlichungen des Thüringischen Hauptstaatsarchivs, 7), Weimar 2000; André Thieme, Die Burggrafschaft Altenburg. Studien zu Amt und Herrschaft im Übergang vom hohen zum späten Mittelalter (Schriften zur sächsischen Landesgeschichte, 2), Leipzig 2001; Frank Boblenz, Vom Fürstentum zu Thüringen zum Thüringer Kreis. Zur administrativen Einbindung von Sangerhausen im wettinischen Nordthüringen, in: Harz-Zeitschrift 52/53 (2000/2001), S. 37–67.

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Abb. 5: Die Ämter der wettinischen Lande um 1380

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Abb. 6: Die Landgrafschaft Thüringen unter Herzog Wilhelm III.

Hieran anknüpfend entstanden in dichter Folge nach 1407 und nach 1414 zwei weitere thüringische Geschichtswerke, die im Eisenacher Franziskaner­ kloster verfasst wurden, sowie drei Chroniken des Eisenacher Ratsschreibers und Stiftsgeistlichen Johannes Rothe, dessen 1421 abgeschlossene Thüringische Weltchronik der Landgräfin Anna gewidmet war. Die Nähe Rothes zum landgräflichen Hof und die Widmung seiner Weltchronik an die Landgräfin Anna von Schwarzburg lassen darauf schließen, dass man während des ersten Drittels des 15. Jahrhunderts im Umfeld Landgraf Friedrichs des Friedfertigen ein lebendiges Interesse an der thüringischen Geschichte und an einer entsprechenden Traditionsbildung hatte.17

17 Zu den Thüringen-Chroniken des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts siehe die oben in Anm. 14 genannte Literatur. Eine neue Edition der Landeschronik von Johannes Rothe liegt vor: Sylvia Weigelt (Hg.), Johannes Rothe, Thüringische Landeschronik und Eisenacher Chronik (Deutsche Texte des Mittelalters, 87), Berlin 2007.

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Politische Wirkungen scheint dieses Interesse an Thüringen unter dem Nachfolger Friedrichs, Herzog Wilhelm III. dem Tapferen entfaltet zu haben, der von 1445 bis 1482 als thüringischer Landgraf amtierte (Abb. 7). Unter dem Einfluss seiner thüringischen Räte hatte Wilhelm III. 1445 eine selbständige Regierung in Thüringen angestrebt und dafür nicht nur die Unterstützung der Grafen von Schwarzburg, von Beichlingen, von Stolberg und von Mansfeld, sondern auch der thüringisch-landgräflichen Stände gefunden. Die im Januar 1446 in Weißensee von Wilhelm und seinen Ständen verabschiedete erste thüringische Landesordnung enthielt mit ihrer im zweiten Teil verbrieften Einung zwischen Landgraf und Ständen und der Zusage, dass künftig keinem Regenten gehuldigt werden dürfe, der nicht zuvor diese Landesordnung beschworen habe, politischen Sprengstoff. Während Wilhelm und die thüringischen Stände damit offensichtlich die Eigenständigkeit der Landgrafschaft innerhalb des wettinischen Herrschaftsbereiches betonen und absichern wollten, so sah der Bruder des Landgrafen, Kurfürst Friedrich II. der Sanftmütige, in der mit der Landesordnung verbundenen Einung eine unzulässige Schmälerung seiner Rechte und die Gefahr einer Herauslösung Thüringens aus dem wettinischen Herrschaftsverband (Abb. 8). Dass Kurfürst Friedrich sich schließlich militärisch und politisch gegen seinen Bruder in Thüringen durchsetzen und dabei auch die wichtigsten thüringischen Grafen wieder auf seine Seite ziehen konnte, zeigt aber, wie stark die politischen Bindungen des thüringischen Adels an die Gesamtdynastie geworden waren.18 Ein bewusst als thüringisch verstandenes politisches Gegengewicht gegen den hegemonialen Herrschaftsanspruch der Dynastie hat sich offensichtlich bereits um die Mitte des 15. Jahrhunderts nicht mehr erfolgreich ausbilden können. Dies ist offensichtlich ein Ergebnis der seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts 18 Zur Landesordnung von Weißensee siehe Gerhard Müller, Die thüringische Landesordnung vom 9. Januar 1446, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 50 (1996), S. 9–35; Gerhard Lingelbach, Herzog Wilhelm III. von Sachsen – der Tapfere – und der Landtag zu Weißensee im Jahr 1446, in: Klaus Grupp/Ulrich Hufeld (Hg.), Recht, Kultur, Finanzen. Festschrift für Reinhard Mußgnug, Heidelberg 2005, S. 531–542. Zum sogenannten Sächsischen Bruderkrieg zwischen Kurfürst Friedrich dem Sanftmütigen und Landgraf Wilhelm dem Tapferen siehe zuletzt Rogge, Herrschaftsweitergabe (wie Anm. 11), S. 157– 212; Ders., Die Wettiner (wie Anm. 11), S. 159–163; Jürgen Schneider, Spätmittelalterlicher deutscher Niederadel. Ein landschaftlicher Vergleich (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 52), Stuttgart 2003, S. 504–519; Marcus von Salisch, Der Sächsische Bruderkrieg. Ein mittelalterlicher Konflikt im Spannungsfeld zwischen europäischer Dimension und persönlicher Fehde, in: Uwe Fiedler/Hendrik Thoss/Enno Bünz (Hg.), Des Himmels Fundgrube. Chemnitz und das sächsisch-böhmische Gebirge, Chemnitz 2012, S. 98–109.

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Abb. 7: Grabplatte Herzog Wilhelms III. des Tapferen aus der Franziskanerkirche Weimar, heute in St. Peter und Paul (Herder-Kirche) Weimar, Kupferstich aus dem 17. Jh.

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Abb. 8: Thüringische Landesordnung Herzog Wilhelms III., Weißensee 1446

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erkennbaren Tendenz der wettinischen Mark- und Landgrafen, den Adel und die Städte in Thüringen ihrer fürstlichen Oberherrschaft zu unterwerfen. Während die alte landgräfliche Gerichtsstätte Mittelhausen an Bedeutung verlor, kam dem Hofgericht des Fürsten eine wachsende Bedeutung zu. Wilhelm III. konnte bereits die Präsenz der Grafen an seinem Hof, den Besuch seiner Landtage und die Heerfolge einfordern. Aus dem alten thüringischen Adel gelang es nur den Schwarzburgern, sich diesem Druck zu entziehen. Auch der Einfluss des Fürsten auf die Kirchen und Klöster im Lande nahm zu, denn die wettinischen Landgrafen förderten im 15. Jahrhundert die Reformierung der Klöster und ließen ein landesherrliches Kirchenregiment entstehen, bei dem sie zusammen mit den kirchlichen und städtischen Obrigkeiten die Ordnung in allen geistlichen Institutionen im Lande überwachten.19 Zugleich entwickelte der wettinische Hof in Thüringen aber auch kulturelle Anziehungskraft. Die unter großer Anteilnahme des Adels gefeierte Hochzeit Wilhelms des Tapferen in Jena im Juni 1446 und das Gefolge des Herzogs auf seiner Pilgerreise nach Jerusalem 1461 lassen erkennen, welche Ausstrahlung der Hof auf den Adel hatte.20 Nach dem Tod Wilhelms des Tapferen 1482 und der nur drei Jahre währenden gemeinsamen Herrschaft Kurfürst Ernsts und seines Bruders Albrecht einigte man sich im Leipziger Vertrag 1485 auf eine erneute Teilung.21 Sie unterschied sich allerdings insofern grundsätzlich von allen vorherigen Tei19 Vgl. hierzu Enno Bünz/Werner Greiling/Uwe Schirmer (Hg.), Thüringische Klöster und Stifte in vor- und frühreformatorischer Zeit (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 6), Köln/Weimar/Wien 2017; Enno Bünz/Christoph Volkmar, Das landesherrliche Kirchenregiment in Sachsen vor der Reformation, in: Enno Bünz (Hg.), Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 5), Leipzig 2005, S. 89–109. 20 Zum Adel im wettinischen Einflussbereich siehe zuletzt die Beiträge in: Enno Bünz/Ulrike Höroldt/Christoph Volkmar (Hg.), Adelslandschaft Mitteldeutschland: Die Rolle des landsässigen Adels in der mitteldeutschen Geschichte (15.–18. Jahrhundert) (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 49), Leipzig 2016, hier die Beiträge von Enno Bünz/ Christoph Volkmar, Adelslandschaft Mitteldeutschland. Tendenzen und Perspektiven der Forschung, S. 111–148; Joachim Schneider, Adelslandschaft Mitteldeutschland – Adelslandschaften in Mitteldeutschland, S. 149–168; Uwe Schirmer, Die Einungen des thüringischen Hoch- und Niederadels von 1417, 1419 und 1423. Beispiele landständischer Gruppenbildung „von unten“?, S. 171–199. 21 Zur Leipziger Teilung siehe zuletzt André Thieme, Die Leipziger Teilung 1485, in: Der Sächsische Adel 45 (2017), S. 9–13; Ders., 1485 – Die Leipziger Teilung der wettinischen Lande, in: Reinhardt Eigenwill (Hg.), Zäsuren sächsischer Geschichte, Beucha 2010, S. 68–93; Mathias Kälble, Die Leipziger Teilung von 1485, in: Enno Bünz (Hg.), Geschichte der Stadt Leipzig, Band 1: Von den Anfängen bis zur Reformation, Leipzig 2015, S. 269–273.

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Abb. 9: Die Leipziger Teilung 1485

lungsvereinbarungen, als sie zum ersten Mal die Landgrafschaft und damit Thüringen in zwei Hälften zerschnitt. Bei der Teilung wurde nicht nur der landgräfliche Besitz auf die beiden Brüder verteilt, sondern auch die die thüringischen Grafen betreffenden Lehnsrechte. Die damit erstmals vollzogene Teilung Thüringens hat offenbar keinen Widerstand ausgelöst. Der Erfolg der Leipziger Teilung, die nachhaltig wirken sollte, da die beiden Linien des Hauses Sachsen nach 1485 bis in die Moderne fortbestanden und keine Neuverteilung ihrer jeweiligen Territorien erforderlich wurde, wirft weitreichende Fragen auf: Bestand im ausgehenden 15. Jahrhundert überhaupt noch ein thüringisches Landesbewusstsein? Oder ist das Erlöschen Thüringens als politischer Raum mit eigenem Gewicht dem Erfolg gesamtwettinischer Integrationspolitik zuzuschreiben? Offensichtlich hatte die Landgrafschaft Thüringen ihre Bindekraft im Verlauf des 15. Jahrhundert verloren. Der Leipziger Vertrag als innerwettinische Vereinbarung war ohne Beteiligung der Stände zustande gekommen. Allerdings lebte jenseits der dynastischen Weichenstellungen ein thüringisches Traditionsund Geschichtsbewusstsein in der Historiographie weiter. Darauf lässt die reiche, vor allem in Erfurt blühende Chronistik schließen, die ein nicht dynastisch geprägtes, sondern umfassenderes thüringisches Geschichtsbewusstsein widerspiegelt. Die deutschsprachigen Chroniken der Erfurter Hartung Kam-

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mermeister und Konrad Stolle wären hier ebenso zu nennen wie die Ordensund Klosterchronik des Erfurter Benediktiners Nikolaus von Siegen.22 Darüber hinaus existiert auch die Vorstellung von einer thüringischen Rechts­tradition weiter. Ein Zeugnis hierfür ist die Stellungnahme Graf Heinrichs XIX. von Stolberg im Jahre 1488, der sich im Konflikt mit dem wettinischen Herzog Albrecht um die stolbergischen Bergwerksrechte im Harz auf den Brauch im Lande Thüringen berief, nach dem eine Entscheidung nicht – wie durch den Herzog gefordert – vom wettinischen Hofgericht, sondern nur mittels schiedsrichterlicher Einigung durch standesgleiche Grafen des Landes möglich sei.23 Offenbar also empfanden die Zeitgenossen zunächst noch keinen Widerspruch zwischen der Leipziger Teilung und dem Fortbestehen Thüringens als einem durch gemeinsames Recht verbundenen Raum.

Resümee

Ich habe in meiner knappen Skizze zunächst versucht, die Bedeutung Thüringens für die Wettiner zu erläutern. Dabei wurde deutlich, dass die Landgrafschaft der von den Ludowingern übernommene Ordnungsrahmen war, innerhalb dessen die wettinischen Fürsten ihren Herrschaftsanspruch zwischen Werra und Saale, Harz und Thüringer Wald bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts durchsetzen konnten. Sowohl in den Phasen des Konflikts als auch im Zusammenwirken von Adel, Städten und Landgraf bezogen sich die politischen Akteure auf das Land Thüringen. Seit dem späten 14. Jahrhundert entwickelte sich Thüringen zu einem politischen Projekt der thüringischen Linie der Wettiner, die in diesem Raum das Ziel verfolgten, einen eigenen, von Eingriffsrechten ihrer in Meißen und im Osterland regierenden fürstlichen Brüder und Vettern unabhängigen Herrschaftsbereich zu etablieren. Allerdings scheiterten diese Ambitionen mit der Niederlage Herzog Wilhelms III. gegen seinen kur22 Franz X. Wegele (Hg.), Chronicon ecclesiasticum Nicolai de Siegen (Thüringische Geschichtsquellen, 2), Jena 1855; Robert Reiche (Hg.), Die Chronik Hartung Cammermeisters (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, 35), Halle 1896; Richard Thiele (Hg.), Memoriale. Thüringisch-Erfurtische Chronik von Konrad Stolle (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, 39), Halle 1900. Vgl. Enno Bünz, Neues zur Biographie des Chronisten Konrad Stolle (1436–1501), in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 56 (2000), S. 201–211. 23 Siehe hierzu Ernst Schubert, Die Harzgrafen im ausgehenden Mittelalter, in: Rogge/Schirmer, Hochadlige Herrschaft im mitteldeutschen Raum (wie Anm. 9), S. 13–115, hier S. 109.

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fürstlichen Bruder Friedrich II. noch vor der Mitte des 15. Jahrhunderts. Die thüringische Landgrafschaft blieb jedoch bis zum Tod Wilhelms 1482 und der Leipziger Teilung drei Jahre später als eigenes Herrschaftsgefüge innerhalb der wettinischen Territorien bestehen. Deutlich erkennbar ist dabei, dass der fürstliche Hof im 15. Jahrhundert seinen hegemonialen Druck auf den Adel und die Städte in Thüringen erheblich steigern konnte. Die politischen Akteure im Land begannen deshalb, sich am Fürsten und seinem Hof zu orientieren. Die Vorstellung, dass das Land Thüringen der gemeinsame Handlungsraum für Adel und Städte bildete, begann zu verblassen. Dies erklärt, warum die Teilung Thüringens in der Leipziger Teilung von 1485 auf keinen erkennbaren Widerstand traf. Parallel zur Beschreibung der politischen Entwicklungslinie habe ich versucht, die zeitgenössische Historiographie zu befragen. Dabei zeigte sich, dass sich in der Chronistik von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts ein nicht-dynastisch orientiertes, sondern ein auf das Land Thüringen gerichtetes Geschichtsbewusstsein entwickelte. Erst im späten 14. und im frühen 15. Jahrhundert entstanden im Umfeld des thüringischen Landgrafenhofes in Eisenach Geschichtswerke, die sich an der Dynastie orientierten und dem wettinischen Hof gewidmet waren. Mit der Leipziger Teilung 1485 erlosch die Landgrafschaft Thüringen als politischer Ordnungsrahmen, während die Chronistik das thüringische Geschichtsbewusstsein weiterleben ließ. Dies dürfte dazu beigetragen haben, dass der Landschaftsname Thüringen nie gänzlich unterging, während die alten Bezeichnungen für den wettinischen Herrschaftsraum östlich der Saale – Markgrafschaft Meißen und Osterland – dem Namen Sachsen, der von der fürstlichen Titulatur der sächsischen Herzöge und Kurfürsten abgeleitet war, nahezu vollständig weichen mussten.

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Literatur Ursula Braasch-Schwersmann/Christine Reinle/Ulrich Ritzerfeld (Hg.), Neugestaltung in der Mitte des Reiches. 750 Jahre Langsdorfer Verträge 1263/2013 (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte, 30), Marburg 2013. Nadine Hofmann, Herrschaftspraxis und Lehnsbeziehungen der Landgrafen von Thüringen 1382–1440 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 59), Wien/Köln 2022. Mathias Kälble, Wigand Gerstenberg und die Landgrafschaft Thüringen, in: Ursula Braasch-Schwersmann/Axel Halle (Hg.), Wigand Gerstenberg von Frankenberg 1457–1522. Die Bilder aus seinen Chroniken. Thüringen und Hessen. Stadt Frankenberg (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte, 23), Marburg 2007, S. 43–60. Ders., Reichsfürstin und Landesherrin. Die heilige Elisabeth und die Landgrafschaft Thüringen, in: Dieter Blume/Matthias Werner (Hg.), Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige, 2 Bde., Petersberg 2007, hier Aufsatzband S. 77–92. Ders., Die Wettiner in Thüringen (1247–1485). Karl Wencks „Geschichte der Landgrafen und der Wartburg“ im Spiegel der Forschung, in: Wartburg-Jahrbuch 2008, Regensburg 2010, S. 130–167. Holger Kunde/Stefan Tebruck/Helge Wittmann (Hg.), Der Weißenfelser Vertrag von 1249. Die Landgrafschaft Thüringen am Beginn des Spätmittelalters (Thüringen gestern & heute, 8), Erfurt 2000. Eckhart Leisering, Die Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete 1349–1382. Landesherrschaft zwischen Vormundschaft, gemeinschaftlicher Herrschaft und Teilung (Veröffentlichungen des Sächsischen Staatsarchivs, A, 8), Halle 2006. Jean-Marie Moeglin, Sentiment d’identité régionale et historiographie en Thuringe à la fin du Moyen Âge, in: Rainer Babel/Jean-Marie Moeglin (Hg.), Identité nationale et conscience régionale en France et en Allemagne du Moyen Âge à l’époque moderne (Beihefte der Francia, 39), Sigmaringen 1997, S. 325–363. Jörg Rogge, Herrschaftsweitergabe, Konfliktregelung und Familienorganisation im fürstlichen Hochadel. Das Beispiel der Wettiner von der Mitte des 13. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 49), Stuttgart 2002. Uwe Schirmer, Landstände im thüringisch-obersächsischen Raum (1231–1498). Ein Beitrag zur Geschichte des mitteldeutschen Hoch- und Niederadels (Jenaer Mediävistische Vorträge 8), Stuttgart 2021. Brigitte Streich, Zwischen Reiseherrschaft und Residenzbildung: Der wettinische Hof im späten Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen 101), Köln/Wien 1989.

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Stefan Tebruck, Pacem confirmare – iusticiam exhibere – per amiciciam concordare. Fürstliche Herrschaft und politische Integration: Heinrich der Erlauchte, Thüringen und der Weißenfelser Vertrag von 1249, in: Jörg Rogge/Uwe Schirmer (Hg.), Hochadlige Herrschaft im mitteldeutschen Raum (1200–1600). Formen – Legitimation – Repräsentation (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, 23), Leipzig/Stuttgart 2003, S. 243–303. Ders., Zwischen Integration und Selbstbehauptung. Thüringen im wettinischen Herrschaftsbereich, in: Werner Maleczek (Hg.), Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa (Vorträge und Forschungen, 63), Ostfildern 2005, S. 375–412. Ders., Landesherrschaft – Adliges Selbstverständnis – Höfische Kultur. Die Ludowinger in der Forschung, in: Wartburg-Jahrbuch 2008, Regensburg 2010, S. 30–77. Ders., Die Entstehung der Landgrafschaft Hessen (1122–1308), in: Holger Th. Gräf/ Alexander Jendorff (Hg.), Handbuch der hessischen Geschichte 6: Die Landgrafschaften, ca. 1100–1803/06 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 63/6), Marburg 2022, S. 15–91. Matthias Werner, Die Anfänge eines Landesbewußtseins in Thüringen, in: Michael Gockel (Hg.), Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, Marburg/Lahn 1992, S. 81– 137. Ders., „Ich bin ein Durenc“. Vom Umgang mit der eigenen Geschichte im mittelalterlichen Thüringen, in: Ders. (Hg.), Identität und Geschichte (Jenaer Beiträge zur Geschichte 1), Weimar 1997, S. 79–104. Ders., Thüringen und die Thüringer zwischen Völkerwanderungszeit und Reformation. Die mittelalterlichen Grundlagen von Vielfalt und Einheit in der thüringischen Geschichte, in: Vom Königreich der Thüringer zum Freistaat Thüringen. Texte einer Vortragsreihe zu den Grundzügen thüringischer Geschichte, hg. vom Thüringer Landtag und der Historischen Kommission für Thüringen, Erfurt 1999, S. 11–42. Ders., Thüringen im Mittelalter. Ergebnisse – Aufgaben – Perspektiven, in: Ders. (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 13), Köln/Weimar/Wien 2005, S. 275–341. Ders. (Hg.), Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland (Vorträge und Forschungen, 61), Ostfildern 2005.

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Was ist thüringisch an der mittelalterlichen Literatur Thüringens? 1. Josef Nadler oder Von den Schwierigkeiten regionaler Literaturgeschichtsschreibung

Wilhelm Scherer eröffnet das 2. Kapitel seiner 1883 erschienenen und in der Folge vielfach nachgedruckten und neu aufgelegten Literaturgeschichte mit der These, dass es nicht zwei Blüteperioden unserer Literatur gegeben habe, wie allgemein angenommen, sondern wohl drei: um 600, um 1200 und um 1800. Im Abstand von sechs Jahrhunderten, so meint er, gleiche die deutsche Literatur einem Wellenberg, und bei den dazwischenliegenden Wellentälern, dem 10. und dem 16. Jahrhundert, handele es sich um Phasen, in denen sie als Agitationsmittel oder „rohester Unterhaltung“ gedient habe. Das ist die berühmte, eher berüchtigte Wellentheorie des führenden Germanisten im Deutschen Kaiserreich von 1871.1 Ihren Hintergrund bilden die triumphalen Erfolge der damaligen Naturwissenschaften, in deren Methodik Scherer das Vorbild zeitgemäßen geisteswissenschaftlichen Arbeitens sah. Über die von ihm auf dem Weg der historischen Analogiebildung erschlossene Hoch-Zeit der literarischen Entwicklung um 600 ist nicht viel zu sagen: Weder gab es zu diesem Zeitpunkt bereits eine deutsche Sprache noch eine deutsche Literatur, was Scherer weiß, weshalb er denn auf den altenglischen ‚Beowulf‘ ausweicht, den man heute freilich deutlich später datiert. Spätestens wenn man bei weiterer Lektüre auf den Begriff „germanisches Nationalepos“ stößt, wird vollends klar, dass wir es hier mit Spekulation und Konstruktion, nicht mit Deskription zu tun haben. Warum dann die Erinnerung an ein allenfalls noch wissenschaftsgeschichtlich belangvolles Modell? Weil auch heutige Literarhistoriker betonen, dass die deutsche Literatur um 1200 und um 1800 eine besondere Höhe erreicht habe; gemeint sind die ehedem als „mittelhochdeutsche Blütezeit“ bekannte höfische Klassik und die früher „Goethezeit“ genannte Weimarer Klassik. Auch wenn 1 Vgl. Wilhelm Scherer, Geschichte der Deutschen Literatur, Berlin 1883, S. 18 f. Dazu Wolfgang Höppner, Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte“ im Werk Wilhelm Scherers. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik (Europäische Kulturstudien, 5), Köln/Weimar/Wien 1993, S. 35–58; Rainer Rosenberg, Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung (Literatur und Gesellschaft), Berlin 1981, S. 101–127.

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Scherers Wellentheorie kaum mehr als eine phantasievolle Komposition darstellt, liegt es in unserem Fall doch nahe, von ihr ausgehend nach möglichen Parallelen zu fragen zwischen dem literarischen Geschehen im Umkreis des Hofs von Sachsen-Weimar-Eisenach unter Anna Amalia († 1807) und Carl August (1775–1828), mit dem die meisten wohl unwillkürlich das als ‚Tafelrunde‘ bekannte Aquarell ‚Abendgesellschaft bei Herzogin Anna Amalia‘ (1795) des Weimarer Malers Georg Melchior Kraus assoziieren werden (Abb.  1), und den mittelalterlichen Dichtern am Landgrafenhof, die infolge der Visualisierung der Sängerkrieg-Überlieferung durch das große Fresko, das Moritz von Schwind 1854/56 für den sog. Sängersaal der Wartburg schuf, ihren Platz im Gedächtnis der Nachwelt erhielten. Wer nun meinen sollte, dass Musenhof-Vorstellungen heute obsolet seien, wird sich getäuscht sehen. Der verdienstvolle Hallenser Altgermanist Manfred Lemmer rechnete die „Residenz der Ludowinger“ – wie er sich ausdrückte – „zu den bedeutendsten Musensitzen“ ihrer Zeit, und in Dieter Borchmeyers souveräner Darstellung der Weimarer Klassik erscheint zumindest noch der Begriff ‚Musenhof‘ in Anführungszeichen.2 Für die Darstellung einer Literaturregion sind nun mindestens ebenso wichtig wie Fragen der Periodisierung solche der räumlichen Systematik. Der erste, der das Konzept einer regionalen Literaturgeschichte zur Grundlage einer umfassenden Darstellung machte, war Josef Nadler. Zwischen 1912 und 1928 erschien in vier Bänden seine ‚Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften‘, die keine geringe Aufmerksamkeit erregte. Wenn ihr Verfasser 1945 als Nationalsozialist eingestuft und seines Wiener Lehramts enthoben wurde, so nicht zuletzt dieser Literaturgeschichte wegen. Seit 1938 hatte er sie in einer tendenziösen Umarbeitung, die der Rassenideologie der Nationalsozialisten erhebliche Zugeständnisse machte, als ‚Literaturgeschichte des deutschen Volkes‘ vorgelegt. Ihr letzter Band mündete in eine Apotheose des neuen „Reichs“, aber schon in den vorangehenden Bänden wimmelt es von Schlagworten wie volkhaft-germanisch, rassisch-nordisch und fremdrassisch, von nordischen Urkräften des deutschen Volkes, Volkskörper und Volkheit, von Blut und Lebensraum. Nadlers ursprüngliches Konzept war freilich ein 2 Manfred Lemmer, „der Dürnge bluome schînet dur den snê“. Thüringen und die deutsche Literatur des hohen Mittelalters, Eisenach 1981, S. 5; Dieter Borchmeyer, Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche, Weinheim 1994, S. 84. Am Anfang steht Wilhelm Bode, Der Musenhof der Herzogin Amalie, Berlin 1908, und Ders., Der weimarische Musenhof, 1756–1781. Mit zahlreichen Abbildungen, Berlin 1917.

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Abb. 1: Georg Melchior Kraus, „Abendgesellschaft bei Herzogin Anna Amalia“, Aquarell, 1795

anderes. Er suchte nach einer vermittelnden Größe zwischen dem dichterischen Individuum auf der einen und der Nation auf der anderen Seite, und diese meinte er in dem Kollektivmythos Stamm und dessen Lebensraum, der Landschaft, gefunden zu haben. Das war etwas anderes als der Rassenbegriff der Nationalsozialisten, doch hatte er sich diesen bereits vor dem Anschluss Österreichs anzunähern begonnen, was schon an der Ersetzung des Begriffs „Stamm“ durch den Begriff „Volk“ im Titel seiner Darstellung ablesbar ist. Um diese Wandlungsfähigkeit Nadlers muss man wissen, will man die Worte seines Wiener Nachfolgers Alfred Ebenbauer verstehen: „‚Heimat‘ klingt nach ‚Heimat und Rasse‘, nach ‚Blut und Boden‘.“3 Wenn regionale Literaturbetrachtung nach 1945 lange ein Tabu war, so Nadlers wegen. Nadlers nur wenige Seiten füllendes Kapitel über das mittelalterliche Thüringen ist kaum brauchbar, da er es an philologischer Sorgfalt mangeln und sich von seinem stammeskundlichen Ansatz immer wieder zu haltlosen Spe3 Alfred Ebenbauer, Dichtung und Raum. Kritische Gedanken zu einer mittelalterlichen ‚Literaturgeographie‘, in: Hartmut Kugler (Hg.), Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, Berlin/New York 1995, S. 23–43, hier S. 41.

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kulationen verleiten lässt. So vermutet er etwa, Wolfram von Eschenbach habe sich „vielleicht unter dem unbewußten Drange der Stammesgleichheit“ zu Heinrich von Veldeke bekannt. Sein Bestreben ging offenbar dahin, alle großen Autoren von Wolfram über Luther bis Goethe zu Franken zu erklären. Was er über die stammesmäßige Eigenart der Dichter zu sagen weiß, ist in der Regel forciert, nicht selten auch abwegig. Den ludowingischen Territorialbesitz in Hessen, Thüringen und der Pfalzgrafschaft Sachsen deutet er um zur Vereinigung der Trümmer dreier deutscher Stämme: fränkischer Hessen, swebischer Thüringer und Sachsen, ohne dass dies für seine Interpretationen eine Rolle spielte. Methodischer Anspruch und praktische Ausführung klaffen also auseinander. Nadler scheut auch nicht vor Ad-hoc-Erklärungen zurück, wenn er etwa das Interesse Landgraf Hermanns I. von Thüringen (1190–1217) am Dichter Ovid damit erklärt, er habe die Frauenfreude seiner Ahnen geerbt. Über den Limburger Veldeke kann man lesen: „Ein prächtiger Aristokrat, niederländisch schwerer als die Pfälzer und Schwaben, und aus härterem Holze.“ Und über den Sachsen Albrecht von Halberstadt heißt es: „Keiner aus der Schule Veldekes stand so dankbar an den reinsten Quellen des Volkstums. Die heimische Landschaft duftet durch sein Gedicht; sie ist ihm wert und lockt ihm lyrische Töne ab.“4 Stets erscheinen die Akteure der Literaturgeschichte als Repräsentanten ihres Herkunftsraums, als Ostfranke, Hesse, Thüringer, Sachse. Nadlers Thüringen-Begriff hat weder eine landschaftliche noch eine politische Dimension, er ist eine ahistorische, überzeitlich-unveränderliche Größe; nicht einmal am Horizont taucht der Gedanke auf, dass die Identität von Menschengruppen, seien sie ethnisch, geographisch, sozial oder politisch definiert, 4 Vgl. Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 1–4, Regensburg 1912–1928. Die drei Zitate: Bd. 1, S. 76, 78 f. Die Umarbeitung erschien als 4. Aufl. unter dem Titel: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 1–4, Berlin 1938–1941. Vgl. Irene Ranzmaier, Stamm und Landschaft. Josef Nadlers Konzeption der deutschen Literaturgeschichte (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Sprachgeschichte, 282), Berlin/New York 2008. 1938 legte der aus Schleswig stammende, seit 1895 in Weimar lebende Schriftsteller und Publizist Adolf Bartels, ein Anhänger des Rassenprinzips und manischer Antisemit, den ersten Band einer ‚Geschichte der thüringischen Literatur‘ vor. Das wenige Seiten füllende Mittelalter-Kapitel ist wissenschaftlich wertlos, da es lediglich einen Auszug aus Karl Goedekes ‚Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung‘, dem bibliographischen Grundlagenwerk der deutschen Literaturgeschichte aus dem 19. Jahrhundert, bietet. Zwar rühmt Bartels die „gewaltige“ Leistung Nadlers, doch kann er ihn kaum gründlich gelesen haben, porträtiert er doch z. B. den von Nadler zu den großen Franken gerechneten Wolfram von Eschenbach als geborenen Bayern.

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historisch veränderlich sein könnte. Man kann Nadler breite Kenntnisse und einen Überblick über die Gesamtentwicklung der deutschen Literatur, der ihm die Herstellung größerer Zusammenhänge erlaubt, nicht absprechen. Doch sein episch breiter, mit Bildern überfrachteter Stil ist heute nur noch schwer genießbar, sein Reden etwa von der Freude am Singvogel und am Gesang der eigenen Kehle, die nirgends größer sei als in Thüringen, oder vom Deutschen, der in Thüringen immer bei seinem innersten Selbst zu Gast gewesen sei, ohne sich mit dem verfeinden zu lassen, was er draußen in der Welt sollte. Nadler ist wie Scherer ein Kapitel Wissenschafts- und Methodengeschichte. Wie aber könnte eine regional orientierte Geschichte vormoderner Literatur heute aussehen? Der Status einer Literaturgeographie ist unsicher, ablesbar schon an den Anführungszeichen, in denen sie gern genannt wird, jedenfalls nicht zu vergleichen mit einer etablierten Disziplin wie der Landesgeschichte oder auch der Regionalgeschichte.5 Dass auch die Koordinaten des Raums das Leben des Menschen, seine Kultur und Identität bestimmen, dürfte fraglos sein, doch scheinen die räumlichen Faktoren von Identität sich weniger leicht bestimmen zu lassen. Bei der Frage nach der Literatur einer Region geht es natürlich nicht um die geographische Herkunft der Autoren, obwohl man gelegentlich auch Büchern solchen Zuschnitts begegnet. So erklärt Hans F. Nöhbauer, seine bairische Literaturgeschichte sei „bairischen Dichtern reserviert, die in Baiern schrieben“.6 Um den Stellenwert der geographischen Herkunft richtig beurteilen zu können, muss man sich nur fragen, worin das Wesen eines bairischen Dichters bestehen könnte oder ob die Brüder Schlegel wesensmäßig zu Sachsen gehörten. Man könnte auch an einen Gegenwartsautor denken, etwa an den aus Unterkärnten stammenden, aber seit vielen Jahren in Frankreich lebenden und schreibenden Peter Handke. Noch 1971 hat der Grazer Germanist Alfred Kracher Walther von der Vogelweide als Österreicher gedeutet und mit dem siebenhundert Jahre jüngeren Wiener Dichter Josef Weinheber verglichen. Das Problem, um das es hier geht, hat der österreichische Schriftsteller Herbert Eisenreich in die Frage gekleidet: Ist Österreichs Literatur eine österreichische Literatur? 5 Vgl. Matthias Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 13), Köln/Weimar/Wien 2005, bes. die Beiträge von Stefan Gerber (S. 1–22), Klaus Neitmann (S. 235–274) und Georg Schmidt (S. 343–376). 6 Hans F. Nöhbauer, Kleine bairische Literaturgeschichte, München 1984, S. 10. Dieses Postulat hinderte den Autor allerdings nicht daran, S. 70–78 den „Österreicher“ Walther von der Vogelweide zu behandeln.

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Die derzeit maßgebliche, von Joachim Heinzle herausgegebene Literaturgeschichte beruht auf dem Konzept der literarischen Interessenbildung, das sich letztlich der Sozialgeschichte verdanken dürfte. Die mittelalterliche Literatur wird nicht chronologisch oder nach Autoren oder Gattungen oder Landschaften oder in Verbindung dieser Raster behandelt, sondern in einem zweifachen Durchlauf. Der erste beschreibt die Orte, besser wohl die Instanzen der literarischen Interessenbildung, die außerliterarischen Kräfte und Motivationen, die Literatur entstehen ließen, z. B. Kloster, Laienfürsten, Frömmigkeit der Bettelorden. In einem zweiten Durchlauf werden die Texte unter dem Aspekt ihrer Formenbildung gemustert. Stärken und Schwächen dieses Modells sind hier nicht zu erörtern, der Umstand etwa, dass der doppelte Durchgang zu Redundanzen führt, oder der, dass wir die lebensweltliche Einbettung der Texte oft nicht kennen – man denke nur an ein klassisches Werk wie den ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. In unserem Zusammenhang ist Heinzles Literaturbegriff von Interesse, auf den noch einzugehen sein wird.

2. Mittelalterliche Literatur in Thüringen systematisch: Zeit, Raum, Sprache, Überlieferung

Wenn wir uns nun der mittelalterlichen Literatur Thüringens zuwenden, gilt es zunächst, ihre räumlich-zeitlichen, sprachlichen und überlieferungsgeschichtlichen Dimensionen zu bestimmen. Die verfassungsrechtlichen Grenzen und die Besiedlung Thüringens müssen uns hier nicht beschäftigen, noch weniger das 531/34 untergegangene Thüringerreich, da von ihm keine direkten sprachlichen und literarischen Verbindungslinien ins Mittelalter führen. Doch war für die Literaturgeschichte offenbar nicht ganz belanglos, dass sich die politischen Grenzen mit dem Gewinn der an Thüringen nördlich angrenzenden Pfalzgrafschaft Sachsen 1180 veränderten, und Ähnliches gilt für die ludowingischen Besitzungen in Hessen, die nach dem Übergang der Herrschaft an die Wettiner im 13. Jahrhundert wegfielen. Der Vergleich des literarischen Geschehens um 1200 und im späteren 13. Jahrhundert legt die Annahme nahe, dass die Umrisse der literarischen Landschaft mit den politischen Landesgrenzen zumindest korrespondierten. Die Sprache Deutsch ist seit dem 8. Jahrhundert fassbar. Das vorausliegende Spätgermanische/Voralthochdeutsche gehört nicht zu unserem Thema, ebenso wenig die Funde runischer Inschriften aus dem 6. Jahrhundert in Thüringen. Auch das Althochdeutsche ist hier nur der Vollständigkeit halber zu erwähnen, denn unter den althochdeutschen Schreiborten gibt es keinen in Thüringen.

Was ist thüringisch an der mittelalterlichen Literatur Thüringens? 

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Die Zentren der Schriftlichkeit lagen ausnahmslos im Süden und im Westen, von Mon(d)see und Freising über St. Gallen, die Reichenau und Murbach bis Fulda, Trier und Echternach. Kulturelle Zentren, wie sie mit den Reichsabteien Fulda und Hersfeld im benachbarten Hessen existierten, fehlten damals in Thüringen. Das Thüringische gehört wohl sprachhistorisch und -geographisch zu den althochdeutschen Stammesdialekten, ist aber bis zum 11. Jahrhundert nur durch einige Namen bezeugt, während die Überlieferung von Texten erst in mittelhochdeutscher Zeit einsetzt. Damit erweist sich Thüringen als eine Literaturlandschaft mittleren Alters, die sich später konstituierte als die Bayerns, Frankens und des Rheinlands, aber früher als die Böhmens und Pommerns. Die Überlieferung kann nun mehr oder weniger lückenhaft sein und sie sagt nur bedingt etwas über die Genese eines Werks oder einer Gattung. Wir datieren, um ein einfaches Beispiel zu nennen, die ältesten bekannten Minnesangstrophen um 1150/60, kennen sie aber nur aus Handschriften, die erst ein reichliches Jahrhundert später einsetzen. Volkssprachige Liebeslyrik gab es wahrscheinlich schon um das Jahr 1000; sie wurde gesungen, aber nicht verschriftlicht. ‚Literatur‘ meint im strengen Sinn das ‚in litteris‘, in Buchstaben, Geschriebene. Nun gab es Dichtung, die nie aufgezeichnet wurde und dies auch nicht musste, da sie in der Mündlichkeit lebte. Die Nibelungensage etwa wurde jahrhundertelang mündlich tradiert und war doch stets präsent, wie, um wiederum ein bekanntes Beispiel zu geben, der beiläufige Hinweis des Saxo Grammaticus auf Kriemhilds Verrat in den ‚Gesta Danorum‘ (XIII,6,7) zeigt. Aufs Pergament gelangte sie erst um 1200. Ob Thüringen einen Beitrag zur germanisch-deutschen Heldensage und -dichtung geleistet hat, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Seit dem späten 6. Jahrhundert überliefern fränkische Geschichtsschreiber (Gregor von Tours), später auch sächsische (Widukind von Corvey) eine um die Gestalt des Dienstmannen Iring zentrierte Erzählung vom Untergang des Thüringerreichs, der die Heldensagenforschung seit den Brüdern Grimm den Status der Heldensage zuerkennt. Was wir jedoch nicht besitzen, ist ein heroisches Lied, in dem diese Sage poetische Gestaltung gefunden hätte, was den Germanisten Felix Genzmer indes nicht abhielt, 1937 eine neuhochdeutsche Rekonstruktion in stabenden Langzeilen vorzulegen. Ein solches Heldenlied hat wahrscheinlich existiert, dürfte aber durch die Wechselfälle der Überlieferung verlorengegangen sein.7 Da nun nicht jede Heldensage zum Lied taugte oder ihren 7 Vgl. Hilkert Weddige, Heldensage und Stammessage. Iring und der Untergang des Thüringerreiches in Historiographie und heroischer Dichtung (Hermaea, N. F. 61), Tübingen 1989.

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Dichter fand, ist auch nicht gänzlich auszuschließen, dass es ein ‚Iringlied‘ nie gegeben hat und dass die Sage von Iring und seinem König nur durch die Historiographie tradiert wurde. Doch erscheint Iring im späteren 12. Jahrhundert überraschend, wenngleich historisch verfremdet, im zweiten Teil des ‚Nibelungenlieds‘. Hier tritt er gegen Hagen an und findet im Kampf gegen ihn den Tod (35. Aventiure; Abb. 2). Die Erzählung von Irings Verrat konnte den Angehörigen der thüringischen gens eine Erklärung für den Untergang ihres Reichs 531/34 liefern: Der Konflikt zwischen Franken und Thüringern erwuchs aus einem Familienzwist, ausgelöst durch eine Königin aus fränkischem Haus (tatsächlich aus ostgotischem), eine hochmütige und grausame Frau, und Herminafrid, die eigentliche tragische Gestalt des Geschehens, fiel einem Verrat zum Opfer. Der Frankenkönig stiftete Unheil und empfing am Ende den verdienten Lohn. Je nach methodischer Position kann man die Iring-Erzählung nun zur „Heldensage vor und außerhalb der Dichtung“ (Hans Kuhn) rechnen oder zur „verlorenen Heldensage“ (Hermann Schneider). Als die Benediktiner im 8. Jahrhundert in Bayern und am Bodensee Deutsch zu schreiben begannen, benutzten sie dafür das lateinische Alphabet. Am Anfang stehen Einzelwörter, die sog. althochdeutschen Glossen, als Übersetzungshilfen für das Latein, über der Zeile oder am Seitenrand niedergeschrieben oder bei erneuter Abschrift auch in die Zeile integriert. Glossiert wurden Evangelien und Altes Testament, Klassiker wie Vergil, christliche Autoren wie Prudentius und Sedulius, Kirchenschriftsteller wie Hieronymus und Isidor von Sevilla, Ländernamen, Körperteilbezeichnungen und anderes. Damit sind wir bei dem Verhältnis von Latein und Deutsch: Systematisch unterscheiden können wir lateinische Texte und volkssprachige Texte, hinzu kommen einige Texte in lateinischer Sprachmischung, oft, aber nicht immer in satirischer Absicht. Ein Beispiel ist das Zeitlied ‚De Heinrico‘ aus der Zeit um 1000, das die ältere Forschung aus sprachlichen Gründen in Thüringen lokalisierte, das man heute jedoch zumeist im Nordrheinfränkischen verortet. Nicht zu vergessen sind zweisprachige Œuvres wie etwa das Meister Eckharts. Latein und Volkssprache repräsentieren verschiedene, wenngleich miteinander interferierende kulturelle Welten: die schriftlich lateinische der Kleriker und die mündlich volkssprachige der Laien. Die althochdeutschen Glossen waren hier nur zu erwähnen, um die Priorität von Einzelwörtern bzw. Glossaren vor zusammenhängenden Texten zu verdeutlichen. Wenn sich heute in thüringischen Bibliotheken, z. B. in der Universitätsbibliothek Erfurt, Sammelhandschriften finden, die auch althochdeutsche Glossen enthalten, so ist nach dem oben über die althochdeutschen

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Abb. 2: Iring im Kampf mit Hagen. Illustration zur 35. Aventiure des ‚Nibelungenlieds‘. Papierhandschrift mit kolorierten Federzeichnungen, um 1440

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Schreiborte Gesagten klar, dass jene Handschriften nicht in Thüringen entstanden sind. Noch ältere volkssprachige Wörter, mit denen wir mindestens bis in das frühe Mittelalter zurückgelangen, finden sich gelegentlich in den lateinischen Leges barbarorum, den Volks- oder Stammesrechten, darunter dem der Thüringer. Das illustriert ein Beispiel aus der ‚Lex Thuringorum‘, die wahrscheinlich 802/03 auf Geheiß Karls des Großen aufgezeichnet wurde: Titulus 23 lautet Wlitivam L solidis conponat vel cum VI iuret (übersetzt: „Wlitivam büße man mit 50 Schillingen oder schwöre mit 6.“). Rätselhaft bleibt das Legeswort wlitivam. Es bezeichnet die bleibende und sichtbare Verunstaltung eines Körperteils, hier des Gesichts, also ‚Antlitzverunstaltung‘ (das erste Glied des Wortes noch in neuhochdeutsch Ant-litz). Wlitivam ist kein lateinisches Wort, sondern ein nordseegermanisches Rechtswort, das in angelsächsischen und friesischen Rechtsdenkmälern, auch in der ‚Lex Saxonum‘, belegt ist, aus der es wahrscheinlich in die ‚Lex Thuringorum‘ übernommen wurde. Wir können festhalten: Deutsche Schriftdenkmäler oder genauer Handschriften in mitteldeutscher Schreibsprache sind in Thüringen nicht vor der Wende des 12. zum 13. Jahrhundert zu greifen. Die Überlieferungslage thüringischer Handschriften aus früherer Zeit ist schlecht. Doch das heißt nicht, dass es sie nicht gegeben hätte. Denn in den literarisch interessierten Kreisen des Landgrafenhofs müssen deutschsprachige Bücher vorhanden gewesen sein, wie sich an Veldekes Eneasroman zeigen lässt, der um 1185 in der Pfalzgrafschaft Sachsen zum Abschluss gelangte und abgeschrieben wurde.8 Die entscheidende Frage lautet nun: Wann kann ein Autor für eine bestimmte Region in Anspruch genommen werden? Regionale Darstellungen neigen offenbar dazu, im Interesse einer eindrucksvollen Bilanz möglichst viele klangvolle Namen aufzulisten. So nennt eine Arbeit über den Beitrag Mecklenburgs zur deutschen Nationalliteratur als größten Genius, den das Land und die Stadt Rostock je beherbergten, Ulrich von Hutten.9 Die Stammburg des fränkischen Reichsritters lag zwischen Spessart, Rhön und Vogelsberg, und wenn er im Winter 1510 die Universität Greifswald mit der in Rostock vertauschte, so mit der Absicht, sich der Begleichung drückender Schulden zu entziehen. Er studierte auch in Mainz, Köln, Erfurt, Frankfurt an der Oder und Leipzig, in Wittenberg, Wien und Bologna, und man muss kaum aussprechen, 8 Vgl. Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache, 1. Textband, Wiesbaden 1987, S. 69. 9 Vgl. Karl Lorenz, Der Anteil Mecklenburgs an der deutschen Nationalliteratur von den Anfängen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, Rostock 1893, S. 15.

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dass die lateinischen Loetze-Klagen, die poetische Frucht seines Aufenthalts an der Ostseeküste, keinen Beitrag zur deutschen Nationalliteratur darstellen. Doch bleiben wir in Thüringen: Im einschlägigen Kapitel der Geschichte Thüringens von Hans Patze und Walter Schlesinger kann man von thüringischen Heldenliedern lesen, obwohl sich – wie wir sahen – mit dem ‚Iringlied‘ allenfalls eines postulieren ließe. Welche Kriterien gibt es nun für eine Literaturgeschichte der Region? Eine neugermanistische Studie nennt deren zwei: Zum einen Autoren, die einer bestimmten Region entstammen, zum anderen die Wirkung, die in einer Region ansässige oder tätige Autoren ausüben. Damit ist, um es kurz zu machen, im Mittelalter wenig anzufangen. Wir kennen die Autoren oft nicht, können sie bestenfalls sprachlich eingrenzen, und nicht wenige von ihnen waren sehr mobil. Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob, ist in Breslau, Prag und Kärnten bezeugt, aber auch in Rostock und Dänemark, sein Zeitgenosse Meister Eckhart wirkte in Erfurt, in Paris und am Oberrhein.

3. Goldenes und Silbernes Zeitalter. Höfische Klassik und Nachklassik in Thüringen

Die ersten Jahrzehnte des seit 1200 gut überschaubaren literarischen Geschehens in Thüringen sind zugleich die bedeutendsten, die Zeit der höfischen Klassik. Dass Landgraf Hermann I. seinen Hof zu einem Mittelpunkt der höfischen Dichtung machte, wird von Germanisten und Historikern gleichermaßen anerkannt.10 Mit dem Minnesänger Hug von Salza, der 1174 urkundlich bezeugt ist, gelangte man vielleicht noch in die Zeit Landgraf Ludwigs II. (1140–1172), doch ist von ihm keine Zeile überliefert. In dieselbe Zeit gehört die ‚Tugendlehre‘ des Heiligenstädter Kaplans Wernher von Elmendorf, deren Verbindung mit dem Landgrafenhof jedoch nicht zu beweisen ist. Am Anfang des Literaturbetriebs steht für uns Heinrich von Veldeke, der im Auftrag des damaligen Pfalzgrafen Hermann (seit 1181) seinen epochemachenden Roman über den Trojaner Aeneas abschloss. Die Geschichte des vorangegangenen Bücherdiebstahls ist oft erzählt worden, ohne restlos verständlich zu sein. War es wirklich ein Ludowinger, der aus Literaturleidenschaft zum Dieb wurde? Man 10 Vgl. Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300, München 1979, S. 159–168; Ders., Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1986, S. 662; Ders., Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 1990, S. 16. Ähnlich Wolfgang Stürner, Dreizehntes Jahrhundert. 1198–1273 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 6), Stuttgart 102007, S. 149.

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hat neuerdings vermutet, das Ganze sei reine Fiktion, literarisches Spiel, doch ich bezweifle, dass man mit dem Namen Hermanns und denen der anderen Mitglieder der landgräflichen Familie sein literarisches Spiel treiben konnte. Ein Jahrzehnt später entstand im Auftrag Hermanns, der seit 1190 als Landgraf regierte, mit dem Trojaroman Herborts von Fritzlar ein zweiter Antikenroman, der die Vorgeschichte zu den Taten des Aeneas lieferte. Wo der Fritzlarer Kleriker arbeitete, wissen wir nicht. Hermanns besonderes Interesse galt offenbar historischen Themen und Stoffen, weniger der damals beliebten Artus-Thematik. Kurz vor der Jahrhundertwende schuf der Sachse Albrecht von Halberstadt, wiederum in Hermanns Auftrag, ein erstaunliches Werk, insofern er die berühmten ‚Metamorphosen‘ Ovids direkt, also ohne den Umweg über eine französische Vorlage in mittelhochdeutsche Reimpaarverse umsetzte. Sein Gedicht ist bis auf ein paar Fragmente verloren, aber in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts hat es der elsässische Autor Jörg Wickram für seine Zeit bearbeitet und in den Druck gegeben. Ihm lag also eine vollständige Handschrift vor. Die schlechte Überlieferung Albrechts erklärt man damit, dass sein Publikum keinen rechten Zugang zur Mythologie des römischen Dichters gefunden habe. Mit Hermanns Interessen darf man vielleicht auch den antikisierenden Roman ‚Athis und Prophilias‘ verbinden, der ebenfalls nur fragmentarisch erhalten ist. Er weist sprachlich nach Westen, ähnlich wie die Bruchstücke des Minne- und Abenteuerromans ‚Graf Rudolf‘. Denkt man noch an Herbort von Fritzlar, scheinen sich hier Umrisse einer thüringisch-hessischen Literaturlandschaft abzuzeichnen. Da 1162 in einem Brief Ludwigs II. davon die Rede ist, er beabsichtige seine Söhne nacheinander zur Ausbildung nach Paris zu senden, hat man seit dem 19. Jahrhundert wiederholt erwogen, dass Hermann dort seine Ausbildung erfahren haben könnte. Heute gilt diese Annahme als „germanistische Legende“, ohne dass damit schon das letzte Wort in dieser Frage gesprochen sein muss. Nächst dem Wiener Hof war der Landgrafenhof ein Zentrum der höfischen Liebeslyrik. Da Minnelieder fast nie über sich hinaus auf Außerliterarisches weisen, sind sie kaum einmal datierbar. Es wäre daher müßig, darüber zu streiten, ob Heinrich von Veldeke in Thüringen auch als Lyriker hervorgetreten sei. Näher situierbare Lieder sind die Ausnahme. Eine solche ist das „Vokalspiel“ Walthers von der Vogelweide, das Lied ‚Diu welt was gelf, rôt unde blâ‘  (L 75,25), eine Klage über die Abwesenheit von Liebesfreuden im Winter. Jede Strophe endet auf je einen Vokal: die erste auf „a“, die zweite auf „e“ usw. Der Sänger schließt mit dem Bekenntnis, ehe er die Entbehrungen des Winters noch

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länger ertrüge, wäre er lieber Mönch zu Toberlû.11 Gemeint ist das 1165 gegründete und mit Mönchen aus dem thüringischen Volkenroda besetzte Zisterzienserkloster Dobrilugk (heute Doberlug-Kirchhain), das fern von den Zentren der wettinischen Herrschaft in einer unwirtlichen Gegend der Niederlausitz gelegen war. Diese Pointe war in Meißen verständlich, in Wien oder Köln sicher nicht. Der meißnische Markgraf Dietrich der Bedrängte (1198–1221) nun war mit einer Tochter des Landgrafen Hermann I. von Thüringen verheiratet. Beide Fürsten erscheinen zusammen in den Urkunden und engere Beziehungen zwischen ihren Höfen sind wahrscheinlich, zumal wenn man die Mobilität der damaligen Herrschaftspraxis bedenkt, die übrigens ein Argument gegen die Vorstellung starr gegeneinander abgegrenzter Literaturregionen liefert. Walthers Vokalspiel wird nicht nur in Meißen erklungen sein. Markgraf Dietrich war der Gönner des aus Nordthüringen stammenden Lyrikers Heinrich von Morungen, der zu den klassischen Vertretern der Gattung zählt. Seine Wirkung zeigt sich noch um die Mitte des 14. Jahrhunderts in der Lieder- und Gedichtsammlung des aus der Eisenacher Gegend stammenden kurtrierischen Offizials Rudolf Losse. Walther kannte die Lieder des Älteren. Sein Lied ‚Ich bin nû sô rehte vrô‘ (L 118,24) enthält auffällige Morungen-Bezüge. Walther führt den poetischen Stil des anderen vor, der sich vornehmlich als unglücklich Liebender inszeniert hat, und zeigt, dass auch er diesen Stil beherrsche. Die letzte Strophe macht die parodistische Absicht seines Liedes deutlich, wenn der andere sich ratsuchend an ihn als Experten der erfüllten Liebe wendet: Hœra Walther, wie ez mir stât, / mîn trûtgeselle von der Vogelweide. / helfe suoche ich unde rât („Hör doch, Walther, mein lieber Freund von der Vogelweide, wie es mir geht: Rat und Hilfe suche ich“). Nicht nur Minnesänger wie Heinrich von Morungen, Reinmar und Walther von der Vogelweide kannten die Lieder der anderen, auch das Publikum muss mit ihnen vertraut gewesen sein, sonst wäre der Wiedererkennungswert einer solchen Parodie ausgeblieben. Mit der Lyrik Walthers wiederum war Wolfram von Eschenbach vertraut. Im ‚Parzival‘ erwähnt er ein verlorenes Lied Walthers (guoten tac, boes unde guot, Pz. 297,25) und ein Jahrzehnt später ist im ‚Willehalm‘ etwas herablassend die Rede von dem trinken, des diu nahtegal/ lebt (Wh. 136,7 f.) – also vom Wasser –, was vielleicht eine Abfertigung des auf Herrengunst Angewiesenen darstellt, hatte Gottfried von Straßburg Walther doch im Literaturexkurs des 11 Textgrundlage: Thomas Bein (Hg.), Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche, 15., veränderte und um Fassungseditionen erw. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns. Edition der Melodien von Horst Brunner, Berlin [u. a.] 2013 (zit. L mit nachgestellter Seiten- und Verszahl).

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‚Tristan‘ als Anführer der Nachtigallen (Lyriker) bezeichnet. Hier wäre auch Walthers Sangspruch ‚Wir suln den kochen râten‘ (L 17,11) zu erwähnen. Der „Spießbratenspruch“ ist eine politische Parabel, in der der Sänger König Philipp von Schwaben (1198–1208) mahnt, er solle die Köche anweisen, die Bratenscheiben großzügiger aufzuschneiden, etwa daumenstark. Eine brutale Warnung also an den Staufer, die Fürsten bei der Verteilung von Reichsgut und Ämtern großzügig zu bedenken, die nur oberflächlich durch den Küchenhumor als Satire kaschiert erscheint. Wolfram indes versteht die Strophe absichtlich falsch, wenn er den Erzähler des ‚Willehalm‘ sagen lässt: her Vogelweid von brâten sanc: / dirre brâte was dicke unde lanc: / ez hete sîn frouwe dran genuoc, / der er sô holdez herze ie truoc („Herr Vogelweide hat einmal von einem Braten gesungen. Dieser Braten hier war dick und lang, der hätte für seine Dame gereicht, die er immer so verehrt hat“, Wh. 286,19–22). Wolfram ist der bedeutendste Erzähler des deutschen Mittelalters, dessen Ruhm schon zu seinen Lebzeiten einsetzte und bis zum Ausgang des Mittelalters stetig zunahm. Wir kennen die Auftraggeber seiner Romane nicht, doch lassen die Erwähnungen Landgraf Hermanns keinen Zweifel daran, dass er dessen Förderung erfuhr. Er erwähnt ihn im ‚Parzival‘, ein Jahrzehnt später im ‚Willehalm‘, und noch in den ‚Titurel‘-Strophen rühmt er die Generosität des inzwischen Verstorbenen. Wolfram hat sich um 1203/04 in Thüringen aufgehalten – in der Belagerung der Stadt Bêârosche im ‚Parzival‘ vermutet man seit langem einen Reflex der Kämpfe um Erfurt im Sommer 1203. In Thüringen dürften die Bücher V bis VII des Romans entstanden sein, die früheren in seiner fränkischen Heimat, die späteren vielleicht in Bayern. Wolfram lässt sich also nicht umstandslos als fränkischer, thüringischer oder bayerischer Dichter verstehen. Dass er das Wohlwollen Hermanns besaß, zeigt besonders deutlich das VI. Buch des ‚Parzival‘. Bei der Schilderung des zügellosen Treibens am Artushof, dem allein der raubeinige Truchsess Keye Einhalt gebietet, verlässt der Erzähler überraschend die Romanwelt und apostrophiert den Landgrafen: von Düringen fürste Herman. / etslîch dîn ingesinde ich maz, / daz ûzgesinde hieze baz. / dir wære och eins Keien nôt, / sît wâriu milte dir gebôt / sô manecvalten ane­ hanc („Fürst Hermann von Thüringen: in deinem Gesinde kenne ich manche, die Gesindel heißen müssten. Auch du bräuchtest einen Keye! Denn Deine Großzügigkeit brachte dir Anhang und Anhängsel ein“). Wolfram kritisiert die Zustände am Landgrafenhof, und zugleich spendet er Hermann höchstes Lob, indem er dessen Hof mit dem des idealen Königs Artus vergleicht. Walther von der Vogelweide weilte seit 1199 mehrfach für längere Zeit am Landgrafenhof. Nicht, weil es ihn mit unwiderstehlicher Macht nach Thürin-

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gen gezogen hätte, sondern weil der Babenberger Leopold VI. (1198–1230) bei seinem Herrschaftsantritt keine Verwendung für ihn hatte, worauf jener zwei Jahrzehnte das Leben eines Fahrenden führen und sich als Berufssänger um Auftritte an Höfen, bei Hoftagen und im Gefolge reisender Herren bemühen musste. Das einzige historische Zeugnis zeigt ihn im November 1203 in der Umgebung des Passauer Bischofs Wolfger von Erla (1191–1204) nahe Wien. Dorthin zog es ihn zeitlebens zurück, doch vergeblich. Was er in und über Thüringen dichtete, lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Der „Spießbratenspruch“ wurde bereits erwähnt. Im Lauf von zwei Jahrzehnten entstand ein Dutzend weiterer Sangsprüche. Nebeneinander stehen Stellungnahmen zum politischen Tagesgeschehen, Hofkritik und Panegyrik, allgemeine Tugendlehre und Polemik gegen Konkurrenten, bissige Satire und deutungsbedürftige Parabel. Immer sehen wir einen sozial empfindlichen Dichter, um Anerkennung als Künstler ringend, die die Hofgesellschaft ihm offenbar verweigerte. Die früheste Strophe, ‚Der in den ôren siech von ungesühte sî‘ (L 20,4), formuliert harsche Kritik: Wer empfindliche Ohren habe, solle den Thüringer Hof meiden; denn dort werde er sein Gehör einbüßen. Tag und Nacht herrsche ein Kommen und Gehen, während der Landgraf in der Gesellschaft veritabler Haudegen zeche, wobei er großzügig bis zur Verschwendung sei (und gulte ein fuoder guotes wînes tûsent pfunt, / dâ stüend doch niemer ritters becher lære). Zu diesem Bild will das Wort vom Musensitz nicht recht passen (Walther spricht im Übrigen vom Hof zu Thüringen, nicht von der Wartburg oder Eisenach). Der Dichter hat Philipp von Schwaben zur Großzügigkeit gemahnt und dem Welfen Otto IV. (1198/1208–1218) Knausrigkeit vorgeworfen; hier nun tadelt er mit Hermanns milte (Freigebigkeit) eine fürstliche Tugend. Worum es ihm eigentlich geht, sind die Bedingungen, die der Künstler vorfindet. Eine andere Strophe (‚Uns irret einer hande diet‘, L 103,29) wird noch deutlicher: Eine gewisse Sorte von Leuten, so der Sänger, lasse mit ihrem Geplärr den kultivierten Mann bei Hof nicht zu Wort kommen. Grobe und vulgäre Ausdrücke wie drüzzel (‚Schnauze‘) und tôre (‚Dummkopf‘) lassen Walthers Empörung ahnen. – In Hermanns Umgebung hielten sich nicht nur bedeutende Dichter wie Veldeke, Walther und Wolfram auf, sondern auch Spielleute und Hofdichter, heute vergessene poetae minores, die Walther von der Vogelweide aus dichterischer Unfähigkeit und Brotneid in den Weg traten. Bekannt ist die Kontroverse mit dem Ritter Gerhart Atze. Der Ritter habe ihm – so Walther, der hier in eigener Sache spricht, – ein wertvolles Pferd erschossen und zögere nun die Schadenersatzzahlung mit dubiosen Erklärungen hinaus (‚Mir hât her Gêrhart Atze ein pfert‘, L 104,7). Er ruft den Landgrafen

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als Gerichtsherrn an und erklärt sich bereit, mit beiden Händen zu schwören, nachdem er absichtsvoll erwähnte, dem anderen fehle ein Finger – ein Makel, der in die Richtung eines Diebstahls deuten mochte. Der Dichter unterlag, wie nicht anders zu erwarten, und rächte sich an dem 1196 in einer landgräflichen Urkunde unter den Zeugen erscheinenden thüringischen Ritter mit einem Spruch voller beißenden Hohns (‚Rît ze hove, Dietrich!‘, L 82,11). Ihm gingen die Augen um wie einem Affen, und er gleiche einem guggaldei (Kuckuck). Seinen imaginären Knecht, der unberitten ist, fragt er, ob er lieber eine goldene Katze oder den wunderlîchen Gêrhart Atze reiten wolle. Die vielumrätselte goldene Katze könnte Konnotationen wie ‚Katzenritter, Sodomit‘ enthalten, aber schon die Herabwürdigung des Ritters zum Reittier lässt die Empörung Walthers über das erlittene Unrecht ahnen. Er wird diesen Spruch kaum am Landgrafenhof vorgetragen haben. Ein Jahrzehnt später ist sein Ton dann ein ganz anderer, als er sich in dem Sangspruch ‚Ich bin des milten lantgrâven ingesinde‘ (L 35,7) stolz zur landgräflichen familia rechnet, mithin längere Zeit am Hof gelebt haben dürfte. Walther rühmt Hermann als einen der Vornehmsten, der im Unterschied zu anderen Fürsten beständig, geradlinig und berechenbar sei. Die skrupellosen Seitenwechsel des Ludowingers, mit denen er das Land an den Rand des Ruins brachte, verschweigt er geflissentlich. Seine Behauptung, die die Tatsachen auf den Kopf stellt, lässt sich am ehesten wohl aus den Konventionen des Fürstenlobs erklären. Auch diese Strophe wird er nicht vor dem Landgrafen vorgetragen haben, sondern andernorts, vielleicht in Kärnten, mit der Absicht, die milte des dortigen Fürsten zu stimulieren. Die Erinnerung an die glanzvolle Zeit der Jahre um 1200 blieb lange lebendig. Eine Generation nach Walther, Wolfram und ihrem fürstlichen Gönner Hermann von Thüringen entstand die Dichtung vom Sängerkrieg, die seit Karl Simrocks Ausgabe (1858) ‚Wartburgkrieg‘ genannt wird, obwohl die Wartburg als Schauplatz in ihr kaum eine Rolle spielt und erst in einer späten Zusatzstrophe erwähnt wird (Abb. 3 u. 4). Um das zentrale Gedicht vom Sängerwettstreit gruppieren sich weitere Teilgedichte, alle in strophischer Form und damit sangbar, die zwischen 1250 und 1280 von unbekannten thüringischen Dichtern verfasst wurden. In den Lyrik-Sammelhandschriften des 14. und 15. Jahrhunderts erscheint dieser wenig homogene Komplex von Dichtungen in sehr unterschiedlichen Konfigurationen. Der ursprünglichen Fassung steht der Text am nächsten, den die um 1330 entstandene ‚Jenaer Liederhandschrift‘ überliefert. Das ‚Fürstenlob‘, der eigentliche Sängerwettstreit, wird durch Walther von der Vogelweide zugunsten des Landgrafen entschieden, indem er den Herausforderer, den für den Herzog von Österreich votierenden Heinrich von

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Abb. 3: Moritz von Schwind, „Der Sängerkrieg auf der Wartburg“, Fresko 1854/56

Ofterdingen, mit einer List besiegt. Es folgt mit dem ‚Rätselspiel‘ ein älteres, aber in den Handschriften dem ‚Fürstenlob‘ nachgestelltes Gedicht, in dem der dubiose Gelehrte Klingsor von Ungerlant mit dem Versuch scheitert, den glaubensstarken und lebenserfahrenen Laien Wolfram von Eschenbach mit Wissensfragen zu überwinden. Hält man sich an die Beischrift des eingangs erwähnten Schwindschen Freskos, so fand der Sängerkrieg am 7. Juli 1207 auf der Wartburg statt. Tatsächlich hat es ihn nicht gegeben, sondern er ist dichterische Fiktion, erkennbar schon daran, dass die Dichter, soweit sie historisch identifizierbar sind, verschiedenen Generationen angehörten: Reinmar von Zweter begann, als Walther nicht mehr lebte, Wolfram von Eschenbach ist nie als Spruchsänger hervorgetreten, von Biterolf ist uns keine Zeile überliefert, Heinrich von Ofterdingen ist bis heute nicht identifiziert, und die fiktive Klingsor-Gestalt geht auf den Zauberer Clinschor im ‚Parzvial‘ zurück. Jene Dichtung, die die Erinnerung an die Glanzzeit Landgraf Hermanns I. von Thüringen festhielt, entstand mehrere Jahrzehnte nach dessen Tod, und damit stellt sich die Frage nach dem Adressaten. Manches spricht dafür, ihn in Markgraf Heinrich III. dem Erlauchten von Meißen (1221–1288) zu sehen, der selbst Minnelieder im Stil Walthers gedichtet hat. Es scheint sogar möglich, dass er sich hinter dem noch nicht identifizierten Heinrich von Ofterdingen verbirgt. Der Wettiner war über seine Mutter Jutta ein Enkel Hermanns und seit 1234 mit einer Tochter des Herzogs Leopold VI. von Österreich verheira-

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Abb. 4: Miniatur des sog. Sängerkriegs auf der Wartburg in der Großen Heidelberger Liederhandschrift. Pergamenthandschrift mit Buchmalerei, um 1330

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tet. Ob nun Walther den Ludowinger preist oder Ofterdingen den Babenberger Herzog, so sind es letztlich die glänzenden Ahnen ein und derselben Familie, die gerühmt werden. Insofern ist der Sängerwettstreit ein Scheingefecht, das die Landgräfin denn auch mit einem Lächeln beenden kann. Seit der 1297 abgeschlossenen Elisabeth-Vita des Erfurter Dominikaners Dietrich von Apolda zieht sich die Überlieferung vom Sängerkrieg zu Eisenach durch die thüringische Historiographie. Fortan galt sie als historisches Faktum, legte doch die Prophezeiung der Geburt Elisabeths durch Klingsor am Eisenacher Hof, von der Dietrich berichtet, nahe, den vorangehenden Sängerstreit auf das Jahr 1206 zu datieren. Im 15. Jahrhundert erzählt der Eisenacher Chronist Johannes Rothe nicht weniger als viermal, in seinen Chroniken und im ‚Elisabethleben‘, vom Sängerkrieg. Seit dem späten 13. Jahrhundert findet sich die Überlieferung auch in Dichtungen wie dem ‚Lohengrin‘ und dem Legendenroman ‚Das Leben der heiligen Elisabeth‘, in deutscher Prosa bei dem Reinhardsbrunner Biographen Friedrich Köditz und in der Neuzeit bei Friedrich von Hardenberg (Novalis), E. T. A. Hoffmann und dem Meininger Bibliothekar und Sammler von Märchen und Sagen Ludwig Bechstein, endlich in Richard Wagners Oper ‚Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg‘ (1845), mit der sie endgültig ihren Platz im kulturellen Gedächtnis der Deutschen fand. Soweit der Befund. Wie ist er zu deuten? Augenfällig ist zunächst, dass die Dichter, die den literarischen Ruhm des Landgrafenhofs begründeten, aus verschiedenen Regionen kamen, oder deutlicher: keine Thüringer waren. Der aus der Gegend von Maastricht stammende Veldeke hatte zuvor am Hof der Grafen von Kleve gewirkt. Wolfram nennt sich nach einem kleinen Ort bei Ansbach, und Walther, dessen Herkunft seit dem 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert wird, hat als seine geistige Heimat Österreich (dem heutigen Niederösterreich entsprechend) bezeichnet. Wenn wir, wie dies als erster Scherer in einer frühen Schrift ansatzweise tat, Literaturlandschaften in den Blick nehmen, Franken, Bayern, das Rheinland, Thüringen usw., beobachten wir immer wieder Fluktuation und kulturellen Austausch. In der Zeit von der Mitte des 12. bis zum Ende des 13. Jahrhunderts sind die Dichter größtenteils Berufsdichter, immer auf der Suche nach einem Hof, der ihre Existenz und ihr Schaffen für eine gewisse Zeit sicherte. Eine dauerhafte Dichterexistenz in höfischer Umgebung war die Ausnahme; für Walther von der Vogelweide könnte man fast ein Itinerar entwerfen. Literarisches Geschehen konzentriert sich also am Hof und Dichtung entsteht für den Herrscher und findet am Hof ihre Adressaten, nicht jedoch im Land, in Österreich, Bayern oder Thüringen, wie dann in späteren Zeiten, die Buchdruck, periodische Presse und Verlagswesen kennen. Die Na-

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men der Dichter, die dafür sorgten, dass ihr Gönner, der Landgraf von Thüringen, im Gedächtnis der Nachwelt lange fortlebte, nennt jedes Handbuch. Weniger leicht lässt sich angeben, worin Hermanns Interesse an Dichtung und Dichtern eigentlich begründet war. Ganz allgemein wird man sagen können, dass es bei der Verwirklichung kultureller Repräsentationsansprüche stets auf die Person des Herrschers ankam. Er musste Kunstwillen mit der Fähigkeit vereinbaren, bedeutende Persönlichkeiten an sich zu binden, die entsprechende Ambitionen in die Praxis umzusetzen vermochten. Im späteren und späten Mittelalter, von dem mit dem ‚Wartburgkrieg‘ schon kurz die Rede war, treffen wir auf veränderte Konstellationen. Nach dem Ende der ludowingischen Dynastie kam es sukzessive zu einer Verlagerung der Herrschaftszentren. Parallel dazu treten die erwähnten thüringisch-hessischen Literaturbeziehungen zurück, während sich seit dem späteren 13. Jahrhundert umrisshaft eine thüringisch-meißnische Literaturlandschaft abzuzeichnen beginnt. Jedenfalls wird man nicht nur das ‚Fürstenlob‘ des ‚Wartburgkriegs‘ mit Heinrich dem Erlauchten verbinden dürfen, sondern auch den Wolframs Dichtung fortführenden und „vollendenden“ monumentalen ‚Jüngeren Titurel‘, lassen sich doch die drei Fürsten im mittleren Deutschland, von denen sein Dichter Albrecht spricht, am zwanglosesten auf das Haus Wettin, den Markgrafen und seine Söhne, beziehen. Die Vertreter der höfischen Dichtung werden, sofern sie nicht der Ministerialität angehörten wie Veldeke und Morungen, heute als Berufsdichter verstanden, womit gemeint ist, dass sie sich ständisch kaum einordnen lassen. Deutlich erkennbar ist in der Zeit um 1200 das Zurücktreten geistlicher Autoren und Themen. Das ändert sich im Lauf des 13. Jahrhunderts: Jetzt entsteht Literatur oft in der Stadt. Doch vereinfacht die gern angeführte idealtypische Abfolge von Kloster, Hof und Stadt als Zentren des literarischen Geschehens allzu stark, denkt man etwa an die Bischofshöfe oder später an die Konvente der Bettelorden in den Städten, und schon um 1200 wird man den Hof der Landgrafen und ihr Hauskloster und Traditionszentrum Reinhardsbrunn zusammensehen müssen. Seit dem 13. Jahrhundert entsteht Literatur vermehrt in der Stadt, in Erfurt, Eisenach, Mühlhausen. Die Autoren finden sich, soweit wir sie kennen, nicht selten in den Konventen der Dominikaner, Franziskaner und Augustiner-Eremiten. Auch Weltgeistliche begegnen wie Johannes Rothe in Eisenach, Dietrich Schernberg in Mühlhausen und Konrad Stolle in Erfurt. Rothe ist zweifellos die Schlüsselgestalt in der thüringischen Literaturgeschichte des späten Mittelalters. Ein halbes Jahrhundert als Stadtschreiber, Schulmeister, Priester und Kaplan in Eisenach tätig, verfasste er Rechtsbücher, allegorische und Legendendichtung (‚Lob der Keuschheit‘, ‚Eli-

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sabethleben‘) sowie drei Prosachroniken. Ihn können wir seiner Herkunft und seinem Schaffen nach zuverlässig als thüringischen Autor verstehen.

4. Literaturgeschichtsschreibung und Literaturbegriff

Literaturgeschichten, so hat man gesagt, müssten offenbar immer wieder neu und anders geschrieben werden; denn Deutung sei eine Form des lebendigen Umgangs mit Tradition, und eine definitive Deutung würde diesen Umgang beenden und damit auch das Leben dieser Tradition.12 Literaturgeschichten werden tatsächlich seit den Brüdern Schlegel immer wieder neu geschrieben, aber ihr Ruf ist schon seit längerem ein zweifelhafter. Bereits 1967 beklagte der Romanist Hans Robert Jauß den stetigen Niedergang dieser Disziplin, und neuerdings ist gar von einer bedrohten Gattung die Rede.13 Der heutige Literaturhistoriker kann seinen Gegenstand nicht mehr wie Gervinus als kulturelles Medium eines nationalen Formationsprozesses deuten, als eine Geschichte kollektiven Fortschritts, womöglich auf ein Ziel zulaufend. Aber welchen Maßstab kann er dann anlegen? Einigkeit herrscht allein in der Überzeugung, dass er, gleich welcher Epoche oder Region er sich zuwendet, Kriterien benötigt, nach denen er seinen Stoff auswählt, ordnet und wertet, wofür er eines wie immer gearteten Bezugs zur Gegenwart bedarf. Die Auswahl des Stoffs setzt freilich einen praktikablen Begriff von Literatur voraus. Heinzle, Herausgeber der heute maßgeblichen Darstellung der mittelalterlichen deutschen Literatur, hat erklärt, der Mittelaltergermanist müsse mit dem denkbar weitesten Literaturbegriff arbeiten, er dürfe keinen Texttyp außer Betracht lassen, da die übliche Beschränkung auf die schöne Literatur dem weithin pragmatischen Charakter der mittelalterlichen Überlieferung nicht gerecht werde.14 Das ist grundsätzlich richtig, und die Handbücher zur althochdeutschen Schriftlichkeit sind nie anders verfahren, insofern sie jede 12 Vgl. Karl Bertau, Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 10. 13 Vgl. Hans Robert Jauss, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, S. 144–207, hier S. 144; Matthias Buschmeier, Literaturgeschichte nach dem Ende der Theorie? Thesen zu den (Un-) Möglichkeiten einer bedrohten Gattung, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), S. 409–414. 14 Vgl. Joachim Heinzle, Wie schreibt man eine Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Der Deutschunterricht 41 (1989), S. 27–40.

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überlieferte Zeile, jedes Einzelwort – wie wir am Beispiel wlitivam sahen – als Denkmal behandeln. Spätestens seit dem 13. Jahrhundert jedoch zwingt die schiere Masse des Überlieferten zur Auswahl. Der Literarhistoriker kann nicht jeden Text behandeln, schon gar nicht das vielfältige Gebrauchsschrifttum des späten Mittelalters. Er sollte das auch gar nicht wollen, denn welchen Sinn sollte es haben, Urkunden, Rechtsbücher, Arzneibücher und medizinische Handbücher  – Texttypen, die Heinzle ausdrücklich nennt, – in einer Literaturgeschichte zu behandeln? Hierfür wird man wie bisher Lexika konsultieren, voran die Neubearbeitung des ‚Verfasserlexikons‘. Der Anspruch heutiger Altgermanisten, alles in der Volkssprache schriftlich Produzierte in einer Literaturgeschichte zu erfassen, klingt nach dokumentarisch nachprüfbarer Totalität und solider Wissenschaftlichkeit und scheint so geeignet, den auf der Gattung Literaturgeschichte lastenden Legitimationsdruck zu lindern. Allerdings erinnert er ein wenig an das alte Ideal naturwissenschaftlicher Exaktheit, das einen Scherer an den „Siegeswagen der Naturwissenschaften“ fesselte. Vor Heinzle hat bereits Kurt Ruh im Anschluss an Hugo Kuhn einen „erweiterten Literaturbegriff“ postuliert und ihm mit seinen Arbeiten Geltung verschafft, sodass sich die meisten Altgermanisten heute zu ihm bekennen. Richtig ist, dass Minnesang, höfischer Roman und Heldenepos, die Leitsterne der Literaturgeschichten, beim Blick auf das Gesamt der Überlieferung zurücktreten. Unbestreitbar ist auch, dass die tradierten literarischen Kanonvorstellungen in keinem rechten Verhältnis zum Charakter der handschriftlichen Überlieferung stehen. Oft genug bieten die Sammelhandschriften ein mit neuzeitlichen Kohärenzerwartungen kaum zu vereinbarendes Durcheinander von Gattungen und Typen. Die Gothaer Handschrift Chart. A159 etwa überliefert Rothes ‚Thüringische Weltchronik‘ zusammen mit einer Schrift ‚De Antichristo‘, annalistischen Nachrichten über Erfurt, einem unvollständigen ‚Sermo de vita sancti Severi‘, dem Bericht über einen Ablass des Basler Konzils, Rezepten gegen Darmbeschwerden, Erfurter Chroniknachrichten, einem Pestrezept, einer Nachricht über den Tod Landgraf Wilhelms III. des Tapferen (1445–1482), dem Bericht über dessen Jerusalemfahrt und weiteren Pestschriften. Gegen den auf Totalität zielenden Literaturbegriff Ruhs hat sich Karl Bertau gewandt mit einem Plädoyer für Partialität, für eine Literaturgeschichte als Geschichte von Kunstwerken höchsten Ranges, von Werken, in denen der Widerspruch zwischen Kunst und Geschichte prägnant werde. Leider unterließ er es, Kriterien anzugeben, die dem Literarhistoriker jene Werke zu erkennen erlaubten, in denen sich die Geschichtlichkeit des nur scheinbar Ewigen manifestiert. Bertaus Plädoyer für die Beschränkung auf eine ästhetisch begründete Auswahl

Was ist thüringisch an der mittelalterlichen Literatur Thüringens? 

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von Werken hat insgesamt nicht allzu viel Zustimmung gefunden. Zeitgemäß ist heute das Konzept Heinzles, dessen Interesse weniger der künstlerischen Verfasstheit der Texte gilt als der Genese einer volkssprachigen Schriftkultur. Was ist nun ‚mittelalterliche Literatur‘? Was wir Literatur nennen, lässt sich in der Vormoderne noch nicht strikt von anderen Diskursen wie Wissensvermittlung, Erziehung und Glaubenslehre trennen. Erst in einem längeren, bis zur Neuzeit reichenden Prozess bildete sich ein Corpus im engeren Sinn literarischer Texte heraus, das sich von jenen Diskursen absetzte. Heinzles Forderung, auch jene Corpora einzubeziehen, scheint in gewisser Weise eine Rückkehr zur Schrifttumsgeschichte zu bedeuten.15 Kehren wir noch einmal zurück zur mittelalterlichen Literatur Thüringens. Für die Zeit von 1200 bis 1500 können wir bei einem weiten Literaturbegriff rd. 150 Werke und Autoren benennen, darunter einige lateinische. Wenn die „Werke“ an erster Stelle genannt werden, so deshalb, weil die Größe „Autor“ deutlich zurücktritt. Der Begriff „Werk“ zum anderen ist eine reine Zähleinheit, er besagt nichts über Umfang und Bedeutung der Texte; es kann sich um eine umfangreiche Sammlung von Klosterpredigten handeln oder um ein Romanfragment von 100 Versen. Die Zahl reduziert sich, wenn man bloße Namen und Werktitel abzieht wie den verlorenen Alexanderroman Biterolfs und den nur aus neuzeitlichen Quellen bekannten Nikolaus von Haugwitz. Sie würde sich weiter verringern, wollte man auch jene Werke ausscheiden, die bis auf einige Bruchstücke verloren sind wie ‚Abor und das Meerweib‘ und der Artusroman ‚Segremors‘. Ein Großteil der übrigen Titel lässt sich nur aus dialektgeographischen Gründen mit Thüringen in Verbindung bringen, etwa die ‚Holzmindener Bibelfragmente‘, ‚Alexander und Anteloye‘ und das ‚Väterbuch‘. Hier fehlt also die letzte Sicherheit. Es bleiben einige Fälle, über die man unterschiedlich denken mag. So sind die Iwein-Fresken im Schmalkalder Hessenhof kein literarisches Werk, sondern die Visualisierung eines solchen, aber wichtig, zeigen sie doch, dass der Artusstoff trotz des Interesses des Landgrafen an antiken Stoffen und Themen in Thüringen nicht unbekannt blieb. Die frühere Forschung verband auch den Roman ‚Eraclius‘ mit Thüringen, während man heute glaubt, dass sein Dichter Otte, vermutlich ein Hesse, in Regensburg oder Wien wirkte. Lukardis von Oberweimar kennen wir nur aus 15 Die methodischen Probleme des Modells der literarischen Interessenbildung erörtert Jan-Dirk Müller, Zu einigen Problemen des Konzepts ‚Literarische Interessenbildung‘, in: Joachim Heinzle (Hg.), Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991 (Germanistische Symposien, Berichtsbände, 14), Stuttgart/Weimar 1993, S. 365–384.

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einer lateinischen Vita, sie selbst ist literarisch nicht hervorgetreten, sodass der Literarhistoriker nur wenig über sie sagen könnte. Endlich die ‚Jenaer Liederhandschrift‘, die schon wegen des hier am besten überlieferten ‚Wartburgkriegs‘ nicht fehlen darf, deren Entstehungsraum aber auch nach einem Jahrhundert philologischer Forschung völlig offen ist, reichen die Lokalisierungsvorschläge doch von Thüringen über Wittenberg bis in den westelbischen Raum. Die restlichen Texte lassen sich wie folgt ordnen: Zur Dichtung im engeren Sinn gehören 1. höfische Romane (Wolfram von Eschenbach), 2. Erzählungen (‚Rittertreue‘) und 3. höfische Lyrik (Tugendhafter Schreiber). Texttypen, die sich nicht ausschließlich dem Hof oder der Stadt zuordnen lassen, sind 4. geistliches Spiel (Zehnjungfrauenspiele) und 5. historisches Ereignislied (Altenburger Prinzenraub). Geistliche Spiele wurden bereits im frühen 13. Jahrhundert vor dem Landgrafenhof aufgeführt; später in Eisenach, Erfurt und Mühlhausen. Gattungen, die zuvorderst in die Zuständigkeit des Historikers fallen, sind 6. Chronistik (‚Christherre-Chronik‘, ‚Cronica Reinhardsbrunnensis‘) und 7. Vita (Sigeboto von Paulinzella, Dietrich von Apolda, Friedrich Köditz). Umfangreich ist 8. eine Gruppe Legende, Predigtbuch, Erbauungsliteratur (Ebernand von Erfurt, ‚Paradisus anime intelligentis‘, Hartwig von Erfurt). Hier lassen sich 9. verbreitete erbaulich-katechetische Werke anschließen, die ‚Biblia pauperum‘ aus St. Peter in Erfurt und das ‚Speculum humanae salvationis‘ in deutscher Übertragung. Nicht zu vergessen ist 10. die breit gefächerte Fachliteratur (‚Macer floridus‘, ‚Bartholomäus‘). Es bleiben Texte bzw. Textsorten, deren Berücksichtigung im Namen des erweiterten Literaturbegriffs kaum realisierbar sein dürfte, administratives Schrifttum der Städte wie Wasserordnungen und Geleitsordnungen, die Willkür der Stadt Erfurt, das ebenfalls in Erfurt entstandene ‚Bibra-Büchlein‘ usw. Bezeichnenderweise versagt hier auch das einem sehr weiten Literaturbegriff verpflichtete ‚Verfasserlexikon‘. Abschließend sei ein Fazit versucht. Dem Alter nach nimmt Thüringen als Literaturregion eine mittlere Position ein, sie ist jünger als etwa die bairische, aber älter als die weiter östlich und nördlich gelegener Regionen wie Schlesien und Pommern. Das mittelalterliche Thüringen weist ein reiches literarisches Leben auf. Wenn spezifisch Thüringisches gleichwohl insgesamt zurücktritt, dürfte das verschiedene Gründe haben, sich also nicht allein darauf zurückführen lassen, dass Thüringen auf Grund seiner geographischen Mittellage für Autoren verschiedener Gegenden von Interesse war. Größeres Gewicht kommt wohl der Tatsache zu, dass man vornehmlich Stoffe und Themen bearbeitete, die sich nicht an eine einzelne Landschaft binden lassen. Höfische Romane fußen gewöhnlich auf französischen, mitunter auch lateinischen Vorlagen, kate-

Was ist thüringisch an der mittelalterlichen Literatur Thüringens? 

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Abb. 5: Johannes Rothe, ‚Thüringische Landeschronik‘, Anfang des Reimprologs: Durch lust in myner jogunt schreib ich vnde tychte nach mynes synnes mogunt ich mancherleye ußrichte ... . Sammelhandschrift, Papier, 1487

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chetische Werke wie die ‚Biblia pauperum‘ waren allgemein verbreitet, ebenso biblische und Legendenstoffe, wie sie etwa im Eisenacher Zehnjungfrauenspiel begegnen, und Ähnliches gilt für fachliterarische Werke wie den deutschen ‚Macer floridus‘. Doch fehlt es auch nicht an Autoren und Themen, die in je eigener Weise mit Thüringen verbunden sind. Ebernand von Erfurt nennt in seinem Legendenroman ‚Heinrich und Kunigunde‘ (1220) seinen Namen und erklärt, den Erfurter Bürgern bekannt zu sein; im späten 13. Jahrhundert entwirft Nikolaus von Bibra im ‚Occultus Erfordensis‘ ein mit Schwank und Anekdote durchsetztes großes Tableau der Stadt Erfurt, ihrer Bewohner und Lokalitäten, das von den Klöstern und Stiften bis zu den sozialen Randgruppen und den Badestuben an der Krämerbrücke reicht, und wiederum ein halbes Jahrhundert später schließt das (seinen Namen nur der Handschrift verdankende) ‚Mühlhäuser Katharinenspiel‘ mit einigen boshaften Anspielungen, die nur einem Erfurter Publikum verständlich waren. Genuin thüringisch wird man historische Ereignislieder nennen dürfen, deren Kenntnis wir Chronisten wie Johannes Rothe und Hartung Kammermeister verdanken, so das Spottlied auf die Söldner Adolfs von Nassau und das Lied von der Eroberung der Wachsenburg. Mehr noch gilt dies für die Chroniken Rothes, deren Beitrag zur Ausprägung einer thüringischen Identität sich nicht darin erschöpft, dass man in ihnen den bekannten thüringischen Sagen begegnet, den Erzählungen von Ludwig dem Springer und seiner Flucht vom Giebichenstein, der Errichtung der Wartburg, dem Schmied von Ruhla, dem Müller Erff im Brühl an der Gera usw. (Abb. 5). Müsste man sich für nur ein im mittelalterlichen Thüringen entstandenes und mit diesem verbundenes Werk entscheiden, wäre zweifellos die Dichtung vom Sängerwettstreit am Eisenacher Landgrafenhof zu nennen, geriet diese Überlieferung doch dank Gelehrten wie Cyriacus Spangenberg, Daniel Georg Morhof und Johann Jakob Bodmer auch jenseits des Mittelalters nie in Vergessenheit, sodass sie später durch die Romantiker und die in ihrer Tradition stehenden Gelehrten und Künstler ihren Platz im kulturellen Gedächtnis der Deutschen erhalten konnte.

Was ist thüringisch an der mittelalterlichen Literatur Thüringens? 

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Literatur Wolfgang Beck, Deutsche Literatur des Mittelalters in Thüringen. Eine Überlieferungs­ geschichte (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Beihefte, 26), Stuttgart 2017. Karl Bertau, Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983. Wolfgang Brandt, Landgraf Hermann I. von Thüringen in Paris? Abbau einer germanistischen Legende, in: Reinhard Olesch/Ludwig Erich Schmitt (Hg.), FS Friedrich von Zahn, Bd. II, Zur Sprache und Literatur Mitteldeutschlands (Mitteldeutsche Forschungen, 50/II), Köln/Wien 1971, S. 200–222. Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300, München 1979. Alfred Ebenbauer, Dichtung und Raum. Kritische Gedanken zu einer mittelalterlichen ‚Literaturgeographie‘, in: Hartmut Kugler (Hg.), Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, Berlin/New York 1995, S. 23–43. Reinhard Hahn, Geschichte der mittelalterlichen deutschen Literatur Thüringens (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 34), Köln/Weimar/Wien 2012. Ders., Die mittelalterliche Literatur Thüringens. Ein Lexikon (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 2018. Jens Haustein, Eisenach mit der Wartburg und der Neuenburg, in: Martin Schubert (Hg.), Schreiborte des deutschen Mittelalters. Skriptorien, Werke, Mäzene, Berlin/Boston 2013, S. 105–118. Joachim Heinzle, Wie schreibt man eine Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Der Deutschunterricht 41 (1989), S. 27–40. Ernst Hellgardt u. a. (Hg.), Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen, Köln/ Weimar/Wien 2002. Irmgard Höss, Die kulturelle Bedeutung der wettinischen Höfe, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 31 (1986), S. 353–370. Manfred Lemmer, „der Dürnge bluome schînet dur den snê“. Thüringen und die deutsche Literatur des hohen Mittelalters, Eisenach 1981. Jan-Dirk Müller, Zu einigen Problemen des Konzepts ‚Literarische Interessenbildung‘, in: Joachim Heinzle (Hg.), Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991 (Germanistische Symposien, Berichtsbände, 14), Stuttgart/Weimar 1993, S. 365–384. Martin Schubert u. a. (Hg.), Mittelalterliche Sprache und Literatur in Eisenach und Erfurt (Kultur, Wissenschaft, Literatur, 18), Frankfurt a. M. 2008.

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Reinhard Hahn

Max Wehrli, Literaturgeschichtsschreibung heute. Einige Reflexionen, in: Dietrich Huschen­bett u. a. (Hg.), Medium aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. FS Kurt Ruh, Tübingen 1979, S. 413–427.

Petra Weigel

Thüringen in frühneuzeitlichen Karten*

1.

Am 29. Januar 1605 verzeichneten die Kämmerer der Reichstadt Mühlhausen die Ausgabe von 2 Schock, 22 Groschen und 6 Denar für die „Türingische Landtaffel“ des Adolar Erich. Diese Landtafel war mit ihren anderthalb Quadratmetern und ihrer eigenwilligen Mischung aus topographischer Abbildung, landeskundlich-historischer Beschreibung, dynastischer Genealogie und literarischem Thüringen-Lob offenbar ein begehrtes Objekt. Denn nicht nur Mühlhausen, sondern auch Erfurt, Jena und Langensalza kauften die Landtafel und das erforderliche Leinentuch, um die in 24 Teilen ausgelieferte Karte für eine öffentliche Präsentation aufzuziehen. Im frühen 17. Jahrhundert schmückten offenbar großformatige Karten des Landes die Stuben thüringischer Städte, fand ratsstädtisches Handeln im Angesicht einer repräsentativen Tafel statt, die Geschichte und kartographisches Bild vereinte. Adolar Erichs Landtafel ist ein gewichtiges Zeugnis der im frühen 16. Jahrhundert entstehenden thüringischen Kartographie. Überblickt man die Darstellungen Thüringens auf Karten, so öffnet sich ein breites Spektrum an Fragemöglichkeiten. Zunächst ist es die Frage danach, was gemeint ist, wenn man von Thüringen spricht. Hier spannen sich die Perspektiven von der Benennung einer naturräumlich abgrenzbaren, geographisch zu beschreibenden Landschaft bis hin zu einem historisch verstandenen Landes- oder Raumbegriff „Thüringen“, der über die Zeiten hinweg in sehr unterschiedlicher Intensität und räumlicher Ausdehnung Bezugsrahmen politisch-herrschaftlicher Formierungen, kulturellen Handelns, historiographischer Konstruktionen und regionaler Identitätsbildungen war und bis heute ist. Zum anderen ist es die Frage nach den vielgestaltigen visuellen Formen, die sich in der Kartographiegeschichte Thüringens der Neuzeit bündeln. Ihre Anfänge bildeten die ersten Nennungen Thüringens in Mitteleuropa- und Germania-Karten um 1500 und setzten sich fort über die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts entstehenden Regionalkarten der Gelehrtenkartographie und den im späten 16. Jahrhundert einsetzenden *



Johannes Helmrath zum 20. Juli 2018.

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amtlichen Kartierungen bis hin zu der sich um 1800 ausbildenden, bis heute leitenden wissenschaftlichen Kartographie. In der Zusammenschau dieser zwei Aspekte erwächst eine Geschichte der kartographischen Visualisierung Thüringens, die daraufhin befragt werden kann, in welchen kartographischen Formen welches Thüringen zu welcher Zeit mit welchen Absichten abgebildet wird und welche Wirkung die jeweiligen Karten entfalten. Aus der Fülle der sich damit über die Zeiten hinweg ergebenden Kartenbilder Thüringens sollen im Folgenden Übersichtskarten wie die eingangs vorgestellte Landtafel Adolar Erichs herausgegriffen werden, die als zentrale Zeugnisse einer auf die Darstellung Gesamt-Thüringens konzentrierten frühneuzeitlichen Gelehrtenkartographie gelten. Diese Fokussierung erscheint unter mehreren Aspekten als vielversprechend. Einladend für einen derartigen Zugriff ist zunächst seine weitgehend gesicherte Materialbasis. Denn die Thüringen-Karten der frühneuzeitlichen Gelehrtenkartographie sind seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Gegenstand einer spezialisierten kartographiegeschichtlichen Forschung. Wegmarken bilden die älteren Arbeiten von Viktor Hantzsch und Johannes Lehmann, die in dem bis heute maßgebenden Grundlagenwerk zur „Kursächsischen Kartographie“ von 1990 weitergeführt worden sind und die schließlich Hans-Heinrich Meyer in seiner Darstellung zu den historischen topographischen Karten Thüringens 1994 nochmals aufgegriffen hat.1 Zwei der bedeutendsten gelehrten Kartographen Thüringens, Johannes Mellinger und Adolar Erich, haben in jüngerer Zeit in Einzelpublikationen Beachtung gefunden, wobei sich der Sammelband zu Mellinger vor allem auf dessen außerthüringisches kartographisches Schaffen konzentriert.2

1 Viktor Hantzsch, Die ältesten gedruckten Karten der sächsisch-thüringischen Länder (1550–1593), Leipzig 1905 (mit großformatigen Schwarzweiß-Faksimiles der Karten); Johannes Lehmann, Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Thüringer Kartographie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Greifswald 1932; Fritz Bönisch u. a., Kursächsische Kartographie bis zum 30jährigen Krieg, Bd. 1: Die Anfänge des Kartenwesens (Veröffentlichungen des Staatlichen Mathematisch-Physikalischen Salons, 8), Berlin 1990; Hans-Heinrich Meyer, Historisch topographische Karten in Thüringen. Dokumente der Kulturlandschaftsentwicklung (Schriftenreihe des Thüringer Landesamtes für Vermessung und Geoinformation, 3), Erfurt 2007. 2 Peter Aufgebauer u. a. (Hg.), Johann Mellinger. Atlas des Fürstentums Lüneburg um 1600 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen, 41), Bielefeld 2001; Gunter Görner, Alte Thüringer Landkarten 1550–1750 und das Wirken des Kartographen Adolar Erich, Bad Langensalza 2001.

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Der Zugang zu den auch aus thüringischen Kartenvorlagen schöpfenden leitenden Kartensammlungen und Atlanten der Zeit, allen voran Abraham Ortelius’ „Theatrum orbis terrarum“ und der Atlas Gerhard Mercators, ist in den vergangenen Jahren durch grundständige Inventare, moderne Editionen und hochwertige Reprintausgaben v. a. des Mercator-Atlas erheblich erleichtert worden; sie werden flankiert von Peter Meurers fulminantem Standardwerk zu den Germania-Karten und seinem übergreifenden Beitrag zur Geschichte der deutschen Kartographie in der Frühen Neuzeit.3 Das hier in Rede stehende Korpus frühneuzeitlicher Thüringen-Karten ist in seinem Umfang und seinen Kartenformen weitgehend bestimmt, die Entwicklung der Karten und ihre Abhängigkeiten voneinander zumindest in Ansätzen untersucht. Kartographiegeschichtliche Arbeiten zu den thüringischen Karten behandeln diese zumeist aus einer vereinseitigenden Perspektive. Ihr Verdienst soll hier keinesfalls geschmälert werden – im Gegenteil, sie sind für einen Zugriff auf das Material und für die Bewertung seiner geodätisch-kartographischen Qualität unverzichtbar. Dennoch sind die isolierenden Betrachtungen dieser älteren Arbeiten aus dem Blickwinkel einer neueren kritischen Kartographiegeschichte ebenso aufzubrechen, wie sie durch eine kultur- und wissensgeschichtlich betriebene differenziertere Sicht auf die komplexen frühneuzeitlichen Kartographien Thüringens zu hinterfragen sind. Denn angesichts eines Kartenbegriffs, der allein auf eine maßstabgerechte, territorial angemessene, wenn auch hochabstrakte Repräsentation der Erdoberfläche ausgerichtet ist, sind die ästhetisch so reizvollen frühneuzeitlichen Gelehrtenkartographien Thüringens in ihrer zu verzerrten Kartenbildern führenden unvollkommenen geodätischen Basis, ihren groben, in „archaischen“ Darstellungsformen ausgeführten Topographien, ihren willkürlich und häufig irrtümlich angeordneten Landschaftsstrukturen und ihren vielfachen, als nichtkartographisch geltenden Elementen, wie Schmuckdekoren, emblematischen Bildkartuschen, integrierten historiographischen Informationen und 3 Marcel van den Broecke, Ortelius Atlas Maps. An illustrated Guide, Houten 22011; Thomas Horst/Wolfgang Crom, Die Welt als Buch – Gerhard Mercator (1502–1594) und der erste Weltatlas, Darmstadt 2012 (dem hochwertigen Faksimile liegt zugrunde der Mercator-Atlas von 1595 der Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz, 2° Kart B 180/3); Corpus der älteren Germania-Karten. Ein annotierter Katalog der gedruckten Gesamtkarten des deutschen Raumes von den Anfängen bis um 1650, bearb. von Peter Meurer, Alphen aan den Rijn 2001; Ders., Cartography in the German Lands, 1450–1650, in: The History of Cartography, hg. von J. B. Harley/David Woodward, Bd. 3: Cartography in the European Renaissance, Teil 2, Chicago 2007, S. 1172–1245.

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poetisch-panegyrischen Texten, in älteren kartographiegeschichtlichen Arbeiten nichts anderes als nur unzulängliche Durchgangsstadien hin zu einer exakten, auf amtlichen Vermessungen beruhenden wissenschaftlichen Thüringen-Kartographie. Bestenfalls sind diese Gelehrtenkartographien bisher als Zeugnisse historischer Zustände der Siedlungs- und Kulturlandschaft Thüringens ausgewertet worden. Ausgehend von dieser Beobachtung sollen die medial komplexen Kartographien des vormodernen Thüringen nachfolgend als Formen eines zeitspezifischen Visualisierungsbedürfnisses verstanden werden, das nicht allein nur auf die geodätisch gesicherte und topographisch exakte Wiedergabe eines Territoriums gerichtet bzw. darauf zu reduzieren ist. Vielmehr ist auch für Thüringen zu beobachten, dass regionale Kartographien im Umfeld einer humanistisch inspirierten antiquarisch wie geo- und chorographisch interessierten Kosmographie und Historiographie entstanden bzw. diese Karten mit historiographischen Texten eng verknüpft waren.4 Doch wurde dieses Zusammenspiel von humanistisch geprägter historisch-geographisch-kulturgeschichtlicher Landesbeschreibung und frühneuzeitlicher, Topographie und Geschichte verbindender Regionalkartographie, das in der Humanismus-Forschung inzwischen intensiv untersucht wurde, für die Karten Thüringens bisher kaum fruchtbar gemacht.5

4 Vgl. Johannes Helmrath, Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500, in: Matthias Werner (Hg.), Spätmittelalterliches Landesbewusstsein in Deutschland (Vorträge und Forschungen, 61), Ostfildern 2005, S. 333–392, hier S. 357 f., die von hier u. a. ausgehenden Forschungen des SFB 644 „Transformationen der Antike“, insbesondere Albert Schirrmeister, Was sind humanistische Landesbeschreibungen? Korpusfragen und Textsorten, in: Johannes Helmrath/Albert Schirrmeister/Stefan Schlelein (Hg.), Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung (Transformationen der Antike, 11), Berlin/New York 2009, S. 5–46, hier S. 33 f., und zuletzt die anregende Studie von Andreas Rutz, Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich (Norm und Struktur, 47), Köln/Weimar/ Wien 2018. 5 Vgl. die meines Wissens bisher einzige Studie von Axelle Chasagnette, Gedruckte Karten Kursachsens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts: die Darstellung der Geschichte und des Territoriums im Spiegel der gelehrten Kartographie, in: Johannes Helmrath/Albert Schirrmeister/Stefan Schlelein (Hg.), Historiographie des Humanismus. Literarische Verfahren, soziale Praxis, geschichtliche Räume (Transformationen der Antike, 12), Berlin/New York 2012, S. 251–274.

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Es bleibt zukünftigen Studien vorbehalten, diesen Faden aufzunehmen. Hier soll im Weiteren der spezielleren Frage nachgegangen werden, ob der eingangs geschilderte Fall des repräsentativen Gebrauchs einer Thüringen-Karte auch als Zeugnis eines auf Thüringen bezogenen übergreifenden Bewusstseins zu deuten ist, eines Thüringen als geographischem Raum, als historisch gewordene Landschaft und als territorialherrschaftlich hochdifferenzierte Region. Die frühneuzeitliche Geschichtsschreibung Thüringens stellt in der Aneignung humanistisch geprägter Chorographie und Historiographie, also die Beschreibung des Raumes und seiner Geschichte, einen Neuansatz dar. Sie schöpfte aber – zunehmend auch direkt – aus historiographischen Zeugnissen, insbesondere einer hochentwickelten Landesgeschichtsschreibung, die eindrucksvolle Belege eines übergreifenden thüringischen Landesbewusstseins sind, das sich seit dem späten 13. Jahrhundert formierte.6 Zugleich bot diese Landesgeschichtsschreibung einigen der gelehrten Kartographen Thüringens Quellenmaterial für den Entwurf ihrer Kartenbilder. Es ist dieser Rezeptionszusammenhang, der die Frage nahelegt, ob die frühneuzeitlichen Karten Thüringens, die im Gegensatz zu den geheim und ungedruckt bleibenden amtlichen Karten öffentliche Verbreitung fanden, unter Gelehrten kursierten und – wie eingangs berichtet – im städtischen Raum präsentiert wurden, auch als Zeugnisse für ein weiterhin virulentes thüringisches Eigen- und Zugehörigkeitsbewusstsein gedeutet werden können.

2.

Mit der Wiederentdeckung der „Geographie“ des Ptolemäus durch die Humanisten und der Anwendung und Weiterentwicklung seiner kartenzeichnerischen und geodätischen Prinzipien zur Kartierung von der antiken Welt nicht bekannter Räume fand um 1500 auch Thüringen Aufnahme in gedruckten Karten – zunächst in übergreifenden Mitteleuropa- bzw. Germania-Karten. In diesen ist Thüringen eine der auf gentile Traditionen zurückgehenden Landschaften der Germania, der terrae und provinciae des Reiches, nur im 6 Matthias Werner, Die Anfänge eines Landesbewußtseins in Thüringen, in: Michael Gockel (Hg.), Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, Marburg 1992, S. 81–137; Ders., „Ich bin ein Durenc“. Vom Umgang mit der eigenen Geschichte im mittelalterlichen Thüringen, in: Ders. (Hg.), Identität und Geschichte (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 1), Weimar 1997, S. 79–104.

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Abb. 1: Döringen Meißen, nach Christoph Pyramius, Germania (1547)

Ungefähren situiert, in seiner räumlichen Erstreckung vage. Während für eine Reihe von Regionen und Territorien des Reiches um 1500 humanistische Landeshistoriographien und mit ihnen zum Teil eng verknüpfte regionale Kartographien einsetzten,7 entstand in Thüringen zunächst weder eine auf das Land bezogene humanistische Historiographie noch eine regionale Kartographie. Erst vergleichsweise spät im Vergleich zu anderen Regionen erschien eine erste Karte Thüringens – in Sebastian Münsters 1550 in Basel gedruckter „Cosmographia“ (Abb. 1) und damit bezeichnenderweise nicht in einem Werk regionaler Historiographie. Sie eröffnet als Anfangsbild die Geschichte der kartographischen Visualisierung Thüringens und ist mit Blick auf die für andere Regionen zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegenden gedruckten Karten mehr als enttäuschend. Kunstlos gerahmt ist sie ohne Kartentitel und geodätische Verortung der „Cosmographia“ integriert und trägt alle Züge einer Verlegen7 Für den Überblick vgl. Meurer, Germania-Karten (wie Anm. 3), S. 50–56; Helmrath, Probleme (wie Anm. 4).

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heitslösung. Sie ist lediglich ein 15 x 12 cm, also ungefähr handtellergroßer Ausschnitt aus der 1547 in Brüssel gedruckten großformatigen Deutschlandkarte des Christoph Pyramius.8 Die Karte sollte ganz offensichtlich die schon in der Erstausgabe der „Cosmographia“ von 1544 enthaltenen, chronologisch aufeinander bezogenen Texte „Thüringer land“ und „Meißen land“ illustrieren, für die Münster offensichtlich über keine besseren Karten verfügte. Thüringen und Meißen werden in einem benachbarten räumlichen Landschaftszusammenhang gezeigt und als Hauptlandschaften in vergrößerter Fraktur-Schrift aus dem Kartenbild hervorgehoben. Münster vereinfachte dafür Pyramius' Darstellung, übernahm aber dessen Differenzierung von Sprachformen und Schriftarten zur Kennzeichnung von antikem/gentilem und zeitgenössischem Namensgut, sodass der Name Thüringen gleich zweimal in der Karte erscheint – in lateinischer Antiqua und deutscher Fraktur. Texte und Karte stehen unverbunden nebeneinander. Die Texte erläutern weder die Karte, noch sind Karteninhalte auf das im Text Gesagte zu beziehen. Mehr scheint es, dass in der dem Leser angebotenen Zusammenschau von Text und Bild ein übergreifender medialer Zusammenhang evoziert wird, der erzählte Geschichte und kartierten Raum aufeinander bezieht. Wie immer man die Selbstständigkeit dieser Karte beurteilen mag, bemerkenswert ist, dass Münster eine kartographische Bildformel fand, die aufgrund der weiten Verbreitung seiner „Cosmographia“ in Gelehrtenkreisen wahrgenommen und wirkmächtig wurde. Dieser Kartenausschnitt war prägend für kartographische Visualisierungen des sächsisch-thüringisch-meißnischen Raumes. Er wird in den kartographischen Fortentwicklungen immer wieder begegnen – als Gesamtkarte, als Anordnung zweier Karten oder allein auf die Regionen, also auch Thüringen, bezogenen Einzelkarten. Nahezu sechsmal größer als die Karte Münsters ist die 1568 in Weimar publizierte Karte „Thvringerland“ von Johannes Mellinger (Abb. 2), die in das Umfeld einer in den 1560er Jahren in den wettinischen Territorien aufblühenden Kartographie einzubetten ist.9

8 Meurer, Germania-Karten (wie Anm. 3), S. 279–282. 9 Böhnisch u. a., Kursächsische Kartographie (wie Anm. 1), S. 207–247, hier S. 207–210; Uwe Ohainski, Johann Mellinger (um 1538–1603), Biographische Skizze und Werkverzeichnis, in: Aufgebauer u. a. (Hg.), Mellinger (wie Anm. 2), S. 11–18; zur Karte Werkverzeichnis S. 17, Nr. I.1; Gerhard Streich, Johannes Mellinger und die Anfänge der Regionalkartographie und der amtlichen Landesaufnahmen in den deutschen Territorien, in: ebd., S. 27–44, hier S. 29.

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Abb. 2: Johannes Mellinger, Thvringerland, Weimar 1568

Die Vertrautheit mit dem mittelthüringischen Raum, in dem Mellinger von 1567 bis 1573 in Weimar und Jena als Theologe und Schulmann wirkte, wie auch die Auswertung und Übernahme von Kartenvorlagen anderer, wie Hiob Magdeburg (1566) und Johann Criginger (1567/68), beförderten die kartographisch-

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Abb. 3: Johannes Mellinger, Thvringerland, Weimar 1568, Ausschnitt

geographische Qualität seiner Karte. Diese „erste brauchbare Thüringenkarte“ trägt zugleich die „Merkmale einer Geschichtskarte“,10 die sie aus dem Korpus der frühneuzeitlichen Thüringen-Karten herausheben und für unsere Fragestellungen zu einem besonders aussagekräftigen Zeugnis machen. Historiographische Texte sind mit Mellingers Karte allerdings bisher nicht in Verbindung zu bringen. Vielmehr entwickelt die Karte selbst eine bemerkenswerte, auf Thüringen und insbesondere die Landgrafschaft bezogene Rhetorik und Panegyrik. Im Zentrum des Kartenbildes, das mit den Wappen der thüringischen Grafen- und Herrensitze übersät ist, steht hervorgehoben durch seine Mittelpunktlage und Größe das Wappen der Landgrafschaft Thüringen, wenn auch mit seitenverkehrt aufsteigendem Löwen. Es schlägt gleichsam den historiographischen Grundton der Karte an. Mellinger fokussierte sich in bemerkenswerter Weise auf die Landgrafschaft Thüringen und deren Hauptort Reinhardsbrunn (Abb. 3). Diesen für die Geschichte Thüringens exzeptionellen Platz hob er gegenüber den in gleichförmigen Prospektansichten dargestellten anderen thüringischen Orten sichtbar heraus. Reinhardsbrunn wird als „der alten landgraffen in Thüringen begrebnis“ ausgewiesen und seine Bedeutung als Grablege in stilisierter Zeichnung eines von einem Baldachin überwölbten Sarkophags dargestellt.

10 Vgl. Streich, Mellinger (wie Anm. 9), S. 29, 39 f.

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Verstärkt wird diese auf die historische Landgrafschaft Thüringen bezogene Gewichtung nicht nur durch eine winzige szenische Miniatur am Giebichenstein bei Halle, die den legendären Sprung Ludwig des Springers († 1123), des Gründers der Wartburg und Vaters des ersten thüringischen Landgrafen zeigt, sondern auch durch eine tendenzielle Polemik gegenüber Erfurt, die auf den aus dem Mittelalter überkommenen, Thüringen tiefgreifend prägenden Dualismus zwischen dem erzbischöflich-kurmainzischen Erfurt und dem landgräflichen Thüringen anspielt. So fehlt bezeichnenderweise das Mainzer Rad unter den Wappenbildern, wie auch eine weitere szenische Miniatur bei Rothenstein an der Saale den sagenhaften Rettungssprung eines thüringischen Adligen darstellt, der sich vor dem von Erfurt angeführten Aufgebot des mittelalterlichen Thüringer Dreistädtebundes in Sicherheit bringt.11 Der Widmungsempfänger der Karte, Herzog Johann Wilhelm von Sachsen-­ Weimar (1530–1573), liefert einen Schlüssel für die Deutung dieser Beobachtungen. Johann Wilhelm, der zweite Sohn Johann Friedrich des Großmütigen, hatte 1554 gemeinsam mit seinem älteren Bruder Johann Friedrich dem Mittleren (1529–1595) das durch den Verlust der Kurwürde auf den Raum Thüringen begrenzte ernestinische Herrschaftsgebiet geerbt und die Burg Grimmenstein in Gotha zur Residenz gemacht. 1567 war er, infolge der Gefangennahme und Reichsacht seines Bruders, zum Alleinherrscher aufgestiegen, verlor zugleich aber den Grimmenstein, der von den kaiserlichen Truppen vollständig geschliffen wurde. Auf diese, unmittelbar im Vorfeld der Publikation der Karte stattgefundenen dramatischen Ereignisse nahm Mellinger Bezug. Er zeigte in seiner Karte eine Prospektansicht der Stadt Gotha mit Burg Grimmenstein in Rauch und Flammen und setzte das Jahresdatum der Geschehnisse hinzu. Mellinger bezog Johann Wilhelms alleinherrschaftliche Stellung auf ganz Thüringen und meint hierbei nicht nur die sich in ihren Wappen manifestierenden kleineren Territorien der thüringischen Grafen und Herren, denen gegenüber das größer ausgeführte landgräfliche Wappen dominiert, sondern das gesamte „Thvringerland“. Es umfasst das Land der Thüringer, das mit seinen Äußerungsformen von Siedlung und Kultur – „sampt allen seinen stetten und vornehmen flecken, schlössern und klöstern“ –, in das kartographische Bild gesetzt wird. Dieses „Thüringerland“ feierte Mellingers Schwager Johannes Wolf, der kartographisch interessierte Rektor des Weimarer Gymnasiums, an dem Mellinger im Entstehungszeitraum seiner Karte als Konrektor wirkte, in seinem am unteren Kartenrand platzierten Lobgedicht als „terra Thyrigetis“. 11 Mansfeldische Chronica, 4. Teil, hg. von Carl Rühlemann, Eisleben 1913, S. 382.

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Wolf griff hierfür einen in den etymologischen Herleitungen der humanistischen Historiographie konstruierten sagenhaften Volksnamen auf, der infolge des Wortgleichklangs mit den Bewohnern Thüringens in Verbindung gebracht wurde. Zugleich wird mit den Landgrafen auf die für Thüringen prägende herrschaftliche Tradition der ludowingischen Landgrafschaft verwiesen, deren Memorialstätte als ein ideelles Zentrum des Landes aus dem Kartenbild hervorsticht. Man mag dies auch als einen Appell an den regierenden Landesherren deuten, angesichts der im Verlust seiner Residenz Grimmenstein kulminierenden erheblichen Macht- und Territorialeinbußen, sich in der Ausgestaltung seiner Alleinherrschaft umso mehr an der einstigen Größe und Rangstellung der thüringischen Landgrafen zu orientieren. Bündelt man alle diese Beobachtungen, lässt sich Mellingers Karte als Zeugnis eines spezifischen regionalen Eigenbewusstseins deuten, das sich vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse historisch speist aus alter, gentiler Besiedlung des in der Karte dargestellten Raumes durch die Thüringer und der auf Thüringen bezogenen Herrschafts- und Dynastiebildung der ludowingischen Landgrafen. Die Karte Johannes Mellingers ist nur noch in zwei Originalabzügen überliefert. Sie bildete die hauptsächliche Grundlage der Thüringen-Karten der zwei führenden kartographischen Großwerke der Zeit – für Abraham Ortelius' Sammlung „Theatrum orbis terrarum“ (ab 1573) und Gerhard Mercators Atlas (ab 1585). Doch es war nicht ihre Eigenart als Geschichtskarte, sondern ihre kartographische Qualität, die ihr eine bis 1630 anhaltende Wirkung einbrachte. Ortelius in Antwerpen und Mercator in Duisburg, beide fern von Thüringen in den Niederlanden bzw. am Niederrhein wirkende Kartographen, reduzierten für die Thüringen-Karten ihrer auf ein überregionales Publikum ausgerichteten Atlanten die als Vorlage genutzte Karte Mellingers auf ihr rein topographisches Abbild. Ortelius behielt die herausragende Stellung Reinhardsbrunns als Grablege der thüringischen Landgrafen im Kartenbild bei, vermutlich auch aus jenem historiographischen Interesse, das ihn zu einem der Begründer der Geschichtskarte als eigenständigem kartographischen Medium macht (Abb. 4). Mercator dagegen tilgte auch dieses letzte Überbleibsel der historiographischen Dimension der Kartenvorlage (Abb. 5). Er verkürzte Mellingers ausführlichen Titel schlagwortartig auf „Thvringia“ und unterwarf dessen Karte strikt seinem auf vereinheitlichten Kartenbildern beruhenden Atlaskonzept, das sich auszeichnet durch geodätische Exaktheit, in korrekten Proportionen zueinander stehenden Landschaftselementen und einer standardisierten formalen Karten-

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Abb. 4: Johann Mellinger, Tvringia Novissima Descriptio, in: Abraham Ortelius, Theatrum Orbis Terrarum, Antwerpen 1575

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Abb. 5: Thvringia, in: Gerhard Mercator, Atlas sive Cosmographicae Meditationes de Fabrica Mundi […], Duisburg 1595, Nr. 40

symbolik. Für Mercator haben politische und territorial definierte Grenzen und Räume nur untergeordnete Bedeutung – wenn, deutet er sie lediglich durch dünne punktierte Linien an, die erst der Besitzer des jeweiligen Blattes durch Illuminatoren in Linien- und Flächenkolorit ausgestalten konnte.12 Alle diese homogenisierenden Effekte in Mercators kartographischer Darstellung verstärken umso mehr die Vorstellung eines naturräumlich einheitlichen und dichtbesiedelten Thüringen. Mercator zielte damit auf den Entwurf einer allgemein-geographischen Karte Thüringens. Historiographische Aspekte verwies er in den Begleittext, der Beschreibung bzw. Erläuterung der Karte ist. Weit über Münster hinausgehend integrierte Mercator in seinen weiterhin stark historiographisch geprägten Text damit Elemente einer kommentierenden geographisch-landeskundlichen Beschreibung, die im Kartenbild visualisiert wird. 12 Horst u. a., Welt als Buch (wie Anm. 3), S. 108–113, zur Karte S. 131 f. Zur Kolorierung vgl. auch Rutz, Grenzziehungen (wie Anm. 4), S. 266.

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Mellingers durch Mercator vermitteltes und überarbeitetes Kartenbild Thüringens wurde ab 1604 nachgedruckt und weiterverbreitet von der in Amsterdam ansässigen Kartographenfamilie Hondius. Sie übernahm Mercators Kupferplatten und legte sie mit geringfügigen Korrekturen immer wieder neu auf. Erst 1633 veränderte sich diese Thüringen-Karte tiefgreifend (Abb. 6). Denn fortan griff Hondius auf Adolar Erichs „Tyringische Mapp oder Landtafel“ zurück, die schon um 1605 entstand, aber erst in einem Druck von 1625 und einer leicht variierenden Ausgabe von 1674 überliefert ist. Erichs Karte wurde die Grundlage aller bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erscheinenden Kartenwerke, allen voran die Atlanten von Blaeu, Merian und Homann und dessen Erben. Zunächst sei ein Blick auf dieses eigenwillige Stück thüringischer Kartographie geworfen: Die Rahmung der Karte bilden breite Bänder, die zur Linken und Rechten die Erzählungen der über Thüringen seit der Frühzeit gebietenden Herrscher aufnehmen, deren Taten sich zu einer Geschichte Thüringens zusammenfügen. In das Kartenbild hinein wuchern von links und rechts, ausgehend von Ludwig dem Bärtigen († im dritten Viertel des 11. Jahrhunderts) und Heinrich dem Erlauchten († 1288), die Genealogien der Ludowinger als Landgrafen von Thüringen und der Wettiner als Markgrafen von Meißen, über ihnen sind Thüringen-Lob Dichtungen platziert. Die Grundstruktur des Kartenbildes wird von den naturräumlichen Gegebenheiten Thüringens bestimmt, von Wasserläufen und den in zeittypischem Aufriss gezeichneten Berg- und Waldformationen. Die territoriale und administrative Gliederung des Raums deutet sich in dünnen gepunkteten Linien an. Diese in der Karte ausgespannten Netze von Gewässern, Gebirgen und Vegetation sowie Herrschafts- und Ämtergrenzen werden aufgefüllt mit Namen und Prospektansichten von nahezu allen damals existierenden thüringischen Orten (Siedlungen, Städten, Burgen, Ruinen und wüst gefallene Dörfer). Hinzu kommen die Wappen der thüringischen Herrschaften, bildhafte Darstellungen, wie eine der bis 1910 produzierenden Waidmühlen von Pferdingsleben und der Buttstedter Viehmarkt, und die über das ganze Blatt verteilten zahlreichen, annotierenden Textschilder mit geographischen Informationen und chronikalischen Nachrichten (Abb. 7 u. 8). In der Titelkartusche umreißt Adolar Erich, der zugleich Theologe, Kartograph und Historiograph war, im ausufernden barocken Stil der Zeit seine choro- und historiographischen Intentionen. Sie finden Platz auf einer Fläche von 112 cm Höhe und 132 cm Breite, werden als Holzschnitt ausgeführt und folgen dem Typus der damals schon veraltenden repräsentativen Landtafeln,

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Abb. 6: Adolar Erich/Hendrik Hondius, Thuringia Lantgraviatus, Amsterdam 1633

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Abb. 7: Adolar Erich, Tyringische Mapp Oder Landtafel […], Erfurt 1625

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Abb. 8: Adolar Erich, Tyringische Mapp Oder Landtafel […], Erfurt 1625, Ausschnitt

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ohne deren Höhepunkt, Philipp Apians Wandkarte des Herzogtums Bayern von 1563, nahe zu kommen.13 Erichs Karte ist „Chorographia“, also Beschreibung des Landes Thüringen, und „Tyringische Mapp“, also kartographische Visualisierung Thüringens. Sie ist „vollständige Delineation“, also bildliche Darstellung“ und „Landbeschreibung der Landgrafschaft Thüringen“. Sie verbindet in komprimierter Darstellung historische Landesbeschreibung und geographische Landesaufnahme. Ihre geodätischen Daten waren allerdings noch dünn und ungesichert. Ihre historiographische Basis ist verloren, denn Adolar Erichs „Thüringische Chronica“ in 25 Bänden wurde bis auf den heute in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel überlieferten Band zur Geschichte Erfurts in den Wirren des 30-jährigen Krieges vernichtet. Die Landtafel Adolar Erichs, dessen Wirkungsbereich mitten in Thüringen zwischen Erfurt und Sömmerda – in Andisleben (in seiner Karte als „autoris patria“ hervorgehoben), in Großmonra und in Bachra – lag, gilt wegen ihres hohen kartographisch-geographischen Wertes als die bedeutendste Landkarte Gesamtthüringens im 17. und 18. Jahrhundert. Unter „Weglassung aller Auswüchse“ und „befreit […] von allem unsachlichem Beiwerk“14 avancierte sie in der im Hondius-Atlas von 1633 weitverbreiteten Variante, in der ihre ursprüngliche Gestalt nur noch rudimentär zu erkennen ist, für anderthalb Jahrhunderte zur Leitkarte Thüringens. Vieles spricht dafür, dass deren Vorlage jedoch nicht Erichs großformatige Landtafel war, sondern eine von ihm selbst entworfene Handzeichnung, die heute in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar bewahrt wird (Abb. 9). Diese in der Kartographiegeschichte Thüringens bisher wenig beachtete Karte war, wie ihre Widmungskartusche ausweist, ein Auftragswerk Herzog Wilhelms von Sachsen (1598–1662). Dem Mitbegründer der Fruchtbringenden Gesellschaft – der ersten deutschen Akademie, die sich der Pflege der deutschen Sprache und Kommunikation widmete – wurde später das Epitheton „der Große“ beigelegt. Es verweist auf Wilhelms Rang als dem vielversprechendsten Vertreter der sich im 17. Jahrhundert immer weiter verzweigenden ernestinischen Dynastie der Wettiner. Auf Wilhelms „gnädiges Begehren“ hin schuf 13 Hans Wolff, Die Bayerischen Landtafeln – das kartographische Meisterwerk Philipp Apians – und ihr Nachwirken, in: Ders. (Hg.), Philipp Apian und die Kartographie der Renaissance 1989, S. 74–124. 14 Vgl. Johann Christoph Adelung, Kritisches Verzeichniß der Landkarten und der vornehmsten topographischen Blätter der Chur- und Fürstlich-Sächsischen Lande, Meißen 1796, S. 233; Lehmann, Beiträge (wie Anm. 1), S. 23.

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Abb. 9: Adolar Erich, Türingische Mappa oder Landt Taffel, Andisleben 1633

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Adolar Erich 1633 eine repräsentative Karte, ausgeführt auf Pergament und mit Gold gehöht. Für seinen Landesherren adaptierte Erich die kartographischen Grunddispositionen seiner älteren großformatigen Landtafel auf ein auf 64 cm x 52 cm verkleinertes Format und reduzierte sie unter Weglassung fast allen historiographischen, literarischen und bildlichen Beiwerks auf ihren topographischen Kern. Zugleich bildete Erich die zeitgenössische Vorstellung von Thüringen in seinen damaligen Grenzen ab, indem er die Thüringen benachbarten Regionen kartographisch nicht ausführte. Hondius, vom Horror vacui befallen, füllte vor allem die westlich Thüringens gelegenen weiß gebliebenen Flächen wieder auf, allerdings nicht mit kartographischen Informationen, sondern mit völlig nichtssagenden Strukturen und verunklärte so Erichs präzises Bild. Erich selbst gab damit die Rezeption seiner großen Landtafel vor. Im 17. Jahrhundert war sie offenbar noch eine wichtige historiographische Quelle. So stellte der bis zum 19. Jahrhundert viel gelesene Landeschronist Georg Michael Pfefferkorn Erichs Tafel als „ein Auszug eines Geschicht-Buchs und an statt einer kurzen Beschreibung der Thüringischen Könige, Herren und Land-Grafen“ in eine Reihe mit jenen zahlreichen „Thüringischen Chroniken“, aus denen er seine weitverbreitete Geschichte Thüringens (1684/85) schöpfte.15 Aber erst das um seine vielschichtige choro-historiographische Dimension schon von Erich selbst um 1633 beraubte Kartenbild der „Tyringischen Mapp“ wurde in der Wiedergabe von Hendrik Hondius zum Meilenstein einer immer präziseren kartographischen Visualisierung, die in ihrem Endzweck auf eine geodätisch exakte, topographisch zuverlässige Karte Thüringens zuläuft. Entzieht man sich diesen teleologischen Narrativen der Kartographie­ geschichte und nimmt die historiographische Dimension in die Betrachtung von Erichs origineller Karte wieder hinein, so ergeben sich vor allem zwei bemerkenswerte Aspekte: Es ist dies zunächst die medienhistorische Ambiguität von Erichs Karte. Einerseits galt sie schon im 17. Jahrhundert wegen ihrer Ausführung im Holzschnittverfahren gegenüber dem immer mehr üblicher werdenden Kupferstich als veraltet. 1796 fällte Johann Christoph Adelung, der als Oberbibliothekar der Kurfürstlichen Bibliothek in Dresden ein kritisches Verzeichnis der Landkarten 15 Georg Michael Pfefferkorn, Merkwürdige und Auserlesene Geschichte von der berümten Landgrafschaft Thüringen […], Frankfurt am Main/Gotha 1685, S. 13. Zur Bedeutung von Pfefferkorns Chronik in der thüringischen Landesgeschichtsschreibung vgl. Hans Patze, Landesgeschichtsschreibung Thüringens, in: Ders./Walter Schlesinger (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 1: Grundlagen und frühes Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen, 48/1), Köln u. a. 21985, S. 1–47, hier S. 28 f.

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und topographischen Blätter der sächsischen Länder anlegte, das vernichtende inhaltliche Urteil. In der Morgendämmerung der wissenschaftlichen Kartographie war ihm Erichs Karte nur noch ein Kuriosum barocker Gelehrsamkeit, „ein historisches, geographisches und moralisches Allerley“.16 Andererseits erscheint sie in ihrem Bestreben, die vielfältigen Formen der zeitgenössischen enzyklopädischen Speicherung von Wissen für bzw. über Thüringen auf einem Blatt zu bündeln, als zukunftsweisend für das spezialisierte Instrumentarium der Landesgeschichte als Fachdisziplin. Und schließlich wirkt die Komposition ihrer Wissenselemente als Vorbote der modernen Informationsgraphiken des 20. und 21. Jahrhunderts.17 Der andere Aspekt betrifft die in Erichs „Tyringischer Mapp“ greifbaren Thüringen-Vorstellungen, die verbunden sind mit Fragen nach dem Gebrauch, der Verbreitung und Wirkung dieser für ein breiteres Publikum geschaffenen Karte. Erich differenziert offenbar nicht zwischen dem Land Thüringen und der Landgrafschaft Thüringen. Vielmehr wird in seiner Karte die allgemeine zeitgenössische Tendenz greifbar, territorialherrschaftlich definierten Raumbezeichnungen in Karten den Vorzug zu geben. Die Gesamt-Thüringen abbildenden Karten des 17. und 18. Jahrhunderts tragen alle den Titel „Landgraviatus Thuringia“, der zu einer den ganzen Raum Thüringens umgreifenden Benennung wird. Wie sehr sich diese Benennung von der den Landgrafentitel tragenden ernestinischen Dynastie zu lösen begann, mag man an Erichs Karte auch daran ablesen, dass sie – zumindest ihre zwei überlieferten Drucke – nicht explizit den regierenden Landesherren gewidmet ist, sondern Gott zu Ehren und „dem geliebten Vaterland zu Dienst und schuldiger Dankbarkeit“.18 Erich entwarf ein Tableau dessen, was nach damaliger Kenntnis Land und Landgrafschaft Thüringen geographisch, historisch und dynastisch ausmachten. Die vielfältigen Facetten dessen, was Thüringen meint bzw. auf das, worauf sich der Thüringen-Begriff beziehen kann – Landschaft, Herrschaft, Geschichte – werden schließlich im Wort „Vaterland“ gebündelt: sie sollen „allen des Vaterlandes unnd edler Künste Liebhabern […] für Augen gestellet werden“. Es ist dies die Aufforderung an den Betrachter der Karte, zu sehen und zu begreifen, was Thüringen ist, um Thüringen als Vaterland anzunehmen, sich als Thüringer zu verstehen. 16 Adelung, Verzeichniß (wie Anm. 14), S. 232. 17 Sandra Rendgen, History of Information Graphics, hg. von Julius Wiedemann, Köln 2019. 18 Der erschlossene Druck von um 1605 soll laut Nachricht von Pfefferkorn, Geschichte (wie Anm. 15), S. 13, dem damals regierenden Kurfürsten Christian II. († 1611) gewidmet gewesen sein.

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Und dieses Angebot wurde offenbar auch angenommen, wenn man die Zeugnisse für die Verbreitung und den Gebrauch der Karte näher betrachtet.19 Schon die Größe der Tafel und der Holzschnitt, dessen vergröbernde Darstellung eine Fernansicht unterstützt, sind Indizien für den von Erich beabsichtigten repräsentativen Gebrauch seiner „Tyringischen Mapp“. Eine Reihe von Zeugnissen belegt, dass in den Jahren vor 1620 die Räte thüringischer Städte, nachweislich in Erfurt, Jena, Langensalza und Mühlhausen, die erste Ausgabe der Landtafel erwarben. Langensalza kaufte im Abstand von jeweils fünf Jahren insgesamt sogar drei Exemplare und erwarb 1625 mit der zweiten Druckausgabe schließlich die vierte „Tyringische Mapp“. Die Karte fand also in Thüringen ihre Abnehmer und Verbreitung. Der in Rechnungen aus Erfurt und Langensalza nachgewiesene Kauf von Leinentuch zeigt eindrücklich, dass die Karte aufgezogen wurde, um sie aufzuhängen und vermutlich auch im öffentlichen Raum zu präsentieren. Ein derartiger Gebrauch großformatiger Karten erhöht ihre Überlieferungschance allerdings nicht. Von der ersten Druckausgabe, von der sich historisch mindestens sechs Exemplare nachweisen lassen, ist kein einziges Exemplar in die Gegenwart überkommen. Während für die Wahrnehmung und Wirkung der Karte im öffentlichen Raum bedauerlicherweise keine Nachrichten überliefert sind, existiert ein umso aussagekräftigeres Zeugnis aus dem gelehrten Umfeld, das sich offensichtlich auf die erste Druckausgabe der Landtafel bezieht. Der „Thüringischen Chronica“ des Johann Binhard von 1613 ist unter dem Titel „Thvringiae“ ein Lobgedicht auf Thüringen vorangestellt, das der von Franken nach Thüringen verschlagene Pfarrer Andreas Henaeus verfasst hatte.20 In diesem schreibt er, dass er sein Wissen über Land und Geschichte Thüringens vor allem Adolar Erich verdanke, der ihm gleich einem zweiten Ptolemäus das Thüringer Land vor Augen gestellt habe. Erichs Landtafel war also in der Tat geeignet, sich mit dem Land Thüringen zu identifizieren.

19 Vgl. für alle nachfolgenden Nachrichten zum zeitgenössischen Gebrauch der Karte Görner, Landkarten (wie Anm. 2), S. 32–34. 20 Johann Binhard, Newe vollkommene Thüringische Chronica […], Leipzig 1613 [Reprintausgabe Bad Langensalza 1999], o. S.

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Die hier vorgestellten frühneuzeitlichen Gelehrtenkartographien, die weite Verbreitung fanden und öffentliche Wirksamkeit entfalteten, stellen nicht nur gewichtige Marksteine einer Kartographiegeschichte Thüringens dar, sondern sie sind auch als eigenständige Zeugnisse regionaler, auf Thüringen bezogener Identität zu deuten. Aussagekräftig sind vor allem Karten, die Gelehrte entwarfen, die aus Thüringen stammten bzw. in Thüringen wirkten, und in denen sich Topographie, Chorographie und Historiographie verschränken. Die Karten Johannes Mellingers und Adolar Erichs sind in ihrer beeindruckenden Raumkenntnis und ihrer zeitgenössischen Standards entsprechenden geodätischen Qualität als Vorstufen von Landesaufnahmen anzusprechen. Zugleich lassen sie ein regionales Bewusstsein erkennen, dessen Inhalte bezogen sind auf ein Thüringen als dem alten Siedlungsraum der Thüringer und auf die über Volk und Land der Thüringer seit alters her gebietenden Oberherrschaften, wobei der hochmittelalterlichen ludowingischen Landgrafschaft ein herausragender Rang zugemessen wird – es ist der ranghöchste auf Thüringen zu beziehende, mit Thüringen verknüpfte Titel. Bei Erich kulminiert dies in dem Versuch, den von ihm kartierten Raum und dessen geographische und historiographische Beschreibung in einem Bild und in dem Begriff des „Vaterlandes“ zu bündeln. Diese historiographischen Spezifika entfallen bei der Übernahme dieser Karten in die auf ein europäisches Publikum zielenden Großwerke der zeitgenössischen Atlaskartographie nahezu völlig bzw. bleiben den erläuternden Begleittexten vorbehalten. Übernommen wurden naturräumliche und territorialgeographische Informationen, die in eine vereinheitlichende Kartensprache übersetzt werden. In diesen Karten, für die Mercators Thüringen-Karte exemplarisch ist, erscheint Thüringen als ein eigenständiger, naturräumlich und territorial abgegrenzter Raum. Noch deutlicher wird dies in der auf Erichs Handzeichnung von 1633 fußenden Karte „Thvringia Landgraviatvs“ von Blaeu (ab 1634), in der die Thüringen umgebenden Regionen kartographisch nicht ausgeführt werden, also weiß bleiben (Abb. 10). Bezeichnungen des Raumes – ab 1500 zunächst der aus der frühmittelalterlichen Ethnogenese erwachsende Landesname „Thuringia“ und ab dem frühen 17. Jahrhundert der sich in den hochmittelalterlichen territorialherrschaftlichen Differenzierungsprozessen herausbildende Begriff der „Landgraviatus Thuringia“ – werden zu geographischen Ordnungsbegriffen und überwölben die sich in den Karten immer stärker abbildende territorialherrschaftliche Vielfalt Thüringens, wofür das Thüringen-Blatt der Homann-Atlanten ein

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Abb. 10: Adolar Erich/Joan Blaeu, Thvringia Landgraviatvs, Amsterdam 1662

Beispiel ist (Abb. 11). Die einzelnen Territorien werden durch Flächen- und Linienkolorit ausgezeichnet, die Legende am linken unteren Kartenrand gibt hierfür die Erläuterungen. Am rechten Kartenrand aber und bildkonzeptionell ein deutliches Gegengewicht bildend steht der das Blatt bezeichnende Titel in einer mit bildlichen und emblematischen Elementen reich ausgezeichneten Titelkartusche „Landgraviatus Thuringiae Tabula Generalis“. Angesichts des konservativen Charakters frühneuzeitlicher Gelehrtenkartographie, deren Kartenbilder über Jahrzehnte hinweg nicht aktualisiert wurden, leben so „Thüringen“ und die „Landgrafschaft Thüringen“ in den Karten fort und werden zu tief in der Geschichte Thüringens liegenden Ankern eines übergreifenden regionalen Bewusstseins, auch wenn die einzelnen Territorien Thüringen nicht mehr im Namen führen. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Befragung frühneuzeitlicher ThüringenKarten als Zeugnisse eines thüringischen Eigenbewusstseins äußerst vielversprechend ist. Erste Überlegungen dazu sind hier an aussagekräftigen Beispielen der Kartographie des vormodernen Thüringen entwickelt worden. Sie

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Abb. 11: Adolar Erich/Johann Baptist und Johann Christoph Homann, Landgraviatus Thuringiae Tabula Generalis, Nürnberg 1729

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sind in künftigen Forschungen auf ihre Konsistenz und Evidenz zu prüfen, auch durch die Erweiterung des Untersuchungsfeldes, insbesondere auf die Geschichtskarten, die sich beginnend mit Ortelius im Verlauf des 17. Jahrhunderts als spezifische kartographische Medien ausbildeten. Einzubeziehen wären ebenso die hier nur am Rande angesprochenen einschlägigen Medien und Äußerungsformen eines regionalen Bewusstseins – die sich breit entfaltende und verästelnde frühneuzeitliche Landesgeschichtsschreibung Thüringens und poetisch-panegyrische Zeugnisse wie das Landeslob barocker Dichtung. Denn sie haben die Konzeption der Karten Mellingers und Erichs tiefgreifend mitbestimmt. An Johannes Mellingers Thüringen-Karte und Adolar Erichs Landtafel kann gezeigt werden, in welch komplexen medialen Zusammenhängen und inhaltlichen Bezügen Kartographie, Geographie, Historiographie und Literatur in der Frühen Neuzeit miteinander stehen. Es deutet sich hier nicht zuletzt der Aufriss eines Forschungsprogramms an, das eine Brücke schlägt zwischen dem spätmittelalterlichen thüringischen Landes- und Eigenbewusstsein und den ab 1800 einsetzenden Thüringen-Diskursen.21

21 Digitalisate aller hier angesprochenen Karten sind zugänglich über das Kartenforum der Deutschen Fotothek: http://www.deutschefotothek.de. Die Handzeichnung Adolar Erichs (Türingische Mappa, 1633) ist zugänglich über die Digitalen Sammlungen der HAAB Weimar, https://haab-digital.klassik-stiftung.de (letzter Zugriff: 29. November 2022).

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Literatur Peter Aufgebauer u. a. (Hg.), Johann Mellinger. Atlas des Fürstentums Lüneburg um 1600 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen, 41), Bielefeld 2001. Fritz Bönisch/Hans Brichzin/Klaus Schillinger/Werner Stams, Kursächsische Kartographie bis zum 30jährigen Krieg, Bd. 1: Die Anfänge des Kartenwesens (Veröffentlichungen des Staatlichen Mathematisch-Physikalischen Salons, 8), Berlin 1990. Marcel van den Broecke, Ortelius Atlas Maps. An illustrated Guide, Houten 22011. Axelle Chassagnette, Gedruckte Karten Kursachsens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts: die Darstellung der Geschichte und des Territoriums im Spiegel der gelehrten Kartographie, in: Johannes Helmrath/Albert Schirrmeister/Stefan Schlelein (Hg.), Historiographie des Humanismus. Literarische Verfahren, soziale Praxis, geschichtliche Räume (Transformationen der Antike, 12), Berlin/New York 2012, S. 251–274. Corpus der älteren Germania-Karten. Ein annotierter Katalog der gedruckten Gesamt­ karten des deutschen Raumes von den Anfängen bis um 1650, bearb. von Peter Meurer, Alphen aan den Rijn 2001. Gunter Görner, Alte Thüringer Landkarten 1550–1750 und das Wirken des Kartographen Adolar Erich, Bad Langensalza 2001. Johannes Helmrath, Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500, in: Matthias Werner (Hg.), Spätmittelalterliches Landesbewusstsein in Deutschland (Vorträge und Forschungen, 61), Ostfildern 2005, S. 333–392. Thomas Horst/Wolfgang Crom, Die Welt als Buch – Gerhard Mercator (1502–1594) und der erste Weltatlas, Darmstadt 2012. Peter Meurer, Cartography in the German Lands, 1450–1650, in: The History of Cartography, hg. von J. B. Harley/David Woodward, Vol. 3: Cartography in the European Renaissance, Pt. 2, Chicago 2007, S. 1172–1245. Andreas Rutz, Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich (Norm und Struktur, 47), Köln/Weimar/Wien 2018. Albert Schirrmeister, Was sind humanistische Landesbeschreibungen? Korpusfragen und Textsorten, in: Johannes Helmrath/Albert Schirrmeister/Stefan Schlelein (Hg.), Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung (Transformationen der Antike, 11), Berlin/New York 2009, S. 5–46.

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Matthias Werner, Die Anfänge eines Landesbewußtseins in Thüringen, in: Michael Gockel (Hg.), Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, Marburg 1992, S. 81–137. Ders., „Ich bin ein Durenc“. Vom Umgang mit der eigenen Geschichte im mittelalterlichen Thüringen, in: Ders. (Hg.), Identität und Geschichte (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 1), Weimar 1997, S. 79–104.

Gerhard Müller/Joachim Bauer

Das ungeteilte Erbe. Die „Gesamtuniversität“ Jena und Identitätsbildungen im ernestinischen Thüringen Die ersten Entwicklungsphasen der Salana sind mit den Begriffen der „konfessionellen“ und „frühaufklärerischen“ Universität umschreibbar. Die Salana war im 16. Jahrhundert im Zuge der sogenannten zweiten Welle der Universitätsgründungen im Reich und der landesherrlich bestimmten Reformation entstanden.1 Mit den Gründungen des 15. Jahrhunderts teilte sie alle Phasen des Gründungsvorganges: Dotierung, päpstliche bzw. kaiserliche Bestätigung, die Beteiligung der Fürsten, Räte bzw. Stadtobrigkeiten beim Gründungsvorgang sowie den notwendigen Zeitraum, dessen eine erfolgreiche Gründung bedurfte. Sie war zudem, wie andere Gründungen des späten 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts, ein „frommes Werk“ im Sinne der Kirchenreform, Element eines „Bildungsaufbruches“.2 Gleichzeitig repräsentierte die Salana aber auch bereits den „Typus der Universität des konfessionellen Zeitalters“,3 und zwar in einer extrem lutherisch 1 Vgl. Ernst Schubert, Motive und Probleme deutscher Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts, in: Peter Baumgart/Notker Hammerstein (Hg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Forschungen, 4), Nendeln-Liechtenstein 1978, S. 13–74; sowie Sönke Lorenz (Hg.), Attempto – oder wie stiftet man eine Universität. Die Universitätsgründungen der sogenannten zweiten Gründungswelle im Vergleich (Contubernium, 50), Stuttgart 1999. In die Untersuchung wurden die Gründungen bzw. Gründungsversuche der Universitäten Regensburg, Lüneburg, Breslau, Pforzheim, Greifswald, Trier, Freiburg, Basel, Ingolstadt, Mainz, Tübingen, Wittenberg und Frankfurt a. d. O. einbezogen. 2 Vgl. Ernst Schubert, Zusammenfassung. in: Lorenz, Attempto (wie Anm. 1), S. 256. 3 Vgl. Peter Baumgart, Die deutschen Universitäten im Zeichen des Konfessionalismus, in: Alexander Patschovsky/Horst Rabe (Hg.), Die Universität in Alteuropa (Konstanzer Bibliothek, 22), Konstanz 1994, S. 147–168, Zitat S. 150. Grundsätzlich zum Thema vgl. auch Notker Hammerstein, Zur Geschichte und Bedeutung der Universitäten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: HZ 24 (1985), S. 287–328. Auch Rudolf Stichweh macht in der Territorialstaatlichkeit und der Konfessionalität die entscheidenden Determinanten der frühmodernen Universität aus. Daraus resultierend sei es zu einer Einschränkung der ursprünglichen Universalität der Universität gekommen. Vgl. Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.–18. Jahrhundert), Frankfurt a.M. 1991, S. 22 f.; vgl. zudem Ludwig Petry, Die

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und territorialstaatlich bestimmten Variante. Sie unterschied sich von den älteren Studien – Marburg (1527), Bern (1528) und Königsberg (1544) – dadurch, dass sie in einer dramatischen Herrschaftskrise der Ernestiner projektiert wurde. 1548, auf dem Tiefpunkt landesherrlicher Macht, erhielt die Gründung der Hohen Schule in Jena eine besondere Bedeutung. Es ging nicht nur um eine Neustiftung, sondern um eine „Glaubens“-Entscheidung, um die Weichenstellung für den künftigen Werdegang der „lutherischen“ Reformation im Territorium und Reich. Jena profilierte sich durch sein orthodoxes Luthertum. Mit der erfolgreichen Konstituierung einer neuen ernestinischen Universität entstanden der Gründungsmythos vom lutherisch-protestantischen Jena und, damit untrennbar verbunden, der Anspruch, für den Erhalt des „wahren“ Luthertums zu stehen,4 beides bis ins 19. Jahrhundert identitätsprägend für die Ernestiner. Es dauerte bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, bis die Salana alle Elemente einer Volluniversität auszuprägen vermochte. Wie alle älteren Universitäten nach dem Prinzip der akademischen Selbstverwaltung organisiert, verfügte sie über keinen festen staatlichen Etat, der ihre Aufrechterhaltung garantierte, sondern musste ihr materielles Dasein, wenngleich staatlich kontrolliert, auf der Grundlage des ihr 1633 zugewiesenen Dotationsgutes sowie diverser Stiftungen, Zinsen und Privilegien eigenwirtschaftlich sichern. Das bedeutete für Jena zwar immer einen Existenzkampf, ermöglichte aber auch größere korporative Freiräume.5 Da für zahlreiche Mitglieder des Lehrkörpers und andere Universitätsbeamte Einnahmen aus studentischer Hand existenznotwendig waren, entwickelte sich eine spezifische Symbiose zwischen den einzelnen Gruppen der Korporation. Die Salana, die mit Beginn der ernestinischen Landesteilungen 1572 als „Gesamtuniversität“ im gemeinschaftlichen Besitz der Dynastie blieb, war seitdem von mehreren Erhaltern abhängig. Dies stärkte ebenfalls ihre Autonomie, da herrschaftliche Entscheidungen für die Universität nur rechtskräftig werden konnten, wenn übereinstimmende Reskripte aller an der Nutritorengemeinschaft beteiligten Höfe vorlagen. Reformation als Epoche der deutschen Universitätsgeschichte. Eine Zwischenbilanz, in: Erwin Iserloh/Peter Manns (Hg.), Glaube und Geschichte. Festgabe J. Lortz, Bd. 2, Baden-Baden 1958, S. 317–319; Ders., Die deutsche Universität des 16. Jahrhunderts. Das Beispiel Marburg, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28 (1978), S. 50 f.; Martin Kitzinger, Frankfurt an der Oder. Eine moderne Universität?, in: Lorenz, Attempto (wie Anm. 1), S. 210. 4 Vgl. grundlegend: Joachim Bauer, Universitätsgeschichte und Mythos. Erinnerung, Selbstvergewisserung und Selbstverständnis Jenaer Akademiker 1548–1858, Stuttgart 2012, bes. S. 59–95. 5 Vgl. Heinz Wiessner, Die wirtschaftlichen Grundlagen der Universität Jena im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1548/58–1658), Phil. Diss. Jena 1955 (MS).

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Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wuchs die Salana langsam aus der konfessionellen, an die Stiftungsintention des 16. Jahrhunderts gebundenen Phase in ein Stadium der Selbstprofilierung hinein, das von einer erneuten Ortsbestimmung in ihrem sozialen Umfeld gekennzeichnet war. Zwar gab es in diesem Prozess mitunter auch Eingriffe der frühneuzeitlichen Staatlichkeit, denn die häufigen Landesteilungen führten dazu, dass die „bildungspolitischen“ Intentionen der verschiedenen Nutritoren wechselten und bald mehr, bald weniger Einfluss erlangten. Demgegenüber suchte die Universität ihre eigene, sich von herrschaftlicher Einflussnahme emanzipierende „korporative Identität“ sowie ihre Stellung als eigenberechtigte Institution weiter auszuprägen. Seit dem 17. Jahrhundert bemühten sich sowohl die Nutritoren, als auch die Universität daher verstärkt darum, den äußeren und inneren Rechtsstatus der Korporation exakt zu bestimmen. Das belegen die Vereinbarungen der Erb- und Landesteilungen bzw. Statutenänderungen ebenso wie Visitationsdekrete und Mandate.6 Das lutherisch-konfessionelle Selbstverständnis der Jenaer Universität wurde seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert durch das einer Hochschule ergänzt, die sich, den Prinzipien der Rationalität verpflichtet, als leistungsfähig, wo nicht gegenüber anderen Hochschulen herausragend, darstellen wollte und dies in der Phase der Frühaufklärung unter Erhard Weigel und Johann Franz Buddeus noch vor Halle und Göttingen auch tatsächlich konnte. In dieser Phase erreichte die Salana mit einer durchschnittlichen Jahresimmatrikulation von 720 Studierenden (1711–1720) ihr erstes Frequenzhoch. Die Jenaer Universität wurde damit nicht nur als Wissenschaftsstandort, sondern auch als Wirtschaftsfaktor bedeutend. Allerdings setzte seit den 1720er  Jahren, ähnlich wie damals auch bei vielen anderen deutschen Universitäten, allmählich eine krisenhafte Entwicklung ein. Man reagierte darauf mit mannigfachen Reformüberlegungen.7 Einer der Hauptansatzpunkte war dabei die sehr mangelhafte studentische Disziplin, die Jena in den Ruf einer 6 Eine Gesamtdarstellung zur Verfassungs- und Rechtsentwicklung der Salana liegt bis heute nicht vor. Nach wie vor grundlegend sind die älteren universitäts- und landesgeschichtlichen Darstellungen von Richard Loening, Über ältere Rechts- und Kulturzustände an der Fürstlich Sächsischen Gesammt-Universität zu Jena. Rede gehalten bei der akademischen Preisvertheilung vom 19. Juni 1897 in der Kollegienkirche zu Jena, Jena 1897; Georg Mentz, Weimarische Staats- und Regentengeschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Carl Augusts, Jena 1936 (Carl August. Darstellungen und Briefe zur Geschichte des Weimarischen Fürstenhauses und Landes, 1) und Fritz Hartung, Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung Carl Augusts 1775–1828, Weimar 1923. 7 Vgl. [Johann Christoph Mylius], Das in dem Jahre 1743 Blühende Jena. Darinnen von dem Ursprung der Stadt, Stifftung der Universität, und was sonsten zu dieser gehörig, besonders

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Rauf- und Saufuniversität gebracht hatte und deren Verbesserung man sowohl als Resultat einer rigorosen Umsetzung der akademischen Gesetze, als auch Wahrnehmung der Fürsorgepflicht durch Universität und Erhalter darzustellen versuchte.8 Diese Bemühungen waren aber zugleich auch Ausdruck eines ausgesprochen dynamischen Übergangsprozesses. Sie reflektierten einerseits ein deutliches Krisenbewusstsein, das Erscheinungen wie Konkurrenzempfinden, Frequenzabfall, Konflikte zwischen Staat und Korporation sowie die Mängel der finanziellen und personellen Ausstattung thematisierte. Auf der anderen Seite offenbarten sich aber auch vor allem im Nachwuchsbereich bzw. bei Außenberufungen nachdrückliche Innovationsansprüche. Der im Zuge dieser Entwicklung einsetzende dritte Entwicklungsabschnitt der Salana führte zu einer Renaissance der Universität als ständische Korporation. In den im gesamten Reich geführten Debatten um die Zukunft der protestantischen Universitäten war die Position der Jenaer Universität neu zu bestimmen.9 Mit der Visitation von 1766/67 erreichte man in Jena einen Abschluss der Krisendebatte und einen Neubeginn. Der von dem Professor der Rechte Achatius Ludwig Carl Schmid10 entworfene Reformplan betraf auch die Universität.11 Dreh- und Angelpunkt von Schmids 1772 vorgelegter Reformschrift bildete das Bestreben, die Salana auf den Überlebenskampf der protestantischen Universitäten einzustellen.12 Das alte Korporationsmodell sollte entschlackt und effektiv reorganisiert werden. Schmid präsentierte ein speziell auf Jena bezogenes System, wonach die Effektivierung der alten Tradas Leben der Gelehrten erzehlet wird, Jena [1743]; [Bernhard Basilius Wiedeburg], Ausführliche Nachricht von der jenaischen Akademie, Jena 1751. 8 Vgl. Wiedeburg, Ausführliche Nachricht (wie Anm. 7), S. 90–92. 9 Vgl. Johann David Michaelis, Räsonnement über die protestantischen Universitäten in Deutschland, Teil 1, Frankfurt und Leipzig, 1768, S. 1–3, 23–25, 89–91, 247–248, 256–258. 10 Schmid war promovierter Jenaer Jurist, folgte nach einer erfolgreichen Beamtenlaufbahn (1756– 1763) im Coburgischen Staatsdienst 1763 einem Ruf als ordentlicher Professor der Pandekten und Assessor am Schöppenstuhl nach Jena. 1766 trat er als Geheimer Assistenzrat in Weimarische Dienste, wurde 1776 Geheimer Rat und schließlich Kanzler der Regierung zu Weimar. 11 Vgl. Mentz, Weimarische Staats- und Regentengeschichte (wie Anm. 6), S. 302–304 sowie mit neuen Forschungsergebnissen Marcus Ventzke, Die Regierung des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach (1775–1783). Modellfall aufgeklärter Herrschaft? (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 10), Köln/Weimar/Wien 2004 und Joachim Berger, Anna Amalia von Weimar (1739–1807) – Denk- und Handlungsräume einer „aufgeklärten“ Fürstin (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, 4), Heidelberg 2004 . 12 Vgl. Achatius Ludwig Carl Schmid, Zuverlässiger Unterricht von der Verfassung der Herzog­ lich Sächsischen Gesamtakademie zu Jena, Jena 1772.

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ditionsuniversität in ihren Grundbestandteilen im Zentrum stand.13 Zu den damals ergriffenen Maßnahmen zählten die Herstellung voller Lehr- und Wissenschaftsfreiheit auch im Bereich der Extraordinarien und Privatdozenten, Gleichberechtigung aller Ordinarien und Fakultäten im Senat durch Beseitigung zusätzlicher hierarchischer Strukturen innerhalb der Korporation wie z. B. durch die Reform des Concilium arctius,14 und schließlich die Stabilisierung der finanziellen und wirtschaftlichen Basis. Letztere wurde unter Beibehaltung der vollen finanziellen Autonomie der Universität auf Initiative Sachsen-­ Weimars durch einen zusätzlichen, vom Dotalvermögen unabhängigen, vorerst noch provisorisch gewährten Zuschuss zu den Professorengehältern und über subsidiäre Finanzierung bestimmter Personen und Einrichtungen durch Mittel einzelner Höfe ermöglicht. Freilich vermochten die heilsamen Wirkungen dieser Reformen erst Jahre später hervorzutreten. Vorerst schien sich die Lage der Universität trotz aller Anstrengungen nicht wesentlich verbessern zu wollen, zumal 1772 die Kammer eines der fürstlichen Erhalter, des Herzogs von Sachsen-Coburg-Saalfeld, wegen chronischer Zahlungsunfähigkeit unter einen kaiserlichen Debitkommissar, eine durch den Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg ausgeübte treuhänderische Insolvenzverwaltung, gestellt wurde und über die bestehenden Ordinaria hinaus keinerlei Ausgaben mehr tätigen durfte. Da alle die Universität betreffenden herrschaftlichen Maßnahmen der Nutritoren nur gemeinschaftlich und übereinstimmend getroffen werden durften, konnten seitdem weder neue Lehrstühle gestiftet, noch die Professorengehälter erhöht oder projektierte Universitätsinstitute wie eine medizinische Klinik und ein neuer, hinreichend großer botanischer Garten eingerichtet werden. Wieder wanderten namhafte Hochschullehrer ab, und die Studentenfrequenz sank auf das Niveau der schlimmsten Zeiten des 30-jährigen Krieges. Doch nach dem Tiefpunkt von 1775 begann sich die Jenaer Universität nicht nur zu erholen, sondern erfuhr eine erstaunliche Aufwärtsentwicklung, die sie 13 Vgl. ebd., S. 70. 14 Das Concilium arctius als engerer Ausschuss des Senats, der als oligarchisches Leitungsgremium der Universität die Kompetenzen des Senats erheblich einschränkte, war 1728 auf Betreiben des Weimarer Herzogs Ernst August geschaffen worden, vgl. Heinz Wiessner, Das Concilium Arctius an der Universität Jena von 1722 bis 1767, in: Forschungen zur Thüringischen Landesgeschichte, Weimar 1958, S. 459–493, bes. S. 489–493. Die Reform von 1767 beschränkte die Kompetenzen dieses Gremiums, das sich jetzt nur noch aus im halbjährlichen Wechsel aus den Dekanen der vier Fakultäten und dem Prorektor zusammensetzte, auf die Kontrolle der akademischen Wirtschaftseinrichtungen und der studentischen Disziplin.

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schließlich in den 1790er Jahren zur geistig führenden Hochschule Deutschlands werden ließ. Versucht man eine Erklärung dieses Phänomens, so stößt man auf zwei entscheidende Faktoren. Der eine war die seit den Reformen von 1767 tatsächlich uneingeschränkte akademische Lehr- und Wissenschaftsfreiheit, der andere lag in der Kombination von akademischer Selbstverwaltung und Förderung der Universität durch die Höfe, besonders durch Weimar und Gotha. Die Herzöge Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach und Ernst II. Ludwig von Sachsen-Gotha-Altenburg zeigten nicht nur reges Interesse an den Wissenschaften, sondern stimmten auch ihre Universitätspolitik eng miteinander ab. Hauptsächlich suchten sie junge Gelehrte zu gewinnen, die erst am Beginn ihrer Karriere standen, aber lebhaft daran interessiert waren, den Flor Jenas und damit auch ihren eigenen beruflichen Erfolg voranzutreiben. Der wohl bedeutendste Erfolg dieser gemeinsamen Berufungspolitik Weimars und Gothas war die Gewinnung von Johann Christoph Döderlein, eines der angesehensten, als „Melanchthon des 18. Jahrhunderts“ geltenden Theologen seiner Zeit.15 1783 war die theologische Fakultät vollständig mit Theologen besetzt, die den Ideen der Aufklärung verpflichtet waren. So wurde es möglich, 1785 die eidliche Verpflichtung der Jenaer Professoren auf die Confessio Augustana aufzuheben. Jena wurde nun zum Zentrum der Rezeption der neuen, das gesamte Geistesleben revolutionierenden Philosophie Immanuel Kants.16 Diese Vorgänge stehen bereits für eine Entwicklungsetappe, in deren Verlauf Weimar, der Sitz der großen Geister der deutschen Literatur, und Jena als „Stapelstadt des Wissens und der Wissenschaft“ so eng aneinanderrückten, dass Goethe sie als „die beiden Enden einer Stadt“ bezeichnete.17 Immer mehr kam Jena in den Ruf, ein geistiger „Freihafen“ zu sein, der auch Gelehrten eine Heimat bot, die anderswo wegen ihrer unkonventionellen Auffassungen nicht Fuß fassen konnten. Die meisten bedeutenden Köpfe, die Jena jetzt berühmt machten, waren keine Ordinarien, sondern Privatdozenten, Extraordinarien oder 15 Vgl. über die Berufung Döderleins und zur Rolle Goethes in den Verhandlungen zwischen den Höfen darüber Gerhard Müller, Vom Regieren zum Gestalten. Goethe und die Universität Jena (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, 6), Heidelberg 2006, S. 122–130. 16 Vgl. Horst Schröpfer, Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Gottfried Schütz als Wegbereiter der kritischen Philosophie (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung, II, 18), Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. 17 Johann Wolfgang von Goethe an den Senat der Universität Jena, 07.12.1825, in: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. IV, Bd. 40, S. 152–153.

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Honorarprofessoren. Damit ging schon seit Ende der 1770er Jahre ein weiterer Ausbau der wissenschaftlichen Infrastruktur einher.18 1779 richtete Herzog Carl August im Jenaer Schloss ein Museum ein, das diverse naturhistorische Sammlungen und Bibliotheken, die er aufkaufte, sowie die einschlägigen Sammlungsbestände der Weimarer Residenz aufnahm, die nach dem Weimarer Schlossbrand von 1774 heimatlos geworden waren. Damit verband sich ein doppelter Vorteil, denn die Sammlungen konnten nun nicht nur fachkundig aufgestellt, sondern auch der akademischen Lehre und Forschung nutzbar gemacht werden. Dieser Ansatz wurde später von Johann Wolfgang Goethe weiter ausgebaut. 1815 entstand die „Oberaufsicht über die unmittelbaren Anstalten von Wissenschaft und Kunst“ als zentrale, von ihm persönlich geleitete Immediatbehörde, die fast die gesamte wissenschaftliche Infrastruktur Jenas kontrollierte.19 Das Konnubium mit der Residenz lieferte der Universität einen gewissen Ersatz für die bis 1802 blockierte Möglichkeit, ihre Infrastruktur den Erfordernissen einer sich rapide wandelnden Wissenschaftslandschaft anzupassen. Die Direktoren der zum Weimarer Hof gehörenden Jenaer Institute erhielten so, ohne Lehrstuhlinhaber zu sein, die für ihr Wissenschaftsgebiet erforderliche institutionelle Basis. Ohne die enge Bindung von Hof und Universität hätte weder Weimar, die kleine Residenz an der Ilm, jene überragende Kulturbedeutung, die sie über alle anderen thüringischen Kleinstaatenhöfe erhob, noch Jena seine geistige Führungsrolle unter den deutschen Hochschulen erlangen können. Der Höhepunkt von Jenas Entwicklung in den 1790er Jahren wurde jedoch schon in den letzten Jahren des Alten Reiches von existenzbedrohenden Krisen überschattet. Die territorialen Umgestaltungen, die zur Angliederung der linksrheinischen Gebiete an Frankreich und seit 1803 zur Beseitigung vieler kleiner Herrschaften führten, ließen größere Mittelstaaten entstehen, die sich modern organisierten und auch ihre Hochschulen finanziell besser ausstatten konnten, als es früher möglich gewesen war. Der zunehmende Konkurrenzdruck führte 1803 zu einer Abwanderungswelle, die die Jenaer Universität nur mit großer

18 Vgl. Gerhard Müller, Perioden Goethescher Universitätspolitik, in: Ders./Klaus Ries/Paul Ziche (Hg.), Die Universität Jena. Tradition und Innovation um 1800 (Pallas Athene, 2), Stuttgart 2001, S. 135–153. 19 Vgl. Irmtraut Schmid, Die Oberaufsicht über die naturwissenschaftlichen Institute an der Universität Jena unter Goethes Leitung, in: Impulse 4 (1982), S. 148–187; Dies., Goethes amtliche Einflußnahme auf die Universität Jena über die naturwissenschaftlichen Institute, in: Helmut Brandt (Bearb.), Goethe und die Wissenschaften, Jena 1984, S. 30–41.

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Mühe zu überstehen vermochte.20 Das Jahr 1806 ließ schließlich auch noch den politisch-staatsrechtlichen Rahmen wegbrechen, in dem sich die Universität ebenso bewegt hatte wie ihre fürstlichen Nutritoren, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Da es das Alte Reich als legitimatorische Bezugsinstanz nicht mehr gab, stellte sich die Frage, wie sich die Universität künftig definieren sollte. Lediglich als Landesuniversität der nunmehr souveränen ernestinischen Staaten allein war Jena nicht konkurrenzfähig, kamen doch ihre Studierenden traditionell aus allen Teilen des Alten Reiches und deutschsprachigen Gebieten Osteuropas. Im Herbst 1806 befasste sich der akademische Senat mit der Frage, was künftig auf den Doktorurkunden anstelle des Namens des jeweiligen Kaisers und der Formel: „per totum imperio Romano-Germanicum“ stehen sollte.21 Nach längerer Diskussion gelangte man zu dem salomonischen Beschluss, künftig den Namen des Kaisers Ferdinand I., der 1557 die Gründungspatente der Universität ausgestellt hatte, anzuführen und dann auf die jeweils regierenden fürstlichen Nutritoren zu verweisen. Der universale Geltungsanspruch der akademischen Gelehrsamkeit Jenas wurde auf diese Weise nicht mehr durch den Bezug auf das Alte Reich als staatliches Rechtssubjekt, sondern durch ihre Gründungsgeschichte legitimiert. Die Universität sah sich mithin als Institut einer Nation, die, des staatlichen Zusammenhangs entbehrend, durch ihre kulturelle und geschichtliche Tradition, wie sie das literarische Weimar oder Heinrich Ludens Vorlesungen zur vaterländischen Geschichte vermittelten, zusammengehalten wurde. Erst am Ende der napoleonischen Epoche wurde das nationale Identitätsverständnis der Jenaer Universität auch durch eine politische Dimension, das Ideal der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands, aufgeladen. Diese Entwicklung vollzog sich nach dem Ende der Befreiungskriege wiederum im engen Zusammenspiel von Universität und ernestinischen Residenzen. Der 1815 gegründete Deutsche Bund gewährte den formal souveränen deutschen Klein- und Mittelstaaten keine hinreichende Sicherheit vor der Gefahr, eines Tages von den Großmächten geschluckt zu werden. Abhilfe konnte nur der weitere Ausbau des Bundes zu einem politisch-staatsrechtlichen System schaffen, das Existenz und Rechte aller seiner Glieder ebenso dauerhaft und zuverlässig garantierte, wie dies einst die 1806 untergegangene Reichsverfassung getan hatte. Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach gehörte zu den Bundesfürsten, die sich an die Spitze dieser Bewegung stellten. Er gab 20 Vgl. Irmtraut Schmid, Die Gründung der „Allgemeinen Literaturzeitung“, in: Impulse 10 (1987), S. 186–273; Müller, Vom Regieren zum Gestalten (wie Anm. 15), S. 434–526. 21 Vgl. Consilienprotokoll, in: UAJ, A 345, Bl. 76r.

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seinem Land am 5. Mai 1816 eine liberale Verfassung, deren Kernstück ein vom Volk gewähltes Landesparlament bildete. Den wichtigsten Partner seiner liberal-nationalen Politik fand er in der Jenaer Universität.22 Tragend war hierbei auch eine neue, vaterländische Bewegung unter den Studenten, die 1815 gegründete Jenaer Burschenschaft. 1817 begann eine durchgreifende Modernisierung der akademischen Gesetze und Einrichtungen. Am Anfang stand ein Landtagsbeschluss, der das erste parlamentarisch beschlossene Hochschulreformprogramm in der deutschen Geschichte formulierte.23 Ein Staatsvertrag zwischen Sachsen-Weimar-Eisenach und Sachsen-Gotha-Altenburg vom 10. April 1817, dem auch die anderen ernestinischen Höfe zustimmten, legte fest, dass die nutritorische Oberaufsicht über die Universität künftig nur noch von Weimar und Gotha geführt werden sollte.24 Dies und die Einrichtung einer ständigen Kommission beider Höfe für die Angelegenheiten der Universität, die am Ende jedes Semesters alle zu ergreifenden Maßnahmen mit den Vertretern der Universität beriet, schufen eine effiziente hochschulpolitische Administration. Gleichzeitig stellte man die Universitätsfinanzierung auf das Prinzip der staatlichen Haushaltsfinanzierung um. Ebenfalls 1817 wurde eine Neufassung der akademischen Statuten in Angriff genommen. Ziel war es, die Universität aus einer eigenberechtigten Korporation in eine Landesanstalt umzuwandeln, ohne dabei das Kernstück der traditionellen Universitätsverfassung, die Autonomie der Fakultäten und die darauf gestützte uneingeschränkte Lehr- und Wissenschaftsfreiheit, aufzugeben. Die wichtigste Intention der Jenaer Universitätsreform ließ sich jedoch nicht einfach von oben verwirklichen: die Schaffung eines konstitutionellen geregelten Verhältnisses zwischen Universität und Studenten. Grundlage des Vorhabens, die studentische Reformbewegung in die Reorganisation der Universität einzubinden, war die Burschenschaft.25 In dieser sahen sowohl der Weimarer als auch der Gothaer Hof einen prinzipiellen Neuansatz, der geeignet schien, die Disziplinprobleme der Universitäten zu lösen und einer 22 Vgl. Einleitung zu: Joachim Bauer/Gerhard Müller/Thomas Pester (Bearb.), Statuten und Reformkonzepte für die Universität Jena von 1816 bis 1829, Stuttgart 2016, S. 9–42. 23 Vgl. Unterthänigste Erklärungsschrift des Landtags von Sachsen-Weimar-Eisenach, 22.02.1817, in: LATh–HStA Weimar, B 150 b, Bl. 273r–283v, Druck in: Extra-Beilage zum Oppositions-Blatte 3, 07.03.1817, Sp. 26–32. 24 Vgl. Bauer/Müller/Pester (Bearb.), Statuten (wie Anm. 22), S. 55–66. 25 Vgl. Günter Steiger, Urburschenschaft und Wartburgfest. Aufbruch nach Deutschland. Leipzig/Jena/Berlin 21991; Helmut Asmus, Das Wartburgfest. Studentische Reformbewegungen 1770–1819, Magdeburg1995.

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an modernen politischen Werten orientierten Ethik des Studentenlebens den Weg zu bahnen. Die Burschenschaft zu legalisieren war jedoch nur möglich, wenn diese sich auch über die Jenaer Universität hinaus im gesamten deutschen Hochschulwesen zu etablieren vermochte. Ihre Existenz in Jena war daher zunächst nur eine von der Obrigkeit geduldete. Im Wartburgfest der deutschen Studenten am 18. Oktober 1817 verband sich die alte lutherisch-protestantische Identität (Gründungsmythos) mit der neuen nationalpolitischen Konnotation. So etablierte sich der Mythos von Jena als „nationaler“ Universität, dessen Wirkungsmacht bis ins 20. Jahrhundert reichte.26 Die Bundestagsbeschlüsse über die Universitäten vom 20. September 1819 (Karlsbader Beschlüsse) bedeuteten das Scheitern des ehrgeizigen Experiments, Jena zu einer freiheitlich-nationalen Universität umzugestalten. Der Mythos von Jena als „nationaler Universität“ blieb jedoch weiter virulent, obwohl sich das geistige Leben der Universität in den Jahrzehnten der Unterdrückung gleichsam unter der Oberfläche stiller Biedermeierlichkeit abspielte. Allerdings geriet Jena immer mehr in den Schatten der großen Landesuniversitäten, mit denen es hinsichtlich seiner finanziellen Ausstattung, seines Lehrangebots und seiner Studentenzahlen nicht konkurrieren konnte. Dennoch ist das Bild einer hoffnungslos verfallenden Provinz- und Armenuniversität nicht berechtigt. Jena war weiterhin intensiv eingebunden in die wissenschaftlichen Kommunikationsstrukturen, nach wie vor wirkten hier bedeutende Gelehrte und der Ausbau der Wissenschaftsinfrastruktur wurde, wenn auch in bescheidenem Rahmen, weiter vorangetrieben. 1836 hielt die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte auf Initiative ihres Begründers Oken in Jena ihren Jahreskongress ab – eine demonstrative Referenz an Jena als „nationale“ Universität.27 Als der Wartburgfestteilnehmer und akademische Landtagsabgeordnete Dietrich Georg Kieser im April 1848 im Weimarer Fürstenhaus erstmals eine öffentliche Landtagssitzung im Zeichen der schwarz-rot-goldenen Trikolore eröffnen konnte, schien die Verwirklichung der Ideale von 1817 in greifbare Nähe gerückt. Nicht zufällig war es die Jenaer Universität, die eine deutschlandweite 26 Vgl. Joachim Bauer/Holger Nowak/Thomas Pester, Das burschenschaftliche Jena. Urburschenschaft und Wartburgfest in der nationalen Erinnerung der Deutschen, in: Jürgen John/ Justus H. Ulbricht, Jena. Ein nationaler Erinnerungsort, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 163– 182; Joachim Bauer, Universitätsgeschichte und Mythos. Erinnerung, Selbstvergewisserung und Selbstverständnis Jenaer Akademiker 1548–1858, Stuttgart 2012, S. 361–445. 27 Vgl. Amtlicher Bericht über die vierzehnte Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Jena im September 1836 von den Geschäftsführern bei derselben D. D. G. Kieser und D. J. C. Zenker, Weimar 1837.

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Debatte um eine durchgreifende Modernisierung des deutschen Universitätswesens entfachte. Die auf Initiative des Jenaer Reformvereins im September 1848 veranstaltete Versammlung deutscher Hochschullehrer mit 140 Teilnehmern von allen deutschen Universitäten formulierte ein bürgerlich-­liberales Reformprogramm, das die nationale Bildungsaufgabe der Universitäten in den Mittelpunkt stellte.28 Auch wenn diese Pläne mit dem Ende der Revolution enttäuscht wurden, gab es für die Salana kein Zurück zum status quo ante. Hierfür sorgte die Hochschulpolitik vor allem Sachsen-Weimar-­Eisenachs, dessen liberale Märzminister im Amt blieben. Noch einmal wurden die Höfe zu Initiatoren einer fruchtbaren Entwicklungsetappe der Universität, die sich maßgeblich mit dem hochschul­ politischen Wirken des 1851 zum Kurator ernannten Moritz Seebeck verband.29 Mit der mehr als 25 Jahre andauernden Ära Seebeck fand Jenas Universität wieder Anschluss an die Wissenschaftsentwicklung der Zeit. Seebecks ursprüngliches Ziel einer durchgreifenden Universitätsreform ließ sich zwar nicht verwirklichen, doch vermochte er es, die Vorteile, die Jena zu bieten hatte – geistige Liberalität, geistesgeschichtliche und nationalpolitische Traditionen, durchaus geschickt zu vermarkten. Indem die fürstlichen Erhalter das traditionelle Prinzip der unbeschränkten Lehr- und Wissenschaftsfreiheit auch in der politischen Reaktionsphase nach 1848 konsequent aufrechterhielten, machten sie die Universität namentlich in den sich rasant entfaltenden Naturwissenschaften trotz ihrer materiellen Beschränktheit für junge, innovative Gelehrte attraktiv; das bedeutendste Beispiel dafür ist der Zoologe und Evolutionsbiologe Ernst Haeckel, der, als streitbarer Vertreter der Darwinschen Entwicklungslehre vielfach angefeindet, in Jena zeitlebens eine sichere Heimstatt sehen konnte. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geriet das System der nutritorischen Universitätspolitik in seine finale Krise. Obwohl das 1871 gegründete Deutsche Kaiserreich den Bundesstaaten noch bedeutende kultur- und bildungspolitische Gestaltungsspielräume beließ, waren die kleinstaatlichen Höfe immer weniger in der Lage, der Universität den finanziellen Rückhalt zu gewähren, dessen sie namentlich im Bereich der Naturwissenschaften und 28 Vgl. Georg Uschmann, Geschichte der Zoologie und der zoologischen Anstalten in Jena 1779–1919, Jena 1959, S. 34–200. 29 Vgl. Stefan Gerber, Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation im 18. Jahrhundert. Der Jenaer Pädagoge und Universitätskurator Moritz Seebeck (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 14), Köln/Weimar/Wien 2004.

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der Medizin bedurfte, um mit den Erfordernissen des industriellen Zeitalters Schritt zu halten. Eingebunden in den föderalen Nationalstaat, an den sie ihre Souveränität für alle Zeiten abgegeben hatten, schienen die Ernestiner der Universität als ihres jahrhundertelang gehüteten „Kleinods“ nicht mehr zu bedürfen, ja sogar der Gedanke an eine Schließung der Universität kam wieder auf. Dass die Universität seit der Jahrhundertwende auf einzelnen Wissenschaftsgebieten sogar den internationalen hohen Rang des deutschen Universitätswesens wieder mitbestimmen konnte, war nur noch zum geringeren Teil das Verdienst der Nutritoren. Neue, von den Höfen unabhängige Instrumente der Wissenschaftsförderung, vor allem die 1892 von Ernst Abbe errichtete Carl Zeiss-Stiftung, ebneten der Universität den Weg in das 20. Jahrhundert.30 Wenn man dennoch die Aula des 1908 eröffneten, mit Stiftungsmitteln erbauten neuen Universitätshauptgebäudes zu einer Ruhmeshalle der Ernestiner ausgestaltete, so war das bereits Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins, das zwar die mittlerweile 350-jährige Tradition als ernestinische Gesamtuniversität noch immer reflektierte, sich jedoch primär aus Jenas Stellung als leistungsfähiges und angesehenes Glied der deutschen, an internationalen Standards orientierten Hochschullandschaft speiste.

30 Stefan Gerber, Die Universität Jena 1850–1918, in: Traditionen, Brüche, Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, hrsg. von der Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 23–253.

Das ungeteilte Erbe. Die „Gesamtuniversität“ Jena und Identitätsbildungen im ernestinischen Thüringen 

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Literatur Joachim Bauer, Universitätsgeschichte und Mythos. Erinnerung, Selbstvergewisserung und Selbstverständnis Jenaer Akademiker 1548–1858, Stuttgart 2012. Stefan Gerber, Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation im 19. Jahrhundert. Der Jenaer Pädagoge und Universitätskurator Moritz Seebeck (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 14), Köln/Weimar/Wien 2004. Ders., Die Universität Jena 1850–1918, in: Traditionen, Brüche, Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, hg. von der Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 23–253. Notker Hammerstein, Zur Geschichte und Bedeutung der Universitäten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: Historische Zeitschrift 24 (1985), S. 287–328. Richard Loening, Über ältere Rechts- und Kulturzustände an der Fürstlich Sächsischen Gesammt-Universität zu Jena. Rede gehalten bei der akademischen Preisvertheilung vom 19. Juni 1897 in der Kollegienkirche zu Jena, Jena 1897. Gerhard Müller, Vom Regieren zum Gestalten. Goethe und die Universität Jena (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, 6), Heidelberg 2006. Marcus Ventzke, Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach 1775–1783. Ein Modellfall aufgeklärter Herrschaft? (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 10), Köln/Weimar/Wien 2004. Stefan Wallentin, Fürstliche Normen und akademische „Observanzen“. Die Verfassung der Universität Jena 1630–1730 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 27), Köln/Weimar/Wien 2009. Heinz Wiessner, Das Concilium arctius an der Universität Jena von 1722 bis 1767, in: Forschungen zur Thüringischen Landesgeschichte (Veröffentlichungen des Thüringischen Landeshauptarchivs Weimar, 1), Weimar 1958, S. 459–493.

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Julia A. Schmidt-Funke

Flora Thuringica. Zur Erfindung des Einheimischen

1. Heimische Gewächse – eine Pflanzenliste aus Arnstadt

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts kam der Arnstädter Theologe Johann Christoph Olearius (1668–1747) auf eine neuartige Idee. In seine „Historia Arnstadiensis“, die 1701 in Jena erschien, rückte der vielseitige Gelehrte ein Kapitel ein, das er den „Arnstädtischen Gewächsen“1 widmete. Es handelte sich dabei nicht etwa um die edlen Gewächse in den Arnstädter Weinbergen oder um die prachtvollen Exoten des Schlossgartens, sondern um einheimische Pflanzen, die Olearius in und um Arnstadt vorgefunden hatte. Auf 18 Seiten listete er sie in der alphabetischen Reihenfolge ihrer lateinischen Namen auf, fügte ihre deutschen Namen hinzu und gab ihre jeweiligen Standorte an: von Abies (Tannenbaum) im Walpertholz, über Intybus erraticus (Wegwarte) vor dem neuen Tor und an anderen Orten, bis hin zu Urtica major (Nesseln) überall. Auch wenn es die im Untertitel der „Historia Arnstadiensis“ angekündigte „Historie von der alt-berühmten Schwartzburgischen Residenz Arnstadt“ nicht unbedingt erwarten ließ, dass in ihr der Standort gewöhnlicher Bäume, Büsche und Kräuter angegeben wurde, befand sich ihr Verfasser Olearius mit seiner Bereitstellung naturkundlicher Informationen doch ganz auf der Höhe der Zeit. Er selbst gab die Namen derjenigen Gelehrten an, mit denen er sich in eine Reihe zu stellen wusste. Er nannte aus dem 16. Jahrhundert den Arzt Jean Bauhin (1541–1613) aus Basel, Verfasser einer 1650/1651 erschienenen „Historia universalis plantarum“, und den Thüringer Mediziner Johann Thal (1542–1583), dessen „Sylva Hercynia“, eine Botanik des Harzes, 1588 in Frankfurt veröffentlicht worden war. Olearius berief sich auf Chronisten wie Georg Fabricius (1516–1571) in Meißen und Paul Jenisch (1551–1612) in Annaberg, bei denen Geschichte und Naturgeschichte genauso eng miteinander verbunden waren wie bei ihm selbst, und er nannte den in Pommern tätigen Theologen Paul Wigand (1523–1587), dessen naturgeschichtliche Abhandlungen 1590 in Jena herauskamen. Ebenso berief sich Olearius auf Peter 1 Johann Christoph Olearius, Historia Arnstadiensis, Jena 1701, S. 181–199.

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Lauremberg (1585–1639) aus Rostock, dessen „Horticultura“ und „Apparatus plantarius“ 1632 bei Matthäus Merian in Frankfurt erschienen waren, und auf Moritz Hoffmann (1621–1698), der 1660/62 in einer zweibändigen Flora den Botanischen Garten und die Umgebung der fränkischen Universitätsstadt Altdorf beschrieben hatte. Olearius nannte überdies den mit seiner Familie verschwägerten Hallenser Stadtphysikus Carl Schäffer, der 1662 die „Deliciae Botanicae Hallenses“ veröffentlicht hatte. Olearius’ „Verzeichnis von Arnstädtischen Gewächsen“ gilt heute als erste Lokalflora Thüringens. Ihr Verfasser stand zwar – wie er in seinen Referenzen selbst zu erkennen gab – in einer langen Tradition botanischer Studien, beschritt mit seiner ausschließlichen Berücksichtigung einheimischer Gewächse dennoch neue Wege. Konsequenterweise rechnete er deshalb auch die Schrift „Specimen florae hallensis sive designatio plantarum hortuli“, die sein Vater Johann Gottfried Olearius (1635–1711) 1668 veröffentlicht hatte, nicht zu seinen Vorbildern. Während der Vater ausschließlich Gartenpflanzen exotischer Herkunft beschrieben hatte, interessierte sich sein Sohn nur für die wildwach­ senden heimischen Pflanzen. Die „schönen und fremden Garten-Lust- und Küchen-Gewächse“ des gräflichen Schlossgartens in Arnstadt ließ er deshalb ausdrücklich außen vor.2 Olearius’ Verzeichnis ist damit ein frühes thüringisches Zeugnis für die frühneuzeitliche Beschäftigung mit der lokalen Natur, die die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Alix Cooper in ihrer 2007 erschienenen Studie als „inventing the indigenous“ bezeichnet hat.3 Man kann die ersten Anfänge dieser „Erfindung des Einheimischen“ auf das ausgehende 16. Jahrhundert datieren, wenn man das Erscheinen erster Lokal- und Regionalfloren als Beginn einer neuen Arbeitsweise interpretiert, die als sogenannte Floristik bis heute ein Teilgebiet der Botanik ist. Natürlich hatten auch frühere Pflanzenkundler schon in der näheren Umgebung botanisiert, d. h. das empirische Vorgehen der Pflanzenbeobachtung war an sich nicht neu. Doch bei den Kräuterbüchern hatte das pharmakologische Interesse der Autoren an den Pflanzen als Simplizien im Vordergrund gestanden, und die eigene Beobachtung wurde gerade nicht an eine Lokalität gebunden, sondern generalisiert. Mit den Lokalfloren wurde dagegen ein bestimmter Raum zum Ausgangspunkt gemacht, für den alle in ihm wildwachsenden Pflanzen aufgenommen werden sollten. 2 Ebd., S. 183. 3 Alix Cooper, Inventing the Indigenous. Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe, Cambridge 2007.

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Dies geschah nicht einfach so, sondern verlangte den Autoren legitimatorische und definitorische Arbeiten ab. Es galt zunächst zu klären, warum man sich überhaupt mit der gesamten Flora eines Gebiets – also auch mit den ökonomisch nicht nutzbaren Pflanzen – beschäftigen sollte. Dafür gab es einen verbreiteten Dreiklang an Argumenten: „ut habeat delectationem, et ut patriam commendet, et nobilitet dominum“4, wie es bereits 1569 bei Georg Fabricius hieß, oder 1701 bei Olearius: „Diese Arbeit gereichet zur Ehre Gottes/ Nutzen derer Einwohner und Belustigung derer/ die in Botanicis sich üben wollen.“5 Die religiöse Begründung des Naturstudiums blieb über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg ein starkes Argument gegen allzu materialistische Nützlichkeitserwägungen – in naturtheologischer Überzeugung war das Studium der göttlichen Schöpfung eine notwendige religiöse Praxis, um Gott zu erkennen. Die Autoren mussten zudem Räume definieren und Eigenes von Fremdem, Einheimisches von Exotischem trennen. Olearius hatte vor der Abfassung seiner Liste darüber nachgedacht, ob er nur die Pflanzen innerhalb der Stadtmauern oder in der Gemarkung der Stadt aufnehmen wollte, und er hatte erwogen, welche Pflanzen er als „die selb- oder wild-wachsenden“ gelten lassen konnte. Diese den Pflanzenverzeichnissen innewohnenden Entscheidungen machen die Gattung der Lokalfloren für die Frage interessant, wie und ab wann im Zuge einer „Erfindung des Einheimischen“ Thüringen als Naturraum konzipiert wurde. Im Einzelnen lässt sich fragen: Zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form vollzog sich auf dem Gebiet des heutigen Thüringen eine Verräumlichung botanischen Wissens? Welche räumlichen Entitäten dienten dabei als Bezugsrahmen? Ab wann wurde Thüringen als Ganzes zum Untersuchungsgebiet erhoben, und wie wurde es dabei umrissen? Beantworten ließen sich diese Fragen nicht nur für die Botanik, sondern auch für andere Bereiche der Naturgeschichte, also für die Tierkunde, die Mineralogie, Geologie und Paläontologie. Im Folgenden soll es jedoch vorrangig um Pflanzenkunden gehen, zunächst um die thüringischen Lokalfloren des 18. Jahrhunderts (2.), dann um die ersten Bemühungen um eine gesamtthüringische Flora (3.) und schließlich um die Verwirklichung dieses Vorhabens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (4.).

4 Georg Fabricius, Rerum misnicarum libri VII, Leipzig 1569, S. 233. 5 Olearius, Historia Arnstadiensis (wie Anm. 1), S. 183.

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2. Exkursionsradien – thüringische Lokalfloren der Frühen Neuzeit

Johann Thals bereits erwähnte „Sylva Hercynia“ von 1588 gilt als eine der ersten Lokalfloren überhaupt, auch wenn Thal weit davon entfernt war, wirklich alle Pflanzen des Harzes aufzuführen. Dies war eher möglich, wenn sich die Autoren – wie es Olearius in Arnstadt tat – nicht auf ein ganzes Mittelgebirge, sondern auf den Exkursionsradius ihrer Stadt beschränkten. Als städtisches, genauer gesagt: universitätsstädtisches Phänomen ist die Mehrzahl der frühen Lokalfloren denn auch einzuordnen. Universitätsstädte waren dafür prädestiniert, weil die Universitäten mit ihren medizinischen Fakultäten über ein institutionalisiertes botanisches Wissen verfügten. Als Teil der Arzneimittellehre gehörte die Pflanzenkunde zur medizinischen Ausbildung, und die anatomisch, pharmakologisch und physiologisch geschulten Ärzte waren in methodischer Hinsicht besonders gut dazu in der Lage, Pflanzen systematisch zu beschreiben. Für die Vermittlung botanischer Kenntnisse wurden seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts akademische Lehrgärten angelegt, mit deren Einrichtung und Unterhaltung die Praxis verbunden war, die auf dem begrenzten Raum des Gartens kultivierten Pflanzen zu katalogisieren. Gängig war es zudem, dass Professoren Exkursionen in die nähere Umgebung durchführten oder dass Studenten auf eigene Faust botanisierten. Begünstigt wurde dies durch den Umstand, dass gerade Studenten über die Mobilität und Abkömmlichkeit verfügten, ausgedehnte Streifzüge in die Umgebung zu unternehmen. Darüber hinaus boten auch professionelle Pflanzensammler den Akademikern ihre Dienste an. Unter diesen Voraussetzungen wurden die im medizinischen Curriculum verankerten Methoden zum Studium domestizierter Heilpflanzen zunehmend dafür genutzt, wildwachsende Gewächse jeglicher Art zu untersuchen und zu beschreiben. In Jena, dem ernestinischen Universitätsstandort, geschah dies alles nahezu mustergültig. In den 1580er Jahren wurde beim Kollegiengebäude ein „hortus medicus“ angelegt, um Kräuter, Früchte und fremde Gewächse zu kultivieren und außerdem alles, was „im durinigschen gebirge, sonderlich umb Jhena und sangerhaußen und den gantzen hartz noch unbekanndt, in besser erkundigung“6 nehmen zu können. 6 Johannes Schröter an Kurfürst August von Sachsen, 3. August 1579, Landesarchiv Thüringen  – Hauptstaatsarchiv Weimar, A 7650, zitiert nach: Ilse Jahn, Geschichte der Botanik in Jena von der Gründung der Universität bis zur Berufung Pringsheims (1558–1864), Diss. (masch.) Jena 1963, Bd. 1, S. 17.

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Abb. 1: Hortus Medicus Aedibus Collegii contiguus

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Im 17. Jahrhundert nutzte die Universität zudem erstmalig den ehemaligen Fürstengarten auf dem Gebiet des heutigen Botanischen Gartens, gelangte aber erst im ausgehenden 18. Jahrhundert endgültig in dessen Besitz. 1659 erschien in Jena ein erster „Catalogus plantarum horti medici Ienensis“, dessen Verfasser Johann Theodor Schenck (1619–1671) auch bereits solche Pflanzen berücksichtigte, die in der näheren Umgebung vorkamen („earumque quae in vicinia proveniunt“). 1718 folgte eine erste monographische „Flora Ienensis“, die der Medizinstudent Heinrich Bernhard Rupp (1688–1719) verfasst hatte und die 1726 in einer verbesserten zweiten Auflage erschien. Ein Vergleich zwischen Rupps Werk und Olearius’ Verzeichnis macht schnell klar, dass man die Liste des Arnstädters nur mit Abstrichen als erste Lokalflora Thüringens bezeichnen kann. Denn während Olearius die Pflanzen in alphabetischer Reihenfolge lediglich aneinanderreihte, legte Rupp seinen Ausführungen das botanische System des Leipziger Arztes und Pflanzenkundlers August Quirin Bachmann (1652–1723), genannt Rivinus, zugrunde. Rupps „Flora Ienensis“ war somit keine einfache Auflistung, sondern ein systematisches und kommentiertes Verzeichnis, dem ein lateinischer und deutscher Namensindex sowie eine nach den jeweiligen Blütemonaten geordnete Zusammenstellung angefügt waren. Vielfach gab Rupp die exakten Standorte der Pflanzen an, beispielsweise den Jenaer Fürstenbrunnen, das Rautal oder Cospeda. Den Titel einer „Flora Ienensis“ trug Heinrich Bernhard Rupps Werk jedoch nicht ganz zu Recht. Zum einen beschränkte es sich nicht konsequent auf heimische Pflanzen, sondern listete auch einige vor Ort kultivierte Exoten wie die Opuntie auf. Zum anderen waren in Rupps „Flora Ienesis“ auch heimische Pflanzen integriert, die in weiter entfernt liegenden Gegenden vorkamen. „Enumeratio plantarum, tam sponte circa Ienam, et in locis vicinis nascentium“ lautete deshalb ihr Untertitel. Tatsächlich erstreckte sich Rupps Untersuchungsgebiet im Westen bis Eisenach und Ilfeld am südlichen Harzrand, im Nordosten reichte es weit über Naumburg und Halle hinaus. Außerdem ließ Rupp zuweilen Beobachtungen aus seiner hessischen Heimat einfließen. Dieser weite Radius der „Flora Ienensis“ stellte den Grund dafür dar, dass gut 20 Jahre nach dem Erscheinen ihrer ersten Auflage kein Geringerer als Albrecht von Haller (1708–1777) daranging, das Werk auf den neuesten Stand zu bringen. Der aus der Schweiz stammende Haller machte sich zu Beginn der 1740er Jahre mit seiner „Enumeratio Methodica Stirpium Helvetiae Indigenarum“, einer 1742 erschienenen Flora der Schweiz, einen Namen. Noch vor dem Abschluss dieses Werks wandte sich Haller der „Flora Ienensis“ zu – ein Entschluss, der sich dem Umstand verdankte, dass Haller von 1736 bis 1753 an

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der neugegründeten Universität Göttingen und damit in unmittelbarer Nähe des Ruppschen Untersuchungsgebiets lehrte. Hinzu kam, dass Haller 1741 in dritter Ehe die Tochter des Jenaer Professors Hermann Friedrich Teichmeyer (1685–1744) heiratete. Auf diese Weise erhielt er nicht nur Zugang zu den botanischen Sammlungen seines Schwiegervaters, sondern konnte auch auf die Hilfe seiner Jenaer Verwandtschaft bei der Beschaffung benötigter Spezimen zählen. Insbesondere vermittelten sein Schwiegervater und sein Schwager Joachim Georg Darjes (1714–1791) die Dienste des Ziegenhainer Pflanzensammlers Adam Dietrich (1711–1783), der im Auftrag Hallers die von Rupp notierten Pflanzen beschaffte und deren Standorte überprüfte. Anfänglich plante Haller, die „Flora Ienensis“ zu einer „Flora Germanica“ auszubauen, doch dieser große Wurf gelang ihm am Ende nicht. Seine Überarbeitung beschränkte sich letztlich darauf, die von Rupp angegebenen Standorte zu überprüfen, neu aufgefundene Pflanzen zu ergänzen, einzelne Spezies neu zuzuordnen und die aktuelle botanische Literatur nachzutragen. Bezeichnenderweise folgte Haller dabei nicht dem Rat des mit ihm korrespondierenden Botanikers Johann Jakob Dillen (1684–1747), der empfohlen hatte, Rupps „Flora Ienensis“ durch die Streichung der exotischen und an anderen Standorten wachsenden Pflanzen zu bereinigen und damit gewissermaßen zu einer echten Jenaer Lokalflora zu machen. Haller behielt den weiten Radius der „Flora Ienensis“ bei, so dass sie auch noch nach seiner Überarbeitung eine Flora Thüringens ‚avant la lettre‘ darstellte und auf längere Sicht als zentrales Referenzwerk Thüringer Lokalfloren diente, welches in allen seinen drei Auflagen nominell an die Universitätsstadt Jena gebunden blieb. Der Universitätsstandort Jena diente auch im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts als Untersuchungsgebiet angehender Botaniker, die die Umgebung der Saalestadt nutzten, um Pflanzen in ihrem natürlichen Lebensraum zu untersuchen und zu beschreiben. Immer wieder aufs Neue wurde die Jenaer Flora dafür genutzt, übergreifende botanische Fragen aufzuwerfen und zu diskutieren. So veröffentlichte der Jenaer Botaniker Gottfried Baldinger (1738–1804) 1774 einen „Index plantarum horti et agri Ienensis“, dem er das von Carl von Linné (1707–1778) entwickelte System zugrunde legte. Der mit Goethe im Austausch stehende August Johann Georg Karl Batsch (1761–1802) entwarf dagegen anhand seines Studiums der Jenaer Pflanzen die Vorstellung eines alternativen ‚Natürlichen Systems‘, in das er die in Weimar/Jena verhandelten ästhetischen Ideen einfließen ließ. Der an der Salana zu fassende Lokalbezug botanischer Forschung führte dazu, dass andere Thüringer Städte erst deutlich später Lokalfloren erhielten

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als Jena. Den Anfang machte nicht zufällig der zweite Thüringer Universitätsstandort: 1763 erschien in Erfurt die „Flora in territorio Erfordensis indigena“, die der Erfurter Mediziner Johann Philipp Nonne (1729–1772) erarbeitet hatte. Wenig später entstand eine Altenburger Pflanzenliste, die der dort ansässige Feldscher Carl Christoph Förster (1711–1784) 1768 niederschrieb. 1774 publizierte der Geraer Materialwarenhändler Tobias Conrad Hoppe (1697–1778) eine „Geraische Flora“, und an der Wende zum 19. Jahrhundert erhielt schließlich auch Weimar eine eigene Flora aus der Feder August Wilhelm Dennstedts (1776–1826). Zusammengenommen sind diese lokalen Pflanzenlisten in zweierlei Hinsicht aufschlussreich. Zum einen spiegelt sich in ihnen der Umbruch wider, den die Botanik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluss der von Linné entwickelten Taxonomie erfuhr. Während der Akademiker Nonne bereits das Linnésche System verwendete, stand Försters Flora von Altenburg noch ganz in der Tradition Rupps. Auch der Geraer Kaufmann Hoppe, der bereits seit den 1740er Jahren naturkundliche Studien betrieb, folgte der Ordnung Rupps als der zu seiner Zeit geläufigsten. Weil dies aber zum Zeitpunkt der Drucklegung bereits überholt war, wurde die „Geraische Flora“ nachträglich um die Linnésche Nomenklatur ergänzt. Zum anderen offenbaren die Thüringer Lokalfloren des 18. Jahrhunderts, dass im Bereich der Pflanzenkunde nicht nur akademisch gebildete Botaniker bzw. Mediziner, sondern auch kenntnisreiche Amateure aktiv waren. Während Erstere fast ausschließlich in lateinischer Sprache publizierten, trugen Letztere mit ihren deutschsprachigen Veröffentlichungen dazu bei, die Pflanzenkunde auch für nicht akademisch Gebildete zu öffnen. Dennstedt beispielsweise verstand die von ihm 1800 publizierte „Weimar’s Flora“ ausdrücklich als Exkursionsbuch für Liebhaber, weshalb er sie in deutscher Sprache abfasste.

3. Ein unvollendetes Lebenswerk – Grimms „Flora Thuringica“

Trotz der Blüte lokaler Floren war von einer Flora Thüringens noch auf längere Sicht nicht die Rede. Dies nahm sich erst jemand vor, der nicht an der Salana, sondern seit 1754 in Göttingen studiert hatte und der seinen Wirkungsort im Folgenden in Westthüringen fand. Dabei handelte es sich um den aus Eisenach stammenden Arzt Johann Friedrich Karl Grimm (1737–1821), der 1758 in Göttingen mit einer medizinischen Dissertation über die Sehkraft promoviert worden war. Er praktizierte zunächst in Eisenach und wurde bereits 1763 in die Leopoldina aufgenommen, eine Mitte des 17. Jahrhunderts von Ärzten

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begründete und von Kaiser Leopold I. (1640–1705) privilegierte Gesellschaft von Naturforschern. 1768 wechselte er als Leibarzt des Herzogs von Sachsen-­ Gotha-Altenburg nach Gotha und übernahm als solcher auch die Aufsicht über die Ronneburger Heilquellen. Grimm war nicht nur ein hochgeschätzter Arzt, der sich im Herzogtum Gotha unter anderem für die Pockenimpfung einsetzte, sondern überhaupt ein vielseitiger Mann der Aufklärung. Er gehörte zu einer ganzen Reihe gut vernetzter und hochgebildeter Naturkundigen, die sich am Gothaer Hof des ausgehenden 18. Jahrhunderts um den aufgeschlossenen Herzog Ernst II. (1745–1804) versammelten. Grimm widmete sich der Botanik, verfasste balneologische Schriften, übersetzte Werke des Hippokrates und machte sich darüber hinaus einen Namen als Autor einer dreibändigen Beschreibung einer Reise nach Deutschland, Frankreich, England und Holland. Der Forschung ist Grimm als Thüringer Botaniker prinzipiell bekannt, nicht aber als derjenige, der erstmals das Projekt zu einer thüringischen Flora entwickelte. Das liegt daran, dass das Projekt, obwohl es Grimm über viele Jahre verfolgt hat, nicht zum Abschluss kam. Bereits 1754 hatte er mit dem Pflanzensammeln in der Umgebung von Eisenach begonnen. Als er nach seinem Studium in Eisenach als Arzt praktizierte, bestimmte er „in 3 bis 4 Jahren gegen 950 verschiedene Gattungen“7 der näheren Umgebung einschließlich des Inselsbergs. Seine Ergebnisse fasste er seit 1765 in einer „Synopsis methodica stirpium agri Isenacensis“ zusammen, die in mehreren Fortsetzungen zwischen 1767 und 1773 in den „Nova Acta“ der Leopoldina erschien. Grimm verwendete dafür die von Linné entwickelte binäre Nomenklatur, und wandte sich in dieser Angelegenheit sogar direkt an Linné. Eine Korrespondenz mit dem berühmten schwedischen Botaniker kam jedoch nicht zustande. Regelmäßig schrieb sich Grimm dagegen seit den 1760er Jahren mit Albrecht von Haller, den er in Göttingen zwar nicht mehr persönlich kennengelernt hatte (Haller verließ Göttingen im März 1753, Grimm schrieb sich erst im Oktober 1754 ein), dessen Werk er aber während seines Studiums mit Sicherheit rezipiert hatte. Grimm sah Haller als seinen Mentor an. Von ihm fühlte er sich ermuntert, „ferner recht fleißig zu botanisiren“,8 und übersandte immer wieder getrocknete Pflanzen und eigene Beobachtungen an seinen Briefpartner. Die 7 Grimm an Albrecht von Haller, Eisenach, 21. Dezember 1764, Bürgerbibliothek Bern, Nachlass Albrecht von Haller 105.24, Grimm, Johann Friedrich Carl: 1, online verfügbar unter: https://hallernet.org/data/letter/03374/object (letzter Zugriff am 2. August 2019). 8 Grimm an Albrecht von Haller, Eisenach, 16. August 1766, Bürgerbibliothek Bern, Nachlass Albrecht von Haller 105.24, Grimm, Johann Friedrich Carl: 2, online verfügbar unter: https://hallernet.org/data/letter/03375/object (letzter Zugriff am 2. August 2019).

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bis heute in Hallers Herbarium erhaltenen Spezimen aus der Umgebung von Eisenach, vom Inselsberg und aus Ronneburg gehen mit großer Wahrscheinlichkeit auf Grimms Sendungen zurück. Haller war es auch, den Grimm 1772 um Rat fragte, ob er seine langjährigen Studien nicht zum Nutzen aller in einer thüringischen Flora zusammenführen sollte: „Mein Vorrath Thüringischer Pflanzen ist ziemlich angewachsen und ich hoffe ihn bey künftigen Reißen noch weiter zu vermehren. Glauben wohl Ew. Gnad. daß es keine vergebliche Beschäftigung sey, wenn ich eine Flora Thuringica ausarbeitete und sie mit Anmerkungen und Beschreibungen versehen künftig einmal herausgäbe. Ich bitte unterthänig mich hierüber zu belehren: weil meine Entschließungen allein von dero hoher Meinung abhangen sollen. Noch zur Zeit habe ich mit allen meinen botanischen Untersuchungen wenig Nutzen gestiftet ungeachtet ich seit 16 Jahren manche Stunde mit Suchen, Vergleichen, Beschreiben und dergleichen zugebracht.“9 Haller bestärkte seinen Thüringer Korrespondenzpartner, doch dem vielbeschäftigen Gothaer Leibarzt fehlte es in der Folge an Zeit, sein ambitioniertes Vorhaben umzusetzen, zumal es ihm nicht gelang, ein weitausgreifendes Unterstützernetzwerk aufzubauen, wie es Linné und Haller für ihre botanischen Studien zu rekrutieren verstanden hatten. 1773 schrieb er an Haller: „Ungeachtet ich mir alle Mühe gebe, meine entworfene Flora Thuringica weiter auszuarbeiten: so weiß ich doch nicht, ob und wann ich diesem Werke die gewünschte Vollständigkeit werde geben können. Nicht einmal für Geld kann ich daher frische Pflanzen bekommen auch so gar nicht von Jena, woher ich sie bräuchte, und da ich so wenig Beystand von meinen Landsleuten erhalte: so werde ich mir wohl müssen angelegen seyn lassen, den Rest allein aufzusuchen. Ich fahre also fort unseren Gewächsen nachzuspüren und sie noch frisch zubeschreiben.“10 1774 wurden Grimms Arbeiten an der „Flora Thuringica“ durch eine längere Reise nach Westeuropa unterbrochen, die vermutlich durch einen Ehe­ skandal veranlasst war, der in Gotha für Aufsehen gesorgt hatte. Der Herzog hatte Grimm beurlauben müssen, damit sich die Wogen während seiner Abwesenheit wieder glätteten. Grimm nutzte die Reise, um sich in Paris und London über die aktuelle botanische Forschung zu informieren. Zurück in Gotha, 9 Grimm an Albrecht von Haller, Gotha, 4. Januar 1772, Bürgerbibliothek Bern, Nachlass Albrecht von Haller 105.24, Grimm, Johann Friedrich Carl: 9, online verfügbar unter: https://hallernet.org/data/letter/03382/object (letzter Zugriff am 2. August 2019). 10 Grimm an Albrecht von Haller, Gotha, 28. Juli 1773, Bürgerbibliothek Bern, Nachlass Albrecht von Haller 105.24, Grimm, Johann Friedrich Carl: 11, online verfügbar unter https://hallernet.org/data/letter/03384/object (letzter Zugriff am 2. August 2019).

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nahm er seine botanischen Exkursionen erneut auf, schilderte Haller jedoch abermals die damit verbundene Mühe, denn Grimm hatte den Anspruch, alle in den bereits vorhandenen Floren angeführten Spezies selbst noch einmal aufzufinden. Wiederholt klagte er, dass er niemanden zur Mitarbeit gewinnen könne – vermutlich hielt er aber auch nur wenige für geeignet, ihm die Zuarbeiten zu liefern. Vorbehalte hatte er insbesondere gegen die nur theoretisch arbeitenden Botaniker. Grimm musste deshalb selbst Exkursionen in die verschiedenen Landesteile unternehmen und brachte mit diesen Reisen sein Thüringer Untersuchungsgebiet eigentlich erst hervor. Dass dieses nicht durch die heutigen Landesgrenzen umrissen wurde, belegt Grimms selbst so benannte „botanische Reise durch Thüringen“,11 die ihn im Juni 1774 innerhalb von acht Tagen von Gotha nach Sömmerda, von dort aus über die Hohe Schrecke und Querfurt bis nach Eisleben und weiter nach Naumburg führte. Obwohl Grimm im Frühjahr 1777 in den „Gothaischen gelehrten Zeitungen“ die „Liebhaber der praktischen Botanik“ dazu aufrief, seltene Thüringer Pflanzen einzusenden, damit er seinem nun bald zu vollendenden Werk „einen um so viel größern Grad der Vollständigkeit“ geben könne,12 hegte er in seinem letzten Brief an den im Dezember 1777 verstorbenen Haller Zweifel, ob ihm die Fertigstellung der Flora je gelingen werde: „So sammele ich immer noch zu einer Flora Thuringica, aber der Himmel weiß, ob ich sie jemals zu Stande bringen werde. Ich denke um der großen Vollkommenheit willen, die ich ihr wünsche, unterbleibt es bey tausend ohnehin mich treffender Hinderniße am Ende gar.“13 Diese Einschätzung erwies sich als hellsichtig. Zwar blieb Grimm der Botanik verbunden und richtete in Gotha einen Topfgarten mit allerhand seltenen Pflanzen ein, den der holländische Naturforscher Martinus van Marum (1750–1837) 1798 als eine Art botanische Versuchsanordnung beschrieb. Auch gab Grimm sein Wissen über die Moose an den seit 1783 in Gotha tätigen Prinzenerzieher Samuel Elisée von Bridel-Brideri (1761–1835) weiter, der später als Moosforscher berühmt werden sollte. Als Anerkennung ihrer botanischen Verdienste wurden Grimm und Bridel-Brideri 1801 gemeinsam in die 1790 begründete Regensburgische Botanische Gesellschaft aufgenommen. 11 Grimm an Albrecht von Haller, Ronneburg, 15. Juli 1774, Bürgerbibliothek Bern, lass Albrecht von Haller 105.24, Grimm, Johann Friedrich Carl: 14, online verfügbar https://hallernet.org/data/letter/03387/object (letzter Zugriff am 2. August 2019). 12 Gothaische gelehrte Zeitungen, 3. Mai 1777, S. 296. 13 Grimm an Albrecht von Haller, Ronneburg, 15. Juli 1774, Bürgerbibliothek Bern, lass Albrecht von Haller 105.24, Grimm, Johann Friedrich Carl: 14, online verfügbar https://hallernet.org/data/letter/03387/object (letzter Zugriff am 2. August 2019).

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Grimms thüringische Flora blieb jedoch weiterhin unvollendet – sie scheiterte an Grimms Arbeitsbelastung, seinen hohen Ansprüchen und an fehlender Unterstützung. Vielleicht mangelte es Grimm auch an Bereitschaft, sein Wissen zu teilen. Zumindest gibt es keinerlei Belege dafür, dass sich Grimm mit dem im benachbarten Schnepfenthal tätigen Johann Matthäus Bechstein (1757–1822) austauschte, der sich in den 1780er und 1790er Jahren um die Erarbeitung naturgeschichtlicher Lehrwerke bemühte. Bechstein veröffentlichte 1797 eine „Kurzgefasste Naturgeschichte des In- und Auslandes“, in der er unter anderem das Pflanzenreich behandelte. Sämtliche in Deutschland nachgewiesene Pflanzen markierte er dabei mit einem Kreuz, alle in Thüringen vorkommenden Gewächse versah er mit einem Sternchen, damit man bei der Lektüre „auch zugleich mit der Thüringischen Flora bekannt werde“.14 Grimms Name fiel in diesem Zusammenhang nicht, allerdings legte Bechstein auch nicht dar, auf welcher Grundlage er die Zuweisung der Pflanzen vornahm. In ein anderes im nächsten Umkreis Grimms erschienenes Werk, eine von den beiden Gothaer Amtsträgern Karl Ernst Adolf von Hoff (1771–1837) und Christian Wilhelm Jacobs (1763–1814) 1807 bis 1812 herausgegebene zweibändige Beschreibung des Thüringer Waldes („Der Thüringer Wald besonders für Reisende geschildert“) flossen zwar Grimms Studien zur „Flora Isenacensis“ ein. Doch eine weitergehende Unterstützung bzw. Zugänglichmachung zusätzlichen floristischen Materials scheint Grimm den beiden Herausgebern nicht gewährt zu haben. Das weitere Schicksal von Grimms „Flora Thuringica“ weist über Thüringen hinaus. Dies ist kein Zufall, sondern wirft ein Licht auf die politischen Verhältnisse in der Region um 1800. Im Jahr 1810 veröffentlichte nämlich die königlich-bayerische Akademie der Wissenschaften in München ihren Jahresbericht und erwähnte darin diejenigen, die der Akademie Schenkungen hatten zukommen lassen. Darunter war auch Grimm, der angekündigt hatte, seinen botanischen Nachlass nach München zu stiften. Grimm war 1808 in die neugegründete Akademie gewählt worden, wofür sich vermutlich der aus Gotha stammende Friedrich Schlichtegroll (1765– 1822) eingesetzt hatte, welcher seit 1807 als Generalsekretär der Akademie wirkte. Grimm wollte nun der Akademie „seinen ganzen höchst schätzbaren Pflanzenvorrath und die dazu gehörigen Handschriften zum Geschenk“ machen. Sein botanischer Nachlass bestand in Herbarbelegen aus der Göttinger 14 Johann Matthäus Bechstein, Kurzgefaßte gemeinnützige Naturgeschichte des In- und Auslandes für Schulen und häuslichen Unterricht, Bd. 2.1: Gewächse, Leipzig 1796, S. IX.

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Studienzeit, aus Pflanzen, die Grimm während seiner Reisen durch Westeuropa gesammelt hatte, und aus selbst kultivierten Exoten. Außerdem enthielt das Grimmsche Herbarium eine „Sammlung aller in Thüringen und der angränzenden Gegend zur Erläuterung einer Flora thuringiaca [sic] an Ort und Stelle aufgenommenen Pflanzen“ nebst den Handschriften zu einer „bis 1786 von ihm bearbeiteten thüringischen Flora“.15 Grimm hatte also bereits in den 1780er Jahren die Arbeiten an der thüringischen Flora niedergelegt, das Material dazu aber aufgehoben. Nun sorgte er sich im fortgeschrittenen Alter um dessen dauerhafte Erhaltung. Wie die meisten Sammler war er an der langfristigen ungeteilten Aufbewahrung seiner Sammlung interessiert und wollte vermeiden, dass sie „zerstreut werde oder in Hände gerathe, die sie nicht hinlänglich zu benutzen verständen“.16 Tatsächlich erreichte das Legat nach Grimms Tod im Jahr 1821 seinen Bestimmungsort. Seine Herbarbelege gingen in das Herbarium der Akademie ein, welches 1826 mit dem Herbarium der von Landshut nach München verlegten Universität vereint wurde. Beide bildeten den Grundstock der heutigen Botanischen Staatssammlung München, in deren umfangreichen Beständen Grimms Sammlung noch immer vorhanden ist. Allerdings ist, wie in vielen Herbarien, die Provenienz einzelner Herbarbelege nicht bekannt, so dass sich kaum recherchieren lässt, welche der über drei Millionen Münchner Stücke auf Grimm zurückgehen. Bislang noch unbekannt ist, welches Schicksal Grimms zugehörige Handschriften und insbesondere die Vorarbeiten zu seiner thüringischen Flora erfuhren. Dass Grimm sein Herbar und seine Notizen nicht dem Gothaer Hof vermachte, sondern in das aufstrebende Königtum Bayern stiftete, zeigt an, dass er die bayerische Akademie für den besseren Ort hielt, um sein botanisches Wissen der Nachwelt zu überliefern. Er trug anscheinend keine Bedenken, die Thüringer Materialien nach Bayern zu geben, und in Thüringen unternahm offenbar auch niemand Anstrengungen, sie in der Region zu bewahren. Der seit 1804 regierende Gothaer Herzog August (1772–1822) dürfte für die Materialsammlung wenig übriggehabt haben, denn sein Interesse richtete sich kaum auf die Naturgeschichte und eher auf das Exotische als auf das Einheimische. Jedenfalls kam der Gothaer Hof, dessen Sammlungen noch unter Ernst II. vielfach zum Speicher naturkundlichen Wissens geworden waren, nicht zum Zuge. Gleiches gilt für eine Reihe weiterer Institutionen: weder die Leopoldina, zu 15 Dritter Jahresbericht der Königlichen Akademie der Wissenschaften, München 1810, S. 64 f. 16 Ebd., S. 65.

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deren Mitgliedern Grimm zählte, noch die Universität Jena, die sein Landesherr unterhielt, noch die Universität Göttingen, deren Alumnus er war. In der politischen Situation des Jahres 1810 ergab dies durchaus Sinn, denn über die Zukunft der ernestinischen Fürstenstaaten und der kaiserlich-privilegierten Akademie Leopoldina konnte man in diesen Jahren berechtigte Zweifel hegen. Die dynastische Situation in Gotha war problematisch, die politische Lage im Rheinbund war angespannt, die Universität Jena befand sich in einer Krise, und was die zu dieser Zeit noch von Erlangen aus geführte Leopoldina betraf, so hatte sie noch nicht die nötige Institutionalisierung erfahren, um als sammlungshaltende Einrichtung in Frage zu kommen. Deshalb ging in diesen Jahren auch das Herbarium des Botanikers und Leopoldina-Präsidenten Johann Christian von Schreber (1739–1810) an die bayerische Akademie.

4. Zwischen romantisch und praktisch – Thüringer Floren des 19. Jahrhunderts

Grimms Schenkung führte dazu, dass die Zeugnisse seiner botanischen Studien ihren Entstehungsort verließen und sein Projekt einer „Flora Thuringica“ in Vergessenheit geriet. In München waren seine Materialien zwar wohl verwahrt, aber für die Thüringer Botanik nahezu verloren. Ein neuerlicher Vorstoß zu einer thüringischen Flora, der in den 1830er Jahren von Jena ausging, stand deshalb auch in keinerlei Verbindung zu Grimm. Die Initiative ergriff der Botaniker, Geologe und Paläontologe Jonathan Carl Zenker (1799–1837), der als ordentlicher Professor für Naturgeschichte über weitaus bessere Bedingungen verfügte, um ein so umfangreiches Projekt umzusetzen. Sein Vorhaben trug freilich auch völlig andere Züge als die mühsame Pionierarbeit des Einzelkämpfers Grimm, denn Zenker initiierte ein hochwertig illustriertes Reihenwerk, das seit 1836 in Einzelheften ausgegeben wurde und damit sukzessive ergänzt werden konnte. Bis 1855 erschienen in Jena in 144 Einzellieferungen zwölf Bände der „Flora von Thüringen und den angrenzenden Provinzen“, die jeweils mit 120  Abbildungen ausgestattet waren, welche auf Vorlagen des Jenaer akademischen Zeichenlehrers Ernst Schenk (1796–1859) zurückgingen. Über die Zielsetzung des Werks informierte Zenker in seiner „Vorerinnerung“ im ersten Band. Aus ihr wird ersichtlich, wie der von Lorenz Oken (1779–1851) geförderte Zenker ein kommerziell aussichtsreiches Verlagsprodukt mit dem Geist romantischer Naturwahrnehmung und thüringisch-­ patriotischem Sendungsbewusstsein verband. Mit viel Pathos führte er seine Initiative auf eine Erweckung im Kindesalter zurück: „Den Unterzeichneten

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Abb. 2: Helm-Knabenkraut

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ergriff schon damals, als er noch als Knabe in den stillen, romantischen Thälern der Vorberge des Thüringerwaldes weilte, tief der wunderbare Zauber der Pflanzenwelt. Nicht Ehrgeiz, sondern die reinste Freude an dem großen, unvergleichlichen Gotteswerke, weckte in ihm den Gedanken, einst wo möglich der Naturgeschichtsschreiber seines Vaterlands zu werden […]. Noch erglänzen ihm in frischem Frühlingsschimmer alle jenen kräuterreichen, duftenden, waldbekränzten Höhen, auf denen er zuerst die Sprache des Naturgeistes deutlicher vernahm, und wo er Treue der Natur, dem Abglanz Gottes schwur.“17 Zenker skizzierte Thüringen als ein in geologischer wie botanischer Hinsicht besonders reiches, vielfältiges und schönes Gebiet von „imposanten Wald­ gebirgen und lieblichen Thälern und Auen, von herrlichen, dunkeln, uralten Wäldern und weithin ausgebreiteten heitern und üppigen Flächen“. Er sah das Land durch einen „biedern, treuen, frohen Menschenschlag“ und „hochherzige Fürsten“ ausgezeichnet, pries die gesunde Bergluft, die „heitere Grünung“ und den „regen Sinn für Kunst und Wissenschaft“. Angesichts dieser Vorzüge werde man, so Zenker, „leicht begreiflich finden, welche magische Gewalt schon der bloße Name Thüringen auf jeden auszuüben im Stande ist, der es sein Vaterland nennt, und der mithin die schönsten Jahre seines Lebens in seinen Grenzen verbrachte“.18 Zenker schmeichelte mit der „Flora von Thüringen“ jedoch nicht nur dem vaterländischen Gefühl seines Publikums, sondern verband mit ihr auch ein dezidiert wissenschaftliches Programm. Er begriff die Publikation als Vorarbeit zu einem von ihm geplanten Werk, in dem er nicht nur die „Lebensgesetze der Pflanzenwelt“, die Einflüsse von Klima und Standort sowie die Wechselwirkungen zwischen Flora und Fauna untersuchen wollte, sondern auch den „Strom des vegetabilischen Lebens“ von den in Thüringen aufgefundenen Pflanzenfossilien bis hin zur aktuellen „Physiognomie des Pflanzenreichs“ nachzuzeichnen suchte (Abb. 2).19 Augenscheinlich verfolgte Zenker also den ehrgeizigen Plan, neuere ökologische und evolutionäre Vorstellungen in eine innovative botanische Gesamtdarstellung über Thüringen einfließen zu lassen, dessen Umsetzung ihm jedoch wegen seines frühen Tods im Jahr 1837 nicht gelang. Im Unterschied zu diesem nie geschriebenen Werk stellte die „Flora von Thüringen“ eine ausführ17 Jonathan Carl Zenker, Vorerinnerung, in: Flora von Thüringen und den angrenzenden Provinzen, Bd. 1, Jena/Leipzig 1836, S. 1–6, hier S. 1. 18 Ebd., S. 5. 19 Ebd., S. 2.

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liche, ein breiteres Publikum ansprechende Bestandsaufnahme dar, die sowohl in der Tradition der Lokalfloren bzw. Pflanzenlisten stand als auch das Konzept der illustrierten Kräuterbücher aufgriff. Da Zenker auch auf dem Gebiet der Geologie tätig war, lag es ihm nahe, den von ihm bearbeiteten Untersuchungsraum geologisch zu definieren: „Unter dem Gebiete der Flora Thüringens begreifen wir die ganze Landesstrecke, welche sich im Norden vom Fuße des Harzes nach Süden hin bis zum Höhenkamm des Thüringerwaldes, im Westen von der Hochebene des Eichsfeldes und weiter südwärts von der Werra aus bis zur Saale im Osten zieht.“20 Zenker berief sich damit auf die neuesten geognostischen Arbeiten Karl Ernst Adolf von Hoffs, der in seinen 1833 in Gotha erschienenen „Höhen-Messungen in und um Thüringen“ Thüringen mit den ‚natürlichen Grenzen‘ der Gebirge, Erhebungen und Flusstäler eingegrenzt hatte. Außerdem hatte von Hoff auf der Grundlage seiner Höhenbestimmungen Thüringen als Abfolge von sechs zwischen Harz und Thüringer Wald eingespannten Längstälern begriffen, für die er jeweils unterschiedliche klimatische und den Pflanzenwuchs bzw. die Pflanzenzucht beeinflussende Bedingungen festgestellt hatte.

Abb. 3: Schematische Darstellung der geologischen Schichtungen in Thüringen

Hoff bezog sich dabei auf Alexander von Humboldt (1769–1859), der die unterschiedlichen Vegetationszonen der Erde primär auf ihre Höhenlage zurückgeführt hatte. Zenker waren diese neuen Konzepte ebenfalls geläufig, weshalb er nun hoffte, mit der „Flora von Thüringen“ die Grundlage für ein „Pflanzenverzeichniß nach geognostischen Verhältnissen und nach der Höhe der

20 Ebd., S. 4.

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Standörter über dem Meere“21 zu schaffen. Er rief dazu auf, ihm die exakten Standorte der in der „Flora von Thüringen“ abgebildeten Pflanzen zukommen zu lassen. Dies sei „nicht allein für unser Werk von großer Bedeutung, sondern überhaupt für die Pflanzengeographie Thüringens von besonderer Wichtigkeit […]. Auf diese Art würde eine Pflanzentopographie zu Stande gebracht werden, dessen sich wohl kein anderer Landesstrich in gleicher Genauigkeit und Vollständigkeit rühmte.“22 Zenkers Reihenwerk wurde nach seinem Tod von dem Hallenser Botaniker Diederich Franz Leonhard Schlechtendahl (1794–1866) und dem Jenaer Botaniker Christian Eduard Langethal (1806–1878) fortgesetzt. Zum Standardwerk der Thüringer Botanik wurde es allerdings nicht. Als solches galt vielmehr bis in jüngste Zeit das 1850 erschienene „Taschenbuch der Flora Thüringens“, welches der Theologe Friedrich Christian Heinrich Schönheit (1789–1870), Pfarrer in Singen bei Stadtilm, erarbeitete. Es verdankte sich dem Auftrag eines 1842 in Erfurt gegründeten Naturwissenschaftlichen Vereins für Thüringen, dessen botanische Sektion „die vegetabilischen Schätze dieses Landstriches aus ihrer theilweise noch großen Verborgenheit ans verdiente Tageslicht“23 befördern wollte. Das „Taschenbuch“ behandelte einen Raum, der von Nordhausen am südlichen Harzrand über die Goldene Aue und das Mansfeldische bis nach Halle reichte und von da dem Saaleverlauf über Merseburg und Weißenfels bis nach Naumburg folgte. In südöstlicher Richtung waren die rechts der Saale gelegenen reußischen Gebiete um Gera, Weida, Schleiz und Lobenstein eingeschlossen. Im Süden umfasste das Gebiet die südliche und westliche Abdachung des Thüringer Waldes bis einschließlich Neustadt an der Heyde, Coburg, Römhild und Meiningen. Westlich verlief es entlang des Werratals bis Vacha, Berka und Creuzburg und von dort durch das Eichsfeld bis Nordhausen. Schönheit vermied es, den so abgesteckten Raum explizit als Thüringen zu bezeichnen und operierte stattdessen mit dem technischen Begriff des „Florengebietes“.24 Schönheit hatte die Herausgabe des „Taschenbuchs“ über mehrere Jahre vorbereitet. Bereits auf der ersten Sitzung der botanischen Sektion des Naturwissenschaftlichen Vereins im Jahr 1842 hatte er dazu aufgerufen, gemeinsam 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Friedrich Christian Heinrich Schönheit, Taschenbuch der Flora Thüringens, zum Gebrauch bei Excursionen, Rudolstadt 1850, S. I. 24 Ebd., S. VI.

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an einer Flora Thüringens zu arbeiten, indem jedes Mitglied Pflanzenverzeichnisse seiner Umgebung beisteuerte. Da er bereits seit 1833 den Botanischen Tauschverein für Deutschland leitete, hatte er Erfahrungen in der gemeinschaftlichen Arbeit und im wissenschaftlichen Austausch. Klar erkannte er, dass beides nötig war, um die Flora eines größeren Gebiets zu erschließen. Tatsächlich arbeiteten ihm dann mehrere Pflanzenkundler aus verschiedenen Teilen seines Untersuchungsgebiets zu, darunter neben dem Erfurter Mediziner und Botaniker Johann Jakob Bernhardi (1774–1850) vor allem Apotheker, Pfarrer und Lehrer. Professoren der Universität Jena gehörten hingegen nicht dazu. Das „Taschenbuch“, dessen Vollständigkeit und Genauigkeit in verschiedenen Rezensionen äußerst positiv aufgenommen wurden, erscheint damit insgesamt als ein Hilfsmittel, das von Praktikern für Praktiker verfasst wurde und ganz ohne den Aplomb des Zenkerschen Werkes auskam.

5. Blütezeiten – ein Resümee

Botanisches Wissen wurde in Thüringen bereits im 16. Jahrhundert lokal gefasst: Der in Erfurt geborene, in Jena ausgebildete und in Stolberg und Nordhausen praktizierende Mediziner Johann Thal wird mit seiner „Sylva Hercynia“ als einer der Begründer der Floristik angesehen. Er fand zwischen Harz und Thüringer Wald zahlreiche Nachfolger, insbesondere an der Universität Jena, aber auch an vielen anderen thüringischen Orten. Aus dem akademischen Umfeld der Salana ging 1718 die „Flora Ienensis“ hervor, die mit ihren Fundorten weit über Jena hinausreichte und deshalb zu einem mehrfach aufgelegten Referenzwerk der Thüringer Botanik wurde. Mit Abstrichen kann sie als eine thüringische Flora ‚avant la lettre‘ angesehen werden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam dann die Idee auf, eine Thüringer Flora zu schaffen, die diesen Namen verdiente. Dieses Projekt einer „Flora Thuringica“ trieb unter dem Einfluss des Schweizer Botanikers Albrecht von Haller der Gothaer Arzt Johann Friedrich Karl Grimm voran, brachte es jedoch nicht zum Abschluss. Durch die Stiftung seines botanischen Nachlasses nach München geriet sein Vorhaben vollständig in Vergessenheit. Deshalb konnte sich in den 1830er Jahren der Jenaer Botaniker Jonathan Carl Zenker das Verdienst zuschreiben, eine erste Flora Thüringens ins Leben gerufen zu haben. Er initiierte ein umfängliches, reich illustriertes Reihenwerk, das Zenker gleichermaßen patriotisch wie wissenschaftlich zu legitimieren wusste. Zum Standardwerk wurde jedoch ein anderes, weitaus bescheidener auftretendes Werk, das der Singener

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Pfarrer Friedrich Christian Heinrich Schönheit 1850 als Hilfsmittel botanischer Exkursionen in Zusammenarbeit mit einer Reihe weiterer Pflanzenkundler herausgab. Die Überprüfung von Standorten und der Nachweis von Verbreitungsgebieten stellten neben der systematischen Ordnung der Pflanzen, der Identifikation von Arten und der Diskussion von Varietäten die zentralen Forschungsprobleme dar, welche die Lokalfloren in den Griff zu bekommen hatten. Obwohl sie gattungsbedingt stets einen Ortsbezug aufwiesen und der Wert genauer Standortangaben unstrittig war, blieb die Lokalisierung der botanischen Befunde lange Zeit ein kritischer Punkt. Fundorte wurden nicht konsequent angegeben, und erst im 19. Jahrhundert wurde der jeweilige Untersuchungsraum einigermaßen exakt umrissen, wofür gleichermaßen politische, kulturräumliche und geologische Grenzziehungen benutzt wurden. Thüringen wurde dabei unstrittig zwischen Harz und Thüringer Wald, zwischen Werra und Saale verortet. Diskussionswürdig jedoch waren seine Konturen im Südwesten (Coburger Land) und Nordwesten (Eichsfeld), Nordosten (Mansfeld und Halle) und Südosten (Osterland und Reuß), die sich weder mit dem Konzept der natürlichen Grenzen, noch anhand territorialer Zugehörigkeiten eindeutig fassen ließen. Diese Unschärfe fand ihren Ausdruck darin, dass zumeist von Thüringen und seinen angrenzenden Gebieten gesprochen wurde, um einer Festlegung aus dem Weg zu gehen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts leisteten die Floren also weder eine exakte territoriale Bestimmung, noch eine genaue naturräumliche Charakterisierung Thüringens. Was sie hingegen nährten, war das Bild einer naturverbundenen, mit besonderem Pflanzenreichtum gesegneten Region und das Interesse an ihrer Erforschung. Beides wirkt bis heute nach: Während Ersteres in der identitätsstiftenden Zuschreibung vom „Grünen Herz Deutschlands“ zum Tragen kommt, die bereits im 19. Jahrhundert geprägt wurde und bis heute im touristischen Marketing präsent ist, zeigt die 2006 in Jena erschienene „Flora von Thüringen“ die noch immer lebendige Tradition Thüringer Floristik an.

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Literatur Alix Cooper, Inventing the Indigenous. Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe, Cambridge 2007. Regina Dauser/Stefan Hächler/Michael Kempe/Franz Mauelshagen (Hg.), Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts, Berlin 2008. Holger Foth, Albrecht von Haller und die Entstehung der „Flora Jenensis“, Diss. Halle 2017, urn:nbn:de:gbv:3:4-19608. Nils Güttler, Das Kosmoskop. Karten und ihre Benutzer in der Pflanzengeographie des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2014. Rüdiger Haufe, Das „Grüne Herz Deutschlands“ – eine Metapher im Spannungsfeld von Regionalismus, Nationalismus und Tourismus, in: Detlef Altenburg/Lothar Ehrlich/ Jürgen John (Hg.), Im Herzen Europas. Nationale Identitäten und Erinnerungskulturen, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 219–250. Ilse Jahn, Geschichte der Botanik in Jena von der Gründung der Universität bis zur Berufung Pringsheims (1558–1864), 2 Bde., Diss. (masch.) Jena 1963. Friedrich Karl Meyer, Schönheits Taschenbuch der Flora Thüringen, in: Hermann Manitz (Hg.), Friedrich Christian Heinrich Schönheit, Taschenbuch der Flora Thüringens, Ndr. Jena 2006, S. 9–19. Igor J. Polianski, Die Kunst, die Natur vorzustellen. Die Ästhetisierung der Pflanzenkunde um 1800 und Goethes Gründung des botanischen Gartens zu Jena im Spannungsfeld kunsttheoretischer und botanischer Diskussionen der Zeit (Minerva, 14), Jena 2004. Jürgen Pusch/Klaus-Jörg Barthel/Wolfgang Heinrich (Hg.), Die Botaniker Thüringens (Haussknechtia Beiheft, 18), Jena 2015.

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Thüringenbewusstsein und die nationale Frage im 19. Jahrhundert

Georg von Werthern, geboren 1816 in Weimar, aufgewachsen im früher kursächsischen, seit 1815 preußischen Beichlingen und von 1867 bis 1888 als preußischer Gesandter in München tätig, betrat am 6. März 1870 wegen der Geburt seines Sohnes Thilo verspätet die Münchener Oper. In seinem Tagebuch hielt er fest: „In dem Augenblicke, wo ich die Thüre der Loge aufmachte, fiel der letzte Strahl der Sonne auf die Vorstellung & Wolfram von Eschenbach stimmte das schöne Lied an den Abendstern an. Nie hat mich Musik tiefer ergriffen; die Thüringer Seite meines Herzen’s erzitterte mächtig und mir war als knüpfte ich per procura die intimsten Beziehungen zwischen dem Neugeborenen & seinem engern Vaterlande an. Mit einer starken Liebe zur Heimat & und einem guten Grunde der Erziehung durch die Mutter kann ein Mensch nicht ganz verloren gehen.“1 Wertherns in München geborener Sohn Thilo sollte mit einer starken Liebe zu seiner Heimat Thüringen aufwachsen. Gleichzeitig sah der Thüringer Werthern es aber als seine große Aufgabe an, für die deutsche Einheit unter preußischer Führung zu wirken. Gerade seine Thüringer Herkunft und Prägungen schienen ihm hierzu besondere Eigenschaften mit auf diesen Weg zu geben. In seinem Tagebuch schrieb Werthern rückbli­ ckend zu seinen Anfängen in München 1888: „Aufgesäugt mit den Liedern aus den Kriegsjahren 1813, 14 & 15; groß geworden im Anblick der ohnmächtigen Bestrebungen auf Wiederherstellung Deutschlands durch Versammlungen, Schützenfeste usw. & zuletzt durch 19jährigen Aufenthalt im Auslande, im Elende, fanatisiert für Deutschland – so kam ich nach München. Die Thüringische Sprache, Zwilling des Fränkischen, die Juppe, der Bart, die Brauchbarkeit beim Bier, beim Kegeln, beim Scheibenschießen & auf der Jagd, vor Allem aber der Mangel an Allem, was einem Preußischen Geheimrath eigen ist & die Erziehung am Weimarer Hofe, die genaue Kenntnis seiner Beziehungen zur Bürgerschaft“ machten mich in München vom ersten Tage an „heimisch

1 Ein preußischer Gesandter in München. Georg Freiherr von Werthern. Tagebuch und politische Korrespondenz mit Bismarck 1867–1888, hg. u. bearb. von Winfried Baumgart (Deutsche Geschichtsquellen des 19. u. 20. Jahrhunderts, 74), Berlin 2018, S. 83.

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& vertraut.“2 Auch gegenüber Bismarck betonte Werthern 1869, wie eng seine Thüringer Herkunft und sein deutschlandpolitisches Engagement zusammenhingen: „Geboren inmitten der deutschen Kleinstaaterei, in Thüringen, aber seit 30 Jahren nach vielfachen Wanderungen in regelmäßigen Zeitabschnitten und ohne daß ich mich selbst wesentlich verändert hätte dahin zurückkehrend, habe ich die Veränderungen, die früher oder später in Deutschland eintreten mussten, vielleicht sicherer und zeitiger erkannt als mancher andere.“3 Diese Verknüpfung von Vorstellungen Thüringischer Identität und dem Eintreten für einen deutschen Einheitsstaat wird vor allem im Zeitraum zwischen 1830 und 1870 auch in vielen anderen Quellen spürbar.4 So forderte Ludwig Storch 1843 anlässlich des ersten Liederfestes des gerade gegründeten Thüringer Sängerbundes, dass man mit dem „deutschen Lied“ die Länder und Städte eines alten Volksstammes, die durch geschichtliche Ereignisse getrennt worden waren, „geistig und seelisch“ wieder vereinigen und den Namen des Stammes wieder ins Bewusstsein zurückholen müsse. Dies sollte aber zugleich dazu beitragen, sich „wieder unseres deutschen Vaterlandes und unseres deutschen Sinnes“ bewusst zu werden. Denn, so führte Storch weiter aus, „in dem Namen Thüringen liegt keine politische Scheidung von dem gemeinsamen deutschen Vaterlande, im Gegentheil hebt er diejenigen auf, welche bestehen, und gibt uns eine poetische Weihe, welche uns allein geschickt macht, die Idee des Gesamtvaterlandes würdig zu fassen“.5 Auch Ludwig Bechstein betonte das enge Wechselverhältnis zwischen Thüringen und der deutschen Nation, denn erst, „wenn Vaterlandsliebe in einem heimathlichen Boden wurzelte und erstarkte, vermag sie zu dem Baum erwachsen, der seine Zweige über ein großes Gesammtvaterland ausbreitet“.6 Diese Beispiele zeigen, wie eng im 19. Jahrhundert Konstruktionen thüringischer Identität mit den Vorstellungen einer neuen, beziehungsweise wiederzubelebenden deutschen Nation und eines neuen deutschen Reiches verbun2 Ebd., S. 257. 3 Zitiert nach: Hajo Holborn, Bismarck und Freiherr Georg von Werthern. Auf Grund unbekannter Briefe und Aktenstücke, in: Archiv für Politik und Geschichte 5 (1925), S. 469–507, hier S. 479. 4 Ausführlich hierzu Marko Kreutzmann, Nationales Bewusstsein und thüringische Identität im Vormärz (1830–1848). Ein Beitrag des Verhältnisses von Nationsbildung und Region im 19. Jahrhundert, Magisterarbeit Jena 2002. Ich verdanke dieser leider nicht gedruckten Arbeit viele Informationen und Anregungen. 5 Ludwig Storch, Der Thüringer Sängerbund und sein erstes Liederfest, Gotha 1843, S. 12. 6 Ludwig Bechstein, Thüringen in der Gegenwart. Land und Volk. Sitte und Sage. Können und Wissen. Handel und Wandel, Gotha 1843, S. 1 f.

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den waren und wie sehr dabei von vielen Akteuren Thüringen im Streben nach deutscher Einheit sogar eine besondere Aufgabe zugewiesen wurde. Im Folgenden soll zuerst danach gefragt werden, wo und wie sich neue Konstrukte von Thüringer Identität seit dem frühen 19. Jahrhundert herausbildeten, auf welchen älteren Sichtweisen sie aufbauten und wer die maßgebenden Akteure und Institutionen zur Verbreitung dieser Vorstellungen waren. Zweitens geht es dann um die Verbindungen zwischen einem neu konstruierten Thüringen-Bewusstsein und der so genannten inneren Nationsbildung, also jenen politischen, kulturellen und auch wirtschaftlichen Prozessen, die zur Ausbreitung neuer nationaler Leitbilder führten und damit, wie vor allem die Forschungen von Dieter Langewiesche gezeigt haben, wichtige Grundlagen der späteren Reichsgründung bildeten.7 Drittens soll abschließend gefragt werden, inwieweit diese thüringischen Entwicklungen ein Normalfall im deutschen Nationsbildungsprozess waren oder ob hier doch regionale Besonderheiten zu erkennen sind.

1. Neubelebung des Thüringenbegriffs im frühen 19. Jahrhundert

Das Thüringen-Bewusstsein, das sich im Mittelalter herausgebildet hatte,8 war im Laufe der frühen Neuzeit zwar hinter dynastische Loyalitäten und Identitäten zurückgetreten. Noch auf den Kriegerfesten der 1830er Jahre galten Alt- und Neuweimarer, Alt- und Neupreuße, Reußen, Meininger, Rudolstädter und Gothaer als „Volk deutschen Stammes“, von Thüringern war nicht die Rede.9 Dennoch war schon zu diesem Zeitpunkt zu beobachten, dass das offenbar nie ganz verschwundene Thüringen-Bewusstsein eine neue Wirkungskraft zu entfalten begann. Als 1811 in Altenberga ein von allen drei christlichen Konfessionen errichtetes Bonifatius-Denkmal eingeweiht wurde, wollte man 7 Vgl. hierzu vor allem die Beiträge von Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000. 8 Vgl. hierzu vor allem Matthias Werner, Die Anfänge eines Landesbewußtseins in Thüringen, in: Michael Gockel (Hg.), Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, Marburg 1992, S. 83–-137; Ders., „Ich bin ein Durenc“. Vom Umgang mit der eigenen Geschichte im mittelalterlichen Thüringen, in: Ders. (Hg.), Identität und Geschichte (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 1), Weimar 1997, S. 79–104. 9 Friedrich Lossius, Die Kriegerfeste, welche zur Erinnerung an die Schlacht bei Belle-Alliance im Großherzogthum S.-Weimar seit 1835 kirchlich gefeiert worden sind, für Kriegsgefährten und Freunde vaterländischer Gesinnung geschrieben, Jena 1842, S. 27.

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in einer Zeit tief greifender politischer Veränderungen auf das gemeinsame kulturelle Erbe Thüringens verweisen, Generalsuperintendent Löffler sprach in diesem Zusammenhang von unserem „Vaterland Thüringen“.10 Wenn in den folgenden Jahren verstärkt von Thüringen die Rede war, dann war dies allerdings zunächst noch ein eher unpolitischer, volkskundlich-geographischer Begriff. Er war anfangs zudem oft noch stark auf die Landschaft und hier insbesondere auf den Thüringer Wald bezogen.11 Der Blick in die zeitgenössische Literatur zeigt freilich, dass vor allem durch die Romantik aus einer noch landschaftlich verstandenen Region zunehmend eine historisch verstandene wurde, die zudem nun weit über den Thüringer Wald hinausreichte. Ludwig Bechstein bezog 1843 in seiner geographischen Umschreibung Thüringens im Süden den Frankenwald und im Norden den Harz mit ein und bezeichnete die in der preußischen Provinz Sachsen liegenden Städte Halle, Eisleben, Merseburg und Querfurt als in „historischer und geistiger Beziehung“12 zu Thüringen gehörig. In dieser Region entstand 1819 auch der „Thüringisch-Sächsische Verein für Erforschung des vaterländischen Altertums und Erhalt seiner Denkmale“. In den folgenden Jahrzehnten wurden im Thüringer Raum weitere Geschichtsvereine gegründet. Obwohl diese bis zum 1852 entstandenen „Verein für Thüringische Geschichte und Altertumskunde“ noch keine ganz Thüringen umfassende Tendenz aufwiesen, besaßen diese Vereine eine wichtige Pionierfunktion für die Auseinandersetzung mit der regionalen Geschichte und trugen maßgeblich zur historischen Untermauerung des Thüringenbegriffs bei.13 Darüber hinaus weckten vor allem Publizisten wie Ludwig Bechstein und Ludwig Storch mit ihren Schriften über die Sagenwelt, die Geschichte und 10 Josias Friedrich Christian Löffler, Bonifacius, oder Feyer des Andenkens an die erste christliche Kirche in Thüringen bey Altenberga im Herzogthum Gotha, Gotha 1812, S. 20. Vgl. hierzu auch Marko Kreutzmann, Apostel der Deutschen und der Thüringer oder Wegbereiter „römischer Herrschaft“?, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 58 (2004), S. 123–160. 11 Vgl. etwa Ludwig Bechstein, Wanderungen durch Thüringen. Mit 80 Stahlstichen von Otto Wagner, Leipzig 1838, S. 5. 12 Bechstein, Thüringen (wie Anm. 6), S. 13. 13 Vgl. Konrad Marwinski, Thüringische Geschichtsvereine vor 1871. Ein Beitrag zur Funktionsbestimmung der bürgerlichen deutschen Geschichts- und Altertumsvereine im 19.  Jahrhundert, Diss. Leipzig 1975 (MS). Ferner: Stefan Gerber, Historisierung und Nationalisierung der Region. Gründungsmotive und Gründungskonstellationen des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde zwischen 1848 und 1852, in: Matthias Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, Köln/ Weimar/Wien 2005, S. 1–22.

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die Landschaften in der Bevölkerung das Bewusstsein für die Vergangenheit Thüringens.14 Storch verwies auf den großen Sagenschatz, der als schmückendes Beiwerk einer langen und ruhmvollen Geschichte interpretiert wurde und der die „Verzweiflung über die untergegangene Nationalität“ der Thüringer in „poetische Wehmut“15 umwandle. Andere hoben den Reichtum an Burgruinen hervor und verwiesen auf das in den Fluten des Zeitstromes versunkene Königreich Thüringen sowie weitere Aspekte einer langen Geschichte wie die Leipziger Teilung von 1485, Luther und die Reformation sowie die folgende politische Zersplitterung des Thüringer Raumes. Mit alldem verstärkte sich auch in breiteren Schichten der Bevölkerung ein Thüringen-Bewusstsein, das vor allem auf den seit 1843 regelmäßig stattfindenden, von vielen Menschen aus allen Teilen Thüringens besuchten Liederfesten deutlich hervortrat und durch immer wiederkehrende Verweise auf Landschaft, Helden und vor allem kulturelle Leistungen untermauert wurde. Auf dem ersten Liederfest des Thüringer Sängerbundes, das 1843 in Molsdorf stattfand, sprach Ludwig Bechstein vom „Land Thüringen“, das „einst so groß, das einst so mächtig war“, und forderte dazu auf, durch Heimatliebe und -treue das alte Thüringen-Bewusstsein neu zu beleben: „Du holdes Land, Du Land der goldnen Auen, voll Saatengold, voll grüner Wälder Zier; Du Land voll schöner Jungfraun, wackrer Frauen, Land kräft'ger Männer, heilig bist Du mir! Gesegnet sei mit allen Deinen Gauen, Gesegnet sei Thüringen, für und für! Der Segen, den heut meine Lippen lallen, soll durch ein neu Jahrtausend widerhallen.“16 Das beschworene neue Jahrtausend bezog sich auf die Erinnerung an den 843 geschlossenen Vertrag von Verdun, und Bechsteins Thüringen-Gedicht schloss bezeichnenderweise mit der Zeile: „Laßt uns an deutscher Eintracht Tempel

14 Vgl. Falk Burkhardt, Revolution von 1848/49 und thüringische Identität, in: Comparativ 13 (2003), S. 116–150, hier S. 122. 15 Ludwig Storch, Ueberblick der Geschichte Thüringens, in: Friedrich von Sydow, Thüringen und der Harz mit ihren Merkwürdigkeiten, Volkssagen und Legenden, Sondershausen 1839, Bd. I, S. XI–XXIX, hier S. XI. 16 Storch, Thüringer Sängerbund (wie Anm. 5), S. 53 f.

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bauen“.17 Auch auf den folgenden Festen des Sängerbundes wurden immer wieder Thüringen-Lieder vorgetragen, die einerseits das Bewusstsein der regionalen Verbundenheit und andererseits die Bedeutung Thüringens für die deutsche Geschichte unterstreichen sollten. Beschworen wurden die schöne Landschaft, die stolzen Burgen, das Sängerland und das Heldenland Thüringen, das einen Luther und viele andere edle große Männer hervorgebracht habe, reich an „Kraft und Ruhm“ sei und als „Herz im deutschen Reich“ mit echtem „deutschen Sinn“ wirke.18 Die Konstrukteure dieser Thüringenbilder kamen aus dem Bildungsbürgertum, und neben Vereinen, ihren Festen und den Schriften eines Bechsteins spielten auch die rasch an Bedeutung gewinnenden Zeitungen und Zeitschriften eine wichtige Rolle bei der Propagierung dieses vor allem kulturell aufgeladenen Thüringenbewusstseins. Zahlreiche der vor allem 1848/49 neu entstehenden Periodika trugen den Namen Thüringen in ihrem Titel.19 Der von 1829 bis 1831 in Jena erscheinende, unter anderem von Friedrich Johannes Frommann herausgegebene „Thüringer Volksfreund“ empfahl seinen Lesern, „sich auch ein wenig um Thüringen zu bekümmern, ein Land wo verschiedene Interessen zusammenstoßen und so viel geschieht und versucht wird“.20 Die 1847 vom Erfurter Demokraten Hermann Alexander Berlepsch unter Umgehung der preußischen Zensur in Arnstadt gegründete „Thüringer Zeitung“ verstand sich bewusst als Sprachrohr für ganz Thüringen. Der damit auch in der Presse seit den 1830er Jahren verstärkt zum Ausdruck kommende Thüringen-Begriff war keine bloße Fortsetzung älterer Thüringen-Bilder. In Anlehnung an die moderne Nationalismusforschung kann man auch in diesem Falle sagen, dass die nun viel beschworene Thüringen-Identität im frühen 19. Jahrhundert in gewisser Hinsicht neu erfunden wurde. Sie war durchaus ein Konstrukt, aber eben auch keine willkürliche Erfindung, die sich Menschen ausdachten und in die Welt setzten. Die angedeutete Breitenwirkung konnten solche Konstrukte nämlich nur erzielen, wenn das Neue im Fundus der Vergangenheit aufzufinden war, wenn es – wie Dieter Langewiesche gegen zu einfache Konstruktionsthesen anführt – in einem historischen Zwangsge17 Ebd. 18 So im Lied „Thüringen“, in: Fünftes Liederfest des Thüringer Sängerbundes 23. und 24. August 1847 im Marienthale bei Eisenach, Eisenach 1847, S. 25. 19 Vgl. Werner Greiling, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 6), Köln 2003, S. 542–544. 20 Zitiert nach Burkhardt, Revolution (wie Anm. 14), S. 123.

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häuse verankert war.21 Und für die Propagierung eines neuen Thüringenbewusstseins bot die regionale Geschichte in der Tat genug Anknüpfungspunkte. Das neue Thüringenbild gewann seine Attraktivität aber keineswegs nur aus der Rückbesinnung auf die Geschichte, die Sagenwelt, die kulturellen Leistungen und das Beschwören der schönen Landschaft im Herzen Deutschlands. In ihm schlugen sich auch neue politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen nieder, mit denen die thüringischen Gebiete seit Beginn des 19. Jahrhunderts konfrontiert wurden. Sie ließen ganz neue Inhalte und Deutungen in die Thüringenbilder einfließen. Der thüringische Raum war zwar von den großen territorialen und staatlichen Veränderungen der napoleonischen Ära weit weniger betroffen als etwa das südliche Deutschland. Dennoch gab es auch hier, etwa durch die Gründung des Königreichs Westfalen im Jahre 1807 und die preußischen Erwerbungen von 1815 einige Veränderungen. Vor allem aber wuchs mit dem Ende des Alten Reiches die Einsicht, wie schwach die Stellung der kleineren Staaten unter den neuen Verhältnissen geworden war. Daran konnte nach 1815 auch die Mitgliedschaft im Deutschen Bund nichts ändern. Dieser sicherte zwar die Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten, ließ den so genannten mindermächtigen Staaten in vielen Fragen aber wenig Handlungsspielraum. Wollten die kleinen Staaten Mitteldeutschlands ihre sicherheits- und handelspolitischen Interessen gewährleistet sehen, kamen sie an einer engeren Kooperation untereinander und an der mit größeren Nachbarn, vor allem mit Preußen, nicht vorbei.22 Es wäre noch genauer zu prüfen, inwieweit dies Auswirkungen auf ein neues Verständnis von Thüringen hatte. Manches deutet aber darauf hin, dass schon in den frühen Diskussionen im Rheinbund und im Deutschen Bund häufiger von Thüringen die Rede war. So schrieb Ernst August Freiherr von Gersdorff, der das Herzogtum Sachsen-Weimar auf dem Wiener Kongress als Gesandter vertrat, am 15. Oktober 1814: „Thüringen sammt der angränzenden Länder der Häuser von Reuss bildet ein Ganzes.“ Da aber die politische Verfassung dieses Raumes mit neun voneinander unabhängigen Regierungen nur schwer den Bedürfnissen der regionalen wie der nationalen Wohlfahrt nachkommen 21 Vgl. Dieter Langewiesche, Was heißt ‚Erfindung der Nation‘? Nationalgeschichte als Artefakt – oder Geschichtsdeutung als Machtkampf, in: Historische Zeitschrift 277 (2003), S. 593–617. 22 Zur Lage der Kleinstaaten um 1815 vgl. Michel Hundt, Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, 164), Mainz 1996.

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könne, sollte man eine „freywillige Vereinigung der Fürsten und Staaten Thüringens“23 anstreben. Gersdorffs Plan scheiterte zwar schon am Argwohn, den andere Kleinstaaten gegenüber dem nun zum Großherzogtum aufsteigenden Sachsen-Weimar an den Tag legten, doch auch in der Folgezeit kamen immer wieder Diskussionen über einen engeren politischen Zusammenschluss der Thüringer Kleinstaaten auf.24 Der Begriff Thüringen gewann nach 1815 aber vermutlich auch deshalb an Bedeutung, weil es in Mitteldeutschland ebenfalls einige Grenzverschiebungen gegeben hatte und die Bevölkerung, welche nun anderen Landesherren zugewiesen worden war, neuen Halt und Orientierung finden musste. Die Wertherns in Beichlingen waren keine Sachsen mehr, fühlten sich aber auch nicht unbedingt als Preußen. Die Verbundenheit mit einem letztlich nicht genau definierten Thüringen bot solchen Neupreußen oder auch den Neuweimarern des Neustädter Kreises einen gewissen Ausweg aus möglicherweise vorhandenen Identitätsproblemen. Die gemeinsamen Erfahrungen in einem neuen, sich bei Sängern, Turnern, Kriegern und Schützen und anderen als „thüringisch“ definierenden Vereinswesen sowie das Erlebnis der von Teilnehmern aller Einzelstaaten besuchten Vereinsfeste verstärkten zumindest im Bürgertum ein thüringisches Zusammengehörigkeitsgefühl. Dies galt in besonderem Maße für die Sängervereine und den Sängerbund,25 aber auch in öffentlichen Verlautbarungen der Veteranenvereine tauchte die Selbstbezeichnung „alte Krieger Thüringens“ auf.26

23 Gerhard Müller (Bearb.), Thüringische Staaten. Sachsen-Weimar-Eisenach 1806–1813 (Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, 9), Berlin/München/Boston 2015, S. 78 f. 24 Vgl. Hans-Werner Hahn, Vom „Thüringer Kleinstaatenjammer“ zum Land Thüringen. Die ‚Thüringen-Frage‘ 1806 bis 1920, in: Robert Kretzschmar/Anton Schindling/Eike Wolgast (Hg.), Zusammenschlüsse und Neubildungen deutscher Länder im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013, S. 125–152. 25 Dies galt vor allem für die Sängerfeste. Vgl. hierzu Sebastian Nickel, Männerchorgesang und bürgerliche Bewegung 1815–1848 in Mitteldeutschland (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 37), Köln/Weimar/Wien 2013, S. 161–203; A. Voigt, Geschichte des Thüringer Sängerbundes, Gotha 1889. 26 Vgl. Marko Kreutzmann, Thüringische Kriegervereine im Vormärz und ihre Bedeutung für die innere Nationsbildung, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 57 (2003), S. 127–166, hier S. 149.

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2. Freiheits- und Zukunftsverheißungen des Thüringenbildes

Ein nicht zu unterschätzendes Bindeglied waren in diesem Zusammenhang aber auch die gemeinsamen politischen Grundauffassungen. Seit den Freiheitskriegen war Thüringen ein wichtiger Formierungsraum der frühliberalen und -nationalen Bewegung.27 Mit den Vereinsbildungen der Sänger, Turner und anderer sowie ihren Zusammenschlüssen zu Thüringer Bünden verstärkten sich diese Tendenzen. Vereine hatten angesichts von Zensur und Repression oft einen kryptopolitischen Charakter. Je mehr sich vor allem in den 1840er Jahren die frühliberale und -nationale Bewegung verstärkte, desto deutlicher traten Verfassungs- und freiheitliche Elemente in dem vom Bürgertum vertretenen Thüringenbild hervor. Thüringische Kleinstaaten hatten mit als Erste den Artikel 13 der deutschen Bundesakte erfüllt, indem sie Verfassungen gewährten. Schon auf dem Wartburgfest hatte der Jenaer Professor Friedrich Jakob Fries den Studenten zugerufen: „Deutsche Jünglinge! Ihr stehet auf dem freyesten Boden der Deutschen. Kehrt wieder zu den Eurigen und sagt: Ihr waret im Lande deutscher Volksfreiheit, deutscher Gedankenfreiheit. Hier wirkten entfesselnd Volks- und Fürstenwille.“28 Auch auf den Kriegerfesten des Vormärz priesen Redner die von den Fürsten der Kleinstaaten gewährten Verfassungen als Vorbild für ganz Deutschland. Und auf dem 1845 in Arnstadt stattfindenden Sängerfest lobte man Fürst Günther Friedrich Carl II. von Schwarzburg-Sondershausen dafür, dass er als „erster deutscher Fürst“ die Rede frei gegeben habe und Thüringens Männer „unangefochten von verkrüppelter Censur“29 ihre Meinung frei äußern dürften.30 Ein Jahr zuvor hatte man auf dem in Gotha stattfindenden dritten Liederfest des Thüringer Sängerbundes die anwesende englische Königsfamilie mit einem Lied geehrt, das die freiheitlichen Zustände Großbritanniens beschwor und Victoria den deutschen Fürsten als Vorbild präsentierte. Das Verlangen nach freiheitlichen Zuständen wurde somit zu einem wichtigen Element des propagierten Thüringenbildes. Ludwig Bechstein, der Ehrengast 27 Zur besonderen Rolle der Universität Jena vgl. Klaus Ries, Wort und Tat. Das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart 2007. 28 Zitiert nach: Günter Steiger, Urburschenschaft und Wartburgfest. Aufbruch nach Deutschland, Leipzig 21991, S. 69. 29 Th. Buddeus, Das vierte Liederfest des Thüringer Sängerbundes in Arnstadt am 12. August 1846, Arnstadt 1846, S. 12. 30 Vgl. Erinnerung an das dritte Liederfest des Thüringer Sängerbundes am 1. September 1845 in Gotha, Gotha 1845, S. 15 f.

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mehrerer Sängerfeste war, hatte mit seinen Schriften und Sagensammlungen zwar viel zu einem stark romantisch aufgeladenen Thüringenbild beigetragen, wies aber 1840 ausdrücklich darauf hin, dass die deutsche Nation sich nicht „auf mittelalterliche Zustände“ zurückführen lassen dürfe. Das Volk sei allmählich „zum Bewusstsein seiner Würde gelangt“ und fühle sich im „Fortschreiten nach dem Ziel seiner sittlichen und politischen Freiheit mündig und kräftig“.31 Auf dem fünften Fest des Thüringer Sängerbundes, das 1847 in Eisenach stattfand, erteilte der führende Liberale des Weimarer Landtags, Oskar von Wydenbrugk, einem rein romantisch aufgeladenen Thüringenbild ebenfalls eine klare Absage. Er hob in seiner Rede am Fuße der Wartburg eindringlich hervor, dass „jene Minnelieder nie wieder tönen werden, wie sie einst in den Räumen jener Burg verhallten, die von dort auf uns niederblickt“, und dass die Ritter nicht mehr „turniren und sich befehden und jenen wunderlichen Feudalstaat wieder aufbauen“ werden, „wovon nur die Trümmer in eine Zeit mit veränderter Anschauungsweise herüberragen“.32 Bei Wydenbrugk standen Freiheit und gesellschaftlicher Fortschritt im Mittelpunkt des eigenen Strebens, wobei Thüringen als Teil eines föderativ verfassten deutschen Einheitsstaates eine führende Rolle zugesprochen wurde. Wie sehr der Thüringen-Begriff mit den großen Freiheits- und Zukunftshoffnungen verbunden war und wie sehr sich mit der bürgerlichen Oppositionsbewegung des Vormärz die Tendenz zu einem thüringischen Zusammenwirken verstärkt hatte, zeigte sich vor allem in der Revolution von 1848/49. Der Erfurter Demokrat Berlepsch organisierte im Sommer 1848 fünf Thüringer Volkstage, die von Menschen aus allen Teilen Thüringens besucht wurden und auf denen die Thüringer Gemeinsamkeiten beschworen wurden. In einem Aufruf hatte Berlepsch schon im April 1848 geschrieben: „Wo thut Einigung, wo Beseitigung veralteter Vorurteile mehr Noth als in unserem Thüringen. […] Konnten unsere Fürsten sich einigen zu einem Thüringischen Zollverbande, konnten unsere Sänger einen Thüringischen Liederbund stiften, warum soll 31 Ludwig Bechstein, Althertumsforschung und althertumsforschende Vereine. Vortrag bei der achten Jahresfeier am 13. November 1840, unveröffentlichtes Manuskript, in: Thüringisches Staatsarchiv Meiningen. Diesen Hinweis verdanke ich Marko Kreutzmann. 32 Erinnerung an das fünfte Liederfest des Thüringer Sängerbundes zu Eisenach. Eine vollständige Festbeschreibung mit sämmtlich gehaltenen Reden, Arnstadt 1847, S. 56. Hierzu auch Hans-Werner Hahn, Die „Sängerrepublik“ unter der Wartburg: Das Liederfest des Thüringer Sängerbundes in Eisenach im August 1847 als Beitrag zur kulturellen Nationsbildung, in: Dieter Hein/Andreas Schulz (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 191–214.

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Thüringens Volk nicht ein Band umschließen zu vereintem Wollen und Streben in seinen Partikularinteressen?“33 Während in Berlepschs 1847 gegründeter „Thüringer Zeitung“ gemäßigt Liberale und entschieden demokratische Kräfte zunächst noch gemeinsam publiziert hatten, wurden die im Sommer 1848 abgehaltenen Volkstage zum Forum des linken Flügels der bürgerlichen Opposition. In einem Leitartikel der „Thüringer Zeitung“ wurde die politische Einheit Thüringens gefordert, wobei es aber nur noch einen Weg geben sollte, „um der Zerstückelung unseres schönen und reichen thüringischen Vaterlandes ein Ende“ zu bereiten: „Es ist die Republik und nur die Republik“34. Angesichts der gerade in den kleinen Residenzstädten, aber auch in anderen Landesteilen oft noch engen Bindung an die jeweilige Dynastie stießen solche Appelle vielfach auf heftigen Widerstand. Das gleiche galt auch für Versuche, die Kleinstaaten in einem neuen Königreich Thüringen politisch zu einen. Zum einen wehrten sich die Fürsten und die Beamtenschaft der kleineren Staaten gegen eine vermeintliche Hegemonie Sachsen-Weimars als größter Thüringer Staat. Zum anderen fürchtete man um die kulturelle Vielfalt, die ja gerade aus der Vielzahl der Residenzen über viele Jahre gewachsen und ein Markenzeichen Thüringens war. Auch liberale Kreise Thüringens verteidigten daher in der von der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt angestoßenen Mediatisierungsdebatte die Existenz der Kleinstaaten. So hob auch der Gothaer Paulskirchenabgeordnete Friedrich Gottlieb Becker die kulturellen Leistungen der kleinen Staaten hervor und bestritt zudem mit politischen Argumenten der Revolution das Recht, über die Wünsche der betroffenen Bevölkerung hinweg die Kleinstaaten zu mediatisieren.35 Trotz der Ablehnung von Republik und Mediatisierung betonten aber auch die gemäßigten Liberalen gerade 1848 die „Stammesidentität“ der Thüringer und verschlossen sich keineswegs der Notwendigkeit einer engeren Koope33 Zitiert nach: Burkhardt, Revolution (wie Anm. 14), S. 127. 34 Zitiert nach Falk Burkhardt, Die „Thüringer Volkstage“ vom Juni bis September 1848. Foren politisierter Öffentlichkeit oder politische Inszenierungen einer republikanischen Minorität?, in: Hans-Werner Hahn/Werner Greiling (Hg.), Die Revolution in Thüringen. Aktionsräume, Handlungsebenen, Wirkungen, Rudolstadt/Jena 1998, S. 407–444, hier S. 430. 35 Reden für die deutsche Nation 1848/1849. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Vollständige Ausgabe in 9 Bänden. Hrsg. auf Beschluss der Nationalversammlung durch die Redactions-Commission und in deren Auftrag von Franz Wigard. Frankfurt am Main 1848/1849. Neu vorgelegt und mit einer Einführung versehen von Christoph Stoll, München 1988, Bd. 5, S. 3827 f.

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ration zwischen den einzelnen staatlichen Teilen Thüringens.36 Der Versuch, einen gemeinsamen Provinzialverein der Thüringer Konstitutionellen zu gründen, scheiterte allerdings.

3. Wirtschaftliche Elemente des Thüringenbegriffs

Erfolgreich waren dagegen die Bestrebungen thüringischer Handwerker und Unternehmer, durch eine engere verbandspolitische Kooperation den eigenen wirtschaftlichen Interessen mehr Geltung zu verschaffen.37 In Gotha wurde im Juni 1848 ein Thüringer Innungsverein gegründet. Ende Mai 1848 entstand in Erfurt der „Industrie-Verein des thüringischen Zollgebietes“. Beide versuchten, den besonderen Interessen der Region im Ringen um eine gesamtdeutsche Wirtschaftsordnung Geltung zu verschaffen. Die Wirtschaftsfragen gehörten nach 1815 zu jenen neuen Herausforderungen, die wie der politische Umbruch auf die gemeinsamen Interessen der thüringischen Gebiete verwiesen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl förderten. Von den neuen Grenzzöllen, die größere Nachbarstaaten wie Preußen und Bayern errichteten, waren die thüringischen Kleinstaaten in besonderer Weise betroffen.38 Bereits 1819 richteten über 5000 Fabrikanten, Handwerker und Kaufleute des Thüringer Waldes und der daran liegenden vogtländischen, sächsischen und hessischen Landstriche einen Appell an die deutsche Bundesversammlung, in Deutschland rasch eine einheitliche Zoll- und Handelsgesetzgebung anzustreben.39

36 Vgl. hierzu: Beate Häupel/Jürgen John, Thüringer Einigungsbestrebungen 1848/49 und ihre Nachwirkungen bis zur Landesgründung 1920, in: Hahn/Greiling (Hg.), Revolution (wie Anm. 34), S. 291–302; Paul Wentzcke, Thüringische Einigungsbestrebungen im Jahre 1848. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung (Zeitschrift für Thüringische Geschichte, Beiheft 7), Jena 1917. 37 Burkhardt, Revolution (wie Anm. 14), S. 137–139. 38 Vgl. hierzu: Marko Kreutzmann, Zwischen Deutschem Bund und Deutschem Zollverein. Die Zollpolitik in der Region Thüringen im 19. Jahrhundert, in: Stefan Gerber/Werner Greiling/Marko Swiniartzki (Hg.), Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen in Thüringen, Wien/Köln/Weimar 2018, S. 77–91; Hans Patze, Die Zollpolitik der thüringischen Staaten von 1815–1833, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 40 (1953), S. 28–58. 39 Ausführlich Eckhard Treichel (Bearb.), Organisation und innere Ausgestaltung des Deutschen Bundes 1815–1819 (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Abt. I, 2), München 2016, Dokument 186, S. 860–862.

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Nachdem der Deutsche Bund hierzu nicht in der Lage war und auch der 1829 mit thüringischer Beteiligung gegründete mitteldeutsche Handelsverein nicht weiterführte, suchten die thüringischen Staaten Anfang der 1830er Jahre die Zusammenarbeit mit Preußen.40 1833 entstand der „Thüringische Zollund Handelsverein“, der Teil des seit 1834 existierenden Deutschen Zollvereins war. Der thüringische Verein umfasste ein Gebiet mit einer Bevölkerung von etwa einer Million und setzte sich aus den thüringischen Kleinstaaten sowie dem kurhessischen Schmalkalden und den im Süden der Provinz Sachsen gelegenen preußischen Kreisen Erfurt, Ziegenrück und Schleusingen zusammen. Das preußische Erfurt war Sitz der gemeinsamen Behörde, in die aber auch Beamte der anderen Mitgliedsstaaten berufen wurden.41 Auch wenn die Diskussionen über die Entstehung dieses Vereins eher sachlich und ohne eine emotionale Thüringenbegrifflichkeit geführt wurden, so wurde doch immerhin bereits darauf verwiesen, dass die beteiligten Landstriche als eigener Staat mit der Hauptstadt Erfurt ganz andere verkehrs- und wirtschaftspolitische Möglichkeiten hätten. Zehn Jahre später hob Ludwig Bechstein dann hervor, dass der Handelsverein „Thüringen auch in politischer Beziehung wieder eine Bedeutung gegeben“ und man den „alten Landesnamen wieder zu Gnaden aufgenommen“ habe.42 Ebenso wie der Thüringische Zoll- und Handelsverein förderte auch der Ausbau der Verkehrswege und hier vor allem der in den 1840er Jahren einsetzende Eisenbahnbau den Blick auf gemeinsame Interessen Thüringens. Vor allem in dem vom Gothaer Verleger Friedrich Gottlieb Becker herausgegebenen „Allgemeinen Anzeiger und National-Zeitung der Deutschen“ wurde in diesem Zusammenhang immer wieder auf die gemeinsamen wirtschaftspolitischen Interessen des Thüringer Raumes verwiesen und gemahnt, dass die Thüringer nicht durch ausbleibende Anschlüsse an das entstehende deutsche Eisenbahnnetz wie auf einer Insel isoliert werden dürften.43 40 Oliver Werner, Konfrontation und Kooperation. Der Mitteldeutsche Handelsverein im Gründungsprozess des Deutschen Zollvereins 1828 bis 1834, in: Hans-Werner Hahn/Marko Kreutzmann (Hg.), Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 75–96. 41 Hans-Werner Hahn, Thüringischer Zollverein und regionale Wirtschaftsinteressen: Erfurt als Zentralort einer neuen thüringischen Wirtschaftspolitik 1834–1848/49, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 60, N. F. 7 (1999), S. 75–87. 42 Bechstein, Thüringen in der Gegenwart (wie Anm. 6), S. 178. 43 Die thüringisch-sächsische Eisenbahn, in: Allgemeiner Anzeiger und National-Zeitung der Deutschen, Nr. 23 vom 24.1.1844, Bd. 1, Sp. 291–293.

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Wie sehr die Wirtschaft im 19. Jahrhundert das Bewusstsein für die gemeinsamen Interessen Thüringens förderte, zeigten schließlich auch die Auftritte Thüringens auf den Weltausstellungen. Auf der ersten dieser Ausstellungen präsentierten sich die Thüringer Staaten 1851 in London allerdings noch weniger mit Aufsehen erregenden technischen Neuerungen, sondern mit einem Diorama „Volksfest auf der Rosenau“, das die mit dem Coburger Land so eng verbundene königliche Familie sehr erfreut haben soll.44 In der Folgezeit wurden die technischen Errungenschaften und der Stolz auf weltweit anerkannte Produkte zu einem immer wichtigeren Markenzeichen der Region. Dass man bei der Vermarktung moderner industrieller Produkte aber auch an ältere Elemente des Thüringenbildes anknüpfte, zeigt das Beispiel der Ruhlaer Uhrenproduktion. Ihr Exportschlager war um 1900 eine Taschenuhr, die in den Vereinigten Staaten und in England unter dem Namen „Fearless“ verkauft wurde. Der auf dem Ziffernblatt abgebildete Schmied zu Ruhla verwies auf die Sage von dem am Abend in eine Waldschmiede einkehrenden Landgrafen, der vom Schmied früh am nächsten Morgen ermahnt wurde, sein Land besser zu regieren.45

4. Thüringenbilder als Elemente nationalen Identitätsstrebens

Betrachtet man die verschiedenen Elemente des im 19. Jahrhunderts neu konturierten Thüringen-Bildes, so wird deutlich, dass auf allen Ebenen immer wieder ein enger Bezug zur nationalen Geschichte der Deutschen hergestellt wurde. Das gesamtthüringische Bewusstsein galt als ein grundlegender Baustein für den angestrebten engeren politischen Zusammenschluss Deutschlands, der freilich durch einen föderativen Aufbau auch den Besonderheiten und Interessen der einzelnen Teile Rechnung tragen sollte. So forderte Oskar von Wydenbrugk in seiner Rede auf dem Eisenacher Sängerfest von 1847 zwar die Überwindung der politischen Zerrissenheit, beschwor dabei aber ein Deutschland, „welches freudig viel selbständige Staaten wie Zweige desselben Stammes vereinigt, Staaten, die von der Selbstständigkeit nach innen nur so viel opfern, als zum Heile des Ganzen noth thut, und die dafür doppelte Selb44 Karsten Porezag, Hensoldt. Geschichte eines optischen Werkes in Wetzlar, Bd. 1: Familienund Gründungsgeschichte, Wetzlar 2001, S. 167–169. 45 Jürgen Schreiber, Uhren – Werkzeugmaschinen – Rüstungsgüter. Das Familienunternehmen Gebrüder Thiel aus Ruhla 1862–1972, Köln/Weimar/Wien 2017, S. 39.

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ständigkeit nach außen und doppeltes Glück nach innen als Lohn zurücknehmen“.46 In die gleiche Richtung zielte der 1852 gegründete Verein für Thüringische Geschichte und Altertumskunde. Er wollte sich in den „Prozess einer Neukonturierung thüringischen Landesbewusstseins einbringen“ und über ein mit „verbindender und verbindlicher Identität“ ausgestattetes, politisch möglichst enger zusammenarbeitendes Thüringen zugleich die innere Nationsbildung der Deutschen fördern.47 Die bildungsbürgerlichen Akteure des romantisch aufgeladenen Thüringenbildes, allen voran Bechstein und Storch, verweisen in all ihren Schriften immer wieder auf die besondere Bedeutung, die einem, seiner eigenen Stärken bewussten Thüringen im Prozess der deutschen Nationsbildung zufalle. Auch die oben erwähnte Erinnerung an Bonifatius, vor allem aber das Reformationsjubiläum von 1817 verstärkten solche Sichtweisen auf die besondere Rolle Thüringens in der nationalen Geschichte. Schon auf den ersten deutschen Musikfesten, die zwischen 1810 und 1815 in Frankenhausen und in Erfurt stattfanden und auf denen die besondere musikalische Tradition Thüringens hervorgehoben wurde, war dies deutlich zu spüren, und mit dem Ende der napoleonischen Herrschaft traten hierbei die politischen Inhalte noch deutlicher zu Tage. So wurde das Frankenhausener Musikfest von 1815 zugleich als deutsches Siegesfest inszeniert.48 Auch bei dem von der Jenaer Burschenschaft veranstalteten Wartburgfest des Jahres 1817 trat diese besondere Bedeutung Thüringens für die nationale Geschichte schon durch die Verknüpfung mit dem Reformationsjubiläum und durch die Verklärung Luthers als Pionier eines „freyen Geisteslebens im Dienst der Wahrheit und Gerechtigkeit“49 hervor. All dies setzte sich gerade auf den Sängerfesten der 1840er Jahre weiter fort, vor allem auf dem Eisenacher Fest des Jahres 1847, das die Wartburg wiederum ins Festgeschehen einband und sie als spezifisch thüringischen Beitrag zur deutschen Kulturnation feierte.50 Die Liederfeste des Thüringer Sängerbundes wurden bewusst als deutsche Feste ausgerichtet, und ihre gesellschaftliche Offen46 Erinnerung (wie Anm. 32), S. 56. Zur Leitidee der föderativen Nation im frühen deutschen Liberalismus vgl. Dieter Langewiesche, Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte, in: Ders., Nation (wie Anm. 7), S. 55–79. 47 Gerber, Historisierung (wie Anm. 13), S. 21. 48 Hans Eberharth, Die ersten deutschen Musikfeste in Frankenhausen am Kyffh. und Erfurt 1810, 1811, 1812 und 1815, Greiz 1934, S. 5–7. 49 So Fries zitiert nach: Steiger, Urburschenschaft (wie Anm. 28), S. 251. 50 Vgl. Hahn, Die „Sängerrepublik“ (wie Anm. 32).

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heit mit Speisung der Armen sollte das harmonische Bild einer sich gegenseitig achtenden, unterstützenden und alte ständische Schranken überwindenden Gesellschaft bieten, die der ganzen deutschen Nation als Leitbild dienen sollte. In einem auf dem Eisenacher Sängerfest gesungenen Lied wurde diese besondere Mission Thüringens deutlich hervorgehoben, indem man nicht nur das „Herz im deutschen Reich“ pries, sondern zugleich vom „Land mit deutschem Sinn“ und sogar von „Deutschlands Krone“ sprach.51 Thüringens Bedeutung für die nationale Geschichte, die durch die zunehmende erinnerungspolitische Inszenierung der Weimarer Klassik zusätzlich untermauert wurde,52 und ihre Instrumentalisierung für die neuen deutschen Einheitsbestrebungen kam selbst bei Gartenbauern und Landwirten zum Ausdruck. Auf der Jahresversammlung des 1830 gegründeten Thüringer Gartenbauvereins betonte 1841 ein Redner, dass Thüringen zu Recht „der Garten Norddeutschlands“ genannt werde und Erfurt seit Jahrhunderten nicht bloß für Thüringen, sondern für das übrige Deutschland als „Pflegerin und Mittelpunct der edlen Gartenkunst“53 wirke. Es war aber nicht nur der Rückgriff auf Geschichte und Kultur, mit dem die besondere Rolle Thüringens im neuen Streben nach mehr deutscher Einheit begründet wurde, sondern auch die besondere politische Situation in der Mitte Deutschlands. So hob der Begründer der Jenaer Agrarwissenschaft, Professor Friedrich G. Schulze 1843 in einer Prorektoratsrede hervor: „Thüringen ist Deutschland im Kleinen. Diese sonst freilich sehr störende Zerstückelung gewährt insofern einen Vortheil, als der wahrhaft Gebildete um so mehr sein Auge auf die große Volksgesellschaft richtet, je kleiner die Staatsgesellschaft ist, welcher er angehört. Daher kommt es, dass in Thüringen mehr deutsches Vereinsleben sich regt, als in anderen Ländern. Oken der Stifter der wandernden Nationalversammlungen der Naturforscher, war ein Jenenser. Ich erinnere an die Versammlung der thüringischer Landwirthe, an die thüringischen Liedertafeln und Kriegerfeste, auch an die deutschen Versicherungsanstalten in den thüringischen Städten.“54 51 Fünftes Liederfest (wie Anm. 18), S. 25. 52 Vgl. hierzu die Beiträge des Abschlussbandes des Jenaer Sonderforschungsbereichs „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“: Olaf Breidbach/Klaus Manger/Georg Schmidt (Hg.), Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800, Paderborn 2015. 53 G. H. Haumann, Gartenbau, in: Allgemeiner Anzeiger und National-Zeitung der Deutschen, Nr. 127 vom 11.5.1843, Bd. 1, Sp. 1630 f. 54 Friedrich G. Schulze, Ueber Selbständigkeit des deutschen Universitätsgeistes und seine Bedeutung für unser Volks- und Staatsleben mit besonderer Beziehung auf das Studentenleben in Jena. Eine Prorectoratsrede, in: Geschichtliche Mittheilungen ueber das akademische Stu-

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In der Tat waren es die aus den kleinstaatlichen Strukturen erwachsenen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, die sowohl bei Monarchen und Regierungen, vor allem aber im aufstrebenden Bürgertum den Wunsch nach einem engeren politischen Zusammenschluss der deutschen Staaten begründeten und entsprechende Initiativen beförderten. Schon in der Frühphase des Deutschen Bundes traten die ernestinischen Staaten mit entsprechenden Forderungen hervor. Als der untätig bleibende Deutsche Bund im Herbst 1830 durch zahlreiche Aufstände und andere politische Proteste in die Defensive geraten war, forderte der Coburger Minister Anton von Carlowitz in einer umfassenden Denkschrift grundlegende Reformen auf nationaler Ebene.55 Die gleichen Tendenzen finden wir im thüringischen Bürgertum. Der Geraer Fabrikant Ernst Weber und der Gothaer Unternehmer Ernst Wilhelm Arnoldi spielten nach 1815 im „Deutschen Handels- und Gewerbsvereins“, der eine deutsche Zolleinheit forderte, eine führende Rolle. Auf der politischen Ebene setzten Jenaer Professoren und Studenten mit dem Wartburgfest von 1817 entsprechende Akzente und begründeten eine Versammlungstradition, die 1848 mit einem neuen Wartburgtreffen wieder aufgenommen wurde.56 Auch nach der Revolution von 1848/49 wurden thüringische Städte zu wichtigen Versammlungsorten der liberalen und nationalen Bewegung. Erinnert sei an das Treffen der Liberalen in Gotha vom Sommer 1849, in der man nach dem Scheitern der Reichsverfassung um einen gemeinsamen deutschlandpolitischen Kurs rang. 1858 war Gotha Gründungsort des Kongresses deutscher Volkswirte, ein Jahr später wurde in Eisenach die Gründung des Deutschen Nationalvereins vorbereitet, der dann in Coburg seinen Sitz hatte.57 All dies hatte auch damit zu tun, dass reformorientierte Monarchen wie Ernst II. oder auch Großherzog Carl Alexander den liberalen Kräften weit mehr Spielraum eröffneten, als dies in anderen Staaten des Deutschen Bundes nach der dium und Leben auf dem landwirthschaftlichen Institute zu Jena in den Jahren 1826–1834 und 1839–1858 wie auch auf der k. pr. Staats- und landwirtschaftlichen Akademie Eldena in den Jahren 1834–1839. Eine Festgabe zu der dreihundertjährigen Stiftungsfeier der Universität Jena von dem Stifter und Director des mit ihr verbundenen landwirthschaftlichen Instituts, hg. von Dems., Jena 1858, S. 150–172, hier S. 160. 55 Ralf Zerback (Bearb.), Reformpläne und Repressionspolitik 1830–1834 (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Abt. II, 1), München 2003, Dokument 1, S. 5–16. 56 Frank Wogawa, Universität und Revolution. Jena und die „hochschulpolitischen“ Reformbestrebungen 1848, in: Hahn/Greiling (Hg.), Revolution (wie Anm. 34), S. 445–474, hier S. 455 f. 57 Vgl. hierzu: Andreas Biefang, Thüringen und die nationale Verfassungsbewegung, in: Hahn/ Greiling (Hg.), Revolution (wie Anm. 34), S. 631–650.

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gescheiterten Revolution der Fall war. Wenn Thüringen aber gerade zwischen 1858 und 1866 zu einem wichtigen Formierungsraum der liberalen und nationalen Kräfte wurde, so hing dies vor allem auch mit dem starken Engagement des thüringischen Bürgertums und seiner Vernetzung in den neu entstehenden nationalen Organisationen zusammen. Aus all dem lässt sich schließen, dass die thüringischen Kleinstaaten kein Hemmnis der deutschen Einigungspolitik waren, sondern diese im Gegenteil gerade aus diesem Teil Deutschlands eine nachhaltige Unterstützung erfuhr. Dabei ging es Regierungen wie dem Großteil der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht um eine zentralistische Struktur, sondern um eine bundesstaatliche Ordnung. Um diese zu schaffen, zeigte man in Thüringen eine sehr viel größere Bereitschaft zur Abgabe von einzelstaatlicher Souveränität, als dies etwa in Süddeutschland der Fall war.58 Was die Motive dieser Grundhaltung betrifft, so spielten zwar nach den Erfahrungen mit den napoleonischen Kriegen auch macht- und sicherheitspolitische Fragen eine wichtige Rolle, wie sie auch nach der Rheinkrise des Jahres 1840 wieder vermehrt diskutiert wurden. Stärker im Zentrum des Thüringer Einheitsstrebens standen aber zwei andere Elemente: der eigene Beitrag zur kulturellen Nationsbildung und das Streben nach abgesicherten Freiheitsrechten, die sich nicht im bestehenden Deutschen Bund, sondern nur in einem deutschen Nationalstaat durchsetzen ließen. Wenn Ludwig Bechstein auf dem Sängerfest von 1847 den deutschen Geist der Wartburg pries, so sah er in der Burg weniger ein Symbol realer Macht und Verteidigungsbereitschaft, sondern das wichtigste Symbol für Thüringens Beitrag zur kulturellen Nationsbildung: „Wir gründen nicht mit Schwertern, nicht mit Speeren – Wir gründen mit dem Geist uns Burg und Reich. Gesegnet sei die Burg, auf die wir warten! Gesegnet sei, die an ihr baut, die Hand! Gesegnet sei Thüringen, Gottes Garten! Gesegnet Deutschland, heil'ges Vaterland.“59

58 Vgl. etwa die thüringische Haltung zur preußischen Unionspolitik Hans-Werner Hahn, „Daß aber der Bundesstaat gegründet werden muß “: Die thüringischen Staaten und die Erfurter Union, in: Gunther Mai (Hg.), Die Erfurter Union und das Erfurter Unionsparlament 1850, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 245–270. 59 Erinnerung (wie Anm. 32), S. 66.

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Die Notwendigkeit deutscher Einheit wurde aber vom eher linksliberal orientierten Thüringer Bürgertum in besonderem Maße auch damit begründet, dass nur so die Freiheitsrechte und die verfassungspolitischen Forderungen durchgesetzt und einer modernen, alte Ständegrenzen überwindenden Gesellschaft Bahn gebrochen werden könnte. Auf vielen Festen wurden die verfassungspolitischen Errungenschaften der thüringischen Kleinstaaten hervorgehoben und die Hoffnung ausgedrückt, dass die mit ihnen erreichten Fortschritte bei der Partizipation des Staatsvolkes in ganz Deutschland durchgesetzt werden müssten. Und wenn viele Thüringer Preußen am Ende die politische Führungsrolle im deutschen Einigungsprozess zusprachen, so bedeutete dies keineswegs die Kapitulation vor dem Machtstaat. Der in Thüringen bis zur Reichsgründung von 1871 dominierende Liberalismus orientierte sich vielmehr vor allem an der preußischen Reformzeit und hoffte, dass störende altpreußische Elemente in einem künftigen, stärker vom Liberalismus geprägten einheitlichen Deutschland verschwinden würden.60 Die hier aufgezeigte enge Verknüpfung eines neu konturierten Regionalbewusstseins mit dem gleichzeitigen Eintreten für einen deutschen Nationalstaat war kein Thüringer Sonderfall. Auch in anderen Teilen Deutschlands sollte ein zunächst kulturell generierter und dann auch mit anderen Elementen verbundener Regionalismus einem deutschen Nationalbewusstsein vorarbeiten. Dennoch bot Thüringen in dieser Hinsicht aus mehreren Gründen eben besondere Ansatzpunkte. Zum einen war dies ein kulturelles Erbe, das sich vom Kyffhäuser, über die Wartburg, die Reformation und die Weimarer Klassik für eine nationale Instrumentalisierung in besonderer Weise eignete. So schrieb Ludwig Storch 1843: „Der Name Thüringen hat durch länger als ein Jahrtausend hindurch eine poetische Geltung erlangt, mehr als irgend ein anderer deutscher Stammname […] und ohne wahrhaft poetische Erhebung werden wir niemals zu einem einigen Deutschland kommen.“61 Gustav Freytag griff später in seinem Romanzyklus „Die Ahnen“ bezeichnenderweise auf das „Herzland“ Thüringen zurück, das ihm als „die symboli-

60 Zur starken Stellung des Linksliberalismus in Thüringen vgl. Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866 bis 1914. Aus dem Nachlass hg. v. Volker Wahl, Weimar 1991, S. 11–13; Erhard Wörfel, Liberalismus in den thüringischen Staaten im Kaiserreich, in: Lothar Gall/Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, München 1995, S. 217–252. 61 Storch, Thüringer Sängerbund (wie Anm. 5), S. 12.

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sche Verkörperung ganz Deutschlands“ erschien.62 Zum anderen trug gerade der weit gefasste, auch weiter im Norden des heutigen Thüringens gelegene Städte wie Eisleben einbeziehende Thüringer Raum mit seinen zahlreichen Erinnerungsstätten an die Reformation und an Martin Luther maßgeblich zur starken protestantischen Prägung der deutschen Nationalbewegung bei.63 Ludwig Storch bezeichnete in seinem Weihespruch des Eisenacher Sängerfestes von 1847 Luther und Herder als jene Männer, „an die sein Edelstes der Deutsche knüpft“.64 Das frühe und nachhaltige Streben nach gesamtdeutscher Integration war in Thüringen schließlich auch auf die neuen sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen zurückzuführen, vor denen die Kleinstaaten seit Beginn des 19. Jahrhunderts standen. Und schließlich gab die immer wieder betonte Lage Thüringens in der Mitte Deutschlands dieser einheitspolitischen Mission zusätzliche Impulse. All dies führte in weiten Teilen des regionalen Bürgertums zu der Ansicht, dass Thüringen im Streben nach deutscher Einheit und politischem Fortschritt eine besondere Rolle zufalle. Das galt auch für die bürgerliche Linke, die mit ihrer Forderung nach einer Republik Thüringen 1848 auch deutschlandweit ein Signal für diese Staatsform setzen wollte. Auch nach der Gründung des Deutschen Reiches blieb man im thüringischen Bürgertum bestrebt, diesen eigenen Anteil zu betonen. Man konnte aber nicht verhindern, dass die in Thüringen vor 1871 besonders stark hervorgetretenen Elemente der inneren Nationsbildung, also die Vereine, Feste, überregionalen Treffen und die Verknüpfung von Einheit und Freiheit, im deutschen Geschichtsbild nun hinter die vermeintlichen preußischen Glanztaten der Reichsgründung, also vor allem die siegreichen Kriege und Bismarcks Machtpolitik, zurücktraten.65 Dennoch zollte auch Bismarck bei seinem Besuch in Jena 1892 den frühen einheitspolitischen Bestrebungen der Thüringer seinen

62 Anja Oesterhold, Heimatkunde. Gustav Freytags Ahnen und die pädagogische Konzeptualisierung von ‚Heimat‘ nach der deutschen Reichsgründung, in: Hans-Werner Hahn/ Dirk Oschmann (Hg.), Gustav Freytag (1816–1895). Literat – Publizist – Historiker, Köln/ Weimar/Wien 2016, S. 207–232, hier S. 229. 63 Vgl. hierzu Dieter Langewiesche, Kulturelle Nationsbildung in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Ders., Nation (wie Anm. 7), S. 82–102. 64 Erinnerung (wie Anm. 32), S. 53. 65 Hans-Werner Hahn, Zwischen Freiheitshoffnung und Führererwartung: Ambivalenzen bürgerlicher Erinnerungskultur in Jena 1870 bis 1930, in: Jürgen John/Justus Ulbricht (Hg.), Jena. Ein nationaler Erinnerungsort?, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 73–92.

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Respekt.66 Wie sich die zwischen 1830 und 1871 so stark hervortretende Verknüpfung von Thüringen-Identität und deutschem Nationalbewusstsein in der Zeit des Kaiserreichs auswirkte, bedarf noch intensiverer Forschungen. Die starke Betonung der eigenen Bedeutung für die werdende deutsche Nation führte möglicherweise schnell zum Gefühl einer besonderen Verantwortung für das 1871 gegründete Deutsche Reich, die sich wiederum in einer starken Frontstellung gegen die vermeintlichen Reichsfeinde niederschlug. Dies tritt in Georg von Wertherns Attacken gegen Katholiken und Zentrum in den 1870er Jahren67 ebenso hervor wie in Ernst Haeckels Rede beim Jenaer Bismarckbesuch im Jahre 1892 und in den harten Auseinandersetzungen, die das thüringische Bürgertum schließlich mit der erstarkenden Sozialdemokratie führte. Man könnte ferner danach fragen, inwieweit sich der in Thüringen so starke Rückgriff auf Sagen und Mythen einer großen Vergangenheit auf den sich um 1900 formierenden radikalen Nationalismus auswirkte.

66 Hans-Werner Hahn, Bismarck in Thüringen: Politik und Erinnerungskultur zwischen Reichsgründung und Wiedervereinigung, in: Werner Greiling/Hans-Werner Hahn (Hg.), Bis­ marck in Thüringen. Politik und Erinnerungskultur in kleinstaatlicher Perspektive, Weimar/ Jena 2003, S. 19–66. 67 Hans-Werner Hahn, Georg von Werthern als preußischer Gesandter am bayerischen Hof, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 68 (2014), S. 167–188, hier S. 171 f.

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Literatur Falk Burkhardt, Revolution von 1848/49 und thüringische Identität, in: Comparativ 13 (2003), S. 116–150. Friedrich Facius, Politische Geschichte 1828 bis 1945, in: Geschichte Thüringens, Bd. 5, Teil 2: Politische Geschichte in der Neuzeit, hg. von Hans Patze u. Walter Schlesinger, Köln/Wien 1978. Stefan Gerber, Historisierung und Nationalisierung der Region. Gründungsmotive und Gründungskonstellationen des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde zwischen 1848 und 1852, in: Matthias Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, Köln/Weimar/ Wien 2005, S. 1–22. Werner Greiling, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2003. Hans-Werner Hahn/Werner Greiling (Hg.), Die Revolution in Thüringen. Aktionsräume, Handlungsebenen, Wirkungen, Rudolstadt/Jena 1998. Hans-Werner Hahn, Vom „Thüringer Kleinstaatenjammer“ zum Land Thüringen. Die ‚Thüringen-Frage‘ 1806 bis 1920, in: Robert Kretzschmar/Anton Schindling/Eike Wolgast (Hg.), Zusammenschlüsse und Neubildungen deutscher Länder im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013, S. 125–152. Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866 bis 1914. Aus dem Nachlass hg. v. Volker Wahl, Weimar 1991. Jürgen John/Justus Ulbricht (Hg.), Jena. Ein nationaler Erinnerungsort? Köln/Weimar/ Wien 2007. Jürgen John, Kleinstaaten und Kultur oder: der thüringische Weg in die Moderne, in: Ders. (Hg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Weimar 1994, S. XIII–LXI. Marko Kreutzmann, Thüringische Kriegervereine im Vormärz und ihre Bedeutung für die innere Nationsbildung, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringer Geschichte 57 (2003), S. 127–166. Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000.

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Aufbruch nach Thüringen? Thüringen-Konzepte in der Politik Sachsen-Weimar-Eisenachs 1800–1815 Am 7. Oktober 1808 erlebte die Universitätsstadt Jena einen der denkwürdigsten Tage ihrer Geschichte. Zwei Jahre nach seinem Sieg über die preußische Armee bei Jena und Auerstedt wollte Kaiser Napoleon dem russischen Zaren und den anderen zum Gipfeltreffen nach Erfurt geladenen Fürsten am Originalschauplatz der Schlacht einen Eindruck von seiner Macht vermitteln. Das Geheime Consilium zu Weimar hatte dieses Ereignis zu arrangieren und auf dem Windknollen bei Jena, der höchsten Erhebung des Schlachtfeldes, einen kleinen Ehrentempel mit der Inschrift errichten lassen: PRAESENTES DIVOS NVNC PRISCA THVRINGIA IVNXIT EN NOVVS ATTONITOS IVNGET AMOR POPVLOS Das alte Thüringen vereint jetzt die Götter der Welt Und neue Liebe wird einen die erstaunten Völker. Die Summe der in dem Distichon enthaltenen römischen Zahlzeichen ergab die Jahreszahl 1808.1 Auf die politische Botschaft dieses von Goethe und seinem Kollegen Christian Gottlob von Voigt erdachten und von dem Jenaer Altphilologen Heinrich Carl Abraham Eichstädt in die Form eines lateinischen Distichons gegossenen Sinnspruchs ist noch zurückzukommen; augenfällig ist zunächst, dass in dieser prominenten Situation eines Gipfeltreffens der damals mächtigsten Potentaten „prisca Thuringia“, der alte, fast vergessene Landesname „Thüringen“ plötzlich wie ein Meteor wieder aufleuchtete. Man mag sich fragen, was Napoleon mit seiner Entourage ebenso wie viele Zeitgenossen, die den Bericht über das festliche Ereignis lasen, mit dem Begriff „Thüringen“ anfangen konnten, außer eben, dass Napoleons Feldherrentalent sich hier so glanzvoll bestätigt hatte. Prisca Thuringia – zwei Fragen, auf die dieses Ereignis verweist, möchte ich im Folgenden nachgehen: 1 Vgl. Gerhard Müller, Vision einer Zeitenwende. Die erste Jubiläumsfeier der Schlacht bei Jena am 7. Oktober 1898, in: Birgitt Hellmann (Hg.), Jubiläen in Jena (Dokumentation, 16), Weimar/Jena 2005, S. 39–66.

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1. Welche Vorstellungen verbanden die damaligen Zeitgenossen mit dem Namen „Thüringen“? 2. Welche Rolle spielte „Thüringen“ in den politischen Projekten des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach und seiner Minister?

1.

Seit der Leipziger Teilung von 1485 firmierte Thüringen nicht mehr unter dem Namen eines eigenen Reichsterritoriums. Aufgespalten in eine albertinische Nord- und eine ernestinische Südhälfte waren die Ämter der Landgrafschaft Thüringen für die nächsten fünf Jahrhunderte unterschiedlichen Staatswesen zugeteilt. Den Titel eines Landgrafen in Thüringen führten sowohl die Ernestiner als auch die Albertiner bis zum Ende der Monarchie 1918. An speziellen Herrschaftsrechten der Thüringer Landgrafen war für die ernstinischen Herzöge um 1800 nur noch eines relevant, das Thüringische Geleit auf der via regia, der Handelsstraße von Frankfurt am Main nach Leipzig, eines der alten Königsrechte (Regalien), die mit der Thüringer Landgrafschaft verbunden gewesen waren. Am ehesten lebte „Thüringen“ in seinem albertinischen Nordteil als Verwaltungseinheit unter dem Namen „Thüringischer Kreis“ weiter. Auf den albertinischen Landtagen in Dresden traten die „Thüringische Ritterschaft“ und die landtagsfähigen Städte des Kreises noch als eigene landständische Kurien auf, ein noch immer weitgehend unerforschtes Thema. Wie Frank Boblenz nachgewiesen hat,2 existierte sogar noch nach 1815 ein „altthüringischer Kreisverband“ mit der Aufgabe, die gemeinsamen Angelegenheiten der Stände des einstigen, inzwischen auf zwei preußische Regierungsbezirke verteilten Thüringischen Kreises zu regeln. Der letzte „altthüringische Kreiskonvent“ fand am 28. September 1869 in Kösen statt, und eine altthüringische Rechnungskommission zur Regelung der Vermögensfragen des Thüringischen Kreises arbeitete noch bis 1873. Damit erst endete die institutionelle Kontinuität dessen, was einst der Lehensverband der mittelalterlichen Landgrafschaft Thüringen gewesen war. Der Begriff „Thüringen“ war mittlerweile 2 Vgl. Frank Boblenz, Thüringer Kreis und Thüringer Städteverband – ein Exkurs zum preu­ ßischen Thüringen bis 1919/20, Teil 1, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 49 (1995), S. 83–86.

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längst zum Konstrukt eines romantisch-historistisch aufgeladenen Identitätsverständnisses geworden, das als Etikett verschiedenster regionaler Interessenbündelungen fungierte und sich nicht mehr nur auf das Territorium der einstigen Landgrafschaft bezog. Schon um 1800 war eine exakte territoriale Abgrenzung dessen, was man unter „Thüringen“ verstehen wollte, nicht mehr möglich, da es zum einen zwischen dem „Thüringer Kreis“ und dessen früher zur Landgrafschaft Thüringen gehörigen Teilen infolge mehrfacher Territorialveränderungen keine völlige Identität mehr gab, und andererseits auch dem ernestinischen Thüringen Gebiete zugerechnet wurden, die nie zu Thüringen gehört hatten wie z. B. die Pflege Coburg.3 Zugleich fühlten sich damals auch noch die Bewohner von Orten als genuine Thüringer, die heute nicht mehr zu Thüringen gehören wie Sangerhausen, Allstedt, Querfurt u. a. Dennoch besaßen die Zeitgenossen um 1800 ein erstaunlich präzises und detailliertes Vorstellungsbild von „Thüringen“. Zwar wurde der Name „Thüringen“ umgangssprachlich nur noch selten gebraucht, am ehesten dann, wenn man die Ämter des kursächsischen „Thüringischen Kreises“ meinte, doch war in der Region ein klares Bewusstsein der thüringischen Identität unabhängig von der dynastischen Zugehörigkeit der einzelnen Landesportionen durchaus vorhanden. Eine der Ursachen, auf die dieses Phänomen zurückzuführen ist, war die in den thüringischen Territorien sehr ausgeprägte Pflege der landeskundlichen Tradition.4 Ich möchte nur ein Werk erwähnen, das in diesem Genre eine initiale Pionierleistung darstellt, nämlich Friedrich Rudolphis 1717 veröffentlichtes, mehrbändiges Werk „Gotha diplomatica oder ausführliche Beschreibung des Fürstenthums Sachsen-Gotha“,5 das als die erste deutschsprachige Landeskunde überhaupt gilt. Rudolphi liefert eine ausführliche Landesbeschreibung des Gothaer Herzogtums, betrachtet aber nicht nur die Gothaer Staats- und Regentengeschichte, sondern bettet diese in einen umfassenden Abriss der damals bekannten Geschichte Thüringens ein. Sachsen-Gotha ist für ihn ganz selbstverständlich ein Teil Thüringens. Die Geschichte Thüringens lässt er, Legenden und historische Tatsachen vermischend, mit der römischen Überlieferung beginnen, behandelt dann das Thüringerreich der Völkerwanderungszeit 3 Vgl. Allgemeine Übersicht der Länder in Thüringen. Gnädigst privilegirte Thüringische Vaterlandskunde, 12. Stück, 24. Juni 1801, Sp. 181 f. 4 Vgl. den Beitrag von Stefan Gerber im vorliegenden Band. 5 Friedrich Rudolphi, Gotha diplomatica oder ausführliche Beschreibung des Fürstenthums Sachsen-Gotha, Teil 1–4, Teil 5 [Dokumente], bearb. von Hans Basilius von Gleichenstein, Frankfurt am Main und Leipzig [1717].

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und die nachfolgenden fränkischen Herzöge, um dann mit der Ära der Ludowinger in eine Geschichte der Thüringer Landgrafschaft einzumünden. Von hier aus wird die dynastische Kontinuität lückenlos bis zu Herzog Ernst dem Frommen von Sachsen-Gotha und seinen Söhnen fortgeführt. Da es dem Verfasser um eine Landesbeschreibung geht, behandelt er nicht minder ausführlich die Geschichte der Stände und ihrer Landtage sowie die Entwicklung von Rechtsverhältnissen und Gesetzgebung. Es ist daher auch kein Zufall, dass Rudolphis Werk die eigentlich als Fehltritt in der Geschichte des Hauses Sachsen geltende, am Beginn des Sächsischen Bruderkrieges erlassene Thüringer Landesordnung von 1446 nicht nur erwähnt, sondern auch komplett abdruckt.6 Der Landtag zu Weißensee vom 9. Januar 1446, auf dem sie beschlossen wurde,7 war in der Tat eines der denkwürdigen Ereignisse in der spätmittelalterlichen thüringischen Landesgeschichte, unternahm er doch den ersten und einzigen Versuch, die Landgrafschaft Thüringen als eigenes, ständisch verfasstes Staatswesen zu konstituieren. Neben den für eine Landesordnung typischen Polizei- und Ordnungsbestimmungen enthielt die Landesordnung, die eigentlich Landeskonstitution heißen müsste, eine sogenannte Einung, in der die Wehrverfassung, die Finanzverfassung und die Mitwirkung der Stände an der legislativen und exekutiven Gewalt geregelt wurden. Stände und Herzog verpflichteten sich, gemeinschaftlich gegen Landfriedensbrecher vorzugehen, eine von den Ständen verwaltete Landeskasse einzurichten und eine „durchgehinde gemeine hulff“, also eine dauerhafte, allgemeine Landessteuer, aufzulegen. Außerdem wurde ein Viererausschuss errichtet, der über die Einhaltung der Landesordnung zu wachen und Streitfälle zu entscheiden haben sollte. Von den vier Mitgliedern dieses Ausschusses ernannte der Herzog lediglich einen einzigen, die drei andern wählte der Landtag. Das Gremium sollte alljährlich erneuert werden. Mindestens an zwei festen Terminen im Jahr hatten die Mitglieder des Viererausschusses abwechselnd in Weimar und Weißensee zusammenzukommen, durften sich aber darüber hinaus auch bei Bedarf jederzeit selbst versammeln. Zu den Machtbefugnissen des Ausschusses gehörte die Exekution der Landesordnung bis hin zu militärischen Maßnahmen und außerordentlichen Steuerauflagen sowie das Recht, die Landesordnung bei Bedarf abzuändern. Diese Bestimmungen konstituierten faktisch eine weitgehend autonome Teilhabe der Stände an der legislativen und 6 Vgl. ebd., Teil 5, S. 223–231. 7 Vgl. Gerhard Müller, Die thüringische Landesordnung vom 9. Januar 1446, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 50 (1996), S. 9–36.

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exekutiven Gewalt des Landesherrn, gewissermaßen eine Art ständische „Nebenregierung“8. Als sich Kurfürst Friedrich der Sanftmütige und sein Bruder Herzog Wilhelm der Tapfere nach mehreren Jahren eines mörderischen Bruderkrieges 1451 wieder versöhnten, wurde diese Landesordnung als massive Kollision zwischen ständischen Interessen und landesherrlichen Rechten sofort aufgehoben. Die Originalurkunden der Landesordnung wurden vernichtet, doch geriet sie keineswegs in Vergessenheit. Noch im 18. Jahrhundert wurde sie mehrfach abgedruckt, zuletzt in den 1772 erschienenen „Sammlungen zu der Geschichte Thüringens“ des in Thüringen geborenen Pfarrers Hans Christian Wilhelm Schneider.9 Zusammenfassend lässt sich also festhalten: 1. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert existierten sowohl auf Seiten der Landesherrschaft wie auf Seiten der Stände institutionelle Relikte des einstigen Lehensverbandes der thüringischen Landgrafschaft, dessen Rechte in den jeweiligen Territorien fortwirkten. 2. Um 1800 gab es bereits eine bedeutende landeskundliche Literatur, die ein relativ präzises Thüringen-Bild vermittelte, das in den gesellschaftlichen Führungsschichten der Region rezipiert wurde und identitätsbildend wirken konnte. 3. Die Vorstellungen über die territoriale Gestalt „Thüringens“ waren zwar stets unscharf und nicht exakt abgrenzbar, doch konzentrierten sie sich im Wesentlichen auf das Territorium der spätmittelalterlichen thüringischen Landgrafschaft. Benachbarte Territorien wie das Osterland und Henneberg wurden noch nicht zu Thüringen gerechnet.

8 Vgl. Martin Naumann, Der Regierungsantritt Herzog Wilhelms und die Entstehung der ersten thüringischen Landesordnung 1445/1446, o. O., o. J., maschinenschriftl. Assessorarbeit, S. 76. 9 Hans Christian Wilhelm Schneider, Sammlungen zu der Geschichte Thüringens, 2. Sammlung, Weimar 1772, S. 246–253.

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2.

Es war keineswegs zufällig, dass gerade Goethes Kollege, der Geheime Rat Christian Gottlob von Voigt, die Thüringen-Idee in den letzten Jahren des Alten Reiches und dann besonders in den Jahren 1813 bis 1815 immer wieder zum Gegenstand territorialpolitischer Entwürfe machte. Das lag nicht nur daran, dass Voigt seit den 1790er Jahren die wohl wichtigste und einflussreichste Persönlichkeit unter Carl Augusts Geheimen Räten war. Voigt kam aus einer Rats- und Beamtenfamilie in Allstedt, einer weimarischen Exklave, die von den Ämtern des kursächsischen Thüringischen Kreises umgeben war und mit diesen in enger Beziehung stand. Kein Wunder, dass sich die Allstedter immer als Thüringer fühlten. Die Rückerinnerung an alte Landesidentitäten gewann seit den territorialen Umbrüchen um 1800, als das revolutionäre Frankreich zahlreiche neue Staatsgebilde kreierte, die sich an tatsächlichen oder vermeintlichen Stammeszugehörigkeiten orientierten wie z. B. die Batavische oder Helvetische Republik, das Königreich Italien oder 1807 das Königreich Westphalen, im öffentlichen Bewusstsein zunehmend an Bedeutung. Schon mehrere Jahre vor dem Ende des Alten Reiches finden sich in einigen Denkschriften aus Voigts Feder Hinweise auf Thüringen, so z. B. im Jahr 1802, als die Weimarer Führung versuchte, bei der Aufhebung der geistlichen Territorien und der bevorstehenden Inbesitznahme Erfurts durch Preußen seine alten Gerechtsamen wie das Thüringische Geleit oder die Hoheit über die Herrschaft Blankenhain zu wahren oder in territoriale Kompensationen umsetzen zu können. Doch ebenso wenig wie die in der Auflösungsphase des Alten Reiches sehr intensiven Bemühungen der weimarischen Führung, eine engere Verbindung mit den anderen ernestinischen Herzogtümern und dem albertinischen Kursachsen herbeizuführen, zielten diese Projekte nicht auf eine Einigung Thüringens, sondern bewegten sich ausschließlich auf der Ebene dynastischer Beziehungen. Nach der Katastrophe von Jena und Auerstedt im Oktober 1806 stand die Fortexistenz des Weimarischen Herzogtums zunächst auf Messers Schneide. Dennoch versuchte man schon im Dezember 1806, sofort nach dem Beitritt zum Rheinbund, bei der französischen Hegemonialmacht Gebietswünsche vorzutragen.10 Wenige Wochen später folgten von Carl August persönlich entworfene Gebietsaustauschpläne, mit deren Hilfe die Gemengelage der 10 Vgl. Denkschrift des Gesandten Friedrich von Müller, 17.12.1806 (Konzept), in: GSA 68/651, Bl. 181r–184v.

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ernestinischen Landesportionen in arrondierte Territorialkomplexe überführt werden sollte.11 Doch all diese Bemühungen blieben ergebnislos. Napoleon ließ die aus dem Alten Reich überkommene territoriale Architektur der thüringischen Region unverändert und baute sie in sein Hegemonialsystem ein. Wie vordem im Alten Reich bildeten nun für Napoleon Stadt und Festung Erfurt, das er als persönliche Verfügungsmasse („Domaine reservée à l’Empereur“) behielt, den Mittelpunkt, von wo aus die gesamte Region kontrolliert werden konnte. Die Hoffnung, Napoleon werde ähnlich wie in Süd- und Westdeutschland neue Staatsbildungen initiieren, blieb jedoch noch weiterhin virulent. Der Erfurter Fürstenkongress vom Oktober 1808 gab diesen Erwartungen zunächst sogar noch neue Nahrung. Da von französischer Seite signalisiert worden war, Napoleon sei auch zu territorialen Zugeständnissen bereit, wenn ihn der mit dem Weimarer Herzogshaus verschwägerte russische Zar darum ersuche, führte das Geheime Consilium zu Weimar in den Tagen vor dem Kaiserbesuch in Weimar und Jena ausgiebige Beratungen darüber, ob man durch den Zaren Alexander Wünsche in Bezug auf die Erwerbung Erfurts oder von Teilen des Erfurter Gebietes, wie z. B. der Herrschaft Blankenhain, vortragen lassen solle.12 Man darf daher vermuten, dass die Erwähnung des Namens Thüringen in dem eingangs erwähnten Distichon an dem Ehrentempel auf dem Jenaer Schlachtfeld eine Anspielung auf eine derartige territoriale Flurbereinigung gewesen ist. Immerhin demonstrierte Napoleon Generosität: In seinem Biwak auf dem Jenaer Windknollen verfügte er aus dem Bestand der Herrschaft Blankenhain großzügige Dotationen an die Jenaer Universität und die neugegründete katholische Pfarrstiftung in Jena, und die Stadt Jena erhielt eine Zuwendung von 300.000 Francs als Entschädigung für die 1806 erlittenen Kriegsschäden. Auch die Ordensdekorationen für Goethe und Wieland können als Geste gedeutet werden, dass Napoleon zu Zugeständnissen bereit war. Allein die russische Diplomatie wachte mit Argusaugen darüber, dass der Zar nicht mit weimarischen Territorialwünschen behelligt wurde, die ihn in Napoleons Schuld hätten stellen können. Der Gedanke an eine Revitalisierung des „alten Thüringens“ im Rahmen eines neuen, auf einem politischen Ausgleich der Supermächte Frankreich und Russland beruhenden europäischen 11 Vgl. Gerhard Müller (Bearb.), Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, Bd. 9: Thüringische Staaten – Sachsen-Weimar-Eisenach. 1806–1813, Berlin/München/Boston 2015, S. 46 f., und Dokumente S. 69–72. 12 Vgl. Hans Tümmler, Carl August, Goethes Freund. Eine vorwiegend politische Biographie, Stuttgart 1978, S. 188 f.

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Gleichgewichtssystems musste auf unbestimmte Zeit vertagt werden. Sogar die 1808 projektierte Errichtung eines gemeinschaftlichen Oberappellationsgerichtes der herzoglich sächsischen Staaten, in deren Gefolge, wie ihr Initiator, der weimarische Regierungsrat Friedrich von Müller, hoffte, „bald eine zwar namen- und prunklose, aber desto sicherere Thüringische Union vorbereitet und begründet werden würde“,13 blieb in den ersten Ansätzen stecken. Erst im Sommer 1813 tauchte der Gedanke an einen thüringischen Staat in den Überlegungen der weimarischen Führung wieder auf. Als die Franzosen während des Waffenstillstandes nach dem Frühjahrsfeldzug versuchten, ihre Verbündeten im Falle eines Friedensschlusses mit neuen Zugeständnissen bei der Stange zu halten, brachte eine weimarische Note an die französische Regierung vom Juli 1813 auch die Errichtung eines Großherzogtums Thüringen zur Sprache. Das regierende Haus Weimar, dessen Fürsten Nachkommen der alten Landgrafen von Thüringen und frühere Schutzmacht der Stadt Erfurt seien, habe unter den kleinen Fürsten den größten Anspruch auf eine Rang­ erhöhung.14 Doch blieben diese Überlegungen bloße Gedankenspiele, die durch den Sieg bei Leipzig bald obsolet wurden. Nach dem Übergang Carl Augusts auf die Seite der antinapoleonischen Koalition brachte Christian Gottlob von Voigt in einer Denkschrift an die Großfürstin Maria Pawlowna die Bildung eines Großherzogtums Thüringen jedoch erneut zur Sprache: „Die Grundsätze der höhern Politik haben in der neuern Zeit die Vereinigung mehrerer kleiner Länder zu einem bedeutendern Ganzen zweckmäßig gefunden. Thüringen gehört aber zu den deutschen Provinzen, die in mehrere kleinere Staaten zersplittert sind. Ein Großherzogtum Thüringen würde ein Ganzes formieren können, wie es in alten Zeiten die Landgrafschaft Thüringen war. Unter den thüringischen itzigen Staaten ist das herzogliche Haus Weimar, dessen Zugehörungen in mehreren isolierten Parzellen bestehen, vorzüglich geeignet, durch die Vereinigung solcher Zwischenlande sich zu erheben, worüber die Disposition von den hohen verbündeten Mächten, welche ruhmvoll auf Befestigung deutscher Verfassung bedacht, einst abhängen wird. […] Nach der Primogenitur ist Weimar bekanntlich das erste 13 Friedrich von Müller, Promemoria über die Errichtung eines Oberappellationsgerichtes der herzoglich sächsischen Staaten, Weimar, 28. Februar 1808, in: Müller (Bearb.), Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten (wie Anm. 11), S. 309. 14 Vgl. Weimarische Note an die französische Regierung, [Dresden, Ende Juli 1813], in: Willy Andreas (Hg.), Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Carl August von Weimar, Bd. 3, bearb. und hrsg. von Hans Tümmler, Göttingen 1973, S. 195–197.

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der sächsischen Häuser und dabei ein solches, dessen Gesinnungen auch in politischer Rücksicht der hohen Familienverhältnisse, in welchen es zu stehen die Ehre hat, sich nicht unwürdig dargestellt haben.“15 Herzog Carl August, der Voigts Denkschrift „sehr gut“ fand, benannte darüber hinaus in einem persönlichen Schreiben an Maria Pawlowna die „Akquisition von Erfurt und Blankenhain“ sowie die „Suprematie über Thüringen“ als grundlegende „Chancen“ zur Verbesserung der Lage des Hauses Weimar, meinte jedoch zugleich skeptisch: „Der Mangel eines Sohnes ist ein böses Ding.“16 Der Geheime Rat Ernst August von Gersdorff ging in seinen Überlegungen sogar noch weiter und sprach sich dafür aus, für das herzogliche Haus Weimar „eine Ausdehnung seiner souveränen Gewalt über sämtliche herzoglich sächsischen Häuser“ zu fordern, „da ohnehin kleine Staaten in dem Geiste der neuesten, Einheit und Versammlung von Kraft gebietenden Zeit nicht liegen können. Mit Erfurt und Blankenhain und eingerechnet die schon jetzt herzoglich weimarischen Lande würde die Vereinigung der sämtlichen herzoglich sächsischen Häuser einen Staat von mehr als 500 000 Seelen und ungefähr 152 Quadratmeilen bilden.“ Das Recht auf Besteuerung, Verwaltung und Handhabung der äußeren Politik sollte dem regierenden Haus dieses Staates, für den der Titel „Großherzogtum“ zu fordern sei, übertragen werden; lediglich in die Domänen sollten die jüngeren ernestinischen Häuser sukzedieren dürfen.17 All diese Territorialprojekte wurden jedoch auf den im Herbst einzuberufenden großen Kongress der europäischen Mächte vertagt, der die Verhältnisse Europas grundlegend ordnen sollte. Carl Augusts Forderung: „Ich verlange sächsisch Thüringen“ wurde dem russischen Zaren mehrfach unterbreitet.18 In einer Denkschrift vom 2. Juni 1814 legte Christian Gottlob von Voigt mit Blick auf die wahrscheinliche Aufteilung des Königreichs Sachsen die Gründe für die Errichtung eines besonderen Staates Thüringen dar und griff dabei sogar auf eine ethnische Argumentation zurück: „Übrigens ist aus der Geschichte bekannt, daß das alte, mehr als tausend jährige Volk von Thüringen, das in dem grauesten Altertum seine eigenen 15 Christian Gottlob Voigt, Denkschrift für die Großfürstin Maria Pawlowna, [November 1813], in: ebd., S. 214. 16 Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach an Großfürstin Maria Pawlowna, 17.11.1813, in: ebd., S. 214 f. 17 Vgl. Niederschrift Ernst August Freiherr von Gersdorffs, 10.11.1813, in: ebd., S. 210. 18 Vgl. Carl August an Christian Gottlob Voigt, Paris, Mai 1814, in: ebd., S. 246.

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Könige hatte und ein nicht unbedeutendes deutsches Stammvolk ausmachte, von dem benachbarten Volksstamm über der Saale als der alten Grenze von Thüringen ganz verschieden war. Die Bewohner von Meißen, Osterland und dem eigentlichen Sachsen (dem Wittenberger Kreise) waren slawischen Ursprung, dessen Spuren noch heutigen Tags in Sprache und Sitte und Geschichte zutage liegen. Eine Trennung dieser Länder, ein erneuter eigener Staat von Thüringen wäre eine Idee, die sich durch die ursprüngliche Nationalität rechtfertigt. Ja, es würde von dem eigentlichen Sachsen, dem alten Kurlande, kein Dorf getrennt, wenn man in der Provinz Thüringen einen besonderen Staat herstellte und ihn durch den Saalstrom, soweit er bisher königlich sächsische Länder durchfließet, begrenzen ließ.“19 Anfang Oktober 1814 fasste Gersdorff die weimarischen Wünsche in einer Denkschrift für die preußische Kongressdelegation in konkretisierter Form zusammen: „Der Herzog von Weimar begehrt in einem Pro Memoria, so Herr von Gersdorff übergibt, den 3. Oktober 1. die großherzogliche Würde, 2. Sitz und Stimme im Verein der Kreisobersten, 3. Bildung eines eignen Kreises von Thüringen, Schwarzburg, Reuß, Fulda und Kreisoberstenstelle für ihn oder Condirektion des Kreises, dem die thüringischen Länder beigeordnet sind, 4. Als Territorial-Vergrößerung und Entschädigung für seine Ansprüche auf die Jülichschen Sukzession fordert der Herzog: Erfurt, Blankenhain, Fulda, Henneberg, Sachsenburg, alle sächsische Enklaven im Weimarschen, den Neustädtischen Kreis.“20 Auf dem Wiener Kongress spielte das Thüringen-Projekt jedoch keine Rolle. Von den weimarischen Forderungen wurden lediglich die Rangerhöhung zum Großherzogtum sowie ein nicht konkret bestimmter Territorialzuwachs bewilligt, der eine Bevölkerungsvermehrung um ca. 80.000 Menschen ermög19 Denkschrift Christian Gottlob von Voigts, Weimar, 2. Juni 1814, in: Müller (Bearb.), Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten (wie Anm. 11), S. 77 f. 20 Ernst August Freiherr von Gersdorff: Ideen über ständische Verfassung mit Bezug auf die Zukunft Deutschlands, in: Georg Heinrich Petz, Das Leben des Ministers vom Stein, 4. Bd., Berlin 1851, S. 624–626.

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lichte. Zu einer engeren Verbindung der thüringischen Staaten kam es nicht, obwohl Gersdorff die weimarischen Thüringen-Pläne im Sinne einer föderalen Verbindung der thüringischen Staaten modifiziert hatte, in der lediglich die Militärverfassung und das zu stellende Armeekontingent, das Polizei- und Sicherheitswesen sowie ein Oberappellationsgericht gemeinschaftlich organisiert werden sollten.21 Carl Augusts Bemühungen konzentrierten sich nun darauf, wenigstens auf die Auswahl der an Weimar abzutretenden Territorien und der von Preußen an das nunmehrige Großherzogtum abzugebenden Bevölkerung gestaltenden Einfluss auszuüben. Dass Stadt und Festung Erfurt für Weimar unerreichbar bleiben würden, weil Preußen sie aus militärstrategischen Gründen für sich beanspruchte, war sicher, doch hoffte der Großherzog, wie er an den preußischen Staatskanzler Hardenberg schrieb, dass es wenigstens „gefällig sein möge, jene […] Bevölkerung und entsprechendes Territorium mir so zu zedieren, daß dadurch ein Zusammenhang des Amtes Allstedt mit meinen übrigen weimarischen Besitzungen könnte zustande gebracht werden.“22 Anders als mit der Überlassung des Neustädter Kreises, der für Weimar wenig Nutzen bringen werde, sei dadurch auch eine territoriale Arrondierung, die für seinen Staat dringend notwendig sei, erreichbar. Auch dem russischen Zaren wurde dieser Wunsch übermittelt.23 In der Tat hätte eine Abtretung der ehemals kursächsischen Ämter des nördlichen Thüringens nicht nur die Anbindung Allstedts an Weimar ermöglicht, sondern auch ein zusammenhängendes thüringisches Kernterritorium geschaffen, das die wichtigsten Teile der 1485 aufgespaltenen alten Thüringischen Landgrafschaft wieder vereinigt hätte. Das Projekt schien zunächst nicht aussichtslos. Sogar Hardenberg setzte sich in einem ausführlichen, sorgfältig argumentierenden Vortrag für den preußischen König Friedrich Wilhelm III. für die Gebietswünsche des Großherzogs ein. Nachdem er die Vorteile einer solchen Regelung für Preußen herausgearbeitet hatte, bat er „dringend und inständig“ darum, im Sinne dieser Vorschläge mit Weimar abschließen zu dürfen. Das Ergebnis indes war geradezu ein Affront. Friedrich Wilhelm III. verwarf 21 Vgl. Denkschrift Christian Gottlob von Voigts, Weimar, 2. Juni 1814, in: Müller (Bearb.), Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten (wie Anm. 11), S. 77 f. 22 Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach an Karl August von Hardenberg, Wien, 7. März 1815, in: ebd., S. 288, sowie Denkschrift des Großherzogs Carl August für Karl August von Hardenberg, Wilhelm von Humboldt und Hermann von Boyen, Wien, April 1815, in: ebd., S. 298–300. 23 Vgl. Niederschrift des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, Wien, April 1815, in: ebd., S. 296–298.

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Hardenbergs Argumente und hielt am Besitz Nordthüringens fest. Großherzog Carl August wurde mit dem nördlichen Teil des Neustädter Kreises und einigen angrenzenden Ortschaften aus den ehemals Erfurter und kursächsischen Gebieten abgefunden. Die historische Chance zur Bildung eines thüringischen Staates war damit vorüber. Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die seit 1485 bestehende Teilung Thüringens beendet.

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Literatur Frank Boblenz, Thüringer Kreis und Thüringer Städteverband – ein Exkurs zum preu­ ßischen Thüringen bis 1919/20, Teil 1, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 49 (1995), S. 83–86. Fritz Hartung, Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung Carl Augusts 1775–1828, Weimar 1923. Landstände in Thüringen. Vorparlamentarische Strukturen und politische Kultur im Alten Reich (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, 27), hg. vom Thüringer Landtag, Erfurt/Weimar 2008. Georg Mentz, Weimarische Staats- und Regentengeschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Carl Augusts (Carl August. Darstellungen und Briefe zur Geschichte des Weimarischen Fürstenhauses und Landes, 1), Jena 1936. Gerhard Müller (Bearb.), Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, Bd. 9: Thüringische Staaten – Sachsen-Weimar-Eisenach 1806–1813, Berlin/München/Boston 2015. Ders., Die thüringische Landesordnung vom 9. Januar 1446, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 50 (1996), S. 9–36. Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Carl August von Weimar, Bd. 1 und 2, hg. von Willy Andreas, bearb. von Hans Tümmler, Stuttgart 1954–1958; Bd. 3, hg. und bearb. von Hans Tümmler, Göttingen 1973 (Quellen zur Deutschen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, 37–39). Christian Wilhelm Schneider, Sammlungen zu der Geschichte Thüringens, 2. Sammlung, Weimar 1772.

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Thüringen umgrenzen und verdichten. Landeskunden als Medien des Thüringen-Diskurses im „langen“ 19. Jahrhundert Wenn nach den Strukturen, Protagonisten und Medien gefragt wird, die im 18. und 19. Jahrhundert zu bestimmen suchten, was „Thüringen“ sei, kommt den Landes- und Heimatkunden ein entscheidender Platz zu. Sie waren mit ihren „Thüringen“-Definitionen, aber auch durch die Reproduktion und Vermittlung von geographischen, historischen, ökonomisch-statistischen und kulturellen Wissensbeständen entscheidende Medien für die Kommunikation eines „Thüringen-Bewusstseins“. „Kommunizieren“ hieß hier: übermitteln, aber auch fortwährend wieder erzeugen und neu modellieren. Ziel der Landeskunden, die im 19. Jahrhundert teils im Rahmen einer amtlichen „Landesbeschreibung“ (wie etwa ab 1824 im Königreich Württemberg),1 häufiger aber in bildungsbürgerlicher Eigeninitiative und gelehrter Privatforschung entstanden, war es, das „Land“ in der Gesamtheit seiner gestaltenden Faktoren zu beschreiben: Natur, politische Geschichte, Sprachgeschichte, Mundarten und Brauchtum sowie wirtschaftlich-soziale und kulturelle Gegenwart sollten aufeinander bezogen werden. Es ging den Landeskunden des 19. Jahrhunderts also nicht nur um ein gleichsam enzyklopädisches Zusammenstellen verschiedenster Informationen zum Land. Es lag ihnen vielmehr die sich später auch – unter unterschiedlichen methodischen und politischen Vorzeichen – in der geschichtlichen Landeskunde und der Kulturraumforschung manifestierende Absicht zugrunde, das „Land“ „als kausalfunktionale Erscheinungswelt in einer ganzheitlichen Konzeption darzustellen“, wie es der Geograph und Raumplaner Emil Meynen noch in den 1950er und 1960er Jahren wiederholt ausdrückte.2

1 Auf ausführliche Anmerkungen wird in diesem Essay zugunsten der Literaturhinweise am Schluss des Textes verzichtet. Vgl. Helmut Kluge, Die Amtliche Landesbeschreibung in Württemberg bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 9 (1957), S. 77–92; K. H. Schröder, 150 Jahre amtliche Landesbeschreibung in Baden-Württemberg, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 33 (1974), S. 1–25. 2 Vgl. z. B. Emil Meynen, Die Stellung der amtlichen Landeskunde im Rahmen geographischer Arbeiten, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 14 (1955), S. 12–22, hier S. 12.

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Die Zielrichtung der Landeskunden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war historisch, volkskundlich und nationalökonomisch-statistisch. Die amtlichen und die bildungsbürgerlichen Landeskunden (aber auch der Sonderfall der Landeskunden speziell für den Schulunterricht: die von Lehrern verfassten „Heimatkunden“) machen – wie eben schon angedeutet – deutlich, dass „Erfassen“ und „Beschreiben“ immer auch hieß, dem „Land“ als Raum neue Stabilität und Plausibilität zu verleihen. „Land“ war dabei als eine entweder, wie etwa im neuen Königreich Württemberg in seinem Bemühen um die „Landesbeschreibung“, aktuell politisch gefasste, oder aber als eine historisch überlieferte bzw. naturräumlich wahrgenommene Raumstruktur zu verstehen. Beschreiben, Zählen, Registrieren hieß, das mehr oder weniger Disparate in eine (neue) Ordnung bringen, die sich im Raum manifestierte bzw. manifestieren sollte – für die amtliche Statistik des 19. Jahrhunderts ist diese Poiesis des administrativen Erfassens in Forschungen der letzten Jahre herausgearbeitet worden.3 Es könnte also zugespitzt „konstruktivistisch“ formuliert werden, dass auch die landeskundliche Publizistik das Land, das sie beschrieb oder zu beschreiben meinte, mit dieser Praxis ein Stück weit „erzeugte“. Aber eine solche Formulierung ist in hohem Maße missverständlich: Sie leistet dem unzutreffenden Eindruck Vorschub, solche Stabilisierungs-, Plausibilisierungs- und Verdichtungsprozesse oder landesbezogene Geschichts- und Identitätspolitiken hätten ein arbiträres Konstrukt in die Welt gesetzt, das auch „immer anders“ hätte aussehen können und an das die Individuen nur durch Konvention gebunden seien – analog etwa zur linguistischen Arbitrarität in der Beziehung zwischen Lautgestalt und „Konzept“ eines sprachlichen Zeichens. Tatsächlich aber sind diese Prozesse Teil eines komplexen Zusammenspiels zwischen Natur- und Kulturraum, Herrschaft und Staat, in dem eine Vielzahl determinierender, nicht konstruktivistisch hintergehbarer Elemente – „Fakten“ (im Sinne des bereits „Geschaffenen“) aber auch „Daten“ (im Sinn des, zumindest in der geschichtlichen Zeit, immer schon „Gegebenen“) – wirken. Diese Elemente zu erfassen und dieses Zusammenspiel zu analysieren, war (und ist) die eigentliche Herausforderung, wenn regionale Identitäten, Landesidentitäten und Landesbewusstsein zum historischen oder auch synchron-sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand gemacht werden. 3 Vgl. z. B. für Preußen: Michael C. Schneider, Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt am Main u. a. 2013. Vgl. auch die Beiträge in: Stefan Haas/Michael C. Schneider/Nicolas Bilo (Hg.), Die Zählung der Welt. Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert, Stuttgart 2019.

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Verglichen mit anderen Medien, Foren und Akteuren der Thüringen-Diskurse der zweiten Hälfte des 18. und des 19. Jahrhunderts, vor allem dem Vereinswesen (insbesondere den historischen Vereinen oder der Sängerbewegung), dem kulturgeschichtlichen und volkskundlichen Zeitschriftenwesen, aber auch dem durch breite Schnittmengen mit den Landeskunden verbundenen Genre der Reise- und Wanderliteratur,4 haben die Landes- und Heimatkunden bislang für Thüringen kaum systematische Aufmerksamkeit gefunden.5 Sie werden in der landesgeschichtlichen und volkskundlichen Forschung bis heute als Informationsquellen genutzt; verschiedentlich sind ihre Autoren auch Gegenstand biographisch-forschungsgeschichtlicher Studien geworden – zumeist kleineren Zuschnitts und in der lokalgeschichtlich-heimatkundlichen Publizistik verstreut; nur die Monographie der Volkskundlerin Marina Scheinost zu Georg Brückner ragt hier heraus.6 Eine systematische Erfassung, innere Differenzierung, Klassifizierung und schließlich Auswertung der Landeskunden des 19. Jahrhunderts unter landesgeschichtlichen, wissenschaftsgeschichtlichen und diskursgeschichtlichen Gesichtspunkten ist bislang nicht erfolgt. Das muss umso mehr als Desiderat landesgeschichtlicher Forschung bezeichnet werden, als der thüringische Raum besonders im „langen“ 19. Jahrhundert einer der Schwerpunkte solcher landeskundlichen Literatur gewesen ist. Das in Frage kommende Quellenkorpus ist daher ausgedehnt. Unsere Stichprobe – 4 Vgl. dazu jetzt Jana Napierski, Von der unwegsamen Wildnis zum grünen Herzen Deutschlands – Der Thüringer Wald in der Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, Diss. phil., Jena 2020. 5 Anlässlich der Rezension der thüringischen Landeskunde von Ernst Kaiser (vgl. Literaturverzeichnis) machte der Thüringer Archivar und Landeshistoriker Wilhelm Engel einige Bemerkungen und bibliographische Angaben zu den Landeskunden: Wilhelm Engel, Zur Geschichte der Landeskunde von Thüringen. Eine Würdigung von Ernst Kaisers „Landeskunde von Thüringen“, in: Thüringer Fähnlein 3 (1934), S. 1–7. Vgl. auch Willy Flach, Entwicklung, Stand und Aufgaben der landesgeschichtlichen Forschung in Thüringen, in: Ders., Beiträge zum Archivwesen, zur thüringischen Landesgeschichte und zur Goetheforschung, hg. von Volker Wahl, Weimar 2003, S. 214–254 [Zuerst in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 92 (1956), S. 90–141]. 6 Vgl. Marina Scheinost, Johann Georg Martin Brückner (1800–1881). Forschung zwischen Wissenschaft und nationalem Anspruch, Würzburg 2003. Vgl. auch: Jochen Lengemann, Friedrich Apfelstedt. Dem Andenken des schwarzburgischen Pfarrers, Landeskundlers und Historikers, in: Sondershäuser Beiträge 7 (2003), S. 6–9; Manja Rabenau, 150. Todestag des Arztes, Lehrers, Dichters und Regionalschriftstellers Prof. Berthold Sigismund (geboren am 19.03.1819 in Stadtilm, gestorben am 13.08.1864 in Rudolstadt), in: Stadtverwaltung Rudolstadt (Hg.), Rudolstadt & … die Jubiläen 2014, Rudolstadt 2014, S. 9–11; Günter Doms, Constantin Kronfeld. Ein Thüringer Chronist, in: Apoldaer Heimat 34 (2016), S. 19–24.

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und mehr kann es an dieser Stelle nicht sein – wird sich deshalb auf ausgewählte Autoren des 19. Jahrhunderts mit einigen Seitenblicken auf das 17. und 18. Jahrhundert beschränken und den landeskundlichen „Zugriff“ nicht in seiner ganzen Vielschichtigkeit untersuchen können, sondern sich exemplarisch auf die Frage nach der Kontur des Raumes, nach den Grenzen Thüringens konzentrieren. Eine der Ursachen dieses Desiderates scheint das ambivalente Verhältnis zu sein, das sich schon seit den 1960er Jahren zunehmend zwischen der Geschichtswissenschaft – auch und gerade der Landesgeschichte und der „Geschichtlichen Landeskunde“ – und den verschiedenen Teildisziplinen der Humangeographie zu entwickeln begann. Das scheint auf den ersten Blick einigermaßen erstaunlich, ist doch in der Entwicklung theoretischer und methodischer Prämissen von Geschichtswissenschaft und Humangeographie durchaus – wenn auch zeitlich versetzt – eine Konvergenz festzustellen: Früher als die Geschichtswissenschaft erlebten Sozial- und Wirtschaftsgeographie, geographische Kulturraumforschung und das gerade in Deutschland traditionsreiche Feld der Historischen Geographie ihren „Cultural turn“. Nahezu vollständig lösten sich diese geographischen Disziplinen von einem „essentialistisch“ grundierten Verständnis von Naturräumen, einem in der älteren Geographie vorherrschenden naturdeterministischen Paradigma, das geographisch erfasste Räume als „Container“ und wesentlich prägende Entität der naturräumlich bestimmten Prozesse und der in diesen Prozessen agierenden Menschen verstand. Gleichzeitig distanzierte man sich – vor allem natürlich wegen der biologistischen Aufladungen in der geographischen, historischen und volkskundlichen Forschung der 1920er und 1930er Jahre – vom Konzept des Kulturraums. Damit verbunden war zudem eine weitgehende Verabschiedung der Geographen vom Paradigma der „Landschaft“, das, wie der Münsteraner Geograph Thomas Schwarze geschrieben hat, in der Geographie schon in den 1960er Jahren „archaisch“ gewirkt habe; kaum ein Begriff sei – so konstatierte er noch 1996 – „stärker aus dem fachlichen Diskurs der Geographie verschwunden als Landschaft“.7 Und schließlich wurde in der politischen Geographie eine entschiedene Distanzierung von der „Geopolitik“ und der politisch-geographischen Raumdiskussion vollzogen, die gleichfalls politisch belastet erschienen. An die Stelle all dessen trat eine starke Konzentration auf die Faktoren 7 Thomas Schwarze, Landschaft und Regionalbewusstsein – Zur Entstehung und Fortdauer einer territorialbezogenen Reminiszenz, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 70 (1996), S. 413–433, hier S. 433.

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von Raumkonstruktion, wobei sich das Interesse immer mehr vom materiellen, vom Naturraum ablöste und sich immateriellen Raumverständnissen zuwandte und weiterhin zuwendet. Mit dem kulturwissenschaftlichen „Spatial Turn“ entdeckte die Geschichtswissenschaft – ungeachtet ihrer noch immer, wie Matthias Middell es 2005 formuliert hat, ungebrochenen „spezifisch deutschen Sorge vor den Fallstricken der Geopolitik“8 – neben dem weiterhin entscheidenden temporalen Aspekt den räumlichen neu.9 Im Zusammenklang mit dem konstruktivistisch ausgerichteten kulturwissenschaftlichen Paradigma führte vor allem auch der Trend zu transnationalen und globalgeschichtlichen Forschungsdesigns (wie auch immer diese „Designs“ ihre methodischen und darstellerischen Ansprüche bisher haben einlösen können) dazu, dass der „Raum“ als Ausgangspunkt von Forschungen wieder breites Interesse in der allgemeinen Geschichtswissenschaft fand. Das Fach vollzog dabei nach, was auch schon die Entwicklung in der Geographie bestimmt hatte: Es war eine „Entortung“ des Raumes, eine Konzentration auf immaterielle Räume zu verzeichnen. Jede Frage nach dem Naturraum – ähnlich wie im Bereich der Gruppen- und Identitätsbildungsprozesse die Frage nach ethnischen Komponenten – wurde schnell mit dem Verdikt des „Essentialismus“ belegt, wenn sie nicht sogar weitaus gravierenderen politischen Verdächtigungen ausgesetzt war. Dieser Trend galt und gilt, wenngleich mittlerweile deutlich abgeschwächt, auch für regionalgeschichtliche Forschungen im Zeichen des „Cultural Turn“. Der deutschsprachigen Landesgeschichte mit ihrer komplexen, äußerst facettenreichen kulturwissenschaftlichen Tradition fiel es seit den 1970er Jahren zunehmend schwerer, deutlich zu machen, wie viel sie aus ihren Theorie- und Methodenbeständen zu einer reflektierten kulturwissenschaftlichen Bestimmung historischen Forschens beizutragen hatte. Vielmehr wurde ihr vielfach (bedingt natürlich auch durch akademische Verteilungs- und Positionskämpfe) eben jenes Etikett des „Essentialistischen“, the8 Matthias Middell, Der Spatial Turn und das Interesse an der Globalisierung der Geschichtswissenschaft, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 22009, S. 103–123, hier S. 113. 9 Zu Analyse und Kritik des „Spatial turn“ in verschiedenen kultur- und sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen vgl. u. a. die Sammelbände Robert Stockhammer, TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005; Döring/Thielmann (Hg.), Spatial Turn (wie Anm. 8); Jaimey Fisher/Barabara Mennel, Spatial Turns. Space, Place, and Mobility in German Literary and Visual Culture, Amsterdam u. a. 2010. – Die Folgen des „spatial turn“ für die aktuelle regionalgeschichtliche Forschung erörtert: Riccardo Bavay, Was bringt der „spatial turn“ der Regionalgeschichte? Ein Beitrag zur Methodendiskussion, in: Westfälische Forschungen 56 (2006), S. 457–484.

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oretisch-methodisch wenig Innovativen und „Positivistischen“ aufgeklebt, obwohl die deutschsprachige Landesgeschichte doch, wie Enno Bünz und Werner Freitag 2004 zutreffend bemerkt haben, „methodisch lange Zeit vielfältiger und in gewisser Weise auch ‚moderner‘ und innovativer […] als […] die allgemeine Geschichtswissenschaft“ war, „die bis in die 1960er Jahre viel einseitiger an den Kategorien der Politik- und Ereignisgeschichte orientiert gewesen ist“.10 Dieses Positionsverlustes ungeachtet wurde in der landesgeschichtlichen Forschung das Verständnis der politisch-herrschaftlichen Struktur, der Herrschaft, des Staates als entscheidendes Kriterium der Raumdefinition weiterentwickelt und weiterhin landesgeschichtliche Grundlagenforschung, etwa zur Agrar- und Siedlungsgeschichte, zur historischen Demographie oder, im Grenzbereich zur Sprachgeschichte, zur Namenskunde betrieben. Auch Konzepte, die in der Sozialgeographie kaum eine Rolle mehr spielten, erfuhren hier fortlaufende Aktualisierungen. Das galt vor allem für den Begriff der „Landschaft“ zwischen kulturlandschaftlichen Ausgangspunkten und Konzeptualisierungen, die den tradierten politischen Bedeutungsgehalt von „Land“ und „Landschaft“ aufgriffen. Diese Aktualisierungen reichen von, aus meiner Sicht noch immer ertragreichen, Entwürfen wie denen der „politischen Landschaft“ durch Heinz Gollwitzer 1964 und der „Geschichtslandschaft“ durch Karl-Georg Faber 196811 bis hin zum Paradigma der frühneuzeitlichen Bildungslandschaften, dem fortwährend genutzten Forschungsparadigma der „Städtelandschaften“ oder den in der kulturgeschichtlichen Erinnerungs- und Gedächtnisforschung viel verwendeten Begriff der Gedächtnis- und Erinnerungslandschaften. Der letztgenannte Begriff ist insofern charakteristisch für den „gemäßigten Konstruktivismus“ neuerer Diskussionen,12 als er sowohl einen immateriellen, auf individuelle Gedächtnis- oder Erinnerungsinhalte bezogenen, als auch einen materiellen Aspekt beinhaltet, der auf den in Verbindung von Natur- und Kulturraum zur „Erinnerungslandschaft“ ausgeformten topographischen Raum abzielt.13 10 Enno Bünz/Werner Freitag, Einleitung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 139/140 (2003/2004), S. 146–154, hier S. 148. 11 Vgl. Heinz Gollwitzer, Die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19./ 20. Jahrhunderts. Eine Skizze zum deutschen Regionalismus, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27 (1964), S. 523–552; Karl-Georg Faber, Was ist eine Geschichtslandschaft?, in: Festschrift Ludwig Petry, T. 1, Wiesbaden 1968, S. 1–28. 12 Andreas Rödder, Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in der Moderne, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), S. 657–688, hier S. 674. 13 Zu den genannten Verwendungen des „Landschafts“-Begriffs vgl. u. a. Anton Schindling, Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650–1800, München 21999, S. 3–48; Matthias Asche, Bildungslandschaften im Reich der Frühen Neuzeit – Überlegungen zum lands-

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Sowohl in der Geographie als auch in der Geschichtswissenschaft – und hier setzen sich die Konvergenzen fort – wird in jüngster Zeit wieder verstärkt die Frage nach dem „materiellen Raum“ gestellt: Als Frage nach den Überlagerungsschichten von „Materialität und Diskursivität“,14 nach den Verbindungen, die zwischen Naturraum und Kulturraum hergestellt werden können, nach naturräumlichen Gegebenheiten im Zusammenspiel mit den Praktiken, die Räume in verschiedenster Richtung strukturieren – Prozesse, Praktiken und Institutionen bzw. Organisationen, die Räumen in spezifischer Weise „Kontur“, „Kohärenz“ und „Komplexität“ verleihen können.15 Wenn sich nun – und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt dieses ganz skizzenhaften Ausflugs in die jüngere Theoriediskussion angelangt – trotz dieser Konvergenzen der theoretischen Forschungsprämissen auf vielen Feldern, auch bei der Erforschung der landeskundlichen Publizistik der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts, eine wirklich intensive Verschränkung von Geographie und Geschichte nicht recht einstellen will, liegt das vor allem daran, dass die „Neue Kulturgeographie“ kaum mehr ein historisches Interesse entwickelt. Ute Wardenga, die stellvertretende Direktorin des Leipziger Leibniz-Instituts für Länderkunde ist und Global Studies an der Leipziger Universität lehrt, schrieb schon 2005 (durchaus mit kritischem Impetus) über die „historische Perspektive in der Geographie“, dass die „new cultural geography […] die historische Perspektive nur am Rande und in Einzelfällen benötigt“ und dass „die Kopplung der Kulturgeographie mit der historischen Perspektive zwar

mannschaftlichen Prinzip an deutschen Universitäten in der Vormoderne, in: Daniela Siebe (Hg.)/Stefan Wallentin (Mitarb.), „Orte der Gelahrtheit.“ Personen, Prozesse und Reformen an protestantischen deutschen Universitäten des Alten Reiches, Stuttgart 2008, S. 1–44; Holger Th. Gräf/Kathrin Keller (Hg.), Städtelandschaft. Städte im regionalen Kontext in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2004; Ralf Roth (Hg.), Städte im europäischen Raum. Verkehr, Kommunikation und Urbanität im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2009; Aleida Assmann, Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften, in: Hanno Loewy/Bernhard Moltmann (Hg.), Erlebnis – Gedächtnis – Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt am Main/New York 1996, S. 13–29. 14 So mit Bezug auf Raumkonzepte in der Bildungsgeschichte: Thomas Töpfer, „Bildungsräume“ und „Bildungslandschaften“ – Raumbezogene Forschungskategorien aus Sicht der Bildungsgeschichte. Konzeptionelle und methodische Perspektiven, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 19 (2016), S. 83–99, hier S. 91. 15 Vgl. zu dieser Trias am Beispiel der Tätigkeit historischer Vereine Georg Kunz, Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.

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möglich, aber nicht notwendig“ sei.16 Der bereits zitierte Thomas Schwarze beklagte 1996 deutlicher, dass „die Registrierung historischer Forschungsergebnisse“ in der neueren Geographie „weit hinten“ rangiere. „Und diese historische Ignoranz ist in vielen (glücklicherweise nicht allen) geographischen Publikationen erkennbar“. „Geschichtliches“, so Schwarze, werde „bei solchen geographischen Analysen“ oft auf „veraltetes Handbuchwissen“ reduziert.17 Andererseits zögert die geschichtswissenschaftliche Forschung ihrerseits bisweilen, sich auf die materiell-räumlichen Bedingungen ihrer Untersuchung auch wirklich einzulassen und kommt zu schnell bei immateriellen Räumen und Raumkonstrukten an, ohne sich dem eigentlichen Problem, der Frage nach den Interdependenzen und Kausalitäten zwischen Naturraum, Kulturraum und politisch-herrschaftlicher Struktur zu stellen – wobei auch hier gilt, dass Untersuchungsfelder wie z. B. die Agrargeschichte, die Bevölkerungsgeschichte oder auch die Wirtschaftsgeschichte (insbesondere die Untersuchung von historischen Wirtschaftsräumen und die regionale Industrialisierungsforschung) diese Zusammenhänge immer im Blick behalten haben. Es ist an prominenter Stelle der Aspekt der Kontur, der Umgrenzung von Räumen, Regionen oder Ländern, der sowohl Geschichtswissenschaft und Geographie in vielfacher Hinsicht beschäftigen muss.18 Landeskunden, und insbesondere auch thüringische Landeskunden des späten 18. und des 19. Jahrhunderts, bieten sich für eine transdisziplinäre Untersuchung dieses Aspektes an, stellte das Gebiet doch im 18. und im „langen“ 19. Jahrhundert keine staatlich-territoriale Einheit dar. Der Raum war aber auch nicht, zumindest zum größeren Teil, eine Provinz oder andere administrative Einheit eines größeren Staatswesens, sondern in einer Vielzahl von Territorien oder Staaten organisiert. Nach der letzten dynastischen Teilung und Neuordnung 1825/26 blieben bis 1920 acht thüringische Staaten zurück, wozu die preußischen bzw. 16 Ute Wardenga, „Kultur“ und historische Perspektive in der Geographie, in: Geographische Zeitschrift 93 (2005), S. 17–32, hier S. 29. 17 Schwarze, Landschaft und Regionalbewusstsein (wie Anm. 7), S. 415. 18 Nicht eingegangen werden kann an dieser Stelle auf die inzwischen ausgedehnte neuere historische Forschung zu Grenzen und Grenzräumen, zu Formen und Wandel von Grenzen, die besonders mit den europäischen Umbrüchen von 1989/90 starken Auftrieb erhielt. Das 1991 erschienene Buch des amerikanischen Historikers Peter Sahlins Boundaries. The making of France and Spain in the Pyrenees, Berkeley 1991 war eine Art Schlüssel- oder Leitstudie dieser neuen, dann vor allem für Regionen des östlichen Mitteleuropa fortgesetzten Grenzforschung. Zum neueren Diskussionsstand vgl. z. B. die Beiträge in: Christophe Duhamel/Andreas Kossert/Bernhard Stuck (Hg.), Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 2007.

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bis 1866 hessischen Gebietsteile traten. War – und das sind die Fragen, die nun in einem zweiten Schritt an thüringische Landeskunden dieses Zeitraums gerichtet werden sollen – der „Thüringen“-Begriff der Landeskunden entsprechend fluide und vage? War „Thüringen“ für die landeskundliche Literatur des 19. Jahrhunderts nur Landschaftsbezeichnung und „geographischer Begriff“ im Sinne des bekannten Diktums von Metternich aus dem Jahre 1849, nach dem „Italien“ und „Deutschland“ nur eben dies, „geographische Begriffe“, lediglich topographische Termini seien, die jeder politisch-staatlichen Definitionsmöglichkeit und Implikation entbehrten?19 Woher gewannen die Landeskunden des 19.  Jahrhunderts die Anhaltspunkte und das Material für ihren Thüringen-Begriff? Werden Kernräume und Peripherien sichtbar, ist womöglich ein engerer und weiterer Thüringen-Begriff zu erkennen? Beginnen wir eine knappe Materialsammlung zur Beantwortung dieser Fragen in der Endphase des „langen“ 19. Jahrhunderts. Für diesen Zeitpunkt kann der Jenaer Geograph Fritz Regel als repräsentativ gelten.20 Regel, der aus einer im Gothaischen beheimateten Gelehrtenfamilie stammte, sich in Jena unter der Ägide Dietrich Schäfers habilitierte, die Geographische Gesellschaft für Thüringen mitbegründete und 1911 Geographie-Ordinarius in Würzburg wurde, beherrschte mit seinem 1892 erschienenen dreibändigen Handbuch „Thüringen“ und der 1897 nachgeschobenen Kurzfassung „Thüringen. Ein landeskundlicher Grundriß“ am Ende des 19. Jahrhunderts unangefochten das Feld der Thüringen-Geographie. Mit den Landeskunden des gesamten „langen“ 19. Jahrhunderts verband ihn – und dieser Spur wird jetzt weiter nachzugehen sein – ein klarer engerer Thüringen-Begriff, den er 1897 als die „gewöhnliche Abgrenzung Thüringens“ bezeichnete: „Thüringen“, so Regel, „ist das Land zwischen Werra und Saale einerseits, zwischen Thüringerwald und Harz andererseits“.21 Im Einzelnen skizzierte Regel jedoch eine vor allem an geomorphologischen und mineralogischen Parametern orientierte Kontur Thü19 So Metternich im Brief an Anton Graf Prokesch von Osten, 19. November 1849. Vgl. Aus dem Nachlasse des Grafen Prokesch-Osten, k. k. österr. Botschafter und Feldzeugmeister. Briefwechsel mit Herrn von Gentz und Fürsten Metternich, Bd. 2, Wien 1881, S. 341–345, hier S. 343. 20 Vgl. Harry Stein, Die Geschichte der Geographie an der Universität Jena (1786–1939). Ein Beitrag zur Entwicklung der Geographie als Wissenschaft, Wiesbaden 1972; Helmut Jäger, Die Geographie an der Universität Würzburg 1593–1981, in: Peter Baumgart (Hg.), Vierhundert Jahre Universität Würzburg. Eine Festschrift, Neustadt an der Aisch 1982, S. 637– 664, hier S. 641–644. 21 Fritz Regel, Thüringen. Ein landeskundlicher Grundriß, Jena 1897, S. 1.

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ringens, die deutlich über diese, von Regel als konventionell und überliefert gekennzeichnete Abgrenzung und auch über das Staatsgebiet der acht thüringischen Kleinstaaten und des preußischen Regierungsbezirkes Erfurt hinausging: So wollte er im Norden, Nordwesten und Nordosten nicht nur den (zeitgenössisch unbestritten als „preußisches Thüringen“ firmierenden) preußischen Regierungsbezirk Erfurt, sondern auch das ehemals hannoversche Untereichsfeld (Kreis Duderstadt) und die Stadt Göttingen aus dem nunmehrigen preußischen Regierungsbezirk Hildesheim sowie die Städte und Kreise Halle, Sangerhausen, Eckartsberga, Querfurt, Weißenfels, Naumburg und Zeitz als Bestandteile des thüringischen Raumes sehen. Im Osten gehörten nach Regel auch die sächsische Amtshauptmannschaft Plauen (mit der Stadt Plauen) sowie die westlichen Teile der Bezirksämter Zwickau (mit den Städten Crimmitschau und Meerane) sowie Leipzig (mit den Städten Groitzsch und Pegau) zu Thüringen. Im Süden waren für Regel jenseits der Grenzen der sächsischen Herzogtümer auch die oberfränkischen Bezirksämter Kronach, Teuschnitz, Naila und Stadtsteinbach, sowie der westliche bzw. nordwestliche Teil der Bezirksämter Münchberg und Hof thüringisch. Im Westen folgte Regels Konturierung Thüringens am engsten der tradierten Werra-Linie: Hier reklamierte er lediglich das westliche Ufer der Werra zwischen Wanfried und Witzenhausen für Thüringen.22 Dass Regel am Ende des 19. Jahrhunderts den engeren Thüringen-Begriff von dem er zunächst ausging, als die „gewöhnliche Abgrenzung“ bezeichnete, die es lediglich mit den Mitteln der modernen Geographie zu präzisieren und zu erweitern gelte, verweist darauf, dass es auch in der Neuzeit – jenseits der politisch-territorialen Kleinteiligkeit und Vielgestaltigkeit des Raumes – offenbar eine über lange Zeit tradierte, akzeptierte und durchaus nicht vage-ambige Vorstellung von der Kontur „Thüringens“ gab. Das bestätigt sich, wenn man den Blick vom Ende unseres Betrachtungszeitraumes an der Schwelle des 20. Jahrhunderts an seinen Beginn im späten 16. und im 17. Jahrhundert wendet. Es sei nur auf zwei Beispiele verwiesen: 1613 veröffentlichte Johannes Binhard in Leipzig seine „Newe vollkommene Thüringische Chronika“. Ähnlich wie andere Werke der frühneuzeitlichen thüringischen Chronistik – im 16. und 17. Jahrhundert vor allem Zacharias Rivander, Johann Bangen sowie Friedrich Schmidt und Johann Becherer, im 18. Jahrhundert Johann Heinrich von Falckenstein oder die „Alte und neue Thüringische Chronicka“ von 1715/172523 – trat Binhard mit dem Anspruch 22 Ebd., S. 4 f. 23 Vgl. den Nachweis dieser Werke im Literaturverzeichnis.

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an, das „Land“ in seiner Geschichte von der Erschaffung der Welt bis in die Gegenwart darzustellen und legte dabei auch Wert auf die Verortung und Umgrenzung des Landes auf der Erdoberfläche. In einem seine Chronik eröffnenden Gedicht „Beschreibung Thüringes Landes“ verband er bereits alle Elemente, die – mutatis mutandis – die landeskundliche Publizistik bis ins 19. Jahrhundert prägen sollten: Eine klare Umgrenzung des thüringischen Raumes, die Zuschreibung bestimmter spezifischer Qualitäten an „Land und Leute“ und die Verbindung von Land und Dynastie(n): „Thüringer Land zu dieser zeit / Ist zwölff Meylweges lang und breit. Mit zweyen Wälden groß beschlossn / Mit zwey fischreich wassern beflossn. Nemlich den Hartz und Thüringer Waldt. Der Saal und Werr gleicher gestalt. […] Es wechst da Wein zu allerhand / So gut als ist in Frankenlandt / Man Brawt zu Goth un[d] Langen Saltz Das beste Bier aus Weytzen Maltz. […] Nach Christi Gburt ein tausent zwar / Vier hundert viertzig / das ist wahr. Als Landtgraff Friederich der Heldt / Ohn Erben schied von dieser Welt / Ist nun diß Landt Gott lob gewachsn An das hochlöblich Hauß zu Sachsn.“24 Auch für den Theologen und gelehrten Schriftsteller Georg Michael Pfefferkorn, der Hauslehrer der Söhne Ernst des Frommen, der Prinzen Christian, Ernst und Johann Ernst gewesen war und zuletzt als Superintendent in Gräfentonna im Herzogtum Sachsen-Gotha amtierte, war die Kontur des Landes in seiner 1685 erschienenen historischen Landeskunde Thüringens ein wichtiger 24 Johann Binhard, Newe vollkommene Thüringische Chronica / Das ist: Geschicht vnd Zeitbuch aller namhafftigen Historien / Sachen vnd Handlungen / von der Geburt vnd Menschwerdung vnsers einigen Erlösers vnd Seligmachers Jesu Christi an / biß auff diß gegenwertige M.DC.XIII. Jahr vollzogen. […], [Leipzig] 1613 [unpaginierter Vorsatz vor dem ersten Buch].

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Punkt. Und auch er rekurrierte auf eine ganz offensichtlich bereits topisch gewordene, mit Binhard und allen anderen Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts deckungsgleiche thüringische Raumumgrenzung: Nachdem er die angebliche Ausdehnung des alten Thüringer Reiches umschrieben hatte, konstatierte Pfefferkorn: „Zu unser Zeit sind die Thüringische Grenzen etwas änger / gegen Morgen schließt dieses Land die Saal / gegen Mittag der Wald / gegen abend die Werra / gegen Norden der Harz.“25 Er schließt eine Präzisierung an, die in der Thüringen-Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts eine gewisse Verbreitung erfahren sollte26 – oft ohne oder mit falscher Verfasserangabe. Der Schriftsteller und Sagensammler Ernst Heusinger z. B. legte die Umschreibung in seiner 1856 erschienenen Sammlung „Sage und Geschichte aus den Sachsenländern“ sprachlich angepasst Herzog Ernst August I. von Sachsen-Weimar in den Mund.27 Bei Pfefferkorn hatte sie 1685 gelautet: „Im Fall ein Heg-Reiter aus curiosität oder Befehl / dieses Land umreiten wolte / möchte er bey Hall an der Saal sich aufsezzen / von dannen an der Thüringischen Seite des Flusses heran / auf Mörseburg / von dannen auf Naumburg / Jehna / Saalfeld / von dannen auf Leutenberg und Gräfenthal / alsdann auf der Höhe des Thüringer Waldes hin / nach dem Henneberger Land zu sich schlagen / und auf der rechten Hand nach der Werra zu / sich wenden / an derselben herunter auf Salzungen / Creutzburg und Trefurt / von dannen über den Berg / am Eißfelde hin auf Mühlhausen / und aus solcher Stadt auf den Harz-Wald / von dannen neben Walkenrieth / Lora / Klettenberg / Ilfeld und Elrich hin / durch die Grafschaft Hohnstein und Stolberg / hernach durch die Morungische und Sanger­häusische Herrschaften / und endlich an Eißleben hin / durch das Mansfeldische Gebiet reiten / und bey Halla wieder den Thüringischen-Ritt beschließen.“28

25 Georg Michael Pfefferkorn, Merkwürdige und Auserlesene Geschichte von der berümten Landgrafschaft Thüringen/ Darinnen Das Denkwürdigste von dieses Landes Chroniken/ Lage/ Fruchtbarkeit/ Bergen/ Gründen/ Flüssen/ Wäldern/ Sitten/ Sprache/ Regiments-Verfassung […] aus den geschriebenen und gedrukten Chroniken und andern brieflichen Uhrkunden Allezeit mit Zusezzung der neuesten Begebnisse/ biß auf diese Zeit/ aufs kürzeste und fleissigste in 33. Capiteln […] beschrieben, Frankfurt am Main/Gotha/Langensalza 1685, S. 19 f. 26 So z. B. bei C[arl] Polack, Die Landgrafen von Thüringen zur Geschichte der Wartburg, Gotha 1865, S. 6; H[einrich] Schwerdt/A[lexander] Ziegler, Neuestes Reisehandbuch für Thüringen, berichtigte und vermehrte Ausgabe, Hildburghausen 1866, S. 3. 27 Vgl. E[duard] [= Ernst] Heusinger, Sage und Geschichte aus den Sachsenländern, Leipzig 1856, S. 84. 28 Pfefferkorn, Merkwürdige und Auserlesene Geschichte (wie Anm. 25), S. 20.

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Diese Beispiele aus dem 17. Jahrhundert zeigen: Bereits in der Frühen Neuzeit war eine recht präzise Raumvorstellung Thüringens fest verankert, in der sich Überlieferungen zum Kernsiedlungsraum der Thüringer am Ausklang des Thüringer Königreiches und zu Beginn des Frühmittelalters mit der Werra als westlicher und der Saale als östlicher Begrenzung, dem Harz und nördlichem Harzvorland sowie dem Thüringer Wald und Erzgebirge als Abgrenzungen im Norden und Süden bzw. Südosten mit dem Wissen um den Territorialbestand der hoch- und spätmittelalterlichen Landgrafschaft verbanden. Die Durchsetzung dieser Kontur des thüringischen Raumes war unverkennbar auch mit der Plausibilität ihrer naturräumlichen Struktur verbunden. Ungeachtet der herrschaftlich-territorialen Entwicklung ist in der gesamten Neuzeit die Kontur eines „Kernraumes“ sichtbar, dessen Funktion als „Wahrnehmungsschablone“ des Natur- und Kulturraumes die Chronistik und die Thüringen-Historiographie des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, die immer auch historische „Landeskunde“ war, wieder und wieder verdichteten und weiter transportierten. Die landeskundliche Literatur des 19. Jahrhunderts – ganz gleich, ob sie im thüringischen Raum entstand, oder von außen auf Thüringen blickte – popularisierte diese Kontur im bildungsbürgerlichen Publikum in einer bisher nicht dagewesenen Breite. Einige Beispiele, die über die Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts aus der Vielzahl der Belege herausgegriffen sind und einen Eindruck von der Dichte des Materials vermitteln können, seien im Folgenden aufgeführt. So stand für Anton Friedrich Büsching, einen der Pioniere einer wissenschaftlichen Landeskunde und Kulturgeographie im deutschsprachigen Raum, in seiner weitverbreiteten „Erdbeschreibung“ 1758 fest, dass sich – im Gegensatz zum alten Thüringerreich – „das itzige Thüringen […] ohngefähr zwischen der Saale, Werra, dem Thüringer- und Harzwalde“ erstrecke.29 Auch Karl Ernst Adolf von Hoff, Vertrauter des Herzogs Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, später gothaischer Minister und einer der bedeutenden Geologen seiner Zeit, fügte in seinen 1819 erschienenen „Geographisch-statistischen Abriß der Länder des Hauses Sachsen ernestinischer Linie“ wie selbstverständlich die charakteristische Formulierung ein, „das eigentliche Thüringen“ liege „im Norden des Thüringer Waldes, zwischen diesem, dem Eichsfelde, dem Harze und

29 Anton Friedrich Büsching, Neuer Erdbeschreibung dritten Theils, zweyter Band, welcher den schwäbischen, bayerischen, fränkischen und obersächsischen Kreis enthält, Hamburg 2 1759, S. 1816.

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der Saale“30 – charakteristisch nicht nur wegen der in der landeskundlichen Publizistik des 19. Jahrhunderts oft erscheinenden Bezeichnung des Kernraumes als das „eigentliche Thüringen“, sondern auch weil teils explizit, teils implizit ambige Peripherien des thüringischen Raumes benannt sind, Landstriche verschwimmender Kontur, auf die anschließend noch ein kurzer Blick geworfen wird: das Eichsfeld und Oberfranken. Bei dem Juristen und Geschichtsforscher August von Wersebe erschien 1834 – auch das ein charakteristisches Beispiel – der Begriff der „natürlichen Grenzen“, mit dem seit den französischen Expansionsversuchen des 17. Jahrhunderts und mehr noch dem territorialen Ausgreifen der Französischen Revolution eine Kongruenz von Naturräumen und politisch-territorialen Ansprüchen beschworen und eingefordert worden war: „Die natürlichen Grenzen“ Thüringens, dessen Name im Gegensatz zu anderen deutschen Stammes- und Landschaftsbezeichnungen „immer einer und derselben Gegend im Ganzen“ gegolten habe, seien, so von Wersebe, „der Harz gegen Norden und der Thüringer Wald gegen Süden, die Werra gegen Westen und die Saale gegen Osten“.31 Diese Linien sollten wirkmächtige landeskundliche Populisatoren des Thüringen-Bildes in der Mitte des 19. Jahrhunderts weiterverfolgen. Der Schriftsteller und Archivar Ludwig Bechstein, der mit seinen Sagensammlungen und Reisebzw. Landesbeschreibungen in der bürgerlichen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts viel dazu beigetragen hat, dem Raum Thüringen „Kontur“, „Kohärenz“ und „Komplexität“ zu verleihen,32 schrieb 1843 in seiner schon ganz von der Unruhe des Vormärz geprägten landeskundlich-politischen Mono­graphie „Thüringen in der Gegenwart“, die Werra sei am „allergeeignetesten die imaginäre West- und theilweise Südgrenze Thüringens“ abzugeben.33 Der Frankenwald, den 50 Jahre später Fritz Regel aufgrund seiner geomorphologischen Verbindung mit dem Thüringer Wald Thüringen zuschlagen sollte, gehörte für Bechstein nicht dazu, wohl aber war auch ihm die Saale die Ostgrenze des thü30 [Karl Ernst Adolf von Hoff ], Geographisch-statistischer Abriß der Länder des Hauses Sachsen Ernestinischer Linie. Aus dem zwanzigsten Bande der neuesten Länder- und Völkerkunde besonders abgedruckt, Weimar 1819, S. 18. 31 August von Wersebe, Über die Vertheilung Thüringens zwischen den alten Sachsen und Franken. Zugleich eine Revision der ältesten Geschichte und Diöcesanverfassung von Thüringen, erste Hälfte, Hamburg 1834, S. 1. 32 Zu Bechstein vgl. u. a. Hennebergisches Museum Kloster Vessra (Hg.), Ludwig Bechstein. Dichter, Sammler, Forscher, Festschrift zum 200. Geburtstag, 2 Bde., Kloster Veßra/ Meiningen/Münnerstadt 2001; Hanns-Peter Mederer, Stoffe aus Mythen. Ludwig Bechstein als Kulturhistoriker, Novellist und Romanautor, Wiesbaden 2002. 33 Ludwig Bechstein, Thüringen in der Gegenwart, Gotha 1843, S. 9.

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ringischen Kernraumes. Auch die nördlich-nordöstliche Kontur zog Beschstein in überlieferter Weise: Merseburg und Querfurt waren in seiner Perspektive unbestreitbar thüringisch; „Halle ist mit Eisleben immer noch in historischer und geistiger Beziehung Thüringen zuzuzählen.“34 Ähnlich konturierte der vielgelesene Pfarrer, Heimatforscher und Schriftsteller Heinrich Schwerdt 1859 in seinem „Album des Thüringerwaldes“ das Land, dabei die kennzeichnenden zeitgenössischen Bezüge sowohl zur fernen Vergangenheit des Thüringerreiches als auch zur politischen Gegenwart des Deutschen Bundes und zu den sächsischen Herzogtümern herstellend (Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, dem das Buch gewidmet ist, gehörte zu Schwerdts Förderern): „Thüringerland! Vergebens suchen wir dich auf den Karten der deutschen Bundesstaaten, vergebens in den geographischen Hand- und Lehrbüchern der Gegenwart. Noch immer streiten sich die Alterthumsforscher, deine fabelhaften Grenzen festzustellen, und schränken solche bald auf den anmuthigen Landstrich ein, der, fast mitten im Herzen des deutschen Vaterlandes, den größten Theil der sächsischen Herzogthümer umfaßt; bald dehnen sie dieselben bis zur Elbe, bis zum Rhein und bis zur Donau aus. Wenn aber auch das Thüringerreich seit länger denn dreizehnhundert Jahren zerfallen und zerstückelt ist, Thüringen’s Name lebt im Munde des Volkes fort und haftet unvertilgbar an dem buntfarbigen Ländercomplex, der zwischen Saale und Werra, zwischen Harz und Fichtelgebirge lagert.“35 Ähnlich grenzte er das Land 1866 in seinem neuen Reisehandbuch ab, die Nordgrenze präziser durch die Städte Nordhausen, Sangerhausen, Eisleben und Halle begrenzend und zum Volk, in dessen Munde der Name Thüringen lebe, nun bezeichnenderweise auch noch den Mund der „Touristen“ hinzufügend.36 „Für die Schüler“ Thüringens, so der Volksschullehrer Joseph Herrtwich 1851 in seiner „Thüringischen Heimathskunde“ für Volksschulen, genüge es aber, das – wie nun schon an vielen Beispielen gesehen – seit Jahrhunderten tradierte, auf die Traditionslinien des Kernraumes des Thüringerreiches und der mittelalterlichen Landgrafschaft gestützte, zugleich als „natürlich“ wahrgenommene Raumbild reproduzieren zu können: „Thüringens Grenzen sind nach der Natur: westlich die Werra, nördlich die Thalsohle der goldenen Aue, östlich die Saale und südlich der Rennsteig.“37 34 Ebd., S. 13. 35 Heinrich Schwerdt, Album des Thüringerwaldes. Zum Geleit und zur Erinnerung, Leipzig [1859], S. 1. 36 Ders./Ziegler, Reisehandbuch (wie Anm. 26), S. 3. 37 Joseph Herrtwich, Thüringische Heimathskunde. Ein Handbuch für unsere Volksschulen. Mit einer colorirten Karte von Thüringen, Erfurt 1851, S. 234.

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Freilich wurden auch bei Schwerdt und Bechstein, wie bei vielen anderen landeskundlichen Publizisten neben dem seit der Frühen Neuzeit unbestrittenen Kernraum auch Peripherien Thüringens deutlich, bei denen die Zuordnung umstritten und zweifelhaft blieb. Im Nordwesten des Raumes betraf dies vor allem das Eichsfeld. Der niederdeutsch geprägte, konfessionell divergierende, weil seit der Rekatholisierung ab dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts wieder katholische Landstrich sei, so Bechstein „kaum noch zu Thüringen“ zu rechnen.38 Das entsprach einem breiten Wahrnehmungsstrom im 18. und 19. Jahrhundert, der das Eichsfeld als „von Hessen, Thürigen und den Fürstentümern Grubenhagen und Calenberg umgeben“39 oder als „Land zwischen Hessen, Thüringen u[nd] Braunschweig“40 definierte. Andere – wie gesehen z. B. Fritz Regel – nahmen das Eichsfeld explizit in die Kontur Thüringens hinein oder betrachteten es zumindest implizit als Thüringen, wie etwa der preußische Statistiker Otto Beck, der in seiner Studie zum Eichsfeld und seinen Bewohnern 1857 anmerkte, das „Kuchenbacken“ sei auf dem Eichsfeld so gebräuchlich „wie in ganz Thüringen“.41 Ähnlich verhielt es sich an der südlichen und der östlichen Peripherie des in der landeskundlichen Literatur konturierten Thüringens. Die Mehrzahl der Landeskunden des 19. Jahrhunderts folgte dem Beispiel Georg Brückners, der die „Hauptmasse“ des von ihm landeskundlich erfassten Herzogtums Sachsen-Meiningen dem „Frankenland“ zurechnete; „das Uebrige gehört zu Thüringen“.42 Auch die schon zitierte Heimatkunde von Joseph Herrtwich definierte Sachsen-Meiningen im Süden und Sachsen-Altenburg im Osten als an Thüringen „angrenzende“ Staaten; von Sachsen-Meiningen rechnete Herrtwich nur die meiningischen Exklaven Camburg und Kranichfeld, von Sachsen-Altenburg nur die Ämter Kahla und Orlamünde zu Thüringen.43 Schon Bechstein hatte 1837/38 nur den „Theil, welcher durch die reussische Herrschaft Gera vom Mutterlande getrennt ist, zu Thüringen gerechnet“44 – 38 Bechstein, Thüringen in der Gegenwart (wie Anm. 33), S. 17. 39 Anton Friedrich Büsching, Neue Erdbeschreibung. Dritter Theil, welcher das deutsche Reich nach seiner gegenwärtigen Staatsverfassung enthält, Hamburg 21758, S. 864. 40 H[einrich] A[ugust] Pierer (Hg.), Universal-Lexikon oder vollständiges encyklopädisches Wörterbuch, 6. Bd., Altenburg 1835, S. 637. 41 Otto Beck, Das Eichsfeld und seine Bewohner, in: Archiv für Landeskunde der Preußischen Monarchie, 3. Bd., Berlin 1857, S. 114–246, hier S. 141. 42 Georg Brückner, Landeskunde des Herzogthums Meiningen. T. 1: Die allgemeinen Verhältnisse des Landes, Meiningen 1851, S. 121. 43 Herrtwich, Thüringische Heimathskunde (wie Anm. 37), S. 244 u. 246. 44 Ludwig Bechstein, Wanderungen durch Thüringen, Leipzig [1837/38], S. 17.

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also den „Westkreis“ des seit 1826 in dieser Form existierenden Herzogtums Sachsen-Altenburg. Die reußischen Herrschaften bzw. Fürstentümer im Südosten, die, so Bechstein, „von vielen noch ganz zu Thüringen gerechnet“ würden, wurden in ihrer regionalen Zugehörigkeit dessen ungeachtet oft über ein Regions- und Raumkonzept definiert, dass jenseits der Kontur eines „Thüringen“ lag: Der aus Gleina bei Köstritz in Reuß-Gera stammende Buchhändler und landeskundliche Schriftsteller Carl Vocke schrieb 1852 in seiner reußischen „Vaterlandskunde“, die Fürstentümer lägen „so ziemlich in der Mitte Deutschlands“ und bildeten „einen Theil des ehemals von Voigten und Grafen besessenen gesammten Voigtlandes“.45 Von Thüringen war hier ebenso wenig die Rede wie zu Beginn der „Volks- und Landeskunde“ des Fürstentums Reuß jüngerer Linie, die Georg Brückner 1870 publizierte. Auch hier wurde die „Natur des Landes“ unter Verweis auf das Vogtland bestimmt: „Das reußische Land, im Osten von Mitteldeutschland auf einem nördlichen Seitengliede des hercynischen Gebirgszugs erbaut, bildet den centralen, erhabensten Theil des alten voigtländischen Völkerquartiers.“46 Fast allen landeskundlichen Publizisten nach 1815, besonders in den Jahren des Vormärz und der Reichsgründungsphase, war ungeachtet solcher Differenzierungen gemeinsam, dass sie die Beschäftigung mit der Landeskunde eines thüringischen Einzelstaates und die fast immer damit verbundene Konturierung Thüringens nicht als einen Akt des „Partikularismus“ verstanden wissen wollten. Von der einzelstaatlichen Loyalität sollte der Weg vielmehr über „Thüringen“ nach „Deutschland“ führen. Konstantin Cronfeld betonte 1861 in seiner „Heimathskunde von Thüringen“, dass „unter allen Ländern […] für uns unbestritten das deutsche Vaterland die meiste Aufmerksamkeit“ verdiene „und in demselben wieder der Theil, den wir unsere Heimath nennen. Für uns Thüringer ist es klar genug, daß keiner unter Heimath blos den kleinen Staat zu verstehen habe, in welchem er seinen Herd gegründet, sondern daß unter dem Worte ganz Thüringen, welches von der Natur zu einem Ganzen geschaffen ist und das in früherer Zeit auch einen einzigen Staat bildete, verstanden werden muß“.47 Die Konturierung des Landes erschien als notwendiger Schritt hin auf die „föderative Nation“, die Deutschland in den Augen dieser Publizistik war 45 Carl Vocke, Vaterlandskunde der Fürstlich reußischen Länder, Nordhausen 1852, S. 16. 46 Georg Brückner, Volks- und Landeskunde des Fürstenthums Reuß j. L. Im Auftr. des regierenden Landesfürsten verf., T. 1: Allgemeine Landeskunde des Fürstenthums Reuß j. L., Gera 1870, S. 3. 47 J[ulius] K[onstantin] Cronfeld, Heimathskunde von Thüringen und dessen nächster Umgebung. Für Schule und Haus bearbeitet, Jena 1861, S. III.

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und staatlich werden musste. Aller Spott über „provinzielle Sympathien“, so Bechstein 1843, vergesse, „daß jede deutsche Provinz ein Theil und Glied des Körpers Deutschland ist, daß in jeder einzelnen dieselbe Kraft lebendig sein muß, die das Ganze beseelt“.48 Damit scheint die spezifische Form der Politisierung auf, die die landeskundliche Publizistik Thüringens im 19. Jahrhundert mit ihrer Verknüpfung von „engerer Heimat“ (und damit zumeist durchaus gegebener einzelstaatlich-­ dynastischer Loyalität), der Konturierung Thüringens als „weitere Heimat“ und der Orientierung auf Deutschland als Vaterland zeigte, in das diese Heimaten „organisch“ eingebettet waren. Landeskunde mit ihrer Schaffung von Landesidentitäten war in Thüringen, das seit Jahrhunderten keine staatlich-­ territoriale Einheit bildete und auch (wie etwa das neue Königreich Württemberg mit dem altwürttembergischen Herzogtum) keinen primären Kern besaß, an den sich andere Landes- und Regionalidentitäten anlagern mussten, von Beginn an nicht auf Abgrenzung, sondern auf Einbindung des zu schaffenden Landes ausgerichtet: Weimar, Gotha oder Meiningen – Thüringen – Deutschland erschien als eine „natürliche“ Trias. Politisch bedeutete das, dass ein zu schaffender thüringischer Staat nicht vorrangig als ein souveränitätsbewusster Mittelstaat gedacht wurde, wie die neuen Staaten des deutschen Südens und Südwestens, sondern als Gliedstaat einer „föderativen Nation“. Das allerdings sind Aspekte, die nicht allein unter der Frage nach der „Kontur“ Thüringens untersucht werden können, die hier gleichsam isoliert betrachtet wurde. Sie muss in der Erforschung der landeskundlichen Publizistik des 19.  Jahrhunderts in eine Zusammenschau mit den Aspekten der „Kohärenz“ und der „Komplexität“ des Raumes Thüringen gebracht werden – eine Synthese, die den Rahmen dieses Essays bei weitem gesprengt hätte. Die Fragen müssen dann lauten: Wie wurden in den Landeskunden des 19. Jahrhunderts den Menschen und ihrem „Land“, welche über die Eingrenzung des Raumes, über Ethnizität, Herkunft und Herkunftszuschreibungen als „thüringisch“ definiert worden waren, bestimmte spezifische Eigenschaften zugeschrieben? Wie wurde so eine Verbindung zwischen Natur- und Siedlungsraum einerseits und körperlichen, mentalen und intellektuellen Dispositionen ihrer Bewohner andererseits hergestellt und „Thüringen“ damit Kohärenz und Komplexität verliehen? Wie wurden auf diesem Wege Identitätsbestimmungen vorgenommen, die sich in Beziehung zu anderen Identitäten, im 19. Jahrhundert vor allem natürlich der Identität als Deutscher bzw. nach 1871 der nationalstaatli48 Bechstein, Thüringen in der Gegenwart (wie Anm. 33), S. 2.

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chen Identität setzen mussten? Welche Rolle spielte die fortgesetzte Arbeit an einer „thüringischen“ Geschichte? Die Landeskunden und die Reiseliteratur, die ab den Vormärzjahren die Bilder von Thüringen als dem „Herzen Deutschlands“ und die romantische Zuschreibung eines bieder und im positiven Sinne altväterlich gebliebenen Thüringervolkes in herrlicher Natur transportierten, bieten auch dafür reiches Anschauungs- und Untersuchungsmaterial – ein historisches und volkskundliches Forschungsangebot, das in Zukunft hoffentlich stärker als bisher aufgegriffen werden wird.

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Literatur Das Literaturverzeichnis ist nicht auf bibliographische Vollständigkeit hin ausgelegt, sondern will eine repräsentative Auswahl der Landeschronistik, Landes- und Heimatkunden zu Thüringen zwischen dem ausgehenden 16. und dem frühen 20. Jahrhundert bieten, die für diesen Beitrag ausgewertet wurden. Alte und Neue Thüringische Chronicka Oder curieuse Beschreibung Der vornehmsten Städte, Residentzen, Dörffer, Clöster, Märckte und Flüsse In der Landgraffschafft Thüringen, Samt allen vorgefallenen Friedens- und Kriegs-Begebenheiten, Wasser- und Feuer-­Schäden, Contagion, &c. Nach dem Alphabeth und Jahren eingerichtet / und auf Verlangen zum Druck befördert, Frankfurt am Main/Leipzig 1715. Alte und Neue Thüringische Chronicka Oder curieuse Beschreibung Der vornehmsten Städte, Residentzen, Dörffer, Clöster, Märckte und Flüsse In der Landgrafschafft Thüringen, Samt allen vorgefallenen Friedens- und Kriegs-Begebenheiten, Wasser- und Feuer-­ Schäden, Contagion, &c. Nach dem Alphabeth und Jahren eingerichtet, und auf Verlangen anietzo vermehrter zum Druck befördert, Frankfurt am Main/Leipzig/Arnstadt 1725. H[einrich] F[riedrich] T[heodor] Apfelstedt, Heimathskunde für die Bewohner des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen, Heft 1: Geographie der Unterherrschaft, Sondershausen 1854. Ders., Heimathskunde für die Bewohner des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen, Heft 2: Geographie der Oberherrschaft, Sondershausen 1856. Ders., Heimathskunde für die Bewohner des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen, Heft 3: Geschichte des Fürstlich-Schwarzburgischen Hauses, Sondershausen 1856. Ders., Heimathskunde für die Bewohner des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen. Ergänzungen und Nachträge zu der Stammtafel des kevernburg-schwarzburgischen Hauses als Supplement zum 3. Teile der Heimatskunde: Geschichte des Fürstlich-Schwarzburgischen Hauses, Sondershausen 1883. Johann Bangen, Thüringische Chronick oder Geschichtbuch / Von allerhand denckwürdigen Sachen, Thaten und Händeln / so sich fürnemlich in Thüringer Landschafft und dessen angräntzenden so wol auch andern weit abgelegenen örten, von dero Welt anfang biß auff gegenwertige Zeit / und das nochwehrende Neun und Neunzigste Jahr/ begeben und zugetragen / Anfenglich auss einem alten geschriebenen zuvorn nie mehr publicirten Exemplar colligirt und zusamen getragen, und ferner durch weiland Ern Friderichen Schmidt Pfarherrn zu Grossen Beringen revidirt und vermehret […], Mühlhausen 1599.

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Johann Becherer, Newe Thüringische Chronica. Das ist: Historische Beschreibung/ aller ihrer Könige/ Hertzogen/ Fürsten/ Graffen und Stätte Ankunfft/ Veränderung der Religion/ und Weltlichen Regierung: Auch gedenckwirdige Sachen der Thüringischen Kriege/ Empörung/ Heerfahrten/ Schlachten/ Belägerung und Eroberung der Stätte und Festungen. Mit angeheffter warhaffter Genealogi und Stam[m]lini/ der fürnembsten Keyser und Königlichen Geschlechter/ auch Churfürstlicher Häuser […], Mühlhausen 1601. Ludwig Bechstein, Thüringen in der Gegenwart, Gotha 1843. August Beck, Geschichte des gothaischen Landes. Bd. 1: Geschichte der Regenten des gothaischen Landes, Gotha 1868. Ders., Geschichte des gothaischen Landes. Bd. 2: Geschichte der Stadt Gotha, Gotha 1870. Ders., Geschichte des gothaischen Landes. Bd. 3: Geschichte der gothaischen Landstädte, Marktflecken und Dörfer in alphabetischer Ordnung. T. 1, Gotha 1875. Ders., Geschichte des gothaischen Landes. Bd. 3: Geschichte der gothaischen Landstädte, Marktflecken und Dörfer in alphabetischer Ordnung. T. 2, Gotha 1876. Georg Brückner, Landeskunde des Herzogthums Meiningen. T. 1: Die allgemeinen Verhältnisse des Landes, Meiningen 1851. Ders., Landeskunde des Herzogthums Meiningen. T. 2: Die Topographie des Landes, Meiningen 1853. Ders., Volks- und Landeskunde des Fürstenthums Reuß j. L. Im Auftr. des regierenden Landesfürsten verf., T. 1: Allgemeine Landeskunde des Fürstenthums Reuß j. L., Gera 1870. Ders., Landes- und Volkskunde des Fürstenthums Reuß j. L. Im Auftr. des regierenden Landesfürsten verf., T. 2: Ortskunde des Fürstenthums Reuß j. L., Gera 1870. J[ulius] K[onstantin] Cronfeld, Heimathskunde von Thüringen und dessen nächster Umgebung. Für Schule und Haus bearbeitet, Jena 1861. Ders., Landeskunde des Großherzogthums Sachsen-Weimar-Eisenach, T. 1: Thüringisch-Sachsen-Weimarische Geschichte, Weimar 1878. Ders., Landeskunde des Großherzogthums Sachsen-Weimar-Eisenach, T. 2: Topographie des Landes, Weimar 1879. Johann Heinrich von Falckenstein, Johann Heinrichs von Falckenstein, Hoch-Fürstl. Brandenburg-Anspachischen Hof-Raths, und d. Z. dieses Hochfürstl. Hauses Residenten in Erffurth wie auch der Königl. Preußischen Societät der Wissenschaften Mitglieds Thüringische Chronicka, Oder vollständige Alt- Mittel- und Neue Historie von Thüringen, 2 Bücher in 3 Bd., Erfurt 1738. E[duard] Graf, Heimatskunde von Thüringen. Für den Schulgebrauch, Langensalza 1899. W. Günther, Heimatkunde und Landeskunde von Thüringen für die Schulen von Gera und Umgebung, Gera 21906.

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Joseph Herrtwich, Thüringische Heimathskunde. Ein Handbuch für unsere Volksschulen. Mit einer colorirten Karte von Thüringen, Erfurt 1851. Ernst Kaiser, Landeskunde von Thüringen, hg. im Auftrag der Akademie Gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Erfurt 1933. Gustav Kalb, Heimatkunde von Thüringen, Leipzig/Berlin [31908]. J[ulius] Löbe/E[rnst Conon] Löbe, Geschichte der Kirchen und Schulen des Herzogthums Sachsen-Altenburg. Mit besonderer Berücksichtigung der Ortsgeschichte, Bd. 1: Enthaltend Allgemeines und die Stadt- und Landephorie Altenburg, Altenburg 1886. Dies., Geschichte der Kirchen und Schulen des Herzogthums Sachsen-Altenburg. Mit besonderer Berücksichtigung der Ortsgeschichte, Bd. 2: Enthaltend die Stadt- und Land­ ephorien Schmölln und Ronneburg, Altenburg 1887. Dies., Geschichte der Kirchen und Schulen des Herzogthums Sachsen-Altenburg. Mit besonderer Berücksichtigung der Ortsgeschichte, Bd. 3: Enthaltend die Ephorien des Westkreises, Altenburg 1891. Fritz Regel, Landeskunde von Thüringen. Zunächst zur Ergänzung der Ausgaben A und B der Schulgeographie von E. von Seydlitz, Leipzig/Breslau 1890. Ders., Thüringen. Ein geographisches Handbuch, T. 1: Das Land. 1. Grenzen. 2. Bodengestalt und Gewässer. 3. Schichtenaufbau und Entstehungsgeschichte. 4. Klima, Jena 1892. Ders., Thüringen. Ein geographisches Handbuch, T. 2: Biogeographie, Buch 1: Pflanzenund Tierverbreitung, Jena 1894. Ders., Thüringen. Ein geographisches Handbuch, T. 2: Biogeographie, Buch 2: Die Bewohner, Jena 1895. Ders., Thüringen. Ein geographisches Handbuch, T. 3: Kulturgeographie. 1. Die Bodenbenutzung. 2. Die Förderung der nutzbaren Mineralien und Gesteine. 3. Gewerbe und Industrie. 4. Handel und Verkehr. 5. Bevölkerungsverteilung und Siedelungsverhältnisse. 6. Geistige Kultur und staatliche Einrichtungen, Jena 1896. Ders., Thüringen. Ein landeskundlicher Grundriß, Jena 1897. Zacharias Rivander, Düringische Chronica. Von Ursprung und Herkommen der Düringer / Auch allen jhren fürnembsten Geschichten und Thaten / so sich mit jhnen / vor und nach Christi Geburt / biß auff diese unsere zeit / begeben und zugetragen haben […], [Frankfurt am Main] 1581. Gustav Wilhelm Carl Schmidt, Kleine Landeskunde von Thüringen. Sächsisch-ernestinische, schwarzburgische und reußische Staaten. Nebst Abriß der Geographie von Deutschland, Leipzig 1863. Adolf Moritz Schulze, Heimathskunde für die Bewohner des Herzogthums Gotha, 3 Bde., Gotha 1845–1847.

Thüringen umgrenzen und verdichten 

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Berthold Sigismund, Landeskunde des Fürstenthums Schwarzburg-Rudolstadt. Mit Benutzung amtlicher Hilfsmittel. Im Auftr. der Fürstl. Staatsregierung bearb. T. 1: Allgemeine Landeskunde der Oberherrschaft, Rudolstadt 1862. Ders., Landeskunde des Fürstenthums Schwarzburg-Rudolstadt. Mit Benutzung amtlicher Hilfsmittel. Im Auftr. der Fürstl. Staatsregierung bearb. T. 2: Ortskunde der Oberherrschaft, Rudolstadt 1863. Carl Vocke, Vaterlandskunde der Fürstlich Reußischen Länder, Nordhausen 1852. Hermann Wettig, Kleine Heimatkunde von Thüringen für die Hand der Kinder in Bürgerund Volksschulen, Wittenberg 1888.

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Werner Greiling

Thüringenbezüge in der Thüringer Presse. Mit einem Anhang: Presse-Bibliographie „Thüringen“

1. Aus Thüringen in die Welt

Im Januar 1788 erblickte im thüringischen Schnepfenthal eine Wochenschrift das Licht der Lesewelt, die fortan als mustergültiges volksaufklärerisches Periodikum galt. Sie verband einen achtseitigen redaktionellen Teil mit einem Nachrichtenteil gleichen Umfangs. Lediglich in den ersten Nummern des Jahrgangs 1788 hatten noch die redaktionellen Texte überwogen. Das hohe Renommee erarbeitete sich der Herausgeber durch ein breites Spektrum gemeinnütziger Beiträge, die in unterhaltend-gefälliger Form dargebracht wurden. Basis des Erfolgs war aber auch die verständliche Volkssprache und nicht zuletzt die Verwendung des seit der Reformation bewährten dialogischen Prinzips bei der Kommunikation mit den Lesern. Nachdem in den ersten Ausgaben des Periodikums zunächst mit einem fiktiven Zwiegespräch zwischen dem wandernden Boten und einem Wirt auf den Nachrichtenteil übergeleitet wurde, haben sich der redaktionelle Teil und der Nachrichtenteil wenig später verselbständigt. Ziel war es, „nicht nur den Lesern durch Zeitungsnachrichten die wichtigsten Neuigkeiten, die auf unserer Erde sich zutragen, zu melden, sondern ihnen auch guten Rat zu geben, wie sie sich vor Krankheiten verwahren, ihre Kinder gut ziehen, eine vergnügte Ehe führen, vor Zank und Proceß sicher seyn, und überhaupt in ihren Hütten ein frohes Leben führen können.“1 Die Zeitungsnachrichten seien beigefügt, „weil sie viele Leser, besonders in Thüringen, wünschten“.2 Der Herausgeber der Wochenschrift war Christian Gotthilf Salzmann. Der Pädagoge stieg alsbald in den Rang eines hoch angesehenen volksaufklärerischen Schriftstellers auf. Gemeinsam mit Rudolph Zacharias Becker in Gotha sorgte er dafür, dass das Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg schon bald zu einem Zentrum der deutschen Volksaufklärung avancierte. Ihre Schriften 1 Der Bote aus Thüringen, 1 (1788), 51. Stück, S. 810. 2 Ebd., 26. Stück, S. 416.

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galten als vorbildhaft und wirkten weit über die Grenzen Thüringens hinaus. Diese Absicht hatte Salzmann auch mit seiner Wochenschrift verknüpft, die die Figur des wandernden Boten, der mit diversen Neuigkeiten durchs Land zog, auch im Titel mitführte. Die „Landmarke“, die der Herausgeber für die geographische Herkunft seines Austrägers wählte, war jedoch weder Schnepfenthal noch das Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg. Salzmanns Wochenschrift wanderte als „Der Bote aus Thüringen“ von Ort zu Ort. Salzmann ging offensichtlich davon aus, dass es für diese Bezeichnung auch bei dem von ihm anvisierten bildungsfernen Publikum in den anderen Gegenden Deutschlands klare Vorstellungen gab.

Abb. 1: Der Bote aus Thüringen, Titelblatt der ersten Ausgabe, 1788

„Der Bote aus Thüringen“ erschien von 1788 bis 1816 in der von Salzmann gegründeten „Buchhandlung der Erziehungsanstalt“. Bis zu seinem Tod 1811 verfasste der Herausgeber die Mehrzahl der Beiträge selbst. Als Mitarbeiter waren auch Lehrer seiner Schule tätig, unter ihnen Johann Christoph Ludwig Alberti, Johann Matthäus Bechstein, Johann Christoph Friedrich GutsMuths

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und Johann Wilhelm Ausfeld, der nach Salzmanns Ableben die Leitung der Redaktion übernahm. Im Jahre 1803 erreichte „Der Bote aus Thüringen“ mit mindestens 745 Jahresabonnenten und rund 39.000 verkauften Einzelstücken seinen verlegerischen Höhepunkt.3 Danach ging die Auflage allmählich wieder zurück. Das Verbreitungsgebiet umfasste das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, reichte aber auch bis nach Straßburg, Zürich, Kopenhagen und Petersburg. Einer wirklich aktuellen politischen Information stand der lediglich wöchentliche Erscheinungsrhythmus des „Boten aus Thüringen“ entgegen. Zudem konnte Salzmann kein eigenes Korrespondentennetz unterhalten, sondern entnahm die Meldungen meist überregionalen Zeitungen, die er für den „Boten“ nochmals redigierte. Dennoch vermittelte das Journal seinen Lesern wichtige Nachrichten aus Deutschland und einer Reihe anderer europäischer Staaten. Meldungen aus Thüringen waren ebenfalls enthalten, spielten aber keine zentrale Rolle.

2. Periodika aus Thüringen

„Der Bote aus Thüringen“ kann zweifellos als ein literarisch besonders ambitioniertes und ausgesprochen langlebiges Periodikum der Volksaufklärung gelten. Er ist ein prominentes Beispiel für jene Periodika, die in Thüringen herauskamen und bereits im Titel einen Bezug auf die Region ihres Erscheinens nahmen, ohne damit das eigene Verbreitungsgebiet von vornherein einschränken zu wollen. Bei anderen Blättern diente der Begriff „Thüringen“ oder „thüringisch“ mitunter auch dazu, das ins Auge gefasste Verbreitungsgebiet zu umreißen oder die anvisierten Leser zu benennen, die Thüringer. Der Thüringen­bezug konnte also durchaus unterschiedlich akzentuiert sein und unterschiedliche Funktionen besitzen. Zudem war er im Titel der Periodika auch unterschiedlich platziert. Bei Durchsicht einschlägiger Bibliographien und Bibliothekskataloge konnten vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis in die frühen 1930er Jahre 144 Periodika ermittelt werden, die im Haupt- oder im Untertitel das Wort „Thüringen“ oder das Attribut „Thüringer“ bzw. „thüringisch“ führen. Während „Der Bote aus Thüringen“ zu den frühen Beispielen 3 Vgl. Roswitha Grosse, Christian Gotthilf Salzmanns „Der Bote aus Thüringen“, Schnepfenthal 1788–1816. Eine Zeitschrift der deutschen literarischen Volksaufklärung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989, S. 49–62.

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zählt, markiert „Das Thüringer Fähnlein“ (1932–1934) aus Jena das Ende des Betrachtungszeitraums. Eine markante Verdichtung derartiger Presseerzeugnisse gab es im revolutionären Doppeljahr 1848/49. Allerdings wird in jenen Blättern, die einen Bezug auf Thüringen im Titel führen, nicht in jedem Fall auch über diese Region – den Naturraum, den Siedlungsraum, ein Herrschafts- bzw. Verwaltungsgebiet oder den Kulturraum  – reflektiert. Während der Revolution, in der neben vielen anderen Fragen auch die Zukunft der thüringischen Kleinstaatenwelt zur Debatte stand, wurde vergleichsweise häufig und intensiv Bezug auf Thüringen genommen. In manchen Blättern geschah dies aber eher am Rande und kursorisch. Und nicht selten kommt es auch vor, dass sich überhaupt keine Belege finden lassen, obwohl „Thüringen“, „Thüringer“ oder „thüringisch“ im Titel geführt werden. Eine Systematisierung von Periodika ist nach inhaltlichen oder formalen Kriterien möglich. In einer noch immer einschlägigen Bibliographie gliedert Joachim Kirchner die Zeitschriften nach ihrem thematischen Profil in mehr als 20 Rubriken.4 Wenn man die Gattungszuordnung – Zeitschrift oder Zeitung – vernachlässigt, den Filter weiter fasst, dennoch in erster Linie thematische Merkmale heranzieht und dabei auch einen gewissen Pragmatismus walten lässt, lassen sich für das vorliegende Korpus fünf Rubriken bilden. In ihnen ist die Gesamtheit von 144 Blättern folgendermaßen verteilt: 1. Anzeigen, Belehrung, Berichterstattung, Information, Politik, Unterhaltung 89 22 2. Kirche, Pädagogik, Schule, Wissenschaft 27 3. Gewerbe, Landwirtschaft, Naturkunde, Technik 4. Medizin 2 5. Polizei, Rechtspflege 4 Bei einigen Zeitschriften und Zeitungen weisen die Titel einen attributiven und damit deutlich identitätsstiftenden Bezug auf.5 Dies gilt beispielsweise für die „Gnädigst privilegierte thueringische Vaterlands-Kunde“ (Erfurt), für ein „Thüringisches Magazin zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse und zur Unterhaltung“ (Frankenhausen), für die „Allgemeine thüringische Vaterlands4 Vgl. Joachim Kirchner, Die Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes von den Anfängen bis 1830. Mit einem Titelregister von Edith Chorherr, Stuttgart 1969. 5 Die vollständigen bibliographischen Angaben samt Erscheinungsjahren befinden sich im Anhang.

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kunde. Wochenschrift für Geschichte Thüringens“ (Erfurt), für „Thüringens Merkwürdigkeiten aus dem Gebiete der Natur, der Kunst, des Menschenlebens ec.“ (Arnstadt), für das Blatt „Der Thüringer Volksfreund“ (Jena), für die „Weimarische Zeitung. Thüringer Anzeiger“ (Weimar) oder auch für die „Thuringia. Zeitschrift zur Kunde des Vaterlandes“ (Arnstadt). Ähnliche Formulierungen wählten „Der Thüringer Bote“ (Gotha), die „Thüringer Eisenbahn“ (Apolda), das „Thüringer Kirchenblatt“ (Jena), die „Thüringer Narhalla“ (Naumburg), die „Thüringer Reform“ (Arnstadt), der „Thüringer Schulbote“ (Sondershausen), „Der Thüringer Volksfreund“ (Rudolstadt), die „Thüringer Volkshalle“ (Arnstadt), der „Thüringer Volkstribun“ (Jena) oder auch die „Thüringische illustrirte Zeitschrift“ (Rudolstadt). Bei einigen anderen Periodika verweist der Terminus eher auf das Verbreitungsgebiet und auf die ins Visier genommene Leserschaft, etwa beim „Eckartsbergaer Kreisblatt. Ein Volksblatt für Thüringen“ (Eckartsberga), beim „Generalanzeiger für Thüringen“ (Erfurt), bei der „Neue[n] Erfurter Zeitung für Thüringen“ (Erfurt), bei dem Blatt „Der Stadt- und Landbote für Thüringen“ (Weimar) oder auch beim „Generalanzeiger für Thüringen“ (Erfurt). Und auch das Phänomen eines gleichsam doppelten Identitätsbezugs lässt sich finden. Während Christian Gotthilf Salzmann 1788 seine Wochenschrift gewissermaßen personifiziert und den Informanten, einen nachrichtenübermittelnden Boten, in den Titel gesetzt hatte, der sich von Thüringen aus auf den Weg zu seinen Adressaten machte, wählte Friedrich Frommann 60 Jahre später eine ähnliche, aber dennoch modifizierte Konstellation. Der Jenaer Verleger nannte sein zweimal pro Woche erscheinendes Periodikum schlicht „Blätter“, die er von Thüringen aus in die Welt sandte. Und er verlieh ihnen zudem ein Attribut, das auf einen zentralen Diskurs des Revolutionsjahres rekurrierte, die nationale Frage: „Deutsche Blätter aus Thüringen“ (Jena).

3. Thüringen-Bezug und Thüringen-Begriff

Dass die Mehrzahl derartiger Periodika keine Erläuterung zum selbst gewählten Titel mit einem Thüringenbezug bietet, wurde bereits erwähnt. In vielen von ihnen werden auch keinerlei Erörterungen zum Thüringen-Begriff angestellt. In einigen dieser Presseerzeugnisse gibt es Derartiges aber doch, und zwar nicht selten dort, wo es nicht gerade naheliegend erscheint. Dies gilt beispielsweise für das „Correspondenzblatt des botanischen Vereins ‚Irmischia‘ für das nördliche Thüringen“ aus Sondershausen, wo bereits im Vorwort der ersten

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Ausgabe Betrachtungen über das Territorium angestellt werden, das von den Vereinsmitgliedern bearbeitet werden soll. Einige Botaniker wollten es nicht – wie zunächst intendiert – auf das nördliche Thüringen begrenzt, sondern auf „ganz“ Thüringen ausgedehnt wissen. Die Redakteure der Zeitschrift plädierten deshalb für eine pragmatische Lösung, die sich an der konkreten Tätigkeit der Mitglieder ausrichtet, räumten aber auch ein, dass „der Begriff ‚Thüringen‘ schon an sich nicht leicht definierbar“ sei.6 Auch im „Wochenblatt für Strafrechtspflege in Thüringen“ wird bereits im Vorwort auf die Problematik rekurriert.7 Und Ähnliches gilt für die „Thüringer Warte“, in der eine solche Bezugnahme gleich mehrmals erfolgt (Abb. 2). Thüringen gilt der Monatsschrift als „das liebliche Ländchen im Herzen des deutschen Vaterlandes“, das „eine durch Merksteine in der Weltgeschichte ausgezeichnete Landesgeschichte“ besitzt, in dessen Residenzen und Städten „die historisch gewordene Liebe zu Kunst und Wissenschaft“ blüht und wo „eine Reihe hervorragender Gelehrter und Künstler“ wirkt.8 Im Folgenden sollen einige Schlaglichter auf mehrere Periodika geworfen und einige Facetten der dort geführten Diskurse aufgegriffen werden. Zu ihnen zählt „Der Thüringer Volksfreund. Eine Wochenschrift zunächst für Thüringen, das Osterland und Voigtland“, der von 1829 bis 1831 bei Friedrich Frommann in Jena erschien und von Karl Herzog redigiert wurde. In der Probenummer, die bereits am 15. November 1828 herauskam, wird das Programm des Periodikums entfaltet. Von den sechs inhaltlichen Rubriken, die vorgesehen sind, widmet sich die zweite den „Nachrichten aus Thüringen und den benachbarten Gebieten“. Nun stellt dies selbstverständlich keinerlei Definition, sondern lediglich eine publizistische Absichtserklärung dar. In einem Avertissement unter dem Titel „Freundlicher Gruß dem freundlichen Leser“ werden Redakteur und Herausgeber in der gleichen Ausgabe aber schon deutlicher: „Der Thüringer Volksfreund bittet zuerst, daß man ihm vorläufig aufs Wort glaube, er sei das, wofür er sich ausgibt: ein Freund des Volkes, aber des ganzen Volkes durch alle Stände hindurch vom Fürsten bis zum Bauern, und zwar zunächst des Thüringer Volkes, wie es im Herzen Deutschlands auf dem seit Jahrhunderten angestammten Boden unter verschiedenen Herren, aber durch 6 Vgl. Vorwort, in: Correspondenzblatt des botanischen Vereins „Irmischia“ für das nördliche Thüringen, Nr. 1 vom 1.01.1881, S. 1 f. 7 Vgl. Vorwort des Herausgebers, in: Wochenblatt für Strafrechtspflege in Thüringen, Nr. 1, 1851, S. 1–4. 8 Thüringer Warte. Monatsschrift für die geistigen, künstlerischen und wirtschaftlichen Interessen Thüringens. Hg. von Hans Haupt, Pößneck 1905, S. 46.

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Abb. 2: Thüringer Warte, Vorwort des Herausgebers, April 1908

geschichtliche Erinnerungen, Sitten, Mund- und Gemüthsart verbunden lebt und sich seines Lebens zu freuen sucht.“9 Der Freund des Thüringer Volkes versucht also, eben dieses auch zu benennen, wobei dessen soziale Differenzierung ebenso in den Blick genommen wird wie dessen Lebensraum im Herzen Deutschlands und jene Elemente, welche die Thüringer miteinander verbinden und deren Identität stiften: Geschichte und Erinnerung, Sitten, Sprache und Mentalität. In der Folge erläutert der Redakteur dann noch, an wen sich das Blatt wendet, nämlich an Geistliche und Schullehrer, Staatsdiener, Landwirte, Kaufleute, Fabrikanten, Künstler und Handwerker sowie an die Frauen und Töchter des Landes. Zweck des Thüringer Volksfreundes sei ein lebhafter und ersprießlicher Geistesverkehr unter seinen lieben Landsleuten.

9 Freundlicher Gruß dem freundlichen Leser!, in: Der Thüringer Volksfreund. Eine Wochenschrift zunächst für Thüringen, das Osterland und Voigtland, Probeblatt, 15.11.1828, S. 2.

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Ähnliche Statements findet man auch in anderen Blättern. In der „Thuringia. Zeitschrift zur Kunde des Vaterlandes“ wird Thüringen als „unser schönes Heimatland“ apostrophiert. Thüringen sei „das glückliche Plätzchen im Herzen Germaniens mit seinen großartigen Erinnerungen“ und einer „reiche[n] Fülle geistigen Lebens“ in Vergangenheit und Gegenwart.10 Für die Bewohner Thüringens werden in einer anderen Ausgabe der „Thuringia“ regelrechte Regionalstereotype konstruiert, was sich dann folgendermaßen liest: Der Thüringer sei „ein Menschenschlag, der ohne allen Zweifel zu den vorzüglichsten Deutschlands gehört. Groß, kräftig und stark an Körper, hell an Geist, weiß er sich auf vortreffliche Weise durch dieses Erdendasein zu bringen, ohne sich der Trägheit, Rohheit und einer erbärmlichen Frömmelei zu ergeben. So viel wir den Thüringer kennen, meinen wir, er wisse, recht eigentlich von dem Charakter seiner Umgebung getrieben, was es heiße: Bete und arbeite.“11 In der Folge werden zahlreiche Eigenschaften des Thüringers aufgezählt, zu denen nach Überzeugung des Verfassers seine Anstelligkeit und Brauchbarkeit, sein Sinn für Musik, sein gesunder Menschenverstand, sein humoristisches Wesen und seine Lachlust, aber auch Einfachheit und Reinlichkeit zählen. Ferner werden dem Thüringer Häuslichkeit, Freundlichkeit, Höflichkeit und Treue attestiert, aber auch Liebe zu den Freuden des Lebens und eine gewisse Anfälligkeit für den Aberglauben. Letzteres gelte vor allem für den weiblichen Teil der Bevölkerung. Nehme man die Charakterisierung der Deutschen durch Tacitus zum Maßstab, so passe sie „noch am meisten auf die Thüringer“.12

4. Ludwig Storchs „Der Thüringer Bote“

Der im westthüringischen Ruhla geborene Schriftsteller und Publizist Ludwig Storch begann 1842 sein Volksblatt „Der Thüringer Bote“ mit einem Gruß an das Vaterland, als das ihm nicht Sachsen-Gotha-Altenburg, wo das Periodikum verlegt wurde, sondern sein „herrliches Thüringen“ galt. Dies wird weder begründet noch näher definiert. Storch setzte beim Leser ein festes Thüringenbild voraus, zu dem er lediglich noch einige Assoziationen – „Thüringens schöne Flur“, Berge und Wälder, steinerne Zeugen der Geschichte sowie die Wartburg 10 Thuringia. Zeitschrift zur Kunde des Vaterlandes. Hg. von einem Verein vaterländischer Dichter und Schriftsteller, Nr. 1, 1841, S. 1. 11 Rudloff, Schilderung der Bewohner Thüringens, in: ebd., Nr. 5, 1841, S. 66 f., hier S. 66. 12 Ebd., S. 67.

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und Luther – beisteuert. Ziel des Blattes sei es, der alten Liebe zu Thüringen ein neues Band zu schlingen.13 Wenige Wochen später beschäftigte sich „Der Thüringer Bote“ ausführlich mit dem Werk „Deutschland und die Deutschen“ des Schriftstellers Eduard Beurmann. Das vierbändige Opus enthält eine größere Landeskunde Thüringens, die auszugsweise in mehreren Fortsetzungen nachgedruckt und mit kritischen Anmerkungen versehen wurde. „Es kann nicht anders als sehr interessant für uns Thüringer sein“, so Storch, „das Urtheil eines Deutschen aus einer anderen Provinz über unser Vaterland, über uns selbst, unsere Volkseigenthümlichkeiten, über unsere Physiognomie zu vernehmen und ohne Eitelkeit zu prüfen, in wie weit der Mann recht hat, wie weit nicht.“14 Korrigiert werden dann vor allem diverse historische Unrichtigkeiten in der Darstellung des aus Bremen gebürtigen Verfassers, während manches Urteil, etwa über die geringere geistige Gewandtheit der Thüringer im Vergleich mit Sachsen, unwidersprochen bleibt. Eine zweite Serie mit Auszügen aus Beurmanns Büchern wurde vom Herausgeber dann mit der Fußnote eingeleitet, dass er es den Lesern überlasse, „das vielfach Falsche in diesem Artikel selbst herauszufinden“.15 Und einige Monate später wurde Beurmann dann gar als „Aftergenius“ gescholten, dessen Urteile nunmehr von einem wahren Genius, der ebenfalls von außerhalb komme, richtiggestellt würden. Die Rede ist von Carl Julius Weber, in dessen Darstellung seiner Reise durch Deutschland „die Beschreibung Thüringens der lichteste Punkt“ sei. „Und warum sollte dieses nicht sein“, fügt der Redakteur an. „Thüringen ist schön durch seine Natur, besitzt gute, redliche, fröhliche, gescheute Einwohner, die sich redlich mühen, dem harten Boden ihre Nahrung abzuzwingen oder sinnig sich durch Kunstfleiß nähren.“16 Einen Höhepunkt im politischen Diskurs über Thüringen gab es freilich in der Revolution von 1848/49. Hier wurden entsprechende Entwürfe für eine 13 [Ludwig Storch], Gruß des Thüringer Boten an das Vaterland, in: Der Thüringer Bote. Ein Volksblatt, Nr. 1 vom 02.04.1842, S. 1 14 Eduard Beurmanns Urtheile über Thüringen, in: Der Thüringer Bote, Nr. 13 vom 30.04.1842, S. 50 f. Vgl. auch ebd., Nr. 14–19, 02.05., 04.05., 07.05., 09.05., 11.05. und 14.05.1842, S. 55–80. – Vgl. Eduard Beurmann, Deutschland und die Deutschen, 4 Bde., Altona 1840. 15 Ebd., Nr. 53 vom 01.08.1842, S. 236 f., hier S. 236. Vgl. auch ebd., Nr. 54–57, 03.08., 06.08., 08.08. und 10.08.1842, S. 241–255. 16 Carl Julius Weber über Thüringen, in: ebd., Nr. 112 vom 17.12.1842, S. 489–492, und Nr. 113 vom 19.12.1842, S. 493 f., hier S. 494. – Vgl. Carl Julius Weber, Deutschland, oder Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen, 4 Bde., Stuttgart 1826–1828.

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gemeinsame Gestaltung Thüringens entfaltet, beispielsweise in der eingangs erwähnten Zeitung „Deutsche Blätter aus Thüringen“. Bereits die Probenummer vom 16. Dezember 1848 enthält einen Verfassungsentwurf des vereinigten Thüringens, der sich zugleich als gewichtiger Beitrag zum Thüringendiskurs in der Mitte des 19. Jahrhunderts lesen lässt. Die Notwendigkeit eines näheren Zusammentretens und Zusammenwirkens der thüringischen Staaten wurde hierbei als gegeben vorausgesetzt. Erörtert wird also nicht das Ob, sondern das Wie eines ausführbaren Plans zur Organisierung einer solchen Vereinigung, den der Verfasser in 14 Punkten vorlegt: Die acht thüringischen Kleinstaaten sollen einen Vertrag abschließen und auf dessen Grundlage „dem übrigen Deutschland gegenüber und in Bezug auf gewisse bestimmte Funktionen wie ein Staat“ auftreten, ansonsten aber ihre Selbständigkeit bewahren (§ 1). Das Oberhaupt dieser Gemeinschaft soll die Gesamtheit der Einzelregierungen darstellen, die einen Senat bildet und dem – als gewählte Volksvertretung – ein vereinigter Landtag gegenübersteht (§ 2). Der Senat hat die Stellung eines konstitutionellen Monarchen (§ 3) und „ernennt das Ministerium des Vereinigungsstaats“ (§ 4). Der vereinigte Landtag hat das Recht der Steuerbewilligung, der Beschwerde beim Senat und der Anklage beim Staatsgerichtshof (§ 4), während die Gesetzgebung dem Senat und dem vereinigten Landtag gemeinsam obliegt (§ 10). Des Weiteren regelt der Plan die Kompetenzen des Gesamtstaats (§ 11), dessen Hauptfinanzierungsquelle die indirekten Steuern darstellen (§ 12). Außerhalb der klar definierten Zuständigkeiten des Gesamtstaats behalten die Einzelstaaten sowohl ihre politische Selbständigkeit als auch die Selbstverwaltung (§ 13). Als Vorteile eines solchen Vorgehens für das Volk werden „Rechtseinheit, Möglichkeit der Durchführung größerer und heilsamer Verwaltungsmaaßregeln, endlich Vereinfachung sowie Kraft- und Geldersparnis in Bezug auf die dem Gesammtstaat zugewiesenen Verwaltungsfunktionen“ angeführt.17 Und auch in der Folge wurden in dem Periodikum mehrfach die Vorteile einer Vereinigung Thüringens erörtert und dabei auch jene Gemeinsamkeiten angeführt, die bereits vorhanden waren und sich bewährt hatten, insbesondere das gemeinschaftliche Oberappellationsgericht der ernestinischen und reußischen Staaten sowie die Jenaer Universität, die den Ernestinern gemeinsam war. Dem Gericht könnten künftig die schwarzburgischen Fürstentümer beitreten, die Zuständigkeit für die Universität Jena könne auf die Reußen und Schwarzbur17 Die Verfassung des vereinigten Thüringens, in: Deutsche Blätter aus Thüringen, Nr. 00 vom 16.12.1848, S. 1 f.

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ger ausgedehnt werden. Und eine gemeinschaftliche Heeresverfassung sowie die abgestimmte Entwicklung des Kirchenwesens seien ohnehin geboten und de facto unvermeidlich.18 Für die letztgenannte Aufgabe, „die kirchliche Einigung des thüringer Landes“,19 gründete der Verleger der „Deutsche[n] Blätter aus Thüringen“ Friedrich Frommann wenige Monate später mit dem „Thüringer Kirchenblatt“ noch eine spezielle Wochenschrift.

5. Resümee

Bei einer Betrachtung der im „langen 19. Jahrhundert“ in Thüringen erscheinenden Presse ist zunächst deren beachtliche Fülle hervorzuheben. Obwohl die Region kein markantes Medienzentrum wie Hamburg, Berlin oder Leipzig aufweisen kann, handelt es sich um eine der dichtesten Medienlandschaften in Deutschland überhaupt.20 Auffällig ist ferner die beachtlich große Anzahl jener Titel, die einen Thüringenbezug aufweisen. Die starke Präsenz des Thüringen-Begriffs ist somit bereits ein wichtiger erster Befund. Trotz der zahlreichen und stets wiederkehrenden Thüringenbezüge gibt es jedoch kaum Definitionsversuche dessen, was Thüringen eigentlich ausmacht. Auch „Thüringenkon­ struktionen“ finden sich kaum. Derartige Versuche wurden vor allem während der Revolution von 1848/49 und dann im frühen 20. Jahrhundert unternommen. Während der Revolution wurden – im Spannungsfeld von Nation und Region – in Thüringen ein rundes Dutzend verschiedener Einheits- und Vereinigungsprojekte in Vorschlag gebracht und öffentlich diskutiert. Das Spektrum reicht von der Einigung auf konstitutionellmonarchischer Grundlage bis hin zur volkssouveränen Republik Thüringen, durch Zusammenschluss aller oder nur der ernestinischen Staaten, mit oder ohne die preußischen und hessischen Territorien.21 Realpolitisch blieben sie aber folgenlos, und im Rückblick fanden sie auch mancherlei Kritik, selbst in Periodika, die sich 18 Die Vereinigung Thüringens, in: ebd., Nr. 17 vom 28.02.1849, S. 65 f. 19 Vorwort, in: Thüringer Kirchenblatt, Nr. 1.2. vom 20.07.1849, S. 1. 20 Vgl. Werner Greiling, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 6), Köln/Weimar/Wien 2003. 21 Vgl. Falk Burkhardt, Revolution von 1848/49 und thüringische Identität, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 13 (2003), H. 2, S. 116–150, hier S. 141 f.

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ebenfalls auf Thüringen fokussiert hatten wie das „Wochenblatt für Strafrechtspflege in Thüringen“. Die Revolution von 1848/49 sei eine Zeit gewesen, „in welcher die sogen. ‚Thüringische Einheit‘ ein Lieblingsthema für Leute von den verschiedenartigsten politischen Glaubensbekenntnissen, ein Gegenstand der verschiedenartigsten Auffassung, der lächerlichsten Mißverständnisse, Uebertreibungen und Besorgnisse geworden war, und in welcher über jenes Thema auf der einen Seite zwar vieles Ungereimte und Ueberspannte gesprochen, auf der anderen Seite aber auch manches Gutgemeinte mißverstanden, manches tüchtig Erstrebte […] vereitelt worden ist.“22 Die Thüringendiskurse im frühen 20. Jahrhundert fanden dann auf der Grundlage der vollzogenen Reichseinigung statt. Neben der Frage des territorialen Zuschnitts und der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung eines vereinigten Thüringen ging es dabei, auch im unmittelbaren Vorfeld der Landesgründung, nicht zuletzt um den Platz im Nationalstaat und um die Aufteilung der Kompetenzen. Thüringendiskurse, Definitionsversuche zur Region Thüringen und Konstruktionen dessen, was Thüringen politisch, administrativ, wirtschaftlich, kulturell usw. ausmacht und wie es territorial zu fassen ist, sind natürlich keineswegs auf jene Periodika beschränkt, die die Region im Titel führten. Vielmehr ist hier auf die Gesamtheit der Presse zu verweisen,23 aber auch auf nichtperiodische Publikationen zur Thüringenfrage aus der Feder von Autoren wie Ludwig Bechstein, Ludwig Storch oder Johannes Günther. Ähnliches gilt für landeskundliche Darstellungen zu Thüringen wie jene von Fritz Regel und von Ernst Kaiser oder für das wissenschaftlich-publizistische Großprojekt über die „Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens“.24 Verwiesen sei aber auch auf Debatten in den Landtagen der Territorialstaaten, auf verschiedene identitätsstiftende Projekte wie große Feste und Volksversammlungen und nicht zuletzt auf die Vereine, unter denen für die Ausprägung einer thüringischen Identität den Geschichtsvereinen eine besondere Rolle zukommt. Deutlich zu erkennen ist eine starke Präsenz Thüringens im öffentlichen Diskurs lange vor einer staatlichen Existenz Thüringens. Und deutlich ist auch, dass man im 22 Vorwort des Herausgebers, in: Wochenblatt für Strafrechtspflege in Thüringen, Nr. 1, 1851, S. 1–4, hier S. 2 f. 23 Vgl. beispielsweise die Artikel: Die Vereinigung Thüringens, in: Gemeinde-Verhandlungsblatt und Volks-Organ für das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, Nr. 34 vom 08.11.1848; Gegen die Vereinigung Thüringens noch einmal, in: ebd., Nr. 36 vom 22.11.1848. 24 Vgl. Fritz Regel, Thüringen. Ein geographisches Handbuch, 3 Teile, Jena 1892, 1894 und 1896; Ders., Thüringen. Ein landeskundlicher Grundriß, Jena 1897; Ernst Kaiser, Landeskunde von Thüringen, Erfurt 1933; Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens, bearb. von Paul Lehfeldt und Georg Voss, 41 Hefte, Jena 1888–1928.

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Abb. 3: Das Thüringer Fähnlein, Vorwort des Herausgebers, Oktober 1932

19. Jahrhundert für weite Teile des heutigen Thüringens bei der Bevölkerung eine thüringische Identität unterstellen kann, die sich parallel zum Bezug auf das engere Vaterland und auf dessen Fürsten ausgeprägt hatte. Offensichtlich konnte man, wie das Beispiel Salzmanns zeigt, bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert gleichzeitig Gothaer, Thüringer und Deutscher sein. Und diese Trinität blieb auch bis ins ausgehende 19. und frühe 20. Jahrhundert ein weit verbreitetes Phänomen. Die entscheidende Zäsur für einen Wandel der „Identitätsanteile“ war vermutlich nicht die Reichsgründung 1871, sondern die Landesgründung 1920. Wenn man nach 1920 auf Thüringen Bezug nahm, erfolgte dies im Rahmen einer neuen gesellschaftlichen und staatlichen Wirklichkeit. Dies lässt sich musterhaft an einem Periodikum aufzeigen, das den Thüringen-Begriff ebenfalls im Titel trägt, das „Thüringer Fähnlein. Monatshefte für die mitteldeutsche Heimat“. Diese erschienen seit 1932 und haben unter der Herausgeberschaft von Reinhold Vesper Thüringen gewissermaßen zum Hauptthema gemacht, wenn auch in mitteldeutscher Erweiterung. „Das Thüringer Fähnlein“ verdient unter

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unserer Fragestellung eine erneute wissenschaftliche Betrachtung und Analyse, zumal viele der Beiträge im Grenzbereich zwischen Wissenschaft und populärer Vermittlung angelegt waren. Zudem überschritt die Monatsschrift mit dem Jahr 1933 eine tiefe politische Zäsur. So fällt die Rezension von Wilhelm Engel zu Ernst Kaisers „Landeskunde von Thüringen“ im Januar 1934 bereits in eine neue Ära. Engel nutzt diese bemerkenswerte Neuerscheinung für eine landesgeschichtliche und landeskundliche Forschungsbilanz, die durchaus kritisch ausfällt und aus der er die Notwendigkeit neuer Forschungen ableitet, „um den einheitlichen mitteldeutschen Raum auch wirklich als geschichtliche, kulturelle und wirtschaftliche Einheit zu erfassen, damit schon in der Schule jedem Kinde das Gefühl und Bewußtsein dieser thüringischen Einheit eingepflanzt werden kann.“ Dies sei, schreibt Engel ein Jahr nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, „gerade heute, am Vorabend der Neugliederung des deutschen Reiches“ notwendig.25 Neue Töne klingen auch in einem Aufsatz von Wilhelm Greiner im gleichen Heft des „Thüringer Fähnlein“ über „Eigenart und Reichtum der thüringischen Kultur“ an. Hier wird nicht mehr nur – wie in der einen oder anderen publizistischen Wortmeldung aus dem 19. Jahrhundert – erörtert, was Thüringen zu Deutschland, zur deutschen Identität und zur deutschen Kultur beigetragen hat, sondern hier wird auch biologistisch nach thüringischer Volksart und nach der Bedeutung der thüringischen Kultur für die „Entstehungszeiten der germanischen Rasse“ gefragt.26 Und die kundige Gesamtschau zahlreicher Facetten des Kultur- und Geisteslebens dient vor allem dazu, die jeweiligen Spitzenleistungen als Ausfluss „thüringischer Volksart und Begabung“ zu interpretieren, von Johann Sebastian Bach bis Ernst Abbe. Damit erhält der Thüringendiskurs eine Wendung ins Völkische, der es notwendig macht, auch den auf den ersten Blick harmlos erscheinenden letzten Absatz in der Darstellung von Wilhelm Greiner in genau diesem Kontext zu lesen:

25 Wilhelm Engel, Zur Geschichte der Landeskunde von Thüringen, in: Das Thüringer Fähnlein 3 (1934), H. 1, S. 1–7, hier S. 1 f. – Vgl. auch Enno Bünz, Ein Historiker zwischen Wissenschaft und Weltanschauung: Wilhelm Engel (1905–1964), in: Die Universität Würzburg in den Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Biographisch-systematische Studien zu ihrer Geschichte zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Neubeginn 1945, Würzburg 2002, S. 252–318. 26 Wilhelm Greiner, Eigenart und Reichtum der thüringischen Kultur, in: Das Thüringer Fähnlein 3 (1934), H. 1, S. 8–13, hier S. 8.

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„Fassen wir noch einmal die allergrößten ins Auge: Meister Eckart, Luther, Bach, Novalis, Otto Ludwig, Ranke, Nietzsche und Abbe – welche gewaltigen Ströme sind schon von ihnen aus der deutschen Kultur zugeflossen –, in der Tat würdig dieses deutschen Herzlandes, über dem als das ureigenste Symbol deutscher Kultur, als die echte Heimat der deutschen Seele die Wartburg trohnt.“27

27 Ebd., S. 13.

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Anhang. Presse-Bibliographie „Thüringen“

Anzeigen; Belehrung; Berichterstattung; Information; Politik; Unterhaltung

Der Bote aus Thüringen Schnepfenthal: Buchhandlung der Erziehungsanstalt 1788–1816 Gnädigst privilegirte thueringische Vaterlands-Kunde Erfurt: Görling 1801–1802 Königlich-preussische allergnädigst-privilegirte thüringische Vaterlandskunde Erfurt: 1802–1810 Thüringische Monathsschrift Weißenfels: 1802 Thüringen wie es war und ist. Eine Wochenschrift für Einheimische und Fremde Naumburg: Wild 1808 Thüringisches Magazin zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse und zur Unterhaltung / hg. v. Wilhelm Günther Bleichrodt Frankenhausen: 1808–1809 Erholungen. Ein thüringisches Unterhaltungsblatt für Gebildete Erfurt: 1812–1819 Neue Erfurter Zeitung. Konservatives Organ für Thüringen Erfurt: Stenger 1816–1830; Hennings & Hopf sowie Krackrügge 1849–1850; Marshall 1879–1880 Thüringischer Anzeiger Naumburg: 1816–1819 Allgemeine thüringische Vaterlandskunde. Wochenschrift f. Geschichte Thüringens Erfurt: Andreä 1822–1824 Weissensee’r Kreisblatt. Ein Volksblatt für Thüringen Weissensee: Hässler 1824–1851

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Eckartsbergaer Kreisblatt. Ein Volksblatt für Thüringen Weissensee: 1826–1851 Ilmenauer Nachrichtsblatt für die Thüringer Waldgegend [Ilmenau]: 1829–1847 Der Thüringer Volksfreund. Eine Wochenschrift für Thüringen, das Osterland und Vogtland / Redakteur Karl Herzog (1828) Jena: Frommann 1828/29–1831 Weimarische Zeitung. Thüringer Anzeiger. Tageblatt der Landeshauptstadt Weimar Weimar: Hoffmann 1832–1855; 1864–1919; 1923–1926; 1928–1933 [Zusatz 1919: Thüringer Tageszeitung für deutsche Art und Arbeit in Stadt und Land] Thüringer Stadt- und Landbote. Ein Volksblatt für Belehrung und Unterhaltung aus dem Leben, der Natur und der Gesellschaft Saalfeld: Niese 1834–1867 Thuringia. Zeitschrift zur Kunde des Vaterlandes / hg. von einem Verein vaterländischer Dichter und Schriftsteller Arnstadt: Meinhardt 1841–1843[?] Der Thüringer Bote. Ein Volksblatt / hg. von Ludwig Storch Gotha: Verl.-Comptoir 1842–1843 Thüringische illustrirte Zeitschrift (eigenständige Beilage der Fürstlich Schwarzburg-Rudolstädtischen privilegirten Zeitung/Wochenblattes) Rudolstadt: Hofbuchdr. Fröbel 1847–1848 Thüringer Gustav-Adolf-Vereinsbote. Zeitschrift zur Mittheilung und Besprechung der Angelegenheiten des Gustav-Adolf-Vereins und ähnlicher Vereine Rudolstadt: Froebel 1847–1850 Forts.: Volksbote der Gustav-Adolf-Stiftung aus Thüringen. Zeitschrift zur Mittheilung und Besprechung der Angelegenheiten des Gustav-Adolf-Vereins und ähnlicher Vereine Apolda: Teubner 1851–1853 Forts.: Bote des Gustav-Adolf-Vereins für Thüringen und den HessenCasseler-Hauptverein: Organ d. Hauptvereins im Großherzogtum

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Sachsen-Weimar und im Herzogtum Sachsen-Meiningen und des Landesvereins im Herzogtum Sachsen-Gotha Weimar: 1854–1923 Deutsche Blätter aus Thüringen / hg. u. verlegt von Fr. Frommann Jena: Frommann 1848–1851 Vereinigte Volksblätter für Thüringen und Sachsen / hg. von R. Binder; R. U. Weigel; G. Liebert; verantw. Red.: Richard Ludwig Leipzig: Andrä 1848–1852 Thüringer Reform Arnstadt: Meinhardt 1848 Der Thüringer Volkstribun. Organ der Demokratie Jena: Schreiber 1848 Blätter von der Saale. Central-Organ für Thüringen, Osterland und Franken verbunden mit Jenaischem Tage- und Gemeindeblatt Jena: Neuenhahn 1850–1871 Der Stadt- und Land-Bote für Thüringen Weimar: Tantz 1850 Thuringia. Ein Unterhaltungsblatt für den Bürger und Landmann Apolda: Teubner 1850 Thüringische allgemeine Zeitung / hg. von Freiherr von Biedenfeld Weimar: Hoffmann 1852 Thüringer Zeitung. Unabhängiges nationales und liberales Organ Erfurt: Ruebsam; Lorenz [bis 1895]; Schwarz/Schoen [bis 1896] 1859–1911 Forts.: Thüringer Tageblatt. Liberale Tageszeitung für Stadt und Land Erfurt: Ruebsam 1911–1913 Weimarischer Sonntagsbote für Thüringen Jena: Frommann 1858–1864 Thüringer Volks-Kalender für Heimath und Fremde / begr. u. hg. von Friedrich Konrad Müller von der Werra Leipzig: Mendelssohn 1860–1863

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Thüringer Landeszeitung. Organ der Fortschrittspartei Eisenach: Hofbuchdr. 1863–1864 Allgemeiner Anzeiger für Stadt und Kreis Erfurt. General-Anzeiger für Thüringen, amtliches Organ für den Stadtkreis Erfurt Erfurt: Ohlenroth 1864–1905 Coburger Tagblatt. Volkszeitung für Thüringen und Franken Coburg: Streit 1864–1867 Der Lahrer hinkende Bote in Thüringen Gotha: Opetz 1864–1865 Forts.: Des Lahrer hinkenden Boten illustrierter Familienkalender in Thüringen Gotha: Opetz 1866–1868 Thüringer Volksbote. Organ des Thüringer Wahlvereins Weimar: Tantz 1869–1870 Thüringer Presse. Allgemeine Zeitung für Thüringen, speciell: Organ für Gotha, Arnstadt und Umgegend Gotha: 1871 Thüringer Hausfreund. Familienblatt für Stadt u. Land; Sonntagsblatt zum Allg. Anzeiger Erfurt: Stenger 1875–1911 Baunach- u. Itzgrund-Zeitung (Separat-Ausgabe der Allgemeinen Zeitung für Franken und Thüringen) Bamberg: Gärtner 1876–1877; 1920 Forts.: Neue allgemeine Zeitung für Franken und Thüringen (Baunach- und Itzgrund-Zeitung) Bamberg: Siebenkees 1877–1880 Forts.: Allgemeine Zeitung für Franken und Thüringen Bamberg: Gärtner 1880–1920 Beilage: Bunte Mappe zur Allgemeinen Zeitung für Franken und Thüringen und Baunach- und Itzgrund-Zeitung Bamberg: Gärtner 1885–1886

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Thüringer Nachrichten. Kahlaer Zeitung; zugleich Amtsblatt für Orlamünde und Uhlstädt Kahla; Orlamünde: Heyl [anfangs] 1877–1920 Thüringer Hausfreund. Schmalkalder Anzeiger f. Stadt u. Land; Anzeigenblatt f. amtl. Bekanntmachungen Schmalkalden: Wilisch 1878–1932 Thüringer Post. Kreisblatt für den Landkreis Erfurt Erfurt: 1880–1889 Thüringer Montags-Zeitung / hg. v. Edmund Rost Apolda; Bad Sulza; Weimar: Rost 1883 Sächsisches Allerlei. Unparteiisch-friedliches, harmlos-gemüthliches Wochenblatt für Sachsen und die sächsisch-thüringischen Lande Chemnitz: Wiede 1885–1893 Thüringer Tageblatt. Generalanzeiger für Erfurt, Gotha und Umgegend Gotha: Grünwald; Erfurt: Neugebauer [bis 1886], Pollak [1886], Rost [1886]; Gotha: Mühlenthal u.a. [ab 1886] 1885–1892 Thüringer Tribüne. Sozialdemokratisches Organ für Thüringen Erfurt: Reißhaus 1889–1897 Forts.: Tribüne . Organ der Sozialdemokratie für Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt Erfurt: Reißhaus 1897–1924; 1933 Jenaer Volksblatt. Unabhängige demokrat. Tageszeitung für Thüringen Jena: 1890–1941 Erfurter Tageblatt und Thüringer Anzeiger: unabhängiges Organ für städtische und ländliche Interessen Erfurt: Morgenstern 1892–1895 Mittheilungen aus dem Nordostthüringer Turngau des 13 [dreizehnten] Kreises Thüringen Merseburg: 1892–1917 Hallesche Zeitung. Landeszeitung für d. Provinz Sachsen, Anhalt u. Thüringen Halle/Saale: 1893–1930

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Kahlaer Tageblatt. Thüringer Nachrichten Kahla: Beck 1893–1940 Thüringer Volksblatt. Amtliches Kreisblatt für den Landkreis Erfurt Erfurt: Thüringer Volksbl.; Peter [anfangs]; Wacker [1893]; Conrad 1893–1897 Hallescher Central-Anzeiger. Zeitung für die Provinz Sachsen, Anhalt, Thüringen Halle/Saale: 1895–1905 Forts.: Neue Hallesche Tageszeitung. Central-Anzeiger für die Provinz Sachsen, Anhalt, Thüringen Halle/Saale: 1905–1907 Forts.: Hallesche allgemeine Zeitung und Handelsblatt. Central-Anzeiger für die Provinz Sachsen, Anhalt, Thüringen Halle/Saale: Paalzow 1897–1920 General-Anzeiger für Thüringen. Billigstes Insertionsorgan für Erfurt und Umgegend Erfurt: Reinhardt 1896–1900 Stadt- und Landbote. Früher Altes Thüringer Volksblatt Erfurt: Reinhardt 1896–1897 Wartburg-Herold. Halbmonatsschr. für Thüringer Volkstum Weimar; Eisenach: Thelemann 1896–1898 Thüringer Arbeiter-Blatt. Volksblatt für Stadt und Land / Christlicher Zeitschriftenverein Berlin: 1896–1897 General-Anzeiger für Thüringen und Franken. Unpartheiisches Organ für jedermann Coburg: Spandel 1901–1914 Thüringer Warte. Monatsschrift für die geistigen, künstlerischen und wirtschaftlichen Interessen Thüringens / hg. von d. Elgersburger Ritterschaft Pößneck: 1904/05–1908/09 Sächsisch-Thüringische Hausfrau. Praktische Wochenschrift für Provinz Sachsen, Thüringen und benachbarte Landesteile; mit „Kindermode“ und „Für unsere Kleinen“

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Magdeburg: Deutsches Druck- und Verlagshaus 1907/08–1919 Thüringer Volksfreund: Organ für die Interessen des gesamten werktätigen Volkes Coburg; Sonneberg [anfangs]: 1907–1933 Gothaer Volksblatt. Westthüringer Organ der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Dritten Internationale) Gotha: Bock 1908–1915; 1918–1924 Flugblätter aus Thüringen für das deutsche Volk / hg. von Prof. Dr. Lehmann-Hohenberg Weimar: Dietsch & Brückner 1909–1910 Hallesche Eisenbahn-Zeitung. Verkehrszeitung für Halle a. S., Prov. Sachsen, Anhalt u. Thüringen Halle/Saale: Hohmann 1910–1914 Tageblatt für Kurhessen und das angrenzende Thüringen und Sachsen Eschwege: Roßbach 1910–1933 Sachsen-Thüringer-Zeitung. Zeitschr. f. d. Mitglieder d. Landsmannschaft Thuringia Freiburg i. Br.: Landsmannschaft Thuringia 1911–1941 Der Thüringer. Freie Wochenschrift für Politik, Wissenschaft und Unterhaltung Erfurt: 1911 Thüringer Hausfreund in Wort und Bild. Illustrierte Wochenschrift des Erfurter allgemeinen Anzeigers Erfurt: Richters 1911–1912 Thüringer Tageblatt. Liberale Tageszeitung für Stadt und Land Erfurt: Ruebsam 1911–1913 Thüringer Illustrierte Weimar: 1912–1918 Thüringer Kriegsblätter Jena: Hofbuchdr. 1915–1918

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Die Heimat: volkstüml. durch Bildschmuck erläut. Halbmonatsschr. für Kurhessen, Thüringen mit dem Eichsfeld u. Südhannover Leipzig: 1916–1922 Sächsisch-thüringische Arbeiterzeitung. Wochenschrift für d. wirtschaftl. friedl. Arbeiterbewegung Crimmitschau: 1916–1919[?] Mitteilungen für den Thüringer Heimatglöckner Weida: Niese 1917–1919[?] Saalfelder Kreisblatt. Zugleich Thüringer Rundschau; Amtsblatt der Stadt Saalfeld; Bekanntmachungsblatt für den Kreis Saalfeld Saalfeld: 1917–1918 Mein Heim. Thüringer Wochenblatt für Stadt u. Land Ilmenau: Petermann 1919 Bau-Zeitung für Sachsen u. Thüringen. Submissions-Anzeiger Leipzig-Eutritzsch: Bauerfeld 1919 Freie Presse. Tageszeitung der sozialdemokratischen Partei für Thüringen Erfurt: Dr.-Genossensch. 1919–1922 Das neue Thüringen Erfurt: Richter 1919–1920 Neue Zeitung für Mittelthüringen. Unabhängiges sozialistisches Organ; Organ der KPD, Bezirk Thüringen Jena: 1919–1922 Thüringer freie Stimmen. Wochenschrift für volkstümliche deutsche Politik unter besonderer Wahrung der Thüringer Interessen; parteiamtliches Organ des Landesverbandes Thüringen der Deutschen Demokratischen Partei Weimar: Panse 1919–1920 Thüringer Tageszeitung für deutsche Art und Arbeit in Stadt und Land. Unabhängig-nationale Zeitung für Thüringen Weimar: Weimar. Verl. 1919–1921 Mitteldeutsche Zeitung. Erfurter Tageblatt, Thüringer Zeitung; Handelsblatt für Mitteldeutschland

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Erfurt: 1919–1933 Thüringer allgemeine Zeitung und Erfurter allgemeiner Anzeiger Erfurt: Richter 1919–1923 Thüringer freie Stimmen. Wochenschrift für volkstümliche deutsche Politik unter besonderer Wahrung der Thüringer Interessen; parteiamtliches Organ des Landesverbandes Thüringen der Deutschen Demokratischen Partei Weimar: Panse 1919–1920 Thüringer Volkswacht: für christliche Politik und Kultur Erfurt: Westfälisches Volksblatt 1919–1936 Thüringer illustrierte Zeitung Jena: 1920–1921 Ostthüringer Volkszeitung: Organ für die Interessen des werktätigen Volkes in Thüringen Altenburg: Stritzke 1920–1933 Das Thüringer Fähnlein. Monatshefte für die mitteldeutsche Heimat Jena: Neuenhahn 1932–1943

Kirche; Pädagogik; Schule; Wissenschaft

Thüringisches Wochenblatt für Kinder, ihre Lehrer und Freunde: zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung in und auser den Schulstunden Rudolstadt: Klüger 1796–1799[?] Thüringer Kirchenblatt Jena: Frommann 1848–1851 Thüringer Schulbote / hg. im Verein mit mehreren Schulmännern von Ch. E. C. Rost Neustedt bei Eckartsberga: Verl. d. musikal. Instituts; Sondershausen: Eupel 1854 Volksschulblätter aus Thüringen / hg. von C. F. Lauckhard Weimar: Böhlau 1856–1858

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Thüringische Kirchen-Zeitung. Eine Wochenschrift f. d. evang. Gemeinden u. Geistlichen, insbesondere ein Organ f. d. Angelegenheiten u. Interessen d. protestantischen Kirchen Thüringens Erfurt: Ohlenroth 1870 Stimme der Kirche. Thüringer Lutherisches Kirchenblatt Eisenach: Hofbuchdr. 1871–1876 Allgemeine thüringische Schulzeitung. Hauptorgan für die Lehrer der sämmtlichen thüringischen Staaten Gera: 1873–1886 Thüringer evangelisches Sonntagsblatt / Verein Thüringer Evangelisches Sonntagsblatt Neudietendorf; Berlin: 1879–1941 Sächsischer Jünglings-Bote. Bundesbl. der Männer- u. Jünglingsvereine in Sachsen u. in Thüringen / hg. vom Bund der evang.-luth. Männer- u. Jünglingsvereine im Königreich Sachsen Dresden: 1885–1908 Monatsblätter des Thüringisch-Sächsischen Vereins für Erforschung des Vaterländischen Alterthums und Erhaltung seiner Denkmale Halle/Saale: 1887–1892/94 Schul-Blatt für Thüringen und Franken: Organ des Allgemeinen Meiningischen Lehrervereins u. der Pestalozzi-Heine-Stiftung Leipzig: Verl. d. Allgem. Meiningischen Lehrervereins 1888–1911 Lehrer-Zeitung für Thüringen und Mittel-Deutschland. Hauptorgan für die Lehrer und Lehrervereine Thüringens Weimar: Wagner 1888–1911 Forts.: Thüringer Lehrerzeitung. Organ d. Thüringer Lehrerbundes Weimar: 1912–1933 Thüringer Schulblatt. Zeitschrift für die gesamte Thüringer Lehrerschaft; Vereinsorgan des Gothaischen Landeslehrer-Vereins, des Landeslehrer-Vereins zu Schwarzburg-Sondershausen und des Coburger Landes-Lehrervereins Eisenach: Kahle 1891–1911 [Gotha: Schmidt 1901–1906; Wöpke 1907 daneben Gotha: Gläser; Friedrichroda: Schmidt; Gotha: Schmidt & Thelow]

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Forts.: Thüringer Lehrerzeitung. Organ d. Thüringer Lehrerbundes Weimar: 1912–1933 Vom Fuße der Wartburg. Blätter aus dem Evang. Luth. Diakonissenmutterhaus für Thüringen in Eisenach Eisenach: Hense 1893–1941 Thuringia. Lose Blätter für erzählende Thüringische Geschichte / hg. von Walther Schmidt-Breitenstein Langensalza: Deutsches Dr.- u. Versandhaus 1899–1901 Die Heimat. Blätter der Schönheit und der fröhlichen Kraft für die Schuljugend Thüringens / hg. von Die Pestalozziklasse des Thüringischen Lehrer-Vereins Eisenach: Kühner 1902–1940[?] Evangelischer Bundesbote für Thüringen / hg. vom Thüringer Verb. d. Hauptvereine d. Evangel. Bundes Weimar: 1908–1920[?] Thüringer Pfarrerblatt. Organ d. Evangelischen Pfarrervereine von Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg, Sachsen-Gotha / Thüringischer Evangelischer Pfarrerverein Weimar; Apolda: 1910–1938 Christliche Freiheit für Thüringen und Sachsen Bonn: 1913–1919 Jung-Thüringen: Monatsblatt des Thüringer Jünglingsbundes u. des „Hindenburghauses“ Eckartsberga i. Thür.: Eckartshaus 1913–1922 Thüringer Lazarett-Zeitung. Mitteilungen über Unterrichtswesen, Berufsberatung u. Stellenvermittlung; hg. v. Ausschuß für Volksvorlesungen Frankfurt a. M. Frankfurt/M.: 1917/18 Thüringer Jugend. Eine Monatschrift für Jugendführung ... Jena: Thür. Verlagsanst. 1919–1922

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Gewerbe; Landwirtschaft; Naturkunde; Technik

Thüringens Merkwürdigkeiten aus dem Gebiete der Natur, der Kunst, des Menschenlebens ec. Eine Zeitschrift in zwanglosen Heften / hg. von H. J. Meyer Arnstadt: Trommsdorff 1826–1829 Wochenblatt für die landwirthschaftlichen Vereine in Thüringen Rudolstadt: Fürstl. Priv. Hofbuchdr. 1835 Forts.: Zeitschrift für landwirthschaftliche und Gewerb-Vereine in Thüringen. Organ der landwirthschaftl. Gesellschaft zu Ranis Rudolstadt: Fürstl. Prov. Hochbuchdr. 1836–1837 Forts.: Zeitschrift für Landwirthschaft und Gewerbe in Thüringen. Organ der Landwirthschaftl. Gesellschaft zu Ranis und mehrerer gemeinnützigen Vereine im Schwarzburgischen Rudolstadt: Fürstl. Prov. Hochbuchdr. 1838–1840 Allgemeine thüringische Gartenzeitung. Centralblatt für Deutschlands Gartenbau und Handelsgärtnerei Erfurt: Stenger 1842–1858 Correspondenzblatt des Naturwissenschaftlichen Vereines für die Provinz Sachsen und Thüringen in Halle, Saale Halle: 1853–1893 Forts.: Sitzungs-Berichte des Naturwissenschaftlichen Vereines für Sachsen und Thüringen Halle: 1901–1904[?] Landwirthschaftliche Dorf-Zeitung für den kleineren Landwirth in Preußen und Thüringen Berlin: Bosselmann 1857–1860 Landwirthschaftliche Zeitung für Thüringen. Organ für die landwirthschaftlichen Vereine Thüringens und deren Versuchsstation Jena: Mauke [in Komm.] 1863; 1865–1872 Forts.: Thüringische Blätter für Feldbau, Wiesenbau, Viehzucht und landwirthschaftlichen Betrieb Weimar: 1873–1878 Forts.: Thüringische landwirthschaftliche Zeitung für Feldbau, Wiesenbau, Viehzucht und landwirthschaftlichen Betrieb. Organ für d. landwirthschaftl. Vereine des Großherzogthums Weimar-Eisenach, der Herzogthümer Altenburg,

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Gotha u. Meiningen Weimar: 1879–1882 Forts.: Thüringische landwirthschaftliche Zeitschrift. Organ für d. landwirthschaftlichen Vereine d. Großherzogthums Sachsen-Weimar-Eisenach, der Herzogthümer Altenburg, Coburg-Gotha u. Meiningen sowie der Fürstenthümer Schwarzburg u. Reuß beider Linien Weimar: Böhlau 1883–1886 Forts.: Thüringer landwirtschaftliche Zeitung. Prakt. Wochenschr. für d. mitteldt. Landwirtschaft / Landwirthschaftliche Centralstelle Weimar: 1887–1920; 1926–1929 Thüringer Muster-Zeitung für Färberei und Druckerei / Deutscher Innungsverband der Färber und deren verwandten Gewerbe Berlin: 1865–1868 Monatsschrift des Sächsisch-Thüringischen Vereins für Vogelkunde und Vogelschutz zu Halle an der Saale Zeitz: Huch 1876–1877 Irmischia. Korrespondenzblatt d. Botanischen Vereins für Thüringen „Irmischia“ Sondershausen: 1881–1886 Thüringer Monatsblätter. Zeitschrift des Thüringerwald-Vereins 1880 e.V.; Nachrichten aus dem Thüringer Wanderverband Eisenach: 1883–1892; 1894–1939; 2002– Moeser’s landwirthschaftliche Umschau für Mittel- und Norddeutschland. Centralorgan für Sachsen und Thüringen Leipzig: Voigt 1892–1893 Thüringer Gewerbe-Zeitung. Verbandsorgan d. Thür. Gewerbevereine / hg. v. C. Küntzel Weimar: Karrer [anfangs]; Jena: Hering 1893–1901 Forts.: Thüringer Handwerker- und Gewerbe-Zeitung. Zugleich Offertenblatt für die gesamte Industrie Thüringens; amtliches Organ der thüringischen Handwerkskammern, Organ des Verbandes Thüringer Gewerbevereine und Publikationsorgan der Innungen und Gewerbevereine Thüringens Erfurt: Ohlenroth 1902–1904

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Der Raiffeisenbote. Mitteilungen über Genossenschaftswesen u. Landwirtschaftsbetrieb ... für Thüringen, Sachsen u. Braunschweig Erfurt [anfangs] u. Neuwied: 1898–1913 Forts.: Raiffeisen-Bote. Mitteilungen über Genossenschaftswesen und Landwirtschaftsbetrieb von dem Verbande Ländlicher Genossenschaften für Thüringen, eingetr. Verein, zu Erfurt / hg. von der Verbandsdirektion zu Erfurt Erfurt: 1911–1914 Forts.: Raiffeisen-Bote für Thüringen und Sachsen / hrsg. vom Verband Ländlicher Genossenschaften für Thüringen e.V. Erfurt: 1915–1934 Saxonia-Thuringia. Blätter für sächs.-thüring. Heimatpflege; Organ d. sächs. Landsmannschaften; Organ d. Verbandes der Sachsenvereine Chemnitz-Markersdorf: Saxonia 1904/05[?] Heimatblätter. Altes und Neues aus den Thüringer Landen, mit besonderer Berücksichtigung von Stadt und Kreis Langensalza Langensalza: 1906–1908 Thüringer Dorfbote. Wochenblatt der Thür. Vereinigung f. Heimatpflege Berlin: 1907–1909 Mitteilungen der Sächsisch-Thüringischen Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft Leipzig: Hungar 1909–1911 Thüringische Industrie. Zeitschr. für Thüringens Industrie u. Handel Greiz: 1910–1914[?] Wartburg. Monatsschrift des Gau Thüringen im Verband Deutscher Handlungsgehülfen; Organ sämtlicher Kreisvereine und engerer Verbindungen Erfurt: 1912–1914 Springinsfeld. Gaublatt der Thüringer Wandervögel Halle: 1911; 1913–1924 Thüringische Feuerwehr-Zeitung. Organ für d. gesamte Feuerlöschwesen d. thüring. Staaten Camburg/Saale: 1913–1938[?]

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Thüringer Obst-, Gemüse- und Kolonialwaren-Anzeiger: Zeitschrift f. d. ges. Nahrungsmittelbranche Greiz: Vereinsdruckerei 1919–1921 Der Vermittler. Thüringer Geschäfts-Anzeiger, sowie Wohnungs- u. Arbeitsmarkt Ohrdruf: P. Risch 1919–1920 Der Thüringer Landbund. Thüringer Bauernzeitung für d. im Thüringer Landbund zusammengeschlossenen Bauernvereinigungen Weimar: 1920–1933 Der Thüringer Landwirt, Wochenblatt d. Thüringer Bauernbundes / hg. vom Presseausschuß d. Thür. Bauernbundes Weimar: Presseausschuß d. Thür. Bauernbundes 1920 Mitteldeutsche Wirtschafts- und Arbeitgeber-Zeitung. Wirtschaftl. Nachrichten aus Mitteldeutschland; sächsisch-thüringische Arbeitgeber-Nachrichten Halle/Saale: 1920–1922

Medizin

Thuringia. Ein homöopathisches Blatt zunächst für die thüringischen homöopathischen Familienvereine und Laien / hg. von mehreren Freunden der neuen Heillehre Langensalza: Andrä-Knoll; Sondershausen: Eupel 1834 Korrespondenz-Blätter des Allgemeinen Ärztlichen Vereins von Thüringen Jena: Fischer 1872/73–1933

Polizei; Rechtspflege

Allgemeiner Polizei-Anzeiger für Thüringen, Franken und Sachsen / hg. von Friedrich Eberhardt Gotha: 1835–1839

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Wochenblatt für Strafrechtspflege in Thüringen / hg. von Reinhold Schmid Weimar: 1851–1853 Blätter für Rechtspflege in Thüringen und Anhalt. Unter Berücksichtigung d. Reichsgesetzgebung u. d. juristischen Literatur Jena: Frommann 1854–1919 Thüringer Polizei-Beamten-Zeitung: Vereins-Monatsschrift der Vereinigung Thüringer Polizeibeamten Arnstadt: 1912–1918

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Literatur Falk Burkhardt, Bibliographie der zeitgenössischen Periodika 1848 bis 1850 in Thüringen, in: Ders., Chronik und Bibliographie zur Revolution von 1848/49 in Thüringen, Erfurt 1998, S. 255–297. Ders., Revolution von 1848/49 und thüringische Identität, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 13 (2003), H. 2, S. 116–150. Werner Greiling, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2003. Ders., Die historische Presselandschaft Thüringen, in: Astrid Blome (Hg.), Zeitung, Zeitschrift, Intelligenzblatt und Kalender. Beiträge zur historischen Presseforschung, Bremen 2000, S. 67–84. Ders./Siegfried Seifert (Hg.), „Der entfesselte Markt“. Verleger und Verlagsbuchhandel im thüringisch-sächsischen Kulturraum um 1800, Leipzig 2004. Roswitha Grosse, Christian Gotthilf Salzmanns „Der Bote aus Thüringen“, Schnepfenthal 1788–1816. Eine Zeitschrift der deutschen literarischen Volksaufklärung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989. Jürgen John, Die Thüringer Kleinstaaten – Entwicklungs- und Beharrungsfaktoren, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 132 (1996), S. 91–149. Joachim Kirchner, Die Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes von den Anfängen bis 1830. Mit einem Titelregister von Edith Chorherr, Stuttgart 1969. Alexander Krünes, Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (1815–1848), Köln/ Weimar/Wien 2013. Jürgen Wilke, Thüringen als Zeitungslandschaft: Anfänge – Phasen – Systemwandel, in: Holger Böning/Hans-Werner Hahn/Alexander Krünes/Uwe Schirmer (Hg.), Medien – Kommunikation – Öffentlichkeit. Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Wien/ Köln/Weimar 2019, S. 9–30.

Jürgen John

Thüringen-Diskurse und Landesgründung

Die meisten Beiträge dieses Bandes behandeln Zeiträume, in denen „Thüringen“ eher eine Sehnsuchts-Metapher und ein Gestaltungsziel denn eine feste Bezugs- und Handlungsgröße darstellte. Die folgenden Ausführungen beziehen sich nun auf eine ganz andere Situation, in der das reale Gestalt annahm, was zuvor vielfach angestrebt, aber nicht erreicht worden war: die – um drei Schrifttitel zu zitieren – „Einheit Thüringens“1 und die Überwindung des „Thüringer Kleinstaatenjammers“2 durch den „Zusammenschluß Thüringens“3. Zwei Zitate sollen am Beginn stehen. Erstens: „Das Geschick hat es Thüringen versagt, einen eigenen Staat zu bilden“. Mit diesem Satz begann Anfang 1918 eine – noch während des Weltkrieges – veröffentlichte Denkschrift der Nationalliberalen Partei zur „Thüringer Frage“. Nur wenn es gelinge, Gesetzgebung und Verwaltung der Thüringischen Staaten ohne jede „Kirchturmpolitik“ zu vereinheitlichen, lasse sich die „Thüringer Frage“ lösen.4 Zweitens: Noch seien die „Anfänge in der Neugliederung Deutschlands bescheiden“, schrieb 1922 der Thüringer Justizminister Carl von Brandenstein (SPD) im – „Der Weg in die Zukunft“ betitelten – fünften Band des „Handbuchs der Politik“ und fügte hinzu: „Im Herzen des Reichs, in den Thüringer Ländern, reifte zuerst der Gedanke des Zusammenschlusses zur Tat“.5 Und der Reichsinnenminister a. D. Erich Koch-Weser (DDP) pflichtete ihm

1 Die Einheit Thüringens. Ein Beitrag zur Reichsreform (Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Schriftenreihe der Abteilung für Wirtschaft und Verwaltung, 5), Erfurt 1933. 2 Arthur Hofmann, Thüringer Kleinstaatenjammer. Ein Weckruf an alle Thüringer ohne Unterschied der Parteizugehörigkeit, Saalfeld 1906. 3 Karl Du Mont, Der Zusammenschluß Thüringens. Eine staatswissenschaftliche Untersuchung, Gotha 1927. 4 Die Thüringer Frage. Denkschrift über Vereinheitlichungen in Gesetzgebung und Verwaltung der Thüringischen Staaten, hg. vom Landesausschusse der Nationalliberalen Partei in Thüringen, Gera 1918, S. 2, 64. 5 [Carl] v. Brandenstein, Der Zusammenschluß Thüringens, in: G. Anschütz u. a. (Hg.), Handbuch der Politik, Bd. 5: Der Weg in die Zukunft, Berlin 31922, S. 345–347, hier S. 345.

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an gleicher Stelle bei: Das sei ein „begrüßenswerter Schritt zur Neugliederung des gesamten Reiches“ gewesen.6 Zwischen diesen Zitaten lagen nur wenige Jahre – und doch Welten. Der Weltkrieg war mit der Niederlage des Deutschen Kaiserreiches beendet worden. Die Revolution hatte die Dynastien beiseitegefegt. Das obrigkeitsstaatliche Kaiserreich wandelte sich zur parlamentarischen Weimarer Republik, die freilich die Folgen des Krieges und der Niederlage zu tragen hatte. Aus den dynastischen Bundesstaaten wurden Freistaaten – und aus diesen Länder eines „unitarischen Bundesstaates“. In allen Regionen schossen Pläne für durchgreifende Reichs- und Territorialreformen ins Kraut.7

Abb. 1: Neugliederungsvorschlag von Hugo Preuß (1918) 6 Erich Koch[-Weser], Die Neugliederung des Reichs, S. 336–345, hier S. 342. 7 Als struktur- u. diskursgeschichtliche Gesamtanalysen vgl. Jürgen John, „Unitarischer Bundesstaat“, „Reichsreform“ und „Reichs-Neugliederung“ in der Weimarer Republik, in: Ders. (Hg.), „Mitteldeutschland“. Begriff – Geschichte – Konstrukt, Rudolstadt/Jena 2001, S.  297–375; Anke John, Der Weimarer Bundesstaat. Perspektiven einer föderalen Ordnung (1918–1933), Köln/Weimar/Wien 2012. Für eine zeitgenösssische Darstellung siehe: Walter Vogel, Deutsche Reichsgliederung und Reichsreform in Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig/Berlin 1932.

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Abb. 2: Neugliederungsvorschlag von H. Rabe

Abb. 3: Neugliederungsvorschlag der Kölnischen Volkszeitung (Januar 1919)

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Aber nur in Thüringen – der Gründungsregion der Weimarer Republik – kam eine solche Reform tatsächlich zustande. Man strebte dabei eine „groß­ thüringische“ Variante mit Erfurt als Zentralort an. Zustande kam aber nur der „kleinthüringische“ Weg eines reichsgesetzlich sanktionierten Zusammenschlusses der ernestinischen, schwarzburgischen und reußischen Staaten zum „Land Thüringen“ mit Weimar als Landeshauptstadt – ohne Erfurt und das übrige preußische Thüringen. Diese Vorgänge und die damit verbundenen „Thüringen-Diskurse“ sind im Folgenden im Rückgriff auf bereits vorliegende Publikationen8 knapp zu skizzieren und mit einigen Thesen zu ihrer vergleichenden Einordnung in die Diskurs- und Neugliederungsgeschichte zu verbinden.

8 Zur Landesgründung und den mit ihr verbundenen Thüringen-Diskursen vgl. Beate Häupel, Die Gründung des Landes Thüringen. Staatsbildung und Reformpolitik 1918–1923, Weimar/ Köln/Wien 1995; Jürgen John, Thüringer Verfassungsdebatten und Landesgründung 1918 bis 1921, in: 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung 1919–1999, Weimar 1998, S. 67–122; Ders., „Thüringer Frage“ und „Deutsche Mitte“. Das Land Thüringen im Spannungsfeld endogener und exogener Faktoren, in: Michael Richter u. a. (Hg.), Länder, Gaue und Bezirke. Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert, Dresden 2007, S. 85–103; Ders., „Land im Aufbruch“. Thüringer Demokratie- und Gestaltungspotenziale nach 1918, in: Justus H. Ulbricht (Hg.), Weimar 1919. Chancen einer Republik, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 17–46; Jürgen John/ Bernhard Post, Von der Landesgründung zum NS-„Trutzgau“. Thüringen-Diskurse 1918 bis 1945, in: Matthias Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 67–120; Thomas Hentzschel, Weimar und die Gründung des Landes Thüringen, in: Klaus Dicke/Michael Dreyer (Hg.), Weimar als politische Kulturstadt. Ein historisch-politischer Stadtführer, Berlin 2006, S. 147–157; Thomas Herntrich, Thüringen. Von den thüringischen Kleinstaaten nach Zerfall des Alten Reiches bis zum Freistaat Thüringen. Eine völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Betrachtung, Frankfurt/M. u. a. 2010, S. 220–254; Hans-Werner Hahn, Vom Thüringer Kleinstaatenjammer zum Land Thüringen. Die „Thüringen-Frage“ 1806 bis 1920, in: Robert Kretzschmar u. a. (Hg.), Zusammenschlüsse und Neubildungen deutscher Länder im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013, S. 125–152; Timo Leimbach, Landtag von Thüringen 1919/20–1933, Düsseldorf 2016, S. 45–84. Eine zum 100. Jahrestag der Landesgründung erschienene Publikation von Christian Faludi/Marc Bartuschka (Hg.), „Engere Heimat“. Die Gründung des Landes Thüringen 1920, Wiesbaden (2020) enthält u.a. Porträts der Gründerstaaten und Studien zu Einzelaspekten, darunter zum „Großthüringen“-Begriff (von Frank Boblenz), aber keine eigentliche Darstellung der Landesgründung.

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1. Deutungsmuster und Begriffe

Bis zur Landesgründung erschien Thüringen nur als kommunikativer, natur-, kultur- und wirtschaftsräumlicher Zusammenhang, als Raumkonstrukt und Gestaltungsmetapher, die sich in unterschiedlichen „Thüringen-Bildern“ ausprägten. Auf Thüringen bezog sich ein vor allem bildungs- und wirtschaftsbürgerlich geprägtes Regionalbewusstsein, das von modernen Integrationsprozessen gespeist wurde und argumentativ weit in die Geschichte zurückgriff. Darüber hinaus stellte Thüringen eine widersprüchlich konnotierte Chiffre auf der geistigen Landkarte der Nation dar: als räumliches, „grünes“ und kulturelles „Herz Deutschlands“; als Ausdruck der „Einheit in der Vielfalt“; als Sinnbild einer geistig verträumten, kulturell starken, aber politisch schwachen „deutschen Mitte“;9 als deutsche „Narrenjacke“10 und Inkarnation des „Kleinstaatenjammers“11. In dieser Deutungsperspektive galt die „Thüringer Frage“ als Teil und Wesensausdruck der „deutschen Frage“, ihre Lösung als Nagelprobe für die Lösung deutscher Gestaltungsprobleme insgesamt. Diese Deutungsmuster haben sich in einer Fülle von Topoi, Narrativen, Selbst- und Fremdbildern niedergeschlagen, die mehrfach diskurs- und deutungsanalytisch untersucht12 worden sind. Als Grundmuster zeigten sie sich langlebig. Sie trugen scheinbar „zeitlosen“ Charakter, waren aber je nach Bedarf – politisiert oder scheinbar „unpolitisch“ – um- und neu codierbar. Dabei wandelte sich auch die Begriffswelt. Begriffe wie „Thüringen“ oder „Großthüringen“ sind im Laufe der Zeit geographisch wie identitätspolitisch unterschiedlich konnotiert worden. Wir verwenden ja heute noch unterschiedlich apostrophierte „Thüringen“-Begriffe – wie „kleinstaatliches“, „preußisches“ 9 Heinrich v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 2. Teil, 4, Leipzig 1893, S. 395. 10 Friedrich Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: Karl Marx/­Friedrich Engels – Werke, Bd. 22, Berlin 31972, S. 225–240, hier S. 235. 11 Hofmann, Thüringer Kleinstaatenjammer (wie Anm. 2). 12 Jürgen John, Selbst- und Fremdwahrnehmungen Thüringens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Thüringen – junges Land mit alten Wurzeln, hg. v. Thüringer Landtag, Erfurt 2003, S. 8–28; Ders., Thüringen-Bilder – alte Klischees, neu entdeckt?, in: Konrad Scheurmann/ Jördis Frank (Hg.), Neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen. Essays, Mainz 2004, S. 65–81; für den weiteren mitteldeutschen Bezug vgl. John (Hg.), „Mitteldeutschland“ (wie Anm.  7), für das reußische Gebiet Ders., Reußenbilder des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Werner Greiling/Hagen Rüster (Hg.), Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum?, Jena 2013, S. 33–49; in diesen Darstellungen auch ausführliche Hinweise auf die Literatur zur Diskurs-, Narrativ- u. Deutungsmusteranalyse.

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oder „ernestinisches“ Thüringen – zu analytischen Zwecken. Der Gebrauch der Deutungsmuster und Begriffe hing von den jeweiligen Protagonisten und medialen Trägern ebenso ab wie von den Kontexten, Zielen, Konstellationen und Diskursformationen. Dieses Spannungsfeld von Konstanz und Wandel der Deutungsmuster zeigte sich auch bei den hier darzulegenden Vorgängen. Sie wiesen das ganze skizzierte Spektrum Thüringen-bezogener Deutungs­ muster und Narrative auf, das sich in dieser Handlungssituation in der – in der ersten deutschen Revolution 1848 vergeblich erstrebten, nun durch die zweite deutsche Revolution ermöglichten – „Einheit Thüringens“ als unmittelbarem Gestaltungsziel bündelte.

2. Vorreiter in nationaler Mission

Das war kein ausschließlich regionales Ziel. Die Akteure der Landes­gründung verstanden sich – im Rückgriff auf die „Einheitsbewegung“ von 184813 – als Vorreiter in nationaler Mission. Sie sahen den Integrationszwang, sieben frühere Einzelstaaten zu einem Ganzen zusammenzufügen, als Herausforderung an, im „Herzen des Reiches“ einen „Muster-Einheitsstaat“ zu schaffen. In erster Linie strebten sie dafür eine „Provinz Thüringen als Teil der Einheits­ republik Deutschland“14 an, wie es in der Resolution der bahnbrechenden Tagung der Räte, Staatsministerien und Städte des Reichstagwahlkreises Thüringen (10.12.1918) hieß. Man wolle, erklärte der schon zitierte (damals noch reußische) Staatsminister v. Brandenstein im Februar 1919, die kleinstaat­ lichen und preußischen Gebiete in einem „gemeinsamen Haus Groß-Thüringen“ zusammenführen und damit ein Zeichen „für das ganze deutsche Reich und Volk“ setzen.15 Die Revolution – betonte er kurz zuvor auf der Berliner Staatenkonferenz von Reich und Ländern (25.1.1919) – habe sich in Thüringen weitgehend unter diesem Gesichtspunkt vollzogen. Den „Jammer der Kleinstaaten“

13 Vgl. Paul Wentzcke, Thüringische Einigungsbestrebungen im Jahre 1848. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung, Jena 1917. 14 Resolution der Erfurter Tagung der Räte, Staatsregierungen u. größeren Städte des Reichstagswahl-Kreises Thüringen v. 10.12.1918, in: LATh–HStA Weimar, Staatsministerium-Präsidialabteilung, Nr. 1, hier Bl. 11r. 15 Mitteilungen über die Verhandlungen des Landtags Reuß j. L., des Gemeinsamen Landtags der beiden Freistaaten Reuß und des Volksrats von Reuß während der Jahre 1919, 1920 und 1921, C: Sitzungs-Protokolle. 1. Sitzung v. 19.2.1919, S. 1; 2. Sitzung v. 22.2.1919, S. 10.

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könne „niemand ermessen, der nicht in Thüringen gewesen ist. Wir müssen ihn ausrotten. Am liebsten wäre uns eine einheitliche Republik Deutschland.“16 Das war damals freilich nicht erreichbar. Umso mehr setzten die Thüringer Akteure alles daran, die Gründungskompromisse der Weimarer Republik für die angestrebte „Neuordnung Thüringens“ zu nutzen, wobei ihnen zeitweise die räumliche Nähe zu Nationalversammlung und Reichsregierung in Weimar zugutekamen. Im Folgenden sei der Grundrhythmus dieser „Neuordnung Thüringens“ knapp skizziert, ohne auf die Details und den dramatischen politischen Kontext eingehen zu können.

3. Die Neuordnung „Thüringens“

Nach der revolutionsbedingten Abdankung ihrer Herzöge und Fürsten (9.–25.11.1918)17 wurden die Thüringer Staaten im Zusammenwirken von Räten, neuen Staatsregierungen und neu gewählten Landtagen in Freistaaten umgewandelt. Mit dem Begriff „Freistaat“ (bzw. „Volksstaat“) grenzten sich die Akteure von der bisherigen monarchisch-dynastischen Staatsform ab. Er bringe – betonte der Jenaer Staatsrechtler Eduard Rosenthal (DDP), der „Vater der Thüringer Landesverfassung“, „die demokratische Natur des Staates, die republikanische Grundlage des Gemeinwesens“ zum Ausdruck (2.5.1919).18 In Weimar und im vereinigten Reuß (Gera) erfolgte die freistaatliche Umwandlung bereits mit Blick auf den Thüringer Zusammenschluss.19 Coburg

16 LATh–StA Rudolstadt, Staatsministerium Rudolstadt, Nr. 771, Bl. 97 (gedr. Protokoll), S. 30. 17 Generell zur Fürstenabdankung 1918 Lothar Machtan, Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, Berlin 2008; Stefan Gerber (Hg.), Das Ende der Monarchie in den deutschen Kleinstaaten. Vorgeschichte, Ereignis und Nachwirkungen in Politik und Staatsrecht 1914–1939, Köln/Weimar/Wien 2018; zur Erinnerung und Deutung der Revolution 1918/19 und der Fürstenabdankung auch Alexander Gallus (Hg.), Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010, darin v. a. der Beitrag von Lothar Machtan, S. 39–56. 18 Bericht des Verfassungsausschusses am 2.5.1919 an den Weimarer Landtag, in: Verhandlungen des Landtags und der Gebietsvertretung von Sachsen-Weimar-Eisenach 1919–1921, S. 28. 19 Am 21.12.1918 erging ein Notgesetz über die Gemeinschaft in Gesetzgebung, Verwaltung u. Rechtspflege der Staaten Reuß ä. u. j. Linie; am 2.2.1919 konstituierte sich der gemeinsame Landtag; am 4.4.1919 erfolgte der Zusammenschluss zum „Volksstaat Reuß“ (Vereinigungsgesetz).

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hingegen suchte den Anschluss an Bayern.20 Meiningen erwog zeitweise ähnliche Schritte, Altenburg einen mitteldeutschen Verbund „Sachsen-Thüringen“.21 Die ersten maßgeblichen Zusammenschluss-Initiativen gingen von Weimar und vom preußischen Erfurt aus, das sich Chancen ausrechnete, zur Hauptstadt eines künftigen „Großthüringens“ preußischer und kleinstaatlicher Gebiete zu werden. Diese Initiativen erreichten ihre Höhepunkte (1.) mit der schon erwähnten Erfurter Tagung vom 10. Dezember 1918 und ihrem Beschluss zur Bildung einer „Provinz Thüringen“,22 (2.) mit einem „Zwölfer-Ausschuss zur [Vorbereitung der] staatlichen Vereinigung Thüringens“ (23.12.) und (3.) mit der Erfurter „Großthüringen“-Tagung der Wirtschaftsverbände am 5. Januar 1919.23 Andere propagierten zu dieser Zeit einen „Freistaat Thüringen“.24 Der Erfurter Initiativkreis um den Museumsdirektor und späteren „Reichskunstwart“ Edwin Redslob gab die auf das „Großthüringen“-Projekt ausgerichtete Zeitschrift „Das neue Thüringen“ (1919/20) heraus.25 Die Gegen­ position bezog die in Halle erscheinende Zeitschrift „Die Thüringische Frage“ (1919/20),26 die sich für den Anschluss der Kleinstaaten an Preußen einsetzte. Sie machte sich so zum Sprachrohr der preußischen Staatsregierung, die es strikt ablehnte, einer „Thüringer Gemeinschaft“ Gebiete abzutreten – auch und gerade vor dem Hintergrund der Pläne, den einer gleichmäßigen Reichs-Neu­ gliederung im Wege stehenden Großstaat Preußen aufzulösen. In dieser Konstellation zeichnete sich der „kleinthüringische“ Zusammenschluss-Weg mit Weimar als maßgeblichem Handlungsort ab. Die Thüringer Staatsregierungen – Coburg und Meiningen nur unter Vorbehalt – sprachen sich im März 1919 für den Zusammenschluss aus und ließen einen Gemeinschaftsvertrag ausarbeiten. Im Mai billigten die Regierungen und Landtagspräsidenten, im Juni dann die Landtage den (von Brandenstein verfassten) Vertragsentwurf. Auf dieser Grundlage konstituierten sich der Staatsrat von Thüringen27 als vorläufige Gemeinschafts-Regierung (unter Vorsitz des 20 Die Freistaaten Coburg u. Gotha trennten sich am 12.4.1919 per Staatsvertrag; Coburg schloss sich nach einer Volksabstimmung v. 30.11.1919 per Reichsgesetz (23./30.4.1920) Bayern an. 21 Denkschrift, betr. die Frage eines „vereinigten Thüringens“ oder „Sachsen-Thüringens“ (8.3.1919), hg. v. Gesamtministerium, Altenburg o. D. 22 Vgl. Anm. 15 23 Groß-Thüringen. Öffentliche Versammlung am Sonntag, den 5. Januar 1919. Stenographische Niederschrift, Erfurt 1919. 24 Kurt Hossfeld, Freistaat Thüringen, Gotha 1919. 25 Das neue Thüringen, Erfurt 1919/20. 26 Die Thüringische Frage, Halle 1919/20. 27 14.7.1919 provisorisch, 19.11.1919 regulär; Amtszeit bis 12.11.1920.

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Weimarer Staatsministers Arnold Paulssen [DDP]) und der Volksrat von Thüringen28 als vorläufiges Parlament. Am 4. Januar 1920 trat der Gemeinschaftsvertrag – ohne Coburg und mit Sonderkonditionen für Meiningen – in Kraft, am 1. Mai 1920 das von der Nationalversammlung beschlossene Reichsgesetz (23./30.4.1920) zur Gründung des – so nun die offizielle Staatsbezeichnung – Landes Thüringen (siehe Abb. 4). Nach den Wahlen (20.6.) konstituierten sich am 20. Juli 1920 der Landtag und am 10. November die Landesregierung. Das war zunächst eine DDP-SPD-Koalition unter Arnold Paulssen. Von 1921 bis 1923/24 regierten dann SPD-USPD-Koalitionen unter August Frölich (SPD). Am 12. Mai 1920 erging die vorläufige, am 11. März 1921 die reguläre Landesverfassung. Sie sei – so der Landtagspräsident Artur Drechsler (USPD) – ein „Produkt der Revolution“29 und – so Paulssen – ein „Markstein in der Geschichte Thüringens“.30 Mit ihr setze das Land – so der USPD-Abgeordnete und spätere Thüringer Regierungspräsident Hermann Brill – den „endgültigen Schlußstein unter die Fürstenherrschaft und Kleinstaaterei in Thüringen“.31 Die bisherigen Einzelstaaten bestanden bis 1923 noch als Gebiete weiter. Mit dem Stichtag 1. April 1921 übernahm das Land die zuvor einzeloder mehrstaatlich getragenen Institutionen: Staatsarchive, Kreditanstalten, das 1919 gegründete Bauhaus Weimar, in Jena die – nun so bezeichnete – Landesuniversität, die 1919 gegründete Volkshochschule Thüringen, die Carl-Zeiss-Stiftung sowie die Oberlandes- und Oberverwaltungsgerichte. 1922/23 ergingen landesvereinheitlichende Gesetze für Verwaltung, Bildungs-, Bank-, Gerichts- und Kammerwesen,32 1926 dann eine Landesverwaltungs­ ordnung. Bis dahin zogen sich auch die Vergleichs- und Abfindungsverträge mit den Fürstenhäusern hin. Die einzelstaatlichen Landeskirchen schlossen sich 1921 (zunächst mit Ausnahme von Reuß ä. L.) zur Thüringer evangelischen Landeskirche zusammen. Am 1. April 1923 endete die gesetzliche Übergangszeit. Wie der 1. Mai 1920 28 6.8.1919 provisorisch, 16.12.1919 regulär; Tagungszeit bis 20.7.1920. 29 1. Landtag von Thüringen. Stenographische Berichte (im Folgenden: LTh StB), 48. Sitzung v. 11.3.1921, S. 1138 f. 30 1. LTh StB, 48. Sitzung v. 11.3.1921, S. 1139. 31 1. LTh StB, 42. Sitzung v. 2.3.1921, S. 978. 32 Kreiseinteilungs- (16.6.1922), Gemeinde- u. Kreisordnungs- (20.7.1922) Gesetze; Einheitsschul- (24.2.1922), Lehrerbildungs- (8.7.1922) u. Schulverwaltungs- (9.5.1923) Gesetze; Staatsbank-Gesetz (20.12.1922), Industrie- u. Handelskammer-Gesetz (10.2.1923); Gerichtssitz-Gesetz (15.6.1923).

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Abb. 4: Land Thüringen 1920. Entwurf: H. Habenicht, H. Haack, Zeichnung: C. Böhmer, K. Feickert, Gotha [1929]

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als „Geburtstag“33 des Landes Thüringen, so galt der 1. April 1923 als „Tag seiner Mündigkeit“34. Das Landes­wappen – sieben silberne Sterne auf rotem Grund – symbolisierte den Zusammenschluss der sechs ernestinischen (Weimar-Eisenach, Gotha, Altenburg, Meiningen) und schwarzburgischen (Rudolstadt, Sondershausen) Freistaaten sowie des Volksstaates Reuß zum Land Thüringen wie den Willen der Landesgründer zum entschiedenen Neubeginn.

4. Diskurskonstellationen

Den gesamten Prozess des Zusammenschlusses begleiteten massive – interne wie öffentliche – Debatten unterschiedlichen Charakters. Sie reichten von nüchtern-pragmatischen Gestaltungsdebatten eher rationell-technokratischen Charakters bis zu emotional hoch aufgeladenen Deutungs- und Identitäts­ debatten, die hier mit dem Sammelbegriff „Thüringen-Diskurse“ umschrieben werden. Hauptakteure der Zusammenschluss-Initiativen und -Diskurse waren Räte und Wirtschaftsverbände, Politiker (der SPD, USPD und DDP), Publizisten, Staatsrechtler, Nationalökonomen, Archivare und einzelne Historiker, mediale Diskursträger vor allem Presse, Zeitschriften, Geschichtsvereine, Flugschriften, Landes- und Wirtschaftskunden. Identitätspolitisch griffen die Zusammenschluss-Verfechter auf die skizzierten Deutungsmuster und dabei weit in die Geschichte zurück. Sie beschworen die Mentalität und kollektive Identität „der Thüringer“ und argumentierten mit der räumlichen, stammesmäßigen, kulturellen und wirtschaftlichen „Einheit Thüringens“, die zum staatlichen Zusammenschluss dränge. Das Ausscheren Coburgs und das Fehlen des preußischen Thüringens nahm man in Kauf, beharrte aber bei den preußischen Gebieten auf ihrer räumlichen und landmannschaftlichen Zugehörigkeit zu Thüringen. Ähnliche, freilich stärker christlich-konfessionell geprägte Argumente brachten die Verfechter des landeskirchlichen Zusammenschlusses ins Spiel. Zusammenschluss-Gegner und Sezessionisten konnten kaum positive identitätspolitische Argumente ins Feld führen. Zwar beschwor Coburg das frän33 Die Einigung Thüringens und die Bedeutung der Thüringischen Verfassung (Republik und Jugend. Blätter zur staatsbürgerlichen Aufklärung und Bildung, hg. v. Thüringischen Ministerium für Volksbildung, Nr. 13/14 v. 1.5.1923), abgedr. in: Quellen zur Geschichte Thüringens, Bd. 42, Erfurt 2015, S. 127–136, hier S. 127. 34 Hellmuth Loening (Hg.), Die Verfassung des Landes Thüringen, Weimar 31925, S. 5.

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kische Stammes- und Gemeinschaftsgefühl für den Anschluss an Bayern, argumentierte aber eher negativ mit der Notwendigkeit, die „unglückliche Ehe“ mit Gotha aufzulösen und sich überhaupt von Thüringen zu trennen.35 Intern gab man unumwunden zu, sich einem Staat anschließen zu wollen, der „mehr geben könne“ als eine Thüringer Gemeinschaft.36 Ähnlich interessenbezogen und distanziert argumentierten jene Meininger und Altenburger Politiker, die zunächst den Anschluss an Bayern und Sachsen erwogen und sich erst später anders besannen. Aus provinzsächsischer Sicht erschien es abwegig, den Regierungsbezirk Erfurt aus dem Verband des Großstaates Preußen herauszulösen, der ihn „schützend und fördernd“ umschließe und halte.37 Eher abwehrend argumentierten auch die um ihren Einfluss in einem vereinten Thüringen fürchtenden Parteien der politischen Rechten. Den in ihren Augen mit dem Odium des „Umsturzes“ behafteten Zusammenschluss könne man allenfalls als „Vernunftehe“, nicht aber als „Liebesheirat“ akzeptieren.38 Nach der Landesgründung ging es identitätspolitisch vor allem darum, die ehemaligen Kleinstaaten – nun „Gebiete“ – auch mental in das Land Thüringen zu integrieren, dem es sichtlich an „Einheitsgefühl“ mangelte.39 Noch wirkte einzelstaatliches Denken weiter. Das Land Thüringen sah sich dem Verdacht ausgesetzt, nur ein „Großweimar“ zu sein.40 Ohne das preußische Thüringen galt es als „unvollkommen“41 und vorläufig. Vor dem Hintergrund 35 Vgl. Verhandlungen der gemeinschaftlichen Landesversammlungen Coburg und Gotha, 2. Sitzung v. 1.4.1919, S. 1–28. 36 So der Coburger Landtags-Vizepräsident Arnold in den Verhandlungen mit dem Arbeitsausschuss des provisorischen Staatsrates v. Thüringen am 5.8.1919 (LATh–HStA Weimar, Staatsministerium-Präsidialabteilung, Nr. 49, Bl. 73v). 37 Vgl. Walter Friedensburg, Hundert Jahre preußischer Verwaltung in Thüringen (Die Thüringische Frage, 4), Halle 1920, S. 1–42, hier S. 42. 38 So der weimarische Abgeordnete Lehmann am 11.4.1919, in: Protokolle über die Verhandlungen des Landtags und der Gebietsvertretung von Sachsen-Weimar-Eisenach 1919–1921, 4. Sitzung v. 11.4.1919, S. 62 f. 39 Vgl. [Emil] Herfurth, 10 Jahre Thüringen, in: Weimarische Zeitung „Deutschland“, 26.4.1930. Herfurth, DNVP, war 1919/23 ein Wortführer politischer u. kultureller Attacken gegen die Landesregierungen u. das Weimarer Bauhaus u. 1924/27 Staatsrat in der Thüringer „Ordnungsbund“-Regierung. 40 Vgl. August Baudert, Ist Thüringen ein Großweimar geworden?, in: Weimarische Zeitung „Deutschland“, 21.1.1921. Baudert, SPD, war 1918 bis 1920 leitender Staatsminister des Freistaates Sachsen-Weimar-Eisenach. 41 A[ugust] Baudert, Das „unvollkommene“ Thüringen, in: Weimarische Zeitung „Deutschland“, 1.1.1921.

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Abb. 5: Friedrich Schneider/Armin Tille, Einführung in die Thüringische Geschichte, Jena 1931 (Deckblatt). Den Teil über die „kulturelle Bedeutung“ verfasste Schneider, den Teil über die staatliche Vorgeschichte Tille.

der Reichsreform- und Großraumpläne der 1920er/30er Jahre musste es um seine Eigenstaatlichkeit bangen.42 Für die provinzsächsischen „Mitteldeutschland“-Planer43 galt es als Anschlussmasse. Das preußische Erfurt wirkte aus Landessicht wie ein „Pfahl im Fleische Thüringens“,44 aus Erfurter Sicht aber

42 Vgl. Ernst Jahn, Kann das Land Thüringen seine Eigenstaatlichkeit bis zur Bildung von Reichsprovinzen behaupten? Vortrag, gehalten am 20. Januar 1929 in Weimar auf dem ordentlichen Parteitag des Landesverbandes Thüringen der Deutschen Demokratischen Partei, Weimar 1929. 43 Vgl. Mitteldeutschland auf dem Wege zur Einheit. Denkschrift über die Wirkung der innerstaatlichen Schranken. Im Auftrage des Provinzialausschusses der Provinz Sachsen hg. vom Landeshauptmann der Provinz Sachsen, Merseburg 1927. 44 Ebd., S. 33.

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als Zentralort künftiger „Einheit Thüringens“45. Die einen sahen das Land von den „Reichsreform“-Plänen bedroht,46 die anderen – wie Hermann Brill – in der „Reichsreform“ eine „thüringische Schicksalsfrage“47 oder – wie in Erfurt – die Chance, doch noch ein „Großthüringen“ zu erreichen.48 Die politische Kultur des Landes war zerklüftet. Das zeigte sich schon bei der vom KappPutsch und seinen Folgen überschatteten Landesgründung wie bei der Fundamentalopposition der politischen Rechten gegen die Regierungspolitik, beim Rathenau-Mord 1922 und in der Reichs- und Landeskrise 1923. In dieser Lage zeichneten sich drei Diskurskonstellationen ab: Erstens: Auf der professionellen historisch-landeskundlichen Ebene kamen im nunmehr größeren Stil als zuvor, als die Thüringen-Forschung trotz Geschichtsverein (1852) und Historischer Kommission (1896) noch vorwiegend einzelstaatlich-dynastisch ausgerichtet war, auf den Thüringer Raum insgesamt bezogene Forschungen und Publikationen zustande. Dazu gehörten Darstellungen des Zusammenschlusses,49 ein Landesverfassungs-­Kommentar,50 eine „Thüringens kulturelle Bedeutung“ betonende „Einführung in die Thüringer Geschichte“51 sowie mehrere Landes- und Wirtschaftskunden.52 Träger dieser professionellen Thüringen-Diskurse waren vor allem die auf Landesbasis reorganisierten Staatsarchive und das Historische Seminar der Landesuniversität Jena, wo von den Historikern Georg Mentz und Alexander Cartellieri betreute thüringengeschichtliche Schülerkreise und Dissertationen entstanden. Zweitens: Die sozialistischen Landesregierungen setzten identitätspolitisch auf einen linksrepublikanischen Verfassungspatriotismus. Dafür veröffentlichte das von dem Sozialdemokraten Max Greil geleitete Ministerium für Volks­ 45 Die Einheit Thüringens (wie Anm. 1). 46 Vgl. Jahn, Kann das Land (wie Anm. 42). 47 Hermann Brill, Reichsreform – eine thüringische Schicksalsfrage, Altenburg 1932. 48 Die Einheit Thüringens (wie Anm. 1). 49 Vgl. Georg Mentz, Die Umwälzung nach dem Krieg, in: Thüringen in und nach dem Weltkrieg. Geschichtliches Erinnerungswerk an die Kriegsteilnahme, die politische Umwälzung und Erneuerung Thüringens in Wort und Bild, hg. von Eleonore Bojanowski u. a., 2 Bände, Leipzig 1919/21, Bd. 2, S. 489–512; Du Mont, Der Zusammenschluß Thüringens (wie Anm. 3). 50 Vgl. Loening, Die Verfassung (wie Anm. 34); 3 Auflagen 1922–1925. 51 Daneben erschien 1921 in 2. Auflage die Schrift von Ernst Devrient, Thüringische Geschichte, Leipzig 1907. 52 Vgl. Erich Köhler, Die Beziehungen der thüringischen Industrie zum Weltmarkt, Jena 1920; Joachim Müller, Die thüringische Industrie, Jena 1930; Ernst Kaiser, Landeskunde von Thüringen, Erfurt 1933.

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bildung im Zuge der Republikschutz-Maßnahmen nach dem Rathenau-Mord die von dem Reformsozialisten Herbert Kühnert betreute Schriftenreihe „Republik und Jugend. Blätter zur staatsbürgerlichen Aufklärung und Bildung“ (1922/23).53 Sie bezweckte die republikanische Erziehung der Jugend, richtete sich aber auch an andere Volksgruppen, betonte die staatsbürgerliche Bedeutung der „Einigung und Verfassung Thüringens“54 und appellierte an den „volksgemeinschaftlichen“ Zusammenhalt im Lande. In diesem Sinne riefen der Volksbildungsminister Greil, der Jenaer Kulturverleger Eugen Diedrichs und der Volkshochschul-Referent Reinhard Buchwald 1923 zu einer „kulturellen Notgemeinschaft Thüringen“ auf.55 Auch die „Blätter der Volkshochschule Thüringen“56 beteiligten sich an diesen Versuchen, eine republikanisch-volksgemeinschaftlich fundierte Landesidentität zu stiften. Drittens: Bis 1923 korrespondierte das noch mit den Diskursen der Thüringer Kultur- und Heimatpflege, deren Diskursgruppen sich um die seit 1921 im Volksbildungsressort angesiedelte Beratungsstelle für Heimatschutz und Denkmalpflege sammelten. Sie wurde vom früheren Geschäftsführer des Deutschen Bundes Heimatschutz Fritz Koch geleitet, der seit 1925 die Monatsschrift „Thüringen“ herausgab.57 Denken, Publizistik und Identitätskonstruktionen der Heimatschutz-Bewegung und der zahlreichen Heimat- und Wandervereine beschritten freilich zunehmend Deutungswege, die bisherige Deutungsmuster und Narrative „völkisch-rassisch“ umcodierten.58 53 Nachdruck in: Staatsbürgerliche Erziehung in Thüringen. Die Schriftenreihe „Republik und Jugend“ (1922–1923) des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung (Quellen zur Geschichte Thüringens, 42), hg. von Michael Eckardt, Erfurt 2015, S. 29–149; die Reihe erschien mit den Nummern 1–15/16 vom 11.8.1922 bis 11.8.1923. 54 Die Einigung Thüringens und die Bedeutung der Thüringischen Verfassung (Nr. 13/14 v. 1.5.1923); Abdruck ebd., S. 127–136. 55 Vgl. Aufruf und Organisationsplan einer kulturellen Notgemeinschaft in Thüringen (1923), Sammlung Justus H. Ulbricht (Dresden). 56 Blätter der Volkshochschule Thüringen (1919–1933), hg. von Martha Friedenthal-Haase/ Elisabeth Meilhammer, 2 Bände, Hildesheim/Zürich/New York 1999; „Völkerversöhnung“ oder „Volksversöhnung“? Volksbildung und politische Bildung in Thüringen 1918–1933. Eine kommentierte Dokumentation, hg. von Jörg Wollenweber, Erfurt 1996. 57 Thüringen. Eine Monatsschrift für alte und neue Kultur 1 (1925) – 6 (1930/31). Koch war 1906–1913 Geschäftsführer des damals von Paul Schultze-Naumburg geleiteten DBH; die Beratungsstelle wurde 1911 eingerichtet; 1920 wurde Koch im Innenressort als Hilfsreferent eingestellt u. 1921 vom Volksbildungsressort übernommen. 58 Aus der Fülle der Literatur vgl. für Thüringen Justus H. Ulbricht, Von der „Heimat“ zum „Trutzgau“. Kulturgeschichtliche Aspekte der „Zeitenwende“ 1933, in: Lothar Ehrlich/Jür-

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Das prägte sich vor allem in der Regierungszeit des „Thüringer Ordnungsbun­ des“ (1924/27)59 im politischen Umfeld des Thüringer Landbundes aus und verschob die deutungspolitischen Koordinaten in der politischen Kultur des Landes zugunsten der kulturellen und politischen Rechten. Dieser identitätspolitische „neue Kurs“ nahm in der „Ära Frick“ (1930/31)60 deutliche Konturen an und mündete mit der Sauckel-Regierung (1932/33)61 in die nationalsozialistische Gau-­Mobilisierungspolitik. Diese „systemüberwindende“ identitätspolitische „Zeitenwende“ stellte ein – hier nicht zu behandelndes – neues Kapitel im Bruch wie in Kontinuität mit den bisherigen „Thüringen-Diskursen“ dar. Abschließend sollen acht Thesen zu grundsätzlich-vergleichenden Aspekten des hier Dargelegten formuliert werden.

5. Thesen und Ausblick

Erstens: Die skizzierten Vorgänge resultierten aus endo- wie exogenen Faktoren, deren Zusammenspiel sich nur im diachronen Längs- wie synchronen Querschnittsvergleich erschließen lassen. Über Erfolg oder Misserfolg entschieden letztlich exogene Faktoren. Das zeigt schon der Revolutionsvergleich 1848 und 1918. Wie 1848 der Basis- und Mediatisierungsdruck die Thüringer Einigungsbewegung auslöste, sein Wegfall sie aber wieder zum Erliegen brachte, so brachen Revolution, Fürstenabdankung und Republikgründung 1918/19 dem Thüringer Zusammenschluss Bahn. Zweitens: Dieser Zusammenschluss war kein dem Reich abgetrotztes Resultat regionalen Eigensinns und entschieden föderalistischer Positionen. Er erfolgte nicht reichsdistanziert, sondern reichsgerichtet und in enger Kooperation mit den Reichsstellen. Das entsprach auch der Denktradition der gen John/Justus H. Ulbricht (Hg.), Das Dritte Weimar. Klassik und Kultur im Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 163–217; Rüdiger Haufe, Der „deutsche Wald“ und seine „Tempelhüter“. Heimat- und Wandervereine als Produktions- und Vermittlungsinstanzen zeitgenössischer „Thüringen“-Diskurse im 19. und 20. Jahrhundert, in: Monika Gibas/ Rüdiger Haufe (Hg.), „Mythen der Mitte“. Regionen als nationale Wertezentren. Konstruktionsprozesse und Sinnstiftungskonzepte im 19. und 20. Jahrhundert, Weimar 2005, S. 59–78. 59 Die Minderheitsregierung des „Thüringer Ordnungsbundes“ (DVP, DNVP, ThL) 1924/27 wurde von der völkisch-nationalsozialistischen Landtagsfraktion parlamentarisch toleriert. 60 Der von Erwin Baum (ThL) geleiteten Landesregierung (23.1.1930–21.4./4.5.1931) gehörte Wilhelm Frick (NSDAP) als Innen- u. Volksbildungsminister an. 61 Vom NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel geleitete Landesregierung (26.8.1932–7.5.1933).

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deutschen Mitte und der Thüringer Frage als Teil der deutschen Frage. Die Landesgründung 1920 per Reichsgesetz nach Artikel 18 der Weimarer Reichsverfassung war der Schlussakkord dieses Zusammenspiels. Drittens: Die Weimarer Republik als „unitarischer Bundesstaat“ schränkte die Rechte und Gestaltungsmöglichkeiten der Länder durch den Ausbau der Reichskompetenzen erheblich ein. Obwohl eine durchgängige Reichs-Neu­ gliederung unterblieb, legten sich vom Reich ausgehende neue Regionalstrukturen (Wahlkreise; Finanz-, Arbeitsamts-, Schlichter- und Tarif-Bezirke) über die historisch gewachsene Landes- bzw. – preußenbezogen – Provinzialstruktur. Viertens: Das belastete den Länderföderalismus und begünstigte die – teils auf „Großländer“, teils auf „Reichsprovinzen“ – gerichteten Großraumpläne, die die Eigenstaatlichkeit des 1920 gebildeten Landes Thüringen wieder in Frage stellten. Diese Großraumpläne waren von der Rationalisierungs- und Planungseuphorie der 1920er/30er Jahre, von verbreitetem technokratischen, landes-, raum- und wirtschaftsplanerischem Denken und von der Vorstellung geprägt, die Kräfte bündeln, die Verwaltung rationalisieren und Staatsgrenzen überwinden zu müssen, um Wirtschafts- und Gestaltungskraft zu erlangen. Solches Denken zeigte sich auch bei der Thüringer Landesgründung – aber in weitaus geringerem Maße als bei den Großraumplänen. Fünftens: Die Neuordnung Thüringens war ein typisches und im Unterschied zu den Großraumplänen der Weimarer Zeit erfolgreiches Beispiel für Regionsbildung (region making) und Raumdenken (thinking space). Ihr lag ein historisch gewachsenes Regionalbewusstsein zugrunde, das aber keineswegs homogen, sondern fragmentiert war und mehrere Optionen einschloss. Die Vorgänge verliefen im tonangebenden Weimar ganz anders als in den „Randstaaten“ Coburg, Meiningen und Altenburg oder im „preußischen Thüringen“. Sie führten keineswegs zwangsläufig zu einem historisch-räumlich vermeintlich vorbestimmten Resultat. Nach dem Zusammenschluss suchte man freilich genau diesen Eindruck zu vermitteln und forderte, die „unvollendet“ gebliebene „Einheit Thüringens“ zu „vollenden“. Sechstens: Die Thüringer Landesgründung nimmt in der Geschichte deutscher Territorialreformen und Länderneugliederungen einen besonderen Platz ein.62 Sie war – neben der Bildung Groß-Berlins (1920) und den weniger ge62 Vgl. Klaus-Jürgen Matz, Länderneugliederung. Zur Genese einer deutschen Obsession seit dem Ausgang des Alten Reiches, Idstein 1997; Robert Kretzschmar/Anton Schindling/ Eike Wolgast (Hg.), Zusammenschlüsse und Neubildungen deutscher Länder im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013.

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wichtigen Anschlüssen Coburgs an Bayern (1920) und Waldeck-Pyrmonts an Preußen (1922/29) – die einzige Territorialreform der Weimarer Zeit. Sie lag jenseits der drei großen „Territorialrevolutionen“ am Ende des „Alten Reiches“, des Deutschen Bundes und des NS-Regimes. Und sie erfolgte nicht wie diese unter äußerem militärischen Druck (Napoleons, Bismarcks bzw. unter Besatzungsregime), sondern „von innen“, „aus der Revolution heraus“ und im demokratischen Kontext. Der enge Zusammenhang von Revolution und Territorialreform war konstitutiv für die Thüringer Landesgründung. Das sei mit Blick auf das 100-Jahres-Jubiläum der Landesgründung (2020) betont. Siebtens: Trotz der angesprochenen Diskurs-Kontinuitäten stand die Landesgründung 1920 in scharfem Kontrast zur NS-Zeit mit der „Verreich­ lichung“ der Länder, der informellen Reichs-Neugliederung in Gaue und einigen formellen Akten territorialer Anpassung an die Gaustrukturen 1934 (Zusammenschluss der beiden mecklenburgischen Länder), 1937 Groß-­ HamburgGesetz und Anschluss Lübecks an Preußen) und 1944 (Teilung der Provinzen Sachsen und Hessen-Nassau). Der NS-Gau und Reichs­verteidigungsbezirk Thüringen umfasste das Land und die – formell noch preußischen – Gebiete des Regierungsbezirkes Erfurt und des Kreises Schmalkalden.63 Scheinbar entsprach diese – von einer massiven Thüringen-Propaganda begleitete64 – Gaustruktur dem nach 1918 angestrebten „Großthüringen“. Sie hatte aber – wie alle NS-Gaue als Mobilisierungsstrukturen für den Krieg65 – eine völlig andere Funktion. Achtens: Nach dem Ende des NS-Regimes griffen die Verwaltungspläne Hermann Brills für die im Juni 1945 – unter US-Besatzung und ohne öffentliche Diskurse – gebildete Provinz Thüringen auf Pläne der Weimarer Zeit 63 Vgl. Jürgen John, Der NS-Gau Thüringen 1933 bis 1945. Grundzüge seiner Struktur- und Funktionsgeschichte, in: Justus H. Ulbricht (Hg.), Klassikerstadt und Nationalsozialismus. Kultur und Politik in Weimar 1933 bis 1945, Weimar 2002, S. 25–52; Willy A. Schilling, Die Entwicklung des faschistischen Herrschaftssystems in Thüringen 1933 bis 1939,  Berlin  2001; Markus Fleischhauer, Der NS-Gau Thüringen 1939–1945. Eine Struktur- und Funktionsgeschichte, Köln/Weimar/Wien 2010; als rein publizistischen Überblick vgl. Steffen Rassloff, Der „Mustergau“. Thüringen zur Zeit des Nationalsozialismus, München 2015; zur territorialen Binnenstruktur des Gaues Thüringen vgl. Frank Boblenz/Bernhard Post, Die Machtübernahme in Thüringen 1932/33, Erfurt 2013, S. 55–83. 64 Siehe hierzu den Beitrag von Steffen Raßloff in diesem Band. 65 Vgl. Jürgen John/Horst Möller/Thomas Schaarschmidt (Hg.), Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007; Oliver Werner (Hg.), Mobilisierung im Nationalsozialismus. Institutionen und Regionen in der Kriegswirtschaft und der Verwaltung des „Dritten Reiches“ 1936 bis 1945, Paderborn u. a. 2013.

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zurück.66 Noch vor der formellen Auflösung Preußens durch den Alliierten Kontrollrat (Februar 1947) umfasste sie neben dem Land auch die preu­ßischen Gebiete Thüringens sowie einige amerikanisch besetzte westsächsische Kreise. und wurde nach dem Besatzungswechsel im Juli 1945 (nun ohne die west­ sächsischen Kreise) von der sowjetischen Militäradministration als Land Thüringen bestätigt.67 Juristen sahen es in staatsrechtlicher Identität mit dem 1920 gebildeten Land. Anders als im Falle Groß-Hessens (US-Zone) und Sach­senAnhalts (sowjetische Zone) sei durch den Anschluss preußischer Gebiete an das Land Thüringen kein „neuer Staat“ entstanden. Zumal diese Gebiete – mit Ausnahme des Eichsfeldes – ohnehin schon lange geographisch-landmannschaftlich zu Thüringen gehört hätten.68 Diese Frage staatsrechtlicher Identität sollte sich dann 1990 erneut bei der Wiedereinführung des 1952 de facto – nicht de jure – aufgelösten Landes Thüringen stellen.69

66 Plan für den Aufbau der Verwaltung Thüringens (LATh–HStA Weimar, Land Thüringen-Büro des Ministerpräsidenten [LTh–BMP], Nr. 1078, Bl. 7r–18r); Richtlinien für eine Landesverwaltungsordnung der Provinz Thüringen (LTh–BMP, Nr. 1077, Bl. 1r–3r); [bestätigt durch die amerikanische Militärverwaltung]; Regierungsblatt für Thüringen (im Folgenden: RbTh) 1945 I, S. 1 (Bekanntgabe der Provinzial-Regierung Thüringen v. 2./16.7.1945). 67 Durch den Hauptchef-Befehl Nr. 5 v. 9.7.1945 zur Einsetzung regionaler SMA in den Ländern u. Provinzen der Sowjetischen Besatzungszone); übersetzt abgedruckt in: Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, Sammelheft 1: 1945, Berlin 1946, S. 13 f.; Nachdruck in: Jan Foitzik (Hg.), Sowjetische Kommandanturen und deutsche Verwaltungen in der SBZ und frühen DDR (Texte und Materialien zur Zeitgeschichte, 19), Berlin/München/Boston 2015, S. 435 f.; RbTh 1945 I, S. 5 (Bekanntgabe der Landesverwaltung Thüringen v. 1./4.9.1945). 68 So die durch eine Anfrage des Landesamtes für Finanzen (19.7.1946) ausgelösten OVG-Rechtsgutachten v. 26.8.1946 (Rudolf Knauth) u. v. 16.9.1946 (Hellmuth Loening) – LATh–HStA Weimar, Land Thüringen-Ministerium für Justiz (LTh–MfJ), Nr. 344, Bl. 9r–14r, 17r–23r; das Gutachten des OVG-Präsidenten Loening „über die Frage, ob das jetzige Land Thüringen Rechtsnachfolger des früheren Landes Thüringen und des Reiches ist“, ist auszugsweise abgedruckt in: Deutsche Rechts-Zeitschrift 1 (1946), S. 129–133. 69 Vgl. Jürg Kasper, Die Schulden der Dritten Republik. Aktuelle Verbindlichkeiten des staates Thüringen gegenüber dem ehemaligen Herzogtum Sachsen-Meiningen, HamFrei­ burg 2001, S. 81–85.

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Literatur Stefan Gerber (Hg.), Das Ende der Monarchie in den deutschen Kleinstaaten. Vorgeschichte, Ereignis und Nachwirkungen in Politik und Staatsrecht 1914–1939, Köln/Weimar/Wien 2018. Beate Häupel, Die Gründung des Landes Thüringen. Staatsbildung und Reformpolitik 1918–1923, Weimar/Köln/Wien 1995. Hans-Werner Hahn, Vom Thüringer Kleinstaatenjammer zum Land Thüringen. Die „Thüringen-Frage“ 1806 bis 1920, in: Robert Kretzschmar/Anton Schindling/Eike Wolgast (Hg.), Zusammenschlüsse und Neubildungen deutscher Länder im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013, S. 125–152. Thomas Herntrich, Thüringen. Von den thüringischen Kleinstaaten nach Zerfall des Alten Reiches bis zum Freistaat Thüringen. Eine völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Betrachtung, Frankfurt/M. u. a. 2010, S. 220–254. Jürgen John, „Thüringer Frage“ und „Deutsche Mitte“. Das Land Thüringen im Spannungsfeld endogener und exogener Faktoren, in: Michael Richter/Thomas Schaarschmidt/ Mike Schmeitzner (Hg.), Länder, Gaue und Bezirke. Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert, Dresden 2007, S. 85–103. Ders./Bernhard Post, Von der Landesgründung zum NS-„Trutzgau“. Thüringen-Diskurse 1918 bis 1945, in: Matthias Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 67–120. Ders., Thüringen-Bilder – alte Klischees, neu entdeckt?, in: Konrad Scheurmann/Jördis Frank (Hg.), Neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen. Essays, Mainz 2004, S. 65–81. Ders. (Hg.), „Mitteldeutschland“. Begriff – Geschichte – Konstrukt, Rudolstadt/Jena 2001. Ders., Thüringer Verfassungsdebatten und Landesgründung 1918 bis 1921, in: 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung 1919–1999, Weimar 1998, S. 67–122. Robert Kretzschmar/Anton Schindling/Eike Wolgast (Hg.), Zusammenschlüsse und Neubildungen deutscher Länder im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013. Timo Leimbach, Landtag von Thüringen 1919/20–1933, Düsseldorf 2016. Klaus-Jürgen Matz, Länderneugliederung. Zur Genese einer deutschen Obsession seit dem Ausgang des Alten Reiches, Idstein 1997.

Steffen Raßloff

„Mustergau“ Thüringen. Identitätspolitik im Dritten Reich Während des Dritten Reiches spielte die Identität Thüringens und der Thüringer von Seiten des NSDAP-Gaus eine tragende Rolle. Die neue braune Elite betrieb eine aufwändige Identitätspolitik, die viele Bilder und Konstrukte der besonders seit dem Landesgründungsprozess 1918/20 intensivierten facettenreichen Thüringen-Diskurse aufgriff.1 Hierbei stand die Selbststilisierung als „Mustergau“ im Mittelpunkt. Vieles von dem, was zum Nutzen der NS-Herrschaft an regionalen Identitäten, an historisch-kulturellen Ressourcen in Anspruch genommen wurde, was man an ehrgeizigen Projekten anging, geschah sozialistischen unter der Prämisse, eine herausgehobene Rolle im national­ Deutschland zu spielen.2 War aber Thüringen wirklich so etwas wie ein „Mustergau“? Die NSDAP unter Gauleiter Fritz Sauckel, der im Zweiten Weltkrieg zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz aufstieg und 1946 als Hitlers „Sklavenhalter“ in Nürnberg zum Tode verurteilt wurde, erhob jedenfalls diesen Anspruch.3 Der Gau Thüringen habe sich vor der „national­ sozialistischen Machtergreifung“4 1933 „seit Jahren auf Vorpostenstellung befunden“5 und danach einen erheblichen „Anteil am Befreiungswerk“6 Deutschlands gehabt. Gerne gab man sich selbst das Etikett „Trutzgau des Führers“. Auch heute sehen viele Historiker in Thüringen einen „national­

1 Vgl. Jürgen John/Bernhard Post, Von der Landesgründung zum NS-„Trutzgau“. ThüringenDiskurse 1918 bis 1945, in: Matthias Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 67–120. 2 Vgl. Steffen Rassloff, Der „Mustergau“. Thüringen zur Zeit des Nationalsozialismus, München 2015. 3 Vgl. Ders., Fritz Sauckel. Hitlers „Muster-Gauleiter“ und „Sklavenhalter“, Erfurt 42012. 4 Fritz Sauckel, Kampfreden. Dokumente aus der Zeit der Wende und des Aufbaus, Weimar 1935, S. 89. 5 Ebd., S. 47. 6 Ebd.

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sozialistischen ‚Mustergau‘“,7 während andere betonen, der Begriff habe „keine analytische Qualität“8 und tauge allenfalls, „um empirische Befunde metaphorisch überhöht zu präsentieren“9. Wofür aber sprechen die besagten „empirischen Befunde“? Thüringen spielte unbestritten eine Vorreiterrolle für den Aufstieg der NSDAP. Hier bildete sich in den 1920er Jahren eine der frühen Hochburgen, hier fand 1926 der erste Reichsparteitag nach dem Hitler-Putsch mit Gründung der Hitler-Jugend statt, hier gelangten 1930 erstmals Nationalsozialisten auf Ministersessel und hier erfolgte im August 1932 die „vorgezogene Machtergreifung“ mit der Regierung Sauckel. Im Dritten Reich ging Thüringen bei der NS-Gewaltherrschaft wiederholt voran, bündelte regionale Machtkompetenzen, setzte in der Wirtschaftspolitik Akzente, nutzte die Ausstrahlung des Kulturlandes um Hitlers „Lieblingsstadt“ Weimar, die zu einer „Muster-Gauhauptstadt“ ausgebaut wurde. Auch das KZ Buchenwald, eines der drei deutschen Großlager mit SS-Garnison neben Sachsen­hausen und Dachau, bildete letztlich ein Element des MustergauStrebens. In der Schlussphase des Krieges sollte Thüringen mit unterirdischen Rüstungsprojekten, geheimnisumwitterten Auslagerungen und einem mutmaßlichen Führerhauptquartier im Jonastal zur letzten „Festung“ des Dritten Reiches werden. Festzuhalten bleibt also zunächst, dass Thüringen bei Aufstieg, Herrschaft und Verbrechen der NS-Diktatur eine wichtige Rolle gespielt hat. Unermüdlich war die Gauleitung um Fritz Sauckel bis zum bitteren Ende bemüht, es in den verschiedensten Bereichen als „Mustergau“ zu profilieren. Häufig ist ihr dies gelungen, wobei tatsächlicher Stellenwert und propagandistische Über­ höhung nur schwer zu trennen sind. Einige Facetten sollen im Folgenden schlaglichtartig beleuchtet werden, während andere durchaus relevante, wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik,10 aus Platzgründen außen vor bleiben müssen.

7 Gunther Mai, Das Kriegsende in Thüringen 1945. Region zwischen den Fronten, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 59/60 (2005/06), S. 269–306, hier S. 270. 8 Jürgen John, Die Gaue im NS-System und der Gau Thüringen, Erfurt 2008, S. 38. 9 Ebd. 10 Vgl. Rassloff, Der „Mustergau“ (wie Anm. 2), S. 69–86.

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Abb. 1: Berichterstattung zum Reichsparteitag der NSDAP 1926 in Weimar

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1. Politisch-administrative Voraussetzungen

Voraussetzung für eine effektive Identitätspolitik und nationale Profilierung war zunächst die Bündelung der regionalen Macht im noch immer vielfach politisch-administrativ zersplitterten Thüringen.11 Beim 1933 einsetzenden Wandel von NSDAP-Parteigauen zu NS-Gauen im weiteren Sinne gilt Thüringen als ausgesprochenes „Erfolgsmodell“. Es profilierte sich unter Bündelung der thüringischen und preußischen Gebiete in jenem angedeuteten weiten Spektrum der Politikfelder. Dabei gelang es Sauckel, den charakteristischen Wirrwarr der Strukturen und Organisationen effektiv zu bündeln und immer wieder auf die dynamische Entwicklung der NS-Diktatur zu reagieren. Seit August 1932 Regierungschef, wurde er am 5. Mai 1933 zum Reichsstatthalter für Thüringen ernannt. Als Gauleiter und Reichsstatthalter vereinte er die beiden höchsten Ämter in Partei und Staat in seiner Person. Die Stellung Sauckels als dominierender „Gaufürst“, die keineswegs alle der 31 Gauleiter im Reich erlangten, durfte spätestens Mitte der 1930er Jahre als gefestigt gelten. Zusätzlichen Rückhalt gab ihm sein gutes Verhältnis zu Hitler und Vertretern aus dessen engster Umgebung wie Martin Bormann, in der „Kampfzeit“ Sauckels Gaugeschäftsführer in Weimar. Nicht zuletzt hieraus erwuchs auch der Aufstieg in die ministerähnliche nationale Führungsposition eines Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz 1942, die er vom „Thüringen-­Haus“ in Berlin aus führte. Eine weitere wichtige Voraussetzung war der regionale Zuschnitt von Parteiund Staatsstrukturen. Ähnlich wie in Sachsen mit Gauleiter und Reichsstatt­ halter Martin Mutschmann gelang Sauckel der politische Zugriff auf einen relativ homogenen, historisch gewachsenen Kulturraum, was systemstabilisierende Identitätspolitik begünstigte (siehe Abb. 3).12 Für die benachbarten Gaue Magdeburg-Anhalt und Halle-Merseburg im späteren Sachsen-Anhalt traf dies ebenso wenig zu, wie etwa für die fünf Gaue in Bayern, deren Gauleiter alle keine Reichsstatt­halter waren oder sonstige höhere Ämter bekleideten. Sauckel zielte vor diesem Hintergrund bis in die Schlussphase des Dritten Reiches auf eine weitere Homogenisierung seines Herrschaftsgebietes. Zum NSDAP-Parteigau gehörten das 1920 gegründete „kleinthüringische“ Land Thüringen13 mit der Hauptstadt Weimar, der preußische Regierungsbezirk Er11 Vgl. Rassloff, Der „Mustergau“ (wie Anm. 2), S. 31–50. 12 Vgl. Steffen Rassloff, Mitteldeutsche Geschichte. Sachsen – Sachsen-Anhalt – Thüringen, Leipzig 2016 (Neuauflage Markkleeberg 2019), S. 192–204. 13 Siehe hierzu den Beitrag von Jürgen John in diesem Band.

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Abb. 2: NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter für Thüringen Fritz Sauckel

furt und der Kreis Schmalkalden des Regierungsbezirkes Kassel. Damit hatte Sauckel auf der Parteiebene „Großthüringen“ unter seiner Verfügungsgewalt. Dass nach der „Gleichschaltung“ der Länder die Partei machtpolitisch an Bedeutung gewann, kam ihm daher entgegen. Seine Bestrebungen nach einem einheitlichen „Reichsgau Thüringen“ scheiterten jedoch an der ausbleibenden Reichsreform. Hitler hatte dieses konfliktträchtige Großprojekt eingefroren und zudem der preußische Ministerpräsident Hermann Göring demonstrativ Gebietsabtritte ausgeschlossen. Damit waren aber zugleich auch die diversen Planspiele der 1920er und frühen 1930er Jahre für ein Land Mitteldeutschland vom Tisch.14 In diesem sollten je nach Zuschnitt das Land Thüringen, die Provinz Sachsen, das Land Anhalt und sogar das Land Sachsen aufgehen. Sauckel ließ sich aber durch die gestoppte Reichsreform nicht von seinem Ziel eines möglichst einheitlichen Thüringens abbringen. Auf den preußischen Regierungsbezirk Erfurt versuchte er etwa auf der Personalebene Einfluss zu 14 Diesen Planspielen widmen sich mehrere Beiträge in: Jürgen John (Hg.), „Mitteldeutschland“, Begriff – Geschichte – Konstrukt. Rudolstadt/Jena 2001.

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Abb. 3: Thüringen im Dritten Reich

gewinnen. So übernahm 1935 der bisherige Justizminister Thüringens Otto Weber das Amt des Erfurter Regierungspräsidenten. Unter den Bedingungen des Krieges kam der Gauleiter und Reichsstatthalter seinem Ziel einer Einigung der Region sehr nahe. Seit Kriegsbeginn 1939 fungierte er zusätzlich als Reichsverteidigungskommissar mit gesamt­thüringischen Kompetenzen. Am 1. April 1944 verfügte schließlich ein Führer­erlass die Aufteilung der Provinz Sachsen, wobei Sauckel die Befugnisse eines Ober­präsidenten im Bereich des Regierungsbezirkes Erfurt zufielen, dem auch der Kreis Schmalkalden angegliedert wurde.15

15 Vgl. Detlev Snell, Die Führererlasse vom 1. April 1944 und das Schicksal des Regierungs­ bezirks Erfurt sowie des Landkreises Herrschaft Schmalkalden, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 49 (1995), S. 9–22.

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2. Gautage und „Muster-Gauhauptstadt“ Weimar

Sauckel hatte zudem lange vorher begonnen, Thüringen im Bereich der Symbolpolitik zu homogenisieren. Schon als Regierungschef betonte er 1932 „die Selbständigkeit des Landes Thüringen auf das Allerentschiedenste“, die im Rahmen der Reichsreformdebatten immer wieder in Frage gestellt worden war.16 Dabei spielte der Verweis auf die Verdienste um die „Bewegung“ eine zentrale Rolle. Nicht nur in dem vom Gauleiter herausgegebenen Bildband „Kampf und Sieg in Thüringen“ von 1934 ließ man die „Kampfzeit“ vom „roten Thüringen“ der frühen 1920er Jahre zu einer „Hochburg Adolf Hitlers“ verewigen.17 Auf pompösen Festveranstaltungen, besonders den jährlichen „Gautagen“, wurde dies immer wieder voller Stolz demonstriert. Heraus ragen die Gautage 1936 und 1938 in der Gauhauptstadt Weimar, die beispielhaft für die NS-Massenveranstaltungen mit gefeierten Auftritten des „Führers“ stehen können. Sie dienten neben den nationalen Großereignissen wie den Nürnberger Reichsparteitagen gewissermaßen dem Erlebnis der Volksgemeinschaft in ihrer thüringischen Ausprägung.18 Der Gautag vom Juli 1936 zielte besonders auf das 10-jährige Jubiläum des Reichsparteitages von 1926 und war zugleich eine demonstrative Erfolgsbilanz. Noch aufwändiger wurde der Gautag 1938 begangen. Nach dem Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes umjubelten 200.000 Thüringer den „Führer“ in Weimar. Laut Sauckel maßen sich dabei „die Nationalsozialisten des Gaues Thüringen, des im Herzen Deutschlands liegenden Trutzgaues“ einen großen Anteil zu, dass „aller Deutschen schönster Traum“ im Dritten Reich Wirklichkeit geworden sei.19 Jener von Hitler ausdrücklich für seine Verdienste gewürdigte „Mustergau“ sollte für die Thüringer, wie für alle Welt in Weimar dauerhaften Ausdruck finden. Sauckel hatte schon bei der „vorgezogenen Machtergreifung“ im August 1932 die „überragende Kulturtradition des Landes Thüringen“ betont. In der Gauhauptstadt sollten sich nunmehr nationale Hochkultur und Geist des Nationalsozialismus die Hand reichen. Sehr entgegen kam Sauckel hierbei die 16 Zit. nach: Bernhard Post/Volker Wahl (Hg.), Thüringen-Handbuch. Territorium, Verfassung, Parlament, Regierung und Verwaltung in Thüringen 1920 bis 1995, Weimar 1999, S. 94. 17 Fritz Sauckel, Kampf und Sieg in Thüringen, Weimar 1934. 18 Rassloff, Der „Mustergau“ (wie Anm. 2), S. 40–44. 19 Fritz Sauckel, Der Führer in Weimar 1925–1938, Weimar 1938, S. 3.

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Vorliebe Adolf Hitlers für die Klassikerstadt, die dieser seit 1925 häufig besucht hatte. „Ich liebe nun einmal Weimar. Ich brauche Weimar, wie ich Bayreuth brauche“, so soll sich Hitler schon 1928 geäußert haben.20 Gauleiter Sauckel verstand es so besser als viele seiner Amtskollegen, das Licht der großen Popularität Hitlers auf Thüringen und seine Person scheinen zu lassen. Seinen Führer weiter an Weimar zu binden, ließ er sich deshalb einiges kosten. Deutlich wird dies etwa im Neubau des von Hitler bevorzugten Hotels „Elephant“ am Marktplatz. Jene enge Verbindung wurde nach dem Gautag 1938 in einem von Sauckel veröffentlichten Prachtband „Der Führer in Weimar“ für die Nachwelt festgehalten.21 Dort wird der Bogen von den ersten Besuchen der „Kampfzeit“ bis hin zu den begeisterten Empfängen des etablierten Reichskanzlers gespannt.

Abb. 4: Adolf Hitler während des Gautages 1938 auf dem Balkon des Hotels „Elephant“ in Weimar, dahinter Gauleiter Fritz Sauckel 20 Holm Kirsten, „Weimar im Banne des Führers“. Die Besuche Adolf Hitlers 1925–1940, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 8. 21 Sauckel, Der Führer in Weimar (wie Anm. 19).

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Hitlers „Lieblingsstadt“ sollte darüber hinaus zum Muster für die Umgestaltung aller deutschen Gauhauptstädte im Stile der NS-Architektur werden.22 Herzstück war das Projekt eines großen „Gauforums“ mit Verwaltungsbauten für Reichsstatthalterei und Gauleitung, Parteigliederungen, Deutsche Arbeitsfront und Wehrmacht sowie einer „Halle der Volksgemeinschaft“ für 20.000 Zuschauer. Hitler selbst nahm großen Anteil an dem Prestigeprojekt. Neben den geplanten Großbauten in Berlin, München und Nürnberg kam dem Weimarer Gauforum höchste Priorität zu. Um diesen Ort der Machtdemonstration und inszenierten Volksgemeinschaft zu schaffen, wurde rücksichtslos in die historisch gewachsene Struktur Weimars eingegriffen. Zwischen Zentrum und Gründerzeitviertel verschwanden der Park vor dem Landesmuseum und Teile der Altstadt. Nach dem ersten Spatenstich während des Gautages 1936 in Anwesenheit Hitlers entstanden ab 1937 bis weit in den Krieg hinein die riesigen Repräsentationsbauten. Das Gauforum stellt damit eines der wenigen weitgehend fertiggestellten Ensembles der NS-Architektur und die einzige verwirklichte regionale Machtzentrale des Dritten Reiches dar.

Abb. 5: Modell des Gauforums in Weimar von 1936

Gleichzeitig investierte man teils mit persönlicher Unterstützung Hitlers in die großen Kulturstätten Weimars. Heraus ragen dabei der Museumsneubau am Goethe-Nationalmuseum 1935, der Ausbau des Deutschen Nationaltheaters und das Projekt einer Nietzsche-Gedächtnishalle. Ein Propaganda-Coup ersten Ranges war v. a. das Goethe-Museum. Ein erster Anlauf, die wichtigste bildungsbürgerliche Pilgerstätte Deutschlands anlässlich des Goethejahres 1932 einzuweihen, war aus finanziellen 22 Rassloff, Der „Mustergau“ (wie Anm. 2), S. 51–57.

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Gründen in der Agoniephase der Weimarer Republik gescheitert. Museumsdirektor Hans Wahl gehörte jedoch zu den frühen Verehrern Hitlers. Ihm war es mit zu verdanken, dass der Bau unter maßgeblicher Unterstützung des „Führers“ nun fertiggestellt werden konnte. Dies wurde als große Kulturtat des „neuen“ Thüringens gefeiert: „Nationalsozialistischer Wille verwirklichte den viele Jahrzehnte alten Gedanken, ein biographisches Museum zu bauen, damit alle Entwicklungsepochen Goethes endlich dargestellt werden können.“23

3. Kulturkampf und „Rasse-Mustergau“

Ein weiteres zentrales Feld nationalsozialistischer Kulturpolitik war die Verfolgung aller vermeintlich „undeutschen“ und „entarteten“ Kunstformen, was durchaus zur Popularität des Dritten Reiches beitrug.24 Auch hierbei hatte sich Thüringen bereits in der „Kampfzeit“ spektakulär hervorgetan. Die Staatlichen Kunstsammlungen Weimar waren in den 1920er Jahren zu einem Zentrum der Moderne mit zahlreichen Werken von Bauhauskünstlern und Expressionisten aufgestiegen. Mit dem Rückenwind breiter konservativer Kritik ließ NSMinister Wilhelm Frick 1930 handstreichartig diese Kunstwerke aus der Ausstellung entfernen. Der „Weimarer Bildersturm“ war aber nur ein erster Vorbote der NS-Kultur­ barbarei, die nach der „Machtergreifung“ in der Aktion „Entartete Kunst“ 1937 gipfelte. Hierbei gehörte Thüringens „Kulturdiktator“ Hans Severus Ziegler zu den treibenden Kräften. Auch die Weimarer Sammlung mit rund 460 Werken wurde beschlagnahmt. Die „Larven- und Fratzenbilder aus der Revolutionszeit“, neben der großen Münchner Ausstellung auch in Thüringen in „Schreckenskammern“ polemisch präsentiert, wurden anschließend in alle Welt verkauft oder vernichtet.25 Auf Druck von Ziegler und Sauckel richtete man nunmehr die Ausstellungs- und Ankauftätigkeit auf regimenahe Kunst aus, die ebenfalls ihren Beitrag zur thüringischen Identitätspolitik zu leisten hatte.

23 Andrea Dietrich, „Geistige Weihestätten“. Der zweite Erweiterungsbau des Goethe-Nationalmuseums und die Nietzsche-Gedenkhalle, in: Justus H. Ulbricht (Hg.), Klassikerstadt und Nationalsozialismus. Kultur und Politik in Weimar 1933 bis 1945, Weimar 2002, S. 145– 156, hier S. 146 f. 24 Rassloff, Der „Mustergau“ (wie Anm. 2), S. 65–67. 25 Gerda Wendermann, Die Staatlichen Kunstsammlungen zu Weimar im „Dritten Reich“, in: Ulbricht, Klassikerstadt (wie Anm. 23), S. 118–127, hier S. 124.

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Abb. 6: Karl Astel, Leiter des Landesamtes für Rassewesen und 1939 in Jena als erster Rassekundler Rektor einer deutschen Universität

Auch die Rassenpolitik versprach angesichts ihrer hohen ideologischen Bedeutung im Dritten Reich für die Gauleiter besonderen Prestige- und Machtgewinn.26 Bereits im Juli 1933 hatte Sauckel das Thüringische Landesamt für Rassewesen eingerichtet, das im Sinne der „Mustergau“-Ambitionen Vorbildfunktion für das ganze Reich erlangen sollte. Dessen Präsident Karl Astel trat 1939 als erster Rasseforscher in Jena als Rektor an die Spitze einer deutschen Universität. Die Salana hatte schon 1930 unter Minister Frick mit der Berufung des Rassekundlers Hans F. K. Günther für Furore gesorgt und sollte jetzt nach dem Willen Sauckels zu einer NS-Vorzeige-Hochschule des Dritten Reiches profiliert werden.27

26 Rassloff, Der „Mustergau“ (wie Anm. 2), S. 63–65. 27 Uwe Hossfeld/Jürgen John/Rüdiger Stutz (Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 2003.

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4. Volkskunde und Landesgeschichte

Über solche genuin nationalsozialistischen Themenfelder hinaus galt es unter Aufgreifen bürgerlich-konservativer Vorstellungen die Selbst­ darstellung Thüringens als traditionsreiche Geschichtslandschaft, als „kulturelles Herz Deutschlands“ voranzutreiben. Stolz verwiesen zahlreiche Publikationen auf die anderthalb Jahrtausende Landesgeschichte seit dem Königreich der Thüringer des 5./6. Jahrhunderts und den Thüringer Landgrafen des 12./13. Jahrhunderts. Seither habe sich trotz aller territorialen Zersplitterung in einem geografisch klar fassbaren Raum zwischen Harz und Thüringer Wald, zwischen Werratal und Osterland eine übergreifende Thüringen-Identität erhalten – was jenseits aller politischen Instrumentalisierung auch aus Sicht der heutigen Landesgeschichtsforschung nicht völlig verkehrt ist.28 Trotz gelegentlicher Spannungen gelang es der Gauleitung um Fritz Sauckel recht erfolgreich, die alten Eliten des Bildungsbürgertums für diese Zwecke zu mobilisieren. Auf der Basis großer ideeller Schnittmengen und eigener Interessen ließen sich viele von ihnen bereitwillig in diese Identitätspolitik einbeziehen oder betrieben sie mit aus eigenen Stücken. Beispielhaft sei auf Martin Wähler verwiesen, den profiliertesten Volkskundler Thüringens.29 Er genoss hohes fachliches Ansehen und legte mit seiner „Thüringischen Volkskunde“ (1940) die bislang einzige wissenschaftliche Gesamtdarstellung vor.30 Allerdings verkörpert Wähler zugleich die große ideologische Nähe seines Faches zum Nationalsozialismus. Sein Beitrag bestand im Konstrukt eines festgefügten „thüringischen Stammescharakters“. In diesem völkischen Denken spiegelt sich eine weit verbreitete Reaktion der Volkskundeund Heimatschutzbewegung auf die vermeintlichen und tatsächlichen Gefährdungen der industriell-urbanen Moderne wider. Die „Thüringische Volkskunde“ ist dabei eine über weite Strecken klassische Fachpublikation, die Stammesbildung, politisch-kulturelle Entwicklung, soziale Schichtung, Siedlung und Wohnen, Kunst, Sprache, Musik, Glaube, Brauchtum und Nahrung abhandelt. Dem Stammescharakter ist das letzte Kapitel gewidmet: „Der Charakter einer leib-seelischen Einheit, die wir als 28 Vgl. Steffen Rassloff, Geschichte Thüringens, München 22020. 29 Vgl. Ders., „Der thüringische Stammescharakter“. Martin Wähler und die Volkskunde aus völkischem Geist, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 57 (2003), S. 177–204. 30 Martin Wähler, Thüringische Volkskunde, Jena 1940.

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Stamm bezeichnen, hängt von der Rasse, dem Lebensraum, der Boden, Landschaft und Klima umfaßt, und der fortlaufenden Einwirkung geschichtlicher und kultureller Kräfte ab. […] Durch die länger als ein Jahrtausend festzustellenden Kultureinflüsse ist das Herzland Deutschlands zu einer Kulturprovinz schlechthin geworden.“31 Im Weiteren schildert Wähler den Charakter der Thüringer, wobei die völkische Anschauung klar zum Ausdruck kommt, die er in den „Vergleich des Volksstammes mit dem Baumstamme“ kleidet. Wähler attestiert seinen Landsleuten „Seelentiefe“, „Aufgeschlossenheit und Beweglichkeit“, „ausgleichende Haltung“, einen „protestierenden Zug“, „erzieherische Begabung“, „sprachschöpferische Befähigung“, einen Hang zu „Spiel, Lyrik und Lebensphilosophie“ und „einigende Kraft“ im nationalen Sinne durch „das sprachliche und musikalische Band, das sie um alle Deutschen schlangen“. Veranschaulicht wird das Ganze durch ein Panorama von historischen Entwicklungen, Leistungen und Personen, wobei die Zuordnung des Prädikates „thüringisch“ mitunter recht großzügig erfolgt.

Abb. 7: Martin Wähler, Verfasser der „Thüringischen Volkskunde“ von 1940

31 Ebd., S. 502.

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Schließlich schreibt Wähler den Thüringern noch in corpore besondere „Musikalität“ zu, ist Thüringen doch die Heimat der Bach-Familie und verdichten sich charakteristische Eigenschaften in herausragenden Persönlichkeiten des Stammes. Gerade hier zeigt sich, trotz allen empirischen Aufwands, die mitunter beliebige, auch von spürbarer Affinität geprägte Kollektiv-Zuschreibung von Attributen, die sich eher für Individuen eignen. Zugleich verstrickt sich Wähler in Widersprüche, wenn er einerseits die Vielgestaltigkeit der Regionen und ihrer Bewohner vor Augen führt – z. B. die einst wohlhabenden Bauern und Stadtbürger des fruchtbaren Thüringer Beckens vs. die armen Einwohner des Thüringer Waldes –, andererseits aber dennoch einen Stamm „aus einem Holz“ zu erkennen glaubt. Wähler liefert auch den politisch-administrativen Rahmen, auf den sich sein Stammes-Konstrukt stützt. Er besteht ganz im Sinne der NS-Identitätspolitik in dem „vom Nationalsozialismus 1933 geschaffene[n] Gau Thüringen“ aus dem Land Thüringen und dem Regierungsbezirk Erfurt. Damit habe das Dritte Reich „ungefähr das, was durch die gleiche Stammesart zusammengehört, was sich durch gemeinsame geschichtliche Schicksale verbunden weiß und was eine kulturelle Einheit darstellt, zusammengeschweißt“.32 Freilich zählt Wähler neben dem hessischen, 1944 in Sauckels Machtbereich eingegliederten Kreis Schmalkalden nach damals verbreiteter Ansicht auch angrenzende Teile des Regierungsbezirkes Merseburg mit Eckartsberga, Naumburg, Zeitz, Weißenfels, Sangerhausen und Querfurt zu Thüringen. In den Dienst der Thüringen-Identität sollte sich auch die Landesgeschichtsforschung stellen, der im Dritten Reich generell mehr Bedeutung beigemessen wurde. So sollte die in zwei Anläufen 1933 und 1937 gegründete Thüringische Historische Kommission „das wissenschaftliche Rüstzeug für die Einheit und Eigenstaatlichkeit Thüringens“ liefern.33 Zuvor war die Landesgeschichte nur von dem 1852 gegründeten Verein für Thüringische Geschichte und Altertumskunde sowie einer in seinem Rahmen eher ein Schattendasein fristenden Historischen Kommission betrieben worden. Sauckels Impuls traf auf das Interesse der Historiker und Archivare um den Kommissions-Vorsitzenden Willy Flach an einer effektiveren, staatlich geförderten Landesgeschichtsforschung. Trotz der Protektion durch die regionale NS-Führung und mancher rhetori32 Ebd., S. 63. 33 Volker Wahl, Die Neugründung einer Historischen Kommission für Thüringen als „staatspolitische Notwendigkeit“. Ein gescheitertes Projekt von 1933, in: Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik (wie Anm. 1), S. 121–162, hier S. 136.

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schen Anpassung entfaltete die Kommission eine weitgehend seriöse Grundlagenforschung und Publikationstätigkeit. Ähnliches gilt für die 1937 auf wesentliche Initiative von Günther Franz, einem renommierten, aber auch ob seiner Rolle im Dritten Reich umstrittenen Jenaer Historiker, begründete Anstalt für geschichtliche Landeskunde an der Universität Jena.34 Diese stellte sich große Ziele wie einen historischen Atlas für Thüringen, die Schriftenreihe „Arbeiten zur Landes- und Volksforschung“, moderne Projekte zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, stärkere Orientierung des Studiums auf die Landesgeschichte, Aufbau einer landesgeschichtlichen Bibliothek usw. All dies sollte bis hin zu populären Schriften, Veranstaltungen und Radiosendungen nach den Vorstellungen der NS-Führung mit dazu beitragen, das Bild eines homogenen, in vielerlei Hinsicht historisch-kulturell begünstigten Thüringens auf den „Mustergau“ der Gegenwart zulaufen zu lassen.

Abb. 8: Landeswappen von Thüringen 1933–1936

34 Vgl. Herbert Gottwald, Ein Landesgeschichtliches Institut für Thüringen. Günther Franz, die Gründung der „Anstalt für geschichtliche Landeskunde“ und die thüringische Landesgeschichtsschreibung 1937–1941, in: Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik (wie Anm. 1), S. 163–190.

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Ein weiterer Ausdruck dieser historisch grundierten Identitätsstiftung war das von Sauckel persönlich angeregte neue Landeswappen.35 An die Stelle des Wappens von 1921, das sieben silberne Sterne auf rotem Grund für die ehemaligen Kleinstaaten gezeigt hatte, trat anlässlich des ersten Jahrestages der „Machtergreifung“ am 26. August 1933 der spöttisch so bezeichnete „Thüringer Tiergarten“. Das neue Wappen zeigte unter Bezug auf die Kleinstaaten den sächsische Rautenkranz, schwarzburgischen Doppeladler, reußischen Löwen und die hennebergische Henne. Das Kernwappen trieb die nationalsozialistische Instrumentalisierung auf die Spitze, indem es dem rot-silbernen Landgrafenlöwen auf blauem Grund ein goldenes Hakenkreuz in die rechte Pranke legte. Mit dem schrittweisen Verlust der föderalen Souveränität der Länder verschwand das Wappen jedoch bis 1936 zugunsten des Reichsadlers mit Hakenkreuz aus der Öffentlichkeit.

5. Grenzen der Identitätspolitik

Es ist aber keineswegs so, dass alle Bemühungen um eine weit ausstrahlende thüringische Identitätspolitik im Sinne des Nationalsozialismus von Erfolg gekrönt gewesen wären. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Neben Weimar richteten sich die kulturpolitischen Ambitionen der Gauleitung auch auf die zweite heutige UNESCO-Welterbestätte Thüringens, die Wartburg.36 Jenes Nationaldenkmal musste den Ehrgeiz Sauckels anstacheln. Als Sitz der für die Identität der Thüringer zentralen Landgrafen bot es viele Anknüpfungspunkte. Darüber hinaus hoffte Sauckel, die Wartburg zum „Kulturmittelpunkt des Reiches“ machen zu können. Um dieses Potenzial besser auszuschöpfen, ließ er sich 1934 an die Spitze des Ausschusses der 1921 gegründeten Wartburg-Stiftung wählen. Schon seit den 1920er Jahren ein Kristallisationspunkt der völkisch-nationalen Szene, riss nun die Kette propagandistischer Veranstaltungen nicht mehr ab. Als mystische NS-Weihestätte und Ort großer Massenveranstaltungen sollte sich die historisch vielschichtige Höhenburg mit ihren beengten Räumlichkeiten aber doch als untauglich erweisen. Zudem gab es gelegentliche Rei35 Frank Boblenz, Landeswappen, Landesfahne und Landesfarben von Thüringen, in: Post/ Wahl, Thüringen-Handbuch (wie Anm. 16), S. 190–202. 36 Günter Schuchardt, Die Wartburg. Ein nationales Denkmal unter dem Hakenkreuz, in: Detlev Heiden/Gunther Mai (Hg.), Nationalsozialismus in Thüringen, Weimar/Köln/Wien 1995, S. 375–398.

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Abb. 9: Wartburg mit Hakenkreuz auf dem Bergfried im April 1938

bereien mit Ausschuss-Mitgliedern und deutliche Grenzen bei der Instrumentalisierung des Kulturdenkmals. Einen gewissen Symbolcharakter hierfür trägt eine Episode aus dem April 1938, als Eisenachs NSDAP-Kreisleiter Hermann Köhler an die Stelle des an Luther erinnernden Kreuzes auf dem Bergfried ein Hakenkreuz anbringen ließ. Nur wenige Tage später musste Sauckel diese angeblich ohne sein Wissen erfolgte Aktion wegen zahlreicher nationaler und internationaler Proteste rückgängig machen lassen. Einem anderen traditionsreichen Herrschersitz wurden Prestigestreben und Maßlosigkeit der Nationalsozialisten zum Verhängnis. Auf einem Bergrücken oberhalb des Schwarzatales gelegen, bot Schloss Schwarzburg bis 1940 einen majestätischen Anblick. In diesem Jahr drängte man die letzte Bewohnerin aus dem Fürstengeschlecht der Schwarzburger zum Umzug in das Schloss Sondershausen. Fritz Sauckel übereignete das Schloss sofort an das Reich, damit dort ein „Reichsgästehaus“ entstehen könne.

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Davon erhoffte sich der Gauleiter, nationale und internationale Prominenz ins „Grüne Herz Deutschlands“ locken zu können. Jenes um 1900 aufkommende Schlagwort, zurückgehend auf das 1897 erstmals aufgelegte gleichnamige Buch von August Trinius und von zeitgenössischen Autoren erfolgreich weitergetragen,37 gehörte zu jenen traditionellen Identitätsmustern und modernen Marketinginstrumenten, die vom NS-Gau aufgegriffen wurden. Vom aufstrebenden Tourismus im Zeichen des grünen Herzens konnte Schloss Schwarzburg freilich nicht mehr profitieren. Massive Eingriffe bis zur kriegsbedingten Einstellung der Bauarbeiten im April 1942 machten aus dem Barockschloss eine traurige Ruine.

Abb. 10: Pläne für ein „Gauforum“ am heutigen Thüringer Landtag in Erfurt

Trotz der weitgehenden Bündelung der Herrschaftsstrukturen ließ sich auch die über gut ein Jahrhundert historisch gewachsene Sonderstellung des preußischen Thüringens nicht ganz ausschalten.38 Im Prozess der „kleinthüringischen“ Landesgründung von 1918 bis 1920 hatte sich deutlich ein ausgeprägtes, von der Berliner Landesregierung erfolgreich mobilisiertes preußisches Landesbewusstsein in den entsprechenden Gebieten gezeigt – bis hin zu handfesten 37 Richard Herbst, Thüringen. Das Grüne Herz Deutschlands in Wort und Bild, Erfurt 1926. Das Buch erlebte bis weit in die 1930er Jahre zahlreiche Auflagen. 38 Steffen Rassloff, Landesbewusstsein und Geschichtsbild im preußischen Thüringen. Das Erfurter Bürgertum 1871–1933, in: Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik (wie Anm. 1), S. 45–64.

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Protesten unter dem Motto „Keine Hundehütte für Thüringen“. Tonangebend war hierbei im bildungsbürgerlichen Bereich u. a. die Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. So verwundert es nicht, dass Sauckel neben seinen eigenen Bemühungen um eine gesamtthüringische Identität die Erfurter Akademie und ähnliche zentrifugale Kräfte heftig bekämpfte. Der Eigensinn der preußischen Thüringer und ihrer Verwaltung ließ sich aber nicht gänzlich unterdrücken. Dies zeigt sich schlaglichtartig in mit der Gauhauptstadt Weimar konkurrierenden Projekten monumentaler NS-Herrschaftsarchitektur in Erfurt.39 Dort wurde der heutige Landtags-Altbau in der Arnstädter Straße 1939 als repräsentatives Behördenhaus demonstrativ eingeweiht. Es diente als neuer Sitz der preußischen Bezirksregierung und der Gestapo. Darüber hinaus gehende Pläne zum Ausbau des Platzes vor dem heutigen Landtag zu einem „Gauforum“, durchaus in den wuchtigen Dimensionen von Weimar, blieben allerdings kriegsbedingt unverwirklicht. Dies gilt auch für eine NS-Weihestätte auf dem Petersberg, in die die Peterskirche einbezogen werden sollte.

6. Fazit

Trotz einiger Misserfolge und gegenläufiger Tendenzen, die für das Dritte Reich keineswegs untypisch sind, muss man wohl die Identitätspolitik des NS-Gaues Thüringen als recht erfolgreich einstufen – so schwer sich letztlich der tatsächliche Ertrag im kollektiven Bewusstsein bemessen lässt. Die NSDAP-Gauleitung um den umtriebigen Gauleiter und Reichsstatthalter Fritz Sauckel bündelte das zersplitterte Herrschaftsgefüge weitgehend im „großthüringischen“ Rahmen, woran man unter gewandelten politischen Bedingungen 1945 und endgültig 1990 mit dem Land bzw. Freistaat Thüringen anknüpfen konnte. Darauf aufbauend propagierte die regionale NS-Führung das Bild einer historisch-kulturell höchst bedeutsamen Kernregion Deutschlands, die zugleich für den Siegeszug des Nationalsozialismus von enormer Bedeutung gewesen sei und sich nunmehr als „Mustergau“ weiter profiliere. Im Sinne der Blut-und-Boden-Ideologie wurden die Thüringer zu einem seit anderthalb Jahrtausenden fest in der Region verankerten Stamm der Deutschen erklärt, dessen Geschichte es auf breiter Front aufzuarbeiten gelte. Unterstützung kam 39 Rassloff, Der „Mustergau“ (wie Anm. 2), S. 48–50.

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hierbei von den traditionellen Eliten des Bildungsbürgertums, die sich von der klassischen Hochkultur über die Volkskunde bis hin zur Landesgeschichtsforschung einbrachten. Dabei ist die selbstbewusste „Beharrungskraft des Denkens und Eigensinns bildungsbürgerlich-wissenschaftlicher Deutungseliten“ nicht zu übersehen. Dies kollidierte freilich kaum mit den identitätspolitischen Zielen des NS-Gaus, der so viel wie nie zuvor in diesen Bereich investierte. Die Zeit des Dritten Reiches gilt damit auch als „der eigentliche take off der geographischen, volkskundlichen und historischen Thüringen-Forschungen“.40

40 John/Post, Von der Landesgründung zum NS-„Trutzgau“ (wie Anm. 1), S. 95, 120.

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Literatur Detlev Heiden/Gunther Mai (Hg.), Nationalsozialismus in Thüringen, Weimar/Köln/Wien 1995. Uwe Hossfeld/Jürgen John/Rüdiger Stutz (Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 2003. Jürgen John, Die Gaue im NS-System und der Gau Thüringen, Erfurt 2008. Ders./Bernhard Post, Von der Landesgründung zum NS-„Trutzgau“. Thüringen-­Diskurse 1918 bis 1945, in: Matthias Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, Köln/Weimar/Wien 2005. Ders. (Hg.), „Mitteldeutschland“, Begriff – Geschichte – Konstrukt. Rudolstadt/Jena 2001. Holm Kirsten, „Weimar im Banne des Führers“. Die Besuche Adolf Hitlers 1925–1940, Köln/Weimar/Wien 2001. Gunther Mai, Das Kriegsende in Thüringen 1945. Region zwischen den Fronten, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 59/60 (2005/06), S. 269–306. Bernhard Post/Volker Wahl (Hg.), Thüringen-Handbuch. Territorium, Verfassung, Parlament, Regierung und Verwaltung in Thüringen 1920 bis 1995, Weimar 1999. Steffen Rassloff, Geschichte Thüringens, München 22020. Ders., Mitteldeutsche Geschichte. Sachsen – Sachsen-Anhalt – Thüringen, Leipzig 2016 (Neuauflage Markkleeberg 2019). Ders., Der „Mustergau“. Thüringen zur Zeit des Nationalsozialismus, München 2015. Ders., Fritz Sauckel. Hitlers „Muster-Gauleiter“ und „Sklavenhalter“, Erfurt 42012. Ders., „Der thüringische Stammescharakter“. Martin Wähler und die Volkskunde aus völkischem Geist, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 57 (2003), S. 177–204. Justus H. Ulbricht (Hg.), Klassikerstadt und Nationalsozialismus. Kultur und Politik in Weimar 1933 bis 1945, Weimar 2002.

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Das vergebliche Wirken von Bürgerinitiativen für den Anschluss an Thüringen in den Kreisen Nebra, Naumburg und Sangerhausen 1990. Ein Zeitzeugenbericht In den nachfolgenden Ausführungen berichtet der Verfasser vor allem als Zeitzeuge und einstiger Akteur über Bürgerinitiativen im Süden des DDR-Bezirkes Halle, die sich seit dem Winter 1989/90 für den Anschluss ihrer Orte an das in seiner staatlichen Neubildung begriffene Land Thüringen engagierten. Die latente Skepsis der Geschichtswissenschaft gegenüber dem Zeitzeugen ist ihm weder unbekannt noch unverständlich. Die persönliche Erinnerung ist nun einmal eine nicht unproblematische Quelle. Wie die Hirnforschung festgestellt hat, besteht sie aus durch unser Gehirn gespeicherten Bildern. „Mit dem Bild frieren wir ein Ereignis, das uns wichtig ist, von früher für später ein“, so formulierte es Ernst Pöppel,1 einer der Großen der Hirnforschung des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts, und er führt weiter aus: „Die Bilder unserer Vergangenheit werden verändert; sie werden umgestaltet, und diese Bilder spiegeln nicht mehr die unmittelbare Realität jenes Augenblicks, in dem sie erlebt wurden […].“2 Und weiter: „Das Überschreiten der Gegenwart durch das hergestellte Bild verankert uns in unserer Geschichte und in unserer Gesellschaft und erzeugt somit kulturelle Identität. Insofern können Bilder auch nicht lügen, selbst wenn sie die Realität verzerren oder sogar ändern. […] Bilder spiegeln […] eine kulturelle Wirklichkeit und nicht eine abstrakte Realität.“3 Solcherart legitimiert durch einen ausgewiesenen Fachmann für unser Erinnerungsvermögen wagt der Autor es also trotz aller Bedenken gegenüber den Erinnerungen des Zeitzeugen, die seinigen an eine überaus bewegte Zeit hier auszubreiten. Die Symbiose von Überlieferung in Form von Akten, Medienberichten, Filmen und Fotos mit persönlichen Erinnerungen von Zeitzeugen lässt zudem grundsätzlich ein umfassenderes Bild eines Ereignisses erwarten, als es die üblicherweise dem Historiker zur Verfügung stehenden Quellen allein zu liefern vermögen. Glücklicherweise befinden sich die meisten Dokumente der 1 Ernst Pöppel, Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich, München 2010, S. 145. 2 Ebd., S. 147. 3 Ebd., S. 153.

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Ereignisse und Vorgänge, die Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen sein werden, in meinem persönlichen Besitz, und sie taugen durchaus zum weitgehend objektiven Fundament dieser Ausführungen – der Autor entkommt so der misslichen Situation, den Leser ausschließlich seinen subjektiven Erinnerungen ausliefern zu müssen. Andere Dokumente fehlen leider – so wurden etwa Unterschriftslisten der erwähnten Bürgerinitiativen an die zuständigen Stellen weitergeleitet, ohne sie zuvor zu kopieren. Das erscheint aus heutiger Sicht schwer- bis unverständlich, doch in der DDR des Winters 1989/90 fehlten die heute flächendeckend verbreiteten technischen Voraussetzungen hierfür zumindest bei Privatpersonen, als die wir damals agierten.4 Es war eine überaus bewegte, hochgradig turbulente Zeit, die mit dem Sturz Erich Honeckers im Oktober und der Grenzöffnung im November 1989 begann, die letzte Phase der Agonie des DDR-Systems. Die SED-Administration hatte das Denken und Handeln der Bürger ihres Staates bis weit in das Jahr 1989 noch akribisch überwacht und bevormundet, und alles ihr nicht Genehme vehement unterdrückt, doch sie war durch die Perestroika zunehmend in die Defensive geraten. Als Michail Gorbatschow am 6. Oktober 1989 in Ost-Berlin erkennen ließ, dass die Sowjetunion das reformunfähige Honecker­-System im Ernstfall nicht, wie 1953, militärisch absichern werde, und Honecker am 18. Oktober zum Rücktritt von seinen Staats- und Parteiämtern genötigt wurde, schien plötzlich, noch vor der Grenzöffnung, wenn nicht alles, so doch sehr vieles in der DDR möglich zu sein, und gerade die drei Wochen zwischen dem 18. Oktober und dem 9. November waren eine Zeit, in der viele Ideen und Projekte für die Zukunft der DDR entstanden. In den nachfolgenden Wochen und Monaten erfuhr die Devise „Wir sind das Volk“ ihre Metamorphose zu „Wir sind ein Volk“. Die Gedankenwelt vieler Ostdeutscher war mit der Verarbeitung der vielfältigen Eindrücke aus der ihnen bislang trotz Westfernsehens weitgehend fremden, nun aber ungehindert zugänglichen 4 Das hierzulande gebräuchliche Kopierverfahren war die Thermokopie, deren Produkte keine allzu lange Lebensdauer aufwiesen – einige damals am Gerät meiner Arbeitsstelle gezogene Thermokopien musste ich schon vor Jahren aus meiner Dokumentensammlung ausscheiden, da sie komplett schwarz geworden und, wenn überhaupt, höchstens noch durch Kriminaltechniker zu entziffern waren. Westliche Kopiertechnik war nur äußerst vereinzelt in den volkseigenen Betrieben anzutreffen, fand jedoch im Laufe des Jahres 1990 größere Verbreitung. Man hätte die Dokumente also abfotografieren müssen, aber dafür fehlten in diesen aufregenden und aufgeregten Tagen zwar nicht die technischen Voraussetzungen, aber Zeit und Muße – vor allem aber wollten wir etwas für die Zukunft bewirken und nicht Gegenwärtiges als spätere Vergangenheit für die Zukunft dokumentieren.

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bundesdeutschen Realität beschäftigt, und die Reformprojekte für die DDR orientierten sich angesichts der immer konkretere Gestalt annehmenden Wiedervereinigung mehr und mehr an den bundesdeutschen Gegebenheiten. Der Wunsch nach einer Wiedereinführung der in der DDR 1952 abgeschafften Länder wurde unter politisch Interessierten bereits Ende Oktober 1989 artikuliert, so meine Erinnerung. Durch in meinem Besitz befindliche Briefe sind Überlegungen und Forderungen nach der Wiederherstellung eines Landes Thüringen ab dem 29. November 1989 jedenfalls kontinuierlich belegt.5

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Die Bezirke der DDR hatten es nicht vermocht, Kristallisationspunkte regionaler, landsmannschaftlicher Identitäten zu werden, und sie hatten dies nach dem Willen ihrer Schöpfer auch definitiv nicht werden sollen – im zentralistischen Einheitsstaat DDR sollte die entscheidende Identität eben die eines Bürgers dieses Staates sein und auf gar keinen Fall in Konkurrenz zu thüringischen, sächsischen oder brandenburgischen Identitäten und einem mit ihnen verbundenen Sonderbewusstsein treten. Geächtet war die auf die ehemaligen Länder zurückgehende Begrifflichkeit natürlich nicht, selbstverständlich durfte man sich als Thüringer, Sachse, Brandenburger oder Mecklenburger bezeichnen, doch galt das als rein geografische Herkunftsbezeichnung. Vorbehalte gab es lediglich im Falle Pommerns – hatte man doch angesichts des Überganges des größten Teiles von Pommern an Polen bereits 1947 die Bezeichnung „Vorpommern“ aus dem Landesnamen entfernt und diesen auf Mecklenburg reduziert. Viele Zeitungen der DDR-Blockparteien im thüringischen und sächsischen Raum führten jedoch die alten Länderbezeichnungen auch nach 1952 weiter in ihrem Namen – es gab in den Thüringer Bezirken die „Thüringische Landeszeitung“ (TLZ) der LDPD, das „Thüringer Tageblatt“ der CDU und die „Thüringer Neuesten Nachrichten“ der NDPD. In den sächsischen Bezirken erschien neben dem „Sächsischen Tageblatt“ und den „Sächsischen Neuesten Nachrichten“ mit der „Sächsischen Zeitung“, der SED-Zeitung für den Bezirk Dresden, sogar ein SED-Parteiblatt unter einem auf die Ära der DDR-Länder zurückgehenden Namen. Dagegen hatte die Thüringer SED-Zeitung „Das Thüringer Volk“ bereits 1950, also reichlich zwei Jahre vor der Auflösung der Länder in der DDR, das Attribut „Thüringer“ aus seinem Namen entfernt, 5 FamA Bühner, 6.4-1, fol. 28, Brief von Peter Heß an den Verfasser vom 29. November 1989.

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mit der Begründung, es gäbe kein Thüringer Volk, sondern nur ein deutsches. Außerhalb des thüringisch-sächsischen Raumes waren allerdings die „Brandenburgischen Neuesten Nachrichten“ die einzige Zeitung mit einem alten Ländernamen im Titel. Dies hat definitiv nichts mit den politischen Gegebenheiten nach 1952 zu tun – die Namenswahl der Parteizeitungen reflektiert aber die durchaus unterschiedliche Rolle regionaler Identitäten zur Zeit ihrer Gründungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Neben dem Fortleben der ostdeutschen Länder in den Titeln regionaler Zeitungen waren noch die Zuständigkeitsbezirke der Arbeitsstellen des Instituts für Denkmalpflege und der Museen für Ur- und Frühgeschichte Relikte der einstigen Länder – die für die drei thüringischen Bezirke zuständige Arbeitsstelle des Instituts für Denkmalpflege befand sich in Erfurt und das Museum für die Ur- und Frühgeschichte Thüringens in Weimar. In den Bezirken Magdeburg und Halle, in denen das 1945 bis 1947 gebildete und 1952 wieder aufgelöste Land Sachsen-Anhalt im Wesentlichen aufging, gab es jedoch keine Zeitungen oder Institutionen, die sich Attributen „sächsisch-anhaltinisch“ oder „sachsen-anhaltinisch“ bedienten – im Bezirk Halle wurde stattdessen gern „mitteldeutsch“ verwendet. War der Spielraum der LDPD-, CDU- und NDPD-Regionalzeitungen insgesamt auch sehr gering und in der politischen Berichterstattung gleich Null, so war es doch geduldet, dass sie in ihrem Feuilleton einer spezifisch thüringischen kulturellen Tradition und Geschichte huldigten – insbesondere die TLZ-Beilage „Treffpunkt“, verantwortet von dem in der DDR-Presselandschaft eine Ausnahmeerscheinung darstellenden promovierten Germanisten Georg Menchén, lotete die Grenzen des in dieser Hinsicht Machbaren aus. Die TLZ war in den 1970er und 1980er Jahren das publizistische Forum für all jene, die sich der Geschichte und dem kulturellen Erbe der als eine Einheit begriffenen Kulturlandschaft Thüringen widmeten und zu denen ich mich zählen durfte. Dabei hatte ich mich vor großen Serien, etwa über erhaltene Stadttore, Residenzschlösser oder bedeutende Orgeln im thüringischen Raum, mit Menchén über das zu betrachtende Gebiet abgestimmt, und wir hatten darin übereingestimmt, dass der kulturelle und historische Raum Thüringen über die drei Bezirke Erfurt, Gera und Suhl hinausgehe und insbesondere der Süden des Bezirkes Halle als thüringische Kernlandschaft anzusehen sei – in die genannten Serien konnten also das Obertor in Laucha, die Hildebrandt-Orgel in der Naumburger Wenzelskirche ebenso wie das Weißenfelser Schloss und selbst die Zeitzer Moritzburg als „thüringisch“ einbezogen werden. Natürlich hatte die Neuenburg über Freyburg den ihr gebührenden Platz – Menchén selbst

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widmete ihr wiederholt umfangreiche Berichte. Die Region an der unteren Un­ strut und mittleren Saale galt durchaus als Kernbestandteil eines nicht mehr als administrative Einheit existenten Thüringens. Sie wurde, wie ich bei meinen dortigen Recherchen immer wieder feststellen konnte, von zumindest größeren Teilen ihrer Bewohner auch so begriffen. Eine der thüringischen entsprechende sächsisch-anhaltinische Identität war in der fraglichen Region kaum festzustellen – die Einwohner des südlichen Gebietes des aus dem Land Sachsen-Anhalt hervorgegangenen Bezirkes Halle taten sich mit dem historisch ja keinesfalls unzutreffenden Begriff „Sachsen“ sehr schwer und legten Wert darauf, eben nicht zum eigentlichen Sachsen, sprich dem Gebiet des bis 1918 bestehenden Königreichs, zu gehören. Da es seit vielen Jahren keine Länder mehr gab und die DDR-Gebietsreformen ohnedies nicht demokratisch legitimiert waren, spielte es für die SED-Bezirksleitung in Halle sicher keine Rolle, dass sich etwa die Freyburger ob ihrer berühmten Landgrafenburg als Thüringer fühlten. Meine mitunter ausführlich begründeten Erklärungen, sie seien doch eigentlich Thüringer, wurden von bezüglich ihrer landsmannschaftlichen Zugehörigkeit unentschiedenen Gesprächspartnern im unteren Unstrutgebiet, insbesondere aber auch im Raum Sangerhausen-Allstedt, immer interessiert und positiv aufgenommen – man wollte kein ob seines Dialektes außerhalb der Heimat gern verspotteter Sachse sein, und Anhaltiner war man ja ohnedies nicht. Für mich erfreulich oft konnte ich aber ohnedies vernehmen, man sei ja eigentlich Thüringer. Ohne Zweifel spielte es dabei auch eine Rolle, dass die Bewohner des vor allem von chemischer Industrie geprägten mitteldeutschen Industriegebietes um Halle-Merseburg-Bitterfeld und die des eher ländlich geprägten südlichen Bezirksgebietes auf Grund ihrer recht unterschiedlichen Lebenswelten auch keine einheitliche territoriale Identität entwickelten. Die relativ bessere Versorgung des Raumes um Halle ließ unter den Bedingungen der DDR-Mangelwirtschaft bei den Einwohnern des schlechter versorgten Bezirks-Südens Ressentiments gegenüber der Bezirksstadt und ihrem Umland entstehen. Interessanterweise wird in der landeskundlichen Bestandsaufnahme, die 1988 in der von der Akademie der Wissenschaften der DDR herausgegebenen Reihe „Werte unserer Heimat“ erschien, das Gebiet an der unteren Unstrut zwischen Roßleben und Freyburg als „im nördlichen Thüringen gelegen“ bezeichnet.6 6 Hans Kugler/Werner Schmidt (Leitung), Das Gebiet an der unteren Unstrut. Ergebnisse der heimatkundlichen Bestandsaufnahme im Gebiet Wiehe, Nebra und Freyburg (Werte unserer Heimat, 46), Berlin 1988, S. VII. Für den Hinweis auf diese Publikation habe ich Herrn Dr. Frank Boblenz, Sömmerda, zu danken.

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Die wenigen Personen, vielleicht ein knappes Dutzend, die sich in den 1980er Jahren aktiv mit thüringischer Landesgeschichte befassten, konnten damals eigentlich recht ungestört ihr Thüringenbild entwickeln und im Rahmen der Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR und über die Kulturseiten der Zeitungen der Blockparteien verbreiten. Die Sektion Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität (FSU) Jena war hieran in keiner Weise beteiligt. Ende der achtziger Jahre, als die von Karl Czok herausgegebene „Geschichte Sachsens“ unter den landesgeschichtlich Interessierten überall in der DDR Furore machte und den Wunsch nach Ähnlichem für das eigene „Land“ weckte,7 gab es zwar in Kulturbund-Kreisen das – meiner Erinnerung nach aus der Kulturredaktion der in allen drei thüringischen Bezirken erscheinenden TLZ stammende – Gerücht, in Jena arbeite man an einer Art Thüringer Landesgeschichte oder wenigstens einem Konzept für eine solche,8 irgendwelche diesbezüglichen Kontakte zwischen den „Profis“ in Jena und den „Amateuren“, zumindest denen im Bezirk Erfurt, gab es aber nicht. Über die Gründe der Profis, sich entweder nicht in die Niederungen des Kulturbundes oder die Gefilde eines anderen Bezirkes zu begeben, ließe sich nur spekulieren. Sich aktiv an der Publizistik in der Block-Presse zu beteiligen, verbot sich allerdings für die vermutlich recht vollständig in der SED organisierten Gesellschaftswissenschaftler a priori. Die Amateure ihrerseits genossen lieber die Narrenfreiheit ihres Nischendaseins, als sich von professioneller Seite über den richtigen Klassenstandpunkt, eine ungenügende Berücksichtigung der Klassiker des Marxismus-Leninismus oder die Nichtrelevanz ihrer Forschungsergebnisse für die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Kampfpartei belehren zu lassen. In einem Satz resümiert: Man ging sich gegenseitig vor allem aus dem Weg. 7 Karl Czok (Hg.), Geschichte Sachsens, Weimar 1989. 8 Erst viel später ist dem Autor bekannt geworden, dass es an der FSU Jena tatsächlich weit gediehene Vorarbeiten und Aktivitäten für eine Thüringer Landesgeschichte gegeben hat. So formierte sich Mitte der 1980er Jahre für das Vorhaben eine „Projektgruppe“ und es wurde 1984/85 eine populärwissenschaftliche Vortragsreihe ins Leben gerufen, deren Beiträge bereits 1986 unter dem Titel „Thüringen in der deutschen Geschichte“ als Band der Wissenschaftlichen Zeitschrift der FSU veröffentlicht und 1988 nachaufgelegt wurden. Die bemerkenswerte Unkenntnis im Land über das „Thüringen-Projekt“ mag darauf zurückzuführen sein, dass das Vorhaben personell nie konsolidiert war und die Arbeiten rasch hinter den Plänen zurücklagen. Die damaligen Bezirksgrenzen werden überdies ihren Teil dazu beigetragen haben, dass die genannten Aktivitäten an der FSU im Bezirk Gera besser bekannt waren als in den Bezirken Erfurt und Suhl. Vgl. zu diesen und älteren Aktivitäten Stefan Gerber, Überholen ohne Einzuholen? Projekte zu einer „Geschichte Thüringens“ in Jena und die Diskussion um „Erbe und Tradition“ in der DDR der 1970er und 1980er Jahre, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 154 (2018), S. 69–99.

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Mit der sich bereits im Winter 1989/90 auf die politische Tagesordnung drängenden Forderung nach Wiedereinführung der Länder gewannen landsmannschaftliche Identitäten schlagartig an realpolitischem Gewicht. Ich erinnere mich daran, wie sehr es mich beeindruckte, die Stadt Dresden Anfang Februar 1990 vor allem im Schmuck weiß-grüner sächsischer Flaggen zu erleben. Die Verhaltensforschung ordnet historische und landsmannschaftliche Identitäten ja in die Kategorie der Gruppenidentitäten ein, die eine elementare Kategorie des menschlichen Bewusstseins darstellen. Irenäus Eibl-Eibesfeld führt in seinem Grundriss der Humanethologie dazu aus: „Menschengruppen entwickeln ein Wir-Gefühl und grenzen sich von anderen oft in Kontrastbetonung über die Entwicklung kultureller Besonderheiten ab.“9 Zum Bild eines in möglichst vollkommener Form neu entstehenden Landes Thüringen gehörten nicht nur für mich, neben den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl als unstrittige Kernterritorien, auch die angrenzenden Gebiete des Bezirkes Halle, die Kreise Sangerhausen, Artern, Nebra, und Naumburg, die ja im Wesentlichen bis 1815 zum Thüringer Kreis des Königreichs Sachsen gehört hatten. Sein Zentrum war Weißenfels gewesen, dessen Einbeziehung in ein künftiges Land Thüringen jedoch als ziemlich illusorisch erschien, ebenso die der Kreise Hohenmölsen und Zeitz. Mit Harz und Querfurter Platte hatte das in Aussicht genommene Gebiet auch eine sinnvolle naturräumliche Grenze. Ein guter Freund von mir, der Lehrer Peter Heß, im unmittelbar an der Grenze der Bezirke Erfurt und Halle gelegenen und erst 1952 von Sachsen-Anhalt zum Kreis Sömmerda gekommenen Bachra zu Hause, teilte meine Auffassung von den „richtigen“ Grenzen für das künftige Land Thüringen, insbesondere die Einbeziehung der angrenzenden Gebiete des Bezirkes Halle. Er wurde zum wichtigsten Koordinator der Bürgerinitiativen im fraglichen Gebiet. Die drei landesgeschichtlich interessierten Freunde Peter Heß, Gerhard Petersilie (aus Erfurt) und ich verfassten in den ersten Januartagen 1990, wohl am 3. oder 4., als „Bürgerinitiative für die Wiederherstellung des Landes Thüringen“ einen Aufruf, der folgende beiden Forderungen enthielt: „Herstellung der territorialen Einheit Thüringens noch im ersten Halbjahr 1990 durch Zusammenschluss der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl. Die drei 9 Irenäus Eibl-Eibesfeld, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Human­ ethologie, München 52004, S. 454.

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bisherigen Bezirkstage sollen sich zu diesem Zweck umgehend vereinigen und bis zur verfassungsmäßigen Neuorganisation der DDR und des Landes Thüringen einen provisorischen ‚Rat des Bezirkes Thüringen‘ bilden, dessen Kompetenzen und Strukturen denen der bisherigen Räte der Bezirke entsprechen, so daß aus diesem Schritt für die Übergangszeit keine rechtlichen Probleme entstehen […]. Neufestlegung der Nordostgrenze des Landes Thüringen im Rahmen der Verwaltungsreform – Angliederung der Kreise Artern, Nebra, Naumburg und Sangerhausen. Der Verlauf der thüringischen Grenzen bis 1952 geht auf die willkürlichen Grenzziehungen aus der Zeit der Kleinstaaterei zurück. Die Zuordnung der nordostthüringischen Gebiete durch Preußen zum Regierungsbezirk Merseburg zerriß 1815 administrativ die einheitliche nordthüringische Region. Sie führte dazu, daß diese Gebiete 1945 nicht zum Land Thüringen, sondern zum Land Sachsen-­Anhalt kamen, da die Grenze der ehemaligen preußischen Regierungsbezirke Erfurt und Merseburg hier unsinniger Weise zur Landesgrenze wurde. Gerade dieses Gebiet hat aber für Thüringen und seine Geschichte eine große Bedeutung.“10 Durch uns wurden nun fleißig Unterschriften gesammelt und die Medien kontaktiert – durch Peter Heß etwa der Sender Weimar von Radio DDR, der das Anliegen frühzeitig unterstützte und ihn bereits im Januar 1990 zu einem Interview einlud.11 Die Wiederherstellung des Landes Thüringen durch den Zusammenschluss der drei Bezirke im Rahmen der sich schon bald abzeichnenden Wiederherstellung von Ländern in der DDR bedurfte in der Folgezeit keines besonderen Engagements mehr – es war spätestens seit den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 klar, dass sie definitiv erfolgen würde. Ebenso offensichtlich war aber, dass sich die bisherigen Bezirkstage nicht schon zuvor zusammenschließen würden – sie waren ein zunehmend bedeutungsloses Auslaufmodell und in die Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 schon nicht mehr mit einbezogen. 10 FamA Bühner, 6.4-1, fol. 31–33, Aufruf Bürgerinitiative für die Wiederherstellung des Landes Thüringen. 11 Ebd., fol. 38, Postkarte von Peter Heß an den Verfasser vom 9. Januar 1990 und Konzept für das Interview. Die Behauptung von Dieter Marek und Doris Schilling, die Gründung der „Bürgerinitiative Nordthüringen“ sei erst nach dem Beschluss des Ländereinführungsgesetzes erfolgt, ist definitiv falsch. Dieter Marek/Doris Schilling, Neubildung des Landes 1990, in: Bernhard Post/Volker Wahl (Hg.), Thüringen Handbuch. Territorium, Verfassung und Verwaltung in Thüringen 1920 bis 1995, Weimar 1999, S. 60–68, hier S. 66.

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Unser Engagement galt deshalb spätestens seit März 1990 ausschließlich der Nordthüringen-Problematik. Um vor Ort effektiver agieren zu können, konstituierten wir noch im Januar 1990 die Initiativgruppe „Vereinigung Nordthüringens mit dem Land Thüringen“,12 als deren Koordinator Peter Heß fungierte und zu den Pro-Thüringen-Gruppen, die sich bald in vielen Orten der fraglichen Kreise bildeten, die Kontakte knüpfte und sie mit unserem historisch begründeten Argumentationsmaterial versorgte. Unser als Ausdruck eines Großrechners vervielfältigter Aufruf wurde an Kommunalverwaltungen, Partei- und Kulturbundgeschäftsstellen sowie Museen in Allstedt, Artern, Bad Bibra, Freyburg, Heldrungen, Hohenmölsen, Laucha, Naumburg, Nebra, Roßleben und Zeitz, insgesamt an 47 Stellen, sowie an elf Lokalredaktionen im Gebiet und weitere zehn Zentralredaktionen von Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen, darunter den ZDF-Länderspiegel, verteilt.13 Bereits für den 26. Januar 1990 ist die positive Resonanz unseres Aufrufes in Donndorf, Kreis Artern belegt.14 In Bad Frankenhausen entstand ohne unser Zutun zu dieser Zeit ebenfalls eine sehr starke pro-thüringische Initiative, die zusätzlich von den starken Ressentiments der Frankenhäuser gegen das kleinere, 1952 zu seiner Kreisstadt erhobene Artern gespeist wurde. Die Presse berichtete über die Aktivitäten der Bürgerinitiative – nicht immer qualifiziert.15 So musste die „Thüringer Allgemeine“ am 24. März ihren Bericht vom 15. März korrigieren, in dem sie behauptet hatte, es ginge uns um die Wiederherstellung des Landes Thüringen in den Grenzen von 1952. Dies war ja definitiv nicht der Fall.16 Eine Wiedereingliederung der Kreise Schmölln und Altenburg gehörte nicht zu unseren Zielen – aus unserer Sicht gehörten sie wie eigentlich das gesamte alte Pleißenland nach Sachsen und sie waren ja zudem auf das Oberzentrum Leipzig ausgerichtet. Die Landesgrenzen von 1945 bis 1952 waren stark von der Ära der Kleinstaaterei bestimmt und aus unserer Sicht willkürlich. Nach einem Bericht der Naumburger Ausgabe der „Halleschen Liberal­ demokratischen Zeitung“ entstand auch in dieser wichtigen Stadt eine starke pro-thüringische Initiative. Sechs Aktivisten sammelten dort Unterschriften für den Anschluss an Thüringen. Am 27. März 1990 konnte Peter Heß von 12 FamA Bühner, 6.4-1, fol. 38–39, Aufruf Bürgerinitiative für die Wiederherstellung des Landes Thüringen – Initiativgruppe „Vereinigung NORDTHÜRINGENS mit dem Land Thüringen“. 13 Ebd., fol. 43, Handschriftlicher Verteiler Aufruf Initiativgruppe. 14 Ebd., fol. 47, Brief von Fritz Bornemann an Peter Heß. 15 So die TLZ am 14. und 31. März 1990 unter der Überschrift „Grenze war willkürlich“. 16 Thüringer Allgemeine vom 15. und 24. März 1990.

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rund 10.000 Unterschriften aus dem gesamten Thüringer Raum für unsere Bürgerinitiative berichten17 und am 9. April von der großen Resonanz der Initiative in Allstedt und Bad Bibra – Aktivisten aus Bad Bibra schätzten ein, „daß bestimmt 90 % der Bevölkerung der Finne den Anschluß an Thüringen wünscht“.18 Aus der Kleinstadt Allstedt wurden am 17. April bereits mehr als 1.000 Unterschriften gemeldet. Am 26. April konnten insgesamt mehr als 17.000 Unterschriften gemeldet werden, über 4.500 aus den Südkreisen des Bezirkes Halle. Doch nachdem man den Bürgern des Kreises Nebra einen Volksentscheid über die künftige Landeszugehörigkeit zugesichert hatte, wähnten sich die dortigen Aktivisten am Ziel und sammelten keine Unterschriften mehr. Aus Zeitz meldete sich in dieser Zeit aber eine pro-thüringische Initiative, die nicht auf historischen Argumenten, sondern vor allem der oberzentralen Funktion von Gera für ihre Stadt gründete. Ein Schreiben der Abteilung Kommunalreform des DDR-Ministeriums für Regionale und Kommunale Angelegenheiten vom 11. Mai an den Erfurter Kulturbund-Bezirksvorstand dämpfte den Optimismus der Initiativgruppe jedoch erheblich. Darin hieß es: „Im Interesse einer schnellen Länderbildung hält es die Regierung für zweckmäßig, zunächst von bestehenden territorialen Einheiten mit am 6.5. neugewählten Volksvertretungen auszugehen. Das heißt konkret, in den Kreisen, die bis 1952 vollständig bzw. überwiegend anderen Ländern zugeordnete waren als es durch Zusammenlegung der Bezirksterritorien der Fall wäre, werden die Bürgerentscheide im gesamten Kreis vor Inkraft­setzung des Ländereinführungsgesetzes durchgeführt […]. Für das künftige Land betrifft das die Leipziger Kreise Schmölln und Altenburg sowie Artern (Bezirk Halle). Alle anderen, einzelne Städte und Gemeinden betreffende Abweichungen, werden nach Inkraftsetzung des Ländereinführungsgesetzes in Verantwortung der künftigen Länder durch Bürgerentscheide gelöst.“19 Über die Landeszugehörigkeit der Orte der Kreise Nebra, Naumburg und Sangerhausen würde also in Regie des wiedererstandenen Landes Sachsen-­Anhalt 17 FamA Bühner, 6.4-1, fol. 89, Brief von Peter Heß an den Verfasser vom 27. März 1990. 18 Ebd., fol. 100, Brief von Peter Heß an den Verfasser vom 9. April 1990. 19 FamA Bühner, 6.4-1, fol. 135, Abschrift des Schreibens des Abteilungsleiter Verwaltungsreform, Dr. Dudek, Ministerium für Regionale und Kommunale Angelegenheiten, vom 11. Mai 1990.

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abgestimmt werden – das verhieß nichts Gutes, denn zwangsläufig würde Sachsen-Anhalt versuchen, die Abstimmungen zu verhindern oder zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Besonders in Allstedt engagierte sich eine starke pro-thüringische Bürgerinitiative um Herbert Schart weiter für einen Bürgerentscheid über die Landeszugehörigkeit und berief sich dabei stets auf die fehlende demokratische Legitimation der Umgliederung der bislang thüringischen Exklave Allstedt 1945.20 Im Kreis Naumburg engagierten sich vor allem die Einwohner der bis 1952 thüringischen Dörfer auf der Molauer Platte, die Gemeinden kirchen, Utenbach, Prießnitz Leislau, Crolpa-Löbschütz, AbtMolau, Case­ löbnitz, Schieben und Kleinheringen, im Rahmen ihrer „Initiative Thüringer Dörfer“ für die Rückkehr ihrer Orte nach Thüringen. Ende Juni 1990 hatten darüber hinaus in Naumburg und 24 weiteren Orten des Kreises 1.731 Bürger den Aufruf der Initiative Nordthüringen unterschrieben.21 Am 27. Juni 1990 wandte sich die Initiative an den Minister für kommunale und regionale Angelegenheiten der DDR-Regierung, Dr. Manfred Preiß, mit einer ausführlichen Schilderung der Situation in den Kreisen Naumburg, Sangerhausen und Nebra und der Frage, wie die Regierung dem Willen tausender Bürger gerecht zu werden gedenke, die über den Anschluss an Thüringen entscheiden wollen, „nicht irgendwann, wenn die Länder gebildet sind, nicht, wo man ihnen dies gestattet, sondern jetzt und in diesen Gebieten“.22 Ein Durchschlag dieses Schreibens wurde dem Regierungsbevollmächtigten für den Bezirk Erfurt, Josef Duchač, übersandt.23 In seiner Antwort vom 19. Juli 1990 wiederholte der Minister fast wortwörtlich den Inhalt des Schreibens seines Abteilungsleiters an den Kulturbund. Es blieb dabei – Grenzkorrekturen über die im Ländereinführungsgesetz genannten Kreise hinaus fielen in die Zuständigkeit der künftigen Länder.24 Von Duchač gab es keine Rückäußerung. Am 16. September riefen 20 Ebd., fol. 142, Durchschlag des Schreibens der Bürgerinitiative für den Anschluss des Kreises Sangerhausen an das zu bildende Land Thüringen an den Beauftragten der Regierung der DDR für die Bildung des Landes Thüringen vom 22.6.1990. – Der unermüdlich für den Anschluss Allstedts an Thüringen agierende Herbert Schart war der letzte Aktivist, der schließlich resignierte. 21 Ebd., fol. 152, Schreiben der Bürgerinitiative für die Wiederherstellung des Landes Thüringen an die Kreisredaktion Naumburg der Mitteldeutschen Zeitung vom 29. Juni 1990. 22 Ebd., fol. 148–151, Durchschlag des Schreibens an das Ministerium für Regionale und Kommunale Angelegenheiten der DDR vom 27. Juni 1990. 23 Ebd., fol. 147, Anschreiben an den Beauftragten der Regierung der DDR für die Bildung des Landes Thüringen vom 27. Juni 1990. 24 Ebd., fol. 149, Abschrift des Schreibens des Ministers für Regionale und Kommunale Angelegenheiten vom 19. Juli 1990.

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die Initiativgruppen von Allstedt, Wohlmirstedt, Memleben, Naumburg und der Thüringer Dörfer der Molauer Platte das Bundesverfassungsgericht an  – darüber berichtete die „Thüringer Allgemeine“ am 9. Oktober in großer Aufmachung unter der Überschrift „Die Nordthüringer wollen zurück“ mit einer Karte der möglichen Erweiterungsgebiete des inzwischen wiedererstandenen und der Bundesrepublik beigetretenen Landes Thüringen.25 Das Bundesverfassungsgericht teilte mit Schreiben vom 10. Oktober seine Nichtzuständigkeit mit.26 Immerhin wurde durch den Landrat des Kreises Naumburg für den 2. Dezember 1990 eine Bürgerbefragung mit drei Entscheidungsmöglichkeiten angesetzt: 1. Verbleib im Landkreis Naumburg und im Land Sachsen-Anhalt, 2. Verbleib im Landkreis Naumburg, der zum Land Thüringen gehören soll, 3. Eingliederung in einen Landkreis im Land Thüringen.27 Die Bürgerbefragung im Dezember erbrachte keine Mehrheit für einen Wechsel nach Thüringen – insbesondere in der Kreisstadt hatte das für Naumburg in Aussicht gestellte Oberlandesgericht ohne Zweifel einen Stimmungsumschlag bewirkt. Die Magdeburger Landesregierung engagierte sich von Anfang an stark für den Verbleib der Nordthüringer Gebiete bei Sachsen-Anhalt, während die thüringische es völlig versäumte, für einen Wechsel zu werben. Die Aktivitäten einiger Thüringer CDU-Politiker um Jörg Kallenbach im Januar 1991 kamen eindeutig zu spät und waren auf Burgscheidungen und Lossa beschränkt.28 Auch der Jenaer CDU-Landtagsabgeordnete Dr. Axel Stelzner engagierte sich Ende 1990/Anfang 1991 für die wechselwilligen Nordthüringer im nunmehrigen Land Sachsen-Anhalt, aber die für einen Wechsel günstige Zeit war ungenutzt verstrichen und vor allem die Landesregierung selbst in dieser Frage inaktiv, sie hatte sie an subalterne Berater delegiert.29 Am 19. Februar berichtete die „Thüringer Allgemeine“ darüber, dass noch insgesamt zwölf Kommunen aus dem Kreis Naumburg (Case­kirchen, Leislau, Schieben, Utenbach, Cröpla-­ Löbschütz, Molau, Klein­heringen, Prießnitz, Abtlöbnitz, Janisroda sowie Eckartsberga und Tromsdorf ), sechs Kommunen aus dem Kreis Nebra (Altenroda, Bad Bibra, Laucha, Memleben, Lossa und Wohlmirstedt) sowie Allstedt aus

25 Thüringer Allgemeine vom 9. Oktober 1990. 26 FamA Bühner, 6.4-1, fol. 166, Kopie des Schreibens des Bundesverfassungsgerichtes vom 10. Oktober 1990. 27 Ebd., fol. 168, Flugblatt der Bürgerinitiative Nordthüringen, Landkreis Naumburg mit Kopie der amtlichen Bekanntmachung vom 30. Oktober 1990. 28 Tagespost vom 12. Januar 1991. 29 FamA Bühner, 6.4-1, fol. 202–203, Brief von Peter Heß an den Verfasser, undatiert.

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dem Kreis Sangerhausen einen Wechsel nach Thüringen anstreben.30 Doch durch das starke Engagement der sachsen-anhaltinischen Landesregierung für den Erhalt ihres Territoriums und das völlig fehlende Engagement der thüringischen verlief die Sache im Sande. Die immensen wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die das Aus des Roßlebener Kaliwerkes und der Arterner Kyffhäuserhütte für den Ostteil des Kreises Artern mit sich brachten, taten das Ihrige, einen pro-sachsen-anhaltinischen Stimmungsumschwung in den fraglichen Orten herbeizuführen, auch wenn diese Probleme bei einem Verbleib bei Sachsen-Anhalt nicht geringer ausgefallen wären. Die durch die pro-thüringische Stimmung in den Kreisen Naumburg, Nebra und Sangerhausen und den daraus resultierenden Aktivitäten von Bürger­ initiativen 1990 real bestehende Möglichkeit, das Territorium des späteren Freistaates auch auf den Norden des alten Thüringer Kulturraumes auszudehnen, war, von Thüringer Seite ungenutzt, unwiderruflich verstrichen.

30 Thüringer Allgemeine vom 19. Februar 1991. Einige Ortsnamen fehlerhaft, so etwa statt „Lossa“ ein „Nerra“ genannt.

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Abkürzungsverzeichnis Abb. Abbildung a. D. außer Dienst ä. L. älterer Linie Anm. Anmerkung Bd./Bde. Band/Bände Bearb. Bearbeiter Bl. Blatt DBH Deutscher Bund Heimatschutz ders./dies. derselbe/dieselbe ebd. ebenda f. folgende FamA Familienarchiv fol. Folio GSA Goethe- und Schiller-Archiv H. Heft Hg./hg. Herausgeber/herausgegeben HStA Hauptstaatsarchiv HZ Historische Zeitschrift KR Kleine Reihe LATh Landesarchiv Thüringen LTh-BMP Land Thüringen-Büro des Ministerpräsidenten LTh-MfJ Land Thüringen-Ministerium für Justiz LTh StB Landtag von Thüringen. Stenographische Berichte N. F. Neue Folge o. D. ohne Datum RbTh Regierungsblatt für Thüringen S. Seite Sp. Spalte StA Staatsarchiv T. Teil TLZ Thüringische Landeszeitung UAJ Universitätsarchiv Jena

Abbildungsnachweise Beitrag Werner Greiling Abb. 1–3: Sammlung Greiling. Beitrag Reinhard Hahn Abb. 1: Klassik-Stiftung-Weimar, ID: 206686, Inv-Nr.: KHz/00330; Abb. 2: Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, mgf. 855, ‚Hundeshagensche Handschrift‘, fol. 134v; Abb. 3: Wartburg-Stiftung Eisenach, Fotothek; Abb. 4: Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. pal. germ 848, fol. 219v; Abb. 5: Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt, Chart. B 180, fol. 158v. Beitrag Jürgen John Abb. 1–3: Walter Vogel, Deutsche Reichsgliederung und Reichsreform in Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig/Berlin 1932, S. 153, 155 f.; Abb. 4: Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt, SPA 8° 00630; Abb. 5: Sammlung John. Beitrag Mathias Kälble Abb. 1: Sigrid Dušek (Hg.), Ur- und Frühgeschichte Thüringens. Ergebnisse archäologischer Forschung in Text und Bild, Stuttgart 1999, S. 148, © Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie; Abb. 2: Hardy Eidam/Gudrun Noll (Hg.), Radegunde. Ein Frauenschicksal zwischen Mord und Askese, Erfurt 2006, S. 17; Abb. 3: Bibliothèque nationale de France, lat. 10910 (7.–8. Jh.); Abb. 4: Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. I 71, fol.  35r–v; Abb. 5: Bayerische Staatsbibliothek, Clm 1086, fol. 27r; Abb. 6: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Frauenberg_SDH1.JPG; Abb. 7: Mathias Kälble, Die Reichsabtei Hersfeld und die Anfänge der Propstei Göllingen, in: Das Benediktinerkloster zu Göllingen. Ergebnisse der Forschung 2005–2009 (Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie. N. F. 34), Altenburg 2009, S. 11–26, hier S. 14. Beitrag Steffen Raßloff Abb. 1, 2, 4 u. 5: Fritz Sauckel, Der Führer in Weimar 1925–1938, Weimar 1938; Abb. 3: LATh–HStA Weimar, BNS 03.018; Abb. 6: Fritz Sauckel, Kampf und Sieg in Thüringen, Weimar 1934; Abb. 7: Stadtarchiv Erfurt; Abb. 8: LATh–

Abbildungsnachweise 

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HStA Weimar, Urkunde 1933 August 15; Abb. 9: Wartburg Stiftung Eisenach, Fotothek; Abb. 10: Stadtarchiv Erfurt, 6-0/19A2. Beitrag Julia Schmidt-Funke Abb. 1: Johann Theodor Schenck, Catalogus plantarum horti medici Ienensis earumque quae in vicinia proveniunt, Jena 1659; Abb. 2: Jonathan Carl Zenker, Flora von Thüringen und den angrenzenden Provinzen, Bd. 1, Jena 1836; Abb. 3: Karl Ernst Adolf von Hoff, Höhen-Messungen in und um Thüringen, Gotha 1833, S. 125. Beitrag Stefan Tebruck Abb. 1: LATh–HStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Urkunde 947; Abb. 2: Dresden, HStA, 10001 (Ältere Urkunden), Nr. 474 (olim OU. 474); Abb. 3: LATh–HStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Urkunde 951; Abb.  4: Evangelisch-Lutherische Kirchgemeinde Eisenach; Abb. 5: Registrum dominorum marchionum Missnensium. Verzeichnis der den Landgrafen in Thüringen und Markgrafen zu Meissen jährlich in den wettinischen Landen zustehenden Einkünfte 1378, hg. von Hans Beschorner, Leipzig/Berlin 1933, Kartenbeilage; Abb. 6: Willy Flach, Grundzüge einer Verfassungsgeschichte der Stadt Weimar. Die Entwicklung einer deutschen Residenzstadt. Mit einer Übersicht über die Kodifikationen der Stadtrechte in Thüringen, in: Festschrift für Heinrich Sproemberg, hg. von Hellmut Kretzschmar, Berlin 1956, S. 144– 239, hier S. 156; Abb. 7: Familiennachlass Hortleder/Prueschenk Nr. 7, Bl. 40r; Abb. 8: LATh–HStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. Rr pag. 351 Nr. 98.98a, Bl. 41r; Abb. 9: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Saxony_ (Division_of_Leipzig)_-_DE.png. Beitrag Petra Weigel Abb. 1: Sebastian Münster, Cosmographia, Basel 31550, Nachdruck: Viktor Hantzsch, Die ältesten gedruckten Karten der sächsisch-thüringischen Länder (1550–1593), Leipzig 1905, Tafel I a, Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt, SPB lg2° 2030.2160; Abb. 2 u. 3: Nachdruck: Viktor Hantzsch, Die ältesten gedruckten Karten der sächsisch-thüringischen Länder (1550–1593), Leipzig 1905, Tafel III, Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt, SPB lg2° 2030.2160; Abb. 4: Abraham Ortelius, Theatrum Orbis Terrarum, Antwerpen 1575, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, KS A19524a / Deutsche Fotothek; Abb. 5: Gerhard Mercator, Atlas sive Cosmographicae Meditationes de Fabrica Mundi […], Duisburg 1595,

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Nr. 40, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 2° Kart. B 180/3; Abb. 6: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, KS A18106 / Deutsche Fotothek; Abb. 7 u. 8: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, KS A17194 / Deutsche Fotothek; Abb. 9: Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, Kt 120 – 70 E Ms / Digitale Sammlungen der HAAB; Abb. 10: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, KS A19525 / Deutsche Fotothek; Abb. 11: Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt, Mappe SPK 20-10F-B 01.

Personenregister

Das Register verzeichnet alle im Text- und Fußnotenteil erwähnten Personen. Jedoch ist darauf verzichtet worden, jene Personennamen aufzunehmen, auf die nur im Kontext der Forschungsdiskussion rekurriert wird oder die lediglich in biblio­graphischen Angaben erscheinen.

Abbe, Ernst 142, 240 f., Adelung, Johann Christoph 122 Adolf von Nassau, röm.-dt. König 54, 100 Alberti, Johann Christoph Ludwig 228 Albrecht (genannt der Beherzte), Herzog von Sachsen 43, 68, 70 Albrecht I., röm.-dt. König 54 f. Albrecht II. (genannt der Entartete), Markgraf von Meißen u. Landgraf von Thüringen 58 Albrecht von Halberstadt 78, 86, 94 Anna Amalia, Herzogin von SachsenWeimar-Eisenach 76 f. Anna von Schwarzburg, Landgräfin von Thüringen 64 Apian, Philipp 120 Arnoldi, Ernst Wilhelm 183 Astel, Karl 289 Atze, Gerhart 89 f. Aubin, Hermann 10 August, Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg 157 Ausfeld, Johann Wilhelm 229 Bach, Johann Sebastian 240 f. Bachmann, August Quirin (genannt Rivinus) 150 Baldinger, Gottfried 151 Balthasar, Landgraf von Thüringen 59, 62 Bangen, Johann 212 Bartels, Adolf 78 Batsch, Johann Georg Karl 151 Bauhin, Jean 145

Baum, Erwin 274 Becherer, Johann 212 Bechstein, Johann Matthäus 156, 228 Bechstein, Ludwig 93, 168, 170–172, 175, 179, 181, 184, 216, 218–220, 238 Beck, Otto 218 Becker, Friedrich Gottlieb 177, 179 Becker, Rudolph Zacharias 227 Bemmann, Jan 19 Berlepsch, Hermann Alexander 172, 176 f. Bernhardi, Johann Jakob 163 Bertau, Karl 96 Berthold, Graf von Henneberg 56 Beumann, Helmut 15 Beurmann, Eduard 235 Binhard, Johann 124, 212, 214 Bismarck, Otto von 168, 186, 276 Biterolf 91, 97 Blaeu, Joan 116, 125 f. Bodmer, Johann Jakob 100 Bonifatius 27, 32, 181 Borchmeyer, Dieter 76 Bormann, Martin 282 Brandenstein, Carl von 259, 264, 266 Bridel-Brideri, Samuel Elisée von 155 Brill, Hermann 267, 272, 276 Brückner, Georg 205, 218 f. Brunichild, merow. Königin 21 Buchwald, Reinhard 273 Buddeus, Johann Franz 133 Bühner, Peter 12 Büsching, Anton Friedrich 215

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Personenregister

Carl Alexander, Großherzog von SachsenWeimar-Eisenach 183 Carl August, Herzog von SachsenWeimar-Eisenach 76, 136–138, 194, 196 f., 199 f. Cartellieri, Alexander 272 Carlowitz, Anton von 183 Childebert II., merow. König 22 Chilperich I., merow. König 21 Chlothar I., merow. König 20, 22 Chlothar II., merow. König 21 Christian, Herzog von Sachsen-Eisenberg 213 Christian II., Kurfürst von Sachsen 123 Criginger, Johann 110 Cronfeld, Konstantin 219 Czok, Karl 306 Dagobert I., merow. König 24, 26, 32 Darjes, Joachim Georg 151 Dennstedt, August Wilhelm 152 Diedrichs, Eugen 273 Dietrich (genannt der Bedrängte), Markgraf von Meißen 87 Dietrich von Apolda 93, 98 Dietrich, Adam 151 Dillen, Johann Jakob 151 Döderlein, Johann Christoph 136 Drechsler, Artur 267 Duchač, Josef 311 Ebenbauer, Alfred 77 Ebernand von Erfurt 98, 100 Eibl-Eibesfeld, Irenäus 307 Eichstädt, Heinrich Carl Abraham 189 Eisenreich, Herbert 79 Ekkehard I., Herzog von Thüringen 36 Elisabeth von Thüringen, hl. 53, 93 Engel, Wilhelm 205, 240 Erich, Adolar 103 f., 116–128 Ernst, Kurfürst von Sachsen 43, 68 Ernst, Herzog von Sachsen-Hildburghausen 213 Ernst I. (genannt der Fromme), Herzog von Sachsen-Gotha(-Altenburg) 192, 213 Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha 153, 157, 183, 217 Ernst II. Ludwig, Herzog von Sachsen-

Gotha-Altenburg 136, 215 Ernst August I., Herzog von Sachsen-Weimar 214 Faber, Karl-Georg 208 Fabricius, Georg 145, 147 Facius, Friedrich 11 Falckenstein, Johann Heinrich von 212 Ferdinand I., röm.-dt. Kaiser 138 Flach, Willy 292 Förster, Carl Christoph 152 Franz, Günther 293 Fredegar 24 Freytag, Gustav 185 Frick, Wilhelm 274, 288 f. Friedrich (genannt der Friedfertige), Landgraf von Thüringen 59, 62, 64 f. Friedrich I. (IV.) (genannt der Streitbare), Kurfürst von Sachsen 61 Friedrich I. (genannt der Freidige), Markgraf von Meißen u. Landgraf von Thüringen 54–56, 59 f. Friedrich II., röm.-dt. Kaiser 48, 50, 54 Friedrich II. (genannt der Sanftmütige), Kurfürst von Sachsen 65, 71, 193 Friedrich II. (genannt der Ernsthafte), Markgraf von Meißen u. Landgraf von Thüringen 45, 55, 57 Friedrich III. (genannt der Strenge), Markgraf von Meißen u. Landgraf von Thüringen 59, 61 f. Friedrich Wilhelm III., preuß. König 199 Fries, Friedrich Jakob 175 Frölich, August 267 Frommann, Friedrich Johannes 172, 231 f., 237 Genzmer, Felix 81 Gersdorff, Ernst August Freiherr von 173 f., 197–199 Gervinus, Georg Gottfried 95 Goedeke, Karl 78 Goethe, Johann Wolfgang von 78, 136 f., 189, 194 f., 288 Gollwitzer, Heinz 208 Gorbatschow, Michail 302

Personenregister 

Göring, Hermann 283 Gottfried von Straßburg 80, 87 Gregor II., Papst 31 Gregor von Tours 20, 81 Greil, Max 272 f. Greiner, Wilhelm 240 Grimm, Johann Friedrich Karl 152–158, 163 Günther XV., Graf von SchwarzburgBlankenburg 55 Günther Friedrich Carl II., Fürst von Schwarzburg-Sondershausen 175 Günther, Hans F. K. 289 Günther, Johannes 238 GutsMuths, Johann Christoph Friedrich 228 Haeckel, Ernst 141, 187 Haller, Albrecht von 150 f., 153–155, 163 Handke, Peter 79 Hantzsch, Viktor 104 Hardenberg, Karl August von 199 f. Hardenberg, Georg Philipp Friedrich von → Novalis Hardrad, thüring. Adeliger 36 Hartwig von Erfurt 98 Heden, Herzog von Thüringen 24, 27 f., 31–33, 36 Heinrich I. (genannt das Kind), Landgraf von Hessen 53 f. Heinrich II., röm.-dt. König 22 Heinrich III. (genannt der Erlauchte), Markgraf von Meißen 43, 49–51, 53 f., 58, 91, 94, 116 Heinrich IV., röm.-dt. Kaiser 37, 47 Heinrich V., röm.-dt. Kaiser 47 Heinrich VII., röm.-dt. König 55 f. Heinrich XIX., Graf von Stolberg 70 Heinrich Raspe IV., Landgraf von Thüringen u. Gegenkönig 48 f., 53 Heinrich von Meißen (genannt Frauenlob) 85 Heinrich von Morungen 87 Heinrich von Ofterdingen 90 f. Heinzle, Joachim 80, 95–97 Helmrath, Johannes 103 Herbort von Fritzlar 86

Herder, Johann Gottfried 186 Hermann I., Landgraf von Thüringen u. Pfalzgraf von Sachsen 48, 78, 85–91, 94 Hermann II. von Winzenburg, Landgraf von Thüringen 37 Herrtwich, Joseph 217 f. Herzog, Karl 232 Heß, Peter 307–309 Heusinger, Ernst 214 Hieronymus 82 Hitler, Adolf 279 f., 282 f., 285–288 Hippokrates 153 Hoff, Karl Ernst Adolf von 156, 161, 215 Hoffmann, Ernst Theodor Wilhelm 93 Hoffmann, Moritz 146 Homann, Johann Baptist 116, 125, 127 Homann, Johann Christoph 116, 125, 127 Hondius, Hendrik 116 f., 120, 122 Honecker, Erich 302 Hoppe, Tobias Conrad 152 Hug von Salza 85 Humboldt, Alexander von 161 Hutten, Ulrich von 84 Isidor von Sevilla 82 Jacobs, Christian Wilhelm 156 Jauß, Hans Robert 95 Jenisch, Paul 145 Johann Ernst, Herzog von Sachsen-Saalfeld 213 Johann Friedrich I. (genannt der Großmütige), Kurfürst und (nach 1547) Herzog von Sachsen 112 Johann Friedrich II. (genannt der Mittlere), Herzog von Sachsen 112 Johann Wilhelm, Herzog von Sachsen-Weimar 112 Jutta von Thüringen, Tochter Landgraf Hermanns I. von Thüringen 91 Kaiser, Ernst 205, 238, 240 Kallenbach, Jörg 312 Kammermeister, Hartung 100 Kant, Immanuel 136 Karl (genannt der Große), röm. Kaiser 26,

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Personenregister

34, 36 f., 84 Karl Martell, fränk. Hausmeier 33 Kieser, Dietrich Georg 140 Koch, Fritz 273 Koch-Weser, Erich 259 Köditz, Friedrich 93, 98 Köhler, Hermann 295 Konrad IV., röm.-dt. König 48 Kracher, Alfred 79 Kraus, Georg Melchior 76 f. Kuhn, Hans 82 Kuhn, Hugo 96 Kühnert, Herbert 273 Langethal, Christian Eduard 162 Lauremberg, Peter 145 f. Lehmann, Johannes 104 Lemmer, Manfred 76 Leopold I., röm.-dt. Kaiser 153 Leopold VI., Herzog von Österreich 89, 91 Linné, Carl von 151–154 Löffler, Josias Friedrich Christian 170 Loening, Richard 133 Losse, Rudolf 87 Lothar III., röm.-dt. Kaiser 37, 47 Luden, Heinrich 138 Ludwig (genannt der Bärtige) 116 Ludwig (genannt der Springer), Graf in Thüringen 100, 112 Ludwig I., Landgraf von Thüringen 37, 47 Ludwig II., Landgraf von Thüringen 85 f. Ludwig IV., Landgraf von Thüringen 53 Ludwig, Otto 241 Lukardis von Oberweimar 97 Lul, Erzbischof von Mainz 31 Luther, Martin 78, 171 f., 181, 186, 235, 241, 295 Magdeburg, Hiob 110 Maria Pawlowna, russ. Großfürstin 196 f. Marum, Martinus van 155 Meister Eckhart 82, 85 Melanchthon, Philipp 136 Mellinger, Johannes 104, 109–114, 116, 125, 128 Menchén, Georg 304

Mentz, Georg 272 Mercator, Gerhard 105, 113, 115 f., 125 Merian, Mätthäus 116, 146 Meurer, Peter 105 Meyer, Hans-Heinrich 104 Meynen, Emil 203 Middell, Matthias 207 Morhof, Daniel Georg 100 Müller, Friedrich von 196 Münster, Sebastian 108 f. Mutschmann, Martin 282 Nadler, Josef 75–79 Napoleon I., frz. Kaiser 189, 195, 276 Nietzsche, Friedrich 241 Nikolaus von Bibra 100 Nikolaus von Haugwitz 97 Nikolaus von Siegen 70 Nöhbauer, Hans F. 79 Nonne, Johann Philipp 152 Novalis 93, 241 Oken, Lorenz 140, 158, 182 Olearius, Johann Christoph 145–148, 150 Olearius, Johann Gottfried 146 Ortelius, Abraham 105, 113, 128 Otte 97 Otto, Graf von Orlamünde 58 Otto IV., röm.-dt. König 89 Ovid 78, 86 Patze, Hans 10 f., 85 Paulssen, Arnold 267 Peter von Aspelt, Erzbischof von Mainz 56 Petersilie, Gerhard 307 Pfefferkorn, Georg Michael 122, 213 f. Philipp von Schwaben, röm.-dt. König 88 f. Pippin II., fränk. Hausmeier 33 Pohl, Walter 15 Pöppel, Ernst 301 Preiß, Manfred 311 Prudentius 82 Ptolemäus, Claudius 107, 124 Pyramius, Christoph 108 f. Rabe, H. 261

Personenregister 

Radegunde 20 Radulf, Herzog von Thüringen 24, 26 f., 32, 34, 38 f. Ranke, Leopold von 241 Redslob, Edwin 266 Regel, Fritz 211 f., 216, 218, 238 Reinmar von Zweter 87, 91 Rivander, Zacharias 212 Rosenthal, Eduard 7, 265 Rothe, Johannes 64, 93 f., 96, 99 f. Rudolf I., röm.-dt. König 54, 58 Rudolphi, Friedrich 191 f. Ruh, Kurt 96 Rupp, Heinrich Bernhard 150–152 Salzmann, Christian Gotthilf 227–229, 231, 239 Samo, slaw. König 24, 26 f., 39 Sauckel, Fritz 274, 279 f., 282–286, 288–290, 292, 294 f., 297 Saxo Grammaticus 81 Schäfer, Dietrich 211 Schäffer, Carl 146 Scheinost, Marina 205 Schenck, Johann Theodor 150 Schenk, Ernst 158 Scherer, Wilhelm 75 f., 79, 93, 96 Schernberg, Dietrich 94 Schlechtendahl, Diederich Franz Leonhard 162 Schlesinger, Walter 11, 15, 85 Schlichtegroll, Friedrich 156 Schmid, Achiatus Ludwig Carl 134 Schmidt, Friedrich 212 Schneider, Hans Christian Wilhelm 193 Schneider, Hermann 82 Schönheit, Friedrich Christian Heinrich 162, 164 Schreber, Johann Christian von 158 Schultze-Naumburg, Paul 273 Schulze, Friedrich G. 182 Schwarze, Thomas 206, 210 Schwerdt, Heinrich 217 f. Schwind, Moritz von 76, 91 Seebeck, Moritz 141 Sedulius 82

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Siegfried von Ballhausen 58 Sigeboto von Paulinzella 98 Sigibert I., merow. König 20–22 Sigibert II., merow. König 21 Sigibert III., merow. König 24 Sophia, Herzogin von Brabant 53 Spangenberg, Cyriacus 100 Stelzner, Axel 312 Stolle, Konrad 70, 94 Storch, Ludwig 168, 170 f., 181, 185 f., 234 f., 238 Sycharius 26 Teichmeyer, Hermann Friedrich 151 Thakulf, Herzog der Sorbenmark 36 Thal, Johann 145, 148, 163 Theotbald, Herzog von Thüringen 24, 27, 31, 36 Theudebert I., merow. König 33 Theudebert II., merow. König 21 Theuderich I., merow. König 20 Theuderich II., merow. König 21 Theudowald, merow. König 20 Veldeke, Heinrich von 78, 84–86, 89, 93 f. Venantius Fortunatus 20 Vergil 82 Victoria, engl. Königin 175 Vocke, Carl 219 Voigt, Christian Gottlob von 189, 194, 196 f. Wagner, Richard 93 Wahl, Hans 288 Wähler, Martin 290–292 Walther von der Vogelweide 79, 86–91, 93 Wardenga, Ute 209 Weber, Carl Julius 235 Weber, Ernst 183 Weber, Otto 284 Weigel, Erhard 133 Weinheber, Josef 79 Wenskus, Reinhard 15 Wernher von Elmendorf, Kaplan von Heiligenstadt 85 Wersebe, August von 216 Werthern, Georg von 167 f., 187

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Personenregister

Werthern, Thilo von 167 Wickram, Jörg 86 Widukind von Corvey 81 Wieland, Christoph Martin 195 Wigand, Paul 145 Wilhelm von Holland, röm.-dt. König 53 Wilhelm, Herzog von Sachsen-Weimar 120 Wilhelm III. (genannt der Tapfere), Herzog von Sachsen 59, 64–68, 70 f., 96, 193 Willibald 27, 31 f.

Willibrord 27, 31 Wolf, Johannes 112 f. Wolfger von Erla, Bischof von Passau 89 Wolfram, Herwig 15 Wolfram von Eschenbach 78, 87–91, 93 f., 98, 167 Wydenbrugk, Oskar von 176, 180 Zenker, Jonathan Carl 158, 160–163 Ziegler, Hans Severus 288

Ortsregister

Das Register enthält alle im Text- und Fußnotenteil aufgeführten Orte. Geogra­phische Landschaftsbezeichnungen sowie territoriale Bestandteile in Herrschaftstiteln wurden nicht aufgenommen. Ortsnennungen, die lediglich bibliographischen Angaben zugehören, wurden ebenfalls nicht erfasst. Abtlöbnitz 311 f. Allstedt 191, 194, 199, 305, 309–312 Altenberga 169 Altenburg 44, 54, 152, 266, 269, 309 f. Andisleben 120 Annaberg 145 Ansbach 93 Apolda 231 Arnstadt 145 f., 148, 172, 175, 231 Artern 307–310, 313 Auerstedt 189, 194 Bachra 120, 307 Bad Bibra 309 f. Bad Frankenhausen 181, 230, 309 Basel 108, 145 Bayreuth 286 Beichlingen 167, 174 Berka 162 Berlin 237, 275, 282, 287, 302 Bern 132 Bitterfeld 305 Blankenhain 194 f., 197 f. Bologna 84 Breslau 85, 131 Burgscheidungen 312 Camburg 218 Casekirchen 311 f. Chemnitz 54 Coburg 162, 183, 265–267, 269, 276 Cospeda 150 Creuzburg 162, 214 Crimmitschau 212

Crölpa-Löbschütz 311 f. Dachau 280 Doberlug-Kirchhain 87 Donndorf 309 Dresden 122, 190, 307 Echternach 28, 81 Eckartsberga 212, 231, 292, 312 Eisenach 44, 47, 53, 60–62, 71, 89, 93 f., 98, 150, 152–154, 176, 183, 295 Eisleben 155, 170, 186, 217 Ellrich 214 Erfurt 46, 48, 51, 55, 57–59, 69, 82, 84 f., 88, 94, 96, 98, 100, 103, 112, 120, 124, 152, 162 f., 178 f., 181 f., 189, 194–199, 230 f., 262, 266, 271 f., 296 f., 304, 307 Frankfurt am Main 145 f., 177, 190 Frankfurt an der Oder 84 Freising 81 Freyburg 304 f., 309 Fulda 46, 81, 198 Gebesee 37 Gera 162, 265, 310 Gleina 219 Gotha 44, 61, 112, 136, 139, 153–156, 158, 161, 175, 178, 183, 220, 227, 231, 270 Göttingen 133, 151–153, 158, 212 Gräfenthal 214 Gräfentonna 213 Greifswald 84, 131 Groitzsch 212

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Ortsregister

Großmonra 34, 120 Halle 59, 112, 133, 150, 162, 164, 170, 212, 217, 266, 305 Hamburg 237 Heldrungen 309 Henneberg 193, 198 Hersfeld 34 f., 46, 81, 316 Hildesheim 212 Hof 212 Hohenmölsen 307, 309 Ilfeld 150, 214 Janisroda 312 Jena 12, 68, 103, 110, 124, 131–134, 136–138, 140–142, 145, 148, 150–152, 154, 158, 163 f., 172, 186, 189, 194 f., 211, 214, 230–232, 236, 267, 272, 289, 293, 306 Jerusalem 68 Kahla 218 Kassel 47 Kleinheringen 311 f. Klettenberg 214 Köln 84, 87 Königsberg 132 Kopenhagen 229 Kösen 190 Köstritz 219 Kranichfeld 218 Kronach 212 Landshut 157 Langensalza 103, 124 Laucha 304, 309, 312 Leipzig 59, 84, 190, 196, 212, 237, 309 Leislau 311 f. Leutenberg 214 Lobenstein 162 London 154, 180 Lohra 214 Lossa 312 f. Lübeck 276 Lucka 55

Maastricht 93 Mainz 46, 53, 84 Mansfeld 65, 164 Marburg 47, 132 Meerane 212 Meiningen 162, 220, 266 f. Meißen 36, 61, 70, 87, 109, 145, 198 Memleben 312 Merseburg 36, 53, 162, 170, 217, 305 Mittelhausen 37, 48, 51, 68 Molau 311 f. Molsdorf 171 Mondsee 81 Mühlhausen 13, 46, 55, 59, 94, 98, 103, 124, 214 Münchberg 212 München 156–158, 163, 167, 287 Murbach 81 Naila 212 Naumburg 150, 155, 162, 212, 214, 231, 292, 307–312 Nebra 307–309 Neustadt an der Heyde (heute Neustadt bei Coburg) 162 Nordhausen 46, 55, 59, 162 f., 217 Nürnberg 279, 287 Orlamünde 218 Paris 21, 85 f., 154 Pegau 212 Plauen 212 Prag 85 Prießnitz 311 f. Querfurt 48, 155, 170, 191, 212, 217, 292 Regensburg 97, 131 Reichenau 81 Reinhardsbrunn 37 f., 47, 57, 62, 94, 98, 111, 113 Römhild 162 Ronneburg 154 Roßleben 305, 309 Rostock 84 f., 146

Ortsregister 

Rothenstein an der Saale 112 Rudolstadt 231, 269 Ruhla 100, 180, 234 Saalfeld 214 Sachsenburg 198 Salzungen 214 Sangerhausen 47, 191, 212, 217, 292, 305, 307 f., 310 f., 313 Schieben 311 f. Schleiz 162 Schleswig 78 Schleusingen 179 Schmalkalden 8, 13, 179 Schmölln 309 f. Schnepfenthal 156, 227 f. Stadtsteinbach 212 St. Gallen 81 Straßburg 229 St. Petersburg 229 Stolberg 163, 214 Soignies 26 Sömmerda 120, 155, 305 Sondershausen 33 f., 231, 269, 295 Suhl 304, 306 f. Treffurt 214 Trier 81, 131 Tromsdorf 312, 333

Utenbach 311 f. Vacha 162 Verdun 171 Volkenroda 87 Walkenrieth 214 Wanfried 212 Weida 162 Weimar 44, 61, 66, 78, 109 f., 120, 136– 139, 151 f., 167, 189, 192, 195, 199, 220, 231, 262, 265–267, 275, 280–282, 285–288, 294, 297, 304, 308 Weißenfels 51, 162, 212, 292, 307 Weißensee 61, 65, 192 Wittenberg 84, 98, 131 Witzenhausen 212 Wien 84, 87, 89, 97 Wohlmirstedt 312 Wolfenbüttel 120 Würzburg 27, 32, 211 Zeitz 36, 212, 292, 307, 309 f. Ziegenrück 179 Zülpich 21 Zürich 229 Zwickau 54, 212

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Verzeichnis der Autoren und Herausgeber Apl. Prof. Dr. Joachim Bauer Leiter i. R. des Archivs der Friedrich-Schiller-Universität Jena Peter Bühner 1990 bis 2012 Erster Beigeordneter (ab 1994 Bürgermeister) und Bau­ dezernent der Stadt Mühlhausen/Thüringen PD Dr. Stefan Gerber Leiter des Archivs der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Werner Greiling Professor i. R. für Geschichte der Neuzeit am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Emeritierter Professor für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Reinhard Hahn Emeritierter Professor für deutsche Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit am Institut für Germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Jürgen John Emeritierter Professor für Moderne mitteldeutsche Regionalgeschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Mathias Kälble Arbeitsstellenleiter des Forschungsprojekts „Codex diplomaticus Saxoniae“ der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig

Verzeichnis der Autoren und Herausgeber 

Dr. Gerhard Müller Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsprojekts „Ernst Haeckel (1834–1919): Briefedition“ Dr. Steffen Rassloff Freiberuflicher Historiker und Publizist Prof. Dr. Julia A. Schmidt-Funke Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Leipzig Prof. Dr. Stefan Tebruck Professor für Mittelalterliche Geschichte am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen Dr. Petra Weigel Abteilungsleiterin der Sammlung Perthes an der Forschungs­bibliothek Gotha der Universität Erfurt Dr. Helge Wittmann Leiter des Stadtarchivs Mühlhausen

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