Thomasius im literarischen Feld: Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext [Reprint 2013 ed.] 9783110932331, 9783484810204

The volume goes back to a symposium in Halle in 1998. It essays an examination of the relationship of Christian Thomasiu

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Thomasius im literarischen Feld: Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext [Reprint 2013 ed.]
 9783110932331, 9783484810204

Table of contents :
Thomasius im literarischen Feld. Einführung
Substanz und Nichts. Überlegungen zu Baltasar Gracián und Christian Thomasius
Konversationskultur und Gesprächsregie in den Monatsgesprächen
Barbon und Tartuffe. Thomasius und die französische Literatur
Das decorum Thomasii als Faktor sozialer Kohäsion oder: Systematische Strukturen im Denken eines Eklektikers
Literarisches Feld und philosophisches Feld im Thomasius-Kreis: Einsätze, Verschleierungen, Umbesetzungen
Über „Speisen“ und „Artzeneyen“. Ansätze einer kulinarischen Literaturtheorie in der Lohenstein-Kritik von Christian Thomasius
„Le Bayle de l’Allemagne“: Christian Thomasius und der europäische Refuge. Konfessionstoleranz in der wechselseitigen Rezeption für ein kritisches Bewahren der Tradition(en)
,Historia litteraria‘, Geschichte und Kritik. Das Projekt der Cautelen im literarischen Feld
Laster und Tugend bei Bernard de Mandeville (1670-1733) und Christian Thomasius (1655-1728)
Quo ruitis? oder: Christian Thomasius und die Risiken der Aufklärung
Bibliographie der Thomasius-Literatur 1996-2001
Personenregister

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Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

20

Thomasius im literarischen Feld Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext

Herausgegeben von Manfred Beetz und Herbert Jaumann

Max Niemeyer Verlag Tübingen

Wissenschaftlicher Beirat: Karol Bai, Manfred Beetz, Jörn Garber, Notker Hammerstein, Hans-Hermann Hartwich, Andreas Kleinert, Gabriela Lehmann-Carli, Klaus Luig, François Moureau, Monika Neugebauer-Wölk, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Richard Saage, Gerhard Sauder, Jochen Schlobach, Heiner Schnelling, Jürgen Stolzenberg, Udo Sträter, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Redaktion: Wilhelm Haefs, Hans-Joachim Kertscher Satz: Kornelia Grün

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-81020-3

ISSN 0948-6070

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Druck: Guide-Druck, Tübingen Einband: Geiger, Ammerbuch

Inhalt

HERBERT JAUMANN: Thomasius im literarischen Feld. Einfuhrung

1

ERIC ACHERMANN: Substanz und Nichts. Überlegungen zu Baltasar Gracián und Christian Thomasius

7

MANFRED BEETZ: K o n v e r s a t i o n s k u l t u r u n d G e s p r ä c h s r e g i e in d e n

Monatsgesprächen

35

VOLKER KAPP: Barbon und Tartuffe. Thomasius und die französische Literatur

61

KLAUS-GERT LUTTERBECK: Das decorum Thomasii als Faktor sozialer Kohäsion oder: Systematische Strukturen im Denken eines Eklektikers . . . .

77

MARTIN MULSOW: Literarisches Feld und philosophisches Feld im Thomasius-Kreis: Einsätze, Verschleierungen, Umbesetzungen

103

DIRK NIEFANGER: Über „Speisen" und „Artzeneyen". Ansätze einer kulinarischen Literaturtheorie in der Lohenstein-Kritik von Christian Thomasius

117

SANDRA POTT: „Le Bayle de Y Allemagne": Christian Thomasius und der europäische Refuge. Konfessionstoleranz in der wechselseitigen Rezeption für ein kritisches Bewahren der Tradition(en)

131

MERIO SCATTOLA / FRIEDRICH VOLLHARDT : . H i s t o r i a l i t t e r a r i a ' ,

Geschichte und Kritik. Das Projekt der Cautelen im literarischen Feld . . . .

159

VI PETER SCHRÖDER: Laster und Tugend bei Bernard de Mandeville (1670-1733) und Christian Thomasius (1655-1728)

187

WINFRIED SCHRÖDER: QUO ruitis? oder: Christian Thomasius

und die Risiken der Aufklärung

203

FRANK GRUNERT: Bibliographie der Thomasius-Literatur 1996-2001

221

Personenregister

233

HERBERT JAUMANN ( G r e i f s w a l d )

Thomasius im literarischen Feld. Einfuhrung

Die Erforschung von Leben und Werk des Christian Thomasius ist seit den 80er Jahren wieder erfreulich in Gang gekommen. Ich erinnere nur an zwei gewichtige Tagungsbände: Werner Schneiders (Hg.): Interpretationen zu Werk und Wirkung, 1989, und Friedrich Vollhardt (Hg.): Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, 1997. Sie hat sowohl an Intensität als auch an interdisziplinärer Vielseitigkeit der Fragestellungen erheblich zugenommen, wie wir das im Einladungsexposé zu dieser Tagung dargestellt hatten, die im September 1998 in den Räumen des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung der Universität Halle-Wittenberg stattfand. In den beiden Forschungsbibliographien von Frank Grunert (in den genannten Bänden von 1989, 1997) kann man diese eindrucksvollen Fortschritte ausfuhrlich dokumentiert finden, so wie das für die ältere Forschung die 1955 erschienene und noch immer unverzichtbare Bibliographie von Rolf Lieberwirth leistet. Wir haben Frank Grunert (Gießen) für die Fortschreibung der Bibliographie zu danken, die er für den vorliegenden Band zusammengestellt hat. Dennoch hat sich die aktiver gewordene Forschung nicht allen, wohl auch nicht allen zentralen Gegenstandsbereichen mit gleicher Intensität zugewandt. Manches bleibt am Rande und im Schatten, und man kann der Forschung auch nicht bescheinigen, daß sie sich besonders intensiv Gedanken über die Relevanz und die Reichweite ihrer jeweils leitenden Fragestellungen und Zurechnungsbegriffe gemacht hätte. Zum Beispiel fehlt eine gründliche und grundsätzliche Überprüfung der immer mit so unerschütterlicher Selbstverständlichkeit vorgenommenen Zurechnung des Thomasius zur Frühaufklärung. 1 Der von Vollhardt herausgegebene Band bildet trotz seines Titels davon eigentlich eine Ausnahme, weil dort diese Frage vom Herausgeber durchaus reflektiert und der Kontext Frühaufklärung deshalb auch als eine bewußt selektive Zurechnung gewählt wird, und dagegen ist im Prinzip natürlich nichts zu sagen. Es handelt sich dabei gerade nicht um die Fortschreibung eines Zurechnungsmonopols, dessen Folgen eigentlich dem heute angeblich geschärften Blick für wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge nicht entgehen sollten: Sie liegen in erster Linie in dem Zwang, alles unter den einzelnen (mehr oder weniger präzisen) Vorgaben und Blickrichtungen zu sortieren, zu interpretieren und auch zu bewerten, die eine Kategorie wie die der ,Frühaufklärung' und das unermüdlich reproduzierte Klischee Dazu jetzt auch kritisch Herbert Jaumann, Art. Thomasius, Christian, in: Realenzyklopädie (TRE), Bd. 33 (2001), S. 4 8 3 ^ 8 7 .

Theologische

2

Herbert

Jaumann

von Thomasius als dem ,Vater der deutschen Aufklärung' erzwingen. Die Herrschaft solcher Klischees reizen zu provokanten Fragen, und diesem Reiz sollte gelegentlich auch nachgegeben werden. Überhaupt gehört ein kritisch-reflektierender Forschungsbericht, der etwas ganz anderes sein müßte als eine erzählte Bibliographie, zu den dringenden Desideraten der Thomasius-Forschung. 2 Im Mittelpunkt dieses Bandes steht das Verhältnis von Thomasius zu Literatur und Poesie in einem weiten Sinn, der den Literaturbegriff seiner Zeit angemessen berücksichtigt. Die damit aufgeworfenen, bisher sonderbar unterbelichteten Fragen gaben auch den Anstoß zu der Tagung in Halle. Sonderbar ist diese Vernachlässigung auch deshalb zu nennen, weil gerade diese Interessen und Aktivitäten, wie sie nicht nur in den Monatsgesprächen dokumentiert sind, Thomasius zu einem hochgeachteten Autor und Kritiker gerade auch in der germanistischen Literaturgeschichte gemacht haben, jedoch eben mit wenig substanziellen Folgen fur unsere genaue Kenntnis dieses Verhältnisses. Ich sehe die Gefahr, daß sich für Christian Thomasius (geb. 1655) in der Literaturgeschichte die Rolle des allseits geachteten Pioniers weiter einspielt, dessen Name gewohnheitsmäßig en passant lobend erwähnt wird, ehe man sich ausführlich Gottsched, wenn nicht ohnehin lieber Lessing zuwendet. Eine ähnliche Rolle spielt j a der gut zehn Jahre ältere Christian Weise (geb. 1642), nur mit dem Unterschied, daß in diesem Fall wenigstens die Spezialliteratur, auch diejenige der letzten Jahrzehnte, über sein literarisches Werk und dessen Rezeption bei weitem ergiebiger ausfallt. 3 Einige der Beiträge haben in unterschiedlichem Grad und in verschiedener Weise Bourdieus Begriff des literarischen Felds herangezogen. Dabei war es keinesfalls die Absicht der Tagung, die Untersuchung über Thomasius und die Literatur als Thema oder als Stichwort für eine empirisch-historische Fallstudie zu benutzen, etwa um bestimmte Leistungen oder Probleme der Bourdieuschen Feldtheorie selbst zu exemplifizieren, zu erproben oder .durchzuspielen'. Erstens liegt mir eine solche Art der anachronistischen Verwendung von Theorien in historischen Untersuchungen, bei der die historischen Gegenstände zu beliebigem .Material' erklärt werden, das dann irgendwelchen modernen Konzepten subsumiert wird, prinzipiell fern. Theorien sollen vielmehr eine analytische Blickrichtung auf den Gegenstand explizit machen und diesen überhaupt erst in bestimmter Weise konstituieren. Sie sollen auf diese Weise dabei helfen, latente Bedeutungen und Strukturen der Sache sichtbar, analysierbar zu machen, Anschlußmöglichkeiten aufzuzeigen und Anschlüsse herzustellen, also landläufig Getrenntes zusammenzu-

2

3

Ein Forschungsbericht ist leider auch nicht enthalten in: Schröder, Peter, Christian Thomasius zur Einfiihrung. Hamburg 1999 (Zur Einführung. Bd. 197). Ich nenne nur die Studien von Baraer, Wilfried, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970 (insb. Teil II, Kap. 3); Beetz, Manfred, Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 1980; Zeller, Konradin, Pädagogik und Drama. Untersuchungen zur Schulcomödie Christian Weises. Tübingen 1980.

Einfìihrung

3

bringen. Zweitens gibt es sehr wohl eine Reihe von Gründen, aus denen man der Kultursoziologie Bourdieus insgesamt sehr reserviert gegenüberstehen kann: ihrem inhärenten Ökonomismus und Utilitarismus etwa, zu dem sich ein gewaltiger Unterschied zu der im prinzipiellen Strukturfunktionalismus auch verwandten Systemtheorie Luhmanns erkennen läßt.4 Drittens, und vor allem, war an den FeldBegriff in erster Linie im Sinne eines heuristisch nützlichen Fragehorizonts oder Fragerasters gedacht - was natürlich keinen der Autoren der Beiträge im mindesten daran hindern sollte, bei der Applikation Bourdieus auf die für Thomasius und seine Kontexte geltenden Sachverhalte darin auch viel weiter zu gehen. Dazu nur einen Hinweis auf wenigstens zwei Punkte. Die Rezeption der FeW-Theorie Bourdieus ist in der Literaturwissenschaft hierzulande seit den 90er Jahren durch gegenläufige Tendenzen wie die programmatische Verabschiedung der ,Sozialgeschichte' gehemmt und weitgehend auch blockiert. Die dabei ausgegebenen Parolen (,linguistic turn', ,Dekonstruktion') spekulieren allesamt mit der falschen Alternative zwischen ,Sozialgeschichte' oder .Textanalyse', und die Beliebtheit der letzteren läßt sich in den meisten Fällen einfach daraus erklären, daß dem Interpreten in Aussicht gestellt wird, der mühsame Erwerb historischen Wissens werde ihm erlassen. Wenn sich der modische Nebel der Konjunktur dieser Art Studienreform gelichtet hat, wird man sich dem Theorieangebot Bourdieus mit weniger Vorurteilen neu zuwenden können. Dennoch hat es auch in den vergangenen Jahren eine Kontinuität der Diskussion um Bourdieus Theorie und deren erste Erprobungen seit den 80er Jahren gegeben. 5 Aus ihr ergibt sich meines Erachtens, daß die Gefahr einer bloß metaphorischen Verwendung des Feld-Begriffs - statt eines theoretischen Konstrukts - besondere Aufmerksamkeit beansprucht. Ein zweiter Brennpunkt der Probleme scheint mir darin zu liegen, daß bei allem erklärten Interesse Bourdieus an historischen Prozessen in seinem hier interessierenden Hauptwerk von 1992: Les règles de l'art. Genèse et structure du champ littéraire,6 die logique du champ littéraire {intellectuel) eigentlich erst in der späteren Neuzeit, nach den Studien von Bourdieu selbst und seinen Schülern in Frankreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wirklich ,greift'.

5

6

Eine gute Einfuhrung in die Theorie Bourdieus vor allem unter Aspekten der Geschichtswissenschaft und Soziologie jetzt bei Flaig, Egon, Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis (1972). In: Erhart, Walter / Jaumann, Herbert (Hg.), Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann. München 2000, S. 358-382. Dort auch weitere neuere Literatur. Vgl. unter den im Anschluß an diese Einfìihrung beigefugten Titeln und Autoren: Alain Viala (1993) als einer der literarhistorisch produktivsten ,Schüler', Joseph Jurt (1995) mit einer sehr erfolgreichen Einfuhrung und Markus Schwingel (1995) mit einer Darstellung mehr unter Aspekten der Sozialtheorie, Ökonomie und Politik. Die deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Bernd Schwibs und Achim Russer unter dem Titel: Bourdieu, Pierre, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/M. 1999. Dazu auch die Beiträge von und über Bourdieu in dem Band Streifzüge durch das literarische Feld, hg. von Louis Pinto und Franz Schultheis (1997).

4

Herbert Jaumann

Man hat es hier meines Erachtens mit einem Problem zu tun, das sich per Analogie auch bei der Applikation der systemtheoretischen Wissenssoziologie Luhmanns auf die literarhistorische Forschung beobachten läßt. Dabei werden aufgrund theorieimmanenter Entscheidungen bestimmte Epochen und Epochenwechsel, einzelne Problemlagen und Themen der Kunst- und Literaturgeschichte gegenüber anderen bevorzugt. Im Falle der Applikation Luhmanns ist es bekanntlich in erster Linie der Übergang zur frühen Neuzeit, dessen Interpretation mit Hilfe der Luhmannschen Konzepte erheblich gewinnt, während dieselben Konzepte gegenüber Phänomenen etwa des späten 19. Jahrhunderts nicht,greifen'. Unter den möglichen oder nötigen Fragen, auf die man mit der blicklenkenden Unterstützung des Bourdieuschen FeW-Begriffs als eines heuristischen Konzepts stoßen kann, sind etwa die folgenden zu nennen: 1. Thomasius ' literarischer Bildungshorizont: sein literarisch-kulturelles Wissen; was hat er rezipiert, welche Bücher besaß er, wie beschaffte er sie sich; welche Anregungen griff er auf und woher; welche Interessen bestimmten seine Auswahl (Autoren, Sprachen, Nationalliteraturen, Themen, Gattungen usw.) 2. Ästhetische undpoetologische Konzepte, Praxisrollen: Rhetorik, decorum- und Stillehre, Schreibweisen, Darstellungsmittel und ihre Funktion; Thomasius als Kritiker, als ,Interpret' bzw. Kommentator; Gelehrten-, Autoren-, Satiriker- und Kritikerrolle bei Thomasius, usw. 3. Beziehungen im Feld der Literatur (,Feldstrukturen '): die Feldstrukturen selbst, in denen Thomasius und andere in seinem näheren und weiteren Umfeld agieren, z.B. der Kontext ,Gelehrtenrepublik', das Verhältnis zu seinen Mit- und Zuarbeitern, Übersetzern usw., zu seinen Schülern, zu seinen Gegnern in verschiedenen Streitkontexten; lokale, regionale, überregionale Feldstrukturen, darunter bestimmte literarisch-kulturelle Strömungen, Schulen, Bewegungen (z.B. Pietismus, Erhard Weigel in Jena usw.). 4. Thomasius als literarischer

Impulsgeber

5. Die ökonomischen, sozialen und vor allem die symbolischen Ressourcen (Güter, , Kapitalien ') für die Praxisformen des Thomasius und seiner Umgebung 6. Welche , Ökonomie der Praxis ' ist bei Thomasius im Kontext seines Feldes auszumachen?

jeweiligen

Einfiihrung

5

Literaturhinweise Einige wenige Titel, die besonders hilfreich sein können unter den Aspekten des oben Gesagten und der Rezeption in Deutschland: I.

Bourdieu

Bourdieu, Pierre, Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt/M. 1970 (Reihe Theorie). - Genèse et structure du champ religieux. In: Revue française de sociologie 12 (1971), Nr. 3, S. 295-334. - Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht. Frankfurt/M. 1981. - La distinction. Critique social du jugement. Paris 1979. Deutsch: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. 1982. - Leçon sur la leçon. Paris 1982. Deutsch: Sozialer Raum und „Klassen". Leçon sur la leçon. Frankfurt/M. 1985 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 500). - Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Soziale Welt, Sonderheft 2 (1983): Soziale Ungleichheiten. Hg. von Reinhard Kreckel, S. 183-198. - Les règles de l'art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 1992. Deutsch: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/M. 1999.

2.

Studien

Bohn, Cornelia, Habitus und Kontext. Ein kritischer Beitrag zur Sozialtheorie Bourdieus. Opladen 1991. Bohn, Cornelia, Hahn, Alois: Pierre Bourdieu, in: Käsler, Dirk (Hg.), Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu. München 1999 (Klassiker der Soziologie, 2), S. 252-271 [mit guter Bibliographie]. Honneth, Axel, Die zerrissene Welt der symbolischen Formen. Zum kultursoziologischen Werk Pierre Bourdieus, in: ders. Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze. Frankfurt/M. 1990. Jurt, Joseph, Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995. Müller, Hans Peter, Kultur, Geschmack und Distinktion. Grundzüge der Kultursoziologie Pierre Bourdieus, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 27 (1986): Kultur und Gesellschaft, S. 162-190. Pinto, Louis / Schultheis, Franz, (Hg.), Streifzüge durch das literarische Feld. Texte von Pierre Bourdieu, Christophe Charle u.a. Konstanz 1997 (édition discours 4). Schwingel, Markus, Bourdieu zur Einfuhrung. Hamburg 1995. Viala, Alain: Sociopoétique, in: Molinié, Georges / Viala, Alain, Approches de la réception. Sémiostylistique et sociopoétique de Le Clézio. Paris 1993.

ERIC ACHERMANN

(Bern)

Substanz und Nichts. Überlegungen zu Baltasar Gracián und Christian Thomasius1 Der bedeutende Einfluß Graciáns auf die deutsche Literatur des ausgehenden 17. Jahrhunderts ist bekannt und teilweise erforscht;2 ebenso bekannt ist die Tatsache, daß das angeblich revolutionäre und epochale Ereignis einer ersten Universitätsvorlesung in deutscher Sprache Graciáns Oráculo manual y arte de prudencia zum Gegenstand hatte. Doch obwohl das Ereignis selbst wie auch die Bedeutung dieser akademischen Tat heute ganz zu Recht mit kritischerem Blicke neu beurteilt werden,3 hat sich das Verhältnis Christian Thomasius' zu Gracián einer solchen Kritik entzogen. Sowohl über die eigentliche Textvorlage als auch über die Motive der Textwahl bestehen gravierende Meinungsverschiedenheiten, die scheinbar weder ausdiskutiert noch faktisch erhärtet zu werden brauchen.4

2

3

4

Für wichtige Hinweise und Korrekturen danke ich Ellinor Landmann. Vgl. hierzu die Arbeiten von Borinski, Karl, Baltasar Gracián und die Hoflitteratur in Deutschland. Tübingen 1971 [Reprint der Ausgabe Halle '1894], vor allem S. 5 3 - 1 2 7 ; Farinelli, Arturo, Ensayos y discursos de crítica literaria hispano-europea. 2 Bde. Rom 1925, hier Bd. 2: Gracián y la literatura de corte en Alemania (überarbeitete Fassung des gleichnamigen Aufsatzes von 1896), S. 4 4 5 - 5 4 6 , vor allem S. 5 2 3 - 5 4 5 ; an neueren Arbeiten sind zu nennen: Mulagk, Karl-Heinz, Phänomene des politischen Menschen im 17. Jahrhundert. Propädeutische Studien zum Werk Lohensteins unter besonderer Berücksichtigung Diego Saavedra Fajardos und Baltasar Graciáns. Berlin 1973, S. 194-306; Hidalgo Serna, Emilio, Filosofia del ingenio y del concepto en Baltasar Gracián. Rom 1976, S. 16—22; Strosetzki, Christoph, La recepción de ,E1 Politico' en Alemania, in: Neumeister, Sebastian / Briesemeister, Dietrich (Hg.), El mundo de Gracián. Actas del Coloquio Internacional (Berlin 1988). Berlin 1991, S. 2 3 3 - 2 4 8 ; Briesemeister, Dietrich, Neulateinische Gracián-Übersetzung aus dem 18. Jahrhundert in Deutschland, in: ebd., S. 2 2 1 - 2 3 2 ; Schlechte, Monika, GraciánRezeption in Julius Bernhard von Rohrs „Einleitung der Ceremoniel-Wissenschafft", in: ebd., S. 2 4 9 - 2 6 0 . Als mit Abstand wichtigste Arbeit erscheint die Dissertation von Forssmann, Knut, Baltasar Gracián und die deutsche Literatur zwischen Barock und Aufklärung. Barcelona 1977 (zuerst Diss. Mainz 1976), vor allem S. 1 - 4 9 . Sie liefert einen kritischen Forschungsbericht insbesondere zu Borinski und stellt eine beeindruckende Liste von Ungenauigkeiten, Fehlem und haltlosen Behauptungen zusammen, die einen großen Teil der oben genannten Literatur zu Makulatur macht. Vgl. Maurer, Michael, Christian Thomasius oder Vom Wandel des Gelehrtentypus im 18. Jahrhundert, in: Vollhardt, Friedrich (Hg.), Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit. Bd. 37), S. 4 2 9 444, h i e r S . 431. So glaubt z. B. Werner Schmidt (Ein vergessener Rebell. Leben und Wirken des Christian Thomasius. München 1995, S. 46) zu wissen, Thomasius habe über Graciáns Agudeza y arte de ingenio referiert. Dieser Fehler hat Tradition, vgl. bereits Dessoir, Max, Geschichte der neueren deutschen Psychologie. Berlin 2 1897, S. 57. Dessoirs anschließende Behauptung, Gracián sei Thomasius überlegen, kann angesichts der Textkenntnis nur belächelt werden.

8

Eric Achermann

Dies hat mehrere Gründe, die verständlich sind und wohl schon deshalb zur Vorsicht mahnen sollten. Gracián ist ein spanischer Autor und nicht gerade der einfachste, seine Rezeption im übrigen Europa setzt die Kenntnis des Französischen und der französischen Hofkultur in ihrer Entwicklung seit dem ,Hôtel de Rambouillet' voraus,5 schließlich - und dies ist wohl der triftigste Grund - ist nur wenig über das genannte Collegium über des Gratians Grund-Reguln/Verniinftig/klug und artig zu leben bekannt, und das Wenige geht auf den mit seinen verschiedenen Nachträgen immerhin 70 Seiten starken Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? zurück. Aufgrund der geringen Spuren, die Gracián in dieser Vorlesungsankündigung hinterläßt, schätzt etwa der namhafte Thomasius-Kenner und -Herausgeber Werner Schneiders den Einfluß Graciáns auf Thomasius' Konzept einer Hof-Philosophie als gering ein. Schneiders zufolge „dürfte die Anknüpfung an Gracián eher ein modischer Werbetrick gewesen sein."6 Dagegen sprechen nicht etwa die - konfessionell, patriotisch und ideologisch motivierten - ,Entgleisungen' der GraciánForschung, die in Thomasius' praktischer Philosophie eine vollständige, wenn auch stilistisch mangelhafte und geschwätzige Nachschrift zu Gracián erkennen wollen, 7 sondern vielmehr, daß der sogenannte „modische Werbetrick" vorzugs5

6

7

Marc Fumaroli bemerkt zu recht, daß das .heroische' spanische Rhetorikideal eines Quevedo oder Gracián in Frankreich als Alternative zum Preziosentum erscheint (L 'Age de l'éloquence. Paris 2 1994, S. 90f.). Eine Entscheidung für Gracián bedeutet also nicht eine Entscheidung für Castiglione oder gar Faret, wobei jedoch Vermittlungen sowohl stilistischer Art (zwischen Lakonismus und ,suavitas') als auch ethischer Art (zwischen ,sociabilitas' und Selbsterhaltung) durchaus möglich bleiben und im Hinblick auf Thomasius wohl im Auge zu behalten sind. Wichtige Hinweise zur Verortung Graciáns in der rhetorischen Tradition liefert: Egido, Aurora, La rosa del silencio. Estudios sobre Gracián. Madrid 1996, S. 17^t7; zu Graciáns Rhetorik in der Entwicklung der jesuitischen Ratio studiorum vgl. Batllori, Miguel, Gracián y el Barroco. Rom 1958, S. 101-114. Schneiders, Werner, Vorwort zu: Thomasius, Christian, Ausgewählte Werke. Hg. von W. Schneiders. Hildesheim 1993ff., hier Bd. 1: Introductio ad philosophiam aulicam (1993), S. XI. Damit greift Schneiders seine eigene Einschätzung aus dem Jahre 1971 wieder auf: „Doch hat sich Thomasius schon bald von Graciáns Ansichten distanziert [...]. Der Einfluß dieses weltmännischen Jesuiten auf ihn dürfte meistens überschätzt werden." Ders.: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim 1971, S. 282. Hier verweist Schneiders auf zwei Stellen solcher ,Distanzierung', nämlich auf die Ausübung der Sittenlehre - auf die wir weiter unten noch eingehen werden — und den Entwurf der Grundlehren. Kritik an Schneiders' Behauptungen übt bereits Forssmann (wie Anm. 2), S. 48. Zum Thema „spanischer Lakonismus vs. deutsche Geschwätzigkeit" sei als Beispiel Farinellis Einschätzung (wie Anm. 2, S. 536f.) zitiert, die an eine generelle Aburteilung der zeitgenössischen deutschen Gelehrsamkeit anschließt und eine wahre Fundgrube an später weitertradierten philologischen Schnitzern darstellt: „El curso en lengua alemana de Thomasius sobre Gracián: Grund Regeln verniinfftig, klug und artig zu leben, ha quedado típico de su tiempo. Hay en él imitación de Gracián, a quien Thomasius se parecía tal vez en la vivacidad del temperamento, en la prontitud y efervescencia de las ideas, en varias de sus obras filosóficas y jurídicas. En la Introductio ad Philosophiam Aulicam (Kurtzer Entwurf/ der Politischen Klugheit), insertó unas observaciones sagaces y oportunas tomadas del Criticón y del Oráculo. Probablemente no fueron compuestos sin consultar a Gracián sus Fundamenta

Substanz und Nichts

9

weise so etwas wie ,Werbewirksamkeit' voraussetzt, was nach Schneiders' eigenen Worten aus einfachem Rekurs auf barocke Tradition nicht erklärt werden kann, „da sprachliche und konfessionelle Gründe [...] eine rasche Rezeption Graciáns im protestantischen Norden und Osten verhinderten."8 So habe erst durch die Übersetzung Amelots de la Houssaie aus dem Jahre 1684 Graciáns Handorakel unter dem Titel L'Homme de cour auch in Deutschland zu wirken begonnen, was die Übersetzung - nun aus dem Französischen - durch den Leipziger Juristen Johann Leonhard Sauter von 1686 und 1687 belege. 9 Wenn man nun aber das Teutsche Programm dieser Gracián-Vorlesung „als Startschuß für die deutsche Aufklärung bezeichnen kann", dann müßte doch eigentlich die »Werbung' für diesen Schuß in die gleiche Richtung zielen. Es gilt also ein paar Fragen zu stellen: Wieso kommt es zu diesem außergewöhnlichen und leicht belegbaren Erfolg im Feindesland? Welche Rolle spielt Amelot de la Houssaie fur die geneigte Aufnahme? Wieso die Wahl eines zur Erlernung angemessener französischer Sitten so ungeeigneten spanischen Jesuiten in einem protestantischen und universitären Milieu? Was schließlich erklärt den ungebrochenen Erfolg des Handorakels während des gesamten Zeitalters der Aufklärung?10

iuris naturae y otros escritos jurídicos que no conozco más que de nombre. Faltaba a Thomasius la cualidad esencial de Gracián, de expresar un sinnúmero de ideas en forma lacónica y precisa. El alemán escribe con humor, pero ahogando en un diluvio de palabras lo que el español había expresado en una breve sentencia, en forma aforística, Gracián da como la síntesis del pensamiento; Thomasius, su análisis" [Thomasius' Vorlesung in deutscher Sprache über Graciáns Grund Regeln verniinfftig, klug und artig zu leben ist fur ihre Zeit typisch geblieben. In ihr ist Nachahmung Graciáns, dem Thomasius vielleicht in der Lebhaftigkeit des Temperaments, der Hurtigkeit und Gärung der Ideen in mehreren seiner philosophischen und juristischen Werke ähnlich war. In der Introductio ad Philosophiam Aulicam (Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit), hat er einige kluge und treffende Beobachtungen eingefugt, die dem Criticón und dem Oráculo entnommen sind. Wahrscheinlich hat er seine Fundamenta iuris naturae und andere juristische Werke, die ich nur dem Namen nach kenne, nicht ohne den Gracián vorher zu konsultieren, verfaßt. Thomasius fehlte die wesentliche Eigenschaft Graciáns, eine Unzahl von Ideen in lakonischer und präziser Form zu formulieren. Der Deutsche schreibt mit Humor, ertränkt jedoch in einer Sintflut von Wörtern dasjenige, was der Spanier in einer kurzen Sentenz in aphoristischer Form ausgedrückt hat. Gracián gibt so etwas wie die Synthese des Gedankens, Thomasius dessen Analyse.] Hierin folgen etwa Correa Calderón, Evaristo, Baltasar Gracián. Su vida y su obra. Madrid 2 1970, S. 314; etwas überraschend auch noch neuere Arbeiten, so etwa Strosetzki (wie Anm. 2), S. 244. 8 9

10

Schneiders, Vorwort zur Introductio ad philosophiam aulicam, (wie Anm. 6), S. X. Auch zu diesem Punkt bestehen philologische Unstimmigkeiten. So führt Correa Calderón (wie Anm. 7, S. 312 u. 344) in seiner Darstellung der deutschen Rezeption und in seiner Gracián-Bibliographie zweimal Adam Gottfried Kromayer - ebenfalls Leipzig - an; ebenso Romera-Navarro, Miguel, Einleitung zu: Gracián, Baltasar, Oráculo Manual y Arte de Prudencia. Madrid 1954, S. XXIX. Es handelt sich hierbei um einen Irrtum; Kromayer erscheint als Verleger auf den Titelblättern, während die Widmung mit „J. I. Sauter D." gezeichnet ist. Correa Calderón fuhrt - einzig für das Handorakel - von den genannten bis zu Schopenhauer zwölf deutsche Übersetzer an (wie Anm. 7, S. 312), wobei er für den engeren Zeitraum von 1686 bis 1750 neun deutschsprachige Ausgaben und vier lateinische anführt (ebd., S. 344-346

10

Eric

Achermann

B e v o r wir zur Beantwortung dieser Fragen schreiten, m ü s s e n vorderhand j e d o c h noch einige B e f u n d e zurechtgerückt werden, w e l c h e die erwähnte Fehleinschätzung w i e auch das relativ geringe Interesse der neueren Thomasius-Forschung an Gracián zu motivieren scheinen. D i e s u m s o mehr, da handgreifliche Gründe g e g e n diese B e f u n d e sprechen. Sie beruhen vor allem auf der geringen Beachtung, die Gracián s o w o h l in Thomasius' Teutschem adphilosophiam

aulicam

Programm

als auch in seiner

Introducilo

erhält. D a g e g e n ist zu erwidern, daß ganz einfach an der

falschen Stelle gesucht wird, und dies s o w o h l hinsichtlich des spezifischen Ortes der ,prudentia' im Denkgebäude des Thomasius als auch der hierfür relevanten Texte.

Bekanntlich

geht

es

im

Teutschen

Programm

um

die

Nachahmung

französischer Sitten, w o b e i Thomasius sich ebenso und im hohen Maße der A u s drucksfahigkeit der deutschen Sprache zuwendet. Ohne hier detailliert darauf eingehen zu können, steht die Rezeption der französischen Gracián-Übersetzung im Kontext einer v o n Thomasius explizit erwähnten 1 1 und sehr aktuellen Polemik, die sich u m A m e l o t s Kritik an der Tacitus-Übersetzung v o n d'Ablancourt, der großen Autorität französischer Übersetzungskunst des 17. Jahrhunderts, dreht. 12 D i e s e

"

12

u. 351), wozu noch die nicht erwähnten französischen Ausgaben deutscher Provenienz (z. B. Augsburg 1710) zu zählen wären. Auch wenn die Liste fehlerhaft und unvollständig ist, so vermittelt sie doch einen Eindruck von dem starken Absatz, den die Aphorismen gehabt haben müssen. Thomasius, Ausgewählte Werke, (wie Anm. 6), hier Bd. 22: Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? ein Collegium über des Gratians Grund-Reguln/Vernünftig/klug und artig zu leben, in: Kleine Teutsche Schriften. Hildesheim 1994 [Reprint der Ausgabe Halle 1701], S.51: „Ich hätte wohl gelegenheit hierbey [im Collegium, Ε. Α.] zu erwehnen [...] von des Amelot de Houssaie seiner Ubersetzung und andern Schrifften / auch seinen Widersachern", sowie die Nachschrift zu dieser Vorlesungsankündigung, der Thomasius ein französisches Schreiben beifügt, das sein eigenes Lob an d'Ablancourt mit den Argumenten Amelots in Zweifel zieht (ebd., S. 60), worauf Thomasius etwas unverbindlich antwortet (S. 64). Frémont d'Ablancourt, der Neffe des Übersetzers, läßt 1686 ein Pamphlet unter dem Titel Perrot d'Ablancourt vangé erscheinen, in dem er Abraham-Nicolas Amelot de la Houssaie aufs heftigste attackiert. Thomasius erwähnt diese Schrift in seinen Monatsgesprächen, spricht sie aber Richelet zu (Lustiger und Ernsthaffter Monats-Gespräche Anderer Theil [JuliDezember] Frankfurt/M. 1972 [Reprint der Ausgabe Halle 1688], S. 412 u. 810), der 1648 zusammen mit Frémont den Nouveau dictionnaire des rimes herausgegeben hatte. Anlaß hierfür ist die Rivalität zwischen Amelot und d'Ablancourt, die im Zusammenhang mit Amelots Tibère, discours politiques sur Tacite (Paris 2 1684) steht. Amelots Kritik folgt dabei grundsätzlich einem anderen Stilideal als es d'Ablancourts Übersetzungspraxis tut, wobei sie dem Lakonismus in der Nachfolge Lipsius' gegenüber dem weltmännischen und gewandten Stil den Vorzug gibt und d'Ablancourts Vermittlung zwischen Prägnanz und ,douceur' als inkonsequent desavouiert. So wirft Amelot ihm vor, die kraftvolle Prägnanz des Originals („ses pensées sont mâles & concises") zu vernachlässigen und die Sentenzen zu beseitigen („sans y trouver une seule maxime d'État"); vgl. hierzu Amelot de la Houssaie, Vorwort zu: Tacite avec des notes politiques et historiques. 2 Bde. Den Haag 1692, hier: Bd. 1, S. 2r- 6v (obige Zitate S. 3r) und Critique de divers auteur modernes qui ont traduits ou commentés les Œuvres de Tacite, ebd. S. XLVIII-LI. Zu Nicolas Perrot d'Ablancourt vgl. Zuber, Roger, Les , belles infidèles ' et la formation du goût classique. Paris 1995 [Neudruck der Ausgabe Paris 1968], S. 165-277 und vor allem S. 337-345, die nachvollziehen lassen, wieso Thomasius

Substanz und Nichts

11

Auseinandersetzung hat durchaus exemplarischen Charakter, sowohl was den Status der Übersetzung im Prozeß der Verbesserung der Muttersprache betrifft als auch zur Beurteilung der Tacitus-Rezeption und ihrer politisch und psychologisch weitreichenden Bedeutung.13 Zum zweiten ist die Introducilo ad philosophiam aulicam nicht eine eigentliche Hofphilosophie, sondern deren Propädeutik; sie enthält eine summarische Philosophiegeschichte und entwirft ein limitiertes logisches Instrumentarium zuhanden des verständigen und vernünftigen Weltmannes. Der Ort, an dem genuin Graciánsches Gedankengut umgesetzt wird, ist hingegen der Entwurf/ der politischen Klugheit von 1707 bzw. 1720,14 wo Gracián in den Anmerkungen zu den einschlägigen Kapiteln II bis VI15 auf grob 130 Seiten Oktav vierzehnmal erwähnt wird, wobei Thomasius nicht weniger als 13 Maximen mit entsprechender Nummer auffuhrt, zusätzlich zweimal aus der französischen Übersetzung zitiert und vier Maximen frei aus dem Gedächtnis und ohne weitere Angabe erwähnt.16 Der Ort, an dem Gracián und sein Handorakel wirken, liegt also und wen wundert es - nicht im Bereich der Logik noch in dem einer allgemeinen Grundlegung des Naturrechts, sondern im engeren Bereich prudentistischer Ratgeberliteratur, im Bereich der inneren Verbindlichkeit des .Rates' und nicht des B e fehls', um diese grundlegende Unterscheidung aus den Fundamenta zu bemühen.17

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d'Ablancourt bevorzugt. Zur Auseinandersetzung d'Ablancourt/ Amelot vgl. auch Zuber, Einleitung zu: Ablancourt, Nicolas Perrot de, Lettres et préfaces critiques. Paris 1972, S. 11. Zentral für die Beurteilung von Thomasius' Einstellung zu Amelot sind die erwähnten Monatsgespräche (wie Anm. 12), S. 394-396, und vor allem Zugabe No. VII, ebd., S. 807-811. In der Folge der genannten Polemik entwirft Amelot einen eigentlichen Forschungsbericht zur romanischen Tacitus-Rezeption, der in einmaliger Art und Weise die Bedeutung Tacitus' für die Entwicklung des politischen Denkens und des Prudentismus vor Augen führt: Amelot de la Houssaie, Critique de divers auteur modernes qui ont traduits ou commentés les Œuvres de Tacite, (wie Anm. 12), S. I-LX. Hier nach der Ausgabe: Thomasius, Christian, Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit, sich selbst und anderen in allen Menschlichen Gesellschaften zu rathen, und zu einer gescheidten Conduite zu gelangen; Allen Menschen, die sich klug zu seyn duncken, oder die noch klug werden wollen, zu höchstnöthger Bedürfniß und ungemein Nutzen nebst besonderen Anmerckungen von neuem heraus gegeben. Leipzig 1747. Inwiefern sich die Anmerkungen, die sämtliche Gracián-Stellen wie auch alle anderen Quellen enthalten, von denjenigen der Ausgaben 1705 unterscheiden, konnte ich selbst nicht überprüfen; nach dem sehr zuverlässigen Forssmann (wie Anm. 2, S. 176) kommen die Anmerkungen aber erst ab der vierten Ausgabe, d. h. 1720, hinzu. Es handelt sich um die Kapitel II. Von der Klugheit Rath zu geben, III. Ob die Klugheit zu rathen vor die Rechts-Gelehrten gehöre?, IV. Von der Klugheit sich selbst zu rathen, V. Von der Klugheit sich im täglichen Umgang wohl aufzuführen, VI. Von der Klugheit in auserlesener Conversation mit guten Freunden·, nicht erwähnt wird Gracián im ersten Kapitel, Von der Klugheit insgemein, das sich vor allem auf die eigenen Fundamenta sowie die Arbeiten von Conring stützt, sowie - aus verständlichen Gründen - in den Kapiteln VII und VIII, die sich mit dem Ehestand und der bürgerlichen Gesellschaft beschäftigen; das letzte Kapitel IX bildet eine Art Zusammenfassung. Forssmann, (wie Anm. 2), S. 184, zählt hier etwas anders. Thomasius, Christian, Fundamenta iuris naturae et gentium (1705). I, IV, § 50-65, Aalen 1979 [Reprint der Ausgabe Halle 4 1718], S. 133-136.

12

Eric

Achermann

In eben diesem Bereich praktischer Ratschläge für diejenigen, „die sich klug seyn duncken,

oder die noch klug werden

wollen",

zu

erfüllt Graciáns Klugheitslehre

ihre w i l l k o m m e n e und von Thomasius durchaus gewürdigte Aufgabe. 1 8 Baltasar Graciáns Oráculo

Manual

als Sammlung von 3 0 0 Aforismos,

y Arte de Prudencia

erscheint zuerst 1647

die nach A n g a b e des Titelblattes V i n c e n c i o

Juan de Lastanosa, der Freund und Gönner Graciáns, 1 9 aus den übrigen Werken Lorenzo Graciáns g e z o g e n haben soll. All diese Angaben sind Teil einer - u m mit Genette zu sprechen -

,paratextuellen' Fiktion, da weder Verfassername n o c h

Herausgeberschaft echt sind. 2 0 Z u erklären dürfte diese Fiktion nicht allein durch den U m g a n g mit ordensinterner Zensur sein, 2 1 vielmehr soll sie d e m Leser die

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20

21

Im Vorwort zur lateinischen Fassung seines Kurtzen Entwurffs geht Thomasius sogar so weit, seine vordergründige Absicht darin zu sehen, die Widersprüche zwischen den einzelnen Regeln Graciáns (und anderer) zu beheben und dessen Lehre auf eine solide Grundlage zustellen: „Saepe hic operam dedi, ut fontes ostenderem, ex quibus conciliari possint contradictoriae regulae prudentiae in Aulico Gratiani & apud alios scriptores subinde occurentes" [Oft habe ich mich bemüht, um die Ausgangspunkte darzulegen, aus denen die widersprüchlichen Regeln, die in Graciáns Hofmann und bei anderen Schriftsteilem wiederholt auftauchen, miteinander in Einklang gebracht werden können.] Praefatio zu: Primae lineae de jureconsultorum prudentia consuliatoria [...]. Halle 2 1710, S. [6]. Damit greift er das Vorhaben wieder auf, das er in seiner Nachschrift zum Teutschen Programm als Gegenstand seines Collegiums bezeichnet hatte: „Ich aber versuchte es [Gracián zu erklären, Ε. Α.] nichts destoweniger / und habe die ohne Ordnung gesetzten / auch zuweilen ziemlich untereinander geworffenen Maximen des Gratians zu etwa 6. oder 8. General-Regeln / die ich vorher aus ihrem fitndament erkläret / gebracht. [...] Also wolte ich ein Specimen einer besseren version [als der deutschen Übersetzung Sauters. Ε. Α.] geben / und darzu etwan zwantzig biß dreyßig Maximen hat/ die einander gantz offenbar contradiceren scheinen" (Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? [wie Anm. 11], S. 53f.). Zu Juan de Lastanosa y Baraiz de Vera und dessen Kreis vgl. Correa Calderón, (wie Anm. 7), S. 21-40 (dort auch weitere bibliographische Angaben). Von den 300 Reflexionen sind - der Untersuchung Romera-Navarros zufolge - bloß 72 der Sache nach in anderen Texten Graciáns zu finden, worunter nur eine einzige der ursprünglichen Stelle wortwörtlich entspricht, 21 tun dies annähernd. Vgl. Romera-Navarro, Einleitung, (wie Anm. 9), S. XXV-XXVIII; weitere Angaben zur Verteilung des Materials bei Blanco, Emilio, Einleitung zu: Gracián, Baltasar, Oráculo Manual y Arte de Prudencia. Madrid 1995, S. 23. Zu den Problemen Graciáns mit seinem Orden vgl. del Hoyo, Arturo, Vida de Gracián, in seiner Ausgabe von Gracián, Baltasar, Obras completas [im folgenden abgekürzt Oc], Madrid 1960, S. XXXIV-XXXVI, sowie CLIV (zum Handorakel)·, BatUori, (wie Anm. 5), S. 91-100; Mulagk, (wie Anm. 2), S. 195f., sowie Correa Calderón, (wie Anm. 7), S. 80-85; nach Louis Stinglhamber (Gracián et la Compagnie de Jésus, in: Hispanic Review XXII [1954], S. 195207, hier S. 197f.) und den hier zitierten Zeugnissen läßt sich eine gewisse Nervosität der Ordensleitung bezüglich der weltlichen Interessen der jungen Ordensbrüder an Rhetorik und Politik sowie an moralischen Paradoxen feststellen. In wie weit diese jedoch Gracián selbst betreffen, bleibt aufgrund der in eben diesem Artikel (Stinglhamber, ebd., S. 199-205) behaupteten Übereinstimmung der Lehre Ignatius' mit den Präzepten Graciáns zumindest offen. Es ist zudem festzuhalten, daß die Probleme Graciáns mit Ordensleitung und Publikum nicht sein Handorakel zum Gegenstand hatten, sondern den (weitaus moralischeren und weltverachtenden) satirisch-allegorischen Roman El Criticón·, so sieht es auch Correa

Substanz

und

Nichts

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Vorstellung vermitteln, hier gleichsam die aus den übrigen Werken g e w o n n e n e E s s e n z in Händen (.manual') zu halten, komprimierte Merksätze also, deren Kommentar das übrige Werk liefert. D i e Herausgeberschaft Lastanosas verleiht d e m Ganzen z u d e m eine esoterische, auf einen Zirkel v o n Eingeweihten gerichtete Geste, die in der Titelwahl (,oráculo') bereits antönt - eine Geste, die A m e l o t de la Houssaie und in seinem G e f o l g e Christian Thomasius bezeichnenderweise verwerfen werden. 2 2 D i e Aphorismen, diese lose aneinandergereihten 3 0 0 Kapitelchen, sind mit großem rhetorischem A u f w a n d gestaltet; sie bestehen aus einer lapidaren Inhaltsangabe - meist ein elliptischer Satz mit Infinitiv, der anschließend äußerst knapp und sentenziös kommentiert wird - , w o b e i hier die Vorliebe Graciáns fur A s y n deta, Ellipsen, antithetische, meist durch Paronomasien verstärkte Konstruktionen ganz markant hervortritt. Sie enthalten prudentistische Topoi, die im großen und ganzen d e m aulisch-rhetorischen Corpus zugesprochen werden können und in ihrer -

auf A m e l o t s Übersetzung beruhenden -

Rezeption auch bedenkenlos

zugesprochen worden sind. 2 3

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23

Calderón in seinem Kommentar zum Comulgatorio·. Gracián, Baltasar, El comulgatorio. Hg. von Evaristo Correa Calderón. Madrid 1977, S. 4. Amelot de la Houssaie begründet seine Wahl von „L'homme de cour" als französisches Äquivalent fur Oráculo manual wie folgt: „titre [...] qui, outre qu'il est moins fastueux & moins hiperbolique, explique mieux la qualité du Livre, qui est une espéce de rudiment de Cour, & de Code politique" (Einleitung zu: L'Homme de cour de Baltasar Gradan. Paris 1693, [S. VI.]) Damit übertönt er jedoch den Charakter lakonischer Dunkelheit, die Orakeln eignet, fur Gracián jedoch - wie dieser eingangs seines Político Don Fernando el Católico vermerkt - ideale Darstellungsform tiefer Wahrheit sind: „Oráculo dos veces por lo arcano de la inscripción, y más por lo profundo del pensamiento" [ein Orakel in doppelter Weise durch das Geheimnisvolle seiner Inschrift und mehr noch durch die Tiefe des Gedankens.], Oc, (wie Anm. 21), S. 37. Weitere, wenn auch unvollständige, philologische Anmerkungen zum Titel „oráculo" und „manual" bei Blanco, (wie Anm. 20), S. 24-30. Amelots Übersetzung dürfte zudem der Verurteilung des ,Orakelstils' bei Bouhours Rechnung tragen, die auch Thomasius erwähnt, in: Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? (wie Anm. 11), S. 12. Zu erwähnen ist, daß Thomasius die Übersetzung des Titels bei Amelot rügt. Dieser habe Arte de prudentia vorgezogen, da die Maximen „vielmehr von allen und jeden / Sie leben in was für Stande sie wollen / als Politische Lehr-Sätze in acht genommen werden sollten" [Monatsgespräche, (wie Anm. 12), S. 81 Of.]; schwer nachvollziehbar ist jedoch, wie etwa Bauern und Soldaten das Handorakel praktisch nutzbar machen sollten, das ja offensichtlich fur ,Entscheidungsträger' verfaßt ist, wenn die Maximen auch allgemeiner Art sind. Es ist zudem festzuhalten, daß die vorausgehende, anonym erschienene englische Übersetzung den Titel The courtier's manual oracle, or, The Art of prudence (1658) trägt. — Zur Entwicklung der Hofliteratur aus der Tradition mittelalterlicher Benimmbücher, den sogenannten .Zuchten', bis zur Herausbildung eigentlicher Modelle in der italienischen Renaissance vgl. die hervorragende Darstellung bei Scaglione, Aldo, Knights at Court. Berkeley 1991, vor allem S. 218-276; äußerst aufschlußreich auch die Untersuchung von Prudentismus und Hofkunst unter besonderer Berücksichtigung Graciáns und Thomasius' bei Geitner, Ursula, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992, bes. S. 51-139.

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Eric Achermann

Der Hof erscheint in diesem Corpus als ein idealer Ort experimenteller Psychologie, 24 als eine Chiffre für das Zusammensein einer öffentlich tätigen Elite. Er wird zunehmend zu einem quasi-theatralischen Raum, der ,circumstantiiert', d.h. mit den entsprechenden Staffagen ausgestattet werden kann und sich so dazu eignet, mit variierenden Parametern die Fährnisse und Anfechtungen des Lebens exemplarisch auszudiskutieren und pädagogisch umzusetzen. Der Hofliteratur kommt durch diese Disposition eine zentrale Stellung innerhalb des literarischen Feldes zu: Zum einen ist sie eine ,integrierende Literaturart', da sie eine ganze Reihe literarischer Typen in sich zu vereinen weiß, wie etwa Fürstenspiegel, Zeremonialbücher, Gesprächsspiele, Klugheitslehren u.a.m.; zum zweiten läßt sich hier äußerst bequem die für das 17. Jahrhundert so entscheidende rhetorische Kategorie des ,decorum' oder der ,bienséance' exemplarisch durchexerzieren und mit all ihren psychologischen Implikationen ausformulieren; 25 zum dritten schließlich steht diese Textgruppe im Schnittpunkt der Interessen, welche die konkurrierenden Konfessionen an den Zentren der Macht anmelden. So selbstverständlich letztere Feststellung auch erscheinen mag, so entscheidend bleibt es, die von den Kirchen verfemten Lehren im Kopf zu behalten, um die schwierigen Gratwanderungen zwischen der Technik öffentlichen Reüssierens und der moralischen Rechtfertigung vor dem Gewissen nachzuvollziehen. Gracián in diesem engeren Bereich Praktischer Philosophie zu verorten, ist nicht leicht. Dies hat hauptsächlich mit seiner berüchtigten Dunkelheit zu tun, dem Hang zu paradoxen, j a sich widersprechenden Formulierungen, die seine Leser im Ausland zu tadeln nicht unterlassen. 26 Diese stilistische Vorliebe entspricht wohl 24

25

26

Gracián verwendet den Begriff „Experiment" explizit: „Adquiérese aquella ciencia experimental, tan estimada de los sabios, especialmente cuando el que registra atiende y sabe reparar, examinándolo todo o con admiración o con desengaño" [Jene experimentelle Wissenschaft soll erlangt werden, die von den Weisen so geschätzt wird, vor allem wenn derjenige, der sich die Dinge merkt, aufmerksam hinsieht und auszubessern versteht, indem er alles entweder mit Staunen oder ,Ent-Täuschung' untersucht], in: El discreto, XXV, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 144; zur Bedeutung des Experiments und seiner Interiorisierung bei Gracián vgl. Blüher, Karl Alfred, ,Mirar por dentro'. El análisis introspectivo del hombre en Gracián, in: El mundo de Gracián, (wie Anm. 2), S. 203-217, vor allem S. 204f. Zu diesem Aspekt in seiner Bedeutung fur Thomasius vgl. Bamard, Frederick M., Rightful Decorum and Rational Accountability. A Forgotten Theory of Civil Life, in: Schneiders, Werner (Hg.), Christian Thomasius. 1655-1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989, S. 187-198; Beetz, Manfred, Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite. Thomasius in der Geschichte der Gesellschaftsethik, in: ebd., S. 199-222; Scattola, Merio, ,Prudentia se ipsum et statum suum conservando. Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit, in: Christian Thomasius (1655-1728), (wie Anm. 3), S. 333-363; Braungart, Georg, Sprache und Verhalten. Zur Affektenlehre von Christian Thomasius, in: ebd., S. 365-375. Die Kritik, die Thomasius an den Widersprüchen in Graciáns Hofkunst anbringt (siehe Anm. 18), geht auf Bouhours' Aburteilung seines spanischen Ordensbruders zurück. Das Urteil eines so renommierten Autors war der Gelehrtenwelt und nachweislich auch Thomasius bekannt, der ja Bouhours gleichsam als Hauptzeugen höchster französischer Ansprüche in Sachen Geschmack in seinem Teutschen Programm wiederholt herbeizitiert (Welcher Gestalt

Substanz und Nichts

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weniger einer typisch spanischen Veranlagung, wie Thomasius vermutet, 27 als vielmehr einem ausgeprägt elitären Bewußtsein, das sich einzig einem kleinen auserwählten Kreis eröffnet. In dieser esoterischen Geste läßt sich wohl auch ein Element ausmachen, von dem aus die Einheit von Graciáns Œuvre wiederhergestellt werden kann. Um die Einheit der Wertvorstellungen bezüglich des praktischen Handelns, das mit Ausnahme von El Comulgatorio, einer Anleitung zur heiligen Kommunion, und dem rhetorischen Traktat Agudeza y arte de ingenio im Zentrum aller Werke Graciáns steht, scheint es bei Gracián nämlich schlecht bestellt. In seinem Hauptwerk, dem Criticón, wendet sich der jesuitische Weltmann offensichtlich von seinen früheren Werken der Hofkunst ab, um nun gleichsam jenseits von Konvenienz und Ehrgeiz eine Wahrheit zu suchen, die sich den ethischen Kategorien der höfischen Literatur, dem ,decorum' und ,honestum', entziehen. Die Klugheit wird zur Spiegelfechterei, die einer echten Weisheit zu weichen habe. Die esoterische Geste, der wir im Ausdruck ,Orakel' ebenso wie in dem intrikaten sprachlichen Duktus begegnen, erhält im Criticón ihr Publikum zubenannt: Es sind dies die ,eigentlichen' Menschen im emphatischen Sinn, die wenigen Auserwählten, die den Namen ,Person' verdienen. Ihnen bleibt echtes Wissen um die Substanz der Dinge vorbehalten. Nur sie können die tiefere Bedeutung der Maximen und Allegorien verstehen, welche die Erscheinungen hienieden mit der Weisheit da oben verbinden. Die ,prudentia' weicht der ,sapientia' und der Standpunkt des Beraters oder aktiven Hofmannes demjenigen des distanzierten oder um Distanz bemühten Beschauers, der dem Menschen keinen weiteren Rat zu geben weiß, als eben diese Distanz zu seiner eigenen zu machen. Mit bitterem Spott und dunkler Anspielung gegen das von einem Castiglione etwa exemplarisch vertretene Renaissance-Ideal eines Hofmannes 28 verwirft Gracián denn auch die ,höflich-höfischen' Ratschläge und die ihnen zugrundeliegende optimistische Anthropologie. In einem Buchladen treffen die Protagonisten des Criticón, Critilo, die personifizierte Urteilsfähigkeit, und Andremo, sein ,menschlich-leiblicher' Begleiter, auf den Cortesano, der, durch die werbenden Worte des Buchhändlers gereizt, in eine risada decompuesta [ein verzerrtes Lachen] ausbricht. Lachen wie Worte gelten dem Werk El Galateo Cortesano - dem Titel nach eine Kontamination des Galateo Giovanni della Casas mit Castigliones II Libro del

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man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle?, [wie Anm. 11], S. 10-15); eine gute Darstellung der Kritik Bouhours' an Gracián bei Forssmann, (wie Anm. 2), S. 140-144. Thomasius, Kurtzer, Entwurf/, (wie Anm. 14), ΠΙ, § 36, S. 65: „Nehmlich des Gratians Homme de Cour. Dieses Buch, wie es an sich selbst sehr tiefsinnig und unverständlich geschrieben, als recommendiret es auch zu mehreren malen als eine politische Regel, daß man die Dunckelheit affectiren solle. Aber das mag vielleicht bei den Spaniern gelten." Vgl. hierzu Vasoli, Cesare, La cultura delle corti. Bologna 1980, S. 64-87.

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Cortigiano29 - , dem der Cortesano gleichsam in eigener Sache mit verheerender Kritik begegnet: Este libro [...] aún valdría algo si se platicasse todo al revés de lo que enseña. En aquel buen tiempo, cuando los hombres lo eran, digo buenos hombres, fueran admirables estas reglas; pero ahora, en los tiempos que alcanzamos, no valen cosa. Todas las liciones que aquí encarga eran del tiempo de las ballestas, mas ahora, que es el de las gafas, creedme que no aprovechan. [...] dice, pues, que el discreto cortesano, cuando esté hablando con alguno, no le mire al rostro y mucho menos de hito en hito como si viese misterios en los ojos. Mirad qué buena regla ésta para estos tiempos, cuando no están ya las lenguas assidas al corazón! Pues ¿dónde le ha de mirar?, ¿Al pecho? Eso fuera, si tuviera en él la ventanilla que deseava Momo. Si aun mirándole a la cara que hace, al semblante que muda, no puede el más atento sacar traslado del interior, ¿qué sería si no le mirase? Mírele y remírele, y de hito en hito, y aun plegue a Dios que dé en el hito de la intención y crea que ve misterios; léale el alma en el semblante, note si muda colores, si arquea las cejas: brujuléele el corazón. 30 (Dieses Buch [...] wäre vielleicht etwas wert, wenn alles, was es lehrt, umgekehrt ausgeführt würde. In jener guten Zeit, als die Menschen es waren, will sagen gute Menschen, mögen diese Regeln bewundernswert gewesen sein [...] es sagt also, daß der kluge [discreto] Hofmann, wenn er mit jemandem spricht, diesem nicht ins Gesicht zu schauen habe, und schon gar nicht, daß er ihn recht eigentlich ins Visier nehme, als ob er Geheimnisse in dessen Augen suche. Siehe da, was für eine gute Regel für unsere Zeiten, in denen die Zungen nicht mehi» am Herz befestigt sind! Wohin soll er denn schauen? Auf die Brust? Dies stünde an, wenn er ein Fensterlein hätte, wie es sich Momo wünschte. Denn wenn der Aufmerksamste nicht fähig ist eine Übertragung aus dem Inneren vorzunehmen, indem er ihm ins Gesicht schaut, in das sich verändernde Antlitz, was wäre, wenn er es nicht anschaute? Schau ihn an und schau ihn noch mal an, nimm ihn ins Visier und es möge Gott gefallen, daß du ins Schwarze seiner Absicht triffst und glaubst Geheimnisse zu entdecken; lies seine Seele in seinem Gesicht, halte fest, ob er sich verfärbt, ob er die Brauen wölbt: Sondiere sein Herz.)

Damit wird ein Epochenbruch inszeniert zwischen einer Zeit, in der ein Castiglione und ein della Casa als verbindlich und modellhaft gelten konnten, und einer neuen Zeit, derjenigen einer verkehrten und opaken Welt. Anstelle des an die spezifische Situation norditalienischer Höfe angepaßten humanistischciceronianischen Bildungsideals treten, salopp ausgedrückt, machiavellistische 29

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Vgl. Romera-Navarros Stellenkommentar, in: Gracián, Baltasar, El Criticón. 3 Bde. Hg. von Miguel Romera-Navarro. Bd. 1. Philadelphia 1938, S. 333, worin ihm auch Alonso (Gracián, Baltasar, El Criticón. Hg. von Santos Alonso. Madrid 6 1996, S. 236) folgt. Die Ratschläge jedoch, die Gracián hier erwähnt und dem Galateo Cortesano zuspricht, finden sich bei della Casa (so etwa della Casa, Giovanni, Galateo. Hg. von Stefano Prandi. Turin 1994, S. 11) wie auch in der spanischen Adaptation des Galateo durch Lucas Gracián Dantisco (Galateo Español. Hg. von Margherita Morreale. Madrid 1968, S. 107), bei Castiglione jedoch nirgends. Auch Del Hoyo vermerkt in seiner Ausgabe (Oc, [wie Anm. 21], S. 627) nur die Galateus-Tradition als Vorlage, was inhaltlich denn auch zutreffend sein dürfte, da Castiglione hier tatsächlich keine Rolle zu spielen scheint. Im allgemeinen können die vielen und interessanten Befunde von Manfred Hinz [Castiglione und Gracián. Bemerkungen zur Strategie höfischer Sprache, in: El mundo de Gracián, (wie Anm. 2), S. 127-148] nicht nur auf Castiglione, sondern im gleichen und vielleicht sogar höheren Maße auch auf della Casa angewandt werden; Peter Werle (El Héroe. Zur Ethik des Baltasar Gracián. Tübingen 1992, S. 118-131) sieht seinerseits in Graciáns ,despejo' u. a. eine Fortführung von Castigliones Konzept der ,grazia', was in dieser Allgemeinheit nicht ganz zu überzeugen vermag. El Criticón, I, XI, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 628.

Substanz und Nichts

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Rechnereien, wie sie zwar in der berühmten Strategie der „sprezzatura" Castigliones dem moralischen Rigoristen aufgrund einer anempfohlenen Verstellung mittönen mochten, in Graciáns eigener „razón del estado de si mismo", der ,Eigen-Staatsräson', jedoch zu einem konstitutiven Element nicht so sehr der Eleganz als des eigentlichen Überlebens werden. Denn wo wir beim italienischen Kriegsmann und Diplomaten das Ideal eines geselligen und redegewandten Höflings finden, dem sich Männer und Frauen des Hofs durch anhaltende Konversation nähern, zeichnet der spanische Jesuit ein Modell menschlicher Entwicklung, das in permanentem Kampf und in selbstbewußt elitärer Vereinzelung gegen die Akteure und Machinationen des Hofes und in der konstanten Bemühung des ,desengaño', 31 der ,Ent-Täuschung', die eigentliche erhaltende und bildende Aufgabe erblickt. Der cortesano, der discreto, der héroe, der político sind Kämpfer, oder, um die schöne Formulierung Graciáns aus dem Oráculo zu wählen: „Milicia es la vida del hombre contra la malicia del hombre" [das Leben des Menschen ist ein Kampf gegen die Boshaftigkeit des Menschen]. 32 In diesem Paradox liegt die Eigentümlichkeit der Graciánschen Moralistik, die in einer komplizierten Reflexivität 33 gründet und die eigentümliche Ambiguität der ,prudentia' als einer ,ars conservationis sui ipsius' ausmacht. Die Technik der egoistischen Selbstbehauptung ist dieselbe wie diejenige der legitimen Selbsterhaltung; wer sich nicht betrügen lassen will, muß im Trug erfahren sein. Zwischen Gut und Böse kann nur entschieden werden, wenn sich diese ,Politik' mit einer Moral versieht. Diese Moral nun geht über die ,prudentia' hinaus und verweist in das Reich der ,sapientia'. Die Absichten und Taten, ja die Menschen selber, werden bald als Objekte, bald als Subjekte betrachtet. Als Objekte sind sie nicht etwa rein pathologisch und vom Affekt gesteuert, sondern ebenso einer relativen, ,graduellen' Willensfreiheit fähig, deren Entscheidungen jedoch nicht von einer gottgewollten absoluten Vernunft bestimmt

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32

33

Zur Bedeutung des ,desengaño' im spanischen Barock vgl. Schulte, Hansgerd, El Desengaño. Wort und Thema in der spanischen Literatur des Goldenen Zeitalters. München 1969 (Freiburger Schriften zur romanischen Philologie. Bd. 17). Oráculo manual, 13, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 154. Eine Formulierung, die an Erasmus' Enchiridion antönt und somit von eminenter Bedeutung für die ,PhiIosophia Christiana' ist: Erasmus von Rotterdam, Werke. 8 Bde. Übers, und hg. von Werner Welzig. Darmstadt 2 1990, hier Bd. 1: Enchiridion militis christiani, S. 56: „Principio etiam atque etiam memineris oportet nil aliud esse vitam mortalium nisi perpetuam quandam militiam, teste lob [...]" [Vor allem sollst du dir stets vor Augen halten, daß das Leben der Menschen nichts anderes ist als ein fortwährender Kampf, wie Job [...] es bezeugt.] Zum Einfluß des Erasmus auf die spanische Kultur vgl. Bataillon, Marcel, Érasme et l'Espagne. Recherches sur l'histoire spirituelle du XVIe siècle. Genf 1998 [Reprint der Ausgabe Genf 1937], vor allem S. 229-231 und 814f., sowie ders.: Erasmo y el Erasmismo. Barcelona 1978, S. 203-244; zu ,prudentia' und Rhetorik bei Gracián und Erasmus vgl. Egido (wie Anm. 5), S. 28—47. So heißt der Titel der entsprechenden 13. Maxime: „Obrar de intención, ya segunda, y ya primera" [Der Absicht nach handeln, sei sie bald die zweite und bald die erste], nach Oc, (wie Anm. 21), S. 154.

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werden, sondern unter der Herrschaft des B ö s e n stehen. A l s Subjekte hingegen sind sie im eigentlichen Sinne vernünftig und ihre Entscheidungen Resultat kluger und unabhängiger Analyse. 3 4 D i e s e kluge Analyse setzt s o w o h l die Kenntnis der affektiven Veranlagung des Gegenübers voraus 3 5 als auch dessen eigene kluge, d.h. bei Gracián intellektible Entscheidungen. Mit ausgeklügelter moralischer Dialektik gilt es also, auf einer j e w e i l s höheren Stufe die Absichten der anderen zu durchschauen und durch die Wiedereinbeziehung ihres vorherrschenden A f f e k t s zu durchkreuzen. Der Unterschied zur Cortegiano

/ Homme

de cowr-Literatur in der N a c h f o l g e

und Art Castigliones ist ein fundamentaler. A u c h w e n n einige, und m.E. eher w e nige Topoi und Exempla zu e i n e m Teil d e m Cortegiano

entnommen sind, s o ver-

dankt Graciáns Psychologie j e d o c h w e i t mehr d e m konfliktreichen Verhältnis zu Machiavelli, d e m im Criticón

eine Diatribe besonderer Art g e w i d m e t ist:

Este es un falso político llamado el Maquiavelo, que quiere dar a beber sus falsos aforismos a los ignorantes. ¿No ves cómo ellos se los tragan, pareciéndoles muy plausibles y verdaderos?, Y bien examinados, no son otro que una confitada inmundicia de vicios y de pecados: razones, no de Estado, sino de establo. Parece que tiene candidez en sus labios, pureza en su lengua, y arroja fuego infernal, que abrasa las costumbres y quema las repúblicas. Aquéllas, que parecen cintas de seda son las políticas leyes con que ata las manos a la virtud y las suelta al vicio. [...] Créeme que aquí todo es engaño [...]. 36 (Dieser [gemeint ist ein öffentlicher Redner, Ε. Α.] ist ein falscher Politicus, Machiavelli genannt, der den Unwissenden seine falschen Aphorismen zum Trank reichen möchte, siehst du nicht, wie sie diese runter schlucken, da sie ihnen sehr plausibel und wahrhaftig vorkommen?, und richtig betrachtet sind sie nichts als ein überzuckerter Unflat an Lastern und Sünden: nicht Staatsräson, sondern Stallräson; er scheint Unschuld auf seinen Lippen zu haben, Reinheit auf seiner Zunge, doch wirft er aus seinem Rachen Höllenfeuer, das die Gebräuche in Brand steckt und das Gemeinwesen in Asche legt. Die angeblichen Seidenfaden sind politische Gesetze, womit er die Hände der Tugend bindet und sie dem Laster überantwortet. [...] Glaub mir, hier ist alles Trug [...].) Hinter der Blendung steht das Nichts, hinter d e m N i c h t s ist Niemand. Christian Weise, 3 7 ein scharfer Beobachter verkehrter Welten, paraphrasiert und variiert dieses ,barocke' Motiv 3 8 im Prolog Nemini

seiner K o m ö d i e Bäurischer

Machia-

vellus in einer förmlichen Kadenz paradoxer Niemandssubjekte:

34

35

36 37

38

Vgl. zur 13. auch die 215. Maxime: „Attención al que liege de segunda intención" [Achtgegeben auf denjenigen, der in zweiter Absicht kommt], nach Oc, (wie Anm. 21), S. 208. Vgl. die 26. Maxime (Oc, [wie Anm. 21], S. 158), die nach Forssmann, (wie Anm. 2), S. 162168, fiir die deutsche Rezeption Graciáns von besonderer Bedeutung gewesen sei. El Criticón, I, vu, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 583f. Womit hier keineswegs eine Abhängigkeit Weises von Gracián behauptet werden soll. Der Niemand ist weder des einen noch des anderen Erfindung, hat aber bezeichnenderweise im 17. Jahrhundert Konjunktur. Von einer Beeinflussung Weises durch Gracián kann - entgegen einer bestimmten Forschungstradition - nicht die Rede sein, wie Forssmann (wie Anm. 2), S. 66-113, klar aufgezeigt hat. Hannes Fricke (,Niemand wird lesen, was ich schreibe '. Über den Niemand in der Literatur. Göttingen 1998, vor allem S. 103-138) hat die verschiedenen Verwendungen und Facetten der

Substanz

und

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Nichts Wer da? Herr Niemand hat den Fuchspelz angezogen [...] Ach Niemand habe Danck vor sein Politisch Wesen / Wodurch er offtermahls die blöde Welt verführt; Ach Niemand werde nun vor solche Kunst geziert; Ach Niemand wolle Sich in diesem Spiele lesen. 39

Aber der Teufel hat einen N a m e n , der N i e m a n d ist Machiavelli. D a s Nichts, d e m dieser N i e m a n d vorsteht, ist die verkehrte Welt, d.h. eine Welt, deren Ordnung absurd ist, eine Welt, die nicht sein kann, w e i l sie unmöglich ist. 40 Francisco Suárez, der w o h l bedeutendste und einflußreichste jesuitische Denker, verhilft d e m N i c h t s zu einer bedeutenden metaphysischen Würde, indem er in seinen tiones

metaphysicae

Disputa-

die Frage nach d e m Sein - und seinem erkenntnistheoreti-

schen Korrelat, d e m Nicht-Sein - der Erkenntnis Gottes ,vorordnet'. 4 1 Das Unm ö g l i c h e als das schlichtweg Nicht-Seiende ist mit d e m B ö s e n identisch, da dieses die N e g a t i o n des eigentlichen, wesenhaften Seins ist. D a s Sein wiederum ist gut, da eigentlich nur ist, w a s seiner eigenen Natur und der Ordnung der D i n g e entspricht, und diese Entsprechung impliziert ihrerseits Vollkommenheit. 4 2

Unter

theologischem Gesichtspunkt widersetzt sich das N i c h t s der Weisheit und Liebe Gottes, da dieser vernünftigerweise nur dasjenige bewirkt, w a s tatsächlich möglich

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Niemands-Figur aufgezeigt, wobei er jedoch hauptsächlich , innerliterarisch' vorgeht; Weise findet eine knappe und so nicht nachvollziehbare Erwähnung als ,Nachläufer' Moscheroschs, Gracián wird, soweit ich erkennen kann, nicht genannt. Eine solche Beschränkung überrascht dann etwa, wenn Moscheroschs Verwendung der Niemands-Figur ohne Verweis auf Quevedo (jedoch in angeblicher Abhängigkeit von Brant, Murner, Fischart: S. 106) abgehandelt wird; die ganze antimachiavellistische Tradition wird hier außer Acht gelassen. Weise, Christian, Bäurischer Machiavellus [1679]. Hg. von Werner Schubert. Berlin 1966, S. 7f. Zum Topos der verkehrten Welt bei Gracián vgl. Hartmann, Susanne, Baltasar Gracián. Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Concepto und Weltanschauung. Hamburg 1986, S. 160193. Am ausdrücklichsten wohl Suárez, Francisco, Disputationes metaphysicae, XXVIII, 3, 11. Hildesheim 1965 [Reprint der Ausgabe Paris 1866], Bd. 2, S. 46 (daß kein analoges Verhältnis zwischen Gott und Geschöpfen bestehe, da das Sein absolut sei und bloß zum Nichts in einem Verhältnis, nämlich dem der Opposition, stehe); hierzu ausfuhrlich: Courtine, Jean-François, Suarez et le système de la métaphysique. Paris 1990, S. 246-292, vor allem S. 268-271 und S. 274-280. Trotz konstanter Berufung auf den Aquinaten trifft Suarez hiermit eines der zentralen Theoreme des Thomismus, die Seins-Analogie. Zum Analogieverständnis von Thomas sei der Kürze halber verwiesen auf die hervorragende Darstellung bei Alain de Libera: Le problème de l'être chez Maître Eckhart. Logique et métaphysique de l'analogie, in: Cahiers de la revue de théologie et de philosophie 4 (1980), S. 3f.; eine ausgesprochen klare Bestimmung seines Verständnisses von „univok / äquivok" liefert Suárez (wie Anm. 41) selbst (in XVII, 2, 21, Bd. I, S. 591 f.). So die knapp zusammengefaßte Definition des Guten qua ,convenentia' bei Suárez, welche wiederum die (extensionale) Identität der Begriffe „Sein", „Gut" und „Vollkommenheit" begründet; vgl. Suárez, (wie Anm. 41) in X, 1, 12 u. 15, Bd. I, S. 332f.; dazu auch Gracia, Jorge J. E., und Davis, Douglas, The Metaphysics of Good and Evil According to Suárez. Metaphysical Disputations X and XI and Selected Passages from Disputation ΧΧΙΠ and other Works. München 1989, S. 2 6 ^ 4 .

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Eric

Achermann

und gut ist. Der eigentliche Sündenfall ins Reich des Nichts besteht folglich in der Leugnung des Seins und insofern auch Gottes; Verstellung und Atheismus sind monströs. Eine Klugheitslehre aber, die auf einen transzendenten Bezugspunkt, eine transzendente Moral verzichtet, setzt sich ein immanentes Ziel zum Zweck und kann somit einzig der Staatsräson oder dem Egoismus, nicht aber der Wahrheit und Gott dienen. Dieses Abschiednehmen von einer weiterreichenden Finalität der eigenen Handlung ist nun genau dasjenige, was Machiavelli, dem falschen ,Politicus', vorgeworfen wird. 43 Es sind nicht zuletzt die Jesuiten, die gegen eine solche weltliche Selbstbehauptung antreten. 44 Und es scheint, als täten sie dies mit um so mehr Vehemenz, als sie an diesem Prozeß der Verbannung der Finalität aus den moralischen Erwägungen nicht unbeteiligt sind. 45 Die eigene moralische Legitimität und Probität steht also auf dem Spiel, sollte das Unterfangen einer Verbindung kirchlicher Anliegen und moderner Machttechniken nicht am Vorwurf des Machiavellismus und Atheismus scheitern. Suárez' Bestimmung des Bösen als die Abwesenheit von Substanz fuhrt zu dem Paradox, das Gracián in seinem 13. Aphorismus zum Ausdruck bringt: Das menschliche Leben sei ein Kampf um den ,Erhalt' der Menschlichkeit. Die menschliche Natur kommt somit im Gegensatz zur Natur ,tout court' dem Menschen nicht einfach zu, sondern wird durch das widernatürliche Böse angefochten. Mensch-Sein heißt mitunter Kampf gegen die Entleerung der eigenen Substanz, gegen das Nichts, das - in Graciáns Augen - die Welt inzwischen auf unerhörte Weise ordnet und regiert. Mensch-Sein heißt aber gleichzeitig auch über die Möglichkeit verfügen, dem Unmöglichen zu einem lügenhaften Sein zu verhelfen, Monster zu gebären, das Böse zu tun. Die menschliche Freiheit besteht seit dem Sündenfall darin, gegen die Natur und gegen Gott verstoßen zu können. Dahingehend äußert sich der weise Cheiron, der wahrsagende Zentaur und Erzieher des Asclepius, im Criticón·.

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Bezeichnenderweise betont Gentillet gleich zu Beginn seiner Discours Antimachiavelliques für eine gesunde Politik die Notwendigkeit einer gleichzeitigen Berücksichtigung der Ursachen und Wirkungen, der Mittel und Zwecke sowie der Umstände: Gentillet, Innocent, Discours sur les moyens de bien gouverner et maintenir en bonne paix un Royaume ou autre Principauté. Contre Nicolas Machiavel Florentin. Paris 1576. Hg. von C. Edward Rathé. Genf 1968, S. 29-31. Vgl. hierzu Sierra, Luis, La moral política. El antimaquiavelismo en Suárez y Gracián, in: Arbor. Revista general de investigación y cultura, Bd. XLVIII/183 (März 1961), S. 281-301, hier S. 291. Am eindrücklichsten äußert Suárez die direkte kausale und finale Abhängigkeit des praktischen Handelns der Menschen von Gott im Proemium seines Tractatus de legibus ac deo legislatore in decern libros distributus. Oxford 1944 [Reprint der Ausgabe Coimbra 1612], Besondere Beachtung verdient auch Ribadeneyra, Pedro de, Tratado de la religión y virtudes que debe tener el Príncipe cristiano, in: Obras escogidas. Hg. von Vicente de la Fuente. Madrid 1927, S. 4 4 9 - 5 8 7 (zu Ribadeneyra vgl. weiter unten, Anm. 66). So Borkenau, Franz, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode. Darmstadt 1971 [Reprint der Ausgabe Paris 1934], S. 231.

Substanz

und

Nichts

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Pero ¿qué cosa va bien en el mundo? Aquí veréis placticado aquel célebre imposible, tan disputado de los filósofos, conviniendo todos en que no se puede dar vacío en la naturaleza: he aquí que, en la humana, esta gran monstruosidad cada día sucede. 46 (Aber was geht denn, wie es sollte, in dieser Welt? Hier werdet ihr dieses berühmte Unmögliche ausgeführt sehen, welches von den Philosophen so breit erörtert worden ist, die alle darin übereinstimmen, daß keine Leere in der Natur angenommen werden kann; und seht, wie in der menschlichen diese große Monstrosität jeden Tag geschieht.) D i e Anthropologie Graciáns wird durch ein Wort gekennzeichnet, das im

Criticón

besonders häufig und mit besonderem Nachdruck erscheint: „substancial". Gracián wählt dieses Prädikat stets dann, w e n n er Personen oder M e n s c h e n ein eigentliches Sein zu- bzw. abspricht. 47 D i e s e Eigentlichkeit steht in Opposition z u m bloßen Schein (parecer), 48 der etwa „figuras y figurillas" zukommt. 4 9 In Sein und Wahrhaftigkeit 5 0 begegnen wir korrelierten Prinzipien seines Tugendideals. Der M e n s c h besitzt j e d o c h dieses wesentliche Sein, w i e gezeigt, nicht unangefochten, sondern aufgrund einer ununterbrochenen Tätigkeit v o n Bildung und Erhalt. D a s Prädikat „substancial" tritt denn auch v o r z u g s w e i s e in Zusammenhängen auf, die den Verlust an Eigentlichkeit konstatieren. D i e s e n B e f u n d stellt Gracián nun wiederum s o häufig und mit solcher Deutlichkeit fest, daß der Eindruck entsteht, der ,normale' Lebensverlauf des modernen M e n s c h e n habe in erster Linie den Prozeß eben dieses Verlustes z u m Inhalt. D a s Leben ist eine Bewährung z w i s c h e n Himmel und Hölle, z w i s c h e n A l l e s und Nichts:

46 47

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El Criticón, I, vi, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 563f. Zu „persona" bei Gracián vgl. Jansen, Hellmut, Die Grundbegriffe des Baltasar Gracián. Genf 1958, S. 10-18; Hafter, Monroe Z., Gracián and Perfection. Spanish Moralists of the Seventeenth Century. Harvard 1966, S. 107-120; sehr vage und häufig unrichtig hingegen Krauss, Wemer, Graciáns Lebenslehre. Frankfurt/M. 1947, S. 108-113. Daß dem Thema der „persona" im Spanien des Siglo de oro besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde, da es die konvertierten Juden von den .eigentlichen' Christen unterscheide - ,nota bene' ein Umstand, der für die Aufnahme in den Jesuitenorden entscheidend war - , hält Americo Castro fest: Teresa la Santa, Gracián y los separatismos. Madrid 1972, S. 259f., 262f. und 288f.; der Zusammenhang zwischen Person werdung: Oráculo manual, 125 [nach Oc, (wie Anm. 21), S. 185], und diesem Umstand leuchtet jedoch nicht ein. „Toparon una tienda llena de corchos para hacer personas, y realmente, aunque se empinaban con ellos y parecían más de lo que eran, pero todo era poca substancia" [Sie gelangten in eine Bude voller Korksohlen, die dazu dienten, Personen daraufzustellen, und obgleich diese damit höher zu stehen kamen und mehr schienen, als sie waren, war doch alles von geringer Substanz.] El Criticón, I, VII, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 582.

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El Criticón,

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„¿Piensas tú que valen poco unos ojos claros, una lengua verdadera, un hombre substancial, un duque de Osuna, una persona que lo sea, un Príncipe de Condé?" [Glaubst du etwa, scharfe Augen, eine wahrhafte Zunge, ein substantieller Mensch, ein Fürst von Osuna, eine Person, die dies ist, ein Prinz von Condé, seien wenig wert?] Die merkwürdige Wortstellung läßt sich wohl durch die Kette von Assonanzen, ausgehend von „s u b stancial" über „Os una", „u η a pers ο η a ", „lo sea" erklären. Ebd., VII, S. 580.

ebd., VIII, S. 587.

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Eric Achermann En el cielo todo es contento, en el Infierno todo es pesar, en el mundo, como en medio, uno y otro; estamos entre dos extremos, y así se participa de entrambos. Altérnanse las suertes: ni todo ha de ser felicidad, ni todo adversidad. Este mundo es un cero: a solas, vale nada; juntándolo con el Cielo, mucho. 51 (Im Himmel ist alles Zufriedenheit, in der Hölle alles Last; in der Welt als deren Mitte das eine wie das andere, und solcherart nimmt man Teil an beiden. Die Glücksumstände wechseln sich ab; weder muß alles Glückseligkeit sein, noch alles Not. Diese Welt ist eine Null: fur sich genommen ist sie nichts wert; mit dem Himmel vereint aber viel.)

Die radikale Abwertung des Welthaften in der Ignatianischen Spiritualität bei gleichzeitiger genauer Analyse menschlicher Sündhaftigkeit in anschaulicher Erfahrung, 52 die der eigenen Läuterung und der Hinwendung zu Gott vorausgeht und diese bedingt, lieferte ansatzweise bereits das Problem, dem sich die kommenden jesuitischen Denker stellen: Welche Vermittlung besteht zwischen Nichts und Sein, zwischen Sünde und Heil? Molina scheint es zu sein, der mit seiner Antwort die Debatte weit über die Ordensschulen hinaus auf lange Zeit prägen wird. Durch die Abkoppelung „des diesseitig Guten und des himmlischen Heils" 53 wird er, wie Franz Borkenau überzeugend dargelegt hat, die Verantwortung des Menschen für seine Taten auf einen menschlichen Entscheidungsspielraum einschränken, was zwar kein Recht auf göttliche Gnade bedeute, jedoch seinen jeweiligen intellektuellen und moralischen Fähigkeiten entspreche. Diese Redimensionierung der moralischen Ansprüche wird zu einem Signum des Jesuitismus und begründet, wie wir sehen werden, sein Interesse für den Prudentismus. Den treffendsten Ausdruck dieser neuen Moraltheologie finden wir in jener Sündenlehre, die unter der Bezeichnung ,Probabilismus' in die Geschichte der katholischen Dogmatik eingegangen ist. Sie liefert den Gegenstand einer der weitreichendsten und verhängnisvollsten Auseinandersetzungen, welche die post-tridentinische Kirche erfahren hat. Im Streit zwischen Jesuiten und Jansenisten geht es ja nur zu einem Teil um Freiheit und Gnade und ihre provokative Korrelierung im Molinismus. Zum anderen Teil (und relativ dazu) geht es jedoch um die moralische Beurteilung unserer Taten, um die Gewichtung des Gewissens und die darauf bezogene Funktion der Kirche. Was der Jesuitismus spanischer Provenienz und 51 52

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Oráculo manual, 211, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 207. So etwa in den Exerzitien (Erste Woche, erste Übung, erste Präambel): „En lo invisible, como es aquí de los pecados, la composición será ver con la vista imaginativa y considerar mi ánima ser encarcerada en este cuerpo corrupto y todo el compósito en este valle, como desterrado entre brutos animales; digo todo el compósito de ánima y cuerpo" [Hinsichtlich des Unsichtbaren, wie es hier die Sünden sind, wird die Vorstellung darin bestehen, mit dem Blick der Einbildungskraft zu sehen und zu erwägen: meine Seele, eingekerkert in diesem vergänglichen Körper, und die Zusammensetzung beider, gleichsam verbannt in diesem Tale unter unvernünftigen Tieren; ich meine die Zusammensetzung von Seele und Leib.] Loyola, San Ignacio de, Obras completas. Hg. von Ignacio Iparraguirre und Cándido de Dalmases. Madrid 1952, S. 169. Borkenau, (wie Anm. 45), S. 215.

Substanz und Nichts

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französischer Applikation leistet, ist in der Tat unerhört, oder, um Pascals wunderbare Eröffnung seiner vierten Provinciale zu zitieren: „II n'est rien tel que les Jésuites!"54 Es ist die Begründung und Einführung rhetorischer Kategorien in die Moraltheologie. Der objektivistische Gesetzesbegriff der thomistischen Theologie weicht dem rhetorischen Begriff der Wahrscheinlichkeit.55 Diese Wahrscheinlichkeit ist nicht so sehr, wie Borkenau meint,56 ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsbegriff, sondern vielmehr ein rhetorisch-sozialer, der auf der ,opinio' gründet.57 Die ältere Kasuistik sah vor, im Zweifelsfalle die moralisch unbedenklichere Tat zu wählen, das heißt möglichst den eigenen Zweifel zu vermeiden. An die Stelle dieser ,tutioristischen' Forderung tritt die These der prinzipiellen moralischen Gleichwertigkeit zweier konventionell akzeptierter Handlungen, womit ein neuer, rhetorisch-probabilistischer Maßstab gegen die vormalige objektivistische und rigorosere Regel gehalten wird: nempe viro docto licitum esse contra suam opinionem quam probabiliorem arbitratur operari secundum opinionem aliorum, etsi opinio aliorum sit minus tuta et suo judicio minus probabilis, dum tarnen ratione et probabilitate destituía non sit. 58 (daß es einem geschulten Mann nämlich erlaubt sei, gegen seine eigene Meinung, die er für wahrscheinlicher hält, gemäß der Meinung anderer zu handeln, auch wenn diese Meinung der anderen weniger sicher und seinem Urteil nach weniger wahrscheinlich ist, solange diese dennoch nicht eines Grundes und der Wahrscheinlichkeit entbehrt.)

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Pascal, Blaise, Œuvres complètes. Hg. von Jacques Chevalier. Paris 1954, S. 692. Trotz mannigfacher Unterschiede in der Gewichtung der Vorgeschichte des Probabilismus sind Jean Delumeau (L'aveu et le pardon. Les difficultés de la confession XlIIe-XVIIIe siècle. Paris 1990, S. 125f.) und Th. Deman (Art. Probabilisme, in: Dictionnaire de théologie catholique. Bd. 13. Paris 1936, Sp. 417-619, hier Sp. 436f.) in puncto des objektivistischen Gesetzesbegriffs hinsichtlich der hochscholastischen Moraltheologie insbesondere Thomas von Aquins einig. Zu Suárez' Rolle im naturrechtlichen Wechselspiel zwischen voluntaristischer und objektivistischer Begründung vgl. Ilting, Karl-Heinz, Naturrecht und Sittlichkeit. Sprache und Geschichte. Stuttgart 1983, S. 67f. Borkenau, (wie Anm. 45), S. 233f. Wie auch die in diesem Zusammenhang häufig auftretende synonyme Verwendung von „probabel" und „plausibel" belegt. Zum Probabilismus in seiner ausgeprägten Form vgl. die Ausführungen zu Bartolomeo de Medina in Deman, (wie Anm. 55), Sp. 463^169. Vasquez, Gabriel, Commentarla ac disputationes in pm-¡pm Sum. Th. Aq. Venedig 1608, S. 353; zit. nach Deman, (wie Anm. 55), Sp. 470. Vasquez bezieht sich hier auf Medina: „Veram tarnen igitur existimo sententiam quam sequitur Barth. Medina in art. 6 hujus quaest., jamque in scholi et multo ante communis fuit [...]" (Ich erachte jedoch die Meinung für richtig, welcher Bartolomeo Medina bei der Behandlung dieser Frage in Artikel 6 folgt und die bereits in der Scholastik und auch schon viel früher verbreitet war [...]) Trotz dieses Verweises auf die Tradition handelt es sich in dieser Form, gemäß Deman, um eine gänzlich neue moralische Doktrin. Es ist jedoch zweifelhaft, ob sowohl Medina als auch Vasquez hier tatsächlich den moralischen Freipaß ausstellen wollten, der ihnen und den Jesuiten, häufig in polemischer Absicht, unterstellt worden ist. Zweifellos trifft dies aber, aller katholischen Apologetik zum Trotz, auf die Entwicklung seit Suárez (einschlägige Stellen bei Vasquez, ebd., Sp. 474f.) und ihrer Radikalisierung in der jesuitischen Tradition zu; dazu auch Virt, Günter, Epikie - verantwortlicher Umgang mit Normen. Eine historisch-systematische Untersuchung zu Aristoteles, Thomas von Aquin und Franz Suarez. Mainz 1983 (Tübinger theologische Studien. Bd. 21), S. 193-233, insbesondere S. 194 sowie S. 227-233.

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Eric Achermann

Der Probabilismus ist eine exoterische, eine politische Anpassung der Moral an die menschlichen Schwächen, er ist nicht die Wahrheit selbst. Diese bleibt in der Argumentation der Jesuiten als Ziel und Aufgabe bestehen, übersteigt jedoch in den meisten Fällen die menschlichen Möglichkeiten. Deshalb kann es auch nicht als radikale Absage an die prudentistische Vertretbarkeit des Probabilismus gewertet werden, wenn Gracián im Criticón das Verhältnis von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit als dasjenige einer fundamentalen Opposition sieht: Los peores son los caricompuestos de virtud y de vicio, que abrasan el mundo (pues no hay mayor enemigo de la verdad, que la verisimilitud), [...].59 (Die Schlimmsten sind die aus Tugend und Laster Zusammengeflickten, welche die Welt in Brand setzen (denn es gibt keinen größeren Feind der Wahrheit als die Wahrscheinlichkeit), [...].)

Räumt man jedoch Wahrscheinlichkeit als den Maßstab für die Handlungen in dieser Welt ein, so kann von dieser Warte aus problemlos die klassische Bestimmung der Wahrscheinlichkeit als Gegenstand der Rhetorik bemüht und über die , decorum'-Lehre und eine subtile Technik der kasuistischen ,circumstantiae'-Argumentation ins Herz naturrechtlich-ethischer Probleme getragen werden, dorthin, wo seit Aristoteles' Darstellung des praktischen Schlußverfahrens Verstand und Wille oder Vernunft und Sinne ihre Konflikte austragen.60 Mit einem Schlag entsteht so eine klare Gegenposition zur reformatorischen oder protestantischen Willens-, Gnaden- und Sündenlehre und ein ,hoffähiges' und absolutismustaugliches Instrument politisierten Christentums. In diesem Sinne muß Graciáns 67. Maxime verstanden werden, die in unserem Zusammenhang von größtem Interesse ist: Preferir los empleos plausibles. Las más de las cosas dependen de la satisfación agena. Es la estimación para las perfecciones lo que el favonio para las flores: aliento y vida. Ai empleos

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El Criticón, ΠΙ, IV, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 880. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VII, 5, 1147a23-l 147b6: „Die eine das Handeln bestimmende Meinung ist allgemein, die andere geht auf das einzelne, das als solches der sinnlichen Wahrnehmung untersteht. Wird nun aus den beiden Meinungen durch logische Verknüpfung eine, so muß die Folgerung da, wo es sich bloß um die Erkenntnis handelt, von der Seele bejaht, dagegen im Praktischen sogleich in die Handlung übersetzt werden; es muß ζ. B., wenn man alles Süße kosten muß und dieses bestimmte einzelne Ding süß ist, der Mensch, wenn er es kann und nicht gehindert oder abgehalten wird, dieses gleichzeitig auch tun. Wenn demnach zwar die allgemeine Meinung, die das Kosten verbietet, in der Seele vorhanden ist, daneben aber eine andere, daß alles Süße angenehm und dieses bestimmte Ding süß ist - und diese singulare Meinung wirkt - , und wenn überdies die Begierde die Seele einnimmt, so heißt zwar jene erste Meinung den Genuß meiden, aber die Begierde treibt und führt zu ihm hin, da sie jeden Seelenteil zu bewegen vermag, und so geschieht es, daß man gewissermaßen durch Schuld der Vernunft und der Meinung unenthaltsam ist, einer Meinung aber, die nicht an sich, sondern mitfolgend mit der Vernunft entzweit ist; denn die Begierde, nicht die Meinung, ist mit der rechten Vernunft entzweit, weshalb die Tiere auch nicht unenthaltsam sind, weil sie keine Meinung von dem Allgemeinen haben sondern nur Vorstellungsvermögen und Gedächtnis für das einzelne." (zit. nach der Übersetzung von Eugen Rolfes, hg. von Günther Bien, Hamburg 4 1985, S. 157f.)

Substanz

und

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Nichts

expuestos a la aclamación universal, y ai otros, aunque mayores, en nada expectables; aquéllos, por obrarse a vista de todos, captan la benevolencia común; éstos, aunque tienen más de lo raro y primoroso, se quedan en el secreto de su imperceptibilidad: venerados, pero no aplaudidos. Entre los principes, los vitoriosos son los celebrados, y por esso los reyes de Aragón fueron tan plausibles por guerreros, conquistadores y magnánimos. Prefiera el varón grande los célebres empleos que todos perciban y participen todos, y a sufragios comunes quede imortaliçado.61 (Die beifallswürdigen Verrichtungen vorziehen. Die meisten Dinge hängen von fremder Zufriedenheit ab. Die Wertschätzung ist für die Vollkommenheit, was der Westwind für die Blumen: Atem und Leben. Es gibt Verrichtungen, die den Beifall aller erhalten, und andere, wenn auch bedeutendere, die in keinerlei Weise sehenswert sind; jene, da sie vor den Augen aller ausgeführt werden, gewinnen allgemeines Wohlwollen; diese, auch wenn sie seltener und vorzüglicher sind, bleiben im Geheimen und unwahrnehmbar: geehrt, jedoch des Beifalls nicht wert. Unter den Prinzen sind die siegreichen die gefeierten, und deshalb verdienten die Könige Aragoniens solchen Beifall als Krieger, Eroberer und Edelgesinnte. Es bevorzuge der große Mann die berühmten Verrichtungen, die alle wahrnehmen und an denen alle teilnehmen und er wird in allgemeiner Übereinstimmung unsterblich bleiben.) W i e s o oft, sind Ausdrücke im M o m e n t ihrer Bedeutungsänderung besonders aufschlußreich: Das hier mit ,beifallswürdig' wiedergegebene ,plausible' erhält mehr und mehr die Bedeutung von .stichhaltig' oder zumindest ,glaubhaft', ein B e d e u tungswandel, zu d e m der zitierte Aforismo

einen vielsagenden Kommentar liefert.

A u s der dargestellten Lockerung der moralischen Verpflichtung leitet Gracián eine praktische Regel ab, nämlich unter den prinzipiell legitimen (da wahrscheinlichen) Meinungen diejenige zu wählen, die den Vorzug einer breiteren Zustimmung besitzt. S o entsteht denn wiederum der Eindruck, als o b Gracián tatsächlich in derselben Argumentationslinie stehe, w e l c h e die Akzeptanz zur M a x i m e der geselligen Konversation erhebt, w i e es etwa Giovanni della Casa explizit formuliert: dèi sapere che a te convien temperare ed ordinare i tuoi modi non secondo il tuo arbitrio, ma secondo il piacer di coloro co'quali tu usi [...]. Adunque, conciosia chelle nostre maniere sieno allora dilettevoli quando noi abbiamo risguardo all'altrui e non al nostro diletto, se noi investigheremo quali sono quelle cose che dilettano generalmente il più degli uomini e quali quelle che noiano, potremo agelvomente trovare quali modi sieno da schifarsi [...] e quali siano a eleggersi.62 (Denn wisse, daß es dir gut ansteht, deine Umstände [modi] nicht nur gemäß deinem eigenen Dafürhalten, sondern gemäß der Freude derjenigen, mit denen du verkehrst zu mäßigen [...]. Im Bewußtsein, daß unser Benehmen hinsichtlich des Vergnügens anderer und nicht des unsrigen vergnüglich ist, können wir, wenn wir untersuchen, welche Dinge allgemein den meisten Menschen Vergnügen bereiten und welche Verdruß, ohne große Mühe herausfinden, welche Umstände [modi] zu vermeiden [...] und welche zu wählen sind.) Der Ratschlag, den Gracián in seiner 67. M a x i m e erteilt, steht unter B e z u g n a h m e auf den Probabilismus also nicht in einem einfachen und krassen Gegensatz zu 61

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Oráculo manual, 67, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 169f.; zu diesem Aforismo und zur Plausibilität bei Gracián vgl. Heger, Klaus, Baltasar Gracián. Estilo lingüístico y doctrina de valores. Estudio sobre la actitud literaria del Conceptismo. Zaragoza [o. J.], S. 119-126. Della Casa, (wie Anm. 29), S. 7f.

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jedweder religiösen Gesinnung, sondern folgt den Präzepten eines bereits bei Ignatius angelegten,63 hier aber wesentlich radikalisierten Dualismus zwischen einer theologischen ,sapientia' göttlicher Gnade und einer ,prudentia' der Willensfreiheit und Werke des Menschen, den Gracián in seiner 251. Maxime mit Verweis auf den Ordensgründer bedenkt: Hanse de procurar los medios humanos como si no huviesse divinos, y los divinos como si no hubiese humanos: regla de gran maestro, no hay que añadir comento. (Man soll sich um die menschlichen Mittel bemühen, als ob es keine göttlichen gäbe, und um die göttlichen, als ob es keine menschlichen gäbe: Regel eines großen Meisters, die keines Kommentars bedarf.)

Mit dieser Trennung vollzieht der Jesuitismus eine ähnliche Trennung fur den Bereich der Ethik, wie sie Grotius in der Rechtslehre mit aller Vorsicht als Hypo63

64

In seiner Privilegierung der menschlichen Freiheit gegenüber der Gnadenwirkung - und dies in expliziter Distanz zur protestantischen Häresie, wie die 17. Regel zum Schluß der Exerzitien festhält: „Assimismo no debemos hablar tan largo instando tanto en la gracia, que se engendre veneno, para quitar la libertad" [Ebenso sollen wir nicht zu ausfuhrlich und mit so viel Nachdruck von der Gnade reden, um nicht das Gift entstehen zu lassen, das die menschliche Freiheit leugnet.] Loyola, (wie Anm. 52), S. 238. Oráculo manual, 251, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 216. Die 251. Maxime ist Gegenstand einer Reihe von Untersuchungen: Eickhoff, Georg, Die ,Regia de gran maestro' des Oráculo manual im Kontext biblischer und ignatianischer Tradition, in: El mundo de Gracián. Acta del Coloquio Internacional. Berlin 1991, S. 111-126, wo sich auch ein Überblick zur Deutungsgeschichte dieser Maxime findet (S. 115); einen merkwürdigen Essay liefert Francisco Maldonado de Guevara (Lo fìctivo y lo antifictivo en el pensamiento de San Ignacio de Loyola y otros estudios. Granada 1954, S. 1-58), der eine Lektüre in der Nachfolge des deutschen Idealismus und Hans Vaihingers vorschlägt und dabei zu recht kuriosen, ja eigentlich nicht nachvollziehbaren Ergebnissen gelangt (El mundo de Gracián, ebd., S. 5 6 58), unter anderem, indem er „menschliche Mittel" mit „Arbeit", „göttliche Mittel" aber mit „Gebet" gleichsetzt und die Maxime so als eine „maximale Potenzierung" des benediktinischen ,ora et labora' liest. - Forssmann, (wie Anm. 2) S. 129, bezeichnet die Übersetzungen Amelots und Schopenhauers als absurd, wo sie „procurar" mit „se servir de" bzw. „anwenden" wiedergeben, leider ohne zu präzisieren, wie dies besser bewerkstelligt werden könnte; ebenso kritisiert er August Friedrich Müller, der in seiner Übersetzung und Kommentierung des Handorakels sowie in seiner Einleitung zu den philosophischen Wissenschaften eine absurde Lesart vorschlage, konzediert ihm jedoch, in der erwähnten Maxime eine Aussage gegen „quietistischen Determinismus" und „atheistischen Indeterminismus" erkannt zu haben (Forssmann, ebd. S. 204). Dies ist unserem Zusammenhang relevant, da es sich bei Müller um einen Schüler Andreas Rüdigers handelt, und er somit in einem recht engen Verhältnis zu Thomasius steht (zu Rüdiger, Gracián und Thomasius vgl. Forssmann, ebd., S. 195-202). Das Verständnis der Ausführungen Forssmanns wird jedoch dadurch ziemlich erschwert, daß er die Müllersche Übersetzung, soweit ich sehe, nirgends bibliographisch genau erfaßt und auch nicht klar zwischen Einleitung und Stellenkommentar zum Handorakel unterscheidet (ebd., S. 204f.). Die Müllersche Ausgabe war mir nicht zugänglich. - Wie Schings festhält, wirkt die 251. Maxime in der Übersetzung Amelots noch in Adam Bernds Lebensbeschreibung fort, und zwar mit eben dieser vermittelnden Funktion, wobei die „menschlichen Mittel" - wie schon bei Amelot - naturalistisch vor allem als „Mittel einer genauen Diät" gelesen werden, vgl. Schings, Hans-Jürgen, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 123 bzw. S. 355.

Substanz und Nichts

27

these formuliert.65 Der Zusammenhang zu den vorausgehenden Erörterungen wird um so deutlicher, wenn wir die mutmaßliche Quelle dieses Ausspruchs Loyolas bei Ribadeneyra betrachten, der den Chiasmus um die Begriffe „alles" und „nichts" herum artikuliert: Haec prima sit agendorum regula: sic Deo fide, quasi rerum successum omnis a te, nihil a deo penderei: ita tamen iis operam omnem admove, quasi tu nihil, Deus omnia sit facturus. 66 (Dies sei die erste Regel fur Handlungen: Vertraue dermaßen in Gott, als ob in Hinsicht auf den Erfolg der Geschäfte alles von dir, nichts aber von Gott abhinge: Ebenso aber wende eine jegliche Mühe auf diese, als ob du nichts, Gott aber alles täte.)

Dieses „als ob" ist nun bedeutsam, da es gleichsam für den Prudentismus die transzendenten religiösen Bezugspunkte abkoppelt und aus dem Oráculo manual tatsächlich einen Homme de cour macht. Dies wird um so deutlicher, wenn wir den Gebrauch der 67. Maxime bei Thomasius betrachten, die er an den Anfang seines Teutschen Programms setzt.67 Das heißt, um hier präzise zu sein, Thomasius tut etwas Eigenartiges: Der Text, den er als 67. Maxime auf Französisch zitiert, stammt nicht aus dem Oráculo manual, sondern aus dem Héroe und dem Discreto,6* beide Stellen finden sich bei Amelot, der im Anhang zur Maxime den Gebrauch des Wortes ,plausible' bei Gracián mit Anmerkungen aus dessen Werk und der klassischen Literatur versieht. Daß Thomasius im Kommentarteil der Ma-

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66

67

68

Es handelt sich um das berühmte etiamsi-daremus, das Grotius in die Vorrede seines juristischen Hauptwerks De jure belli ac pacis (1625) einflicht: „haec locum aliquem haberent etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana" [diese (gemeint sind die dargelegten rechtlichen und moralischen Bestimmungen, E. A.) würden auch gelten, wenn, was ohne größten Frevel zu behaupten unmöglich ist, Gott nicht existierte oder dieser sich nicht um menschliche Geschäfte kümmerte.] Grotius, Hugo, De jure Belli ac Pacis Libri Tres, in quibus Jus Naturae & Gentium, item item Juris Publici praecipua explicantur (1625). Prolegomena. Amsterdam 1646, S. V r . Ribadeneyra, Pedro de, Selectae S. Patris Nostris Ignatii sententiae. Thesaurus Spiritualis Societatis Iesu. Bilbao 1887 [ohne Seitenangabe]; zit. nach Maldonado de Guevara, (wie Anm. 64), S. 36. Weitere Quellen in den Stellenkommentaren Arturo del Hoyos [Oc, (wie Anm. 21), S. 216f.] und Romera-Navarros (wie Anm. 9), S. 484f., die jedoch andere Stellen aus Ribadeneyras Vita des Hl. Ignatius wiedergeben. Dies ist um so verwirrender, da Del Hoyo in seinem Kommentar auf Maldonado de Guevara zu sprechen kommt, dies jedoch tut, um einen angeblichen Einfluß der Maxime auf Fichte und ihre Abhängigkeit von Erasmus zu suggerieren. Als weitere Quelle könnte auch der kleine Traktat genannt werden, den Ribadeneyra als ,Regierungsanleitung' für die Ordensoberen verfaßt hat: Les príncipes de gouvernement de saint Ignace de Loyola. Traité sur la manière de gouverner de notre bienheureux Père, composé pour l'instruction des Supérieurs de la Compagnie. Brügge 1882, S. 58. Thomasius, Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? (wie Anm. 11), S. 2. Es handelt sich um El Héroe, Primor VIII (Que el Héroe prefiera los empeños plausibles), nach Oc, (wie Anm. 21), S. 19 und El Discreto, X (Hombre de buena elección; Encomio), nach Oc, S. 102.

28

Eric

Achermann

x i m e den Kern erblickt, scheint aus der klareren rhetorischen Ausrichtung des beigefugten Passus erklärlich. Er enthält unter anderem: Dans les fonctions de l'esprit, le plausible a toujours trionfé. Un discours poli & coulant chatouille les oreilles, & charme l'entendement: au contraire la seicheresse d'une expression métafisique choque ou lasse les auditeurs. [...] Il y a [...] des emplois, dont le principal éxercice consiste à choisir, & où la dépendance est plus grande, que la direction: comme sont tous ceux, qui ont pour but d'enseigner & de plaire. Que l'Orateur préféré donc les argumens les plus plausibles; que l'Historien entremêle l'utile & l'agréable ; & le Filosofe le spécieux & le sentencieux. Qu'ils s'étudient tous à rencontrer le goût universel d'autrui; qui est la vraie métode de choisir. Car il en est comme d'un festin, où les viandes ne s'aprêtent pas au goût des cuisiniers, mais à celui des conviez. Qu'importe que les choses soient fort au goût de l'Orateur, si elles ne sont pas a celui des auditeurs, pour qui elles sont aprêtées? Nam coenae ferculo nostrae, dit Martial, malim convivís, quam placuisse cocis.69 (In den Verrichtungen des Geistes hat das Plausible immer obsiegt. Eine geschliffene und fließende Rede schmeichelt dem Ohr, und bezaubert den Verstand: im Gegenteil aber verletzt die Trockenheit eines metaphysischen Ausdrucks und ermüdet die Zuhörer. Es gibt Verrichtungen, deren hauptsächliche Schwierigkeit in der Wahl besteht, und wo die Abhängigkeit größer ist als die Lenkung: so sind etwa alle, die als Ziel Unterricht und Gefallen haben. Der Redner soll also die plausibelsten Argumente verwenden; [...] Er soll alles daran setzten, den allgemeinen Geschmack des anderen zu treffen; dies ist die wahre Methode der Wahl. Denn es verhält sich wie bei einem Gastmahl, bei dem die Fleischgerichte nicht nach dem Geschmack der Köche, sondern dem der Gäste zubereitet werden sollen. Was nützt es, wenn die Dinge nach dem Geschmacke des Redners sind, wenn sie nicht demjenigen der Zuhörer entsprechen, tur den sie zubereitet wurden? Nam coenae ferculo nostrae, sagt Martial, malim conivivis, quam placuisse cocis.) D i e Einführung der decorum-Lehre über den U m w e g des Probabilismus in eine religiös motivierte Klugheitslehre stellt zwar gegenüber der thomistischen Moral eine

deutliche

jesuitischen' Anthropologie,

Abweichung

dar,

reflektiert

jedoch

in

ihrer

vertrackten

Dialektik und Kasuistik u m s o deutlicher die Prinzipien die

einen

substantiellen

Personenbegriff

bei

einer

gleichzeitiger

V e r w e n d u n g einer rhetorisch inspirierten neuzeitlichen Psychologie zu wahren sucht. Bei d i e s e m Vorgang erscheint .Person' als zentraler Begriff, da es gerade d e s s e n Polysemie

ist, die Gracián als Drehscheibe seiner

anthropologischen

Erörterungen erscheint. In der wichtigen 14. M a x i m e La realidad

y el

modo

entwirft Gracián eine spannende Definition, die offensichtlich z w i s c h e n den z w e i hauptsächlichen Bedeutungen v o n ,Person' zur vermitteln versucht. D i e Tradition hatte, u m dies hier verkürzt und schematisch darzustellen, v o n Boëthius bis zu Thomas v o n Aquin und darüber hinaus, ,Person' als eine vernünftige Substanz

69

Ich zitiere den Text nach Amelot, nicht nach Thomasius, Abweichungen in Ortho- und Typographie sind zwar festzustellen, jedoch nicht gravierend. Die Hervorhebungen finden sich so bei Amelot, nicht aber bei Thomasius: L'homme de Cour, (wie Anm. 22), S. 87. Thomasius läßt einfach die Verweise auf Héroe und Discreto beiseite und fugt so die beiden Textstücke zusammen.

Substanz

und

29

Nichts

definiert: „Persona est naturae rationalis individua substantia." 70 Damit rücken Boëthius und die Scholastiker von der ursprünglichen Bedeutung ,Maske' oder ,Rolle' ab. D i e naheliegenden theologischen A n l i e g e n , die eine solche Uminterpretation motivieren, halten vor d e m philologisch geschärften A u g e eines Valla nicht

stand, der unter vordergründig

rein grammatikalischen

Interessen

den

substantiellen Personen-Begriff zugunsten eines rhetorischen Personenbegriffs in der N a c h f o l g e Ciceros verwirft. 7 1 S o verhilft er gleichzeitig den .Umständen', den ,modi' und .accidentia' wiederum zu anthropologischer Würde - ganz g e g e n die Absichten des Boëthius, der ,ontologisch mindere' B e g r i f f e aus seiner Definition eliminiert hatte. 72 Gracián nun bringt dies in seinem 14. Aphorismus zur Sprache, in d e m er z w i s c h e n beiden Lagern vermittelt: No basta la substancia, requiérese también la circunstancia. Todo lo gasta un mal modo, hasta la justicia y razón. El bueno todo lo suple; dora el no, endulça la verdad y afeita la misma vejez. Tiene gran parte en las cosas el cómo, y es taur de los gustos el modillo. Un bel portarse es la gala del vivir: desempeña singularmente todo buen término. 73 (Die Substanz allein genügt nicht, es bedarf auch des Umstandes. Alles wird durch einen schlechten Modus verdorben, bis hin zu der Gerechtigkeit und der Vernunft. Der gute [gemeint ist Modus, Ε. Α.] ersetzt alles; er vergoldet das Nein, versüßt die Wahrheit und verschönert gar das Alter. Es hat einen großen Anteil an den Dingen, das Wie, und auch der kleinste Umstand ist ein geschickter Bezwinger des Geschmacks. Ein bel portarse [italienisch bei Gracián, Ε. Α.] ist die Zierde des Lebens: ein angemessenes Betragen hilft auf einzigartige Weise aus allen Notlagen.) Der hier behauptete Primat des ,modus' gegenüber der Substanz stellt j e d o c h nur die prudentistische Seite der eigentlichen ,sapientia' dar, er betont nur die m o m e n tane Suspendierung der Wahrheit zugunsten einer aulischen Realität, die der Erlangung einer religiös transzendenten Einvernahme der eigentlichen Substantialität gilt. Der 300., letzte und vielleicht berühmteste Aphorismus hebt dies unmißverständlich hervor:

70

71

72

73

Boëthius, Manlius Severinus, Liber de persona et duabus naturis contra Eutychen et Nestorium. 3, in: Opera omnia·, in: Patrologiae cursus completus. Hg. von J.-P. Migne. Series Prima. Bd. 64, S. 1343. Vgl. hierzu Proß, Wolfgang, Le péché et la constitution du sujet è la Renaissance, in: Rue Descartes 27 (2000), S. 79-116, hier S. 90f. Vgl. hierzu die Darstellung bei Nédoncelle, Maurice, Les variations de Boèce sur la personne, in: Revue des sciences religieuses 29/3 (1955), S. 201-238. Hier findet sich ein Überblick über die Entwicklung des Personenbegriffs bei Boëthius (S. 235). Oráculo manual, 14, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 155. Norbert Elias (Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt/M. 1983, S. 167f.) belegt mit dieser Maxime die außerordentliche Bedeutung der Form des Benehmens in einer so geschlossenen Welt wie derjenigen des Hofes; in diesem „Wie" erblickt er geradezu das lebensnotwendige Interesse dieser Schicht an der Person. Es ist jedoch auffallig, daß auch Thomasius [Kurtzer Entwurff, (wie Anm. 14), V, § 23, S. 130] diese „Erinnerung" beherzigt und „fast bey allen Regeln der Klugheit" angebracht sieht, ja in ihr gar einen wesentlichen Unterschied zwischen Naturlehre (die „Sache selbst") und Klugheitslehre (die „Art und Weise") sieht.

30

Eric Achermann En una palabra, santo, que es dezirlo todo en una vez. Es la virtud cadena de todas las perfecciones, centro de las felicidades; ella haze un sugeto prudente, atento, sagaz, cuerdo, sabio, valeroso, reportado, entero, feliz, plausible, verdadero y universal héroe. Tres eses hazen dichoso: santo, sano y sabio. La virtud es el sol del mundo menor, y tiene por emisferio la buena conciencia; es tan hermosa, que se lleva la gracia de Dios y de la gentes. No ai cosa amable sino la virtud, ni aborrecible sino el vicio. La virtud es cosa de veras, todo lo demás de burlas. La capacidad y grandeza se ha de medir por la virtud, no por la fortuna: ella solo se basta a si misma. Vivo el hombre, le haze amable, y muerto, memorable. 74 (In einem Wort ,heilig', womit alles auf einmal gesagt ist. Die Tugend ist die Kette aller Vollkommenheiten, Mittelpunkt der Glückseligkeit; sie macht ein Subjekt klug, aufmerksam, kundig, gescheit, weise, mutig, zurückhaltend, integer, glücklich, plausibel, aufrichtig und zu einem universalen Helden. Es sind [auf Spanisch, Ε. Α.] drei S, die selig machen: Heilig, Gesund und Weise. Die Tugend ist die Sonne unserer kleinen Welt und hat das gute Gewissen zu ihrer Hemisphäre; sie ist so schön, daß sie die Gnade Gottes und der Menschen erlangt. Es gibt nichts Liebenswertes außer der Tugend, noch Verabscheuungswürdiges außer dem Laster. Nur die Tugend ist Sache des Wahren, alles andere Gaukelspiel. Fähigkeiten und Größe müssen an ihr gemessen werden, nicht an der Fortuna: sie allein ist sich selbst genug. Lebt der Mensch, macht sie ihn liebenswert, ist er tot, der Erinnerung wert.)

Thomasius, der sich - wie erwähnt - noch 1720 nachdrücklich Graciáns erinnert, kritisiert an unserem Jesuiten zwei Punkte: seine Dunkelheit, die er einerseits auf den verschrobenen Stil, andererseits auf den mangelnden Aufbau zurückführt, der nicht zu connectiren weiß,75 und seine ,Quasi-Atheisterei', die er in Graciáns Überbetonung der menschlichen Freiheit und des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten zu erblicken vorgibt: So unverniinfftig nun als es ist, vorzugeben, daß ein jeder Mensch sein eigen Glück oder Unglück sich selbsten mache / so verniinfftig ist es auch, nachdem das Wort Glück oder Unglück genommen wird. Nimmt man es dafür, daß man seine Begierden sättigen oder seines Hertzens Wunsch erlangen könne / wenn man es nur recht anfange, so ist diese Rede falsch. Ob wohl nicht zu läugnen, daß viel gelehrte und grosse Leute dieselbe im Munde und in der Feder zu führen pflegen, die man jungen Leuten recommendiret, als grosse wichtige Geheimnisse: Hierher gehören Bessels Schmiede des Politischen Glücks: des Herrn de Calliere vom Glück furnehmer Herrn und Edelleute / Gratians Heros und Homme de Cour &c. [...] Und dieses ist der nächste Weg zur Atheisterey / wenn man ohne die Anmerckungen auf die täglichen Exempel göttlicher Vorsehung das Glück und Unglück eines Menschen, oder vielmehr, ob es ihm nach seinem Willen gehe oder nicht, Menschlichem Witz zuschreiben will, wiewohl solche Atheisten die größte Figur in der Welt machen. Wenn es aber so verstanden wird, daß wenn sich ein Mensch in die Zeit schicket, seinen Willen in GOttes Willen stellet, und den guten Tag frölich ist, aber mit bösen Tagen auch vorlieb nimmt, und also nicht vor Unglück annimmt, was ihn GOtt zuschickt, da hingegen ein anderer mit dem was ihm vorfallet nie zu frieden ist, so kan man wohl sagen, daß nichts wahrhafftiger sey, als daß sich die Menschen ihr Glück und Unglück selbst (so ferne dieses selbst nicht GOtte sondern andern Menschen entgegen gesetzet wird) machen. Ein vergnügter Mensch kan sich mit gutem Fug rühmen, wie jener Hoffmann. Sein Fürst mache alles nach seinem des Dieners Kopffe: Denn er lasse sich alles gefallen wie es der Fürst mache. 76

74 75 76

Oráculo manual, 300, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 282. Kurtzer Entwurf/, (wie Anm. 14), ΙΠ, § 36, S. 65 und Π, § 21, S. 33. Thomasius, Christian, Von der Artzeney Wider die unvernünftige Liebe und der zuvorher nöthigen Erkäntnüß Sein Selbst. Oder: Ausübung der Sitten-Lehre, Nebst einem Beschluß /

Substanz und Nichts

31

Diese dezidierte Ablehnung Graciáns gilt es jedoch bezüglich der Seelenarchitektonik zu verorten, denn so einfach und klar sie auch auf den ersten Blick scheinen mag, desto konfuser gestaltet sie sich im Gefuge der Morallehre von Thomasius' letzter Lebensphase.77 Thomasius stellt den Intellekt als verständig-vernünftige Kontrollfunktion unter die Vorherrschaft des Willens; der Tätigkeitsbereich des Intellekts ist derjenige der ,prudentia', wobei seine moralisch legitime Funktion in der Anpassung des eigenen Willens an den Willen Gottes besteht. Die .voluntas' ist es also, welche die Verbindung der Seele zur unbegrenzten Liebe Gottes und somit der eigentlichen ,sapientia' herstellt. Dies aber ist nicht Graciáns Sache: Unter nachdrücklicher Betonung der intellektuellen Fähigkeiten postuliert Graciáns Moral das Ziel einer heiligen und heroischen Entwicklung des Menschen. Zwei Stellen mögen dies verdeutlichen, die den Parallelismus in der Verwendung dieser Zentralbegriffe der praktischen Philosophie und den Antagonismus ihrer Bewertung deutlich hervorheben: Es dificultoso dar entendimiento a quien no tiene voluntad, y más dar voluntad a quien no tiene entendimiento. Juegan con ellos los que les van alrededor como con ciegos, con risa de los demás. Y porque son sordos para oyr, no abren los ojos para ver. Pero no falta quien fomenta esta insensibilidad, que consiste su ser en que ellos no sean. 78 (Es ist schwierig, denjenigen Verstand zu geben, die keinen Willen haben, und schwieriger noch, denjenigen Willen zu geben, die keinen Verstand haben. Mit ihnen spielen diejenigen, die um sie herumrennen, wie mit Blinden, unter dem Gelächter der anderen. Und weil sie taub sind zu hören, öffnen sie die Augen nicht, um zu sehen. Und es fehlt nicht an solchen, die diesen sinnlichen Mangel befördern, da ihr Sein darin besteht, daß jene nicht seien.)

Thomasius hingegen faßt das Verhältnis des Intellekts zum Willen in der Weise, daß er es mit der Unterscheidung zwischen ,vita contemplativa' und ,vita activa' verkoppelt und sich klar für letztere und - in seinen Augen - Gott, entscheidet: Allein du willst dich mit Gott vereinigen. Mein lieber Freund, du betrügest dich. In der That willst du mit wilden Thieren, Bäumen, Steinen und Kräutern Conversation haben. Solche Dinge liebet ein melancholischer Mensch mehr, als seinen Nächsten. Solche Dinge sind seine Götzen, und wenn er meynet, er rede mit Gott, oder betrachte dessen Wesen, so speculiret er über diese Dinge. Das ist die vollkommene Vereinigung mit Gott, wenn man seinen Willen thut; sein Wille aber besteht in deme, was er der Natur eingepräget hat, das sie gesellig seyn soll. 79

77

78 79

Workmen der Autor den vielfaltigen Nutzen seiner Sitten-Lehre zeiget / und von seinem Begriff der Christlichen Sitten-Lehre ein aufrichtiges Bekäntnüß thut. XII, § 26. Hildesheim 1968 [Reprint der Ausgabe Halle 1696], S. 338f. Eine gute Darstellung des Ringens um eine moralische Letztbegründung des späten Thomasius wie auch der Punkte, um die es im folgenden geht, liefert Schneiders, Naturrecht und Liebesethik, (wie Anm. 6), S. 243-258. Oráculo manual, 230, nach Oc, (wie Anm. 21), S. 212. Thomasius, Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit, (wie Anm. 14), V, § 9, S. 123.

32

Eric Achermann

Anstelle der elitären Vereinzelung ist es die gesellige Nächstenliebe, 80 die Thomasius als echte religiöse Haltung erscheint, wobei die menschliche Natur nicht als Freiheit, das Böse zu tun, verstanden wird, sondern als Ausdruck des göttlichen Willens. Die Vorrangstellung, die Gracián dem ,intellectus' in der Seelenarchitektonik einräumt, hängt mit der Wahrung sowohl eines objektivistischen Wahrheitsbegriffes als auch der menschlichen Willensfreiheit zusammen, die gemeinsam seine praktische Philosophie bestimmen. In dem ansonsten ähnlich beurteilten Lebenskampf gegen Narrheit und Narren stellt Thomasius hingegen die .voluntas' an die erste Stelle, die er als positive ,inclinado' in guter theologischer Tradition 81 karitativ deutet, d.h. sie mit der Liebe gleichsetzt. Sowohl Weisheit als auch Klugheit haben ihren Sitz im Herzen, sind jedoch unserm Concept oder Begriff nach etwas verschieden. Weißheit bedeutet eine lautere Neigung zum Guten, ohne eintzige Neigung zum Bösen, auch ohne Furcht oder Erfahrung des Bösen; Klugheit aber bedeutet eine Neigung zum Guten, welche von der Neigung zum Bösen und von der Furcht des Bösen bestritten wird. 82

Klugheit ist für Thomasius vornehmlich eine Fähigkeit des Verstandes, die jedoch nicht ohne Willen sein kann, der gleichsam ihre moralische Ausrichtung - und somit das wesentliche - bestimmt. 83 „Klugheit" bezeichnet jedoch nicht nur eine Fähigkeit, sondern auch eine Lehre, die „vornehmlich zeiget, wie man sich vor den Irrwegen und Hindernissen des Guten in acht nehmen solle." 84 Trotz der Versicherung also, daß es das Sich-Ergeben in Gottes Wille sei, das allein selig mache, sieht Thomasius in den Anfechtungen durch das Böse, dem sich die Klugheit wie auch die ganze menschliche Entwicklung zu stellen habe, den „Tugend-Weg", 85 auf dem man durch Erfahrung zur Weisheit gelangt. Auch Thomasius' praktische Philosophie ist durch die Spannung zwischen Freiheit und Gnade bestimmt; denn offensichtlich muß der Mensch doch selbst einiges an seinem Glücke schmieden, damit es ihm zuteil werde: Hiemächst, und weil alle Menschen von Natur aus Thoren und albern sind, so müssen sie durch die Erfahrung und Empfindung des Bösen zur Klugheit gelangen. Erfahrung machet sie

80

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Zu Thomasius' Sozialitätsdenken in der Sittenlehre und den Fundamenta vgl. Vollhardt, Friedrich, Zwischen pragmatischer Alltagsethik und ästhetischer Erziehung, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Hg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart 1994, S. 112-129, hier S. 121-126. Nämlich deijenigen des mittelalterlichen Augustinismus, wie sie etwa von Bonaventura und einem großen Teil der franziskanischen Schule vertreten wird. Der Kürze halber sei verwiesen auf Putallaz, François-Xavier, Figures franciscaines. De Bonaventure à Duns Scot. Paris 1997, S. 96-101. Thomasius, Kurtzer Entwurf/, (wie Anm. 14), I, § 9-11, S. 6f. Ebd., II, § 3, S. 26. Ebd., I, §21, S. 9. Ebd., § 35, S. 14.

Substanz und Nichts

33

so viel klüger, und führet sie in die Schule der Weisheit; Weise Leute aber suchen die Narren durch Lehren und Exempel klug zu machen. 86

Ja, die Erkenntnis der eigenen Narrheit ist gar „initium sapientiae".87 Der Unterschied, der sich anfanglich so markant zwischen Gracián und Thomasius abzuzeichnen schien, verflüchtigt sich im Lavieren um eine adäquate und vernünftige Vermittlung zwischen Gnade und Freiheit, die bei beiden zumindest problematisch bleibt. Jenseits der jeweiligen konfessionellen Beteuerung der Rechtgläubigkeit vertreten Gracián und Thomasius die äußerst konventionelle Ansicht, daß der Mensch, wenn er böse handle, gegen Gott verstoße. Gracián glaubt der Bosheit beizukommen, indem er die Wahrheit, die durch spekulative Erkenntnis Gottes gewonnen wurde, aufgrund von Selbsterfahrung und Fremdbeobachtung den menschlichen Geschäften anpaßt und anschließend praktisch appliziert. Die Klugheit erscheint als Selbstverteidigungsstrategie des Weisen, der sich und seine Seele erhält und so, durch diese Bewährung, gar auf dem Weg der Tugend fortzuschreiten vermag. Bei Thomasius liegen die Dinge anders: Der Wille - wie er in dieser Phase seines Lebens zu beteuern nicht müde wird - ist unfrei, der Verstand ist dem Willen unterworfen. Einzig in einer bestimmten ausgewogenen Abstimmung der Affekte untereinander vermag der Verstand privilegierter Menschen zu erkennen und tugendhaft zu agieren,88 d.h. die eigene und die fremde Natur adäquat zu erfassen und sich danach, und insofern auch nach den Präzepten Gottes, zu richten. Voraussetzung hierfür ist jedoch die Erkenntnis der eigenen Unfreiheit, die als Resultat einer affektiven Determinierung des Willens erscheint; die Technik zu dieser Erkenntnis wiederum ist die Klugheitslehre, deren Kern Thomasius in der Affektenlehre darstellt.89

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Ebd., § 23, S. 10. Thomasius, Fundamenta iuris naturae et gentium, (wie Anm. 17), I, II, § 4, S. 102. Vgl. hierzu die Analyse der „Mischung der Wohllust und des Ehr-Geitzes", die „ein gutes Ingenium und Judicium" bewirkt: Ausübung der Sitten-Lehre, (wie Anm. 76), Cap. 12, 3, S. 310-312, sowie Fundamenta iuris naturae et gentium, (wie Anm. 17), I, IV, § 13, S. 125, wo festgehalten wird, „quod mixtura voluptatis valde temperet excessus ambitionis, & mixtura ambitionis temperet excessus voluptatis, ita ut ex hac mixtura maximae oriantur virtutes, quarum homines natura sunt capaces; item quod haec gignat excellentiam ingenii & judicii ac placidam & humilem tolerantiam ac amorem infirmorum." [daß die Beimischung der Wollust die Maßlosigkeit des Ehrgeizes stark mäßigt, die Beimischung des Ehrgeizes aber die Maßlosigkeit der Wollust dämpft, so daß aus dieser Mischung die höchsten Tugenden hervorgehen, deren die Menschen ihrer Natur nach fähig sind; ebenso daß sie sowohl die Vorzüglichkeit des Witzes und des Urteils, friedfertige und bescheidene Geduld als auch Liebe der Notleidenden hervorbringt.] Es handelt sich um Thomasius' berühmte Affektenlehre, deren umgreifende sittlich-moralische Implikationen und Ramifikationen am bequemsten in dem schematischen Spiegel seiner selbst anderer Menschen im Kurtzen Entwurff (wie Anm. 14, ad IV, S. 76) und Ausübung der SittenLehre (wie Anm. 76), S. 170-173, überschaut werden können. Vgl. auch Vollhardt, (wie Anm. 80), S. 124-126, sowie Schings, Melancholie und Aufklärung, (wie Anm. 64), S. 41—44.

34

Eric Achermann

Der Vergleich zwischen Thomasius und Gracián greift nun an eben diesem Punkt: Beider Affektenlehre ist ähnlich, wenn nicht gar verwandt.90 Die Ziele, denen die Analyse der Affekte dient, sind diejenigen des Prudentismus: Kontrolle eigener und fremder Narrheit im Dienste der Selbsterhaltung und -behauptung. Dies erachten beide Autoren wiederum als Voraussetzung für die Erlangung einer Tugend, die Gott gefallt. Dabei vermeidet Gracián im Gegensatz zu Thomasius die zirkuläre Herleitung dieses sittlich-psychologischen Meliorierungs- und Optimierungsgedankens: Der Verstand erscheint ihm prinzipiell als Voraussetzung für die Willensfreiheit, die Willensfreiheit wiederum als Bedingung der Tugend. Thomasius hingegen bemüht sich erfolglos91 um eine konsequente oder zumindest plausible Lösung des Widerstreits von Verstand und Willen, die er schließlich - als direkte Folge seiner These vom absoluten Primat des Willens über den Verstand in einer Art Gnadengeschenk sieht; temperierte Affekte und ein friedfertiges Gemüt sind zeitweilige und ganz relative Annäherungen an die gute menschliche Natur, die seit dem Sündenfall verdorben ist.92 Nur so gelingt es Thomasius, sich vom Verdacht des Kryptokatholizismus frei zu halten, den er sich wegen seines Engagements für die Lehre der Klugheit zugezogen hatte. Der Preis, den er dafür zu bezahlen hat, ist jedoch hoch. Er besteht im Verzicht auf eine vernünftige Begründung der Sittenlehre zugunsten einer Formulierung, die eine kuriose Ähnlichkeit mit Luthers Kleinem Katechismus aufweist: „Selig sind die bey ihrer Betrübnüß im Geist stille seyn / und nicht weiter fortfahren zu versuchen / sich selbst zu helffen / [...] und in Gedult der Gnade Gottes erwarten."93 Wären Gracián und Thomasius durch Zufall oder Fügung zusammen- oder aneinandergeraten, sie hätten einander mit Sicherheit der gröbsten Irrlehren und des Abfalls von Gott bezichtigt. In Anbetracht dieses Abfalls aber erscheint es ebenso wahrscheinlich, daß ihre Wahl auf die nämlichen Waffen gefallen wäre.

90

91 92

93

Forssmann, (wie Anm. 2), S. 162-169, vermutet hier eine direkte Abhängigkeit Thomasius' von Graciáns 26. Maxime. Vgl. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik, (wie Anm. 6), S. 253. Hierzu zusammenfassend: Thomasius, Ausübung der Sitten-Lehre, (wie Anm. 76), Beschluß, 4f., S. 531-539. Ebd., S. 534.

MANFRED BEETZ ( H a l l e )

Konversationskultur und Gesprächsregie in den Monatsgesprächen In Anlehnung an Bourdieus Kultursoziologie soll an den Monatsgesprächen von Christian Thomasius untersucht werden, wie sich Ansätze einer aufklärerischen Literaturkonzeption im deutschen Sprachraum auf dem literarischen Feld' vor 1700 Gehör verschaffen. Den Feldbegriff Bourdieus bestimmt weniger ein territoriales Konzept. Näher kommt ihm der physikalische Begriff des .Kraftfeldes'. Es geht Bourdieu um Einflußzonen und Diskursbereiche, auf die Kräfte anderer Felder wie der Religion, Philosophie, Jurisprudenz, gesellschaftlichen Moral, Politik einwirken.1 Das literarische Feld wird nicht nur vom literatursoziologischen Interaktionsgeflecht der Produzenten, Verleger, Kritiker, Leser konstituiert, sondern darüber hinaus vom Kampf um Legitimitätsansprüche von Definitionen, Vorgehensweisen, Präsentationsformen, wie ihn antagonistische Positionen verschiedener Felder der zeitgenössischen Kultur zwangsläufig heraufbeschwören. Literarische Texte interessieren Bourdieu weniger als Abbilder sozialer, historischer Konstellationen, sondern in erster Linie als Kommunikationsmittel, deren spezifische Funktionen aus der subjektiven Perspektive der Akteure und objektivierbaren Feldstrukturen zu ermitteln sind. Gesellschaftliche Leitvorstellungen und Prinzipien subjektiver Konstruktion und Bewertung der Sozialwelt verschmilzt der Begriff des an die Lebensform gebundenen „Habitus".2 Auf dem Sektor der Ästhetik spezifiziert der Habitus zumindest latent das Geschmacksurteil, korreliert die Bewertung von Formen mit ihrer Hervorbringung. Die vom Autor- oder Gruppenhabitus gesteuerte Textorganisation wird in ihrer konstruktiven Leistung für die Wirklichkeitsinterpretation von Bourdieu ernstgenommen. Gattungsform und Textorganisation der Monatsgespräche von Thomasius resultieren aus dem Zusammenspiel von Habitus und literarischem Feld auf mehreren Ebenen. Das literarische Modell erlaubt über die Einbettung von Kommunikationsstrukturen, über die fiktive Interaktion literarischer Figuren und die Deutungen ihres Diskussionsverhaltens (einschließlich ihrer Körperhaltung, Gestik, Kleidung), den sozialen Raum als Zeichenraum zu lesen.

1

2

Bourdieu, Pierre, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers, v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/M. 1999, S. 24ff., 34Iff.; Jurt, Joseph, Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995, S. 81,86. Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt v. Bernd Schwibs u.a. Frankfurt 1984, S. 278, 284f., 728.

36

Manfred

Beetz

Im folgenden sollen einige Aspekte der literarischen Präsentationsform der Monatsgespräche

näher untersucht, ihre k o m p l e x e Kommunikationsstruktur be-

schrieben und funktional verdeutlicht werden. Angesichts der Bedeutung, die schon Ende des 18. Jahrhunderts d e m Journal für die Geschichte der Literatur und der freien Denkungsart zugesprochen werden, 3 überrascht es, daß innerhalb einer reichen, ausdifferenzierten Forschungsliteratur insgesamt w e n i g e Beiträge sich detaillierter mit seiner Darstellungstechnik und Konversationsform befaßt haben: zu nennen wären W o l f g a n g Martens, Thomas Woitkewitsch, Dieter Pilling, Frank Grunert, Herbert Jaumann und Emanuel Peter. 4 D i e ältere Forschung hat v o n Thomasius' Schertz-

und Ernsthafften

Gedancken

eher den Ernst der satirischen A n -

griffe und der vielfältigen Zeitkritik herausgestellt. 5 Wir w o l l e n auch d e m Scherz sein Recht geben, der in seiner doppelten Unterhaltungs- und Erkenntnisfunktion nicht nur der Satire eigen ist, sondern auch im gesellschaftsethischen Diskurs seit den Humanisten und ihrer Antikerezeption eine zentrale Rolle spielt. 6 Z w e i f e l l o s

3

4

5

6

Vgl. Maurer, Michael, Christian Thomasius oder: Vom Wandel des Gelehrtentypus im 18. Jahrhundert, in: Vollhardt, Friedrich (Hg.), Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997, S. 429^144, hier S. 437^(43. Martens, Wolfgang, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971, S. 79-81; Woitkewitsch, Thomas, Thomasius' ,Monatsgespräche'. Eine Charakteristik, in: Archiv fiir Geschichte des Buchwesens X (1970), Sp. 655-678, hier Sp. 665ff.; Pilling, Dieter, Christian Thomasius' ,Monatsgespräche'. Untersuchung zur literarischen Form. Diss. Leipzig 1988; Grunert, Frank, Von polylogischer zu monologischer Aufklärung. Die Monatsgespräche von Christian Thomasius, in: Fontius, Martin, Schneiders, Werner (Hg.), Die Philosophie und die Belles-Lettres. Berlin 1997, S. 21-38; Jaumann, Herbert, Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden 1995; ders., Bücher und Fragen. Zur Genrespezifik der Monatsgespräche, in: Vollhardt, Thomasius (wie Anm. 3), S. 395—404; ders.: Vorwort zu Thomasius, Christian, Monatsgespräche [1688-1690], hg. v. Herbert Jaumann. Hildesheim 2003; Peter, Emanuel, Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 37-68. Fleischmann, Max (Hg.), Christian Thomasius, Leben und Lebenswerk. Abhandlungen und Aufsätze. Halle 1931; Lieberwirth, Rolf, Christian Thomasius' Leipziger Streitigkeiten, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ΠΙ (1953/54), H. 1, S. 155-159; Schultz-Falkenthal, Heinz, Christian Thomasius - Gesellschafts- und Zeitkritik in seinen ,Monatsgesprächen' 1688/89, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg IV (1955), H. 4, S. 533-554. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers, v. Franz Dirlmeier. Stuttgart 1983, S. 115f.; Cicero, De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln, übers, u. hg. v. Heinz Gunermann. Stuttgart 1980, I, 103, S. 90ff.; Cicero, De oratore libri tres, hg. v. Reinholdus Klotz. Lipsiae 1879, Π, 58, 236; Quintiiianus, Marcus Fabius, Institutiones oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. u. übers, v. Helmut Rahn. 2 Bde. Darmstadt 1972/1975, VI, 3, 21; Bd. I, S. 722; Pontanus, Giovanni, De sermone libri sex [1499], hg. v. S. Lupi u. A. Risicato. Lucani 1954, S. 90-97, 139, 144-151; Castiglione, Baldesar, Das Buch vom Hofmann [1528], übers, von Fritz Baumgart. Bremen 1960, S. 167f., 172-177, 212; Casa, Giovanni della, Galateus, übers, v. Nathan Chytraeus. Franckfùrt 1597, S.78-88; Althusius, Johannes, Civilis conversations libri duo. Hanoviae 1601, S. 46f.; Refuge, Eustache du, Kluger Hofmann [frz. Traité de la Cour 1616/1618] übers, v. Georg Philipp Harsdörffer. Frankfurt / Hamburg 1655, S. 10-13; Faret, Nicolas, L'honneste homme ou l'art de plaire à la court [1630], hg. v. M. Magendie. Paris 1925, S. 81-85; [Anonym:] Wegweiser Zur Höflichkeit [1648], Franckfùrt

Monatsgespräche

37

bietet Thomasius mit einer geselligen Konversation auf verschiedenen Ebenen Modelle fur eine höfliche Gesprächskultur. 7 Der spielerische Umgang mit dem Leser kann zur Ästhetisierung seines Umgangsverhaltens und der Konversation von Sozietäten beitragen. Wie aber läßt sich das propagierte Decorumideal der gewinnenden Gefälligkeit, des Vermeidens von Anstoß mit der satirischen Intention, ihren zielsicheren Spitzen und provokanten Angriffen auf identifizierbare Gegner versöhnen? Kultivierte französische Umgangsformen zielten auf eine friedliche Gesellschaft, während Thomasius' Satire eine Kriegserklärung darstellte und als solche aufgefaßt wurde. Die Diskrepanz sowohl der Intentionen wie literarischen Strategien scheint unauflösbar.

1. Zur Kommunikationsstruktur der Monatsgespräche Ist Thomasius bei der Herausgabe seiner monatlichen Nummernhefte allmählich der Humor vergangen? Zumindest zeichnet sich in ihrer Publikationsgeschichte eine Verlagerung vom Scherzhaften zum Ernsthaften ab, die sich u.a. in der von der Forschung beobachteten Komplexitätsreduktion von einer „doppelten" bzw. „polylogischen" Gesprächseinbettung des ersten Jahrgangs zu der „monologischen" Präsentationsform des letzten niederschlägt. 8 Bei näherer Betrachtung erweist sich die Kommunikationsstruktur noch erheblich komplexer: Vorreden, Widmungen, Erzählerrollen, szenische Darstellung und Bericht, Bildinterpretationen, Rezensionen knüpfen auf mindestens vier unterschiedlichen Kommunikationsebenen Gespräche an, betten Gespräche in Gespräche ein, Gespräche zwischen fiktiven und zwischen historisch verbürgten Personen; Masken- und Rollenspiele werden inszeniert. Selbst eine Rezension kann nur vordergründig als monologischer Text erscheinen: Auch ohne an Bachtins Vielstimmigkeit des Worts anzuknüpfen, muß jede Rezension von Thomasius als intertextuelle Auseinandersetzung vor der Folie zeitgenössischer Konventionen und Normen betrachtet werden; in ihrer Rhetorik stellt sie ein gegenüber einem Lesepublikum inszeniertes Plädoyer dar zur Durchsetzung wissenschaftlicher und kultureller Wertvorstellungen, im Kampf nicht zuletzt um Marktanteile und Machtpositionen.

7 8

1665, S. 22; [Alewein, Hans Adolf v.] Der Schmäkkende, Kurtze Doch grundrichtige Anleitung zur Höfligkeit. Hamburg 1649, S. 10; Schottelius, Justus Georg, Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebenskunst [Wolfenbüttel 1669], neu hg. v. Jörg Jochen Berns. Bern und München 1980, S. 534-540; Courtin, Antoine de, La civilité moderne, Oder die Höflichkeit Der Heutigen Welt. [1671], übers, von C. F. Hunold. Hamburg 1705, S. 44f„ 98f., 344-356. Peter, (wie Anm. 4), S. 19f., 67. Grunert, (wie Anm. 4), S. 30-35, Peter, (wie Anm. 4), S. 59ff.

38

Manfred Beetz

1.1

Der Autor

Ein publizistisches Gespräch auf der realen Ebene des Literaturmarktes vor 1700 sucht der Autor mit dem kontemporären Lesepublikum zunächst noch anonym: Mit dem Auftakt der ersten Monatsschrift bereitet er den Leser vorweg „Zur Nachricht" auf die periodische Publikation zum jeweiligen Monatsersten vor, nennt Weidmann als Verlagsbuchhändler in Leipzig, an den kritische Leserbriefe und Gegendarstellungen zu adressieren seien.9 So wie er als Publizist das kritische Gespräch mit lebenden und toten Autoren sucht, soll seine Kritik weitere kritische Echos auslösen. Thomasius versteht sein Blatt als Forum öffentlicher Kritik und legt Figuren liberale Auffassungen in den Mund, die sie zu Sprachrohren des Autors stempeln. Er wirbt im Editorial („Zur Nachricht") zum Februar-Heft um Rezensionen, „wann es auch gleich wider diese Gedancken selbst wäre" (1/2, S. 114); ähnlich setzt sich dann der weitgereiste Kavalier Augustin für eine Öffnung gegenüber konträren Positionen ein und begründet sie ganz im Sinne von Thomasius mit einer ,Goldenen Regel' der Pressefreiheit: Die Freiheit der Kritik, die man sich gegenüber anderen herausnimmt, ist auch anderen einzuräumen. Dies impliziert konkret die Zustimmung, die artikulierte Gegenposition ins eigene Blatt einzurücken (1/2, S. 241f.). Thomasius sollte bald Gelegenheit bekommen, seine Liberalität an der aufgenommenen Antikritik „Pro Masio" unter Beweis zu stellen, nach Scharmützeln im Dezember 1688 und im Mai- und Juni-Heft 1689 (III/6, S. 445). Mit dem Jahrgang 1689 tritt der Verfasser aus seinem Inkognito, nennt seinen bürgerlichen Namen und auch den seines schärfsten Widersachers in Titel und Widmung der Monatsschrift. Vorausgegangen waren Anzeigen beim lutherischen Oberkonsistorialrat in Dresden, auf die hin Thomasius brieflich seine Verfasseridentität preisgab, die publizistische Verantwortung aber noch auf ein fingiertes Herausgeberkonsortium zu streuen versuchte. 10 Als sich die Angriffe der Leipziger Theologen Alberti, Pfeiffer, Carpzov verschärften und mit den politischen Verdächtigungen eines revolutionären Widerstandsrechtes durch den dänischen Hofprediger Masius zu einer gefahrlichen Anklage verbanden, appellierte Thomasius an den Gerichtshof bürgerlicher Öffentlichkeit als letzter Instanz mit der Hoffnung, den theologischen Zensurbemühungen hinter den Kulissen und der Intervention des dänischen Königs zu begegnen. Die Asymmetrie der Machtverhältnisse verhinderte eine offen ausgetragene Konkurrenz von Argumenten. Das schwerwiegende Delikt der Majestätsbeleidigung erwirkte mit weiteren Verstößen gegen das decorum in Habitus und Lehre ein Schreib- und 9

10

Thomasius, Christian, Freymiithige Lustige und Ernsthaffte iedoch Vernunfft- und Gesetzmäßige Gedancken Oder Monats-Gespräche, über allerhaand, flirnehmlich aber Neue Bücher, Durch alle zwölff Monate des ¡688. und ¡689. Jahrs. Halle 1690. Zitiert wird nach dem dreibändigen Original der ULB Halle: Klammern im Haupttext geben mit römischen Zahlen die Bandnummer, mit arabischen den Monat und die Seitenzahl an. Jaumann, Vorwort, (wie Anm. 4), S. 11.

Monatsgespräche

39

Lehrverbot. Der drohenden Verhaftung entging Thomasius nur durch die Flucht nach Brandenburg. In seinem denkwürdigen Schlußplädoyer am Ende seiner eigenen publizistischen Tätigkeit, in „Beschluß und Abdanckung des Autoris" der Dezember-Nummer 1689 legitimiert er noch einmal sein aufklärerisches Programm der Publikationsfreiheit, das er auf die Prinzipien der Denk- und Glaubensfreiheit gründet und einzig dem Maßstab der „gesunden Vernunfft" in der literarischen Öffentlichkeit der scientific community' unterstellt: Die Respublica literaria hat mit denen andern Rebuspublicis wenig Gemeinschafft / sondern sie ist der Societati maximae gentium quà talium nicht ungleich. Sie erkennet kein Oberhaupt / als die gesunde Vernunfft / und alle diejenigen, die darinnen leben, sind einander gleich, sie mögen von was Nationen oder Stande seyn was sie wollen. Denn sie haben alle gleiche vota in denen affairen, die diese große Societät angehen (III/12, S. 1149).

Deutlicher hätten die egalitären und idealtypischen Grundsätze einer aufklärerischen Öffentlichkeit in einer Ständegesellschaft kaum formuliert werden können. Angesichts der ernsten Gefahren, die Thomasius nicht erst bei der Beschlagnahmung seines Hausrats in Leipzig 1690 und der Verbrennung seiner Schriften durch den Henker in Kopenhagen 1691 zu spüren bekam, sind die ästhetischen Präsentations- und Einbettungsverfahren der Gespräche nicht nur als amüsantes Literaturtheater zu würdigen, sondern ebenso sehr als kluge Maskierung identifizierbarer Positionen und Schutzmaßnahme gegenüber absehbaren Sanktionen. 1.2

Der , Herausgeber '

Auf einer zweiten Ebene spielt Thomasius als fiktiver Herausgeber und Moderator der Monatsgespräche eine Rolle, die der Realität nahe kommt und gleichzeitig als kulturelles Spiel markiert ist. Als textorganisierendes Zentrum nutzt er die Gattungsvariabilität und Modellierbarkeit der Monatsgespräche zu labilen, variierenden Konstellationen, potenzierten Konversationseinbettungen, Romanerzählungen, Traktaten und schlägt im ersten Jahrgang einen leichten, ironischen, mit dem Salz der Satire gewürzten Unterhaltungston geselligen Erzählens an." Die Auflockerung von Gattungsgrenzen in Texten, in denen sich Philosophie und Literatur überschneiden, bezeichnet nach Dorothee Kimmich gerade die systemkritische, eklektizistische Tradition des hellenistischen Epikureismus. 12 Der ,Editor' stellt sich als Publizist vor, der in keine Fakultät paßt und als Literat sich ein eigenes Urteil in verschiedenen Disziplinen der Jurisprudenz und insbesondere Philosophie - in Logik, Metaphysik, Ethik, Politik - erlaubt (1/3, S. 266f.). Er versteckt seine bürgerliche Identität in 1/3 hinter den Namensinitialen „E.D.F.U.K." und dem fin-

11 12

Jaumann, Bücher, (wie Anm. 4), S. 397. Kimmich, Dorothee, Epikureische Außilärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge. Darmstadt 1993, S. 30.

40

Manfred Beetz

gierten Verlagsort Halle. 13 Die Namensverschlüsselung wird als kulturelles Rollenspiel deklariert: Wie der Residenzadel auf dem Land sich in ,Wirtschaften' am Kostümwechsel vergnügt, ein Minister den Koch agiert, so serviert hier der interdisziplinär beschlagene ,Herausgeber' seine Gespräche. Er geht an späterer Stelle auf die Meinungspluralität und die Geschmacksunterschiede eines divergenten, anonymen Publikums ein (III/8, S. 646; 11/11, S. 936). Dem Vermittlungsmodus des Stils entsprechend soll ein überständisches, gebildetes Lesepublikum erreicht werden, das auch Frauen einschließt (1/1, Vorr. [48]; II/7, S. III). 1 4 Darüber hinaus hat der mystifizierte Herausgeber den intendierten Leser, also nicht nur den empirischen Zeitgenossen, im Blick. Er klärt anhand offensichtlicher Mißverständnisse über seine eigentliche Intention auf, der es fern lag, ein deutsches Journal von gelehrten Schriften einzuführen (1/3, S. 257, 263). Der Verführung des Lesers, satirische Gespräche oder Beschreibungen wie einen Schlüsselroman zu dechiffrieren, möchte er durch ausländische Namen, Typisierungs- und Fiktionalitätssignale entgegenwirken. Die adäquate Rezeptionslenkung steht im Dienst einer Verteidigungsstrategie und eröffnet dem Regisseur der Gespräche Handlungsspielräume. Er fuhrt in der Vorrede an den „Ungeneigten und geneigten Leser" die laut gewordene Kritik an der „Gesellschaft der Müßigen" auf teilweise Mißverständnisse und Verkennungen einer angemessenen literarischen Rezeption zurück: Man habe die Thesen des Pedanten David, der in der satirischen Widmung als Verwandter Barbons eingeführt war, als Autormeinung mißverstanden und hermeneutisch die Redeperspektive mißachtet (1/1, Vorr. [48]; III/l, Vorr. [19]. Die Erziehung zu einer angemessenen literarischen Hermeneutik ist nicht nur ein Programmpunkt von Thomasius' Hofphilosophie, Logik- und Naturrechtslehre, 15 sondern dem literarischen Text selbst immanent. Wiederholt werden Hermeneutikfragen in den Monatsgesprächen thematisiert (1/1, Vorr. [42]; 1/2, S. 220; II/7, S. 2 1 f f , 94). Im Dezember 1689 rezensiert Thomasius „JOHANNIS à FELDE Tractatus de Scientia interpretandi, cùm in genere omnes alias Orationes, tùm in specie leges Romanas" (Helmstedt 1689) (HI/12, S. 1017ff.). Auch die Hinweise, die der Editor im Titel der Monatsgespräche und seiner Erklärungen gibt oder im Titelkupfer und dessen subscriptio, sind poetologische Programmpunkte und Wegweiser zu einer angemessenen Rezeption in einem. Die Zeilenanordnung der Titeladjektive stellt jeweils ein Antonymenpaar zusammen: „Schertz- und Ernsthaffter, / Vernünfftiger und Einfaltiger / Gedancken / über allerhand / Lustige und nützliche Bücher und Fragen" (1/1). Bei der Horazmaxime, die im Binnentext variiert wird, geht es 13 14

15

Vgl. Jaumann, Vorwort, (wie Anm. 4), S. 3f. Maurer, (wie Anm. 3), S. 432, 438; Jaumann, Bücher und Fragen, (wie Anm. 4), S. 401; Peter, (wie Anm. 4), S. 59. Thomasius, Christian, Einleitung zur Hof-PHILOSOPHIE. Franckfurt und Leipzig 1710, S. 266-270; ders., Auszübung Der Vernunfft=Lehre [Halle 1691]. Neudruck Hildesheim 1968, Kap. 3, S. 163-231. Ein Kapitel zur juristischen Hermeneutik enthält: Ders., Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit, Halle 1709, II, 12. Kap, S. 302ff.

Monatsgespräche

41

ebenso um die Verbindung von delectare und prodesse wie beim satirischen Programm, Ernst in Scherz zu verpacken. Die vernünftigen und einfaltigen Gedanken „in einem Gespräch vorgestellet" zu unterscheiden, bleibt Aufgabe des kritischen Lesers. Der Kupfertitel aus Molières Tartuffe IV/4 und 5, zeigt nicht zufallig die Inszenierung eines Spiels im Spiel. In der Erklärung geht der „Herausgeber" auf Lesererwartungen ein. Nicht Tragisches sei mit dem Ernst gemeint, sondern satirische Entlarvungskomik. In Molières Typenkomödie spielt Elmire Theater, um vor ihrem verstockten Mann den Heuchler zu demaskieren. Durch den Augenschein soll der verblendete Orgon unter dem Tisch aus seiner Verblendung gerissen werden. Orgon als stummer Zuschauer des Geschehens figuriert als Bild des impliziten Rezipienten, der Aufklärung sucht. Die Komik der Versuchsanordnung enttarnt den Heuchler; Elmire nennt in der Prüfungsszene ihre Verstellung ein Spiel, das überzeugen soll. Auch der Titel Monats-Gespräche wird später von ihrem Verfasser in ein aufklärerisches Programm gestellt. In der Vorrede zum dritten Band (III/l, [14f.] verbindet er mit der Periodizität eine sukzessive Zielsetzung. Er wolle den Leser nicht blitzartig mit der Wahrheit blenden, sondern ihm nach und nach, in monatlichen Dosen, lediglich Denkanstöße geben. Und zwar in Gesprächsform: In ihr ließen sich unkonventionelle Auffassungen am besten unterbringen. 16 Aufklärung wird nicht als Erleuchtungszustand, sondern wie später bei Kant als langwieriger Prozeß verstanden. 17 Geschichte und Aufklärung sind bei Thomasius aufeinander angewiesen. In II/7 streut der Epikurverteidiger wiederholt Rückblicke über die allmähliche Lösung von Vorurteilen ein: Früher habe man Epikur und Judas oft in einem Atemzug genannt. „Nachdem aber einige Zeit hero die Welt angefangen, sich nach und nach von allgemeinen Irrthümern abzusondern, und in Sachen, die von der Vernunfft dependiren, der Vcrnunfft Gehör zu geben, und das bärtigte Ansehen eines mit einem grossen talar behenckten so genanten weisen Mannes beyseit zu setzen; und also die pedanterey ihre vornehmste Unterstützung bey Hofe allmählich verlohren", laufe man weniger Gefahr (II/7, S. 94).

Gassendi offenbarte zuerst die Unschuld von Epikurs Philosophie, und zwar klugerweise zunächst mündlich, im Gespräch, bevor er seine Thesen nach Rückversicherungen an hohe Gönner zu Papier brachte (ebd. S. 95). Der autothematische Bezug auf die Herausgeberstrategie von Thomasius' Monatsgesprächen drängt sich dem Leser auf. So wie das Titelkupfer von Band I den Heuchler entlarvt, zeigt das von Bd. II der Widmung gemäß den Pedanten, zu dem ein Mantel und langer Bart gehört, der sein Alter und damit seine Autorität augenfällig macht.

16 17

Woitkewitsch, (wie Anm. 4), S. 663f. Kant, Immanuel, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1783], in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 9. Darmstadt 1968, S. 59.

42 1.3

Manfred Beetz Ein Literatenzirkel

Auf der dritten Ebene präsentiert sich der proteushafte Sprecher in wechselnder Gestalt und fächert die Erzählerrolle zu Beginn in drei Figuren auf. Er stilisiert sich in der parodistischen Widmung von 1/1, die deutlich als Fiktionalitätsstufe von der Herausgebernotiz „Zur Nachricht" abgesetzt ist, als Mitglied der „Gesellschafft der Müßigen". ,Muße' ist ein Zentralbegriff im später entfalteten Programm eines modernen Epikureismus, bietet sie doch die Chance der Selbsterkenntnis, der Selbstsorge und Zufriedenheit. 18 Seneca zufolge kommen sich Epikureer und Stoiker in ihren Empfehlungen zur Muße entgegen, obwohl beide Schulen unterschiedliche Akzente setzen: Rät Epikur zur Abstinenz von politischer Tätigkeit, so differenziert Zeno seine Vorschläge nach Alter, Wirkungskreis und faktischen Einflußmöglichkeiten. 19 Die französischen Vertreter des Libertinismus in der frühen Neuzeit stammten aus dem Adel und Bürgertum und sahen sich in der Lage, als Privatgelehrte eine zurückgezogene „vie oisive" zu führen. 20 Den Leser stimmt der Begriff ,Muße' in seine Rezeptionssituation ein - als impliziter Appell, die Situation entspannter, unterhaltsamer Lektüre bewußt zu kultivieren und zu genießen. Die drei Gesellschaftsmitglieder sind jeweils in ihrer Doppelrolle als Mitglieder der bürgerlichen und einer literarischen Sozietät knapp charakterisiert. Ihre Ausbildung, die ehemals ausgeübten Berufe als Offizier, Licentiat der Rechte, Philosophie- und Medizinstudium liegen für die drei Rentiers lange zurück. Man trifft sich mehrmals in der Woche in der vom Trio gegründeten literarischen „Gesellschaft der Müßigen", deren Name ebenso wie die parodierten Gesellschaftsnamen des „Träumenden", „Schläffrigen", „Schnarchenden" sowohl auf den bürgerlichen Pensionärsstatus („ohne öffentliche Ehren-Aemter", 1/1, Vorr. [46]) wie auf die von der Realität abgehobene Rolle in der literarischen Sozietät verweisen. Wenn der altersmüde Widmungsverfasser in seiner Selbstpersiflage als „le Ronfleur", ,der Schnarchende' unterzeichnet, unterstreicht er gegenüber dem wahren Verfasser, der damals 33 Jahre zählte, heiter seine Schauspielrolle. Hervorgehoben wird seine rein literarische Existenz durch den Kontext einer Widmung, die sich an rein literarische Typen und Kunstfiguren parodistisch richtet. Andererseits stellt der fiktive Freundesbund gleichwohl ein Modell der scientific community' vor. Das Triumvirat berät in gemeinsamen Redaktionssitzungen ohne einen Präses über Gesprächsthemen und Bücher, die von öffentlichem Interesse sind, bevor das Los einen mit der Ausarbeitung eines Monatsgesprächs betraut. Praxisbezogen soll der allgemeine Nutzen ohne wichtigtuerische Betriebsamkeit gefördert werden. Dies entspricht Senecas Auffassung, daß man im Ruhestand sich einem universalen, die 18 19

20

Ebd., S. 162. Seneca, Von der Muße, cap. 3, in: Seneca, Lucius Annaeus, Philosophische Schriften, 4 Bde., hg. von Apelt, Otto. Hamburg 1993, II, S. 51. Kimmich, (wie Anm. 12), S. 95.

Monatsgespräche

43

gesamte Menschheit umfassenden Gemeinwesen widmen kann.21 In Thomasius' literarischer Gesellschaft verkehrt man fast täglich „untereinander in der gleichesten Gleichheit" (1/1, Vorr. [49]), unter Voraussetzungen also, die der Autor bei seiner Verabschiedung am Schluß als konstitutiv für die Gelehrtenrepublik erachtet (III, 1689/12, S. 1149). 1.4

Das fiktive Gesprächspersonal

Konnte hinter der „Gesellschafft der Müßigen" noch ein existentes Herausgebergremium vermutet werden, hinter dem sich Thomasius bei den ersten Angriffen tatsächlich auch versteckte, 22 ist dies beim mehrfach eingebetteten und unterschiedlich bezeichneten Personal der szenischen Gespräche nicht mehr möglich. Gleichwohl weisen die fiktiven Typenfiguren deutliche Konturen berufsständischer, psychologischer und ideologischer Charakterisierung auf. 23 An Charakterisierungstechniken nutzt Thomasius ein breites Arsenal narrativer und szenischer Möglichkeiten: Er verwendet Charakterisierungen durch den Erzähler (1/1, S. lf., 1/3, S. 27Iff.) und durch Figuren. Es kommen Fremd- und Eigencharakterisierungen der Figuren vor; explizite und implizite Charakterisierungen. Figuren werden sowohl durch die von ihnen vertretenen Thesen gekennzeichnet wie durch die Art und den Stil ihres Diskussions- und Konversationsverhaltens. Neben die sprachliche Charakterisierung tritt die durch das Handeln gegebene. Der Theologe Chrysipp im Philosophengespräch II/7 entlarvt sich durch sein verbales wie nonverbales Agieren als Heuchler. 24 Sprachlich eröffnet allein schon die Anrede Möglichkeiten zur Status- und Standescharakterisierung, wenn etwa Chrysipp mit „E. Hoch-Ehrwürden" angesprochen wird (II/7, S. 45) oder der Minister und Präses der disputatio in 1/3 von seinen Klienten mit „Euer Excell." bzw. ,,S[eine] Exc." (S. 271, 389, 443, 446). Geschickt im Sinne unaufdringlicher Didaktik nutzt Thomasius die Gelegenheit zur Qualifizierung einer Figur durch die Fadenscheinigkeit oder Stichhaltigkeit ihrer Argumentation. Am Philosophengespräch in II/7 sollen später Charakterisierungen durch den Diskussionsstil und propositionalen Gehalt der vertretenen Thesen illustriert werden. Der zu kritischer Prüfung ermunterte Leser darf explizite Selbstcharakterisierungen auch positiv gezeichneter Charaktere nicht uneingeschränkt übernehmen. Themist bezeichnet sich eher als Eklektiker denn als Epikureer (II/7, S. 138f.). Impliziert ist darin fraglos die Aufforderung an den Rezipienten, selbst Epikur 21 22 23

24

Seneca, (wie Anm. 19), cap. 4, S. 52. Vgl. Jaumann, Vorwort, (wie Anm. 4), S. 11. Jaumann hat auf die repräsentativen Rollenvertreter des ersten Heftes „für die Bestrebungen und Konflikte der Zeitlage" aufmerksam gemacht. Jaumann, Critica, (wie Anm. 4), S. 281 f. Um den Cartesianer Maximus loszuwerden, der den Epikureer Themist aufsuchen will, hatte ihm Chrysipp die wissentlich falsche Auskunft erteilt, Themist sei aufs Land gefahren. Beim Erscheinen Themists stellt sich der Theologe und Stoiker überrascht und fragt scheinheilig, ob er von seiner Reise zurück sei (II/7, S. 43).

44

Manfred Beetz

nicht als Autorität unkritisch zu folgen. Bei genauer Lektüre relativiert sich ohnehin die Eigencharakterisierung der literarischen Figur, berichtete Themist doch zuvor, Epikur sei ein ausgesprochener Autodidakt und Eklektiker gewesen (S.104f.). Von ausschließlichen Gegensätzen kann demnach keine Rede sein. Die Epikurrezeption seit der Renaissance unterstreicht nachdrücklich, wie abseitig es wäre, Epikureismus und Eklektizismus als Alternativen aufzufassen. 25 1.5

Funktionen der Gesprächsform

Auf der Linie humanistischer Konversations- und philosophischer Gesprächsliteratur strebt Thomasius nicht allein die Aufklärung des Verstandes seiner Leser an, sondern ebenso eine Erziehung zu gesellschaftsethischer Soziabilität, zu einer Sprech- und Verhaltenskultur. Den Titel eines Präzeptors verdient, wer wie Epikur „andere in Erforschung der Wahrheit nützlicher und dem menschlichen Geschlecht ersprießlichen Sachen oder in Führung eines tugendhafften Lebens und Wandels unterrichtet" (II/7, S. 107). Thomasius' leitmotivische Kritik an Pedanterie enthält als Folie das Gegenbild eines unpedantischen geselligen Gelehrten. Er nutzt die didaktische Verdopplung und Ästhetisierung der Gesprächsform, die seit Valla, Castiglione, Erasmus, Guazzo, Harsdörffer, de Vaumorière sowohl inhaltlich wie durch die geistreiche Form und gewinnende Manieren der Gesprächsteilnehmer belehrt.26 Reflektiert wird im Gespräch über das Gespräch und seine Gesetze. Ironisch stellen die Gesprächspartner in 1/3 Zusammenhänge zwischen Redseligkeit und jeweiliger Lieblingsphilosophie aneinander fest. Nicanor, der auf die Alten schwört, spöttelt: „Wenn man den Herrn Bruder auf die Cartesianer bringt / so gehet sein Maul in völligen Gallop / und dencke ich allemahl an eine bekante Historie / die sich in Niedersachsen zugetragen [...]" (1/3, S. 353). Die niedersächsische Anekdote von den stummen Jungfern an einer Hochzeitstafel, denen die Frage „Jungefrau was gilt der Stein Flachs?" die Zunge so gelöst hat, „daß die Männer ihr eigen Wort nicht mehr hören können", wird als Ball von Clarindo aufgenommen und spielerisch returniert: Weil Nicanor bisher so viel geschwiegen habe, „will ich denn [!] Mann auf der Hochzeit agiren und frage ihn also gantz förmilich [!] und zierlich: Mein Herr Nicanor / was macht denn der ehrliche alte teutsche Aristoteles?" (1/3, S. 354). Aufgenommen ist zunächst die Maxime der Konversationslehre, solche Gesprächsthemen zu suchen, die den Partner interessieren und von denen er etwas versteht.27 Das nämliche Beispiel wird schon von Christian Weise in seinem Ro-

25 26

27

Vgl. Kimmich, (wie Anm. 12), S. 16, 70. Vgl. Beetz, Manfred: Frühmodeme Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsideale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990, S. 65ff. Beetz, Manfred, Leitlinien und Regeln der Höflichkeit für Konversationen, in: Adam, Wolfgang (Hg.), Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, 2 Bde. Wiesbaden 1997, II, S. 563-580, hier S. 570ff.

Monatsgespräche

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man Die drey ärgsten Ertz-Narren von 1672 angeführt und in seinem Drama Liebes-Alliance variiert. 28 Auch Tobias Schroedter empfiehlt in seinem Anstandsund Konversationsbuch Allmodische Sittenschule von 1660, mit Frauen zu „flachsen" im Sinn einer Unterhaltung über Flachsherstellung. 29 Die ironischen Spitzen in Clarindos Bemerkung liegen darin, daß er erstens Aristoteles artig zum biederen, beschränkten Vertreter der altdeutschen Opposition gegen moderne französische Kultureinflüsse ernennt und zweitens seine Philosophie auf die Stufe der phatischen Kommunikation stellt, wie das Wetter oder die Zeitungen. Die implizite satirische Gleichstellung des gelehrten Aristotelikers mit ungelehrten Frauen und Spinnerinnen im Gesprächsverhalten ist im Wertekodex des 17. Jahrhunderts für den Adressaten wenig rühmlich. Eleganz und Brauchbarkeit der Lehre werden von Benedict im Horazzitat {De arte poetica, Vers 343) des ersten Monatsgesprächs thematisiert und erläutert: „Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci" (1/1, S. 40). Vorausgegangen war eine Diskussion über Kriterien der Nützlichkeit. Was der Pedant David für ergiebige, brauchbare Themenstellungen hält, hat für andere Gesprächsteilnehmer reichlich Schulstaub angesetzt. Beurteilungskriterien für Literatur liefert die Interpretation der epikureischen Horazmaxime: „daß weder die allein lustigen, noch die allein nützlichen Bücher, sondern diejenigen, so zugleich nützen und belustigen, den Preiß für allen andern meritieren" (1/1, S. 40f.) Zu Recht hat die Forschung auf die zentrale Verschränkung des delectare dùcendo und docere delectando hingewiesen und innerhalb der anthropologischen Affektentheorie von Thomasius die Befriedigung der curiositas als sinnliche Lust interpretiert. 30 Gleichwohl bleibt das Problem noch unbefriedigend gelöst, wie die literarischen Strategien der Satire, Ironie, Parodie in ihrer Aggressivität sich mit den Geselligkeitsstandards der Toleranz und Anerkennung des anderen vermitteln lassen. Beweist nicht die empirische Rezeption der Monatsgespräche die Problematik eines solchen Vermittlungsversuchs? Thomasius hatte mit Widerständen gerechnet, freilich nicht mit dem Entrüstungssturm, der dann über ihn hereinbrach. Pufendorf sollte mit seiner brieflichen Befürchtung Recht behalten, daß dem Adressaten die Monatsgespräche mehr Haß als Anerkennung eintragen könnten. 31 Als Problemlösung hatte Thomasius eine Vermittlung der antagonistischen Intentionen im Konzept einer geziemenden Satire vorgeschwebt, die auf Namensnennung ebenso verzichtet wie auf Frivolitäten der römischen Satire; eine Satire also, in welcher der Satiriker „seine raillerie auff eine etwas höffliche Manier" ausübt (1/2, S. 194, 176f.). Welcher Maßnahmen des Imageschutzes persönliche

28 29 30 31

Ebd., S. 573. [Redtschor, Thisabo], Allmodische Sitten-Schule [...]. Jena 1660, S. 267ff. Jaumann, Bücher und Fragen, (wie Anm. 4), S. 402; Peter, (wie Anm. 4), S. 65. Jaumann, Vorwort, (wie Anm. 4), S. 14ff.

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Kritik bedurfte, damit sie nicht verletze, war dem akademischen Lehrer eines Konversationskollegs und Verfassers einer Klugheitslehre hinreichend bewußt. 32 In seinem Kurtze[n] Entwurf/der Politischen Klugheit schlägt er vor, in Gesellschaft als Sprecherbeitrag anstatt langer Expektorationen eine „lustige Expression, wenn sie die Grentzen der Sittsamkeit nicht überschreitet", einzustreuen. 33 „Im übrigen ist nichts / daß die Warheit und nützlichen Lehren angenehmer machet / als ein zugelassener und höflicher Schertz / denn lächelnd darff man allezeit die Warheit sagen." Die Formulierung nimmt sowohl die Satiretradition anhand des übersetzten Horazzitates auf wie die der Gesellschaftsethik und Rhetorik. 34 Im ausfuhrlichen Gespräch über Satiren in 1/2, S. 176-208, wird auf einer Metaebene Boileaus Autothematisierung des Satireschreibens in seiner 7. und 9. Satire diskutiert (S. 187). Unterschiede zwischen Satire und Pasquill sowie zwischen divergenten Satirekonzepten werden nach ständischen Profilen und kulturellen Standards markiert. Der Pedant David hängt noch der Alamode- und Moralsatire von Moscherosch an, deren Ernst, Plumpheit und Direktheit der frankophile Kavalier Augustin wiederum kritisiert (1/2, S. 177, 181). Auch der Weltmann Christoph distanziert sich vom gezwungenen Scherz des Pedanten und betont die Affinitäten zwischen geistreichem Spott und elegantem Auftreten. 35 Gerade die Gesprächsform verspricht, durch die Einführung unterschiedlicher Charaktere eine individuelle Identifikation des Autorstandpunktes zu erschweren. Neid und Feindschaft wäre der Boden entzogen, wenn es dem Verfasser - wie Erasmus von Rotterdam - offensichtlich um das Charakteristische eines Fehlverhaltens, einer Einstellung oder Institution gehe, nicht um eine biographische Applikation auf einen einzelnen (1/2, S. 205f.). Welche strukturellen Vorzüge empfehlen gerade die Gesprächsform für Thomasius' Anliegen? Zusammengefaßt folgende: 1. Unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten vermitteln das symposionale Gespräch und der Dialog dem Leser verschiedene Sinn- und Erkenntnisperspektiven. Die argumentatio pro et contra kann brisante theologische, philosophische, ethische, literarische Probleme von verschiedenen Seiten im Für und Wider beleuchten und gerade durch die Diskussion eingefahrene Vorurteile auflösen (vgl. 1/2, S. 230ff.).

32

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Beetz, Manfred, Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite. Thomasius in der Geschichte der Gesellschaftsethik, in: Schneiders, Werner (Hg.), Christian Thomasius 1655-1728. Hamburg 1989, S. 197-222. Thomasius, Christian, Kurtzer Entwurf der Politischen Klugheit [...]. Franckfurt und Leipzig 1710, S. 132. Horaz, Satiren, I, 1, 24., in: ders., Sämtliche Werke, lateinisch und deutsch, hg. von Färber, Hans. München 1970, Sermones S. 6. Zur gesellschaftsethischen Tradition s. Anm. 6; Cicero, De officiis I, 103, S. 90; ders., De oratore Π 58, 236; Castiglione, S. 172f.; Casa, S. 78ff.; Pontanus, S. 90ff.; Faret, S. 81ff.; Schottel, Ethica, S. 534ff.; Courtin /Hunold, S. 98f. Vgl. Jaumann, Critica, (wie Anm. 4), S. 284.

Monatsgespräche

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Bezüglich der Vielfalt der behandelten Materien wird der gesellige Diskurs zum Schnittpunkt verschiedener ,Interdiskurse' der akademischen Fachdisziplinen, aber auch allgemeiner Fragen der Gesellschaftstheorie, der Moral, Literatur und Ästhetik. Die interdisziplinäre Zusammensetzung des fiktiven Gesprächskreises garantiert die Erörterung fachübergreifender Fragen und weckt das Interesse breiter Publikumsschichten. 2. Anders als eine Erzählung oder eine trockene Erörterung verlebendigt die Gesprächsform den Abtausch von Argumenten und stellt ihn in dramatischer Präsenz dem Leser vor Augen. Die Lebhaftigkeit der Gesprächsreaktionen aufeinander und ihre dialektische Entwicklung fesseln das auf den Ausgang gespannte Leserinteresse. 3. Das aufgefächerte Spektrum divergenter Auffassungen und Perspektiven realisiert die zunehmende Meinungsvielfalt des Publikums und die Pluralität des literarischen Marktes Ende des 17. Jahrhunderts. Ihr ist sich der Herausgeber bewußt, wenn er sich in Vorreden an den ,,Ungeneigte[n] und geneigte[n] Leser" (1/3, S. 257) wendet oder Figuren im Gespräch darüber räsonieren läßt, daß kein Buch allen gefallen könne. Darum solte es sich nicht übel schicken / wenn man dergleichen Journal in Form eines Gesprächs verfertigte / und einen oder ein Paar alberne Kerl einfiihrete / die ihr einfaltig Bedencken mit vortrügen / die andern aber mit vemünffiigen Ursachen ihre Meinung vorbrächten (1/2, S. 244f.).

Gesprächsimmanent reflektiert der gelehrte Benedict über den Titel der ersten Hefte der Monatsgespräche Verniinfftiger und Einfältiger Gedancken/ über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen. Der unparteiische Leser erkennt, wem der Herausgeber den Vorzug gibt, und der parteiische Leser ist gleichfalls zufrieden, wenn er sich bestätigt fühlen kann (1/2, S. 245f.). 4. Wenn der Autor die Gespräche geschickt inszeniert und sich eines judicii decisivi' enthält, regt er den Leser zum Selberdenken an und trifft gleichzeitig Schutzmaßnahmen gegen empörte Reaktionen von Rezipienten. Vorbild für Thomasius ist hierin Bayle: Er [Bayle, Μ. Β.] wird gar selten sein judicium [...] gleich heraus sagen / sondern er braucht sich einer so wohl gedreheten / und doch dabey so empfindlichen Art, daß, ob es gleich einen Widersacher nothwendig ein wenig beisset / er doch keinen Ort recht findet / da er ihn mit Nachdruck wieder anfassen könte. (1/2, S. 243). 3 6

Gefahren des Kritikeramtes, die in seiner Anmaßung als Zensorinstanz liegen, soll der Gesprächsrahmen begegnen. Darum schlägt Benedict im Sinn seines Schöpfers vor, daß Diskutanten rationale Argumente

36

Zu Bayle und Thomasius vgl. Jaumann, Herbert, Frühe Aufklärung als historische Kritik: Pierre Bayle und Christian Thomasius, in: Neumeister, Sebastian (Hg.), Frühauflclärung München 1994 (Romanistisches Kolloquium. Bd. 6), S. 149-170.

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Manfred Beetz meistentheils [...] mehr per modum objeetionum, als eines judicii decisivi setzten. Denn auff diese Weise dürffie man dem Autori nicht Schuld geben / daß er sich anmasse in República Litteraria, da alle Gelehrten gleich zu achten / über dieselben Richter zu seyn (1/2, S. 245).

Figuren mit Vorbildcharakter oder in Moderatorenfunktion enthalten sich im Sinne einer Leseraktivierung nicht zufällig lange Zeit oder gänzlich eines Urteils.37 In der Disputation des dritten Monatsgesprächs zwischen dem Aufklärer Clarindo und Nicanor, der auf die Alten schwört, enthält sich am Ende der Staatsminister Polydor, ihr gemeinsamer Gönner, als Praeses einer abschließenden Bewertung (1/3, S. 446). 5. Die Dialogizität ist fur Thomasius die einzige Möglichkeit einer Annäherung an die Wahrheit. Er geht so weit, selbst eigene Auffassungen dialogisch zu relativieren: „Dieses sind meine Gedancken über die Geschichte f...] also gebe ich sie auch für keine unstreitigen Wahrheiten aus" (II/2, S. 154). Die Anerkennung der Begrenztheit singulärer Perspektiven kann ihre Öffnung nur vom Dialog mit anderen erwarten. 6. Geselligkeit antizipiert fur Thomasius als literarisches Motiv auch Wunschbilder und ,Gegenwelten', die vor der realen Ständegesellschaft eine demokratische Kommunikationsgemeinschaft entwerfen oder auch zur Ästhetisierung bestehender Sozietätsformen beitragen.38

2.

Philosophenroman und philosophische Gespräche

Für die Philosophie propagiert Thomasius einen neuen Lebens- und Wissenschaftsstil: Der ,Hofphilosoph' verknüpft Lebensart mit Lebensweisheit. Seine Philosophie soll von allgemeinem Interesse und unterhaltsam sein, sich menschenfreundlich nach dem Muster des lachenden Epikur als „fröhliche Wissenschaft" präsentieren.39 Das entspannende Lachen nimmt satirischen Invektiven ihre Schärfe, wirbt um Konzilianz und kann theoretisch zum äußeren und inneren Frieden beitragen, an dem Thomasius in späteren Jahren so viel liegt.40 Andererseits täuschte sich Thomasius nicht über die Unüberbrückbarkeit von Meinungsgegensätzen, die in prärationalen Affektschichten der Seele über die Sozialisiation und Lebensform verankert werden, und schätzte das utopische Potential des friedlichen Gesprächs in seinen realen Chancen angesichts von Interessenkonflikten auch in den Monatsgesprächen illusionslos ein. Die ,Gesellschaft der Müßigen' zerschlägt 37 38 39

40

Die Urteilsenthaltung, die ,epoché', ist auch eine Konsequenz pyrrhonistischer Skepsis. Vgl. Peter, (wie Anm. 4), S. 19f. Schneiders, Werner, Nicht plump, nicht säuisch, nicht sauertöpfisch. Zu Thomasius' Idee einer Philosophie fur alle, in: Fontius, Martin, Schneiders, Werner (Hg.), Die Philosophie und die Belles-Lettres. Berlin 1997, S. 11-20, hier S. 13, 17f. Schneiders, Werner, Christian Thomasius und die Philosophie des Friedens, in: Vollhardt (Hg.), (wie Anm. 3), S. 467^177, hier S. 4 6 9 ^ 7 1 .

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sich im 2. Heft des 1. Jahrgangs im wörtlichen Sinn: Es kommt wegen eines Zeremoniellstreits, auf den schon die erste Widmung anspielt, zu Handgreiflichkeiten, so daß die hitzigen Disputanten in den Hobbesschen Naturzustand, den Krieg aller gegen alle, zurückfallen (1/3, S. 257f.). Auf den Naturzustand hatte bereits das Titelkupfer des vorausgehenden Heftes hingewiesen, das eine Szene festhält, in der eine Auseinandersetzung über Satiren selbst zum Gegenstand der Satire wird. Das Gebalge von Hund und Katze setzt auf der animalischen Ebene und in Anspielung auf den Froschmäuseier das Wortgezänk der Disputanten fort (1/2, S. 111, 214221). An zwei Textbeispielen soll untersucht werden, wie Thomasius sein Philosophiekonzept ungeachtet seiner Skepsis in literarische Strategien umsetzt und ästhetisiert; ferner warum ihm eine versöhnliche Lektüre eher im zweiten Beispiel, dem Philosophengespräch von II/7, als im ersten, dem Aristoteles-Roman von 1/4 gelang, obwohl auch dort trotz tolerantester Gesprächsführung am Ende jeder Philosoph - wie üblich - bei seiner Meinung bleibt. 2.1

Der Aristotelesroman in 1/4

Um Schablonendenken aufzubrechen, tischt der Binnenerzähler Cardenio mehrere Versionen einer Geschichte auf, ohne zugleich die Haftung für eine davon zu übernehmen. Im Gespräch zweier Brüder, von denen der ältere als Philosoph Romane von oben herab behandelt, während der jüngere, Cardenio, sie gern liest, aus dem Französischen übersetzt, ja als Romanautor einen stattlichen Nebenverdienst einstreicht, wird beiläufig die Produktion von Romanen in ihren ökonomischen und poetologischen Herstellungsbedingungen, in ihrem spezifischen Wahrheitsanspruch thematisiert. Die erste Version ist unter quellenkritischer Diskussion als historische und quellennahe Biographieversion eingeführt (1/4, S. 468f., 496f.).41 Anhand der anderen beiden Versionen präsentiert der Erzähler sein Fabuliertalent und hebt gerade den erfinderischen Umgang mit Quellenmaterial als kreative Leistung hervor: „es müste ein einfaltiger Kerl seyn / der eine Sache nicht auff zweyerley Art erzehlen könte" (S. 500). Modern mutet hier die Thematisierung der Fiktionalität und Konstruktion biographischer Entwürfe an. Der poetischen fictio wird ein rhetorischer Spielraum divergenter Entfaltungen eingeräumt. Alle Versionen konvergieren allerdings in der gemeinsamen Tendenz der satirischen Dekonstruktion einer abendländischen Autorität. Hier liegt die Provokation für das Zeitalter des Spätbarock: Aristoteles wird verlacht und bleibt als Gegenstand des Spottes fern von einer angemessenen Würdigung. Im freien Umgang mit biographischen Quellen der Antike schneidet der Erzähler die erste Romanversion auf Weltleute, die zweite auf Scholastiker zu, ohne daß von einer Relativierung der 41

Vgl. Düring, Ingemar, Aristotle in the Ancient Biographical

Tradition. Göteborg 1957.

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Perspektiven damit die Rede sein könnte. Der allerchristlichste Aristoteles wird in beiden narrativen Fassungen als geil, liederlich und intrigant hingestellt und demontiert. In der Version fur Weltleute ist allenfalls das Liebesleben des Stagiriten genauer durchleuchtet. Die Schilderung der lasziven Naturexperimente in der Jugend und der erotischen Unersättlichkeit im Mannesalter stellte einen Affront angesichts der Heiligsprechung des Philosophen in der Scholastik katholischer und protestantischer Provenienz dar (S. 484). Nicht nur für die jesuitische Gegenreformation, sondern auch für die lutherische Orthodoxie verkörperte er die philosophische Autorität, nachdem Melanchthon und Joachim Camerarius dem Aristotelismus zur Geltung verholfen hatten. 42 Andererseits ordnet sich Thomasius' Satire in eine ebenso beachtenswerte antiaristotelische Tradition ein, die aus unterschiedlichen Quellen der Humanisten und philosophischen Schulen gespeist wird: im 16. Jahrhundert von Paracelsus, Agricola, Hutten, Erasmus, Reuchlin, Ramus, Valentin Weigel, im 17. Jahrhundert von Bacon, Descartes oder Pufendorf. 4 3 Das Motiv der Erotomanie verknüpft der Erzähler mit dem der Schminke, Verstellung und Doppelmoral. In der ersten Romanversion insinuiert sich Aristoteles nicht zufallig durch Puder und Schminke bei Kupplerinnen, „Adriatischen Rosemunden" und durch geschmeidiges Talgöl bei galanten Damen in Athen, bis er sich bei einer Dame von Rang eine Geschlechtskrankheit holt, „die hier morbus Corinthiacus hieß" (S. 470), was der zeitgenössische Leser nur mit .Franzosenkrankheit' übersetzen kann. Korinth war im Altertum wegen seiner Sittenlosigkeit berüchtigt. Auch der Apostel Paulus warnt in 1 Kor. 5,1 und 9ff. vor der um sich greifenden Unzucht in der Stadt am Fuße des Berges Akrokorinth. Dort stand ein Aphroditetempel, in dem nach Strabo sakrale Prostitution getrieben wurde. Mit politischer Verstellung und psychologischer Raffinesse erobert der Stagirite in der Erzählhandlung eine Prinzessin durch Gespräche gerade über platonische Philosophie (S. 475f.). Seine Sinnlichkeit blüht stets im Verborgenen auf. So flirtet in der Romanversion für Scholastiker Aristoteles mit der Königin bevorzugt unter vier Augen. Als ihr einmal das Schuhband aufgegangen war, „warff sich Aristoteles wie ein Blitz zu ihren Füssen / und kriegte sie beym Fusse" (S. 522f.). Er nutzt die Geste tiefster Verehrung für eine zärtliche Liebkosung und wird mit dieser Pose und dem Stilus humilis vor dem Leser gedemütigt. Ähnlich beginnt er bei einem Gastmahl, mit den Knien unter dem Tisch „zu löffeln" (S. 549). Die situativ treffende Metapher charakterisiert in ihrer Doppelbedeutung wiederum die Doppelmoral des geehrten Philosophen auf dem sichtbaren Ehrenplatz mit seinen unterschwelligen Lüsten. In einer schamlosen Intrige erpreßt er schließlich die Königin mit dem Hinrichtungsbefehl für ihren Geliebten: Entweder sie gibt sich dem Haupt der Peripatetiker hin oder er wirft ihr in alttestamenta-

42

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Pilling, Dieter, Christian Thomasius - Aufklärer, Wissenschaftler, Publizist, Schriftsteller, in: Weimarer Beiträge 5 (1990), S. 735-754, hier S. 739f. Ebd., S. 744.

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rischer imitatio den abgeschlagenen Kopf des Geliebten zu Füßen (S. 555ff.). Der Erzähler läßt Olympia noch ohnmächtig aufs Bett sinken, um analog zu Molières Titelkupfer das weitere Geschehen dem versteckten Zeugen Stefano und - in der Tradition des erotischen Romans - der Voyeurphantasie des Lesers anheim zu stellen: „Hier kanstu nun leicht selbst gedencken / auff was für Weise Aristoteles sie wieder zu sich selbst gebracht / und was Stephano hierbey / als er dieses gesehen / [...] angemercket" (S. 573). Mit dem Mantel der Heuchelei deckt Aristoteles auf der Fiktionsebene erfolgreich seine Lüsternheit und gewinnt am Ende die Zuneigung der Königin. Ins Bild gesetzt über seinen wahren Charakter wird nur der Leser. Schon Seneca hatte sich ähnlich der Mantelmetaphorik zur Demaskierung lasterhafter Weisheitslehrer bedient, die ihre Genußsucht in den Falten eines Philosophenmantels verbergen. 44 Relevanz gewinnt das Mantelmotiv jedoch nicht nur für die Demontage des Helden, sondern auch zur Kennzeichnung vorbildlicher und aktueller Züge. Aus Liebe zu einer jungen Prinzessin wendet er sich von Piatons Lehre und Lebensstil ab und kleidet sich galant, weil sie / die an ihres Vaters Hoff keine Mäntel und Hälsgen gewohnet war / ihm par raillerie das Hälsgen off'te zuknöderte / seine Mantel-Reverentzen auslachte / auch ihn an seinem Namens-Tage mit einem Halstuche / welches sie selbst genehet / anbunde (S. 476f.)

Die bewußt anachronistische Technik der Verhaltensbeschreibung und Aufzählung modischer Accessoires des späten 17. Jahrhunderts im altdeutschen Reich macht nicht nur den Anachronismus der aristotelischen Philosophie lächerlich, sondern stilisiert den Habitus des antiken Philosophen wie den des eigentlichen Verfassers seiner Biographie: Aristoteles rebelliert gegen Standeskonventionen und gegen ihre Konservatoren. Wo Piaton einen schwarzen Gelehrtenmantel in seiner Akademie erwartet, provoziert ihn sein Schüler in französischer Modekleidung und mit umgürtetem Degen (S. 477f.). Auch seine Eroberungen bei Damen verdankt der Philosoph seinem galanten Habitus. 45 Thomasius stellt Aristotelikern einen Aristoteles vor, der äußerlich mehr dem Bild des Antiaristotelikers Thomasius als deren eigenem Aristoteles-Bild entspricht. Die Pointe der perspektivischen Vertauschung zwingt den Leser, festgehaltene Betrachtungsweisen zu überprüfen. Wird der etablierte Aristotelismus dem antiken Lehrer gerecht? Haben in der Moderne neue Lehrer Aristoteles in seiner Bedeutung abgelöst? Paradigmenwechsel werden in ihren sozialen Voraussetzungen und Begleitumständen vor Augen geführt. Eine

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Seneca, Vom glücklichen Leben, cap. 12, in: ders., Philosophische Schriften, (wie Anm. 19), S. 20. Monatsgespräche 1/4, S. 490f.: „Weil denn Aristoteles bey weitem nicht so verdrießlich aussehe / als ihn unsere Mahler und Kupfferstecher abzubilden pflegen / sondern ein auff Frantzösische Manier auffgesetztes Bärtchen nebst einer blonden Perruque zutragen [!] pflegte / auch sich täglich selbsten mit dem Talcköhl zusalben gewohnet war", konnte der Erfolg nicht ausbleiben.

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der größten philosophischen Autoritäten im Abendland hat, bevor sie eine wurde, gegen eine andere Autorität aufbegehrt. Welche Rolle kulturelle Normen und individuelle historische Konstellationen für die Durchsetzung oder Verhinderung von Paradigmenwechseln spielen, wird an den Hauptkontrahenten illustriert. Plato mahnt das vierte Gebot der mosaisch-christlichen Gesetzestafel an, um jeder Abweichung von der Parteilinie, jedem Fortschritt einen Riegel vorzuschieben. Den rebellierenden Aristoteles treffen die nämlichen Vorwürfe, die auch Thomasius zu hören bekam: allen voran der Atheismusverdacht. Nach Quellenberichten erhob Aristoteles' Rivale Eurymedon, der theologische Leiter der platonischen Akademie, schon diesen Vorwurf gegen Aristoteles (S. 467f.). Er wurde als Ketzer nicht anders stigmatisiert als heute seine Gegner. Dem juristischen Romanerzähler Cardenio sind die theologischen Gegenpositionen gegen das moderne .atheistische' Naturrecht vertraut. Es wendet sich in seiner Begründung der Geselligkeit ausschließlich aus der menschlichen Vernunftnatur gegen theologische Fundierungen, denen zufolge Naturrechtsgebote auf göttliche Gesetze hinausliefen.46 Der andere Vorwurf an die Adresse von Aristoteles wie Thomasius erschöpft sich in peripherer Habitusmäkelei. Aus Mangel an schlagenden Argumenten weicht schon Plato auf Äußerlichkeiten aus und wirft im Roman Aristoteles seine weltlich-höfische Kavalierstracht des Alamodezeitalters vor (S. 462). Biographischer Hintergrund ist die Weltzugewandtheit und Aufgeschlossenheit für Lebensgenüsse, die Aristoteles asketischen Piatonikern verdächtig machte. Für den Leser wiederholen sich strukturelle Gesetzmäßigkeiten von Paradigmenwechseln. Sie erweisen sich relativ unabhängig vom Wahrheitsgehalt und der empirischen Stringenz einer Theorie und sind in Lebensformen eingebettet. Innovative Hypothesen stünden ohne Zuhilfenahme der Privatklugheit gegenüber den etablierten Sachwaltern eines Lehrmonopols auf verlorenem Posten. Die Notwendigkeit privatpolitischer Schachzüge zur Durchsetzung eigener philosophischer Interessen gegen eine Clique tonangebender Meinungsführer wird an Aristoteles' Berufung an den Hof Philipps exemplifiziert. Gerade die Nachfolger des Peripatos können sich in der makedonischen Opposition wiedererkennen. Andererseits wird der Leser über die Gerissenheit von Aristoteles und die korrespondierende Einfalt von König Philipp nicht im unklaren gelassen. Der satirische Erzähler wählt die Mittel der erkennbaren Diskrepanz von expliziter und impliziter Figurencharakterisierung und eklatantem Anachronismus zur heiteren Didaxe. Man gibt am Mazedonischen Hof, an dem Aristoteles seit geraumer Zeit lebt und liebt, ein barockes Festmahl für den gefeierten Prinzenerzieher und seinen Zögling Alexander, der eben mit Glanz eine endlose Prüfung über allerhand logische und grammatikalische Quisquillen absolviert hat. Als Philipp der Wein vom vielen Zutrinken zu Kopf gestiegen ist, trinkt er Bruderschaft mit Aristoteles, der unter 46

Schneiders, Werner, Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim / New York 1971, S. 10.

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dem Tisch gleichzeitig Kniekontakt zur Königin hält. Philipp läßt sich ein großes venezianisches Glas einschenken, kniete mit dem Aristoteles nieder / reichte ihm seine Hand / und sprach: Siehe da du lieber Bruder / ich heisse Philippus König in Macédonien. U n d ich / antwortete unser Philosophus, heisse Aristoteles, Printzlicher Hoffmeister daselbst (S. 549f.).

Das in der Barockzeit im altdeutschen Reich verbreitete Ritual des Bruderschaftstrinkens verkleinert den treuherzigen Philipp nicht nur optisch: Er stellt sich einem Prinzenerzieher vor, den er persönlich berufen hat und der ihn bestens kennt. Mit seiner wahren Auffassung über Philipp rückt Aristoteles bald gegenüber der Königin heraus, wenn er sie an ihr Versprechen erinnert, den Würdigeren, also ihn selbst, anstelle des einfältigen Philipp zu umarmen (S. 560). Die Saufbrüderschaft der historischen Prominenz - Aristoteles galt im Mittelalter als der ,philosophus' schlechthin - karikiert Piatons Staatsutopie: Philipp weint schon vor der Verbrüderungsszene angesichts von Aristoteles' Lernerfolgen bei Alexander vor Rührung, weil er jetzt Piatons Dictum versteht, dass die glücklichsten Staaten diejenigen sind, in denen Philosophen Könige werden (S. 548). 47 Um Konkurrenten auszuschalten, schreckt Aristoteles nicht vor sophistischen Trugschlüssen und Taschenspielerkünsten mit Hilfe eines metaphysischen Zaubermantels zurück, in den Piaton seine Distinctiones gebannt hatte. An diesem Requisit tritt die Realitätsfremdheit der Scholastik ebenso zutage wie an der von Thomasius wenig geschätzten syllogistischen Disputiermethodik und den behandelten Problemen. 48 Wenn er zu bedenken gibt, „daß Aristoteles seine distinctiones nicht im Kopff / sondern im Mantel hatte" (S. 508), stellt er die aristotelische Dialektik als eine äußere formale Übung hin, deren Unterscheidungen ohne klärenden Sachbezug bleiben. Rabulistisch zerbricht sich Aristoteles angesichts einer Schwangerschaft den Kopf über die Frage, wie bei der Geburt eines Zwitters christlich vorzugehen sei: „An Hermaphroditus debeat baptizari?" (S. 483f.). Der Erzähler kann sich hier sogar auf lateinische Editionen der aristotelischen Problemata berufen. In seiner Erzähllogik wird Aristoteles mit eigenen Waffen geschlagen. Die Methoden zur Entlarvung sophistischer Trugschlüsse in den Sophistikoi Elenchoi werden als Sophismen zweiter Potenz diskreditiert.49 Mit einem Sorites, der jeder mathematischen Logik spottet, triumphiert er bei der disputatio über die Anzahl der Kardinaltugenden. 50 Der Erzähler parodiert aristotelische Trugschluß47

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Platon, Politela 473aff; vgl. 484aff., 497aff., 502aff., 519cff., in: ders., Werke in 8 Bänden, Griechisch und Deutsch, hg. von Gunther Eigler. Darmstadt 1990. Bd.4, S. 444ff., 468ff., 506ff., 522fr., 568fE Beetz, Manfred, Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 1980, S. 4 4 - 5 0 . Aristoteles, Sophistische Widerlegungen (Organon VI), übers, von Eigen Rolfes. H a m b u r g 1968. Gegen Xenokrates, der an vier Kardinaltugenden resthält, beweist Aristoteles die Existenz von zehn mit folgendem Kettenschluß: „Wo vier Haupt-Tugenden sind / da sind auch dreye / Wo

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analysen, wenn er konstatiert, Biographen, die Aristoteles' Fasten auf seine Liebe zur Philosophie zurückfuhren, begehen eine „fallacia non causae ut causae". 51 Das Mantelmotiv illustriert den Realitätsverlust gelehrter Pedanterie und verhüllt zugleich zweideutig männliche Tüchtigkeit. Der verliebte Galan rühmt sich anzüglich seiner „virtutes togatae" vor der Königin und fahrt mit einem zweischneidigen Eigenlob fort, den Mangel an praktischen Tugenden ersetze sein Reichtum „an virtutibus theoreticis"; rangiere doch das höchste theoretische Gut vor dem höchsten praktischen (S. 534). Mit dem Mantel der Heuchelei deckt Aristoteles bei Thomasius seine Lüsternheit und wird zugleich mit Distinktionen, Syllogismen in den Manteltaschen und langem Bart zum Urbild des Pedanten Barbon entsprechend dem Präzedenzkarussell der Widmung. 52 Mit der Frage, was das summum bonum sei, schneidet der Erzähler ein zentrales Problem der antiken Philosophie an: Ob das höchste Gut die Eudaimonia, Hedone oder Phronesis sei, war eine umstrittene Frage. 53 Epikur identifizierte es mit der Hedone, für Plato ist die Lust als Werden ihrem angestrebten Ziel untergeordnet, Aristoteles nimmt zwischen Akademie und Gartenphilosophie eine mittlere Position ein. Für ihn ist die Lust zeitenthobener Vollzug des bios theoretikos, der höchsten Lebensform und Annäherung an die göttliche Seinsweise. 54 Der literarische Aristoteles rühmt sich vor der Königin, kraft seiner Spekulation alle Geheimnisse der Natur zu entdecken. In der Tat weisen ihn seine naturwissenschaftlichen Schriften als kenntnisreichsten Philosophen der Antike aus. Da sein Mantel im Monatsgespräch Eisenknöpfe hat, vermag ihn die Königin mit einem großen Magneten an sich zu ziehen. Den Magnetismus erklärt er freilich durch eine „qualitas occulta", so daß sich die Königin verständlicher Weise nach der Erklärung ebenso klug dünkt wie zuvor. Thomasius' Anspielung auf den platonischen Erosbegriff, der den gesamten Kosmos bis hinab zu anorganischen Stoffen durchwaltet, gehört zu einem spielerisch freien Umgang mit Versatzstücken, intertextuellen Verweisen, Zitaten der Tradition, der geradezu an postmoderne Verfahren erinnert. Im Zaubermantel jongliert ein Magier mit Anspielungen auf das Volksbuch und die antike Historiographie. Als der von Plato enterbte Aristoteles seinen Konkurrenten Speusipp auch zum Ablegen des schwarzen Mantels verführt, gürtet dieser sich aus einer Profilneurose zusätzlich mit einem Säbel, worauf Plato mit den Worten verscheidet „Auch du mein Sohn", mit Sterbeworten, die später Cäsar dankbar von ihm übernimmt (S. 477f.). Wenn für die Dekonstruktion das Aufbrechen ideologischer Schablonen und starrer Denksysteme wesentlich ist,

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dreye sind da sind auch zweye", wo zwei sind, auch eine. 4 + 3 + 2 + 1 Kardinaltugend ergibt zusammen 10 (1/4, S. 509). Aristoteles, (wie Anm. 49), 167b, S. 11. Beetz, Höflichkeit, (wie Anm. 26), S. 264f. Kimmich, (wie Anm. 12), S. lOff. Auch in den Monatsgesprächen 1/3, S. 354f. wird diese Frage diskutiert. Ebd., S. 12fF.

Monatsgespräche

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könnte man Thomasius' parodistische und eklektizistische Verfahren in einer Zeit des Übergangs, in der doktrinäre Traditionen an Plausibilität verloren haben, als Vorformen spielerisch-postmoderner Verfahren gelten lassen. Übereinstimmungen liegen in der skeptischen Verweigerung einer binären Logik, mit der seit Günther Patzig die moderne Oga«o«-Interpretation die aristotelische Syllogistik mengentheoretisch rekonstruiert hat.55 Zumindest in der Verweigerung einer Logik, die andere Erkenntnismöglichkeiten ausschließt, und im Aufweis von Paradoxien, mit denen Texte ihre eigenen Prinzipien subvertieren, zeichnen sich bei allen historischen Differenzen Affinitäten zwischen Thomasius und Derrida ab.56 2.2

Philosophengespräche

über Epikur (II/7)

Im Philosophengespräch des Juli-Heftes von 1688, deren vier Teilnehmer sich den Schulen des Aristotelismus, Piatonismus bzw. Cartesianismus, der Stoa und dem Epikureismus verpflichtet wissen, läßt der ,Herausgeber' die im 17. Jahrhundert dominanten philosophischen Richtungen auf einander treffen. Ihre Vertreter werden nicht allein durch ihre intellektuelle Positionierung, sondern ebenso wesentlich über ihr Gesprächsverhalten charakterisiert. Daß der Cartesianer auch mit Piaton sympathisiert, dürfte auf Descartes' Lehre von den angeborenen Ideen zurückzufuhren sein.57 Am sympathischsten schneidet der Epikurvertreter ab: Er beherzigt zum einen die aufklärerische Maxime, sich von anderen belehren zu lassen, und stellt zum andern die richtige Lebensführung als Kernfrage einer auf Lebenspraxis ausgerichteten Philosophie heraus. In einem reproduzierten und sprachlich beschriebenen Gruppenbild werden die verschiedenen Gründerväter versammelt. Das Tableau erweist sich als Spiegelbild der Gesprächsteilnehmer, die es ihrerseits kommentieren und allegorisch auslegen. Auf dem Heft 7 vorangestellten Kupferstich ist wie in der descriptio des Binnentextes ein eher jugendlicher Epikur schlafend dargestellt, der von drei älteren Herren umgeben ist. Seinen Kopf legt er in Zenos Schoß. Plato vertreibt Stechmücken vom Schlafenden und Aristoteles fängt Grillen. Thomasius' pictura kann als ikonographische Kontrafaktur von Raffaels berühmtem Gemälde „Die Schule von Athen" aus seinem Stanzenzyklus gedeutet werden, das in den Vatikanischen Museen Roms in der Stanza della Segnatura ausgestellt ist. Hier steht ein junger Aristoteles mit der Ethik in der Hand im Zen55

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Patzig, Günther, Die aristotelische Syllogistik. Logisch-philologische Untersuchungen über das Buch A der ,Ersten Analytiken'. Göttingen 1963; Aristoteles, Lehre vom Schluss oder Erste Analytik (Organon III). Hamburg 1975. Derrida, Jacques, Die Schrift und die Differenz. Übers, v. Rodolphe Gasché. Frankfurt/M. 1994, S. 9ff., 422ff.; Culler, Jonathan, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek 1988, S. 24, 96ff., 243. Vgl. Descartes, René, Meditationes de prima philosophia III, 7 und 37, in: Descartes, Philosophische Schriften in einem Band, hg. von Rainer Specht. Hamburg 1996, S. 66, 92ff.; ders., Regulae ad directionem ingeniii II, 4ff„ ebd., S. 16ff.; VI, 6, S. 32ff.; XII, 14, S. 86; Œuvres de Descartes, hg. v. C. Charles Adam u. Paul Tannery, Bd. 8/2. Paris 1974, S. 357f.

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Manfred Beetz

trum neben einem wesentlich älteren Plato, der als Idealist mit dem Finger in den Himmel zeigt; am Bildrand bei Raffael der weinlaubbekränzte Epikur, auf den Stufen der halbnackte Kyniker Diogenes, auf der rechten Bildseite treten große Mathematiker zusammen. Raffaele berühmtes Gemälde wurde schon im 16. Jahrhundert von Marcantonio Raimondi in Kupfer gestochen, später von Sandrart reproduziert, so daß es Thomasius bekannt sein konnte. Für den Leser porträtieren sich in der allegorisierenden Auslegung und ihrer Diskussion die Teilnehmer des Philosophengesprächs selbst. Der scherzende Epikuranhänger Themistius interpretiert die geschlechtslosen Stechmücken, die der freundliche Plato von Epikur verjagt, als Allegorien abstrakter platonischer Ideen. Der schlafende Epikur verkörpert selbst sinnfällig seine Lehre, nach der die Wollust des Gemüts in dessen Ruhe und in körperlicher Schmerzfreiheit liegt (II/7, S. 54ff.). Themistius ergänzend darf man auch Epikurs Schlaf in Zenos Schoß als Anspielung auf den stoisch-epikureischen Synkretismus besonders in der römischen Philosophie deuten: Die Betonung der Bedürfnisminimierung und des Maßhaltens war beiden Schulen geläufig. Seneca - so führt Themistius aus - verteidigte nachdrücklich Epikur (S. 118).58 Der an Lebensweisheit und -praxis interessierte Epikureer legt die naturalisierte Metapher der ,Grillenfangerei' im Sinn der galanten Welt als scholastisches Haschen nach subtilen metaphysischen Distinktionen aus, die wie flüchtige Grillen sich schwer fangen lassen und im Weghüpfen ein großes Gezirpe mit ihrer „Heilige[n] Metaphysic" veranstalten. Der humorlose Aristoteliker widerspricht dieser Deutung seines Konterfeis mit dem Schulmeisterargument, durch eine Verachtung der aristotelischen Metaphysik leiste man nur der Faulheit der Schüler Vorschub (II/7, S. 60-63). Die Kenntnis eines spekulativen, spitzfindig ziselierten Theoriegebäudes hat sich für ihn als Lernziel offensichtlich verselbständigt. Damit bedient sich der Scholastiker Diomedes eines im Doppelsinn ,faulen' Arguments, das den Leser über den Sprecher hinreichend instruiert. Dem gegenüber ist für den Diskurs des Epikureismus seit der Renaissance und verstärkt im 17. Jahrhundert gerade die Wendung vom Spekulativen zum Praktischen, von der Metaphysik zur Naturwissenschaft bezeichnend. Auch Chrysipp, der Anhänger der stoischen Ethik, verrät sich ähnlich wie der Aristoteliker Diogenes - beide sind nicht zufällig verschwägert - durch seine Vorurteile. Als er wahrnimmt, daß Themist sich mit Mathematik befaßt, schöpft er gleich Verdacht: „Denn die Mathematici sind gemeiniglich böse Christen" (II/7, S. 45). Analog fürchtet der Aristoteliker Diogenes, wegen seines Vetters Themistius selbst als „Epicurer [!] oder Atheisten" verschrien zu werden (S. 49). Die Gleichsetzung von Epikureismus und Atheismus stützt sich auf Epikurs ,Polydeismus', demzufolge die Götter keinen Einfluß auf den Menschen nehmen, und auf seine Ablehnung der Unsterblichkeit der Seele. Zweck der Ideologiekritik

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Seneca, Vom glücklichen Leben, (wie Anm. 44), cap. 12f., S. 20f.

Monatsgespräche

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Epikurs ist es, die göttliche Einflußsphäre auf die Welt als menschliche Angstprojektion zu entlarven. 59 Im Gefolge Epikurs spielen schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts Vanini und La Mothe le Vayer den Epikureismus gegen die christliche Theologie aus, und spätere Autoren wie La Fontaine, Bayle oder Fontenelle erklären mundane und kosmische Naturphänomene ausschließlich mit Hilfe der Naturwissenschaft. 60 Der Erzähler kennzeichnet in Regiebemerkungen zum Konversations- und Diskussionsverhalten seine Figuren nach dem Grad ihrer Kultiviertheit: Chrysipp macht seinem Schwager Vorwürfe für seine Hochschätzung Themists, der doch sehr voreilig und sophistisch argumentiere. Diogenes verteidigt ihn, berichtet, der Jurist mit dem sprechenden Namen habe vor, in einem öffentlichen Amt zu wirken und unverheiratet zu bleiben, quod Vir Politicus debeat carere Religione, Pudore, Uxore. Dannenhero - Behüte Gott (rieff hier Chrysippus überlaut, indem er drey Schritte zurücke Sprunge, das Creutze vor sich machte, seine Augen gen Himmel hub, und die Hände in einander faltete / ist Themistius so ein Atheistischer Vogel? (Π/7, S. 17).

Die im Textbild durch zwei Gedankenstriche und Zeilenabsatz hervorgehobene Aposiopese zeigt als Stilmittel der verpönten Redeunterbrechung den unbeherrschten Sprecher an ebenso wie der „überlaute" Ausruf. 61 Damit handelt er eklatant seiner stoischen Doktrin zuwider, die im Ideal des Weisen die totale Affektenkontrolle durch die Vernunft propagiert. Die topische Heuchlermimik und -gestik der Komödie wird durch Selbstwidersprüche und Übertreibungen - das Kreuzschlagen wie vor dem Gottseibeiuns - dem Leser verdeutlicht. Das Vorurteil der Präzipitanz, das neben dem der Autorität zu den wichtigsten in Thomasius' Vorurteilslehre zählt, fallt auf denjenigen zurück, der es andern mehrfach unterstellt (II/7, S. 69f.). 62 Die possierliche Metaphorik des atheistischen Vogels' verharmlost dysfunktional den vom Ankläger intendierten Ernst des Vorwurfs. Chrysipp verdammt in einem harschen Kanzelton, der ihn allein schon diskreditiert, Christen, die „sich nicht geschämet haben, diesen verfluchten Mann und dessen Schand-Lehre zu vertheidigen" (S. 99). Valla hatte in seinem Dialog De voluptate einen christlichen Epikureismus vertreten, der in der anthropologischen

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Kimmich, (wie Anm.12), S. 15f. Ebd., S. 28, 94. Beetz, Manfred, Der gute Ton. Nonnen der Soziabilität in der Sprecherziehung der Anstandsund Rhetoriktradition, in: Gutenberg, Norbert (Hg.), Kann man Kommunikation lehren? Konzepte mündlicher Kommunikation und ihrer Vermittlung. Frankfurt 1988, S. 19-32, hier S. 28; ders., Leitlinien, (wie Anm. 27/ S. 576. Beetz, Manfred, Transparent gemachte Vorurteile. Zur Analyse der praejudicia auctoritatis et praecipitantiae in der Frühaufklärung, in: Rhetorik 3 (1983), S. 7-33, hier S. 14f.

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Manfred Beetz

Harmonie von Körper und Geist sich im Einklang mit Gottes Schöpfung weiß. 63 Ähnlich warb Erasmus im Dialog „Epicureus" seiner von Thomasius geschätzten Colloquia familiaria für ein fröhliches weltbejahendes Christentum. 64 In Thomasius' Gesprächsrunde war vom Lob Gassendis die Rede gewesen, das den Geistlichen erbitterte. Sein theologischer Kollege Pierre Gassendi nahm die humanistische Kritik am scholastischen Aristotelismus auf und suchte ihn durch einen christlich vertretbaren Epikureismus zu ersetzen, der an der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz eines Schöpfergottes festhielt. 65 Dieser Position schließt sich Themistius als Sprachrohr von Thomasius in seiner ausgewogenen Kritik an Epikurs Leugnung der Vorsehung an (S. 122). Ganz anders als das soziale Verhalten der Dogmatiker und Heuchler wird das vorbildliche Umgangsverhalten des Epikureers geschildert: Er empfängt seine Gäste freudig und mit ungezwungener Höflichkeit im Garten, in dem nach antiker Tradition die ,Gartenphilosophie' entwickelt wurde (S. 41, 110). Er kümmert sich um das Wohl von Körper und Geist, lädt die Gesprächspartner wie schon sein Vorläufer in Vallas humanistischem Philosophengespräch zum Essen ein (II/7, S. 86ff.) 66 Als die Anhänger des Zeno und Aristoteles Epikur genußvoll als Hurenbock, Säufer und Atheisten diffamieren und damit dessen bewährte Abstempelung zum Schwein perpetuieren, hört der geduldige Themistius ihre Expektorationen bis zu Ende an, dankt mit sittsamer Stimme, aber nicht ohne Ironie, daß sie sich, obwohl er nicht ihrer Aufsicht unterstehe, so besorgt um sein zeitliches und ewiges Wohl zeigten (II/7, S. 92f.). 67 Schon während sie sprachen, spitzte er die Ohren. Das wiederholt angeschlagene Ohrenmotiv (vgl. 1/1, S. 16, 88; 1/5, S. 631 ff.) hat einen wichtigen Stellenwert im gesellschaftsethischen Diskurs: Gut-Zuhören-Können gehört nach den Maximen der Konversationslehre seit Plutarch oder Guazzo zu den zentralen Geboten der Höflichkeit. 68 Im Philosophengespräch findet nach Thomasius darüber hinaus die aufklärerische Grundregel Anwendung, sich von andern belehren zu lassen. In einer theatralischen Apostrophe an Epikur selbst verbannt ihn sein Anhänger zunächst einmal, bis er sich in einem ,Totengespräch' sozusagen gerechtfertigt habe. (S. 93). Der Themisjünger Themistius will den Angeklagten Epikur nicht ungehört verdammen, sondern seine Verteidigung anhören (,Audiatur et altera 63

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Sauder, Gerhard, Der reisende Epikureer. Studien zu Moritz August von Thümmels Roman „Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich". Heidelberg 1968, S. 192; Kimmich, (wie Anm. 12), S. 68. Erasmus, Desiderius, Colloquia familiaria. Vertraute Gespräche, übers, von Werner Welzig (= Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, 8 Bde., hg. v. Werner Welzig. Bd. 6). Darmstadt 1967, S. 554-597. Kimmich, (wie Anm. 12), S. 96f. Ebd., S. 69. Kimmich, Dorothee, Lob der ,ruhigen Belustigung'. Zu Thomasius kritischer Epikur-Rezeption, in: Vollhardt (Hg.), (wie Anm. 3), S. 377-394, hier S. 379, 384. Kimmich, (wie Anm. 12), S. 43, 91. Beetz, Leitlinien, (wie Anm. 27), S. 578f.

Monatsgespräche

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pars!'). Sie müsse er jedoch als Advokat selber übernehmen, da der Angeklagte so entspannt schlafe. Der Epikurverteidiger spielt am gekonntesten mit Fiktionen, Philosophemen und literarischen Konventionen. Die thematisierte Doppelrolle verleiht dem Erzähler Schutz bei seinem Verwandlungsspiel. Unausgesprochen kann er durch Parallelisierungen fìir eigene Denkhaltungen, Einstellungen und Diskussionspraktiken anhand des Epikurvertreters werben. Gegenüber Kimmich sehe ich in den Monatsgesprächen deutlichere Affinitäten zwischen den Positionen von Thomasius und Epikur als in den gleichzeitigen Institutiones jurisprudentiae divinae.69 Dieser wird als Selbstdenker und origineller Kopf gewürdigt, der seine Philosophie in der eigenen Muttersprache vorträgt, von Sophistik und Dialektik wenig hält, sondern sich einer schlichten, verständlichen Diktion bedient, so daß er viel Zulauf von Studenten hat (S. 104—114). Bemerkenswert erscheinen sowohl der Inhalt seiner eudämonistischen Philosophie wie die Toleranz und Liberalität seines Diskussions- und Umgangsstils. Seine Anthropologie sucht der menschlichen Natur auch in ihrer Schwachheit zu entsprechen. Durch Mäßigkeit und Keuschheit habe Epikur in seinem Diätetikprogramm die Gesundheit von Leib und Seele zu erhalten gesucht und unordentliche Affekte wie Ehrgeiz, Geldgeiz und Wollust der Kontrolle der Vernunft unterworfen. Epikurs Vorschläge der Bedürfnisminimierung werden hier genuin thomasianisch interpretiert: In Thomasius' eigener Affektenlehre steht genau diese Trias im Zentrum wechselnder Bemühungen, der Verderbtheit des Willens zu begegnen.70 In der Einleitung zur Sittenlehre von 1692 wird als Reaktion auf Kritik am März-Heft 1688 das größte Glück des Menschen in einer ruhigen Belustigung des Gemüts gesehen und Epikurs Kernanliegen pietistisch als „vernünfftige Liebe" uminterpretiert.71 In den Cautelen der Rechtsgelahrheit von 1710 schneidet Epikurs Sittenlehre im Vergleich zur stoischen Ethik besser ab; allerdings würden seine Auffassungen oft entstellt wiedergegeben.72 Schon in den Monatsgesprächen ist aus ähnlichen Erfahrungen die wichtigste Methode, die Themistius zur Aufklärung über Epikur einsetzt, die historische Rekonstruktion seiner Rezeption und ihrer Vorurteile. Um ihrer Genese auf die Spur zu kommen, geht der Sprecher bis in die Zeit des Hellenismus zurück. Aus Konkurrenzneid auf Epikur habe Zeno dessen Gleichsetzung von Eudaimonia und „Wollust" zum Anlaß genommen, ihn als „liederlichen / versoffenen und verhurten 69

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Vgl. Kimmich, Lob, (wie Anm. 56), S. 382f. Bei der Kritik an der epikureischen Erhebung des Nutzens zum Recht fallt Thomasius mit dem Horazzitat in den Zungenschlag der landläufigen Epikurrezeption („Epicuri de grege porci") und warnt vor latentem Atheismus. Thomasius, Christian, Institutiones iurisprudentiae divinae [...]. Francoftirti et Lipsiae 1688,1, S. 50. Thomasius, Christian, Ausübung der Sittenlehre [Halle 1696], Neudruck, hg. von Werner Schneiders. Hildesheim 1968, S. 133f., 170; ders., Höchstnöthige CA VTELEN Welche ein STUDIOSUS JURIS [...] zu beobachten hat. Halle 2 1729, S. 355ff. Thomasius, Christian, Einleitung zur Sittenlehre, hg. v. Wemer Schneiders. Hildesheim 1968, Vorrede unpag. b 5f., S. 85ff. Ders., Höchstnöthige Cautelen, (wie Anm. 70), S. 336f.

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Manfred Beetz

Kerl" zu brandmarken (S. 116). Cicero, Plutarch, Gellius und Galen hätten die Denunziation Epikurs übernommen und den Kirchenvätern vermittelt. Sie stiegen zu den maßgeblichen Autoritäten der Scholastik auf. Die Patres - mit Ausnahme von Hieronymus und Augustin - behandelten Piaton und Aristoteles auf der einen und Epikur auf der anderen Seite verzerrend asymmetrisch: Um die Lehren der ersten beiden mit der Bibel kompatibel zu halten, schieden sie Irrtümer aus und selegierten Brauchbares, während sie an Epikur nur dessen Irrlehren ins Visier nahmen. Gassendi und sein Schüler Bernier haben dennoch einem christlichen Epikureismus zum Durchbruch verhelfen können. Zwei Jahrzehnte später wird Thomasius die Historie als wichtige Quelle zur Entdeckung des Ursprungs von Vorurteilen entwickeln.73 Wie eng Aufklärung an Philosophiegeschichte gebunden ist, hält er in den Cautelen der Rechts-Gelahrheit fest: „Die Historie und Philosophie sind die zwey Augen der Weißheit. Wem eines von beyden mangelt: der ist in Ansehung ihrer genauen Verbindung nur einäugig".74 Wie Thomasius mit Philosophiegeschichte umgeht und sie literarisch inszeniert, erscheint uns aufschlußreich genug, um ihm auch in der deutschen Literaturgeschichte die angemessene Beachtung zu schenken.

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Ebd., S. 93: „niemahls wird der Mensch von Vorurtheilen befreyet / wenn er nicht durch Hülffe der Historie den Ursprung der Vorurtheile erkennet." Ebd., S. 82f.

VOLKER KAPP (Kiel)

Barbon und Tartuffe. Thomasius und die französische Literatur1

Die Forschung über Thomasius hat sich vielfach zu dessen Auseinandersetzung mit Frankreich geäußert. Dabei wurde aus sozialgeschichtlicher Sicht der Unterschied zwischen dem zentralistischen französischen und dem föderalistischen deutschen Staat mit seinen vielen kleinen Höfen oder der Übergang von einer aristokratischen zu einer bürgerlichen Denkweise in den Vordergrund gerückt. Man hat sich auch geistesgeschichtlich mit der Ablösung autoritätsgläubiger Gesinnung durch eine kritische Denkart beschäftigt und in diesem Zusammenhang die Verarbeitung von Descartes oder die Vorbildfunktion von Pierre Bayle gewürdigt. Man kam auch zwangsläufig auf Frankreich zu sprechen, wenn man den Kampf gegen alles Pedantische und das damit verbundene Eintreten für die deutsche Sprache als Kommunikationsmittel in der gelehrten Welt oder für ein weltmännischeres Auftreten der Gelehrten thematisierte. All diese Untersuchungen wurden vornehmlich von Germanisten, Philosophen oder Historikern durchgeführt, die von Deutschland nach Frankreich blickten. Ich möchte als Romanist die umgekehrte Sicht wählen und die vorliegenden reichen Forschungsergebnisse gleichsam durch eine stärkere Berücksichtigung der anderen Perspektive ergänzen. Dabei will ich mich nicht auf die wahrscheinlich höchst unfruchtbare Suche nach Zeugnissen für die mögliche Rezeption von Thomasius in Frankreich begeben, sondern die Thematisierung französischer Verhältnisse bzw. Literatur durch Thomasius mit unserer heutigen Sicht derselben Gegenstände konfrontieren, um den historischen Stellenwert der einzelnen Aussagen oder, wenn man so will, das Selektive seiner Wahrnehmung der damals dominierenden europäischen Kultur herauszuarbeiten. Ich möchte dabei in einem ersten Schritt die Pedantensatire bei Thomasius und Guez de Balzac beleuchten, um aus den literarischen Besonderheiten beider Autoren Rückschlüsse auf die jeweilige konkrete Zielsetzung zu ziehen. Ich werde dann in einem zweiten Schritt einige auffallige Urteile bzw. Fehlurteile über französische Veröffentlichungen in den Monatsgesprächen auf die darin zum Ausdruck kommende Sicht Frankreichs untersuchen. In meiner Schlußbemerkung möchte ich aus dem Verhältnis von Thomasius zu Frankreich allgemeine Folgerungen für die deutschfranzösischen Beziehungen an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert ziehen.

Ich danke Astrid Arndt für ihre Hilfe bei der Vorbereitung dieses Textes.

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Volker Kapp I.

Zur Topik der Polemik gegen das Pedantische gehört in der deutschen Frühaufklärung eine von Guez de Balzac erfundene Gestalt: Monsieur Barbon. Die germanistische Sicht dieser Figur faßt Manfred Beetz in die treffende Formel: „Als Popanz für die gesamte scholastisch-verstaubte Gelehrsamkeit zog man im 17. Jahrhundert in der Figur des Monsieur ,Barbon' speziell den Typ des hochmütig-weltfremden Disputanten durch."2 Guez de Balzac hat 1648 eine Gelehrtensatire mit dem Titel Le Barbon veröffentlicht, auf die sich Thomasius bezieht, wenn er in der Vorrede zu den Monatsgesprächen „Möns. Barbon" anspricht. Diese Satire von Guez de Balzac wurde in Deutschland noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts für so lesenswert gehalten, daß sie in deutscher Übersetzung von Christian Ernst Simonetti 1750 in Frankfurt unter dem Titel Der Schulfuchs herauskam.3 Johann Jacob von Ryssel brachte 1690 in der Märznummer der Zeitschrift Freymüthige Jedoch Vernunfft- und Gesetzmäßige Gedancken Uber allerhand/ fiimemlich aber Neue Bücher eine deutsche Übersetzung von Gabriel Guérets 1670 anonym erschienener Schrift La Guerre des Auteurs Anciens & Modernes heraus, in der Guez de Balzac dafür getadelt wird, daß er in Le Barbon die bei ihm ansonsten übliche hohe Stillage verlassen hat. Er habe, so heißt es in der Übersetzung, „durch seinen Barbort weisen wollen / daß er nicht weniger geschickt sey schertzhaffte Sachen zu schreiben. Er befindet sich aber darinnen betrogen / delicaten Lesern hat er nicht gefallen / und Barbon hat nur seine andere Schrifften verderbet."4 Guérets Äußerung könnte in die Tendenz zur Ablehnung burlesken Stils durch die französischen Literaten eingeordnet werden. Für die deutschen Gelehrten wie Daniel Georg Morhof, dem diese Polemik geläufig ist, bleibt Guez de Balzac gleichwohl der angesehene Schöpfer der klassischen französischen Prosa,5 als welcher er gegen die ungehobelten Schulfüchse ausgespielt und auch von Thomasius für die Polemik gegen die als pedantisch verschrienen humanistischen Philologen eingesetzt werden kann. Eine solche Rolle könnte Guez de Balzac in der zweiten Jahrhunderthälfte in Frankreich jedoch nicht mehr spielen, weil der im Barbon verspottete Typ des Pedanten dort längst nicht mehr für die literarische Welt von Interesse ist. Überdies hat sich dort ein Geschmackswandel vollzogen, der in Boileaus Kritik an Guez de Balzac offenkundig geworden ist. Während also diesseits des Rheins Balzacs Barbon gegen das Pedantische gekehrt wird, wäre jenseits des Rheins der Rückgriff 2

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Beetz, Manfred, Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 1980, S. 91. Fromm, Hans, Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen 1700-1948. Baden-Baden 1950, Bd. 1, S. 144. Thomasius, Christian, Freimütige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmässige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, ßirnehmlich aber neue Bücher, Bd. IV/V, Juli-Dezember 1689. Reprint Frankfurt/M. 1972, S. 178. Vgl. Verf., Guez de Balzac en Allemagne, in: Littératures classiques 33 (1998), S. 222.

Barbon und Tartuffe

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auf diese literarische Figur mit dem Makel des Pedantischen behaftet. Für die gleichzeitig in der Vorrede zu den Monatsgesprächen angesprochene Figur von Molières Tartuffe gilt diese Diskrepanz zwischen Frankreich und Deutschland nicht, weil sowohl das Thema jener Charakterkomödie als auch die Dramaturgie von Molière nicht überholt waren. Thomasius muß somit mehr die deutschen Verhältnisse vor Augen gehabt haben, als er den Pedanten in der Figur des Monsieur Barbon personifizierte. Sobald man zu der Erkenntnis gelangt, daß die durch die Gestalt von Monsieur Barbon repräsentierte Problematik des Pedantischen von dem damaligen Verlangen der deutschen Frühaufklärer nach einer größeren Offenheit der Gelehrten für die gesellschaftliche Praxis herkommt, erhebt sich die Frage, inwieweit Thomasius überhaupt konkret an Guez de Balzacs Le Barbon gedacht hat, als er in seiner Vorrede dessen Figur des Pedanten in den Vordergrund rückte. Die Pedantensatire hat in der französischen Literatur seit Rabelais und Montaigne einen ebenso festen Platz wie in der neulateinischen Literatur der Humanisten. Die Verbindung von satirischer Komik und Literaturkritik kennzeichnet Boileaus gesamte Satiren.6 Es wäre demnach denkbar, daß Thomasius an diese Tradition ganz allgemein anknüpft, ohne sich konkret mit Le Barbon von Guez de Balzac auseinanderzusetzen. Doch scheint es mir eindeutige Indizien dafür zu geben, daß Thomasius auf Balzac zurückgreift. Den stärksten Beweis liefert die Struktur des Vorworts. Die rhetorische Technik des paradoxen Enkomiums, die für die Schrift des Franzosen bestimmend ist,7 hat nämlich der Deutsche insofern übernommen, als er die Zielsetzung des Widmungsschreibens in ihr Gegenteil verkehrt. Während nämlich die Konvention verlangt, daß die rhetorischen Register des genus demonstrativum eingesetzt werden, um durch hyperbolisches Lob zwischen dem Werk und dem, dem es gewidmet ist, Gemeinsamkeiten herauszustreichen, kehrt Thomasius das Lob in Tadel um und verkündet unumwunden, daß seine Monatsschrift für alle außer für Monsieur Barbon und Monsieur Tartuffe bestimmt ist, denen sie doch gewidmet wird. Ich sehe hierin einen konkreten intertextuellen Bezug, der nicht bloß eine vage Beziehung zu Balzacs Figur des Pedanten, sondern eine klare Verbindung zu Le Barbon herstellt. Thomasius durchsetzt seine Vorrede weniger als Balzac mit Torheiten der Pedanten,8 doch scheint mir seine Vertauschung des ersten Buchstabens, durch die aus Barbon ein Monsieur Tarbon und aus Tartuffe ein Monsieur Barbuffe wird, 6 7 8

Vgl. Schulz-Buschhaus, Ulrich, Moralistik und Poetik. Hamburg 1997, S. 131 -154. Vgl. Dandrey, Patrick, L'éloge paradoxal de Gorgias à Molière. Paris 1997, S. 211-218. Dieses Verfahren gehört zur Gattung der humanistischen Pedantensatire. Gilles Ménage, dem Balzac den Barbon gewidmet hat, benutzt es ebenfalls in seiner Balzac gewidmeten Satire Gargilii Macronis parasito-sophistoe Metamorphosis (/Egidii Menagli Poëmata, séptima editio prioribus longé emendatior. Parisiis: Apud Petrum Le Petit 1680, S. 3-9, insb. S. 6). Vgl. zum Thema Zuber, Roger, Singularité du Barbon: le comique et la critique, in: XVIIe siècle 42 (1990), S. 317-328, insb. S. 323.

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Volker Kapp

eine analoge Funktion wie Balzacs Spiel mit gelehrten Sottisen zu haben. Thomasius geht zweimal auf diese Vertauschung ein. Zu Beginn des Textes stellt er gelehrte Erwägungen an, ob es sich um einen „Soloecismus"9 handelt. Später bemüht er den heroischen Roman von Andreas Heinrich Buchholz Des christlichen teutschen Großfiirsten Hercules und des böhmischen königlichen Fräuleins Valisca Wundergeschichte, um witzig zu erklären: Was Hercules und Valisca aus Liebe gethan, das wilt du dich bedienen denen vornehmen Leuten an ihrem range nichts zu vergeben, und das Bar zu dem tuffe, das Tar aber zu den bon setzen, und also ist es kommen, daß Monsieur Barbon auff dem Titel mit dem Hintertheile oben, mit dem Vortheile aber unten zu stehen kommen, und vice versa per contra positionem Monsieur Tartuffe mit dem Vordem oben, mit dem Hintersten aber unten. 10

Solche auf den ersten Blick pedantisch wirkenden Späße dürften analog wie bei Balzac als witzige Imitationen pedantischer Gelehrsamkeit gedacht sein. Sie können deshalb auf intertextueller Ebene als deren ironische Verspottung interpretiert werden. Liest man die Vorrede in einer intertextuellen Perspektive, dann fallen nicht nur die Ähnlichkeiten, sondern auch die Unterschiede in der Verwendung des paradoxen Enkomiums ins Auge. Guez de Balzac sieht das Pedantische durch die Randständigkeit im Vergleich zur goldenen Mitte gekennzeichnet, die ein Wesensmerkmal des klassischen Ideals in Frankreich ist und für heutiges Empfinden oft den Makel des Konformismus an sich hat. Gleich zu Beginn von Le Barbon charakterisiert der Autor den Pedanten durch dessen Hang zum Ausgefallenen: Le consentement à quoy que ce soit, ne luy sembla pas estre de la dignité d'un Philosophe, & il s'imagina que sur tout, il faloit s'esloigner du sens commun, parce qu'il ne faut rechercher que les choses rares. Le mot de Commun, le desgousta si fort de celuy de Sens, que deslors il se resolut de n'en point avoir, & de laisser cette qualité vulgaire aux personnes mediocres.11

Der Schulfuchs geht nach Meinung von Balzac in die Irre, weil er den gesunden Menschenverstand verloren hat. Balzac legt an das Wissen ästhetische Maßstäbe an, wenn er den Vorwurf, Monsieur Barbon verwechsle das Abseitige mit dem Schönen, auf das Geistige bezieht: „[...] il prit dans la science le plus incroyable pour le plus beau."12 Diese Haltung charakterisiere die Kranken und mache aggressiv: „Les mauvais Sophismes, qui sont les jouets des Escholiers, estoient les armes de ce Docteur: Il en attaquoit ses meilleurs amis, à table, en conversation, dans

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Thomasius, Christian, Deutsche Schriften. Ausgewählt u. hg. ν. Peter von Düffel. Stuttgart 1970, S. 57. Ebd., S. 60, vgl. zu dieser Stelle Beetz, Manfred, Frühmoderne Höflichkeit. Stuttgart 1990, S. 264f. Œuvres, divisées en deux tomes publiées par Valentin Conrart, réimpression de l'édition de Paris 1665. Genf 1971, Bd. II, S. 691. Ebd.

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l'Eglise, & jusqu'au pied des Autels."13 Der Sophismus, den Schüler zum Witzeln benutzen, wird dem Pedanten zum Ernst und zu einem Instrument, mit dem er Unfrieden stiftet und harmonisches Zusammenleben stört. Die Konformität mit den anderen ist somit für Balzac oberstes Prinzip, weswegen er auch die Rhetorik des paradoxen Enkomiums, wie Patrick Dandrey richtig erkannt hat, im Vergleich zur Renaissance zurückhaltend einsetzt: En un temps où c'est faire preuve de raison et d'élégance que de se conformer au sens commun, la saveur de l'éloge paradoxal ne saurait plus résider dans la complicité facétieuse de l'orateur et du public avec des paradoxes goûtés pour leur virtuosité, voire pour la part de vérité qui s'y révèle sous le masque de la folie. Le comique de l'écriture pseudo-encomiastique tient désormais tout entier dans la charge dont sont accablés les sophismes d'un pédant caricatural. 14

Wenn so an die Stelle der scheinbaren Identifizierung des Autors mit der Torheit des Pedanten eine klare Distanzierung zur Grundlage der Satire wird, schränkt sich nicht nur der Spielraum der Phantasie, sondern auch die Möglichkeit ein, gegen verbreitete Vorurteile anzugehen. Deshalb mußte sich Thomasius zwangsläufig von Balzacs Handhabung des paradoxen Enkomiums in Le Barbon distanzieren. Thomasius rühmt sich in seiner Vorrede, originell zu sein: Eine Vorrede ad Non-Lectorem zu machen, und die Leute zu warnen, daß sie dem Verleger nicht abkauffen sollen? Wenn ihr sie sonsten wo gesehen habt, will ich des Pater Augustini Laurentii Tractat in Folio de Triplici Ente von Anfange bis zu Ende zur Straffe durchlesen. 15

Diese Begründung für die Anwendung des paradoxen Enkomiums ist doppelbödig, weil sie einerseits das ingenium des Autors gegen die traditionelle scholastische Schulphilosophie des Jesuiten Augustinus Laurentius als Inbegriff des Pedantischen abhebt, gleichzeitig aber auch den scharfsinnigen Einfall von Thomasius gegen die gesellschaftliche Konvention ausspielt, der zufolge Periodika oder wissenschaftliche Werke mit einem Vorwort beginnen sollen. Wenn es gar pointiert heißt, die Vorrede sei nur geschrieben worden, „weil der Verleger davor gehalten, es schicke sich nicht, wenn der Titel-Bogen leer wäre,"16 so treibt der Verfasser seinen Schabernack ebenso mit dem intendierten Leser, der als Gebildeter die Gepflogenheit der Verlage kennt, wie mit den beiden Typen, die er aus seinem Leserkreis ausgrenzt Wer sind die intendierten Leser? Der Fiktion gemäß stammen die Monatsgespräche von einer „Gesellschafft der Müßigen."17 Diese repräsentieren sicherlich insofern die Adressaten, als die Gegensätze, die innerhalb der Gruppe bestehen, nicht nur die Voraussetzung zum Zustandekommen eines literarischen Dialoges, 13 14 15 16 17

Ebd. Dandrey, L'éloge paradoxal, (wie Anm. 7), S. 214f. Thomasius, Deutsche Schriften, (wie Anm. 9), S. 62. Ebd., S. 61. Ebd.

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sondern auch ein repräsentatives Bild der unterschiedlichen Standpunkte innerhalb der gebildeten Welt vermitteln. Die Figur des Herrn David wird als „Anverwandter"18 von Monsieur Barbon eingeführt und als Vertreter der bekämpften Pedanten dazu eingesetzt, die Diskussionen anzuheizen und dadurch abwechslungsreicher zu gestalten. Die Front verläuft jedoch nicht so eindeutig, daß der Pedant völlig ausgegrenzt würde, denn schließlich trägt die Vorrede die witzige Unterschrift von „Möns. Barbon le Ronfleur".19 Nun bedeutet diese Signatur wiederum, daß wir es mit einer Paradoxie zu tun haben. Sie signalisiert aber ebenfalls, daß der sich hinter dieser Paradoxie versteckende Autor auf kein Einvernehmen mit den intendierten Lesern rechnen und schon gar nicht als Sprachrohr einer gesellschaftlichen Gruppe auftreten kann. Ein zweiter grundlegender Unterschied zu Balzacs Satire ergibt sich aus der Nennung zweier Figuren, gegen die polemisiert wird: Barbon und Tartuffe. Während der Autor sich ironisch mit dem ersteren identifiziert, hält er zum letzteren eine eindeutige Distanz. Sie betrifft selbstverständlich die Heuchelei, die diese Figur bei Molière charakterisiert und mit der Thomasius selbstredend nichts gemeinsam haben möchte. Sie betrifft aber auch ein zentrales Anliegen seiner Monatsschrift, das in Molières Komödie nicht angesprochen wird: die Bewertung der Romane. Tartuffe ärgere sich, so heißt es im Text, wenn er sieht, „daß man von denen Romainen etwas raisoniret, oder wohl gar von der Liebe einen Diseurs gehalten, und daß man vielleicht unter denen redenden Personen, Frauenzimmer einmahl auffuhren würde."20 Thomasius kontaminiert hier zwei Bereiche, die zwar innerlich zusammenhängen, aber eigentlich mit dem Tartuffe wenig zu tun haben: die moralische Verurteilung von Liebesgeschichten, als die Pierre-Daniel Huët den Roman definiert hatte,21 und die Partizipation von Frauen am geistigen und literarischen Leben. Beide Themen hätte er genauso dem Pedanten zuschreiben können. Da er es nicht tut, erweist er nochmals Guez de Balzac eine Reverenz, der diese Seite der Pedanterie in Le Barbon nicht thematisiert, wohl aber im Frankreich des 17. Jahrhunderts einer der frühen Befürworter dieser Teilnahme der Frau am Geistesleben ist, das sich allerdings dann bei der Konversation im Salon abspielen soll. Balzac entwirft das eben angesprochene Programm im zweiten Discours seiner Œuvres diverses (1644), der den bezeichnenden Titel trägt: „Suite d'un entretien de vive voix ou de la conversation des Romains" und der Marquise de Rambouillet

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Ebd., S. 66. Ebd., S. 69. Ebd., S. 68. Huëts Traité de l'origine des romans erschien 1670 und wurde 1682 ins Deutsche und ins Lateinische übersetzt. Zur Huët-Rezeption in Deutschland und zur Stellung von Thomasius innerhalb dieser Rezeptionsgeschichte vgl. Grimm, Gunter E., Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, S. 416f.

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gewidmet ist. Die Fiktion dieses Textes geht davon aus, daß der Autor hier ein Gespräch vom Vortag schriftlich weiterführt, daß er also in unmittelbarem Austausch mit der Aristokratin steht, die in Paris im frühen 17. Jahrhundert das Zentrum der Salonkultur bildet. 22 Das Konzept der Urbanität, das Balzac dort durch eine Assimilation der zeitgenössischen französischen und der antiken römischen Aristokratie entwirft, 23 steht für jene Zivilisierung, die auch in analoger Weise Thomasius vorschwebt. Doch kann sich der Deutsche nicht wie der Franzose an bereits bestehende Verhältnisse anlehnen, sondern muß ganz im Gegenteil befurchten, daß sein Programm ebenso am Widerstand der Gottesfurchtigen wie an den Grobianen unter den Gelehrten scheitert, die französische Weitläufigkeit ablehnen. Seine Vorrede steckt einen Raum zwischen den beiden extremen Positionen ab, die durch die Figuren des Pedanten Barbon und des Frömmlers Tartuffe verkörpert sind. Der Autor wird überdies durch die rhetorische Struktur des Textes als isoliert dargestellt, weil er nicht wie Balzac an einen Konsens appellieren kann. Dafür kann er wieder größere Kühnheit in der paradoxen Satire entfalten.

II. Das Problem, das Thomasius in der Vorrede mit den beiden Figuren von Barbon und Tartuffe angesprochen hat, nimmt er später in den Monatsgesprächen wieder auf. Herr Christoph, ein Handelsherr, liest den Mercure galant gern, in dem man sich auf vielerley Art vergnügen kan / massen nicht allein das / was an Frantzösischen Hoffe neues passiret / auff eine angenehme Art beschrieben / sondern auch zugleich mit fürgebracht wird wenn ein neues Liedgen in eine anmuthige Melodie gesetzet worden / was ein ander kluger Geist sinnreiches dem Könige zu Ehren / oder sonsten durch auffgebung eines Rätzels u.s.w. verfertiget / ja es werden mehrentheils etliche kurtze Historien von artigen inventionen auff Art der Romane mit beygefüget. 24

Thomasius beschreibt hier diese Zeitschrift präzise und nennt die drei Bestandteile, durch die sie sich beim französischen wie beim europäischen Adel eine breite Leserschaft sicherte. Er betrachtet dieses Organ der Literaten, die sich ganz auf die mondänen Kreise eingestellt haben, selbst als eines seiner Vorbilder, akzeptiert es jedoch nur mit Einschränkungen, die in der Folge thematisiert werden und eine vorzügliche Kommentierung der Vorrede liefern.

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Vgl. Génetiot, Alain, Poétique du loisir mondain, de Voiture à La Fontaine. Paris 1997, S. 118-122. Vgl. die Einleitung und den Kommentar von Zuber zu seiner Ausgabe von Balzacs Œuvres diverses (1644), édition établie et commentée par Roger Zuber. Paris 1995, hier insb. S. 70. Thomasius, Christian, Freimütige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmäßige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher, Bd. I, Januar—Juni 1688. Reprint Frankfurt/M. 1972, S. 23.

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Herr David, dessen Verwandtschaft mit Barbon er in der Vorrede erwähnt, fallt Herrn Christoph ins Wort und bezichtigt ihn, ein Epikureer zu sein. Dieser Vorwurf knüpft an die Romankritik in der Vorrede an, denn für ihn gilt die traditionelle Meinung, daß die Romane die von den Epikureern hoch gehaltene „Wollust" erzeugten, die „aus der Liebe herrühret / weil die Romans doch nichts anders als Liebes-Historien sind."25 Thomasius gibt in der Folge jedoch zu verstehen, daß für ihn der Akzent mehr auf der Historie als auf der Liebe zu liegen hat. Er beurteilt zwar die Lust weniger streng als der Schulfuchs, doch interessiert ihn vor allem die Belehrung über die guten Sitten, die in solchen Geschichten erteilt wird. Diese Bewertung der Romane stimmt mit der damals in Frankreich dominierenden Poetik der .nouvelle historique' und der ,nouvelle galante' überein, die häufig als ,histoire' betitelt werden. Im Gegensatz zu den umfangreichen heroisch-galanten Romanen, die auf die Abenteuer abheben und den freien Lauf der Phantasie über die Gesetze der Wahrscheinlichkeit stellen, tritt gegen Ende des 17. Jahrhunderts die zeitgenössische Realität in den Vordergrund, die mit dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit dargestellt wird26 und, um die Formel von Roland Barthes zu verwenden, einen größeren „effet de réel" erzielt. Eine mittelmäßige Erzählung Philadelphe, Nouvelle Egyptienne von Girault de Sainville wird von Thomasius sehr kritisch besprochen. Er nimmt sie jedoch zum Anlaß, um den Nutzen solcher Werke herauszukehren. Polemisch betont er, daß weil insgemein die Autores dergleichen Erfindungen den Endzweck haben die character eines gewissen affects zu exprimiren / junge Leute die noch nicht in der Welt gewesen seyn / darinnen ohne ihren mercklichen Schaden ein klein wenig die Welt kennen lernen können / welche / obwohl wenige Wissenschafft ich mit Erlaubniß der Herren Metaphysicorum viel höher achte / als alle ihre distinctiones. 27

Bei der Besprechung der Novelle Les Malheurs de l'Amour hinterfragt er die Behauptung, daß man aus den Romanen die Eigenschaften der Liebesleidenschaft 25 26

27

Thomasius, Monatsgespräche I, ebd., S. 24. Vgl. Du Plaisir, Sentiments sur les lettres et sur l'histoire avec des scrupules sur le style. Édition critique avec notes et commentaires par Philippe Hourcade. Genf 1975. Thomasius, Christian, Freimiithige, lustige und ernsthafte, jedoch vemunftmäßige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher, Bd. ΠΙ, Januar-Juni 1689. Reprint Frankfurt/M. 1972, S. 100. Gegen die gelehrten Verächter solcher literarischen Fiktion unterstreicht er, „daß es viel tausendmahl schwerer sey eine dergleichen Historie geschickt zu erfinden / als eine Academische Disputation secundùm quatuor genera causarum zu machen / oder einen Fürstlichen Befehl secundùm modo laudata & nunquam satis laudanda causarum genera zu resolviren / weil dieses gar mit leichter Mühe geschehen / und zur Noth aus den Vasquez, Rodriquez, Sanchez, oder aus denen Systematibus, Compendiis, Tabulis, Manuscriptis, anderer hocherleuchteter Leute zusammen geschrieben werden kan / dahingegen einen characterem morum füglich zu exprimiren, einer dergleichen subsidia nicht findet / in ansehen auff denen heutigen Academien zwar die affecten handgreifilich genung sind / aber sonsten niemand sich umb derselben wahre Beschaffenheit bekümmert / und dannenhero nothwendig derjenige / der sich dergleichen Historien zuschreiben unterfanget / eine Politische Welt Klugheit besitzen muß" (ebd., S. 100-101).

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kennenlernen könne. 28 Seine diesbezügliche Skepsis ist dabei weniger überraschend als sein literarischer Geschmack, der letztlich immer noch das Modell des alten heroisch-galanten Romans dem neuen Typ von Erzählliteratur vorzieht. Seine Vorliebe fiir Mademoiselle de Scudéry29 läßt sich ohne weiteres erklären. Erstaunlicher ist schon, daß er bei der Nennung des Charakters von Affekten La Bruyère übergeht, dessen Les Caractères seit 1688 auf dem Markt, aber Thomasius offenbar unbekannt waren, obwohl 1689 bereits eine vierte, erweiterte Auflage herauskam. Seine Feindseligkeit gegen La Princesse de Cleves von Madame de La Fayette wirkt befremdend. Er weiß, daß diese „Liebes-Historie [...] wegen ihrer Artigkeit fast ein allgemeines Lob erwürbe", 30 findet jedoch die Beschreibung des damaligen französischen Hofes in diesem Roman „sehr weitläufftig" und „verdrießlich." 31 Könnte es sein, daß ihm an derartigen Informationen über den französischen Hof nichts liegt, er durch die Analyse der tatsächlichen höfischen Galanterie in seinen eigenen diesbezüglichen Überlegungen gestört wird und deshalb den Roman ablehnt? Wie immer dem auch sei, er freut sich, seine Meinung in dem Pamphlet Lettres à Madame la Marquise*** sur le sujet de la Princesse de Cleves (Paris 1678) bestätigt zu sehen, scheint aber nicht zu wissen, daß diese Schrift von Valincour stammt. Das negative Urteil des Thomasius über den Roman von Madame de La Fayette muß in diesem Zusammenhang weniger deswegen erwähnt werden, weil es aus heutiger Sicht angreifbar ist, sondern weil Thomasius das gelungenste Beispiel für den neuen Typ von Erzählliteratur verurteilt, die er an der oben zitierten Stelle doch zu den Vorzügen der Mercure galant gerechnet hatte. An literarischem Geschmack kann es ihm nicht gemangelt haben, denn er deckt unerbittlich bei den weniger gelungenen Beispielen dieses Romantyps, die er in den Monatsgesprächen bespricht, die Schwächen auf, und dies sicherlich aus heutiger Sicht völlig zu Recht. Gleichwohl wirkt es verwunderlich, daß Thomasius sich genötigt fühlt, seinen deutschen Lesern Belletristik vorzustellen, die er selbst nur mit großen Vorbehalten liest. Hier zeigt sich etwas Ambivalentes, das auch anderweitig in seinen Äußerungen über Frankreich anzutreffen ist. Thomasius orientiert sich in seinen Monatsgesprächen u.a. am Mercure galant. Diese Art von Zeitschrift paßt insofern in sein eigenes Konzept, als sie eine Öffnung des literarischen Lebens zur besseren Gesellschaft praktiziert, wie sie der gelehrten Welt zuwider ist. Die Abneigung der Schulfüchse gegen eine derartige Weitläufigkeit artikuliert Herr David, der die Begeisterung der Deutschen fur den

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„[...] in Ansehen meines Bedünckens sonderlich der affect der Liebe in denen allermeisten (ich sage in denen meisten) so wunderlich und seltsam beschrieben wird / daß ich glaube / es sey so wenig jemahlen eine dergleichen Liebe / als in denen Liebes-Historien abgebildet ist / in der Welt gewesen / als die Respublica Piatonis" (Monatsgespräche III, S. 115). Ebd., S. 116. Ebd., S. 149. Ebd., S. 150.

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Mercure galant nicht teilt. Er selbst habe ihn nie gelesen, da er kein Französisch könne. Thomasius stellt mit diesem Eingeständnis den Schulfuchs bloß, der nur Latein, die Sprache der Gelehrten, aber nicht Französisch, die Sprache der besseren Gesellschaft, beherrscht. David mokiert sich darüber, daß ietzo alles von Frantzösischer Galanterie angefüllet seyn muß / so gar / daß unter uns Teutschen welche gefunden werden / die denen Frantzosen augenscheinlich flattiren / daß sie dieselben zum Muster teutscher Sitten machen wollen / gleich als ob die Teutschen bißhero Narren und tumme Eselsköffe gewesen wären / ehe sie von der Frantzösischen Galanterie was gewust hatten. 32

Herr Christoph widerspricht zwar Herrn David mit Argumenten, die Thomasius seinerseits ebenfalls gegen die Kritiker an seiner eigenen Zeitschrift vorbringen könnte, doch repräsentiert er keineswegs die Meinung von Thomasius. Das erkennt man in der Fortsetzung des Gesprächs. Herr Christoph wiederholt dort seine frühere Aussage, man könne „sich doch wohl an einen galanten oder sinnreichen Buch delectieren / und deßhalber kan wohl der Mercur Galant vor ein Muster davon passiren."33 Thomasius läßt nun Herrn Augustin intervenieren und Herrn Christoph die französische Kritik, also nicht die der Pedanten, an dieser Zeitschrift entgegenhalten: Doch sind die Gelehrten wegen Lobung des Mercur Galant nicht einig / zum wenigsten recommandiret ihn der Autor des Mercure Historique & Politique in seiner Vorrede sehr schlecht / wenn er vorgiebet / daß ihn fumehmlich zu Verfertigung seines Wercks der Mercur Galant bewogen / weilen / so viel die darinnen enthaltenen Historien angehe / die den Frantzösischen Staat betreffen / so gar parteyisch / auch nichts darinnen enthalten wären / als continuirliche Schmeicheleyen / derer nunmehro Leute von guten Verstände so überdrüßig waren. 34

Die offizielle Panegyrik mißfallt Thomasius ebenso wie Herrn Augustin, dessen Vorwurf, daß diese Zeitschrift letztlich zu leichtgewichtig sei, sicherlich eher die Meinung des Autors widerspiegelt als die Begeisterung von Herrn Christoph. Das Fazit lautet: Ob nun gleich nicht zu läugnen / daß in dem Mercur-Galant noch unterschiedene Anmuthigkeiten enthalten / so sind es doch wahrhafftig / wenn ich sie gegen andere Gemüths Belustigungen halte / rechte Bagatellen. Wannenhero / wenn Herr Christoph auff sein Gewissen reden will / wird er selbst gestehen müssen / daß der Mercur-Galant zu einen Muster eines sinnreichen und zur Gemüths-Belustigung dienenden Buchs/ mit nichten angefuhret werden könne. 35

Thomasius verwendet bei dieser Ablehnung den Begriff „Bagatellen", der in Frankreich damals für unterhaltende Salon- und Hofliteratur verwendet wurde. Er 32 33 34 35

Thomasius, Monatsgespräche /, S. 32. Ebd., S. 33. Ebd., S. 33f. Ebd., S. 34.

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erweist sich damit als ein Kenner der dortigen Terminologie und zieht einen klaren Trennungsstrich zwischen seinem Konzept des Galanten und der galanterie' der französischen Literaten, die für die bessere Gesellschaft schreiben. Wenn Thomasius die Geschichten des Mercure galant gegen die Geschichte ausspielt, die Gegenstand des Mercure historique & politique ist, so hätte er genauso Pierre Bayles Nouvelles de la République des Lettres gegen das Programm dieser mondänen Zeitschrift stellen können. Bayles gelehrtes Organ stimmt wesentlich mehr als der Mercure galant mit den Vorstellungen des Frühaufklärers aus Halle überein, der den französischen Emigranten in Holland als Vorbild empfand. 36 Aus dieser Nähe zu Bayle hat die germanistische und philosophische Forschung eine Bestätigung der Aneignung kritischer Positionen der Frühaufklärung durch Thomasius gewonnen. Sie brauchte deshalb das Verhältnis von Thomasius zur französischen Literatur des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts nicht genauer zu analysieren. Als Romanist muß ich in diesem Punkt die Position von Thomasius präziser zu fassen suchen. Grundsätzlich läßt sich sagen, daß der Kanon französischer Literatur bei Thomasius völlig anders aussieht als bei den Gelehrten der vorhergehenden Generation. Um das Neue am Verhältnis von Thomasius zur französischen Literatur und Kultur herauszuarbeiten, möchte ich den Polyhistor von Daniel Georg Morhof als einen zeitgenössischen Vergleichspunkt heranziehen. 37 Morhof interessiert sich stark für die neulateinischen Werke der Franzosen, vor allem der Jesuiten, die er wohlwollend bewertet, während sich Thomasius hiermit nicht auseinandersetzt. Darüber hinaus kennt und berücksichtigt er viele französische wissenschaftliche Veröffentlichungen. Hingegen blendet er in hohem Maße die französischen Sachtexte aus, die spezieller auf Fragen der Anstandslehre und der Zivilisierung der Oberschicht abzielen. Die ganze literarische Fiktion gehört ohnehin nicht zur Thematik des Polyhistor, aber auch die Diskussion über den honnête homme oder die Konversationsliteratur wird übergangen. Nur die Schriften von Guez de Balzac erwecken seine Aufmerksamkeit, weil sie am Schnittpunkt von gelehrter und mondäner Welt angesiedelt sind.38 Hingegen kommt er nie auf Nicolas Faret zu sprechen, dessen L'honnête homme ou l'Art de plaire à la cour (1630) Thomasius in seinem Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und

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Vgl. Jaumann, Herbert, Frühe Aufklärung als historische Kritik: Pierre Bayle und Christian Thomasius, in: Frühaußlärung. Hg. von Sebastian Neumeister. München 1994, insb. S. 156— 162. Die Unterschiede des literarischen Genres, das von den beiden Autoren verwendet wird, kommen meines Erachtens der folgenden Gegenüberstellung beider Autoren zugute, weil sie Bestandteile des kulturellen Umbruchs sind. Vgl. Verf. (1998), Guez de Balzac en Allemagne, S. 215-226 (wie Anm. 5) und Verf. (2000), Morhof und die Rhetorik, in: Mapping the World of Learning: The Polyhistor of Daniel Georg Morhof, hg. v. Françoise Waquet, Wiesbaden 2000, S. 130-135.

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Wandel nachahmen soll als „Tractätgen" bezeichnet.39 In dieser Gracián-Vorlesung kommt auch Mademoiselle de Scudéry40 als Lehrmeisterin der Galanterie vor. In Faret wie in Mademoiselle de Scudéry thematisiert Thomasius die Kombination von Gelehrsamkeit und Weitläufigkeit, die die Deutschen seiner Meinung nach von den Franzosen übernehmen sollten und die für den Rhetoriker Marc Fumaroli das Charakteristikum der französischen Kultur des 17. Jahrhunderts ausmacht.41 Morhof gehört der früheren Generation an, deren Vorstellungen Thomasius hinterfragen möchte. Er verkörpert den Gelehrtentyp, gegen den sich Thomasius ebenso wie gegen das zugehörige Wissenschaftskonzept absetzt. Dies betrifft nicht so sehr die Person des Kieler Professors für Beredsamkeit, dem er in Besprechungen des Polyhistor in den Monatsgesprächen seine Hochachtung bezeugt,42 sondern die Perspektive, in der Morhof französische Publikationen auswählt. Diese läßt sich am Beispiel der Auseinandersetzung beider Autoren mit dem französischen Jesuiten Dominique Bouhours illustrieren. Bouhours entwickelt in seinen Entretiens d'Ariste et d'Eugène (1671) das Konzept des ,bel esprit', und Thomasius bescheinigt ihm in seiner Gracián-Vorlesung, daß er „die Eigenschafften / welche zu der wahrhafftigen Schönheit des Verstands eigendlich erfordert werden / weitläufftig beschrieben" hat.43 Morhof ignoriert die Entretiens, kennt dafür das zweite Hauptwerk des Jesuiten, La Manière de bien penser dans les ouvrages d'esprit (1687), das er als „sehr elegantes Buch"44 qualifiziert. Er bringt diese Schrift mit Pseudo-Longinos in Verbindung und konstatiert, daß dessen Lektüre nicht weniger Freude als Gewinn bringt.45 Thomasius, der dieses Werk zur Zeit der Abfassung seiner Gracián-Vorlesung noch nicht gekannt zu haben scheint, ist hier völlig anderer Meinung. Seine Besprechung in den Monatsgeprächen nörgelt an so gut wie allem herum. Bouhours sei unfähig, die literarische Form des Dialogs angemessen auszufüllen, denn es gebe in diesen Gesprächen wie bereits in den Entretiens überhaupt keinen Dialog. Der Verfasser erweise sich hier wie dort „als einen Mann von einer grossen imagi-

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Thomasius, Deutsche Schriften (wie Anm. 9), S. 14. Vgl. dazu Knut Forssmann, Baltasar Gracián und die deutsche Literatur zwischen Barock und Aufklärung. Barcelona 1977 (zuerst Diss. Phil. Mainz 1976), S. 154-159, und den Beitrag von Eric Achermann im vorliegenden Band. Ebd., S. 18. Vgl. Fumaroli, Marc, L'Âge de l'éloquence. Rhétorique et ,res literaria' de la Renaissance au seuil de l'époque classique. Genf 1980. Ich unterlasse hier die Analyse dieser Besprechung und der Äußerungen von Thomasius im Laufe der Polemik, in der seine Gegner den Polyhistor gegen die Neuerungen der jüngeren Professors ausgespielt haben. Hierzu wird von Martin Gierl in den Akten des Wolfenbiitteler Morhof-Kolloquiums vom September 1998 alles Nötige gesagt. Thomasius, Deutsche Schriften, (wie Anm. 9), S. 14. Morhof, Daniel Georg, Polyhistor. Neudruck der 4. Ausgabe Lübeck 1747. Aalen 1970, S. 894. Morhof zitiert dort französisch das Urteil von Bouhours über Tacitus. „[...] non minorem fructum, quam delectationem, afferat" (ebd., S. 956).

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nation und Belesenheit / aber von wenig judicio." 46 Er wirft ihm vor, eine „phantastische Rhetoriqve"47 zu besitzen, weswegen „man in dem gantzen Buch nichts antrifft/ als untereinander geworffene Gedancken von allerhand Materien."48 Man fragt sich angesichts dieses Urteils, warum das Buch dann überhaupt besprochen wird. Die kritische Haltung von Thomasius bedarf einer Erklärung. Dabei müssen eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigt werden. Sie rührt in erster Linie von einem Wandel des Rhetorikverständnisses her, denn Thomasius gesteht einerseits ein, daß die Lektüre der von Bouhours gesammelten und diskutierten Exempla Vergnügen bereiten könne, die Verschiedenheit des Geschmacks („gousts")49 der Menschen es jedoch nicht zulasse, daß alle mit dem Geschmack von Bouhours übereinstimmen. Er selber wolle daher selektiv lesen: „Dannenhero wollen wir auch die contenta specialia dieses Buchs zu eines jeden Belieben anheim stellen / und nur eines und anders wenigst draus excerpiren / das nach unsern gout ist / oder daraus unser Judicium von dem Autore bekräfftigt wird."50 Damit sind wir bereits bei einem zweiten Moment, dem Konzept des Geschmacks, das bei Gracián seinen Ausgangspunkt hat und an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert allenthalben in den Vordergrund tritt. Hier ließe sich ein umfangreicher Abschnitt über den Geschmacksbegriff von Thomasius bzw. über die damit zusammenhängende Distanzierung von der traditionellen Rhetorik als Leitdisziplin der Wissenschaften anschließen, wie sie in seiner ausführlichen Besprechung der Censura Philosophice Cartesianœ von Pierre Daniel Huët zum Ausdruck kommt.51 Dies würde aber zu weit von unserem Thema wegführen und den Rahmen dieses Vortrage sprengen. Die Anfeindung gegen Dominique Bouhours hängt meines Erachtens weniger mit den evidenten Unterschieden im Rhetorikkonzept als mit der Tatsache zusammen, daß Bouhours mit seiner Typologie der Völker in den Entretiens d'Ariste et d'Eugène das alte Klischee von den barbarischen Nordländern neu aufgetischt hat. Wenn im Norden nicht grundsätzlich dieselbe Möglichkeit der Zivilisierung des Verhaltens und der Pflege des geistigen Scharfsinns besteht, dann verliert das Programm von Thomasius einer Modernisierung der deutschen Kultur seine Grundlage. Deshalb muß Thomasius Bouhours in seinem Gracián-Kolleg als

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Thomasius, Christian, Freimütige, lustige und emsthafte, jedoch vernunftmässige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fiirnehmlich aber neue Bücher, Bd. Π, Juli-Dezember 1688. Reprint Frankfurt/M. 1972, S. 931. Ebd., S. 934. Ebd., S. 935. Ebd., S. 936. Vgl. dazu Gabler, Hans-Jürgen, Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie. Frankfurt a.M. / Bern 1982, S. 42 u. 166f. Thomasius, Monatsgespräche II, S. 937. Ebd., S. 807-834.

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Schwätzer anprangern. Er verschanzt sich dabei hinter der Polemik, die Bouhours Entretiens in Frankreich selbst hervorgerufen haben.52 Thomasius kommt in der Schrift Neue Erfindungen der Menschen Gemüter zu erkennen auf die Entgegensetzung von Franzosen und Deutschen zu sprechen und kritisiert, daß Dominique Bouhours und Adrien Baillet ihre Landsleute „wegen eines ungemeinen Vortheils an Verstände allzuschmeichlerisch erheben."53 Er gesteht zwar ein, daß „die Teutschen [...] wegen ihres Temperaments nicht so viel Hitze"54 wie die Franzosen haben. Doch geht er alsbald zum Gegenangriff über und behauptet, daß die Franzosen wegen ihrer Lebhaftigkeit „niemahlen zu einem hohen Grad der Gelahrheit gelangen könne[n]"55 und fuhrt als Beispiel dafür Descartes an. In der Einleitung zur Hofphilosophie (1710) charakterisiert er Descartes als einen „Mann von grossem Verstände und trefflicher Vernunfft," 56 wirft ihm aber vor, daß er „mit der Kunst Vernunfft-mäßige Schlüsse zu machen nicht allzu wohl versehen"57 und überdies „auffgeblasen" 58 gewesen sei. In der Ausübung der Sittenlehre (1696) setzt er sich deutlich von Descartes' Affektenlehre ab, während er Gassendis Epikur-Deutung positiv gegenübersteht.59 Wenn es also Thomasius in Neue Erfindungen des Menschen Gemüter zu erkennen scheinbar offenläßt, „ob man nicht mehr Exempel unter uns Teutschen werde auffbringen können / die mit einer dergleichen Lebhafftigkeit der Schwehre ihres Geistes Flügel gemacht"60 haben, so hegt er doch die Hoffnung, daß die Deutschen gerade wegen ihrer Andersartigkeit die Franzosen überflügeln werden. Seine Auseinandersetzung mit dem französischen Geistesleben dient dieser Zielsetzung. Ein letzter, ebenso gewichtiger Grund scheint mir in der Unvergleichbarkeit der französischen Verhältnisse in Paris und in Versailles mit der Lebenswelt von Thomasius zu liegen. Thomasius konnte weder an der Universität noch bei den deutschen Duodezfürsten jene Mentalität voraussetzen, die das damalige Frankreich geprägt hat. Vielleicht konnte er sie sich aber auch gar nicht vorstellen, weil er sie nicht unmittelbar aus nächster Nähe kennengelernt hat. Deshalb ist sein Mißtrauen gegen die französische Literatur größer als sein Verständnis für das Publikum, auf das diese Literatur abzielte.

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Thomasius, Deutsche Schriften, (wie Anra. 9), S. 38-40. Thomasius, Christian, Kleine Teutsche Schriften. Bd. 22 der Ausgewählten Werke. Hg. von . Werner Schneiders. Hildesheim 1994, S. 456. 54 Ebd., S. 456. 55 Ebd., S. 457. 56 Thomasius, Ausgewählte Werke, hg. v. Werner Schneiders. Hildesheim 1994, Bd. 2, S. 42. 57 Ebd., S. 42. 58 Ebd., S. 42. 59 Thomasius, Ausübung der Sittenlehre. Mit einem Vorwort hg. v. Werner Schneiders. Hildesheim 1968, S. 52-84. 60 Thomasius, Kleine Teutsche Schriften, (wie Anm. 53), S. 458. 53

Barbon und Tartuffe

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III. Wir können hier einige abschließende Überlegungen über Thomasius und Frankreich anstellen. Der verletzte Stolz des Nordländers über die bei Bouhours durchbrechende Mißachtung durch die Südländer zeitigt in den Monatsgesprächen eine Reaktion, die sicherlich eine adäquate Wertung der mondänen Kultur Frankreichs grundsätzlich verhindert hat. Thomasius setzt dort der französischen Version von Galanterie, die er mit höfischer Schmeichelei verwechselt, die deutsche Aufrichtigkeit entgegen.61 Diese Aufrichtigkeit bindet das Denken viel stärker an protestantische Lebensanschauung, als die französische Galanterie an den dortigen Katholizismus angelehnt ist. In diesem Zusammenhang scheint mir eine Nebensächlichkeit der Rezension des Discours sur la Bienséance in den Monatsgesprächen aufschlußreich zu sein. Thomasius hat diese Schrift in einer Ausgabe von Den Haag 1689 in die Hände bekommen, bei der kein Autor genannt wird. Deshalb reizt ihn nicht nur der Inhalt, mit dem er sich kritisch auseinandersetzt, sondern auch die Vermutung über den Urheber der Schrift. Er vergleicht das Buch mit „einem unordentlichen Hauffen / daraus man vieleicht etwas zu Betrachtung der Wohlanständigkeit brauchen könte," 62 und vermutet, es stamme von Dominique Bouhours, den ja eine solche Schwäche kennzeichne. In Wirklichkeit stammt dieses Werk von Abbé Jean Pic, der es 1688 in Paris bei dem bedeutenden Verleger Sebastien Marbre-Cramoisy veröffentlicht hat. Pic gehört wie Abbé de Gérard zur Gruppe der zweitklassigen Moralisten, die Louis van Delft als Pseudo-Mondäne bezeichnet und als ein Heer von Subalternen taxiert, die religiöse Ethik und Lebenspraxis der besseren Welt einander annähern wollten. 63 Wenn Thomasius meint, in Pic könne er Bouhours treffen, so verwechselt er den Meister mit dem Epigonen. Hinter dieser Verwechslung verbirgt sich jedoch eine gewisse Konsequenz, denn Gestalten wie Pic lassen sich besser auf die deutschen Verhältnisse übertragen als Bouhours. Thomasius zieht offenkundig Pic und Gérard den wahren Mondänen wie La Rochefoucauld oder dem Chevalier de Méré vor, die er hingegen nicht gekannt oder zumindest nicht beachtet hat. Er rezipiert diese Moralisten aber überaus kritisch und benutzt sie eher als Widerpart denn als Modell seines Denkens. Deren Denkungsart paßt ihm als Kontrastfolie gut ins Konzept einer polemischen Loslö61

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Es heißt dort bedauernd über den Mercure historique·. „Wenn nur auch darinnen eine teutsche Auffrichtigkeit anzutreffen wäre / setzte Herr Christoph dazu / und der Autor nicht so gar offenbahr dem Frantzösischen Hoff schmeichelte" (Monatsgespräche /, S. 74). Monatsgespräche IV, S. 197. Zum Geltungsbereich des Honestum und Decorum vgl. Beetz, Manfred, Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite. Thomasius in der Geschichte der Gesellschaftsethik, in: Christian Thomasius 1655-1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung, mit einer Bibliographie der neueren Thomasius-Literatur, hg. v. Werner Schneiders. Hamburg 1989, S. 209f., und ders., Frühmoderne Höflichkeit, (wie Anm. 10), S. 289f. Van Delft, Louis, Le Moraliste classique. Essai de définition et de typologie. Genf 1982, S. 155.

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Volker Kapp

sung von den Anschauungen seiner Umgebung, die humanistische Gelehrsamkeit mit reformatorischer Rechtgläubigkeit verband. Insgesamt hat er bei den Franzosen vorwiegend das wahrgenommen, was sich leicht auf die deutschen Verhältnisse übertragen ließ. Deshalb fesseln ihn auch die Romane der Mademoiselle de Scudéry, aus denen in jenen Jahren die Lehrgespräche herausgelöst und als eigene Publikationen veröffentlicht wurden, mehr als die literarisch innovative Princesse de Cleves der Madame de La Fayette. Deshalb hat er den Dichter René le Pays, der ein Nachahmer von Voiture ist, dem Satiriker Boileau vorgezogen. 64 Thomasius will sich weniger das französische Modell anverwandeln als es für die Überwindung von Mißständen im eigenen Land benutzen. 65 Er leistet in seiner Auseinandersetzung mit dem französischen Modell der später üblich werdenden Entgegensetzung von deutschem Geist und französischem Esprit Vorschub. Wenn ich dies feststelle, so möchte ich ihm daraus keinen Vorwurf machen, sondern lediglich die Perspektive charakterisieren, die an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert mit der Loslösung vom humanistischen Umgang mit der klassischen Antike und dessen Ersetzung durch eine moderne vorbildliche Kultur die Auseinandersetzung mit dieser als Modell dienenden Kultur bestimmte.

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Monatsgespräche I, S. 660-664. Zur Ambivalenz dieses Programms vgl. Scheffers, Henning, Höfische Konvention und die Aufklärung. Wandlungen des honnête-homme-Ideals im 17. und 18. Jahrhundert. Bonn 1980, S. 103-113.

KLAUS-GERT LUTTERBECK ( G r e i f s w a l d )

Das decorum Thomasii als Faktor sozialer Kohäsion oder: Systematische Strukturen im Denken eines Eklektikers1 Die Lehren des Thomasius einer systematischen Analyse zu unterziehen, ist ein Unterfangen, das bei einem W e l t weisen seines Zuschnitts als unangemessen erscheinen mag. Wer aus seinem Ressentiment gegen die „Grillen" oder „Narrenspossen" der Scholastiker 2 kein Hehl macht, vielfach in Tagesgeschäften engagiert ist,3 und die ,Nützlichkeit' im Sinne der unmittelbaren Praxisorientierung aller theoretischen Bemühungen vehementer als alle anderen in einer Zeit fordert, 4 die sich gerade von der Universalherrschaft der in hochrationalen Spekulationen erstarrten protestantischen Theologie zu befreien sucht, ist anscheinend nicht an einer systematischen Architektonik seines Lehrbestands interessiert. Was etwa dem Panlogismus Christian Wolffs entspricht, muß, so könnte man bei oberflächlicher Betrachtung meinen, bei Thomasius, dem älteren Kollegen Wolffs, zwangsläufig zu einer Defizitanalyse fuhren. Es ist bekannt, daß Thomasius' widersprüchliches Werk die unterschiedlichsten Interpretationen zeitigt; in ideengeschichtlicher und rechtshistorischer Perspektive ergeben sich die Fronten zwischen einem den status quo affirmierenden konservativen und einem progressiv-protoliberalen Thomasius: Ihm wird einerseits jegliches politisches Reflexionsvermögen abgesprochen, 5 und er wird als Theoretiker

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Der Aufsatz vertieft die Beschäftigung mit der decorum-Vcieoúe des Thomasius in meiner Dissertation: Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung, II, 16). Vgl. Thomasius, Christian, Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit [...]. Halle 1709 [„Göttliche Rechtsgelahrheit"], Voriede, §§ 10, 11, 27; I, Π, § 67 (Zitat); I, ΙΠ, §§ 64 (Zitat), 65; I, IV, § 20: „Es ziehet alles alles auff uns loß: Da kommen die grossen Helden / als Vorfechter / Sanchez, Rodriguez, Vasquez und wie die Kerl alle heissen / mit denen man die Kinder an Weihnachten kan zu furchten machen." Zu Thomasius' Kampf gegen die Scholastik: Petersen, Peter, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland. Leipzig 1921 (Neudruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1964), S. 384-392. Vgl. die Biographie von Schmidt, Werner, Ein vergessener Rebell. Leben und Wirken des Christian Thomasius. München 1995. Thomasius, Christian, Ausübung der Vernunftlehre. Hildesheim 1968, Neudruck der Ausgabe Halle 1691,1, § 109, S. 53. Wolf, Erik, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. Tübingen 3 1951, S. 406. Gegenteilige Feststellungen bei Schmidt (Anm. 3), S. 132, und Rod, Wolfgang, Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1970 (Bayerische Akad. d. Wiss., Philos.-Hist. Klasse, Abhandlungen, N.F. 70), S. 183.

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des hausväterlich-gemütlichen Territorialstaates apostrophiert, 6 als Herrschaftsethiker, 7 wenn nicht gar als gefahrlicher Rechtspositivist, der dem Totalitarismus das Einfallstor öffne. 8 Andererseits ist durch Rolf Lieberwirth Thomasius' Kampf gegen die Hexenverbrennungen in das Bewußtsein gerufen worden; 9 Bloch hat ihn als aufmüpfigen Kämpfer gegen Bigotterie jedweder Couleur und Antiabsolutisten gezeichnet 10 und kann sich dafür auf drastische Äußerungen stützen: so etwa auf die bekannte Äußerung im Zusammenhang mit der Masius-Kontroverse in den Monatsgesprächen, das Volk könne ebensogut Majestät verleihen, wie es „Maulschellen im Schubsack hat". 11 Die Forschungen Klaus Luigs haben liberale Tendenzen auch in Thomasius' privatrechtlichen Texten zu Tage gefördert. 12 Die Liste ließe sich noch weiter verlängern, ohne daß eine Synthese greifbar wäre. Einzig Frederick M. Barnard deutet eine solche in einem frühen Aufsatz an, indem er das juristische und moralphilosophische Denken des Thomasius aufeinander bezieht. 13 Auf dieser Linie soll im folgenden gezeigt werden, daß Thomasius' Œuvre weder in mehr oder weniger unverbundene Teile auseinanderfallt noch das zunächst heterogene Erscheinungsbild nur durch den Rekurs auf den Text transzendierende Faktoren plausibel zu machen ist. Damit wird eine Gegenposition zum kommunikationsgeschichtlichen Ansatz Gierls eingenommen, 14 der versucht hat, den für die scheinbaren Inkonsistenzen wesentlich verantwortlichen Wandel von Thomasius' anthropologischen Grundpositionen vor und nach seiner sogenannten pietistischen oder mystischen Krise 15 als strategisches Manöver, diktiert durch die Rationalität 6

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Brückner, Jutta, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der Politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. München 1977 (Münchener Studien zur Politik. Bd. 2), S. 194, 196. Buchholz, Stephan, Recht, Religion und Ehe. Orientierungswandel und gelehrte Kontroversen im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1988. Dries, Karl-Heinz, Die Rechtslehre des Thomasius unter besonderer Berücksichtigung der Veränderungen seines Rechtsbegriffs. Diss. jur. Köln 1963, S. 98f. Thomasius, Christian, Vom Laster der Zauberei; Über die Hexenprozesse (De Crimine Magiae; Processus Inquisitorii contra Sagas). Hg., überarbeitet u. mit einer Einleitung versehen v. Rolf Lieberwirth. München 1987. Bloch, Ernst, Christian Thomasius, ein deutscher Gelehrter ohne Misere, in: ders., Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt/M. 1985, S. 315-353, insb. S. 340f. Thomasius, Christian, Freimütige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmässige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fümehmlich aber neue Bücher. 4 Teile, Nachdruck der Ausgabe Halle 1690, Frankfurt/M. 1972, hier Teil II, S. 764f. Luig, Klaus, Zur Bewertung von Christian Thomasius' Strafrechtslehren als Ausdruck liberaler politischer Theorie, in: Studia Leibnitiana ΧΠ/2 (1980), S. 243-252. Barnard, Frederick M., The „Practical Philosophy" of Christian Thomasius, in: Journal of the History of Ideas 32 (1971), S. 221-246. Vgl. Gierl, Martin, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Bd. 1 ), S. 445ff. Vgl. Thomasius, Christian, Scharffe und nachdrückliche Lektion an sich selbst (1694); Ostergedanken vom Zorn und bitterer Schreibart gegen sich selbst (1695), in: ders., Kleine Teutsche Schriften, Nachdruck der Ausgabe Halle 1701, Hildesheim 1994 (Ausgewählte Werke, 22), S. 658-696; 697-734. - Zu Thomasius' Auseinandersetzung mit pietistisch-mystischem

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polemischen Kalküls im Verlauf der gelehrten Kontroverse um Thomasius' philosophische Positionen, zu erklären. Die Ausgangsthese ist somit, daß diesseits aller strukturalistischen oder systemtheoretischen Methoden in einem subjektzentrierten textanalytischen Verfahren ein konzeptionelles Integral des Thomasischen Denkens in den Grundzügen rekonstruiert werden kann, das geeignet scheint, die schillernde Vielfalt der Lehren des barocken Universitätslehrers unter einen sozialphilosophischen Hut zu bringen. In der frühen Neuzeit figuriert bekannterweise die Naturrechtslehre als Ort normativer Fundamentalreflexion. Sie ist der alle speziellen humanwissenschaftlichen Thematiken integrierende interdisziplinär-theoretische Begründungsdiskurs. 16 Nicht nur das Recht, sondern auch die Ethik, die Theologie, die Politik etc. werden qua ratio oder, wie bei Thomasius, primär qua common sense17 naturalisiert', indem sie auf ,die Natur' des Menschen zurückgeführt werden. Diese Methode der Objektivierung praktischer Disziplinen führt notwendigerweise zu einer deskriptivnormativen Ambivalenz der Theorien, wird doch die jeweilige Norm (das Sollen) aus dem Sein (der Natur) abgeleitet.18 Mit den Grundregeln des Thomasischen Naturrechts ist denn auch, so die weitere Prämisse dieser Ausführungen, die systematische Matrix für eine äußerst avancierte, wenn auch rudimentäre .natürliche' Sozialtheorie gegeben. Genauer: Die Trias von iustum, decorum und honestum, welche Thomasius schließlich in den Fundamenta Juris Naturae et Gentium19 1705 einführt, leistet mit der der Kantischen Unterscheidung von Legalität und

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Gedankengut und ihren Folgen: Bienert, Walther, Der Anbruch der christlichen deutschen Neuzeit dargestellt an Wissenschaft und Glauben des Christian Thomasius. Halle 1934 (Theologische Arbeiten zur Bibel-, Kirchen- und Geistesgeschichte. Bd. 2), S. 99-103; 152215; Wundt, Max, Die deutsche Schulphilosophie der Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung. Tübingen 1945 (Nachdruck Hildesheim 1992), S. 50ff.; Schneiders, Werner, Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Ethik im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim / New York 1971 (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie. Bd. 3), S. 229-231; Pott, Martin, Thomasius' philosophischer Glaube, in: Schneiders, Werner (Hg.), Christian Thomasius 1655-1728, Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 11), S. 223-247, hier 232-236. Vgl. Bödeker, Hans Erich / Hont, Istvan, Naturrecht, Politische Ökonomie und Geschichte der Menschheit. Der Diskurs über Politik und Geschichte in der Frühen Neuzeit, in: Dann, Otto / Klippel Diethelm (Hg.), Naturrecht-Spätaufklärung-Revolution. Hamburg 1995 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 16), S. 80-89. Vgl. Cataldi Madonna, Luigi, Die Konzeption der Vernunft bei Christian Thomasius. Ein Mittelweg zwischen Empirismus und Rationalismus, in: Fulda, Hans Friedrich / Horstmann, Rolf-Peter (Hg.), Vernunftbegriffe in der Moderne. Stuttgart 1994, S. 153-173. Tatsächlich wird der naturalistische Fehlschluss erst von David Hume als solcher erkannt. Vgl. A Treatise of Human Nature [' 1739-40] (The philosophical works in four volumes, ed. by Hill Green, Thomas and Hodge Grose, Thomas, Vol. II, Neudruck Aalen 1964), III, 1,1, S. 245f. Thomasius, Christian, Fundamenta juris naturae et gentium ex sensu communi deducía, in quibus ubique secernunturprincipia honesti, justi ac decori [...]. Editio quarta praecedentibus auctior et correctior [...], Halle / Leipzig 1718, 2. Neudruck Aalen 1979 [„Fundamenta"]. Deutsche Zitate folgen der Übersetzung: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts [...]. Halle 1709 [„Grundlehren"].

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Moralität vorausgehenden epochalen Differenzierung von praktischen Normen nach der Erzwingbarkeit zugleich die Fundierung der prinzipiellen normativen Konzeption, die die Veröffentlichungen des Thomasius als Staatstheoretiker, Logiker, Anstandslehrer und Moralphilosoph funktional integriert.20 Im systematischen Zentrum dieses konzeptionellen Integrals steht Thomasius' Lehre von der W o h l a n s t ä n d i g k e i t oder dem d e c o r u m. Er nimmt damit denjenigen Begriff auf, der in der griechischen Antike als ,prepon' 21 zunächst als Kategorie einer allgemeinen Stilkritik dasjenige beschreibt, was in den gestaltenden Künsten nach einem ästhetischen Urteil als angemessen angesehen wird. In entwickelterer Form, die sich weiterhin wesentlich über die Ästhetik konstituiert, wird der Begriff in vorhellenistischer Zeit vornehmlich in der Rhetorik benutzt, läßt sich aber auch in der Ethik nachweisen - dem Bereich, in welchem Thomasius den Term gebraucht. So finden sich bei Aristoteles Aussagen über die Angemessenheit bestimmter Handlungsweisen.22 Erst in der Ethik des Stoikers Panaitios von Rhodos (2. Jh. v. Chr.) jedoch erlangt der Begriff auch tragende Bedeutung für die Sittenlehre.23 Panaitios faßt unter dem Ausdruck alles, was der menschlichen Natur im Unterschied zur tierischen angemessen ist, speziell die Lenkung der Triebe durch die Vernunft - eine Bedeutungsbestimmung, die im Hinblick auf das decorum Thomasii im Auge zu behalten ist. Die lateinische Übersetzung durch ,decorum' - das, was ziert (decet) - , die bei Thomasius anzutreffen ist, vollzieht Cicero in seiner Adaption der Ethik des Panaitios.24

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Damit nicht genug, fangt diese Konzeption aber auch die scheinbar einander ausschließenden Fraktionen der Thomasischen Anthropologie auf: das optimistische, teleologisch-rationale Menschenbild und das pessimistische, voluntaristische, wie es in den Fundamenta bzw. den Grundlehren hervortritt. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Das Politische in der Moralphilosophie des Christian Thomasius. Ein Beitrag zur Geschichte politischer Theoriebildung im Alten Reich, in: Lietzmann, Hans Joachim / Nitschke, Peter (Hg.), Klassische Politik. Politikverständnisse von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Opladen 2000, S. 101-117. Vgl. Pohlenz, Max, τό πρέπον. Ein Beitrag zur Geschichte des griechischen Geistes, in: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen aus dem Jahre 1933, Philologisch-Historische Klasse (Berlin 1933), S. 53-92. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1122a, 34ff. Die Stellung des πρέπον in der Eudemischen Ethik diskutiert Pohlenz, (wie Anm. 21), S. 57f. Pohlenz, (wie Anm. 21), S. 72. Vgl. Cicero, ü e officiis, I, 93-149. Diese Stellenangabe nach der plausiblen Interpretation von Labowsky, Lotte, Die Ethik des Panaitios: Untersuchungen zur Geschichte des Decorum bei Cicero und Horaz. Leipzig 1934, S. 67-73. Eine engere Begriffsbestimmung ergibt sich aus der Inhaltsangabe von De officiis, die Heinz Gunermann in seiner Ausgabe des Werks (Stuttgart 2 1984, S. 418) gibt. Vgl. weiter Thurmair, Martin, Das decorum als zentraler Begriff in Ciceros Schrift De officiis, in: Studia Humanitatis. Emesto Grassi zum 70. Geburtstag. München 1973, S. 63-78; Annekatrin Puhle, Persona. Zur Ethik des Panaitios. Frankfurt/M. 1987 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 20: Philosophie. Bd. 224), S. 151-155. Zur Genese der lateinischen Form: Pohlenz, (wie Anm. 21), S. 60, Fußnote 2.

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I. Formierung einer decorum-Theorie auf erobertem theologischen Terrain Wenn auch nicht taktisches Kalkül innerhalb der wissenschaftlichen Kontroversen, in die Thomasius eingetreten ist, die Evolution seines Denkens bestimmt hat, sondern Thomasius' sich tastend entwickelndes Denken die Kontroverse, so erschließt sich dieses Denken nicht zuletzt durch die Kenntnis der Positionen, gegen die es sich durchsetzte. Die Innovationsleistung der Thomasischen Sozialphilosophie läßt sich nur vor dem Hintergrund des sich nicht allein literarisch, sondern auch durch den mündlichen Vortrag in Lehrveranstaltungen konstituierenden Konfliktfeldes 25 ermessen, in dem sie sich äußerte. Bereits Thomasius' erste bekannte Beschäftigung mit dem decorum in der 1689 noch in Leipzig gehaltenen Vorlesung De differentiis justi et decori dokumentiert in Anbetracht der Versuche, seine gerade (1688) veröffentlichte Naturrechtslehre zu kriminalisieren, die energische Verteidigung und den Ausbau einiger zentraler Thesen dieses Werks. Thomasius reagiert, indem er über die Unterschiede von iustum und decorum liest, auf die massiven Angriffe des Theologieprofessors August Pfeiffer: Dieser hatte ein Collegium antiatheisticum (Lectiones Anti-Atheisticas)26 abgehalten, wobei die mit der Lehrveranstaltung vorgeblich intendierte Klärung der Geschichte und der im 17. Jahrhundert geläufigen Erscheinungsformen des Atheismus sich eindeutig gegen Thomasius richtete.27 Provokante Positionen, die Thomasius in seiner Naturrechtslehre

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Der eingangs formulierten These entsprechend, wird in der vorliegenden Untersuchung nicht von einem autonomen literarischen Feld ausgegangen, das konstitutiv fiir Thomasius' decorum-Lehre wäre. Daher ist, wenn von einem K o n f l i k t f e l d gesprochen wird, auch im Gegensatz zum Feldbegriff Bourdieus - kein strukturalistisches Konzept gemeint, sondern das konkrete Feld der interagierenden Subjekte. Vgl. Jurt, Joseph, Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995 S. 83f., S. 90. Bourdieu, Pierre, Les règles de l'art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 1992, S. 13: „[...] 1 a ,r é a 1 i t é' q u' i 1 [le sociologue, proche en cela du philosophe selon Platon] p o u r s u i t ne se l a i s s e p a s r é d u i r e a u x d o n n é e s i m m é d i a t e s de l ' e x p é r i e n c e s e n s i b l e d a n s l e s q u e l l e s e l l e s e l i v r e ; il ne vise pas à donner à voir, ou à sentir, mais à c o n s t r u i r e des systèmes de relations i n t e l l i g i b l e s capables de rendre raison des données sensibles" (Sperrung vom Verf., K.-G. L.). - Einen knappen Überblick über die Frontlinien der Auseinandersetzungen gibt Lieberwirth, Rolf, Thomasius' Leipziger Streitigkeiten, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ΠΙ (1953/54), Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Heft 1, S. 155-159. Vgl. den Abdruck des Vorlesungsprogramms bei Thomasius, Christian, Ernsthaffte, aber doch Muntere und Vernünfftige Thomasische Gedancken und Erinnerungen über allerhand auserlesene Juristische Händel, Dritter Theil. Halle im Magdeburgischen 1721, S. 70-91. Vgl. Lieberwirth, Rolf, Christian Thomasius (1655-1728), in: Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694— 1806). Zur Dreihundertjahrfeier im Auftrag des Rektors hg. von Günter Jerouschek und Arno Sames. Hanau / Halle 1994, S. 2 9 ^ 5 , 36.

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von 1688, den Institutiones Jurisprudentiae Divinae,28 bezogen hatte, wie die sich aus seiner voluntaristischen Gesetzeslehre ergebende Negation objektiver moralischer Urteile 29 zugunsten eines relativen, nämlich auf den wertsetzenden göttlichen Willen bezogenen 30 sozialen Utilitarismus, 31 wurden unter die als atheistisch gebrandmarkten Doktrinen gerechnet. 32 Wie der indirekt piazierte pauschale Atheismusvorwurf indiziert, ging es im Kern der Auseinandersetzung aber nicht um diese begründungstheoretischen Optionen oder die sich daraus weiter ergebenden Positionen - so etwa um die Frage, ob das Naturrecht sich tatsächlich aus dem Prinzip der sozialen Nützlichkeit ableiten lasse oder der Inzest die natürliche Scham verletze und das (bürgerliche) Gesetz allein auf dem W i l l e n eines (menschlichen) Gesetzgebers beruhe. 33 Zur Debatte stand, ob die Trennung von Philosophie und Offenbarungstheologie nach E r k e n n t n i s m i t t e l , E r k e n n t n i s q u e l l e und E r k e n n t n i s z i e l (lumen naturalis/ lumen supernaturalis, sinnliche Erfahrungswelt / Offenbarung, diesseitige Glückseligkeit / jenseitige Glückseligkeit), die Thomasius in den Institutiones postuliert hatte, 34 zu akzeptieren war oder nicht. Mit dem Ausgang dieses Streits mußte sich entscheiden, ob der Jurist sich mit seinem Programm der Emanzipation der praktischen Vernunft von der universell-hegemonialen theologischen Deutungsmacht in Leipzig durchsetzen würde. In Anbetracht dieser Lage behauptete Thomasius mit seiner Vorlesung nicht nur die eigenständige Disposition der Institutiones (Autonomie der sich in der Jurisprudenz institutionalisierenden Vernunft), sondern schickte sich sogar dazu an, die

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Thomasius, Christian, Institutionum Jurisprudentiae Divinae Libri Tres [...]. Editio séptima prioribus multo correctior [...]. Halle 1730 [Institutiones], Deutsche Zitate folgen der Göttlichen Rechtsgelahrheit, (wie Anm. 2). Ebd., I,H, §§77,91. Das Naturrechtsprinzip: „Fac ea, quae necessario conveniunt cum vita hominis sociali, et, quae eidem re pugnant omitte" (ebd., I, IV, § 64) wird aus der vernünftigen Natur des Menschen deduziert (I, Π, § 71). Diese beruht aber auf dem willkürlichen Schöpfimgsakt Gottes (ebd., § 72). Das Prinzip ist also nicht notwendig (vgl. I, I, § 31.) Ebd., I, Π, § 96. Thomasius, Christian, Ernsthajfte, aber doch Muntere und Verniinfftige Thomasische Gedancken und Erinnerungen über allerhand auserlesene Juristische Händel, (wie Anm. 26), S. 64f„ 68. Vgl. ebd., S. 68. Siehe dazu Institutiones, m, II, §§ 220-224 (Inzest); I, I, §§ 28, 30f. (Voluntarismus). - Zur prekären Kombination von voluntaristischer und rationalistischer Argumentationsweise bei Thomasius vgl. meine Arbeit Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff\ (wie Anm. 1 ), dort § 6. Thomasius, Christian, Diss. Prooemialis, in: ders., Institutiones, S. 34ff., und Institutiones, I, I, § 169f.; I, Π, § 137. Vgl. ders., Einleitung zur Vernunftlehre, Nachdruck der Ausgabe Halle 1691, Hildesheim 1968, I, § 16f., S. 80. Vgl. weiter die Trennung von natürlicher und offenbarter Religion nach den Institutiones, Π, I, § 35. Die Trennung bleibt in den Institutiones allerdings insofern inkonsequent, als Thomasius noch davon ausgeht, daß auch ein göttliches offenbartes Gesetz zur Rechtswissenschaft gehört. Vgl. Institutiones, I, II, §§ 4, 64, 71; I, IV, § 80. Dagegen dann Fundamenta, Caput prooemiale, §§ 14-20.

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inkriminierte säkulare Naturrechtslehre auch noch auszudifferenzieren: 35 Wie schon aus der Themenstellung der Vorlesung hervorgeht, sah es Thomasius bereits lange vor dem erst 1705 in seinem zweiten naturrechtlichen Hauptwerk, den Fundamenta, erfolgten Versuch, eine systematische Differenzierung der naturrechtlichen Nomothetik durchzuführen, als notwendig an, den die societas civilis integrierenden Normenkomplex nicht nur zu säkularisieren, sondern auch kategorial zu differenzieren. Thomasius war im Begriff, seine säkulare Rechtsphilosophie mit einer grundsätzlich „gesellschaftsautonom gewonnenen und fortgebildeten Sozialmoral" 36 zu verbinden, mithin eine umfassende säkulare Sozial- und Moralphilosophie zu entwerfen. In dieser Absicht ließ er sich auch nicht dadurch beirren, daß seine Vorlesung verboten wurde und er bald darauf (1690) Leipzig verlassen mußte. 37 Die systematische Kategorie, aus der Thomasius seine Theorie des decorum entwickelte, ist der alte Term der Adiaphora oder Mitteldinge.38 Dieser Begriff bezeichnet in der Theologie diejenigen Handlungen, welche nicht relevant sind für das Erlangen der ewigen Seligkeit, die diese folglich weder fördern noch hemmen. Es handelt sich somit um Handlungen, „deren Begehung und Unterlassung [...] als sittlich gleichgültig der Freiheit des Menschen anheimgestellt ist."39 In den Kämpfen um die protestantische Dogmatik nach der Reformation wurde die Unterscheidung der zwei Bedeutungsfelder der ,Kultmitteldinge' sowie der ,Lustmitteldinge' konstitutiv für den Ausdruck. Im ersten Sinn bezeichnen Adiaphora nicht fur die Seligkeit erforderliche Kirchenzeremonien, somit freigestellte Handlungen im Bereich der äußeren Kirche (ecclesia visibilis). Die zweite Bedeutung geht auf sinnliche Alltagsvergnügungen wie Spiel, Tanz, Putz und Speise, Musik und Zechen, 40 die als indifferent im Hinblick auf die Erlangung des ewigen Heils der Handlungsfreiheit der Menschen überlassen werden. Thomasius trieb die Ausgestaltung des Begriffs zunächst - an dessen erster Bedeutung ansetzend - im Interesse der territorialistischen Neudefinition des Verhältnisses von Staat und Kirche innerhalb seiner säkularen Normwissenschaft voran.41 Gegen die protestantische Orthodoxie erkennt er in seinen staatskirchenrechtlichen Schriften, daß die Kirche, soweit nicht Fragen des Bekenntnisses berührt sind, gänzlich der Leitungsbefugnis des Landesherrn unterliegt, dessen Souveränität durch das von der Theologie be35

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Thomasius, Ernsthaffte, aber doch Muntere und Vernünfftige Thomasische Gedancken, (wie Anm. 26), S. 107. Buchholz, Stephan, Christian Thomasius: Zwischen Orthodoxie und Pietismus - Religionskonflikte und ihre literarische Verarbeitung, in: Schneiders, Werner (Hg.), Christian Thomasius 1655-1728, (wie Anm. 15), S. 248-255, 253. Vgl. Lieberwirth, Christian Thomasius, (wie Anm. 27), S. 36ff. Vgl. Gottschick, Johannes, Art. Adiaphora, in: Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 1, Leipzig 1896, S. 168-179. Ebd., S. 168. Vgl. Buchholz, Stephan, Recht, Religion und Ehe, (wie Anm. 7), S. 192-194. Buchholz, Recht, Religion und Ehe, (wie Anm. 7), S. 193. Vgl. ebd., S. 194-205.

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freite Naturrecht qua ratio legitimiert wird. 42 Einhergehend damit verliert in der Perspektive der verweltlichten Rechtslehre die Form des Kultus, in der sich die Konfessionszugehörigkeit ausdrückt, ihre Relevanz: „Zur Ruhe und Friede in dem gemeinen Wesen ist nicht nöthig / daß die Unterthanen einerley Religion zugethan seyn." 43 Die Konfessionalität selbst ist somit, insofern sie sichtbar ist, nicht mehr justitiabel; sie gehört bei Thomasius nicht mehr zu den Gegenständen, mit denen sich die natürliche Staatsrechtswissenschaft positiv beschäftigt. Daraus folgt notwendigerweise der für die Theorie der politischen Ordnung höchst bedeutsame Umstand, daß der Herrscher von der Sorge um das Seelenheil seiner Untertanen entbunden und daher den Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft eine begrenzte Autonomie in Konfessionsfragen konzediert wird. 44 Thomasius suspendierte damit nichts anderes als das im Augsburger Religionsfrieden von 1555 reichsrechtlich konfirmierte ius reformandi, welches den landesherrlichen Religionszwang statuierte und in der Formel „cuius regio, eius religio" zum Schlagwort geworden war. 45 Der systematische Unterbau dafür ist eine nach 168846 auch von allen aristotelischen Residuen gelöste Staatszielbestimmung, die rein funktionalistisch den Zweck des Staates auf die Wahrung des äußeren Friedens reduziert: „Wenn überall Friede wäre, wäre kein gemein Wesen, und folglich auch kein Fürst oder höchste Gewalt", weshalb „alle Regalien eines Fürsten [...] die Erhaltung des gemeinen Friedens zur Absicht" haben. 47 Dahinter steht die immer noch gegenwärtige Empirie des konfessionellen Zeitalters: Nichts desto weniger aber zeuget die Erfahrung aller Zeiten zur gnüge / daß die Religion bey vielen Menschen eine so verkehrte Wirckung habe / daß sie sich solcher als eines Werckzeugs

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Thomasius, Christian, Vom Recht evangelischer Fürsten in Mitteldingen oder Kirchenzeremonien, in: ders., Auserlesene deutsche Schriften. Erster Teil, Nachdruck der Ausgabe Halle 1705, Hildesheim 1994 (Ausgewählte Werke 23), S. 76-209: 1. Hauptstück, § 8, S. 106. Thomasius, Das Recht evangelischer Fürsten in theologischen Streitigkeiten / gründlich ausgeführei / und wider die papistischen Lehr-Sätze eines Theologi zu Leipzig verthäydiget. Halle 5 1713 [ 1. Aufl. 1696], 1. Satz, S. 7. Vgl. Thomasius, Christian, Erinnerung des Herrn Praesidis an den Respondenten, Herrn Joh. Christoph Ruben, [...] [Anhang zu der von Ruben verfaßten Dissertation Ob Ketzerey ein straffbares Verbrechen sey], in: ders., Auserlesene deutsche Schriften. Erster Teil, (wie Anm. 42), S. 301-307, 303ff. Thomasius bezeichnet die Formel als „gemeinen Schlendrian", was sich darauf beziehen dürfte, daß das ius reformandi nicht zuletzt auch den Ansatzpunkt für die Gegenreformation darstellte. Vom Recht evangelischer Fürsten in Mitteldingen oder Kirchenzeremonien, (wie Anm. 42), 1. Hauptstück, § 8, S. 104. Die Begrenzung des Staatszwecks auf die Sicherung des äußeren Friedens postuliert Thomasius erstmals in der Märzausgabe der Monatsgespräche, (wie Anm. 11), IH, S. 229, von 1689 in seiner Rezension der christlichen Naturrechtslehre Ludwig Praschs. Thomasius, Christian, Vernünfftige und Christliche aber nicht Scheinheilige Thomasische Gedanken und Erinnerungen über allerhand Gemischte Philosophische und Juristische Händel, Andrer Theil. Halle 1724,1. Handel, Sätze IV und IX., S. 3f.

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gebrauchen / die ärgsten Laster zu verüben / und nicht allein die Republic / in welcher sie leben / zu verwirren / sondern auch ihre Nachbarn zu drücken / zu zerütten und zu verstören. 48

Diesem korrespondiert die moralische Klassifikation der Angelegenheiten des äußeren Kirchenwesens in der natürlichen Theologie, 49 die Thomasius in seiner Ethik entwickelt und die innerhalb der Systematik seines Œuvres nicht zuletzt die Funktion erfüllt, seine säkulare Naturrechtslehre theologisch abzusichern: 50 Auch nach der religio naturalis fällt das äußerliche Zeremonialwesen des Gottesglaubens unter die Adiaphora; es wird also nicht allein im Kontext der Theorie des Zwangsrechts, das den äußeren Frieden bewahren soll, als gleichgültig' αδιάφορος) aufgefaßt, sondern ebenso auch im Zusammenhang der auf den inneren Frieden, die Gemütsruhe, gerichteten moraltheoretischen Argumentation." Mit der Beschränkung des Staatszwecks auf die Garantie des äußeren Friedens im Rahmen der staatskirchenrechtlichen Argumentation, die die Freisetzung bürgerlicher Autonomie in Fragen des Bekenntnisses zur Folge hatte, legte Thomasius das Fundament für seine Theorie der Wohlanständigkeit als Regulativ menschlicher Interaktion, die nun auch auf dem weltlichen Feld der Conduite einen Freiraum bürgerlicher Selbstbestimmung gegenüber den beiden ordnungspolitischen Zentralinstitutionen Staat und Kirche begründete. Dabei entwickelte sich die Argumentation, wie noch zu sehen sein wird, über die Vereinnahmung des Begriffs der weltlichen Adiaphora zu einer Theorie dessen, was ziert, und ihrer prekären Inkorporation in die Naturrechtslehre. Mit dem Gegenstand wechselte auch der Gegner. Die Front im gewandelten Konfliktfeld markierten auf der Seite der Widersacher des unverdrossenen Streiters nicht mehr die orthodoxen Lutheraner, sondern die Pietisten. In Halle bildeten sie das neue, mit umfassendem Reformund Herrschaftsanspruch auftretende theologische Establishment, wie spätestens seit der Gründung (1698) der vom Kurfürsten geförderten Stiftungen August Hermann Franckes nicht mehr zu übersehen war.52 Hatte Thomasius sich noch in Leip-

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Thomasius, Vom Recht evangelischer Fürsten in Mitteldingen, (wie Anm. 42), 1. Hauptstück, § 8, S. 109. Vgl. Pott, (wie Anm. 15). Das wichtigste Gebot der natürlichen Theologie ist folglich die natürliche Gottesverehrung als ein Vorgang des cultus internus und damit negativ gewendet das Verbot des Atheismus. Denn ohne „alle Religion und Gottesfurcht" kann „keine menschliche Gesellschaft, geschweige denn das gemeine Wesen bestehen". Thomasius, Christian, Höchstnöthige Cautelen [...] der Kirchen-Rechts-Gelahrheit [...]. Halle 1713, Widmung. Vgl. Buchholz, Stephan, Recht, Religion und Ehe, (wie Anm. 7), S. 196. Thomasius, Christian, Einleitung zur Sittenlehre, Nachdruck der Ausgabe Halle 1692. Hildesheim 1968, 3, §§ 42, 46, 54, S. 138ff. Vgl. zum Folgenden Brecht, Martin, August Hermann Francke und der Hallische Pietismus, in: ders. (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993, S. 439-539, insb. 503f.; Hinrichs, Carl, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971, S. 352-387; Nebe, August, Christian Thomasius in seinem

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zig als Rechtsbeistand für Francke eingesetzt und ihn ebenso w i e die pietistischen T h e o l o g e n Joachim Justus Breithaupt und Joachim Lange nach Halle geholt, s o wandte er sich mit d e m ablaufenden Jahrhundert g e g e n den nun militanten moralischen Rigorismus der Pietisten, der neben d e m bigotten Francke vor allem in dessen Schüler Joachim Lange 5 3 einen äußerst scharfen Protagonisten hatte. N a c h pietistischer Lehre waren keinerlei weltliche Adiaphora (Lustmitteldinge) zu konzedieren, alles Handeln sei heilsrelevant und v o n daher entweder geboten oder verboten. W a s das in concreto bedeutete, hat Johannes Gottschick Ende des 19. Jahrhunderts auf der Basis v o n Schriften Joachim Langes und anderer Pietisten (Vockerodt, Zierold) auf den Punkt gebracht: Verboten ist der Tanz, auch der keine Fleischeslust erregende, Schauspiele, andere Spiele macht schon der Zweck der eitlen Ergötzung und des Zeitvertreibs zu Sünde. Im hallischen Waisenhaus ward selbst den Kindern das Spiel versagt. Gastmähler sind Sünde, weil Genuß über die Nothdurft hinaus und weil von Scherzreden begleitet, die eben auch nur der Ergötzung dienen wollen. Beim Tanz kommt der Mißbrauch der von Gott zu heiligen Zwecken gegebenen Musik, beim Schauspiel der heidnische Ursprung, bei Gewinnspielen die Sünde wider das 7. Gebot hinzu. Sogar das Spazierengehen erschien als Zeichen eines nicht in Gott ruhenden Geistes in bedenklichem Licht.5 Notorisch Lebensfreudige sollten v o m Abendmahl ausgeschlossen und für ihr Handeln von der weltlichen Obrigkeit belangt werden. 5 5 In rationalistischer Form findet sich die Negation jeglicher Lizenz im Sinne eines Handelns, das w e d e r direkt noch indirekt durch Pflichten motiviert ist, später übrigens auch b e i m Philosophen Christian W o l f f , 5 6 dessen Verbannung aus den preußischen Ländern bekannt-

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Verhältnis zu Α. H. Francke, in: Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk, hg. von Max Fleischmann. Halle 1931, S. 3 8 3 ^ 2 0 . Vgl. Langes Nothwendige Gewissens-Rüge An den Höllischen Prof. Juris, Herrn D. Christian Thomasium, Wegen seines abermahligen Unfugs / So er im neulichsten teutschen Programmate seiner künfftigen Winter-Lectionum, angerichtet [...]. Nunmehro aber durch nothwendige Anmerckungen abgewiesen / Von Einem Freunde der Warheit. Franckfurt / Leipzig 1703. Die Diktion der .notwendigen Anmerkungen' zu Langes Text verweist auf Thomasius selbst als Autor: „Und derowegen habe ich auch keine Gewissens-Ruge wieder [d. i. wider, K.-G. L.] schreiben wollen / theils weil dieser Methodus gar zu sehr nach den Postillen schmeckt / und die μετάβασις εις άλλο γένος sehr ridicul heraus kömt / wenn man in Quaestionibus Theoreticis, und da die Warheit eines Dinges soll untersuchet werden / mit Gewissens-Fragen aufgezogen kommen will [...]" (Vorwort). Vgl. dazu die Bemerkungen von Lieberwirth, Rolf, Christian Thomasius. Sein wissenschaftliches Lebenswerk. Weimar 1955, S. 81. Gottschick, (wie Anm. 38), S. 175. Ebd. So bezeichnet der Begriff des licitum bei Wolff keine freie Handlungsfreiheit außerhalb der Nonnen des Naturrechts, sondern die Freiheit, die naturrechtliche Pflicht zu erfüllen. Vgl. Christian Wolff, Philosophia Practica Universalis, I, Nachdruck der Auflage Frankfurt / Leipzig 1738, Hildesheim 1971 (Ges. Werke, II, 10), §§ 169ff., sowie ders., Jus naturae, I, Nachdruck der Ausgabe Frankfurt / Leipzig 1740, Hildesheim 1968 (Ges. Werke, II, 17), § 125. Allerdings hat Wolff in seiner deutschen Politik mit deutlicher Spitze gegen die Pietisten die Sinnenfreude als Voraussetzung der Pflichterfüllung legitimiert. Vgl. dazu Hinrichs, (wie Anm. 52), S. 394-396.

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lieh - und in diesem Zusammenhang ironischerweise - auf die Denunziation durch Francke bei Friedrich Wilhelm I. zurückzufuhren ist.57 Thomasius griff zunächst in seinem Gutachten über das Franckesche Pädagogium zu Glaucha (1699) die aus der pietistischen Moraltheologie fließende pädagogische Praxis an und propagierte „auf dem Hintergrund eines leitbegrifflich hochstilisierten ,decorum'" 58 eine den Bedürfnissen der Knaben Rechnung tragende, weniger weltferne Erziehung. 59 Die Präzisierung des dieser Kritik zugrunde liegenden Begriffs vom decorum erfolgte umgehend.

II. Doctrina de jure decori Seine dissentierende decorum-Theorie hat Thomasius vor allem in vier Vorlesungsankündigungen für die Jahre 1700-1702 entwickelt. 60 Bereits zu Beginn der ersten Ankündigung für das Wintersemester 1700/01 wird deutlich, daß er auch in diesem Bereich seine Lehre auf die „Mittel-Strasse" 61 führen will: Sieht der Rechtslehrer doch die Notwendigkeit, gegen die übersteigerte Formalisierung des Umgangs in einem „gottlosen" decorum ebenso wie in Opposition zum durch die „Zeloten und allzustrengen Eyfferer und Austilger des decori" betriebenen Gegenteil eine bisher „auff hohen Schulen" vernachlässigte „rechte und deutliche Lehre von dem wahren decoro" auszuführen. 62 Diese Notwendigkeit ergibt sich für ihn vor allem aus der dissoziierenden Wirkung, die nach seiner Beobachtung beide Extreme für die menschlichen Gesellschaften haben. „Mit einem Wort[:] das liederliche und lasterhaffte decorum ist die Pest des Staates / die unter dem Deckel des Christenthums oder der Gottseligkeit intendine Abschaffung alles decori ist eine Kranckheit die dem Staat langsam abzehret / daß er nach und nach sich ruiniret." 63 Dabei versteht Thomasius den moralischen Rigorismus der Gegner des decorum durchaus als Reaktion auf seine leere Übersteigerung, welche dazu fuhrt, daß sich die „größten Laster und Narrheiten unter der Larve der Manierlichkeit, der 57

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Dabei war es Lange, der das zu dieser notwendige theoretische Rüstzeug geliefert hatte. Vgl. Bianco, Bruno, Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff, in: Zentren der Aufklärung, /.: Halle. Aufklärung und Pietismus, hg. von Norbert Hinske. Heidelberg 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Bd. 1), S. 111-155; Hinrichs, (wie Anm. 52), S. 352—441. Buchholz, Recht, Religion und Ehe, (wie Anm. 7), S. 191. Vgl. Hinrichs, (wie Anm. 52), S. 370ff. Siehe die Vorlesungsankündigungen: Der dritte Teil der Grundlehren (1700); Der vierte Teil der Grundlehren (1701); Der erste Teil der Grundlehren (1701); Der zweite Teil der Grundlehren (1702), in: ders., Auserlesene deutsche Schriften. Zweiter Teil, Nachdruck der Ausgabe Frankfurt a.M. / Leipzig 1714. Hildesheim 1994 (Ausgewählte Werke 24), S. 193-326. Vgl. Thomasius, Christian, Einleitung zur Vernunftlehre, Nachdruck der Ausgabe Halle 1691. Hildesheim 1968, Vorrede, S. 73. Thomasius, Der dritte Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 218f. Ebd., S. 215 [Zusatz vom Verf., K.-G. L],

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Mode, der Honnetetät und zuweilen sogar unter dem Namen des Gottesdienstes bei den Menschen einschmeicheln".64 Die Verantwortung für den Verlust der guten Sitte trägt zuallererst der „Wehrstand" (der Adel); derjenige Stand nämlich, welcher die Höflichkeit, deren hegemoniale Stellung als gesamtgesellschaftliche Leitkultur des Umgangs Thomasius erkennt,65 zu einem hybriden Zeremonialwesen übersteigert hat. Doch ist es der „Lehrstand", mithin Thomasius' eigener Stand, dessen Versagen in der ihm gestellten Aufgabe, nämlich „dieserwegen gehörige iedoch bescheidenen Christliche Erinnerung zuthun / und die Unziemlichkeit der Sache glimpflich vorzustellen",66 in den Vordergrund der Betrachtung rückt. Als Erscheinungsformen des Versagens fuhrt Thomasius einerseits den kritiklosen Opportunismus und andererseits die maßlose Verachtung der sittlichen Konventionen an, wobei mit dem im letzteren Zusammenhang genannten Barclay und den Quäkern67 selbstredend vor allem die ungenannten Hallenser Pietisten gemeint waren. Thomasius sieht klar, daß die theologische Kritik in der Praxis nicht - wie sie vorgibt - auf Abschaffung der Wohlanständigkeit zielt, sondern lediglich anstelle der conduite ein „neues decorum"68 postuliert, welches nicht nur neue Kleiderordnungen und Tischsitten vorschreibt, sondern vor allem eine Gesinnungstyrannei erzeugt, die Heuchelei69 hervorbringt. Weit entfernt davon, die notwendige Besserung der Sitten zu leisten, führt der eifernde Rigorismus nur dazu, daß diejenigen, die den Verfall der Sitten erkennen und bereit sind, den verfehlten Rat des Lehrstandes anzunehmen, je nach dem, ob sie die Substanzlosigkeit des neuen decorum durchschauen oder nicht, entweder zu belächelten Narren werden oder aber in schwere „tentationibus speculativischer Atheisterey" geraten.70 Der positive Begriff des .wahren decorum' konstituiert sich nach Thomasius zunächst durch die Säkularisierung des Terms der Adiaphora: Er versteht unter ehrbaren Sitten alles menschliche Tun und Lassen, das an sich selbst notwendig die Erhaltung der Güter der Seelen und des Leibes weder befördert noch hindert und insofern rein äußerlich ist, und sich in einer „Ehrerbietung gegen die Obern / oder eine Freundschafft und wohl wollen gegen gleiche und niedrige Personen / mit welchen man noch nicht völlig vereiniget ist" zeigt. Dabei richtet sich das richtige Verhalten nach der durch die Standeszugehörigkeit der Interagenten vorgegebenen Hierarchie, wobei seine Funktion darin liegt, „Unordnung" zu vermeiden.71 Das Wesen des decorum kommt jedoch erst in der - für Thomasius 64 65 66 67 68 69 70 71

Ebd., S. 213. Ebd., S. 215f. Ebd., S. 215. Ebd., S. 214. Ebd., S. 219. Ebd. Ebd. Thomasius, Der vierte Teil der Grundlehren, (wie Anm. 61), S. 236. Stärker betont die Relativität des decorum zum sozialen Stand die ältere Definition des decorum in ders., Summarischer Entwurf der Grundlehren, die einem Studioso iuris zu wissen und auf

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historischen Perspektive klar zum Ausdruck. So begreift er die Wohlanständigkeit als ein Phänomen, das erst nach dem Sündenfall aufgetreten ist. Was das decorum als eine „Schwachheit", ohne jedoch ein „Laster"72 zu sein, eigentlich ist, wird daher nur verständlich, wenn man genaue Kenntnis hat von dem Unterschied zwischen dem Stand der Gnade (vor dem Fall) und dem postlapsarischen Naturzustand.73 Damit verweist Thomasius auf die grundlegende Disposition seiner Lehre als einer natürlichen Normwissenschaft im Gegensatz zur Offenbarungstheologie, die er in seinem ersten naturrechtlichen Hauptwerk, den Institutiones, eingeführt hatte,74 womit sich auf basaler Ebene eindeutig die systematische Kohärenz seiner Lehre zeigt. Die fundamentale Konsequenz dieser Ausrichtung für die Begründung der Naturrechtslehre liegt darin, daß von der Sündhaftigkeit des Menschen im Sinne seiner U n v o l l k o m m e n h e i t auszugehen ist; als Deduktionsgrund des natürlichen Rechtsprinzips im Sinne eines allgemeinen materialen praktischen Prinzips75 kann demzufolge nur die v e r d e r b t e N a t u r d e s M e n s c h e n n a c h d e m F a l l gelten, nicht aber das Idealbild des vollkommenen Menschen. Dies hatte Thomasius - an die Adresse des Hauptes der protestantischen Orthodoxie in Leipzig, Valentin Alberti,76 gerichtet - in unmißverständlicher Weise bekräftigt: Denn wenn ich die Vollkommenheit des Standes der Unschuld / auch nicht im geringsten Grad / wieder erlangen kann / so fallet das fiindament über einen Haufen / daß der Stand der Unschuld die Richtschnur des Rechts im verderbten Stand sey. [...] Es gemahnet mich ebenso damit, als wenn einer von einer prächtigen Gasterei etliche wenige Bröckelgen übrig hätte / und ich sagte ihm / er sollte sich bemühen, daß er durch diese Bröckelgen / dasjenige, was schon auff der Gasterei verzehret wäre / wiederbringen möchte. 77

Das decorum, welches Thomasius zuerst in seiner gegen Pfeiffer gerichteten Vorlesung vom Recht im engeren Sinne unterschieden hatte, erscheint als die bewußt kluge Gestaltung des Handelns, die mit der menschlichen Unvollkommenheit78 rechnet. So ist der Komplementärbegriff zum decorum die S c h a m h a f t i g k e i t als Indikator für das Bewußtsein von der menschlichen Unvollkommenheit, nämlich „als ein euserliches Bezeigen / von einer innerlichen

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Universitäten zu lernen nötig sind, Nachdruck der Ausgabe Halle 1699. Aalen 1979, T. 1, Cap. 16, § 14, S. 115. Später wird das von der Egalität aller Menschen ausgehende decorum naturale vom decorum politicum, der Ehrbarkeit bürgerlicher Gesellschaften, unterschieden. Dazu im folgenden. Thomasius, Der dritte Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 213. Thomasius, Der vierte Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 237. Siehe oben, Anm. 34. Bereits in den Institutiones (I, I, §104) unterscheidet Thomasius vollkommenes Recht (Zwangsrecht) und unvollkommenes Recht (nicht erzwingbare Normen), beide jedoch werden durch das wertkonstituierende oberste Naturrechtsprinzip (siehe Anm. 30) integriert. Zu Valentin Alberti: ADB, I, S. 215f.; NDB, I, S. 142 (Franz Lau). Thomasius, Göttliche Rechtsgelahrheit, (wie Anm. 2), I, Π, § 40, Fußnote q. Vgl. die Definition der menschlichen Unvollkommenheit in den Institutiones, (wie Anm. 28), I, II § 39.

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Erkenntniß einer uns beywohnenden Unvollkommenheit / wegen welcher wir uns befahren von andern getadelt zu werden". 79 Deshalb kann die Schamhaftigkeit auch als Vorsatz, sich nach dem decorum zu richten, definiert werden. 80 Das decorum erscheint somit als ethisches Äquivalent einer kosmetischen Korrektur menschlicher Insuffizienz: Das vollendete decorum in Worten, Werken und Gebärden läßt den moralisch unvollkommenen Menschen moralisch vollkommen erscheinen. In subjektiver Perspektive wird die decorum-Theorie deshalb zu einer Anleitung für den einzelnen, durch sein gesellschaftliches Erscheinungsbild zu reüssieren, und gerät damit in den Bereich der Privatklugheitslehre. 81 Doch legt Thomasius, soweit er sich explizit mit dem decorum auseinandersetzt, weit weniger Wert auf die Erörterung der Funktion der Wohlanständigkeit für die Zwecke des einzelnen als auf die Exposition der Integrationsleistung, die anständiges Verhalten für das Soziale erbringt. Ganz dem Interesse, das decorum als entscheidenden Faktor sozialer Kohäsion vorzustellen, ist die umfangreiche Diskussion der vier Grundregeln der natürlichen Wohlanständigkeit (decorum naturale) gewidmet, die er im Sommersemester 1701 vorgetragen hat. Die beiden ersten Regeln82 des decorum naturale fordern negativ, daß die Erregung von Ärgernis vermieden werden soll. Genauer heißt dies, daß die unvernünftigen Willensneigungen des Menschen weder positiv (,angenehmes Ärgernis') noch negativ (,verdrießliches Ärgernis') provoziert werden sollen, wobei auch die unbeabsichtigte Stimulation unvernünftiger Handlungsimpulse als solche erkannt und unterlassen werden soll:83 Die erste Regel wendet sich gegen das Verführen der Mitmenschen: nämlich, andere anzureizen, daß sie etwas Böses unter dem Schein des Guten begehren. Im Falle des verdrießlichen Ärgernisses, mit dem sich die zweite Regel beschäftigt, ist das Augenmerk darauf gerichtet, daß nicht das Ausbrechen von „Eyffer" und „Zorn" bei den anderen hervorgerufen wird. 84 Thomasius greift in diesem Zusammenhang auf das System einer Affektenlehre zurück, das er in seiner Ethik entwickelt hatte. Danach lassen sich

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Thomasius, Der vierte Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 236. Thomasius, Einleitung zur Sittenlehre, (wie Anm. 51), 2, §§ lOff., S. 104. Vgl. Thomasius, Christian, Kurtzer Entwurf/ der Politischen Klugheit, sich selbst und allen andern in allen menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen, und zu einer gescheidten Conduite zu gelangen [...]. Franckfurth / Leipzig 1720 ['1705], insb. Cap. I, S. 1-25. Dazu: Schneiders, Werner, Thomasius politicus. Einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre, in: Zentren der Auflclärung, (wie Anm. 57), S. 91-109. Thomasius nimmt später die unproblematische Subsumtion der decorum-Theorie unter die legitime Klugheitslehre zurück, wie im folgenden an seiner Kritik des decorum politicum deutlich werden wird. Manfred Beetz [Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite. Thomasius in der Geschichte der Gesellschaftsethik, in: Schneiders, Werner, (Hg.), Christian Thomasius 1655-1728, (wie Anm. 15), S. 199-222, 206], sieht nach 1699 bei Thomasius sogar eine deutliche „Trennung von Umgangslehren und Politik" Platz greifen. Vgl. Thomasius, Der vierte Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 242. Ebd., S. 238, 242, 244. Ebd., S. 244f.

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die individuellen Charaktere der Menschen auf die jeweils unterschiedliche Ausprägung und Mischung von drei hauptsächlichen unvernünftigen Willensneigungen zurückfuhren, die Thomasius in den Grundaffekten der Wollust, des Ehrgeizes und des Geldgeizes typisiert.85 Deqenige, der das decorum wahren will, ist gehalten, die individuelle charakterliche Disposition der oder des Interaktionspartner/s - ihre oder seine Unvollkommenheit im Sinne von Unvernunft - bei seinem Handeln zu berücksichtigen. Konkret bedeutet dies für den Wohlanständigen, dem Thomasius dazu die ,Kunst, die menschlichen Gemüter zu erkennen', 86 an die Hand gegeben hatte, daß er die Wollust nicht durch „Viel oder délicat Essen / zum Überfluß trincken / Gebrauch starckes [sie!] Geträncks / Entblössung der Gliedmassen / hertzen / küssen" und ähnliches reize. Was den Ehrgeiz anbetrifft, so soll er nicht „mit Worten und Wercken andere loben und ehren / andern zu gefallen leben / andern ihr Thun und Lassen / nach seinem Kopffe / oder nach gewissen vorgeschriebenen Lebens-Reguln wollen einrichten" und endlich den Geldgeiz nicht „mit Arbeitsamkeit oder verschlagenen Anschlägen nach Eigenthum" anstacheln. 87 Dazu gehört für Thomasius auch die S i m u l a t i o n in dem Sinne, die eigenen Affekte klug zu verbergen, wenn es die Umstände angezeigt sein lassen, obgleich er findet, daß dies selten gebilligt werden könne. 88 Die beiden weiteren Regeln des decorum naturale fordern positiv „daß man gegen iederman / so viel immer möglich / in Worten und Wercken eine auffrichtige Freundligkeit erweise" und, „daß diese Freundligkeit / wenn andere etwas unehrbares thun sollten / mit einer klugen Ernsthafftigkeit / jedoch ohne Zorn und Grausamkeit vermischt werde". 89 Wohlanständigkeit besteht demzufolge nicht allein darin, Anstoß zu vermeiden, sondern erstreckt sich auch darauf, aktiv den gesellschaftlichen Verkehr durch das mit kluger Distanz gegenüber Unanständigen temperierte Wohlwollen zu befördern. Damit wird deutlich, daß das, was das Thomasische decorum fordert, sich nicht auf die Beachtung eines statischen Kodex detailliert ausgeführter, zur bloßen Form erstarrter, quasi ritueller Verhaltensregeln beschränkt. Die Erfüllung des Schicklichen erschöpft sich gerade 85

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Vgl. Thomasius, Christian, Ausübung der Sittenlehre, Nachdruck der Ausgabe Halle 1692. Hildesheim 1968, 7, S. 157ff.; 12, S. 303ff. Vgl. Thomasius, Der vierte Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 250. Vgl. weiter Thomasius, Christian, Die neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen Wissenschaft, das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen [Kurfürst Friedrich ΠΙ. zu Neujahr 1692 gewidmete Schrift], in: ders., Kleine deutsche Schriften, Nachdruck der Ausgabe Halle 1701. Hildesheim 1994 (Ausgewählte Werke, 22), Nr. X, S. 411^142; ders., Weitere Erleuterung durch verschiedene Exempel des ohnlaengst gethanen Vorschlags wegen der neuen Wissenschafft, anderer Menschen Gemuether erkennen zu lernen [...], Halle 1692; vgl. weiter den „Spiegel der Erkäntnis seiner selbst und anderer Menschen, in: ders., Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit, (wie Anm. 81), Cap. IV, adpaginam 129. Thomasius, Der vierte Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 239f. Ebd., S. 241; Thomasius, Der erste Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 279. Thomasius, Der vierte Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 238f.

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nicht in der Umsetzung abstrakter formaler Standards der Praxis, sondern erfordert das kluge Sich-Einfühlen in eine Situation, das wesentlich von der Erkenntnis des Charakters des Handlungspartners abhängig ist und insofern durch die Technik der d i s s i m u 1 a t i o 90 erst ermöglicht wird. Wenn Thomasius formuliert: „Das decorum ist die Seele der Menschlichen Gesellschafften / es ist eine Schwachheit / aber es ist kein Laster. Ein Weiser höret nicht auf ein Mensch zu seyn / und also bemühet er sich nicht die Menschheit abzulegen", 91 fuhrt er die Funktionen, die das decorum fur die Gesellschaft wie für den einzelnen hat, zusammen, und weist es mit Blick auf diese zweidimensionale Funktionalität als regulative Kategorie aus, die die Defizite des gefallenen Menschen, soweit sie im gesellschaftlichen Verkehr fühlbar werden, durch die Anleitung zu gutem Umgang zu kompensieren sucht.

III. Das decorum als Systemteil der Thomasischen Naturrechtslehre Mit der Integration seiner doctrina de jure decori in die theoretische Prinzipienlehre des Naturrechts in den Fundamenta 1705 leistete Thomasius die Klärung seiner decorum-Theorie durch ihre Objektivierung im Rahmen eines politik- bzw. sozialphilosophischen 92 Integrals. Das decorum (das Wohlanständige) wird nun ebenso wie das iustum (das Gerechte) und das honestum (das „Ehrliche") 93 in ein Prinzip gefaßt, so daß eine Systematisierung der Naturrechtslehre nach drei Einzelprinzipien erreicht wird. Diese werden ungeachtet dessen, daß Thomasius als oberstes Prinzip seines Naturrechts das Glückseligkeitspostulat 94 einführt - als Derivate der Friedenspflicht vorgestellt, welche damit zum tatsächlich handlungsleitenden (die drei Einzelprinzipien 90

91 92

93

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Vgl. Geitner, Ursula, Komplement der Verstellungskunst: Die kardiognostische Wissenschaft des Christian Thomasius, in: dies., Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992, S. 124-139. Thomasius, Der dritte Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 213f. Beide sind nicht zu trennen, da die Thomasische Naturrechtslehre noch auf die aristotelische Gesellschaftslehre rekurriert. Dabei entsteht eine terminologische Schwierigkeit durch den uneinheitlichen Gebrauch von ,Ehrbarkeit'. In den älteren Schriften, so in Thomasius' Vorlesungsankündigungen, steht .Ehrbarkeit' fur decorum [dies gilt auch für die ,Ehrbarkeit der Patriarchen', vgl. unten, Anm. 132, die nicht etwa „ein Antonym" zu ,decorum' konstitutiert, wie Beetz, Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite, (wie Anm. 81), S. 210, meint]. In den Höchstnöthige[n] Cautelen welche ein Studiosus Juris / der sich zu Erlernung der Rechts-Gelahrheit Auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will/zu beobachten hat. Halle 1713 [„Cautelen"], Cap. 15, § 1, S. 364, wie auch in der Vorrede zu den Grundlehren, § 25, gibt .Ehrbarkeit' jedoch honestum wieder. Im folgenden wird, dem vorwiegenden Gebrauch in den Grundlehren entsprechend, honestum mit ,das Ehrliche' (bzw. ,Ehrlichkeit') übersetzt. „[...] dasjenige muß man thun/ was der Menschen Leben sehr lang und glückselig machet; und dasjenige muß man meiden / was das Leben unglückselig machet und den Todt befordert." Thomasius, Grundlehren, (wie Anm. 19), 1, 6, § 21, S. 114.

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zusammenfassenden) obersten Prinzip aufrückt. 95 Das Prinzip des Gerechten richtet sich auf den äußeren (sozialen) Frieden, das des „Ehrlichen" auf die pax interna, den inneren Frieden des einzelnen, der als Gemütsruhe das höchste Gut des Menschen oder seine Glückseligkeit ausmacht. 96 Gut und böse werden in Relation zu den beiden Extremen bestimmt, sehr gute Handlungen befördern den inneren Frieden, sehr böse stören den äußeren. 97 Das Anständige oder decorum irisiert vor allem zwischen diesen beiden Polen des äußeren und inneren Friedens, wenn es Thomasius auch zunächst als das Prinzip von nicht-friedensrelevanten Handlungen definiert, womit er es erneut als Regel der Adiaphora bestimmt. 98 Liest man Thomasius' Naturrecht als Gesellschaftstheorie, ergibt sich anhand der drei Prinzipien das folgende Bild: Das Gerechte, nach dem anderen nicht zugefügt werden soll, was „du dir nicht wilt gethan wissen" 99 reguliert das Zwangsrecht, es soll im Rechtssystem eines Staates positiviert werden und generiert, insofern es negativ formuliert, prohibitive Rechtsnormen. Durch die Einschärfung des Gerechten soll lediglich das im äußeren Unfrieden bestehende größte Übel abgewehrt werden. Auf der Grundlage einer an Hobbes angelehnten Souveränitätsbegründung 100 erweist sich das iustum im rechtsstaatlichen Konzept des Thomasius als Regulativ der Staatstätigkeit; die Staatsmacht wird tätig, wenn diese basale Variation der Goldenen Regel verletzt wird. Thomasius gibt damit der zuerst 1689 ausgesprochenen Beschränkung des Staatszwecks auf die Wahrung der äußeren Sicherheit101 die systematische Form, eine negative Funktion, nachdem er noch in den Institutiones auch die wohlfahrtsstaatliche Aufgabenstellung („Autarkeia") in die Staatszielbestimmung aufgenommen hatte.102 Bedeutsamer als die Ausgliederung der Staatszielbestimmung der Autarkie ist jedoch der Verzicht auf die Moralisierung103 des Menschen durch die Zwangsgewalt, soweit sie die bloß äußerliche Konformität des Handelns mit der negativen Regel der Gerechtigkeit übersteigt. Entziehen sich die inneren Handlungen des Willens, die Gesinnung, die unter dem 95 96

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Vgl. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik, (wie Anm. 15), S. 267. Thomasius, Einleitung zur Sittenlehre, (wie Anm. 51), 2, §§ 62f., 65, S. 84ff. (Vgl. unten, Anm. 119). Thomasius, Fundamenta, (wie Anm. 19), 1, 4, § 87. Ebd. Thomasius, Grundlehren, (wie Anm. 19), 1, 6, § 42. Thomasius, Fundamenta, (wie Anm. 19), I, IV, § 1. Vgl. I, VI, §§ 62f.; I, V, § 48. Schon in den Institutiones beurteilt Thomasius die Natur des Menschen ähnlich wie Hobbes: „Es wird der Mensch duch seine angebohrne Neigungen dahin getrieben / daß er niemand unterthänig seyn / sondern alles nach seinem Kopff machen will / und kaum durch Furcht der Straffe dahin zu bringen ist / daß er den Regierenden gehorsam leiste / und seine wilde Art / und sein Gemüt / so zu vielen Lastern / von denen man auch bey den Bestien nicht ein mal ein Gleichnis findet / geneigt ist / ablege" [Göttliche Rechtsgelahrheit, (wie Anm. 2), ΠΙ, VI,

§22], 101 102 103

Vgl. oben, Anm. 46. Thomasius, Institutiones, (wie Anm. 28), III, VI, §§ 4, 6. Die Moralität des Menschen besteht in der Gerechtigkeit, dem Anstand und der Ehrlichkeit [Thomasius, Fundamenta, (wie Anm. 19), Caput prooemiale, § 25].

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Prinzip des honestum stehen, ohnehin der Möglichkeit einer direkten Kontrolle, so betrifft diese Disposition der Thomasischen Lehre vor allem den Anstand, mithin die Praxis, die unter dem decorum steht. Thomasius fixiert es in der positiv formulierenden Regel: „Was du wilt, daß andere dir thun sollen, das thue du ihnen."104 Genauer wird es in den Cautelen bestimmt, und zwar als ein liebevolles Werben um die Freundschaft anderer: Es ist aber das Decorum oder die Wohlanständigkeit eine moralische Beschaffenheit des Menschlichen Thun und Lassens / nach welcher ein Mensch auff vemünfftige Art sich suchet, Freunde zu machen. Freunde aber macht man sich durch Liebe / und dergleichen lobwürdige Verrichtungen die dem andern ein Zeugnüß unserer Liebe geben." 105 Im Vergleich mit der Regel des honestum „Was du wilt / daß andere sich thun sollen / daß thue du dir selbsten 106

zeigt sich nun eine funktionale Verbindung zwischen beiden Prinzipien. Dies ergibt sich aus der Identität von innerem Frieden als Ziel des honestum und dem Begriff der Gemütsruhe, dem obersten Gut nach der Thomasischen Ethik, welches durch das vernunftgeregelte Begehren, die vernünftige Liebe,107 erreicht wird bzw. in dieser besteht. Das honestum erweist sich also genauer als das Prinzip der vernünftigen Liebe oder die „Lehre von der vernünftigen Liebe".108 Daß das decorum widerspruchsvoll die zweckhafte Gemütsruhe oder den inneren Frieden voraussetzt,109 zeigt sich schließlich eindeutig, wenn Thomasius das anständige Verhalten durch die „Natur der Liebe und [...] der gesunden Vernunfft"110 bestimmt sieht. So ist es als Ausfluß der Gemütsruhe Kennzeichen der vernunftmoderierten Affektivität, wenn auch nicht ihr notwendiger Bestandteil (die vernünftige Liebe muß sich nicht notwendigerweise im äußeren Handeln manifestieren).111 Darin berührt sich die decorum-Theorie des Thomasius mit der Ciceros.112 Dieser hatte in De officiis

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Thomasius, Grundlehren, (wie Anm. 19), I, 6, § 41. Thomasius, Cautelen, (wie Anm. 51), ap. 15, §§ 9f., S. 368f. Dies kündigt sich bereits in der Erläuterung der dritten (positiven) Regel von der „Erbarkeit" in: Thomasius, Der erste Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 277, an: „wenn du wilt geliebt werden / so liebe zu erst." Thomasius, Grundlehren, (wie Anm. 19), I, 6, § 42. Diese anthropologische Qualität ersetzt die der socialitas, welche in den Institutiones das Prinzip der naturrechtlichen Pflichtenlehre konstituiert hatte. Vgl. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik, (wie Anm. 15), S. 143ff. Das Prinzip der vernünftigen Liebe führt Thomasius in der Einleitung zur Sittenlehre (wie Anm. 51 ) im vierten Hauptstück ein. Da die Liebe dem Zwang entgegengesetzt ist, setzt sie die Freiheit von äußerem Zwang voraus. Einleitung zur Sittenlehre, 5, §§ 29, 78, S. 213, 239. Der Zwang macht den Unterschied zwischen der Liebe und der Gerechtigkeit, ebd., 9, § 3, S. 356f. Thomasius, Cautelen, (wie Anm. 51), Cap. 15, § 1, S. 364. Die gemeinte Funktionsbeziehung selbst widerspricht dem Zweckcharakter des inneren Friedens: Wird doch hier der innere Friede (als vernünftige Liebe) zur Voraussetzung für naturrechtskonformes (schickliches und gerechtes) Handeln, insofern es vom Individuum gewollt wird. Der innere Friede hat zugleich den Charakter eines Zwecks und eines Mittels. Dazu Schneiders, Naturrecht und Liebesethik, (wie Anm. 15), S. 267. Thomasius, Cautelen, (wie Anm. 51), Cap. 15, Fn. 1, zu § 10, S. 369. Thomasius, Einleitung zur Sittenlehre, (wie Anm. 52), 2, §§ 105f., S. 102f. Vgl. zum Folgenden Labowsky, (wie Anm. 24), S. 69ff.

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die grundlegende Bestimmung des ethischen decorum als das, was der menschlichen Natur angemessen ist, insofern sie sich durch die Vernunft von der tierischen unterscheidet, von Panaitios übernommen. So erscheint bereits bei Cicero das decorum als eine äußere Erscheinungsform des honestum (wie auch die iustitia):" 3 es setzt also die Ehrenhaftigkeit" 4 schon voraus." 5 Die Parallelen zwischen der Ciceronischen Philosophie der Praxis und Thomasius' Naturrechtslehre von 1705 erschöpfen sich darin jedoch nicht. Auch in der expliziten Unterscheidung von Pflichten der Gerechtigkeit und solchen des Anstandes hätte Thomasius sich auf Cicero beziehen können.116 Zudem konvergieren beide Theorien weitgehend in materieller Hinsicht: Nach Cicero richtet sich das decorum darauf, daß ein überlegtes, den Umständen und der Rolle des Handelnden angemessenes Verhalten realisiert wird. Wenn er dem decorum die vierte Kardinaltugend der verecundia (das Taktgefühl) zuordnet, entspricht dies der negativen Normativität des Anstandes nach der Regel, daß Ärgernis zu vermeiden sei,117 welche Thomasius ja ebenfalls postulierte. Demgegenüber ist es die Verbindung der Unterscheidung verschiedener Bereiche der Praxis der aktualisierten honestas mit der von Grotius entlehnten Unterscheidung der Pflichten nach der Erzwingbarkeit" 8 und die Darstellung in der Form einer naturrechtlichen Prinzipienlehre, welche zweifellos Thomasius' Originalität ausmacht. Mit dieser Synthese entwickelte Thomasius ein Begriffssystem, in dem sich die Differenz zwischen einem Sektor staatlicher Kompetenz und einer Gesellschaft zwangsfrei verkehrender Individuen deutlich abzeichnet: Für die Überwachung bzw. Umsetzung der Anständigkeit des Verhaltens kommt nach Thomasius auch keine andere äußere Institution außer oder neben dem Staat in Frage, denn die Aktualisierung des decorum setzt die Fähigkeit zur Selbstregulation der Handlungsantriebe oder, wie Thomasius es nennt, die vernünftige Liebe im Handelnden voraus. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß 113 114

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Cicero, De officiis, I, 20-60. Vgl. ebd., I, 11-14 (Das Ehrenhafte als Vollendung der Vernunftnatur des Menschen). Zu seiner Funktion als absolutes normatives Ideal und letzter Maßstab aller pflichtgemäßen Handlungen vgl. das Nachwort Heinz Gunermanns zu De officiis, (wie Anm. 24), S. 426f. Cicero, De officiis, I, 94: „Quicquid est enim, quod deceat, id tum apparet, cum a n t e g r e s s a est honestas" (Hervorhebung vom Verf., K.-G. L.). Ebd., I, 99: „Est autem quod différât in hominum ratione habenda inter iustitiam et verecundiam. Iustitiae partes sunt non violare homines, verecundiae non offendere, in quo maxime vis perspicitur decori." Eine explizite Unterscheidung und Opposition von decorum naturale und decorum politicum (dazu im folgenden), des Frühaufklärers findet sich bei Cicero allerdings nicht. Die richtige Ordnung des Handelns, der persönlichen Erscheinung wie des gesamten Lebenszusammenhanges, welche ziert - sittlich schön ist - , befindet sich per se im Rahmen des sittlichen Herkommens. Daher besteht auch keine Notwendigkeit, ein vernunftnotwendiges decorum mit dem historisch üblichen durch die Pflicht, Ärgerais zu vermeiden, indirekt zu versöhnen. So besteht das decorum nicht zuletzt darin, sich seinem Rang bzw. der staatspolitischen Funktion entsprechend zu verhalten. {De officiis, I, 124f.) Der Ciceronische decorum-Begriff ist konservativ, ihm fehlt die Öffnung zur Kulturkritik. Thomasius, Institutiones, (wie Anm. 28), I, I, § 104.

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Thomasius damit nicht nur einen Bereich staatsfreien Handelns, sondern zugleich eine Zone der Autonomie begründet. Darüber hinaus besteht eine funktionale Wechselwirkung zwischen politischem und gesellschaftlichem Teilsystem: Hatte sich bereits anhand der Untersuchung seiner doctrina de jure decori gezeigt, daß Thomasius das richtige decorum als zentralen Faktor sozialer Kohäsion erkennt, wird nun deutlich, daß eine Kultur der anständigen Conduite auf die Pazifizierungsleistung des Staates, welcher die Einhaltung der Pflichten der Gerechtigkeit zwangsrechtlich durchsetzt, angewiesen ist. Eine das Soziale integrierende Kultur des Umgangs setzt die äußere Befriedung der Gesellschaft voraus, um sich etablieren zu können. Andererseits aber fehlt einer bloß äußerlich befriedeten Gesellschaft die Kohäsion, der soziale ,Kitt', die der zuvorkommende, wohlwollende Anstand leistet bzw. hervorbringt, welcher seine Quelle im inneren Frieden, dem beruhigten Gemüt hat." 9 Für Thomasius bleibt die Prämisse der asozialen Soziabilität, von der die Hobbessche Staatslehre ausgegangen war, unbefriedigend. Er unternimmt den Versuch - nicht nur gegen Hobbes, sondern ebenso gegen die für seine decorum-Theorie wichtigste Quelle, eine Briefdissertation des Privatgelehrten Lambert van Velthuysen120 - im Medium der Anstandslehre die Textur dessen zu bestimmen und zu normieren, was die Gesellschaft positiv zusammenhält. Damit gewinnt die Naturrechtslehre des Thomasius ein überraschendes sozialphilosophisches Profil. Dennoch ist seine Lehre zugleich und in erster Linie aufgeklärte Moralphilosophie, die auf das oberste Ziel des inneren Friedens ausgerichtet bleibt. Seine Lehre sucht, über die Moralisierung des einzelnen die letztlich auf den Sündenfall zurückweisende asoziale Affektnatur des Menschen zu korrigieren. Thomasius verfolgt das Ziel, die Außenleitung der unvernünftigen Individuen durch die staatlichen Institutionen in die Innenleitung des Subjekts zu verlegen.121 Um diesen Prozeß einzuleiten, entwickelt er ein pädagogisches Konzept, welches auf die Selbstaufklärung des Subjekts durch die säkulare Wissenschaft, die „WeltWeißheit" setzt. So wird die „Gelahrheit" zu dem Mittel, welches den Menschen aus seiner „Unvollkommenheit", zu der er durch den Sündenfall depraviert ist, „heraus reisset".122 Die Perspektive eines moralischen Fortschritts, die Thomasius damit eröffnet, kann zwar nur regulativen Status haben. Denn auch der Weise, der 119

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Aufschlußreich ist gerade in diesem Zusammenhang die Definition der Gemütsruhe als „eine ruhige Belustigung/ welche darinnen bestehet / daß der Mensch weder Schmerzen noch Freude über etwas empfindet / und in diesem Zustande sich mit andern Menschen die eine dergleichen Gemüths-Ruhe besitzen / zuvereinigen trachtet" (Thomasius, Einleitung zur Sittenlehre, 2, § 65, S. 85f.). Vgl. Marti, Hanspeter, Naturrecht, Ehrbarkeit und Anstand im Spiegel frühaufklärerischer Hobbeskritik, in: Aufklärung 6 (1991), 2, S. 69-95, hier S. 83. Vgl. zum Folgenden meine Studie Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff, (wie Anm. 1), § 7c: Fürst und Lehrer als Agenten der Implementierung der Norm, und § 10: Autonomie, Vernunftpessimismus und protoliberales politisches Modell. Thomasius, Einleitung zur Vernunftlehre, (wie Anm. 61), 1, § 12, S. 79.

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durch die säkulare Wissenschaft Erleuchtete, ist nicht davor gefeit, unvernünftig zu handeln, wobei das vernünftige Handeln von vornherein als eine Bemühung gedacht ist, die sich immer wieder erneuern muß, mithin als unabschließbarer Prozeß erscheint. 123 Selbst der Weise ist also auf das Fortbestehen des staatlichen Zwangsrechts angewiesen. Entscheidend ist jedoch, daß Thomasius den staatlichen Zwangsverband nach der Idee seiner Moralphilosophie auf diese quasi subsidiäre Funktion beschränkt. Daran zeigt sich ein liberaler Grundzug seiner Naturrechtslehre, ganz im Gegensatz zum wohlfahrtsstaatlichen Absolutismus seiner Zeit in Theorie und Praxis. Die moralische ,Besserung' des Menschen ist, so erkannte Thomasius, nicht per vim, mit den Mitteln des Zwangsrechts zu erreichen - sieht man von der äußeren Rechtlichkeit des Handelns ab - , da das Zwangsrecht die innerliche Willensneigung der vernünftigen Liebe nicht hervorbringen kann. Damit tritt in Thomasius' politischer Theorie das Problem der Erziehungsdiktatur, wie es bereits im wohlfahrtsstaatlichen Modell von Wolff aufscheint und in der Auflösung des Konflikts von volonté générale und volonté de tous bei Rousseau virulent werden wird, gar nicht auf. 124 Doch hat Christian Thomasius das latente gesellschaftskritische Potential, das seine Moralphilosophie durch ihre Anlage gewinnt, nicht verleugnet. Es wird in seiner Theorie der historischen Sitte freigesetzt.

IV. Die falsche Höflichkeit Notwendigerweise mußte sich das decorum politicum, die raumzeitlich variable historische Sitte, die Thomasius schon in seinen Vorlesungsankündigungen von der natürlichen Wohlanständigkeit unterschieden hatte,125 dem Versuch einer Integration in die Naturrechtslehre entziehen, da es der Egalitätsprämisse der natürlichen Anthropologie widerspricht: Das natürliche Decorum / muß wie das in engerm Verstände genommene Recht der Natur / oder wie die Regeln der Gerechtigkeit / aus der gemeinen Gleichheit aller Menschen

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Vgl. Thomasius, Fundamenta, (wie Anm. 19), 1, 4, § 88; 1, 6, §§ 50, 54, 74. Ein Zustand der vollständigen Vernunftmoderation ist gar nicht erreichbar; er bedeutete die Vergöttlichung des Menschen. Thomasius, Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit, (wie Anm. 81), 1, §§ 11 f., S. 6. Ein „on le forcera d'être libre", wie es Rousseau ausstößt (Du contrat social ou principes du droit politique, I, 7, in: ders., Œuvres complètes der Bibliothèque de la Pléiade, III, S. 364) kann es bei Thomasius nicht geben. Man kann die Menschen nicht durch Zwangsmittel davon befreien, daß sie sich falsche Handlungsziele setzen. Die Läuterung der Willensneigungen ist durch eine gewaltsame pädagogische Praxis nicht zu erzielen. Vgl. zu „Bürgerliche Erbarkeit" oder „decorum politicum" (auch „Höfflichkeit", „Manierlichkeit): Thomasius, Der erste Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), 283f., Der zweite Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 318-326. Vgl. weiter die Cautelen, (wie Anm. 51), Cap. 15, § 10, Fn. 1, S. 369. Dort (§§ 48, 63, S. 384, 391) weitere Ausdifferenzierungen.

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hergefìihret werden. Die veränderliche Manierligkeit aber oder das Decorum Politicum setzet eine Ungleichheit der Personen zum voraus." 126

Ist schon das natürliche decorum Äußerungsform der menschlichen Schwachheit und als solche ein Phänomen des postlapsarischen Zustandes (der unmittelbar nach dem Fall noch .einigermaßen richtig' ist),127 so ist das decorum politicum ein Phänomen des fortgeschrittenen Zivilisationsprozesses im Sinne fortgeschrittener Dekadenz und geht einher mit dem Aufkommen der Differenzierung zwischen Herrschenden und Beherrschten, begleitet vom Entstehen des Ständestaats, des Eigentums und dem Auftreten von Krieg, Räuberei und Betrug.128 Die Zunahme der Gebote des decorum politicum indiziert also den Verfall menschlicher Sozialität.129 Dabei wird die „Bürgerliche Erbarkeit" im Sinne einer ,,verderbte[n] Höffligkeit"130 als die genaue Inversion der „vernünfftigen Erbarkeit" vorgestellt, wie Thomasius in seiner historischen Exposition anhand des Alten Testamentes zeigt.131 Obwohl sich keine allgemeine Regel des decorum politicum, das sich zuerst bei den „Cainiten" ausgeprägt habe, erkennen lasse, so besteht fur Thomasius kein Zweifel, „daß die Regeln der Cainitschen Höffligkeit denen Regeln der patriarchalischen Erbarkeit nicht sollten entgegengesetzt sein", wobei sich aus dem Kontext ergibt, daß die Ehrbarkeit der Patriarchen eine vernünftige war (also mit dem decorum naturale gleichzusetzen ist).132 Das pervertierte politische decorum speist sich nicht aus der (vernünftigen) Liebe, wie die Ehrbarkeit der Patriarchen, sondern aus Haß und Mißtrauen 133 und dient als Instrument der Herrschaftssicherung. Es ergibt sich aus der Staatsraison der ,Cainitischen Republik': „nemlich / daß nothwendig aus der Herrschsucht und ambition, und der daher formirten Republique, alle herrschenden Begierden der Untertanen irritieret werden müssen: von der

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Thomasius, Cautelen, (wie Anm. 51), ebd., § 11, S. 370. Thomasius, Institutiones, I, II, § 46. Thomasius, Der zweite Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 322, 324. So sind weder im status integritatis vor dem Fall noch im Idealzustand der vollkommenen Gesellschaft der Weisen decorum und indecorum anzutreffen: Der vierte Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 287; Cautelen, (wie Anm. 51), Cap. 15, § 27, S. 376. Daher sind „auch die Gesellschafften / darinnen ein grösseres Decorum oder mehrere Ceremonien müssen beobachtet werden / die unvollkommensten d. i. aus Weisen und Toren vermischet" (ebd., § 28, vgl. § 26, Fn. Y). Thomasius, Der zweite Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 325. Ebd., S. 318-326. Unter patriarchalischer Ehrbarkeit' wird das natürliche decorum verstanden, wie Thomasius schon in: Der erste Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 280, angedeutet hatte, und sich im folgenden daran zeigt, daß die Regeln der Höflichkeit, die denen der patriarchalischen entgegengesetzt sein sollen, anhand der Pervertierung der vier Regeln des decorum naturale veranschaulicht werden [in: Der zweite Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 320]. Thomasius, Der zweite Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 320.

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Staats-Regel der falschen Politic: Daß man es denen Leuten / denen man gutes thun wolle / ein wenig sauer machen müsse." 134

Es beschreibt für Thomasius also die schlaue, amoralische Politesse der Tyrannen, die die Unvollkommenheit der Menschen, welche sich in ihrer Unvernunft zeigt, für ihre Zwecke auszubeuten weiß, und gehört also zu den Äußerungsformen der im Alten Reich verfemten ratio status Machiavellis.' 35 Wenn Thomasius dann in den Cautelen decorum politicum und Zeremoniell identifiziert, 136 tritt aus der biblizistischen Einkleidung eine fulminante Kritik am überbordenden Zeremonienwesen der barocken Ständegesellschaft hervor, die nicht nur das decorum politicum im Sinne der Übersteigerung privatpolitisch motivierter bürgerlichhöfischer Interaktionsformen scharf kritisiert, sondern es zudem in der Form des offiziellen Zeremoniells, dem Medium der Selbstinszenierung monarchischer maj estas, als Mittel der Staatsraison decouvriert: „Derowegen ist kein Zweiffei / daß man getrachtet / durch angenehmes Aergernüß die Begierden der Unterthanen zu irritieren / damit sich dieselbigen zur Unterthänigkeit und blinden Gehorsam desto eher bequemten." 137 Thomasius enttarnt das arcanum imperii, daß das höfische Zeremoniell eine zur Machterhaltung instrumentalisierte Form des decorum ist,138 wobei offen zu Tage tritt, daß eine derartige Herrschaftstechnik illegitimen Zwecken dient. Die Radikalität dieser Position wird in Anbetracht der Zeremonialwissenschaft des 18. Jahrhunderts (Lünig, Rohr) 139 deutlich, die auf dem Boden der von Thomasius übernommenen pessimistischen Affektenlehre meint, das höfische Zeremoniell als Mittel zur Lenkung der Untertanen bedenkenlos empfehlen zu können: Grosse Herren sind zwar sterbliche Menschen; Weil sie aber Gott selbst über andre in dieser Zeitlichkeit erhoben, und zu seinen Stadthaltern auf Erden gemacht, also daß sie vor der Heil. Schlifft in solchem Verstände gar Götter genennet werden, so haben sie freylich Ursache, sich durch allerhand euserliche Marquen vor andern Menschen zu distinguiren, um sich dadurch bey ihren Unterthanen in desto grösseren Respect und Ansehn zu setzen. Denn die meisten Menschen, vornehmlich aber der Pöbel, sind von solcher Beschaffenheit, daß bei ihnen die sinnliche Empfind- und Einbildung mehr, als Witz und Verstand vermögen, und sie daher

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Ebd., S. 321. Vgl. von Rohr, Julius Bernhard, Einleitung zur Staats-Klugheit, oder: Vorstellung wie christliche Regenten zur Beförderung ihrer eigenen und ihres Landes Glückseeligkeit ihre Untertanen zu beherrschen pflegen. Leipzig 1718, §§ 1-5, S. 1-8. Vgl. § 21, S. 85. Vgl. weiter Walch, Johann Georg, Art. Machiavellisten, in: ders., Philosophisches Lexicon, Nachdruck der 4. Aufl. Leipzig 1775. Hildesheim 1968, Sp. 7-9. Vgl. Anm. 129. Thomasius, Der zweite Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 320 Vec, Milos, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation. Frankfurt/M. 1998 (lus commune, Sonderhefte, Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Bd. 1), S. 404f. Vgl. Vec, (wie Anm. 138), S. 139ff.

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durch solche Dinge, welche die Sinne kützeln und in die Augen fallen, mehr als durch die bündig- und deutlichsten Motiven commoviret werden. 140

Nach dieser kompromißlosen Kritik des historischen decorum konnte Thomasius die Formen des bürgerlichen Anstands, die die soziale Hierarchie zum Ausdruck bringen, und denen er selbst in der Inszenierung seiner Persönlichkeit durchaus gefolgt ist,141 nur noch indirekt legitimieren: So lehrte er, daß unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, der Organisationsform des depravierten Menschen nach dem Fall, das Gebot des decorum naturale, daß Anstoß zu vermeiden ist, die Respektierung der Ständeschranken erfordere.142 Ein Handeln, das dem bürgerlich-höfischen Anstand genügt, ist jedoch nur legitim, wenn es rein äußerlich bleibt. Daher gebraucht auch ein „frommer und tugendhaffter Mann viele Sitten / die aus einem verderbten Ursprung zwar entstanden / aber doch an und für sich indifferent sind", aber „ohne das Herz daran zu hängen."143 Der aufgeklärte Bürger erkennt die Substanzlosigkeit des zeitgenössischen Anstands, er verachtet jedoch nicht zynisch die Conduite, sondern respektiert sie innerlich distanziert aus der Einsicht, daß ihre Übertretung dem Unfrieden Vorschub leistete. Dabei ist diesem Bürger das vorurteilskritische Bewußtsein davon stets präsent, daß die Ungleichheit der Menschen das Ergebnis eines historischen Verfallsprozesses ist und keineswegs natürliche Ursachen hat: Es ist eines von denen grossen praejudiciis, daß die meisten Dinge, die wir der Natur zuschreiben, von der Gewohnheit oder Aufferziehung herkommen. Man ziehe nur Bürgerliche Kinder adelich, und Adeliche Bürgerlich auf, und sehe alsdenn, ob man einen grossen Unterscheid finden werde. 144

Der sozialkritische Impetus der Thomasischen Naturrechtslehre wird nicht etwa zurückgenommen; ganz im Gegenteil: Indem Thomasius den Zivilisationsprozeß

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Lünig, Johann Christian, Theatrum ceremoniale historico-politicum [...]. Leipzig 1719/20, S. 5. Zudem steht Thomasius in kompromißloser Opposition zu der bei Lünig deutlich werdenden Aufassung von der Gottesunmittelbarkeit der Herrschaft. Vgl. dazu Grunert, Frank, Zur aufgeklärten Kritik am theokratischen Absolutismus. Der Streit zwischen Hector Gottfried Masius und Christian Thomasius über Ursprung und Begründung der summa potestas, in: Vollhardt, Friedrich (Hg), Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 51-77. Dabei orientierte sich auch Thomasius - anders als die Pietisten - an der hegemonialen Adelskultur. Vgl. Hinrichs, (wie Anm. 52), S. 354. Grundsätzlich blieb Thomasius damit freilich im Rahmen des decorum der Gelehrten. Vgl. Beetz, Manfred, Der anständige Gelehrte, in: Neumeister, Sebastian / Wiedemann, Conrad, Res publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Teil I (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 14), Wiesbaden 1987, S. 155-173, 156f. Thomasius, Cautelen, (wie Anm. 51), Cap. 15, § 56, S. 388. Vgl. die Definition des decorum politicum ebd., § 22, S. 374f. Vgl. zum Ganzen: Beetz, Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite, (wie Anm. 81), S. 203f. Thomasius, Der zweite Teil der Grundlehren, (wie Anm. 60), S. 325. Thomasius, Monatsgespräche, (wie Anm. 11), ΙΠ, S. 91 lf.

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negativ deutet und die Natürlichkeit der sozialen Differenzierungen leugnet, nimmt er Rousseausche Positionen vorweg. 145 Thomasius erkannte die Notwendigkeit einer positiven Integration der bürgerlichen Gesellschaft im Zusammenspiel mit der negativen Integrationsleistung des staatlichen Rechtssystems. Seine gegen den großen Widerstand der orthodoxen Lutheraner sowie der pietistischen Neoorthodoxie sukzessiv entwickelte Anstandslehre, die er 1705 in das Zentrum seines Naturrechtssystems stellte, steht in deutlicher Distanz zum status quo seiner Zeit. An ihr wird das politische Anliegen des Thomasius ablesbar, das es verbietet, ihn als privatklugen Taktiker anzusehen.

145

Vgl. insbesondere Rousseau, Jean-Jacques, Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l'inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt u. kommentiert v. Heinrich Meier. München / Wien / Zürich 4 1997.

MARTIN MULSOW ( M ü n c h e n )

Literarisches Feld und philosophisches Feld im ThomasiusKreis: Einsätze, Verschleierungen, Umbesetzungen Drei Jahre nachdem Christian Thomasius die Universität Leipzig verlassen hat, 1693, hat dort ein literarischer Nobody, ein Mann vom untersten Ende der universitären Hierarchie, der Sprachmeister Pierre François Roy, einen allegorischen Dialog ersonnen, in dem Vernunft, Grammatik und Sprachgebrauch miteinander streiten. 1 Als Französischlehrer war Roy mit dem Alltag mit jener Manie beschäftigt, die Thomasius die Nachahmung der Franzosen genannt hat, nämlich damit, jungen Leipzigern Französisch beizubringen. Der Sprachmeister war ein konservativer Mann. Modische Tendenzen, die Fremdsprache allein durch den Gebrauch zu lernen, hat er in seinem Dialog mit den Argumenten der zwei allegorisch auftretenden Göttinnen Grammaire und Raison gegenüber dem Banausen Usage bekämpft. Was kann uns dieser kleine Dialog lehren? Ganz einfach: Man ersetze Usage durch ,Praxis', durch ,Praktiken', und schon gelangen wir von der Debatte der französischen Klassik um die Gebrauchstheorie der guten Sprachverwendung von Vaugelas mitten in die postmoderne Doktrin vom Vorrang der Praktiken des Diskurses vor seinen Inhalten. Und so möchte ich denn die Titelformulierung dieser Tagung vom literarischen ,Feld' als Einladung nehmen, einige Konzepte der Feldtheorie Pierre Bourdieus auf ihre Brauchbarkeit für das Ambiente der Hallenser Frühaufklärung zu prüfen. Ob ich wie Roy das nur tue, um schließlich den .Praktiken' im Namen traditioneller Vernunft und Geistesgeschichte den Garaus zu machen, sei vorerst dahingestellt. Bourdieu versteht bekanntlich das intellektuelle Leben als ein Spiel um Macht, und sein ,Feld' hat vornehmlich die Konnotation von .Spielfeld', in dem es Regeln gibt, Einsätze, Konflikte, Strategien und schließlich auch Gewinn. Feld ist eine „Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen". 2 Von ,literari-

2

Roy, Pierre François, Dialogues entre l'usage, la grammaire françoise et la raison. Leipzig 1693; vgl. Ehler, Karin und Mulsow, Martin, Gespräche über Grammatik und Civilité. Multifunktionalität von sprachdidaktischen Dialogen bei François de Fenne (1690) und Pierre François Roy (1693). In: Romanische Forschungen 107 (1995), S. 314-342. Vgl. Bourdieu, Pierre, und Wacquant, Loïc J. D., Reflexive Anthropologie. Übers, v. Hella Beister. Frankfurt/M. 1996, S. 127: „Analytisch gesprochen wäre ein Feld als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen zu definieren. Diese Positionen sind in ihrer Existenz und auch in den Determinierungen, denen die auf ihnen befindlichen Akteure oder Institutionen unterliegen, objektiv definiert, und zwar durch ihre aktuelle und potentielle Situation (situs) in der Struktur der Distribution der verschiedenen Arten von Macht (oder Kapital), deren Besitz über den Zugang zu den in diesem Feld auf dem Spiel stehenden spezifischen Produkten entscheidet, und damit auch durch ihre objektiven Relationen zu anderen Positionen (herrschend, abhängig, homolog usw.). In hochdifferenzierten Gesell-

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schem Feld' statt einfach nur von Literatur zu sprechen, bedeutet also, die Machtverhältnisse und Strategien genauso mit zu berücksichtigen wie die Stile und Inhalte der Texte selbst; dazu kommt noch, daß die außerordentliche Weite dessen, was um 1700 Literatur hieß, nicht vergessen werden darf. Doch es gilt eine Kautele: Wenn Bourdieu wie auch Luhmann den modernen Feldern (oder Systemen) von Kunst oder Jurisprudenz Eigenlogiken zusprechen, die nach schön / häßlich (auch: antikommerziell) oder recht / unrecht konstituiert sind, so gilt dies noch nicht fur das frühneuzeitliche intellektuelle Feld. Gerade das lehrt uns der weite Literaturbegriff. Schöne Literatur und Historie, Jurisprudenz und Philosophie, Erudition und Stilbewußtsein sind eng ineinander verwoben; nur tentativ und nur in Teilbereichen werden sich deshalb scharfe Konturen ausmachen lassen. Nach diesen Präliminarien will ich beginnen, einige Beispiele vorzufuhren und die Sache zu konkretisieren. Ich beginne mit Formen von ,Einsätzen', behandle dann Weisen von ,Umbesetzungen', um schließlich auf Verschleierungen' und die Grenzen von Feldern zu kommen.

I.

Einsätze

Ein Spiel erfordert Einsatz. Einsatz von Ideen, von Ressourcen, von Kapital. Kapital im Sinne von Titeln, Ansehen, hohen Positionen hatte Thomasius am Anfang kaum. Schon eher Ideen, und den Mut, sich aus der satirischen Tradition ein Instrument zu formen, mit dem sich ein neuer kritischer Habitus etablieren ließ.3 Satiren können Unvereinbares zusammenstellen, das untere nach oben kehren, und sie können auch das Publikum auf ihre Seite holen, weil sie es zum Lachen bringen. Das Publikum aber ist ein großes Kapital für denjenigen, der sonst keine Machtmittel hat. Die Rolle des Burlesken, Satirischen, der Verwendung derber Sprichwörter - ich erinnere nur an den ,Herrn Christoph' in den Monatsgesprächen mit Sentenzen wie „Wer nicht ist wie der Himmel, den holt der Teuffei aufm

3

Schäften besteht der soziale Kosmos aus der Gesamtheit dieser relativ autonomen Mikrokosmen, dieser Räume der objektiven Relationen, dieser Orte einer jeweils spezifischen Logik und Notwendigkeit, die sich nicht auf die fur andere Felder geltenden reduzieren lassen. Zum Beispiel unterliegen das künstlerische, das religiöse oder das ökonomische Feld jeweils einer anderen Logik: Das ökonomische Feld ist historisch als das Feld des .Geschäft ist Geschäft' entstanden, business is business, aus dem die verklärten Verwandtschafts-, Freundschafts- und Liebesbeziehungen grundsätzlich ausgeschlossen sind; das künstlerische Feld dagegen hat sich in der und über die Ablehnung bzw. Umkehrung des Gesetzes des materiellen Profits gebildet." Vgl. auch Bourdieu, Pierre, Die Regeln der Kunst. Übers, v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/M. 1999. Zur Bedeutung der Monatsgespräche fiir die Entwicklung der Kritik vgl. Jaumann, Herbert, Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden 1995, S. 276-284.

Literarisches

Feld und philosophisches

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Feld

Schimmel" 4 - läßt sich in diesem Lichte betrachten, denn schon Satiriker w i e Schupp zur Mitte des 17. Jahrhunderts hatten dieses Mittel benutzt, um die verhärmte p e d a n t i s c h e ' Lehre aufzumischen und sich selbst zugleich unangreifbar zu machen. D a s Setzen zudem auf die politisch-galante B e w e g u n g als Etablierung eines neuen antipedantischen Habitus war durchaus Kalkulation in diesem Sinne. D a s gilt nicht nur für die Anregungen durch die Philosophie

des gens de cour des

A b b é Armand de Gérard und durch Gracián, 5 sondern insgesamt für den komplexen Zusammenhang v o n philosophia aulica, Eklektik und Affektenanlyse beim j u n g e n Thomasius. Es werden Instrumente geschmiedet, mit denen sich die Überlieferung in ein neues Licht tauchen ließ. Thomasius' Schüler Gundling hat, das sei nebenbei gesagt, auch auf den Literaten Eustache Le N o b l e de Tennelière 6 als Quelle für Thomasius in diesem Kontext hingewiesen, 7 ein N a m e , der neben den bekannten Quellen für die Temperamentenlehre w i e Morvan de Bellegarde meist vergessen wird. Le N o b l e s École

du Monde8

erschien, zumindest in den D i a l o g e n

I - I V , 1 6 9 4 / 1 6 9 5 , in j e n e n Jahren also, in denen Thomasius mit der Ausarbeitung seiner Affektenlehre beschäftigt war, die 1696 als A u s ü b u n g der Sittenlehre publiziert wurde.

4

5

6

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8

Thomasius, Christian, Freymüthige / Lustige und Ernsthaffie / iedoch Vernunfft- und Gesetzmäßige / Gedancken / Oder / Monats-Gespräche / über allerhand, fiirnehmlich aber / Neue Bücher/Durch alle zwölff Monate/ des 1688. und 1689. / Jahrs. Halle 1690. Ich zitiere hier nach Thomasius, Deutsche Schriften. Hg. von Peter von Düffel. Stuttgart 1970, S. 74. Vgl. Beetz, Manfred, Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990; Borinski, Karl, Gracian und die Hofliteratur in Deutschland. Halle 1894; Jaitner, Wilhelm Rudolf, Thomasius, Rüdiger, Hoffmann und Crusius. Studien zur Menschenkunde und Theorie der Lebensführung im 18. Jahrhundert. Bleicherode am Harz 1939; Grimm, Gunter E.: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, S. 346-425: „Politisch-galante Wissenschaft und Ethik. Das Beispiel Christian Thomasius"; Scheffers, Henning, Gallomanie und deutsche Misere, in ders., Höfische Konvention und die Aufklärung. Bonn 1980, S. 324-332.; Forssmann, Knut, Balthasar Gracian und die deutsche Literatur zwischen Barock und Aufklärung. Barcelona 1977, bes. S. 149188; Holzhey, Helmut, Der Philosoph fur die Welt - eine Chimäre der deutschen Aufklärung, in: Holzhey, Helmut und Zimmerli, Walter Christoph (Hg.), Esoterik und Exoterik. Beiträge zu Geschichte und Sinn philosophischer Selbstbestimmung. Basel und Stuttgart 1977; Sinemus, Volker, Politik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. Göttingen 1978; zur französischen Diskussion vgl. u.a. Dens, Jean-Pierre, L'honnête homme et la critique du goût. Esthétique et société au XVIIe siècle. Lexington 1981. Zu LeNoble vgl. Hourcade, Philippe: Le Noble, entre Pic et Rétif (1643-1711). Préface de Yves Coirault. Paris 1990. Gundling, Nikolaus Hieronymus, Philosophische Discourse, anderer und dritter [...] Teil, oder Academische Vorlesungen über seine Viam ad veritatem moralem. Frankfurt / Leipzig 1740, S. 650: „Zu unseren Zeiten aber ist diese doctrin, sonderlich von dem Hr. LeNoble in Frankreich, und von unserem Herrn Thomasio sehr excolieret worden. Thomasius aber hat vieles aus dem Mr. LeNoble in succum & sanguinem gebracht." LeNoble, Eustache, L'ecole du Monde ou instruction d'un pere a un fils, Touchant la maniere dont il faut vivre dans le Monde, Paris 1694/95; hier zitiert nach der Ausgabe in den Œuvres. Paris 1718. Bd.l, S. 2 1 3 - B d . 4.

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Martin Mulsow

Doch fahren wir fort. Ein Kapital für Thomasius sind auch das Wissen und die Schriften seines Vaters gewesen. So sehr er sich von ihm hat absetzen müssen, um zum eigenen Profil zu finden, so sehr hat er doch auch die philosophie- und theologiegeschichtlichen Kenntnisse von Jakob Thomasius genutzt. Manche Bände der Observationes selectae werden fast ausschließlich von postumen Beiträgen des Vaters bestritten, um das Potential an kritischen und kuriosen Betrachtungen aufzufüllen. 9 Teilweise hat Thomasius auch explizit seine Leser aufgerufen, ihn mit ihrem ,Wissenskapital' zu unterstützen, wie im September 1692 bei der Initiierung seiner Anthologien Historia sapientiae et stultitiae und Historie der Weißheit und Thorheit,10 Es kam bei solchen Beiträgen nur darauf an, sie so zu piazieren, daß sie als Provokationen geeignet waren. Darin war Gundling ein großer Meister. Gern hat er Bemerkungen fallengelassen wie die, Piaton sei doch eigentlich ein Atheist gewesen, die dann prompt Gegenschriften auf den Plan gerufen haben." Und schon hatte Gundling die publikumswirksame Kontroverse, die er haben wollte.

II.

Umbesetzungen

Mein zweiter Punkt betrifft die Umbesetzungen im intellektuellen Feld, die Thomasius und seine Anhänger vornehmen. Für Umbesetzungen ist ein praktischer Sinn, ein sens pratique,12 erforderlich, ein Riecher sozusagen, was der anderen Seite entwendet werden kann, indem man es auf geschickte Weise sich selbst aneignet. Das können etwa Themen oder Begriffe sein, die man für sich besetzt

9

10

" 12

Vgl. Observationes selectae ad rem literariam spectantem. Halle 1700-1705. 10 Bände und Additamentum, insbes. Bd. 1 (1700), in dem Thomasius drei oder vier Beiträge seines Vaters piaziert hat, Bd. 2 (1700) (sieben Beiträge), Bd. 4 (1701) (sieben Beiträge), Bd. 6 (1702) (mindestens achtzehn Beiträge), Bd. 7 (1703) (mindestens fünf Beiträge), Bd. 9 (1704) (alle zehn Beiträge). Völlig sicher sind die Beiträge in dieser Zeitschrift nicht zuzuordnen, da alle anonym erschienen sind. Doch gibt es mehrere zeitgenössische Quellen, die Zuschreibungen aus informierten Kontexten heraus vornehmen. Eine Monographie über dieses zentrale Sammelorgan der Hallenser Frühaufklärung, das zahlreiche Kontroversen und Stellungnahmen provoziert hat und dessen Horizont von den juristisch-litterärgeschichtlichen Arbeiten Ch. Thomasius', Gundlings, Struves und Reimmanns über die theologische Kompetenz Buddes bis zur Medizin Stahls reichte, fehlt bisher. Vgl. die Ankündigung von Thomasius im September 1692, die er in Historie der Weißheit und Thorheit. Halle 1693, S. 5-16 nochmals abdruckt; vgl. dort S. 12: „Und ersuche hiermit alle die junge / diehierzu etwas contribuiren wollen / daß sie sich ohnschwer wolln gefallen lassen / zu Beförderung des gemeinen besten das ihrige mit bey zu tragen." Vgl. Gundling, Nikolaus Hieronymus, Plato atheos. In [ders. (Hg.)], Neue Bibliothec. 31. Stück. Halle 1713, S. 1-31. Dazu ausführlich Mulsow, Martin, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720. Hamburg 2002. Vgl. Bourdieu, Pierre, Le sens pratique. Paris 1980. Dt.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Übers, v. Günter Seib. Frankfurt/M. 1987.

Literarisches Feld und philosophisches

Feld

107

oder umbesetzt. Aus den Anklagen auf Ketzerei solche auf Ketzermacherei zu machen, ist solch eine Umbesetzung. Es ist auffällig, daß viele Umbesetzungen erst eigentlich durch die Schüler von Thomasius zum Tragen gekommen sind. Dort, wo er nur mit einigen Bemerkungen angeregt hatte oder zurückscheute, haben Schüler die Anregungen aufgenommen und konsequent durchgeführt. Oft haben sie das vor allem in den ersten Jahren nach ihrem Studium getan, wenn sie noch nicht auf die eigene Karriere - die veränderte Position im akademischen Feld - Rücksicht zu nehmen hatten. Ein Beispiel für viele ist Jakob Friedrich Ludovici, der als ,Erich Friedlieb' 1700 eine Untersuchung des indifferentismi religionum publiziert hat, in der der Kampfbegriff der Orthodoxie, Indifferentismus, positiv dargestellt wird. Später als berühmter Professor findet sich nichts mehr dergleichen.' 3 Ähnlich der junge Johann Friedrich Kayser, auch er später berühmter Jurist: 1715 läßt er am Ende seines Studiums anonym eine Schrift De eo quod theion est in disciplinis erscheinen, in der mit Toland- oder Bruno-Zitaten dafür argumentiert wird, daß alles Wissen säkular und natürlich sei.14 Ich könnte fortfahren mit Thomasius-Schülern wie Johann Gottfried Zeidler oder Christoph Heinrich Amthor; der erste hat ätzende Polemiken gegen den Klerus verfaßt, der zweite die politische Relevanz des Aberglaubens, wenn nicht gar der Religion überhaupt, untersucht. 15 Im übrigen kamen diese Umbesetzungen nicht unbedingt nur bei direkten Thomasius-Schülern zum Einsatz, sondern zuweilen auch bei einfachen Lesern. So hat der Erfurter Student Johann Christian Behmer aus Kothen Thomasius' Rezension von Johann Nicolaus Pechlins De optima Christianorum secta in den Monatsgesprächen gelesen und sich darauf seinen eigenen Reim gemacht. Thomasius hatte das anonym erschienene Buch des Kieler Professors und Leibarztes des Herzogs von Holstein besprochen, um das Thomas Brownsche Thema der ,Religio medici' etwas zu ventilieren: einer professionsfreien Behandlung von Religion durch einen gebildeten Außenseiter, mit der These, daß solche Behandlung keineswegs ketzerisch sein muß, sondern im Gegenteil viel Frömmigkeit beweisen kann. Er sagt, „so könte man mit gutem Vergnügen des Lesers und Darstellung einer rechtschaffenen Gelahrheit dieses Paradoxon defendiren / daß die Religio Eruditorum

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15

[Ludovici, Jakob Friedrich:] Erici Fridliebii Untersuchung des indifferentismi religionum, Da man dafür hält, es könne ein jeder selig werden, er habe einen Glauben oder Religion, welche er wolle. Glücks-Stadt [recte: Halle?] o. J. [1700]. Dazu Mulsow, Moderne aus dem Untergrund, (wie Anm. 11), S. 423ff. Zu den Thomasius-Schülern allg. vgl. Rüping, Hinrich, Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule. Bonn 1968. [Kayser, Johann Friedrich:] De eo quod theion est in disciplinis. [Halle] 1715. Die Schrift setzte sich mit den Thesen von Daniel Georg Morhof über den sakralen Kern in allen wissenschaftlichen Disziplinen auseinander. Dazu Mulsow, Moderne aus dem Untergrund, (wie Anm. 11), S. 204ff. Vgl. Pott, Martin, Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992, S. 127-140.

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Martin Mulsow

die beste Religion unter den Christen sey."16 Das sagt er - bewußt - zu einer Zeit, als die ,religio politica' oder .religio prudentum', also die Privatreligion der Elite, als höchst suspekt und potentiell indifferentistisch, also ,atheistisch' galt. Student Behmer hat das Vergnügen des Lesers zu seinem eigenen gemacht und ebenso wie Ludovici den Indifferentismus dieser ,Religio prudentum' verteidigt; er tat das mit dem Arsenal der Eklektik - und hat gleich noch die Eindrücke aus einer anderen Thomasius-Besprechung in den Monatsgesprächen, die von Vairasse' Histoire des Sevarambes für die literarische Gestaltung seiner Schrift ausgeschlachtet: Die nannte sich dann im Anschluß an Thomasius' Freymiithige [...] Gedancken der neugestalteten Monatsgepräche von 1689 Freimiithige Gedancken Einiger Freyer Sudländer oder Severambes über den Statum Religionis in Teutschland, Worinnen filhrnehmlich die Religio Prudentum defendirt [...] wird}1 Die rezensierten Figuren in den Monatsgesprächen waren unvermittelt zu Protagonisten geworden, die die Thomasianische Anregung, ein Paradox zu verteidigen, durchführten. Es gibt aber nicht nur Umbesetzungen von Begriffen, sondern auch von ganzen Textsorten. Man denke an Thomasius' Umfunktionierung der Dedikationsvorrede im besagten Januarheft der Monatsgespräche von 1689. Dort heißt die Widmung „Allen meinen grösten Feinden". Gundling hat das später nachgemacht mit seiner „Allocutio ad inimicos" in der zweiten Auflage seiner Via ad veritatem}% Wie begründet Thomasius aber diese Provokation? Er sagt, daß Zuschriften an hohe Herren ja doch nur zur Schmeichelei verführten - obwohl wir wissen, „daß wir uns dadurch wohl mehr in unsere Sclaverey verwickeln/ als unsern Mangel Hilfe schaffen werden."19 Unsere Feinde dagegen, heißt es voller Satire, verhelfen uns oft ohne ihren Willen zu Wohltaten, weil sie eben jene Abhängigkeiten zerstören. Das Beispiel ist auch deshalb reizvoll, weil Thomasius hier genau die Abhängigkeiten reflektiert, die Bourdieu bei der Beschreibung der akademischen Praxis für fundamental hält: Patronageverhältnisse, Abhängigkeiten von Geld und Wohlwollen. Habt Dank, sagt Thomasius seinen Feinden, denn

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Thomasius, Freymüthiger/ Jedoch Vemunfft- und Gesetz- / mäßiger/ Gedancken/ Uber allerhand/förnemlich aber/Neue Bücher/ JANUARIUS/ des 1689. Jahrs. Halle 1689. S. 59. Eine erste wichtige Analyse dieser Schrift und ihrer Folgeschriften hat Michael Albrecht geliefert: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart 1994, S. 509-525; iur eine weitergehende Betrachtung sowie die Identifizierung von Behmer als wahrscheinlicher Autor vgl. Mulsow, Moderne aus dem Untergrund, (wie Anm. 11), S. 426ff. Gundling, Nikolaus Hieronymus, Via ad Veritatem. 2. Aufl. Halle 1713. Thomasius, Freymüthiger/ Jedoch Vemunfft- und Gesetz-/ mäßiger/ Gedancken, (wie Anm. 16), Vorrede, fol. a7r.

Literarisches Feld und philosophisches Feld

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wenn ich in besagter meiner Jugend nach meinem damahligen Verlangen einige öffentliche functiones erlanget hätte / ich vielleicht in Erforschung der Warheit ziemlich nachlässig würde geworden seyn / und aus mißtrauen / als wenn mich GOtt ohne jährliche Salariis nicht würde susteniren können / mich würde haben verleiten lassen / das allgemeine Idolum menschlicher Autorität anzubeten [...].20

Die Feinde haben das verhindert, daher kann Thomasius die Mechanismen des intellektuellen Betriebs unterlaufen. Ganz ähnlich ist es beim Kampf von Thomasius gegen Titulierungen und äußere Ehren. All dies zeigt, daß es ihm nicht darum geht, andere Titel an deren Stelle zu setzen, sondern ganz von den Titulierungen und Machtmechanismen wegzukommen. Es handelt sich um einen Wechsel der Ebene, um eine Kommunikationsreform, wie Martin Gierl es nennt: 21 statt Polemik freies Räsonnieren, statt Titulierungen Wahrhaftigkeit, statt Sekten Eklektik, statt Schmeichelei Wahrheit; und das auch umgesetzt in neuen Zeitschriften und Philosophiekompendien. Insofern, könnte man einwenden, unterläuft Thomasius' Anspruch gerade die Prämisse von Bourdieus Analyseinstrumentarium, die These, daß es letztlich immer um Macht gehe. Thomasius will ja gerade zur Sache kommen. Wenn man das nicht zugibt und darauf beharrt, daß auch eine Kommunikationsreform Machtstrukturen nicht ausräumt, sondern nur in ihrer Art verändert, sie vielleicht subtiler werden läßt, dann wird man bei der Analyse der Frühaufklärung stark mit dem Begriff der .Verschleierung' arbeiten müssen. 22 Es ist ein Begriff, der das Ausüben von Macht und Tausch gerade dann bezeichnet, wenn Macht und Tausch geleugnet werden. Wir sind hier, glaube ich, an einem Nerv der Hallenser Frühaufklärung angelangt, dem Versuch, zu einer autoritätsfreien Wahrheitsfindung zu kommen, ein Versuch, der so erfolgreich war, daß er haufenweise eigene Autoritätsformen hervorgebracht hat. Ich komme später darauf zurück. Zwei letzte Bemerkungen zum Thema Umbesetzungen und Strategien. Eine wichtige Strategie von Thomasius scheint mir das zu sein, was man Ausdehnungsstrategie nennen könnte. Ein bekanntes Beispiel hierfür wäre der Begriff des f o r malen Papismus'. Damit konnte Thomasius einen guten Teil der argumentativen Energie, die gegen den konfessionellen Gegner ,Papismus' gerichtet war, auf aktuelle Mißstände auch in der eigenen lutherischen Orthodoxie umlenken. Durch solche Schachzüge ließ sich viel an Ideenresourcen, an Ideenkapital im Handstreich gewinnen; darunter unter anderem Pufendorfs antikatholischer Begriff der

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Thomasius, Freymiithiger/ Jedoch Vernunft- und Gesetz-/ mäßiger/ Gedancke, (wie Anm. 16), Vorrede, fol. b3v. Gierl, Martin, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997. Zu diesem Begriff bzw. dem verwandten Begriff der .Verneinung' vgl. Bourdieu: Sozialer Sinn, (wie Anm. 12), S. 243ff. und passim; Reflexive Anthropologie, (wie Anm. 2), passim.

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Martin Mulsow

religio superfïciaria.23 Amthors oben genannte, wenn auch nur angedeutete, Ausweitung von Aberglaube auf Religion überhaupt ist ein verwandtes Beispiel. Diese Umlenkung der Energie war freilich auch gefahrlich. Nicht wenige Generalangriffe auf die Offenbarungsreligionen sind daraus erstanden. Weiterhin kann man noch auf Vereinnahmungsstrategien verweisen. Martin Gierl hat kürzlich den Aneignungskampf zwischen Thomasius und Tentzel beschrieben, in dem versucht wurde, das ,Kapital' von Morhofs Polyhistor für die jeweils eigene Seite zu vereinnahmen.24 Morhof selbst ließ sich in beide Richtungen hin deuten: als progressiver' Baconianer oder auch als christlicher Universalgelehrter alten Schlages. Thomasius hat denn auch jene Stellen im Polyhistor, die das Göttliche in allem Wissen herausstellen, moniert und sozusagen aus der Rezeptionsmasse gestrichen. Sein Schüler Kayser, den ich schon genannt habe, war es dann, der 1715 Morhof gegen den Strich gelesen und völlig von allem Göttlichen befreit hat.

III. Verschleierungen und die Grenzen des Feldes Ich habe schon davon gesprochen, daß auch dann, wenn beteuert wird, es gehe gar nicht um Macht, diese Macht auf subtile Weise dennoch im Spiel sein kann. Bourdieu hat die Ökonomie des Berberstammes der Kabylen untersucht, und dort sagt man, es gehe nur um Gaben, Gaben und Gegengaben, und um Ehre, aber niemals um ein Geschäft. Diese ,Verneinung' des Geschäftlichen gehört zum ,Spiel' der kabylischen Gesellschaft. Wie war das in der Frühaufklärung? Welche Verschleierungen und Verneinungen, welche internen Blindheiten sind dort eingewoben? Ich will zwei Überlegungen anstellen, eine zum galant-höfischen Ideal und eine zu den Grenzen des Erlaubten. Zum ersten: Die Konversationskultur, auf der der Thomasius der Monatsgespräche und der Philosophia aulica so sehr aufbaut, ist per se eine Kultur der Verschleierung im oben genannten Sinne. Der Zweck des höfischen Verhaltens, sich selbst zu behaupten und gesellschaftlich aufzusteigen, wird geleugnet und statt dessen ganz und gar dem Gegenüber, dem Gesprächspartner Raum gegeben. Dieser gibt aber das Gespräch wieder zurück und eröffnet mir

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Vgl. Zurbuchen, Simone, Gewissensfreiheit und Toleranz: Zur Pufendorf-Rezeption bei Christian Thomasius, in: Palladini, Fiammetta und Härtung, Gerald (Hg.), Samuel Pufendorf und die europäische Frühaußlärung. Berlin 1996, S. 169-180. Gierl, Martin, In die „Löcher" „unbedingter Freyheit" gestopft: Daniel Georg Morhof und sein „Polyhistor" in den Zeitschriften der deutschen Frühaufklärung, in: Waquet, Françoise (Hg.), Mapping the world of learning. The Polyhistor of Daniel Georg Morhof. Wiesbaden 2000, S. 255-286.

Literarisches Feld und philosophisches Feld

111

damit, auf reflektierte Weise, die Möglichkeit, mich zu entfalten.25 Nun hat Thomasius sich zwar durchaus kritisch zu jedem höfischen Schmeichlertum verhalten, aber in der Struktur der Konversation ist doch einiges von der Problematik der Frühaufklärer enthalten. Auch bei ihnen geht es um Selbstbehauptung. Zweitens: So sehr Thomasius von Denkfreiheit geredet hat, so hat es doch auch Fälle gegeben, wo ihm dies zuviel war. Die Auseinandersetzung mit dem Freidenker Lau, der ganz darauf vertraut hatte, sein Lehrer Thomasius werde ihn gegen den Ausweisungsbefehl der Stadt Frankfurt verteidigen, ist hier bezeichnend.26 Thomasius hat Lau nicht verteidigt, und ich vermute, daß es neben inhaltlichen Differenzen vor allem die ,freche' Erwartung Laus selbst auf geradezu selbstverständlich zu beanspruchende Verteidigung war, die Thomasius erzürnt hat. Demnach wäre eine innere Grenze des intellektuellen Felds der Frühaufklärung eine bestimmte Art von Anstandsverletzung, von Mißachtung eher des Decorum als des Honestum.27 Wenn man von Grenzen des intellektuellen Feldes spricht, dann könnte man hier genaue Untersuchungen über das Ansehen und Nichtansehen der Protagonisten in Halle zu einem bestimmten Zeitpunkt, sagen wir 1710, machen. Das wäre sicherlich interessant, denn es würde etwa zeigen, wer in Halle Außenseiter war und warum. Auch die oft unter persönlichen Freundschaften verborgenen Differenzen und Richtungskämpfe, etwa des theologischen und des juristischen Flügels der Thomasianer, könnte man versuchen sichtbar zu machen.28 Statt dessen möchte ich den Blick in eine andere Richtung lenken: Wie differenziert sich ein intellektuelles Feld lokal, beispielsweise in der Absetzung zum Feld einer anderen Universität? Über die Absetzung der Hallenser Universität von und Konkurrenz mit Leipzig ist vieles gesagt worden; auch über die Spannungen zwischen Halle und Wittenberg, Rostock oder Kopenhagen ließe sich manches sagen. Aber wie steht es mit der Ausbreitung der Frühaufklärung Thomasianischen Zuschnitts auf andere Orte? Halle hat ja seine Studenten zunehmend als Lehrkräfte an anderen Universitäten etablieren können, und schon in der Anfangszeit gab es manche Kontakte nach außerhalb. Über diese Dependencen der Hallenser Aufklärung und die Art der Kommunikation mit ihnen ist, meine ich, noch viel Forschungsarbeit zu leisten. Da kann man etwa untersuchen, wie dem jungen Profes25

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Vgl. für eine Analyse dieser Strukturen Luhmann, Niklas, Interaktionen in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 1. Frankfurt/M. 1980, S. 72-161. Vgl. Gawlick, Günter, Thomasius und die Denkfreiheit, in: Schneiders, Werner (Hg.), Christian Thomasius 1655-1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989, S. 256274. Vgl. Mulsow, Martin, Unanständigkeit. Zur Mißachtung und Verteidigung des Decorum in der Gelehrtenrepublik des 17. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 98-118. Vgl. Mulsow, Martin, Gundling vs. Buddeus. Competing Models of the History of Philosophy, in: Kelley, Donald R. (Hg.), History and the Disciplines. The Reclassification of Knowledge in Early Modem Europe. Rochester 1997, S. 103-125.

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sor Friedrich Wilhelm Bierling gegenüber der ihm feindlichen Rintelner Professorenschaft von Budde und Thomasius der Rücken gestärkt wird; 29 wie der junge Jakob Friedrich Reimmann aus der Halberstädter Provinz heraus mit Besuchen und langen Briefen versucht, den Kontakt nach Halle herzustellen und aufrechtzuerhalten, 30 oder wie Georg Paul Rötenbeck in Altdorf in stetem Briefwechsel mit Thomasius die Informationen über den Altdorfer Lehrkörper mitteilt. Im Falle Rötenbecks haben sich immerhin über zwanzig Briefe aus dem Zeitraum 1698— 1709 erhalten, aus denen deutlich wird, welch ein glühender Thomasius-Anhänger der sonst nur als Sturm-Schüler geltende Rötenbeck gewesen ist. Weit entfernt von Sturm, an dem er verzweifelt, approbiert er Thomasius' mosaische Physik Vom Wesen des Geistes und liest und kommentiert alle seine Neuerscheinungen. 31 Deutlich wird in diesen Briefen, wie sehr die Auseinandersetzungen der Hallenser auch in anderen Universitäten den Lehrkörper spalten, und sei es nur unausgesprochen. Das Feld der universitären Positionsverteilung erzeugt Tochterfelder.

IV. Fazit Ich komme nach diesem skizzenhaften Durchgang durch ganz verschiedene Proben an Bourdieuscher Analyse zu einem vorläufigen Fazit. Was kann der Vorteil von einer Betrachtung von ,Feldern' statt von Strömungen und festen Positionen sein? Sicherlich nicht, normaler Forschungsarbeit lediglich den Mantel einer neuen Terminologie überzustreifen. Die Terminologie selbst sollte gar nicht so wichtig sein. Eher schon, zu sehr geronnene Sichtweisen aufzubrechen. Das gilt nicht zuletzt für Titulierungen wie ,Frühaufklärung' selbst, und zwar dann, wenn sie mehr hinderlich als forderlich sind. Ich gebe ein Beispiel. Nach der gewöhnlichen Zurechnung zu bestimmten Lagern dürfte es kaum so gegensätzliche Figuren geben wie Christian Thomasius und den Hamburger Theologen Johann Friedrich Mayer. Hier der Aufklärer, dort der Orthodoxe; hier der Mann der Zukunft, dort der Repräsentant

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30

31

Vgl. Mulsow, Martin, Friedrich Wilhelm Bierling: Skepsis, libertinage érudit und deutsche Frühaufklärung, in: Bierling, Friedrich Wilhelm, Dissertationes selectae. Hg. v. Martin Mulsow. Lecce 1999, S. νΠ-ΧΕΧ. Vgl. Mulsow, Martin, Die Paradoxien der Vernunft. Rekonstruktion einer verleugneten Phase in Reimmanns Denken, in: Mulsow, Martin und Zedelmaier, Helmut (Hg.), Skepsis, Providern, Polyhistorie. Jacob Friedrich Reimmann (1668-1743). Tübingen 1998, S. 3-54. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sup. epist. Uffenbachii et Wolfiorum, 4° 33, 179-221. Dieses Briefkorpus scheint bisher überhaupt noch nicht benutzt worden zu sein. Zu Rötenbecks Verzweifeln an Sturm vgl. den Brief vom 22. Juli 1699. Man vergleiche in dieser Sache den brillanten Aufsatz von Michael Albrecht über das Verhältnis von Sturm und Thomasius: Thomasius - kein Eklektiker?, in: Schneiders (Hg.), Christian Thomasius 1655-1728, (wie Anm. 26), S. 73-94 [ebenfalls ders., Eklektik, (wie Anm. 17), S. 309-357, S. 398-416], In diesen Kontext müßte die Figur von Rötenbeck eingefügt werden.

Literarisches

Feld und philosophisches

Feld

113

der Vergangenheit. N u n kann man aber, seltsamerweise, z u w e i l e n Personen antreffen, die mit beiden gleichzeitig befreundet g e w e s e n sind. Etwa den Verfasser der Schrift De imposturis

religionum,

auch De tribus

impostoribus

genannt, Jo-

hann Joachim Müller, der mit einiger Wahrscheinlichkeit z u m Bekanntenkreis v o n Thomasius in der ganz frühen Leipziger Anwaltszeit gehört hat, 32 andererseits aber in Hamburg mit Mayer gut befreundet war; oder den Wittenberger Juristen Georg Michael Heber, auch er ein Freund des j u n g e n Thomasius und zugleich des ,Ketzerfressers' Mayer. 3 3 Eigentlich dürfte es das nicht geben. Sieht man dagegen v o n den substantialistischen Titeln .Aufklärer' und .Orthodoxer' ab und nimmt funktionale Parameter zur Hand, dann werden solche Abnormalitäten eher verstehbar. Mayer war, vor allem als junger Wittenberger Dozent, offenbar ebenso antipedantisch eingestellt w i e Thomasius, auch er hat keine übertriebenen Ehrbezeugungen gemocht, auch er war ein energischer und historisch beschlagener Mann. Heber mokiert sich mit ihm über die Wittenberger „scheelsuchte Gesellschaft" v o n „Viros illustres et illustrissimos". 3 4 V o n dort her gibt es einige Überlagerungen der Positionen im intellektuellen Feld, und skeptisch-kritische K ö p f e w i e Heber und Müller konnten sich beiden Gelehrten anschließen. Der j u n g e Thomasius scheint übrigens nach seiner Hollandreise 1 6 7 9 / 8 0 durch Wittenberg g e k o m m e n zu sein 32

33 34

Vgl. Anonymus [d. i. Müller, Johann Joachim], De imposturis religionum. Hg., kommentiert und eingeleitet von Winfried Schröder, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999 (Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung). Näheres zum Verhältnis von Müller und Mayer in: Mulsow, Martin, Moderne aus dem Untergrund, (wie Anm. 11), S. 115-160. Vgl. Mulsow: Moderne aus dem Untergrund, (wie Anm. 11), S. 238. Heber an Mayer, Wittenberg 9.5.1692, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sup. ep. 82, fol. 32r: „Hiro wird mein Patron nichts antreffen als Viros illustres et illustrissimos dero geringste Kunst ist Wunder zu thun, und in weniger Zeit die größten Ignorants zu den eingebildetsten Idioten zu machen. Hierby ist ein specimen zu empfangen, worinnen ein Erzpedante die ganze Wittenbergische scheelsuchte Gesellschaft auffgeführet, insonderheit aber die beyden auf den Titul apprimirten Archiliteratores (Vid. Jo. Otto Tabor Vol. 1. Tractatum p.m. 213) an den Orten gekizelt wo es sie gejucket." Heber bezieht sich dabei auf das Buch von Johann Otto Tabor: Tractatuum volumen I, in quo Varia & difficillima Juris Themata, ex Jure Publico & Privato, Feudali ac Canonico, succincta methodo, dilucide & nervose explicantur, & ad usum fori subinde accommodantur [...]. Hg. von Andreas Mylius. Leipzig 1692, S. 213: „Adversum quem [Wesenbeck] si vel in Uteris humanioribus insurgere velit Salmasius; certe audire cogetur illa veriverba: canem oblatare lunae: suem gunnire adversus Minervam. Neque tarnen pro habitudine nostra animadvertere possumus, quomodo vel Wesembeccius in assignatione hujus etymologiae reprehensionem mereatur, cum imo plurima apud graecos etiam sint vocabula, quae ex diversis dialectis coiere: quod archiliteratorem (sic enim vertunt germani einen Ertzpedanten) ignorare, sane ab infamiae turpitudine parum abesset; dissimulare extremae foret malitiae." Vgl. ebenso die an Thomasius geschickte und von ihm veröffentlichte Programmschrift Hebers an seine Studenten: Scepticismus juridicus Wittenbergensis, in Thomasius (Hg.), Historia sapientiae et stultitiae. Halle 1693, S. 124-134; hier S. 126f.: „Hac re adeo factum est, ut in rebus, imprimis iis, quae remotae a sensu, ingenio & judicio constituuntur, nullius apud me hominis auetoritas, ne idem mea mihi Ratio, quam me quoque sentio intus habere, persuasisset, quiequam valeret, nec ullum animo meo sacrum horrorem injicerent, queis hodie ineptarum persaepe Chartarum Auetores mactantur, Illustris et Illustrissimi Elogia; quippe quibus tarn aequo animo careo, quam illa mihi abs hominibus rerum imperitis & ad servitutem natis tribuí aegre ferrem."

114

Martin

Mulsow

und hat dort einige Theologiestudenten abwerben und als Juristen nach Leipzig ziehen können. 35 Von daher hat die Feldüberlagerung auch eine historisch-geographische Komponente. Wie lange allerdings solche Doppelfreundschaften wie im Falle Müllers und Hebers halten konnten, ist eine andere Frage. Ich will noch einen weiteren Vorteil nennen. Wie wir wissen, hat es in Deutschland keine eigentliche .radikale' Aufklärung gegeben, sondern lediglich vereinzelte clandestin operierende Freidenker, die abseits der sich dezidiert als christlich verstehenden Reformbewegung um Thomasius standen. Ich habe anläßlich des Falles Lau schon darauf hingewiesen. Andererseits zeigen die vielen personellen und thematischen Beziehungen dieser Freidenker zu Halle, daß man das Thema der Radikalaufklärung auch nicht völlig losgelöst von dem der eigentlichen Frühaufklärung behandeln kann. Was soll man also tun? Mit Hilfe des Feldbegriffs kann man dezentral von Radikalisierungen - der Begriff entschieden im Plural verwendet - sprechen und diejenigen Umbesetzungen, Verstärkungen, Ausweitungen beschreiben, die Themen der Hallenser Aufklärung ins Extrem getrieben haben. 36 Dann sieht man, daß die Freidenker zwar sozial, im Machtfeld der akademischen Positionen, ins Abseits gestellt worden sind, thematisch aber in vielen Punkten etwa Denkfreiheit - noch mehr ins Zentrum zielten als die Professoren in Halle selbst. Hier hat man dann zu unterscheiden, was von den Frühaufklärern in etablierter Position nur deshalb nicht vertreten worden ist, weil auch sie gewisse Rücksichten nehmen mußten, und was aus internen Gründen abgelehnt wurde, weil es die Grundlagen der eigenen Reformtätigkeit zerstört hätte. Das gilt etwa fur den Spinozismus oder die radikale Religionskritik, die auch vor Christus und seiner Morallehre nicht halt gemacht hat. 37 Ein letztes Wort zu den Vorteilen einer Feldanalyse beim literarischen Feld im engeren Sinne. Sieht man auf die Rezeptionen von höfischem Roman, von Konversationslehren, Utopien und satirischen Werken, dann scheint es sinnvoll, nicht nur den Status der besprochenen Werke zu beachten - oft waren sie von den Acta eruditorum ausgelassen worden oder konnten nicht, wie Thomasius sagt, mit einem Folioformat protzen 38 - , sondern vor allem auch das, was in Thomasius'

35

36 37 38

So etwa im Falle des Theologiestudenten Gerhard Schröder, eines Freundes von Johann Joachim Müller. Vgl. DBA unter ,Schröder, Gerhard'. Vgl. Mulsow, Moderne aus dem Untergrund, (wie Anm. 11), S. 1—40. Vgl. Schröder, Winfried, Spinoza in der deutschen Frühaufklärung. Würzburg 1987. Thomasius, Freymüthiger/ Jedoch Vemunfft- und Gesetz-/ mäßiger/ Gedancken, (wie Anm. 16), S. 35f.: „Wenn ich ein Journal zu schreiben in willens wäre / würde ich selbiges nicht von einem so kleinen Büchelchen / sondern vielmehr von einem Folianten anfangen / damit das Gemüth des Lesers mit einem Praejudicio vorher eingenommen würde. Nachdem aber dieses meine intention nicht ist / als ich in der Vorrede erwehnet / so bin ich einer grossen Verdrießlichkeit überhoben / mich nach einem Folianten umb zuthun / und aus dessen Vorrede / Summariis und Registern über Hals und Kopff einen Extract davon vorzustellen / sondern die mir vorbehaltene Freyheit vergönnet mir nach meinem Gefallen zu betrachten / was dieses kleine Büchelchen im Schilde führe."

Literarisches Feld und philosophisches

Feld

115

Wahrnehmung als ihr Kapital schien: was sich als Einsatz formen ließ, was man an ihnen umbesetzen, vereinnahmen und verallgemeinern konnte, womit sich Thomasius' spezielles Projekt der Aufklärung vorantreiben ließ. Diese Kapitalerwartungen haben das literarische Feld strukturiert, auch wenn es keine gewöhnliche Struktur gewesen ist. Man kann hier wieder auf die Allegorie vom Tyrann Usage zurückkommen, die ich eingangs genannt hatte. Der Usage, über den sich Grammatik und Vernunft so sehr beschweren, ist zwar göttlicher Abkunft, aber von einer irdischen Mutter geboren und ein etwas banausischer Trotzkopf, begabt vor allem mit der Fähigkeit, jede Sprache zu sprechen und allen Idiomen sich anzuverwandeln. 39 Ich glaube, Thomasius hätte diese Figur, die doch von Roy als Abschreckung gemeint war, gemocht.

39

Vgl. das ,Portrait de Usage', das Roy, (wie Anm. 1) in seinen Text einschiebt: „Chácun sçait que l'Usage est fils de Jupiter, mais il y a fort peu de nos Dieux, qui sachent le nom de sa Mere; quelques uns disent qu'il est né de la Terre, & que c'est pour cela qu'il a l'Esprit si grossier, car les Enfans tiennent quelques fois plus de coté de leur Mere, que de leur Pere; & pour moy, je ne voudrais le nier absolument. D'autres croient, qu'il est né d'une Nymphe bocagere, la quelle Jupiter trompa une fois sous la forme d'un jeune Berger bien fait, que cette Nymphe aimoit éperdiiement, mais qui ne répondit pas à ses amours. [...]." Die Passage ist zitiert bei Ehler und Mulsow, (wie Anm. 1), S. 33 Iff.

DIRK NIEFANGER ( G ö t t i n g e n )

Über „Speisen" und „Artzeneyen". Ansätze einer kulinarischen Literaturtheorie in der Lohenstein-Kritik von Christian Thomasius Die beiden Lohenstein-Kritiken in den Monatsgesprächen von Christian Thomasius1 bieten schon auf den ersten Blick viel mehr als nur eine Besprechung von Lohensteins umfangreichem Arminius-Roman. In ihnen dominiert der Versuch einer allgemeinen literaturtheoretischen Orientierung. Die beiden Texte sollen deshalb hier nicht nur als Rezensionen im Sinne der engeren Bezeichnung ,Literaturkritik' verstanden, sondern im Sinne der anglo-amerikanischen Bezeichnung Criticism gelesen werden. 2 Berufen kann man sich bei einer solchen Einschätzung auf eine Nebenbemerkung der ersten Besprechung. Thomasius konstatiert an einer Stelle etwas betroffen, ihm sei der „Discours unter der Hand gewachsen" und er verzichte folglich darauf, „die fürnehmsten" inhaltlichen, moralischen und philosophischen „Fragen" des Romans zu referieren. 3 Die Lohenstein-Kritik handelt dennoch von ,Fragen' und ,Bücher[n]', um einen einschlägigen Aufsatz-Titel von Herbert Jaumann 4 zu variieren, allerdings nicht so sehr von den ,Fragen', die der Buchinhalt aufwirft. Hingegen stellt das auf den literarischen Markt geworfene ,Buch' selbst gewissermaßen die „Fragen". Und diese ,Fragen' richten sich an die ,Kritik' als Äußerungsform über Literatur. Ich sehe die Rezension insofern als wichtige Positionsbestimmung im literarischen Feld um 1700, als frühen ästhetischen Programmtext der galanten Zeit. Die Rezension von Lohensteins großem Arminius-Roman, so weit er bis dahin vorlag, erschien im August-Heft der Monatsgespräche 1689. Eine sehr viel knappere Besprechung des zweiten Teils findet sich im Anhang der Monatsgespräche vom Dezember 1689.5 Bemerkenswert an der - weniger bekannten - Besprechung des zweiten Teils ist ein sympathisches Bekenntnis, das einiges über den Stellenwert der Kritik im ausgehenden Jahrhundert vermittelt. Es bietet sich - nebenbei bemerkt - auch als Trost für jene Leser und Forscher an, die vor der Opulenz des Romans bislang zurückschreckten:

1

2

3 4

5

Thomasius, Christian, Monatsgespräche [1688-1690]. Reprint Frankfurt/M. 1972, Bd. IV, S. 646-686 und S. 1141-1144. Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Zur Differenz der verschiedenen Denkweisen von ,Kritik' in der Forschung vgl. Jaumann, Herbert, Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden / New York / Köln 1995, S. 1-26. Thomasius, Monatsgespräche, (wie Anm. 1 ), Bd. IV, S. 684. Jaumann, Herbert, Bücher und Fragen. Zur Genrespezifik der Monatsgespräche, in: Friedrich Vollhardt (Hg.), Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997, S. 395 404. Vgl. Thomasius, Monatsgespräche, (wie Anm. 1), Bd. IV, S. 646-686 und S. 1141-1144.

118

Dirk Niefanger

Nachdem derselbige [gemeint ist der zweite Teil des Romans, D. N.] nun auch der gelehrten Welt mitgetheilet worden / muß ich zwar bekennen / daß ich nicht genungsame Musse gehabt / denselben mit so grossem Fleisse durchzugehen / als den ersten / sondern / ich habe ihn nur mit einem flüchtigen Auge durchblättert. (S. 1141)

Wenn es Thomasius also gestattet ist, den zweiten Teil des Armin ius - R o man s der gelehrten Welt des Spätbarock vorzustellen, ohne ihn gelesen zu haben, so mag man es verzeihen, wenn hier seine Lohenstein-Rezension analysiert wird, fast ohne auf den literarischen Gegenstand seiner Kritik einzugehen. Dieses Vorgehen begründet sich aus der unübersehbaren literaturtheoretischen Intention der Texte. Das Nicht-Eingehen auf den Roman ist also durchaus Programm - bei Thomasius und auch in den folgenden Ausführungen. Vier Bereiche erschließt der Beitrag in den Monatsgesprächen·, auf sie wird nacheinander eingegangen: 1. Bei der Rezension des Arminius-Romans handelt es sich um ein frühes Traktat über den Geschmack, um eine ästhetische Positionsbestimmung also. 2. Der Autor der Besprechung entwirft zudem ein Programm der literarischen Kritik; er reflektiert über das Verfahren eines Kritikers. 3. Die Lohenstein-Rezension legt eine Typologie verschiedener Romane vor, zu diesen Roman-„Classen" (S. 654) setzt sie den Arminius in Beziehung. 4. Der Text enthält eine Bewertung des Lohenstein-Romans, die ihren Schwerpunkt in der Konturierung eines möglichen oder idealen Lesers hat. In diese Bewertung des Romans sind deshalb Anmerkungen zu einer Ρ o 1 i t i c u sLehre mit entsprechend einschlägigen Literaturangaben eingearbeitet. Die Unterscheidung der vier Bereiche erlaubt die Formulierung einer ersten leitenden These: Der Rezension gelingt es, in ihrer programmatischen Vielschichtigkeit die Teilhabe an zentralen Diskursen um 1700 zu dokumentieren. Als wichtige Aktanten werden genannt: der Autor als Dichter eines bestimmten Romantyps, der gelehrte Kritiker, der ein bestimmtes Verfahren präferiert, der Philosoph, der mit ästhetischen Vorstellungen Rahmenbedingungen schafft und schließlich der Leser, dem das Modell des Ρ o 1 i t i c u s als Lesefrucht des Romans angeboten wird. Die Rezension stellt damit die wichtigsten Aktanten des literarischen Feldes in ihren Bezügen zueinander und zum kritisierten Gegenstand - dem Roman Lohensteins - dar.

1.

Die Geschmacksdiskussion

Im 17. Jahrhundert lassen sich nur wenige Verwendungsweisen eines ästhetischen Begriffs ,Geschmack' nachweisen. In der einschlägigen Forschung wird er für diese Zeit meist als deutsche Lehnübertragung der französischen Vokabel ,goût'

Über „ Speisen " und „Artzeneyen "

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oder als Übernahme der Geschmacksvorstellung (ital. / span, g u s t o ) von Gracián geführt. 6 Thomasius nimmt beide Traditionen des Begriffs auf. In seiner Ankündigung zum Gracián-Kolleg aus dem Jahre 1687 lesen wir, daß „le bon gout [...] einen guten und subtilen Geschmack bedeutet." 7 Zwar bezeichne ,Geschmack' die Fähigkeit, „das was gut schmeckt von andern gemeinen Speisen wol zu unterscheiden." 8 Doch werde die Vokabel schon im Französischen in „figürlicher Weise" 9 verwendet. Sie steht fortan auch für die Eigenschaft des Urteilers, für die Tätigkeit des Urteilens und für die zu beurteilende Eigenschaft einer Sache. Wer Geschmack hat, kann mit scharfsinnigem Geschmack über den Geschmack einer Sache urteilen. Der sich in England mit Hobbes, Locke und Berkeley in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts etablierende Empirismus erlaubt, den Geschmack als anthropologisches Merkmal an die Erfahrung anzubinden. Der gute Geschmack ( t a s t e ) 1 0 charakterisiert den Kritiker als Person, der etwa in Alexander Popes Essay on Criticism (1711) ins Zentrum rückt. Die französischen Prinzipien des b o n g o û t und der englische Diskurs über die empirischen Grundlagen der Erkenntnis kommen in der frühen deutschen Geschmacks-Diskussion zusammen. Schon Benjamin Neukirch - für kurze Zeit ein Kollege von Thomasius in Halle - bezieht , Geschmack' 1697 in seiner Vorrede zur Hoffmanswaldau-Anthologie auf die deutsche Literatur. Er glaubt, man könne sehr wohl mehr „geschmacktes" an ihr finden „als die reimen". 11 Teilnehmer der literaturtheoretischen Geschmacksdiskussion in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert sind u.a. Gottsched, Geliert und die Schweizer.12 Der erste geschlossene deutsche Text zur Geschmacksdiskussion wurde als Anhang zur posthumen Ausgabe der Gedichte des Freiherrn von Canitz im Jahre 1727 also fast 30 Jahre nach der Lohenstein-Kritik von Thomasius veröffentlicht. Die Ausgabe besorgte der Verfasser des Anhangs, der galante Dichter, Hofpoet und Opernautor Johann Ulrich König.13 Seine Unter6

7 8 9 10 11

12

13

Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5 (IV/1, 2. Teil). Leipzig 1897 (Neudruck 1984), S. 3936f.; Paul, Hermann, Deutsches Wörterbuch. Tübingen M 992, S. 341 f.; Fick, Monika, Ait. Geschmack; Geschmacksurteil, beide in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3. Darmstadt 1996, S. 870-907; Gabler, Hans-Jürgen, Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie. Frankfurt/M. 1982. Thomasius, Christian, Deutsche Schriften. Hg. von Peter von Düffel. Stuttgart 1970, S. 16. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Vgl. Pope, Alexander, An Essay on Criticism (1711), Part I. Neukirch, Benjamin, Herrn von Hofmannswaldau und anderer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte. Erster Theil [1697], hg. von Angelo George de Capua und Emst Alfred Philippson. Tübingen 1961, S. 6. Als Überblick vgl. Bormann, Alexander von (Hg.), Vom Laienurteil zum Kunstgefühl. Texte zur deutschen Geschmacksdebatte im 18. Jahrhundert. Tübingen 1974. Zur Canitz-Ausgabe, ihrem literaturgeschichtlichen Kontext und der Bedeutung ihrer Paratexte vgl. Verf., Sfumato. Traditionsverhalten in Paratexten zwischen ,Barock' und .Aufklärung', in: hihi, Heft 98 (1995), S. 94-118, bes. S. 1 lOff.

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suchung Von dem Guten Geschmack In der Dicht- und Rede-Kunst setzt mit einer Unterscheidung der fünf Sinne und ihrer körperlichen Verfaßtheit ein, um dann auf den Geschmack „in verblümter Bedeutung" 14 zu kommen. In dieser Variante bezeichne er zwar - mit Aristoteles - „eine Art des Gefühls". 15 Dieses wird aber dem Verstand, als Sitz des Urteilsvermögens, zugeordnet. Der Geschmack des Verstandes ist also nichts anders [so König, D. N.], als die zusammengesetzte Klafft der Seele zu empfinden und zu urtheilen, vermittelst welcher sie durch Werckzeuge der Sinnen einen gewissen Eindruck empfindet, und über denselben alsdann ihre Entscheidung, durch eine Zuneigung oder Abneigung, äussert. 16

Die neue „Redens-Art" über den Geschmack habe sich „durch den Gebrauch, eben so leicht gangbar" gemacht wie „eine neugeprägte Müntze". 17 Einer, der die neue Verwendung geprägt hat, war Thomasius. Königs Theorie geht möglicherweise auf dessen Ausführungen in den ersten beiden Abschnitten der Lohenstein-Kritik zurück. Ausgangspunkt sind auch hier die fünf Sinne, also nicht die in den Bereich der Kunsttheorie übernommene Lehnübertragung aus dem Französischen wie in der Ankündigung des Gracián-Kollegs, sondern eine eher alltagssprachliche, auf die Verfaßtheit des Körpers bezogene Verwendung. Geschmack erscheint als fünfter, als strittigster Sinn. Die „Lüsternheit des Menschen" habe bewirkt, daß sich die Geschmäcker unterschiedlich ausgebildet haben. „Dieser ißt gerne Gesaltzenes / ein anderer Saueres / der dritte Süsses usw." (S. 648) Zudem verändere sich der Geschmack jedes einzelnen immer wieder. Aber die Urteile über den Geschmack seien nicht vollkommen willkürlich. Es gebe Geschmacksgrenzen, „so jederman [...] findet" (S. 649); es bilden sich so etwas wie Urteils-Konventionen. „Ohne Kenntniß von Regeln" - formuliert später König - entdecken wir, „was an KunstStücken gut oder schlimm ist", und zwar, weil die innerlichen Empfindungen den Menschen in gewissem Maße „gemein" seien. 18 Die bestehenden Übereinstimmungen und die Unterschiede der Geschmacksurteile würden darüber hinaus auf unterschiedliche Lebensbedingungen, Gemütsarten, Erziehungsprinzipien und ausdrücklich auch - Volkszugehörigkeiten beruhen. Bei Thomasius und bei König findet eine analoge Übertragung des sinnlichen Bereichs auf den Verstandesbereich statt. Was über den Geschmack von Speisen gesagt wird, gilt auch für den Geschmack von Kunstwerken, speziell von Büchern. Wenn ich [sagt Thomasius, D. N.] die Belustigungen des menschlichen Verstandes mit denen sinnlichen Belustigungen vergleichen solte / so halte ich wohl / daß sie mit dem Geschmack

14

15 16 17 18

König, Johann Ulrich, Von dem Guten Geschmack, zit. nach Bormann (Hg.), Vom Laienurteil zum Kunstgeßihl, (wie Anm. 12), S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 20. Ebd., S. 18. Ebd., S. 21.

Über „ Speisen " und „Artzeneyen "

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am meisten überein kommen solten / absonderlich die Bücher und Schriften gelehrter Leute. (S. 649f.)

Die „Belustigungen des menschlichen Verstandes" durch den ,Witz', die Würze der Bücher, ist mit den Erregungen des Geschmackssinnes durch Speisen und Gewürze strukturell vergleichbar. Insofern erscheint es legtim, auch bei den Erregungen des menschlichen Verstandes von ,Geschmack' zu sprechen. Es kongruieren in dieser Hinsicht zudem die Redegewohnheiten „in unterschiedenen Sprachen". (S. 650) Bücher seien eine „Speise der Gemüther", formuliert Thomasius, die Verfertiger von Texten deren „Köche" (S. 650). Manche Romane würden mehr wie Eintöpfe, andere wie Konfiseriewaren schmecken. Lange bestimmt dieses Bild die Lohenstein-Kritik und mündet schließlich in eine kulinarische Typologie spätbarocker Romanprosa. Doch e i η Buch paßt nicht so recht in das entworfene .literarische Feld'. Es gehört in keinen der geöffneten Töpfe, und um dieses Buch kümmert sich die Rezension: Lohensteins Arminius-Romm. Diesen packt übrigens Johann Jacob Breitinger fünfzig Jahre nach Thomasius noch einmal in den Kochtopf. Denn auch er nutzt in seiner Kritik Lohensteins, die er in die Critische Abhandlung von der Natur (1740) einschaltet, die sinnliche Fundierung der Geschmacks-Metapher, die - wie wir sehen werden - schon bei Lohenstein angedeutet und bei Thomasius schließlich ausgeführt wird: Nach diesem Licht vergleicht sich Lohensteins berümtes Werck, Arminius genannt, einer kostbaren Mahlzeit, wo der reiche Wirth auf keine Kosten geachtet, und ohne Spahren [hat] auftischen lassen, was Garten, Heerde, Wald und Meer Niedliches und Leckerhaftes dargeben kan. 19

Breitingers Kritik des Arminius weist letztlich in eine andere Richtung. Deftige und exotische Gewürze sprechen den protestantischen Schweizer nicht sonderlich an. „Bey alle diesem Uberfluß", heißt es, seien die Speisen „übel zubereitet". Die „Brühe" sei „versaltzen", die „Würtze [...] übermässig verschwendet" worden. Kurzum, das ganze Gericht sei nur eine „ungestüme Prahlerey des Wirthes". 20

2.

Das Verfahren des Kritikers

Die enge Anbindung der Geschmacksmetapher an seine sinnliche Ursprungsbedeutung eröffnet der Rezension die Möglichkeit, das Verfahren des Literaturkritikers mit dem Vokabular der Kochkunst zu reflektieren.

19

20

Breitinger, Johann Jacob, Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse [1740], Neudruck hg. von Manfred Windfuhr. Stuttgart 1967, S. 163. Ebd., S. 163.

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Da Geschmacksurteile abhängig sind von ihrem Kontext, von der geltenden Konvention und der Meinung anderer, erscheint es sinnvoll, sich über die Urteile auszutauschen. Man solle sich aber nicht „bemühen" - so Thomasius ausdrückl i c h - , andere „zu bereden / daß uns ein Buch wohl anstehen müsse" (S. 651). Gleichwohl sei die geäußerte „Meynung" über ein Buch nützlich. Auch wenn Thomasius die Ansicht vertritt, daß eine Kritik gegebenenfalls „recht teutsch" (S. 651) vorzubringen sei, gilt auch im Bereich der literarischen Kritik das d e c o r u m - Ideal. Lob und Tadel sollten zwar keinesfalls hinter dem Berg gehalten werden. Doch muß eine Kritik angemessen sein. Sie darf nicht zu leise, aber auch nicht übertrieben laut formuliert werden. Das d e c o r u m hat auch fur die kritisierten Autoren Geltung. So müssen die Verfasser mit den Kritiken leben, da sie ihre Bücher „öffentlich" (S. 653) machen, sich mit diesen unter Umständen sogar „für aller Welt prostituiren". (S. 652) Hierdurch kann ,jederman" die Bücher „kosten" und „seine Meynung davon sagen" (S. 653). Im Vorbericht zum Arminius-Rom&n, den Thomasius hier als Referenztext zitiert, heißt es ausdrücklich: Jeder Autor muß damit rechnen „daß wie nicht alle Sachen allen gefallen [...] noch die besten Speisen iedwedem Munde schmecken", auch der Arminias „nicht nach eines ieden Gehirne eingerichtet" sei.21 Der Vorbericht praktiziert also wie Thomasius eine Engfuhrung von kulinarischer und literarischer Kritik. Dieser bestätigt den Vorredner in der Annahme, daß die „Judicia" (S. 653) unterschiedlich ausgefallen sind. Thomasius rekurriert in seinem Text auf eine Gesellschaft gelehrter Kritiker' innerhalb der r e s p u b l i c a l i t t e r a r i a , d i e sich durch „einen guten Geschmack" (S. 653) auszeichne. 22 Die dort geäußerten, meist negativen Urteile der Kritiker über den Arminius verlangten eine eigene Stellungnahme. Der frühe Erscheinungstermin der Kritik (August bzw. Dezember 1690) und die nur wenigen bis dahin erschienenen Besprechungen - etwa jene in den Acta Eruditorum - lassen vermuten, daß das Roman-Manuskript in gelehrten Kreisen kursierte. 23 Die Kommunikation innerhalb der ,Gesellschaft der Kritiker' bestand demnach wesentlich aus mündlichen und brieflichen Äußerungen. Das Ideal einer solchen Gesellschaft bilden die ersten Hefte der Monatsgespräche als Fiktion einer freien und vorurteilslosen Gelehrten-Gemeinschaft ab. Dem Ideal der r e s pub-

21

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23

Lohenstein, Daniel Casper von, Grossmüthiger Feldherr Arminius [1689-1690]. Hildesheim 1973, Vorbericht an den Leser [unpag., S. 11]. Auch der Vorbericht beschreibt, wie mit Kritik umzugehen ist und worauf man beim Verfassen von Kritiken achten muß (vgl. den Kontext der zitierten Stelle). Vgl. zur .aufgeklärten Öffentlichkeit' der Monatsgespräche Grunert, Frank, Von polylogischer zu monologischer Aufklärung. Die Monatsgespräche von Christian Thomasius, in: Martin Fontius und Werner Schneiders (Hg.), Die Philosophie und die Belles-Lettres. Berlin 1997, S. 26f. Vgl. Martino, Alberto, Daniel Casper von Lohenstein. Geschichte seiner Rezeption. Bd. 1 : 1661-1800, übers, von Heribert Streicher. Tübingen 1978, S. 200.

Über „Speisen " und „Artzeneyen "

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l i c a l i t t e r a r i a entsprechend sind die Mitglieder der Gesellschaft gleich. In der Vorrede heißt es: [D]enn die Gesellschaft der Müßigen bindet sich an nichts, und brauchen ihre Freyheit, zumahl sie keinen Praesidem unter sich haben, der ihnen Leges vorschriebe, oder sich den Vortheil, denen andern aber die Verantwortung alleine zueignete, sondern sie leben unter einander in der gleichesten Gleichheit. 24

Die ausführliche Besprechung in den Monatsheften hat innerhalb der idealen Gemeinschaft der Kritiker eine große Bedeutung. Sie ist zwar die Meinungsäußerung nur e i n e s Kritikers; das betont Thomasius ausdrücklich.25 Dieser gestaltet sie aber - und deshalb hat die Kritik mehr Gewicht als die mündlichen Äußerungen als öffentlichen und als gelehrten26 Text, der selbst kritisierbar ist. Seiner „bißher gepflogenen Freyheit" gemäß, geschieht dies „auffrichtig und ohne einigen affect" (S. 654) - also ,ohne Vorurteil'.27 Die Lohenstein-Rezension ist nicht als Gespräch gestaltet. Auch wenn ihre äußerlich ,monologe' Form nicht mehr der Dialogform der ersten Ausgaben der Monatsgespräche entspricht, ist aber implizit immer noch das gelehrte Gespräch über Bücher als notwendiger (und idealer) Rahmen mitgedacht.28 Das zeigen nicht zuletzt die Hinweise auf die Gemeinschaft der Kritiker. Das ,Monatsgespräch' rückt - wie Jaumann betont - in die Nähe des „satirischen Dialogs",29 der seiner seit der Antike geltenden gesellschaftlichen Aufgabe nachkommt, Gutes zu loben und Schlechtes in unernstem Tone abzustrafen.30 Die aufwendige Engführung des kulinarischen und des gelehrten Geschmacks, die erläutert wurde, dient dieser satirischen Intention der Lohenstein-Kritik. Objekt der Abstrafung ist aber nicht das Werk Lohensteins. Vielmehr hat der ganze vierte 24

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Thomasius, Monatsgespräche, (wie Anm. 1), Bd. 1, [unpag. Vorrede]: „A Messieurs Monsieur Tarbon et Monsieur Bartuffe" [Bl. 7]. Vgl. Thomasius, Monatsgespräche, (wie Anm. 1), Bd. IV, S. 654: „Ich" scheue nicht „meine Meynung davon zu sagen." Das monatliche Erscheinen der Gespräche weist auf ihren gelehrten Charakter, die deutsche Sprache auf eine deutliche Öffnung der Publikumskonzeption. Thomasius betont, es sei seine „Meynung im geringsten nicht / daß ich ein Journal von gelehrten Büchern in teutscher Sprache schreiben wolle" (Monatsgespräche, [wie Anm. 1], Bd. 1, S. 263f.); vgl. dazu Jaumann, Bücher und Fragen, (wie Anm. 4), S. 395^104, insb. S. 399f. Vgl. Thomasius, Christian, Einleitung zu der Vernunfft-Lehre [...]. Halle 1699, S. 196f. Vgl. Jaumann, Bücher und Fragen, (wie Anm. 4), S. 395^t04, insb. S. 40Iff. Vgl. auch die etwas andere Akzentuierung bei Grunert, (wie Anm. 22), S. 28-35, der die äußere Form der späteren .monologischen' Rezensionen stärker bewertet. Er spricht bei den späten Kritiken von einem „Verlust an Vielschichtigkeit und Perspektivenreichtum" (S.35). Als implizites Konzept sieht Grunert indes immer noch einen strukturierten Dialog, eine „Mittelstraße" zwischen „Offenheit und Geschlossenheit." Die präsentierten „Orientierungen" böten „keinen Anspruch auf alternativlose Verbindlichkeit" (S. 37f.). Jaumann, Bücher und Fragen, (wie Anm. 4), S. 403. In den Monatsgesprächen wird die ironische Preisrede, das Moriae Encomien (1511) des Erasmus von Rotterdam als „Muster einer scharffen und durchdringenden Satyre" gehandelt [Thomasius, Monatsgespräche, (wie Anm. 1), Bd. IV, S. 664].

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Abschnitt der Kritik die schlechten Romane im Visier: Sie vergleicht er mit schwer verdaulichen Gerichten von „Sudel-Köchen", die ihre Speisen dem „gemeinen Pöbel" bereiten (S. 654). Selbst vor Derbheiten schreckt Thomasius nicht zurück, wenn er einige Romane mit „Pasteten" vergleicht, die statt der Trüffeln „Hasenschwartzes" enthalten (S. 654). Die Kriterien des Kritikers - das sei angefügt - orientieren sich an der p r o d esse e t d e l e c t a r e -Vorgabe des Horaz: Dichtung muß belehren und Vergnügen bereiten. Im Sinne von Thomasius' Utilitarismus-Philosophie und seiner Ρ o 1 i t i c u s -Lehre31 sollen die besprochenen Bücher Nutzen und Vergnügen miteinander verbinden. Den Nutzen bezieht Thomasius auf das sich wandelnde gesellschaftliche Selbstverständnis in der Übergangsphase zwischen b a rock' und ,Aufklärung'. Hinzu kommt die aus der französischen d o c t r i n e classique bekannte Maxime Wahrscheinlichkeit' (als v r a i s e m b l a n c e ). An der Art und Weise, wie die Romane später klassifiziert werden, zeigt sich, daß auch eine anspruchsvolle Form gefordert wird.

3.

Die Roman-Typologie

Aus den genannten Kriterien ergeben sich verschiedene Romanklassen, die Thomasius in seiner Besprechung des Arminius-Romms herausarbeitet. 32 Er unterscheidet vier Klassen: Volksbücher, Schäfereien, höfisch-historische und satirische Romane. Beispiele der ersten Romanklasse lehnt Thomasius weitestgehend ab, weil sie keinen Nutzen für die Gesellschaft erbringen und in unansehnlicher Form geschrieben sind. Die Romane der zweiten Klasse, die Schäfereien (etwa Zesens Adriatische Rosemund), seien zwar in einer „leichten und nicht unangenehmen Schreib-Art" (S. 655) verfaßt worden; sie wären aber zu kritisieren, weil sie „nur Zierereien und gezwungene Erfindungen ohne moralischen und politischen Nutzen für den Leser enthalten." 33 Die beiden anderen Romangruppen schätzt Thomasius eher. Der heroische Roman (etwa: Anton Ulrichs Aramena) zeichnet sich durch „zierliche Worte/ scharffsinnige Erfindungen / und nützliche Lehren" (S. 658) für den Leser aus. Die Kenntnisse, die diese Texte vermitteln, sieht Thomasius im Bereich des , Politi -

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Hierzu vgl. Schneiders, Werner, Thomasius politicus. Einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre, in: Hinske, Norbert, (Hg.), Zentren der Aufklärung I, Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989, S. 1-10. Vgl. hierzu Voßkamp, Wilhelm, Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg. Stuttgart 1973, S. 103-120, bes. S. 103f. Vgl. als Überblick über den Barockroman (mit weiterfuhrenden Literaturangaben) auch Meid, Volker, Der deutsche Barockroman. Stuttgart 1974. Kafitz, Dieter, Lohensteins ,Arminius '. Disputatorisches Verfahren und Lehrgehalt in einem Roman zwischen Barock und Aufklärung. Stuttgart 1970, S. 37.

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sehen' (im Sinne der Zeit um 1700) und der Moral. Insbesondere können die Romane in ihren Fiktionen die „Lehre von affecten" (S. 659) vermitteln. Diese ist für das richtige Verhalten notwendig, wird offenbar aber in den Schulen zu wenig gelehrt. Ausfuhrlich stellt die Rezension auch die vierte Gruppe vor: den satirischen Roman (etwa: Cervantes' Don Quijote). Sie erscheint deshalb besonders wichtig, weil mit der Rechtfertigung der satirischen Schreibart auch das Verfahren der Monatsgespräche reflektiert wird. Beim Lob dieser Schreibart setzt sich die Rezension übrigens ausdrücklich vom Vorbericht zu Lohensteins Roman ab (vgl. S. 663). 34 Die Satiren seien zwar gefahrlich, weil sie leicht zu „Schmähe-Schriften" (S. 663) verkommen, doch sei ihre Aufgabe unbestreitbar: Sie stellen die „Thorheiten und Laster der Menschen" (S. 661) vor. Wilhelm Voßkamps Verdienst ist es, die Bedeutung dieser ersten annähernd vollständigen Klassifizierung der Roman-Gattung in Deutschland hervorgehoben und in die Geschichte der Romanpoetik eingeordnet zu haben. Im Grunde ist ihm zuzustimmen, daß die beiden positiven Formen der Gattung in einem komplementären Verhältnis stehen: hoher (heroischer) und niedriger (satirischer) Roman decken nach Thomasius' Vorstellung verschiedene Teilfelder ab.35 Voßkamps holzschnittartig präsentierter „negativ / positiv wertenden Aufstellung" 36 der Romantypen - hier Volksbücher und Schäfereien, dort heroischer und satirischer Roman - kann indes nicht vorbehaltlos zugestimmt werden. Denn auch die beiden mit negativen Beispielen erläuterten Romantypen könnten gesellschaftliche Funktionen übernehmen. Zur Relativierung der Einteilung Voßkamps sei kurz auf eine Formulierung geachtet, mit der Thomasius die Schäfereien kritisiert: Also ist in vielen Romanen viel Aufhebens / viel zierliche Worte / allerhand inventiones, dahinter aber nichts nützliches verborgen / oder da keine Wahrscheinligkeit und Leben innen ist. Die Schäfereien sind m e h r e n t h e i l s von dieser Art. (S. 654f., D. N.)

Nehme ich die Formulierungen des Textes ernst, ist es also keineswegs so, daß Schäferromane generell gegen die Regeln der Wahrscheinlichkeit und der Forderung nach Nutzen verstoßen. Es gibt also positive Beispiele dieser Untergattung und - was noch mehr zählt - aus typologischen Gründen spricht nichts gegen eine ,nützliche und wahrscheinliche Schäferei'. Möglicherweise ist sogar ein nützlicher Volksroman' in dieser Typologie denkbar. Thomasius richtet ja auch sein Bildungsprogramm nach verschiedenen Interessen und Möglichkeiten aus.37 Die Negativ / positiv-Folie, die Voßkamp bei Thomasius entdecken will, ist also so deutlich nicht. Man sollte hier die typologischen Überlegungen von den empiri-

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Vgl. Lohenstein, Arminius, (wie Anm. 21), Vorbericht [unpag. S. 9]. Vgl. Voßkamp, (wie Anm. 32), S. 111. Ebd., S. 109. Vgl. Thomasius, Deutsche Schriften, (wie Anm. 7), S. 32ff.

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sehen Beobachtungen trennen. Literaturtheoretisch gesehen, greift die Negativ / posititv-Folie nicht recht; als Darstellung der kritischen Bestandsaufnahme des literarischen Feldes um 1700 macht sie hingegen durchaus Sinn. Die von Thomasius piazierten Beispiele, nicht die typologischen Überlegungen, entsprechen der Folie.

4.

Die Bewertung von Lohensteins Arminius

Neben den genannten vier Romanklassen macht Voßkamp noch drei Sonderformen aus, die innerhalb der Typologie von Thomasius akzeptabel wären. Er nennt den kurzen, novellistischen Liebesroman nach französischem Muster (etwa: Madame Lafayettes La Princesse de Cleves), den utopischen und schließlich den enzyklopädischen Roman. Die Sonderformen in die geschlossen gedachte Klassifizierung der Romanformen bei Thomasius einzugliedern, stellt ein methodisches Problem dar. Die - nach einem bekannten Wort Eichendorffs - „toll gewordene Realenzyklopädie"38 kann im Sinne von Thomasius keineswegs als spätbarocker Normalfall gehandelt werden. Lohensteins Arminius-Romm bleibt ein Einzelfall; er weitet nur den Spielraum für die Romanformen im literarischen Feld aus, ohne eine neue Untergattung zu begründen. Der Arminius hat für Thomasius keinen exemplarischen Charakter. Insofern unterscheidet er sich auch von den anderen Sonderfallen, der kurzen Liebesnovelle und dem utopischen Roman. Lohensteins Werk ist innerhalb der Romane die große - und geschickt begründete - Ausnahme: Zu welcher Classe aber wollen wir nun des Herrn von Lohenstein seinen Ärminium rechnen? Gewiß zu keiner von allen diesen / denn sein Werck hat was sonderliches und i r r e g u 1 a i r e s ; Aber ich tadle selbiges hiermit nicht / denn was auch vortrefflich ist / weicht von der gemeinen Regel ab. (S. 664)

Das Prinzip, das der Wertung zugrunde liegt, ist alt, heute noch gültig und denkbar einfach: Schon die Ars poetica des Horaz kennt Regelverstöße, die zu verzeihen sind39 - zumindest, wenn die Qualität stimmt. Und Harald Fricke hat in jüngerer Zeit eine ganze „Philosophie der Literatur" auf die Prinzipien „Norm und Abweichung"40 gebaut. Doch das Vorgehen von Thomasius hat etwas leicht Perfides. Mit großem Aufwand rechtfertigt er zuerst die Tätigkeit des argusäugigen Kritikers und die von ihm herangezogenen Geschmacksmaximen; dann expliziert er eine verhältnismäßig komplexe Romansystematik und schließlich begründet er mit einem einzigen Satz,

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Zitiert nach Asmuth, Bernhard, Daniel Casper von Lohenstein. Stuttgart 1971, S. 65. Vgl. Horaz, De arte poetica, w . 346ff. Fricke, Harald, Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981.

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warum das Buch, das es hier zu besprechen gilt, nicht in das vorgeschlagene System paßt. Von satirischer Kritik' ist ohnedies nicht mehr die Rede. Ein an sich sehr .barockes', und durchaus .konservatives'41 Buch wird gerade wegen seiner Irregularien gelobt, das - seine Rezeption von Johann Christoph Gottsched bis Adolf Bartels42 zeigt es - leicht Gegenstand ätzender Kritik hätte werden können. Zudem wendet sich Thomasius nach dem schlichten Bekenntnis zur Irregularität des Romans erst einmal, so als ob er die Kraft der kurzen Begründung wirken lassen will, dem französischen Liebesroman als anderer Ausnahme zu. Erst einige Zeit später kommt er auf den Arminias zurück. Nun präsentiert er den Roman mit Hilfe der genannten Engfiihrung der beiden Geschmacksdiskurse, die man schon zu Beginn der Rezension kennengelernt hatte: Lohensteins Mammutwerk unter die vier Roman-Klassen setzen - das hieße, „die Artzeneyen zu denen ordentlichen Speise und Tranck rechnen" (S. 666). Der Herr von Lohenstein setzt uns in seinem Buch lauter gelehrte / scharffsinnige und tugendhaffte Sachen vor / und überziehet dieselbigen nur mit etwas von einer angenehmen i η ν e η t i ο η . Er giebt der lehrbegierigen Jugend das t h e e der Weißheit zu trinken / und damit ihre an dem schmackhafften Wein und andere scharffe Geträncke gewehnete Zunge an dem ungewohnten Geschmack derselben keinen Eckel bekomme / so thut er ein wenig Zucker [...] hinein / umb ihnen den a p p é t i t zu erwecken. (S. 667)

Das Bild der überzuckerten Pille - noch von Gottsched überaus geschätzt - nimmt Thomasius aus dem Vorbericht zum Arminius. Die Liebesgeschichte zwischen Arminius und Thusnelda wird dort als versüßendes Beiwerk verstanden, mit dem die politische Klugheitslehre des Romans konsumierbar gemacht werde.43 Die „Artzeney'-Metapher 44 entstammt schon dem frühen barocken Geschmacksdiskurs: Man kann sie an prominenter Stelle in Harsdörffers Poetischem Trichter (1648-1653) lesen; hier macht sie die Wirkungsweise des sprachlichen Ornats plausibel. Die beste Arznei helfe nichts, wenn sie von dem Kranken nicht gebraucht werden könne. Genauso verhalte es sich mit der Rhetorik; sie mache die Tugendlehre konsumierbar.45 An späterer Stelle führt Harsdörffer mit einem Hinweis auf Lukrez dieses Bild weiter. Die für Thomasius wichtige Kategorie p u t zen' wird nun hinzugenommen. Die Verzuckerung der Medizin wird aus ihm begründet:

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konservativ' könnte es zumindest in bezug auf das Gelehrtenideal von Thomasius heißen. Vgl. Bartels, Adolf, Geschichte der Deutschen Literatur in zwei Bänden. Leipzig 1909, 5. und 6. Aufl., Bd. 1, S. 181. Lohenstein sei - mit den Worten von Adolf Stem - ein „Romandichter mit unbelebter, antiquarischer Gelehrsamkeit überladen, ungenießbar, breitspurig und lächerlich pomphaft." Vgl. auch Bartels, S. 183. Vgl. Lohenstein, Arminius, (wie Anm. 21), Vorbericht an den Leser [unpag. S. 6]. Zum Verhältnis von Heilkunde und Literatur in der Frühen Neuzeit vgl. Benzenhöfer, Udo und Kühlmann, Wilhelm (Hg.), Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Tübingen 1992. Vgl. Harsdörffer, Georg Philipp, Poetischer Trichter. Darmstadt 1969, Teil 2 [1648], S. 73.

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Hierbei schicket sich was dorten Lucretius saget /, daß man den Becher mit der Artzeney mit Honig oder Zucker zubestreichen und die Pillen zuvergulden pflege / dem Kind oder dem Kranken zu seinem Nutzen zu betrügen.' Ich sage zu seinem [des Patienten, D. N.] Nutzen / in dem der Geschmack / aber nicht die Artzney in ihren wesentlichen Stucken zu ändern / gut geheissen wird. 46

Die Rezension von Thomasius argumentiert in bezug auf Lohenstein analog. Die Ausgestaltung des Romans mit sprachlichem Schmuck sowie mit Erzählungen, Historien und Anekdoten diene der leichteren Konsumierbarkeit der politischen und moralischen Diskurse. Die geschmackvolle Gestalt des Werkes habe insofern einen Nutzen.47 Bezieht man diese Analyse auf die Tätigkeit des Kritikers, ergibt sich eine über das Geschmacksurteil reichende Aufgabenstellung. Der Kritiker beurteilt mit seinem Geschmacksempfinden die Gestaltung des Textes, aber er analysiert mit seinem Verstand auch die diesem zugrunde liegende „Gelahrheit" (S. 667): die moralischen und politischen Implikationen der fiktionalen Darstellung. Von den politischen Diskursen und ihrem Nutzen handeln deshalb auch die weiteren Abschnitte der Kritik. Das Irreguläre des enzyklopädischen Romans wird so zum Eigentlichen erhoben. Die Integration außerästhetischer Gelehrsamkeit in eine ästhetische Struktur mag sich zwar dabei als ein „Problem des [...] Romans"48 herausstellen. Angesichts der „Wichtigkeit der entworffenen Sachen" (S. 668) und der spezifischen Vermittlungstechnik Lohensteins wird allerdings ein ästhetischer Spielraum für außerästhetische Fragen eingeräumt. Diesen Spielraum schreitet die Rezension sogar noch einmal aus, indem sie statt einer Inhaltsangabe der Hauptgeschichte einen ausfuhrlichen Rekurs auf die Lohensteinschen Intertexte von Saavedra Fajardo und La Mothe le Vayer bringt. Mit einer Erläuterung dieser Intertexte wird die Relevanz der Exkurse im Roman hervorgehoben.49 Die Betonung der ,nützlichen' Irregularität der dominanten Exkurse im Arminius stärkt auch die machtvolle Position des gelehrten Romans im literarischen Feld. Dieser wird ja in der Folgezeit dann auch mehr als Enzyklopädie und weniger als Liebesgeschichte gelesen. Die praktische Verankerung der Exkurse zeigt sich auch in der Vermittlungstechnik. Thomasius betont, „daß der Herr von Lohenstein mehrentheils / nachdem er eine Sache auff beyderley Recht erwogen / nichts d e t e r m i n i r e t , sondern 46 47

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Ebd., Teil 3 (1653), S. 30. Hier trifft sich der Geschmacksdiskurs mit der Diskussion um die Funktion des Ornaments, die im frühen 18. Jahrhundert geführt wird, vgl. Raulet, Gérard, und Schmidt, Burghart (Hg.), Kritische Theorie des Ornaments. Wien 1993, S. 29-68 (Abschnitt „Von der Rhetorik zur Ästhetik. Die Entstehung der modernen Ornament-Problematik im 18. Jahrhundert"). Voßkamp, (wie Anm. 32), S. 117. Thomas Borgstedt bemerkt auch in den Texten von Thomasius eine „disziplinsprengende Intertextualität" (.Tendresse' und Sittenlehre. Die Liebeskonzeption des Christian Thomasius im Kontext der ,Préciosité', in: Vollhardt, Friedrich [Hg.], Christian Thomasius. Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997, S. 4 0 5 ^ 2 8 , hier 407).

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dem Leser dasselbige zuthun überläßt" (S. 668). Diese „Anregungen zum Selbstund Weiterdenken" 50 zeigen einmal mehr, daß die literarischen Verfahren des 17. Jahrhunderts nicht .monologisch' ausgerichtet sind, wie es die ältere Barockforschung noch betont hat. 51 Vielmehr zeigt sich in vielen Texten des späten 17. Jahrhunderts gerade ein ,dialogisches Prinzip' realisiert, das freilich in ganz verschiedenartigen Varianten zu Tage tritt: Lohenstein 52 und Thomasius, aber auch Autoren wie Grimmelshausen, 53 Günther, 54 Reuter oder Christian Weise 55 könnte man als Beispiele anführen. Diese Verfahren und die enzyklopädische Ausweitung des Romans auf das Gebiet der ,Weltweißheit' 56 rücken Lohensteins Roman - zumindest formal - in die Nähe der großen epischen Entwürfe der Literaturgeschichte, 57 aber auch gerade wenn man das literarische Verfahren mitbedenkt - in die Nähe des modernen Romans. Bei Robert Musil kehrt das ,dialogische Prinzip', offene Exkurse in den Roman zu integrieren, als Möglichkeitsprinzip wieder. Es wird im Mann ohne Eigenschaften als ,Essayismus' bezeichnet. Gerade die in der Rezension des Arminius entworfene Romantheorie von Thomasius läßt solche Perspektiven zu.

5.

Zum Ort der Kritik im literarischen Feld

Die aufkommende Literaturkritik übernimmt im ausgehenden 17. Jahrhundert Vermittlungsdienste zwischen Leser, gelehrtem Publikum und Roman. Insofern verwundert es kaum, daß die Lohenstein-Kritik ausdrücklich mit verwandten Formen, wie dem „Vorbericht an den Leser" im Arminius korrespondiert, ohne im engeren Sinne wie diese ein Paratext zu sein. Der Vorbericht stammt übrigens auch

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Voßkamp, (wie Anm. 32), S. 117. Vgl. Wiedemann, Conrad, Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität. Perspektiven der Forschung nach Barners Barockrhetorik, in: Internationaler Arbeitskreis fiir deutsche Barockliteratur, Erstes Arbeitstreffen 27.8.-31.8.1972. Wolfenbüttel 1973, S. 21-51; besonders S. 28f. und mit kurzen Hinweisen auf Lohenstein und Thomasius, S. 33. Vgl. Newman, Jane O., Innovation and the text which is not one, representing history in Lohenstein's Sophonisbe (1669), in: Haug, Walter und Wachinger, Burghart (Hg.): Innovation und Originalität. Tübingen 1990, S. 117-138. In bezug auf die fragliche Geltung einer übergeordneten Semiose vgl. Wiethölter, Waltraud, „Baltanders Lehr und Kunst." Zur Allegorie des Allegorischen in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch, in: DVjs 68 (1994), S. 45-65. Vgl. Borgstedt, Thomas, Petrarkismus und Präsenz in Johann Christian Günthers Liebesdichtung, in: Stüben, Jens (Hg.), Johann Christian Günther (1695-1723). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters. München 1997, S. 173-196. Vgl. Kapitel 11,5 meiner Habilitationsschrift Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit. 14951773. Göttingen masch. 1998 (eine Publikation ist geplant). Der Roman behandelt das wichtigste Thema der ,Weltweißheit' im späten 17. Jahrhundert, die politicus-Lehre. Eine Analogie zu Homer findet sich in der Vorrede angedeutet: vgl. Lohenstein, Arminius, (wie Anm. 21), Vorrede [unpag. S. 9, 13].

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nicht vom Autor des Romans. Beiden Texten ist eine gleichzeitige Abhängigkeit und Unabhängigkeit vom Bezugstext gemein, auch wenn der Vorbericht diesem näher steht. Die Kritik könnte man als Dokument eines Kommunikationsraums zwischen Roman und Leser, zwischen Autor und Kritiker, kurz, als Nahaufnahme eines literarischen Teilfeldes begreifen. Sie benennt jedenfalls dessen wichtigste Positionen und Aktanten. Die offene Struktur dieses Feldes findet ihren Niederschlag in den Textverfahren. Das von Thomasius bei Lohenstein gesichtete ,dialogische Prinzip' zeigt sich nämlich sowohl als zentrales Verfahren der Monatsgespräche als auch noch der späten Literaturtheorie von Thomasius, wie sie ansatzweise im 8. Kapitel der Höchstnöthigen Cautelen für einen Studiosus juris von 1713 präsentiert werden. Lohensteins Roman wird hier allerdings nicht mehr ausdrücklich genannt. Der „Nutzen, den ein Liebhaber der Weisheit aus Lesung der Romanen hat", bestehe „darinnen, daß er die unterschiedene[n] Meinungen und Arten der menschlichen Natur daraus erkennen lernet."58 Ein guter, weil nützlicher Roman verfahrt also nicht monologisch, sondern dialogisch. Die Forderung nach einer Repräsentation verschiedener Perspektiven richtet Thomasius an die Literatur überhaupt, insbesondere aber an das satirische Gespräch. Dieses ist im Sinne von Thomasius der literarischen Kritik verwandt.59 Der Rekurs auf die anderen Kritiker in der ersten Lohenstein-Besprechung vermittelt, daß auch in der Kritik des Arminius „nichts determiniret" (S. 668) ist. Sie macht deutlich, daß Thomasius auch dann dem .dialogischen Prinzip' folgt, wenn die Fiktion des Gesprächs aufgegeben wurde. Das, denke ich, ist das implizit ausgesprochene theoretische Programm für jede gelehrte, etwas moderner ausgedrückt: jede literarische Kritik. Sie ist, obwohl äußerlich monologisch verfaßt, ein dialogisch gemeintes Angebot, das von Geschmacksurteilen und der lebendigen Darstellungsform ausgeht, diese aber auf geltende Diskurse und auf die Anforderungen der Gesellschaft, auf die .Nützlichkeit' insbesondere, bezieht. Sie sucht lediglich - ich zitiere die Vorrede zum zweiten Jahrgang der Monatsgespräche „den Geschmack des Lesers zu erwecken" (S. 16). Ob diesem mehr nach deftigen Speisen oder mehr nach „Artzeneyen" der Appetit steht, hängt von seiner Disposition ab. Der Leser soll nur wissen, was er sich zumutet, wenn er das besprochene Buch zur Hand nimmt.

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Thomasius, Christian, Höchstnötige Cautelen für einen Studiosus juris, zitiert nach: Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Christian Thomasius und Christian Weise, hg. von Fritz Brüggemann. Leipzig 1938, S. 126; vgl. S. 122-127. Vgl. Thomasius, Monatsgespräche, (wie Anm. 1), Bd. V, Januar-April 1690, Vorrede, S. 5, 15ff., und Jaumann, Bücher und Fragen, (wie Anm. 4), S. 3 9 5 ^ 0 4 .

SANDRA POTT (Paris / Hamburg)

„Le Bayle de VAllemagne'''': Christian Thomasius und der europäische Refuge. Konfessionstoleranz in der wechselseitigen Rezeption für ein kritisches Bewahren der Tradition(en) Pierre B a y l e , der Rotterdamer R é f u g i é , gilt als einer der w i c h t i g s t e n Gelehrten fur die E p o c h e der ,frankophonen' „Lumières". 1 Christian T h o m a s i u s , sein d e u t s c h e s Pendant, ist als Begründer der d e u t s c h e n Aufklärung in die G e s c h i c h t e e i n g e g a n g e n . 2 D i e Frage, w o d u r c h e i n e s o l c h e Parallele z w i s c h e n b e i d e n gerechtfertigt sein könnte, hat Herbert Jaumann bereits gestellt und unter d e m „Stichwort geschichte"

Gelehrten-

beantwortet. 3 N a c h Jaumann k o m m e n B a y l e und T h o m a s i u s „einander

in v i e l e n Punkten sehr nahe", und z w a r hinsichtlich der Merkmale, die den „ T h o masischen

Typus

der Frühaufklärung" auszeichnen: 4 der „Traditionskritik", d e m

„Vorantreiben v o n Bereichsdifferenzierungen", der „Distanz" z u

Naturwissen-

s c h a f t l i c h e m , der H i n w e n d u n g z u m „Journalismus" und der „ B e d e u t u n g d e s indiv i d u e l l e n Lebensbeispiels". 5 D i e s e t y p o l o g i s c h e B e s c h r e i b u n g v o n Ä h n l i c h k e i t e n

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Vgl. die wegweisende Untersuchung von Labrousse, Elisabeth: Pierre Bayle. Hétérodoxie et rigorisme. Paris 1996 [Neudruck der Erstauflage La Haye 1964]; Magdelaine, Michelle u.a. (Hg.), De l'Humanisme aux Lumières, Bayle et le protestantisme. Mélanges en l'honneur d'Elisabeth Labrousse. Paris u. Oxford 1996. - Für ihre Hilfen bei der Recherche von Korrespondenzen danke ich Helga Döhn (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz), Eva Horváth und Marion Sommer (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg). Die vorliegende Studie ist im Zusammenhang eines Forschungsprojektes zum Thema „Verweltlichung der Wissenschaft(en). Bedingungen, Muster der Argumentation und typisierte Phasen wissenschaftlicher Säkularisierung" entstanden, das von Friedrich Vollhardt, Lutz Danneberg und Jörg Schönert geleitet und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Schwerpunktprogrammes „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit" gefördert wird. Vgl. Gierl, Martin, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fur Geschichte 129), S. 419f. Unter dem Aspekt der Konkurrenzverhältnisse in der Frühaufklärung Vollhardt, Friedrich: >Die Finsternüß ist nunmehro vorbey